Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens: Prozesse richterlicher Kognition 9783495813317, 9783495488072


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Table of contents :
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Inhalt
Einleitung
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
Teil A: Methodik der gerichtlichen Praxis – der notwendige Wandel des Methodenbegriffs
Kapitel 1
I. Zwingende Regeln oder freie Methodenwahl?
II. Methode – ein Instrument für unterschiedliche Zielsetzungen
Kapitel 2
I. Methode als Handwerk
II. Schematismus im Vordergrund – Theorie im Hintergrund
1. Teleologische Auslegung und Richterbild
2. Topische oder normative Struktur der Kanones
3. Rekonstruktion oder Interpretation – Exkurse zur Sprachphilosophie und Hermeneutik
a) Exkurs I zu Wittgenstein
b) Exkurs »Philosophische Hermeneutik«
III. Schlussfolgerungen
Kapitel 3
I. Methodenlehre der Rechtswissenschaft – Methodik der Praxis
II. Die Praxis der akademischen Methodenlehre und die Methode der gerichtlichen Praxis
Kapitel 4
I. Das Dilemma der Urteilskraft
II. Was heißt es, »einer Regel zu folgen«?
III. Wider den Methodenskeptizismus
Kapitel 5
I. Habitus und Richtertypen
1. Habitus
a) Grundpositionen der Sozialtheorie Bourdieus – Parallelen und Unterschiede zur Systemtheorie Luhmanns
b) Der Habitus und seine Routinen
2. »Richtertypen«
II. Kognition und Erkenntnisverfahren
1. Erkenntnis oder Dezision
2. Kognition und Kognitionswissenschaft
3. »Prozedurales Wissen« und juristische Methode
III. Kognitive Strukturen des Habitus – Schlussfolgerungen
1. Habitus und Lernen
2. Zum »Fließcharakter« von Habitus und normativen Regeln
Kapitel 6
I. Die Problemstellung
II. Rechtsmittelrecht – die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung
1. Die Wahrung der Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung als Funktion des Rechtsbehelfssystems
2. Der Perspektivwechsel – von der Methodenlehre der Rechtswissenschaft zur Methodik der gerichtlichen Praxis
III. Das »erkennende Gericht«
1. Institutionelles Denken als Befund
2. Zuordnungssubjekt – Subjekt des Erkenntnisverfahrens?
IV. »Wie Institutionen denken« – Kohärenz und Bindung
1. Erklärungsmuster
a) Soziologische Ansätze
b) Sozialpsychologische Ansätze – Gruppenkohärenz
2. Kohärenz
Kapitel 7
I. Schlussfolgerungen für den Methodenbegriff
II. Erste Thesen zu den Rahmenbedingungen des methodischen Arbeitens
III. Die Perspektive des »erkennenden Richters«
Teil B: Kohärenz und juristische Methode
Kapitel 8
I. Zum Begriff »Kohärenz«
1. Unterschiedliche Kohärenzphänomene – gemeinsame Struktur
2. Kohärenz als Kriterium juristischer Methodik
II. Die Kohärenz des Rechtsprechungsprozesses in drei Thesen
1. Zur ersten These
2. Zur zweiten These
3. Zur dritten These
III. Die Kohärenzformel Otto Neuraths
IV. Der Kohärenzgedanke – seine zentrale Rolle für die Methode
V. Kohärenz – zum theoriehistorischen Zusammenhang
VI. Die Kohärenzlehre – Grundannahmen und Implikationen
VII. Kohärenz und Akzeptanz als ihre notwendige Bedingung
1. Akzeptanz
2. Der graduelle Charakter der Kohärenz
3. Juristisch-dogmatische Fundierung und gesellschaftliche Akzeptanz
a) Unterschiedliche Wertvorstellungen – Konstellationen der Unverträglichkeit
b) Recht vs. gesellschaftliche Wertvorstellungen
VIII. Akzeptanz, Konsens, Institutionen – die verfassungsrechtliche Perspektive
Teil C: Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt
Kapitel 9
I. »Wahrheitstheorien« und »Wahrheitsfindung«
II. Die Perspektive des Falls
Kapitel 10
I. Wahrheitsfindung – Verfahrensrecht – Kohärenz
II. Die »Wahrheit« – ein prozessrechtlicher Begriff
1. Verhandlungsmaxime – Amtsermittlung
2. Präklusion – oder »die Gerechtigkeit wartet nicht«
III. Korrespondenz- und Konsenstheorie – untaugliche »tools for handling«
1. Korrespondenz- oder Abbildtheorie
2. Konsenstheorie der Wahrheit
Kapitel 11
I. »Der Ball war rot« – war der Ball auch tatsächlich rot? – die prozessrechtliche Perspektive
II. Kohärenz einer Aussage und Nullhypothese
III. Der »richtige« Sachverhalt – die revisionsrechtliche und die erkenntnistheoretische Perspektive
Kapitel 12
I. Die erkenntnistheoretische Perspektive
1. Ausgangskriterien
2. Notwendige Reduktion des Diskussionstandes
II. Die entscheidenden Ansätze: Subjektivität, Vermittlung und Intersubjektivität
1. Zur Phänomenologie der Vermittlung
2. Zur Phänomenologie des erkennenden Subjekts
3. Intersubjektivität
III. Die entscheidenden Folgerungen: Konstruktivität, Kohärenz und Akzeptanz
1. Konstruktivität
2. Kohärenz
a) Kohärenz und die »Wahrheitsfrage«
3. Akzeptanz der Prämissen – Wissenschaft und Alltagstheorien
a) Allgemeine Erfahrungssätze, Alltagstheorien und individuelle Erfahrungssätze
b) Akzeptanz zwischen Alltagstheorien und wissenschaftlichem Sachverstand
c) Orientierungssätze zur Akzeptanzproblematik
Kapitel 13
I. Grundregel
II. Die Sachverhaltskonstruktion – als Prozess
1. Parteivorbringen, Informationen und Hypothesenbildung
2. Problemfelder der »Verifizierung«
III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung
1. Der Zeugenbeweis
a) Exkurs in die kognitive Neurowissenschaft (I.)
b) Die »Nullhypothese« – Wege der »Verifizierung«
c) Zeugenbeweis – ein Zwischenergebnis
2. Sachverhaltsermittlung: Kommunikation zwischen Zielgerichtetheit und Offenheit
a) Die ideale Kommunikationshaltung – geteilte Aufmerksamkeit
b) Verhandlungsführung
3. Der Sachverhalt – eine Verknüpfung von Indizien
a) Die Verknüpfung und ihre Denkgesetze
b) Eine Typologie der Verknüpfungen und ihre typischer Fehlerquellen
c) »Gesamtschau«, Beweismaß und Kohärenz
Kapitel 14
I. Der Sachverhalt – die drei Elemente der Kohärenz
1. Widerspruchsfreiheit
2. Umfassendheit
3. Stimmigkeit
II. »Gesamtschau«, »Gesamtwürdigung«
1. Die revisionsrechtliche Sicht
2. Die Wahrscheinlichkeitstheorie – eine allgemeine Lehre vom Indizienbeweis?
3. »Gesamtschau« – kognitive Mechanismen (Exkurs II)
a) Die prinzipiellen Schwierigkeiten
b) Strategie der Strukturierung und Abschichtung
c) »Gesamtschau« – Mustererkennung
d) Zwischenergebnisse und noch offene Fragen
III. Die Stimmigkeit des Sachverhaltes – das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung
1. Die prozessrechtliche Seite und ihre praktischen Probleme
a) Die Sachverhaltsermittlung – ein Kampf um die richterliche Gewissheit
b) Der »Normalbeweis«
c) Beweismaß und Wahrscheinlichkeit – pragmatisch flexibler Maßstab?
2. Wahrheit – Wahrscheinlichkeit – Gewissheit
a) Wahrheit – Wahrscheinlichkeit
b) Wahrscheinlichkeit und Gewissheit
c) »Richterpersönlichkeit« vs. Methodenlehre?
d) Überzeugungsbildung – Persönlichkeit und Professionalität
3. Die höchstpersönliche Verantwortung des Richters für seine »Gewissheit«
Teil D: Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis
Kapitel 15
I. »Das Recht« und die divergierenden Vorstellungen vom Recht
II. Methodenlehre im Netz ihrer Abhängigkeiten
III. Determinanten der Rechtserkenntnis – ein grundlegend verändertes methodisches Vorverständnis
1. Der Justizsyllogismus und seine theoretischen Vorverständnisse
2. Der veränderte Rahmen – neue theoretische Ansätze
Kapitel 16
I. Notwendige Regelbindung
1. Der argumentationstheoretische Ansatz
2.Gebot des Gleichheitssatzes
3. Bindung an »Gesetz und Recht«
II. Zur Struktur der Regel – das Toulmin-Schema
1. Die Begründung der Prämisse
2. Allsätze – Regel und Ausnahme
3. Struktur der Regelbindung
III. Regelbindung und Richterrecht
1. Justizgewährleistungsanspruch
2. Rechtserzeugung und Urteilsgründe
a) Gesetzesnorm und Entscheidungsnorm
b) Ausnahmeregeln und Regelungen durch unbestimmte Rechtsbegriffe
3. Offene Regelungen – gesetzgeberische Gründe und die Mechanismen der Konkretisierung
a) Gesetzgeberische Gründe
b) Probleme der Konkretisierung
ba) Der Umgang mit vagen Begriffen
bb) Konkretisierung durch ergänzende Regeln
bc) Regelbindung und Einzelfallentscheidung
4. Wertbegriffe und Wertewandel als Problem der Regelbindung
IV. Vertikale Struktur der Regelbindung – Gesetzesbindung und Systemtheorie
1. Das Gesetz – nur ein Topos?
2. Das Mehrebenensystem – das Regelwerk der Regelbindung
3. Der systemtheoretische Ansatz: Gesetz und strukturelle Koppelung
Kapitel 17
I. Der Gerichtssaal als Kommunikationsraum
1. Alltagssprache – Fachsprache
2. Die Janusköpfigkeit der Rechtssprache
II. Recht und Semantik
1. Die Gebrauchstheorie der Bedeutung
2. Die Gebrauchstheorie – das Gebot des korrekten Gebrauchs (Exkurs III zu Wittgenstein)
3. Sprachspiel, Intersubjektivität und Interpretationsgemeinschaft
III. Juristische Semantik
1. Textverstehen – ein Gedankenexperiment
2. Das Spezifische juristischer Semantik
3. Vom »invisible-hand Phänomen« zur gerichtlichen »Definitionskompetenz«
a) Die Perspektive des »semantischen Kampfes«
b) Gerichtliche Definitionskompetenz
4. Semantische Stabilität und semantische Spielräume
IV. Wortbedeutung – Rechtsbegriff, Hypertext und Rechtsermittlung
1. Der Rechtsbegriff – zur juristischen Begriffsbildung
2. Recht als Hypertext
a) Intertextualität
b) Der »Hypertext Recht«
V. Die »Wortlautgrenze«
1. Notwendige Differenzierungen
2. Art. 103 Abs. 2 GG
a) »Wortlautgrenze« – Sprachwandel und Sprachebenen
b) Bestimmungskriterien
3. Art. 20 Abs. 3 GG und die »Wortlautgrenze«
4. Zur Veranschaulichung: BAGE 137, 275–291 (sachgrundlose Befristung)
Kapitel 18
I. Paradigmen des Systemdenkens: Positivismus – Topik – Wertsystem
1. Die Begriffsjurisprudenz – Paradigma 1
2. Der Gesetzespositivismus – Paradigma 2
3. Die Topik – Paradigma 3
a) Antipositivistische Positionen
b) »Topik und Jurisprudenz« – Theodor Viehweg
c) Axiomatisches System vs. Topik – eine schiefe Alternative
d) Topoikataloge und System
e) System – Topik – Gerechtigkeit
4. Wertsysteme – Paradigma 4
a) Zum Systembegriff
b) Zum Sinngehalt des »grundrechtlichen Wertsystems«
c) Das »Wertsystem« – die Schöpfung einer Grundrechtstheorie
5. System und Gerechtigkeit – ein Fazit
II. Juristisches Systemdenken – Elemente und Funktionen
1. Elemente eines juristischen Systems
a) Rechtsbegriffe, Rechtsfiguren und Rechtsformen
b) Interessen, Werte und Prinzipien
c) Erste Folgerungen für die Systemstruktur
d) Präjudizien
2. Zu den Funktionen juristischer Systeme
III. Systemdenken – juristische Theorien, Kohärenz und Dogmatik
1. Theorien
2. Kohärenz
3. Dogmatik
a) Dogmatik und »gesatzte Normen«
b) Dogma – Dogmatik und das Münchhausen-Trilemma
c) Zur Unterscheidung von Theorien und Dogmatik
d) Das Problem des Geltungsgrundes
e) Zur Rechtssatzqualität des Richterrechts (II)
IV. Rechtsdogmatik und Methode
1. »Stoppregel« – kein »Negationsverbot«
2. Das »Berücksichtigungsgebot« und seine methodischen Regeln
Kapitel 19
I. Zum Systemcharakter des Rechts
1. Das Rechtssystem – ein kohärentes System?
a) Das »grundrechtliche Wertsystem« als Matrix?
b) Die Systemstruktur und die Unverträglichkeit der Werte
c) Die »wertgebundene Ordnung« und die Kohärenz des Rechtssystems
d) Widersprüchliche Wertungsmuster – Inkohärenz der Rechtsordnung(en)
2. Das Rechtssystem – ein Gefüge partieller, temporär kohärenter Strukturen
II. Die Einheit der Rechtsordnung
1. Widersprüche und Kollisionsregeln
2. Kohärenz und Kompetenzkonflikte – Gerichte und Rechtsordnungen im europäischen Mehrebenensystem
Kapitel 20
I. Das Ziel der Auslegung – der traditionelle Ausgangspunkt
1. Zur Begrifflichkeit
2. Zum Streitstand – die Grundpositionen
II. Die Vorgaben des GG aus der Perspektive historischer Auslegung – welche Maßstäbe hat der Verfassungsgeber gesetzt?
1. Erste Konsequenzen aus Art. 20 Abs. 3; 103 Abs. 2 GG
2. Erste Konsequenzen aus dem Gewaltenteilungsprinzip
3. Konsequenzen aus der Bindung an »Gesetz und Recht«
a) »Gesetz und Recht«
aa) Zur Einordnung allgemeiner Verwaltungsvorschriften
ab) Zur Einordnung des Richterrechts (III)
4. Konsequenzen aus der Konkurrenz unterschiedlicher »Gesetzgeber« – »konkurrierende Bindungsformen«
5. Zwischenbilanz
III. Recht – ein Steuerungsinstrument oder ein selbstreferentielles System?
1. Recht als Schöpfung des »Volksgeistes« (Savigny)
2. Recht als »vernünftige« Ordnung (urspr. objektive Theorie)
3. Recht als eine vom Gesetzgeber geschaffene Ordnung
4. Recht als politisches Steuerungsinstrument und als »objektives« Ordnungssystem
5. Zwischenergebnis
IV. Die Absicht des Gesetzgebers – zur Problematik und Tauglichkeit der historischen Auslegung
1. Rüthers’ Methodenkonzeption
2. Kritik der erkenntnistheoretischen Ausgangspositionen
3. Die Befunde – Gesetzgebungs- und Begründungspraxis
a) Über die Gründe für unpräzise und unklare Gesetze
aa) Gründe juristischer Systemrationalität
ab) Gründe politischer Systemrationalität
b) Die Gesetzgebungsmaterialien in der Gesetzgebungspraxis
4. Über die Tauglichkeit der Gesetzgebungsmaterialien als Auslegungsgrundlage
a) Die gesetzliche Regelung als gesetzgeberischer Regelungszweck
b) Gesetz als Resultante eines Interessenkonflikts – das Problem der Rekonstruierbarkeit des Normzwecks.
5. Die Entstehungsgeschichte als relevanter Auslegungsgesichtspunkt – eine Typologie
V. Gesetzesauslegung und ihre verfassungsrechtlich vorgegebene Regelstruktur
1. Auslegung und ihre pragmatische Ausrichtung (Subsumtion und Rechtsfortbildung – Dogmatik und der Hypertext Recht)
a) Das Ziel der Auslegung aus pragmatischer Sicht
b) Auslegung, Subsumtion und Rechtsfortbildung
c) Rechtsermittlung – Dogmatik und der Hypertext Recht
2. Die Auslegungsregeln – Konzept einer kohärenten Regelstruktur
a) Auslegung nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht
b) Der Nachrang der objektiv-telelogischen Interpretation – ein Gebot der Gesetzesbindung
3. Der teleologische Ansatz – Funktion und Problematik
a) Der Topos unbegrenzter Auslegung
b) Der Bereich unzulässiger teleologischer Interpretation
c) Die notwendige Funktion teleologischer Auslegung
Teil E: Das Erkenntnisverfahren – Mustererkennung und »Fallverstehen« – Entscheidungstheorien
Kapitel 21
I. Mustererkennung – ein entscheidender Modus der Rechtserkenntnis
1. Beispiel »Gesamtwürdigung«
2. Beispiel »Einordnungsmuster«
II. Subsumtion
1. Von der »Begriffsarbeit« zur Mustererkennung
2. Mustererkennung statt Subsumtion
III. Zum Wechselspiel von Subsumtion und Mustererkennung
1. Das semantische Dreieck
2. Das semantische Dreieck und der Prozess der Rechtsfortbildung
3. Rechtsfortbildung – Rechtsgefühl, »reflektierende Urteilskraft« und Mustererkennung
Kapitel 22
I. Phänomene der Mustererkennung und Musterbildung
1. Einübungen in der Juristenausbildung
2. Mustererkennungen im Prozess des »Fallverstehens«
a) Zugriff auf den Fall
b) Die drei Phasen des Fallverstehens
II. Zur Terminologie
1. »Schema« und »Paradigma«
2. Leitbilder
III. Typologie
1. Einordnungsmuster
2. Rechtsanwendungsmuster
3. Problemlösungsmuster
4. Regelungsmuster
5. Muster und Sachverhaltskonstituierung
IV. Wechsel und Veränderung von Mustern
Kapitel 23
I. Vom »Hin- und Herwandern des Blicks« und dem hermeneutischen Zirkel
II. Subsumierende und reflektierende Urteilskraft
III. Die Vermittlungsfunktion von Mustern
IV. Gründe für den gewählten kognitionswissenschaftlichen Ansatz und zu den Grenzen der Analysierbarkeit kognitiver Prozesse
1. Der Richter – seine Vorurteile und Befindlichkeiten
2. Unhintergehbare Subjektivität – rationale Struktur des analogischen Erkenntnisvermögens
V. Juristische Muster – Versuch einer kognitionswissenschaftlichen Erklärung
1. Kognitive Mechanismen (Exkurs III)
2. Wir alle lernen Muster – aber nicht alle gleich gut
Kapitel 24
I. Entscheidungstheorien
II. Entscheidungsstrategie und richterliche Praxis
1. Theorien der »rationalen Wahl« und reduktionistische Entscheidungsstrategien
2. Intuitiv-automatische Strategien
III. Gemeinsame Bausteine eines kohärenztheoretischen Modells
IV. Gesicherte neurowissenschaftliche Grundlagen (Exkurs IV)
V. Die Entscheidungsfindung im Modell
VI. Konsistenzmaximierungsprozesse vs. »richtige Entscheidung«
1. Die notwendige Unterscheidung von »Konsistenz« im Sinne intuitiv-automatischer Entscheidungstheorien und »Kohärenz«
2. Von der Mustererkennung zum Urteil – zwei grundlegende Einsichten
Teil F: Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz
Kapitel 25
I. Zur Typik methodischer Regeln
1. Such- und Begründungsregeln
2. Arbeits- und Anwendungsregeln
II. Wandel durch moderne Informationstechnologien
III. Informationstechnik und die Methoden der Praxis
1. »Methode Simile«
2. »Methode Stachelschwein«
3. »Methode Collage« – »copy and paste«
4. »Methode Sherlock Holmes«
IV. Der Referenzmaßstab – das idealtypische Prüfprogramm
Kapitel 26
I. Das Postulat der »richtigen Entscheidung«
1. Die »richtige Entscheidung« – eine Frage im Kontext der Methodendiskussion
2. Die »richtige Entscheidung« als »regulative Idee«
II. Sachverhalt, Rechtsfeststellung, Urteil – Drei Aspekte der Kohärenz
III. Die Kohärenzkriterien
1. Widerspruchsfreiheit
2. Umfassendheit
a) Formel und Katalog
b) Umfassendheit und Verfahren
3. Stimmigkeit
IV. Herstellung von Kohärenz – Regeln und Operationen
1. Zum Vorgang des »Eingliederns« – Prozesse des Abgleichens
2. Kohärenz und ihre logischen Operationen
a) Die Schlussformen
b) »Gute Gründe«
3. Subsumtion und Abwägung
a) Hierarchisierung und Abwägung
b) Abwägung und Kohärenz
V. Methodik und ihre Grenzen – Offenheit und Kontingenz
1. Die evolutionäre Struktur des Rechts
2. Rechtsfindung und ihre gesellschaftlichen Realitätskoordinaten
3. Die Grenze des methodisch nicht mehr Vertretbaren
Literatur
Abgekürzt zitierte Nachschlagewerke
Abkürzungsverzeichnis
Stichwortverzeichnis
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Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens: Prozesse richterlicher Kognition
 9783495813317, 9783495488072

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Hans-Joachim Strauch

Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens Prozesse richterlicher Kognition

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495813317

.

B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Hans-Joachim Strauch Methodology of judicial contentious proceedings Processes of judicial cognition Judicial proceedings that start with filing an action and end with a verdict are called »contentious proceedings« in procedural law, in contrast to enforcement proceedings. At the same time this term also illustrates the decisive theoretical perspective of this book: The questions: »How do the judges recognize the facts of the case?«, »How do they recognize the law?«, »How do they reach their verdict?« always and unavoidably deal with epistemological conditions and requirements for judicial verdicts. »The« truth and »the« law are not »found« by the judge. They are »constructed« in complex cognitive processes. For these processes it is necessary to determine the patterns of description and explanation, with which we can analyze them and within this context it is necessary to mention epistemology, cognitive sciences, linguistics, semiotics (pattern recognition), form of thought and sociological patterns of explanation, for example by Luhmann and Bourdieu. All cognitive processes that are relevant for a judicial decision are in principle objects of a methodology of judicial practice. The central theoretical perspective of this book is determined by the thought that method is to be understood as establishing coherence. By taking up the philosophical discussion about »coherence« and expanding on it, Hans-Joachim Strauch gains a sustainable theoretical approach, from which answers to questions about the »right decision« can be concluded.

The author: Hans-Joachim Strauch, honorary professor of administrative law and legal theory at Friedrich-Schiller University in Jena. He was president of the Higher Administrative Court in Thuringia (Weimar) and judge at the Federal Administrative Court. The emphasis of his publications over the last years has been on the topics of theory of jurisdiction and fundamental epistemological questions of methodology.

https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Hans-Joachim Strauch Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens Prozesse richterlicher Kognition Das gerichtliche Verfahren, das mit einer Klage oder Anklage beginnt und mit einem Urteil abschließt, wird in der Prozessrechtslehre im Gegensatz zum »Vollstreckungsverfahren« als »Erkenntnisverfahren« bezeichnet. – Zugleich stellt dieses Wort aber auch die entscheidende theoretische Perspektive des Buches klar: Es geht bei den Fragen: »Wie erkennt der Richter den Sachverhalt?«, »Wie erkennt er das Recht?«, »Wie kommt er zu seinem Urteil?« immer und unhintergehbar um die erkenntnistheoretischen Bedingungen und Voraussetzungen richterlicher Urteilsbildung. »Die« Wahrheit und »das« Recht werden vom Richter nicht »gefunden«. Sie werden in komplexen kognitiven Prozessen »konstruiert«. Für diese Prozesse gilt es, die Beschreibungs- und Erklärungsmuster aufzuspüren, über die wir sie analysieren können. Zu nennen sind Erkenntnistheorie, Kognitionswissenschaften, Linguistik, Semiotik (Mustererkennung), Denkformen und soziologische Erklärungsmuster, etwa die von Luhmann und Bourdieu. Denn Gegenstand einer Methodenlehre der richterlichen Praxis sind prinzipiell alle kognitiven Prozesse, die für eine richterliche Entscheidung Relevanz haben. Die zentrale theoretische Perspektive dieses Buches wird durch den Gedanken bestimmt, dass Methode als Herstellung von Kohärenz zu verstehen ist. Indem er die philosophische Diskussion über »Kohärenz« aufgreift und weiterführt, gewinnt Hans-Joachim Strauch einen tragfähigen theoretischen Ansatz, aus dem sich auch Antworten auf die Frage nach der »richtigen Entscheidung« ableiten lassen. Der Autor: Hans-Joachim Strauch, Honorarprofessor für Verwaltungsrecht und Rechtstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, war Präsident des Thüringer Oberverwaltungsgerichts (Weimar) und Richter am Bundesverwaltungsgericht. Der Schwerpunkt seiner Veröffentlichungen liegt in den letzten Jahren bei den Themen Rechtsprechungstheorie und den erkenntnistheoretischen Grundfragen der Methodenlehre.

https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Hans-Joachim Strauch

Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens Prozesse richterlicher Kognition

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Für Clara, Vincent, Kasimir, und Laurenz

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48807-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81331-7

https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil A: Methodik der gerichtlichen Praxis – der notwendige Wandel des Methodenbegriffs . . . .

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Kapitel 1: Methode – ein Begriff mit vielfältigen Deutungen . . . I. Zwingende Regeln oder freie Methodenwahl? . . . . . II. Methode – ein Instrument für unterschiedliche Zielsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 39

Kapitel 2: Methode und Methodenlehre . . . . . . . . . . I. Methode als Handwerk . . . . . . . . . . . . . . . II. Schematismus im Vordergrund – Theorie im Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . 1. Teleologische Auslegung und Richterbild . . . . 2. Topische oder normative Struktur der Kanones . 3. Rekonstruktion oder Interpretation – Exkurse zur Sprachphilosophie und Hermeneutik III. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 3: Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens I. Methodenlehre der Rechtswissenschaft – Methodik der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Praxis der akademischen Methodenlehre und die Methode der gerichtlichen Praxis . . . . . . . . . . . .

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7 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Inhalt

Kapitel 4: Die »Vagheit in den Regeln« und der Methodenskeptizismus . . . . . . . . . . . I. Das Dilemma der Urteilskraft . . . . II. Was heißt es, »einer Regel zu folgen«? III. Wider den Methodenskeptizismus . .

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Kapitel 5: Methode und Handhabungsroutinen – Erkenntnis, Habitus und Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Habitus und Richtertypen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Richtertypen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kognition und Erkenntnisverfahren . . . . . . . . . . 1. Erkenntnis oder Dezision . . . . . . . . . . . . . . 2. Kognition und Kognitionswissenschaft . . . . . . . 3. »Prozedurales Wissen« und juristische Methode . . III. Kognitive Strukturen des Habitus – Schlussfolgerungen 1. Habitus und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum »Fließcharakter« von Habitus und normativen Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 6: Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode – »Wahrung der Kohärenz« . . . . . . . . . . . . . I. Die Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsmittelrecht – die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Wahrung der Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung als Funktion des Rechtsbehelfssystems . . . 2. Der Perspektivwechsel – von der Methodenlehre der Rechtswissenschaft zur Methodik der gerichtlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das »erkennende Gericht« . . . . . . . . . . . . . . . 1. Institutionelles Denken als Befund . . . . . . . . . 2. Zuordnungssubjekt – Subjekt des Erkenntnisverfahrens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. »Wie Institutionen denken« – Kohärenz und Bindung . 1. Erklärungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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93 94 95 97

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Inhalt

Kapitel 7: Schlussfolgerungen für die Methodik des gerichtlichen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schlussfolgerungen für den Methodenbegriff . . . . . II. Erste Thesen zu den Rahmenbedingungen des methodischen Arbeitens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Perspektive des »erkennenden Richters« . . . . . .

113 113 114 116

Teil B: Kohärenz und juristische Methode . . . . . . . . 119 Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . I. Zum Begriff »Kohärenz« . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterschiedliche Kohärenzphänomene – gemeinsame Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kohärenz als Kriterium juristischer Methodik . . . II. Die Kohärenz des Rechtsprechungsprozesses in drei Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur ersten These . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur zweiten These . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur dritten These . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Kohärenzformel Otto Neuraths . . . . . . . . . . IV. Der Kohärenzgedanke – seine zentrale Rolle für die Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Kohärenz – zum theoriehistorischen Zusammenhang . VI. Die Kohärenzlehre – Grundannahmen und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Kohärenz und Akzeptanz als ihre notwendige Bedingung 1. Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der graduelle Charakter der Kohärenz . . . . . . . 3. Juristisch-dogmatische Fundierung und gesellschaftliche Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Akzeptanz, Konsens, Institutionen – die verfassungsrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . .

121 122 123 124 125 126 127 128 129 131 133 135 140 141 142 144 151

9 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Inhalt

Teil C: Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

. . 155

Kapitel 9: Der »Fall« als Gegenstand des »Erkenntnisprozesses« . I. »Wahrheitstheorien« und »Wahrheitsfindung« . . . . II. Die Perspektive des Falls . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 10: Philosophische Wahrheitstheorien und prozessuale Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wahrheitsfindung – Verfahrensrecht – Kohärenz . . II. Die »Wahrheit« – ein prozessrechtlicher Begriff . . . 1. Verhandlungsmaxime – Amtsermittlung . . . . . 2. Präklusion – oder »die Gerechtigkeit wartet nicht« III. Korrespondenz- und Konsenstheorie – untaugliche »tools for handling« . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Korrespondenz- oder Abbildtheorie . . . . . . . . 2. Konsenstheorie der Wahrheit . . . . . . . . . . .

. . . . .

157 157 159

162 163 165 165 167

. 168 . 169 . 170

Kapitel 11: Der Sachverhalt als Konstrukt . . . . . . . . . . . I. »Der Ball war rot« – war der Ball auch tatsächlich rot? – die prozessrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . II. Kohärenz einer Aussage und Nullhypothese . . . . . . III. Der »richtige« Sachverhalt – die revisionsrechtliche und die erkenntnistheoretische Perspektive . . . . . . . . .

175

Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion I. Die erkenntnistheoretische Perspektive . . . . . . . . . 1. Ausgangskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Notwendige Reduktion des Diskussionsstandes . . . II. Die entscheidenden Ansätze: Subjektivität, Vermittlung und Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Phänomenologie der Vermittlung . . . . . . . . 2. Zur Phänomenologie des erkennenden Subjekts . . 3. Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die entscheidenden Folgerungen: Konstruktivität, Kohärenz und Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konstruktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Akzeptanz der Prämissen – Wissenschaft und Alltagstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185 185 186 187

10 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

175 180 182

187 188 192 194 196 196 197 199

Inhalt

Kapitel 13: Regeln der Sachverhaltsermittlung . . . . . . . . I. Grundregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Sachverhaltskonstruktion – als Prozess . . . . . . 1. Parteivorbringen, Informationen und Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Problemfelder der »Verifizierung« . . . . . . . . III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung . 1. Der Zeugenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sachverhaltsermittlung: Kommunikation zwischen Zielgerichtetheit und Offenheit . . . . . . . . . . 3. Der Sachverhalt – eine Verknüpfung von Indizien

. 207 . 207 . 208 . . . .

208 210 211 211

. 223 . 235

Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Sachverhalt – die drei Elemente der Kohärenz . . . 1. Widerspruchsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umfassendheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stimmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. »Gesamtschau«, »Gesamtwürdigung« . . . . . . . . . 1. Die revisionsrechtliche Sicht . . . . . . . . . . . . 2. Die Wahrscheinlichkeitstheorie – eine allgemeine Lehre vom Indizienbeweis? . . . . . . . . . . . . . 3. »Gesamtschau« – kognitive Mechanismen (Exkurs II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Stimmigkeit des Sachverhaltes – das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung . . . . . . . . . 1. Die prozessrechtliche Seite und ihre praktischen Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wahrheit – Wahrscheinlichkeit – Gewissheit . . . . 3. Die höchstpersönliche Verantwortung des Richters für seine »Gewissheit« . . . . . . . . . . . . . . .

246 246 246 247 248 250 250 253 257 271 272 278 284

Teil D: Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis . . . . . . . . . . 287 Kapitel 15: Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses I. Das »Recht« und die divergierenden Vorstellungen vom Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289 289 11

https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Inhalt

II. Methodenlehre im Netz ihrer Abhängigkeiten . . . . . III. Determinanten der Rechtserkenntnis – ein grundlegend verändertes methodisches Vorverständnis . . . . . . . 1. Der Justizsyllogismus und seine theoretischen Vorverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der veränderte Rahmen – neue theoretische Ansätze

290

Kapitel 16: Rechtsprechung und Regelbindung . . . . . . . . . I. Notwendige Regelbindung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der argumentationstheoretische Ansatz . . . . . . 2.Gebot des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . 3. Bindung an »Gesetz und Recht« . . . . . . . . . . II. Zur Struktur der Regel – das Toulmin-Schema . . . . . 1. Die Begründung der Prämisse . . . . . . . . . . . . 2. Allsätze – Regel und Ausnahme . . . . . . . . . . 3. Struktur der Regelbindung . . . . . . . . . . . . . III. Regelbindung und Richterrecht . . . . . . . . . . . . 1. Justizgewährleistungsanspruch . . . . . . . . . . . 2. Rechtserzeugung und Urteilsgründe . . . . . . . . 3. Offene Regelungen – gesetzgeberische Gründe und die Mechanismen der Konkretisierung . . . . . . . 4. Wertbegriffe und Wertewandel als Problem der Regelbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vertikale Struktur der Regelbindung – Gesetzesbindung und Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Gesetz – nur ein Topos? . . . . . . . . . . . . . 2. Das Mehrebenensystem – das Regelwerk der Regelbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der systemtheoretische Ansatz: Gesetz und strukturelle Koppelung . . . . . . . . .

299 300 300 302 303 304 305 306 309 311 311 313

Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache . . . . . . . . . . I. Der Gerichtssaal als Kommunikationsraum . . . . 1. Alltagssprache – Fachsprache . . . . . . . . . . 2. Die Janusköpfigkeit der Rechtssprache . . . . . II. Recht und Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Gebrauchstheorie der Bedeutung . . . . . . 2. Die Gebrauchstheorie – das Gebot des korrekten Gebrauchs (Exkurs III zu Wittgenstein) . . . . .

334 335 336 337 340 341

12 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

. . . . . .

. . . . . .

293 294 296

316 322 325 325 327 330

. . 343

Inhalt

3. Sprachspiel, Intersubjektivität und Interpretationsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Juristische Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textverstehen – ein Gedankenexperiment . . . . . . 2. Das Spezifische juristischer Semantik . . . . . . . . 3. Vom »invisible-hand Phänomen« zur gerichtlichen »Definitionskompetenz« . . . . . . . . . . . . . . 4. Semantische Stabilität und semantische Spielräume . IV. Wortbedeutung – Rechtsbegriff, Hypertext und Rechtsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Rechtsbegriff – zur juristischen Begriffsbildung . 2. Recht als Hypertext . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die »Wortlautgrenze« . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Notwendige Differenzierungen . . . . . . . . . . . 2. Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Art. 20 Abs. 3 GG und die »Wortlautgrenze« . . . . 4. Zur Veranschaulichung: BAGE 137, 275–291 (sachgrundlose Befristung) . . . . . . . . . . . . . Kapitel 18: Recht – System – Kohärenz . . . . . . . . . . . . I. Paradigmen des Systemdenkens: Positivismus – Topik – Wertsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Begriffsjurisprudenz – Paradigma 1 . . . . . . . 2. Der Gesetzespositivismus – Paradigma 2 . . . . . . 3. Die Topik – Paradigma 3 . . . . . . . . . . . . . . 4. Wertsysteme – Paradigma 4 . . . . . . . . . . . . 5. System und Gerechtigkeit – ein Fazit . . . . . . . . II. Juristisches Systemdenken – Elemente und Funktionen . 1. Elemente eines juristischen Systems . . . . . . . . 2. Zu den Funktionen juristischer Systeme . . . . . . III. Systemdenken – juristische Theorien, Kohärenz und Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsdogmatik und Methode . . . . . . . . . . . . . 1. »Stoppregel« – kein »Negationsverbot« . . . . . . . 2. Das »Berücksichtigungsgebot« und seine methodischen Regeln . . . . . . . . . . . . . . . .

345 348 348 351 352 354 356 357 359 365 367 369 375 377 381 381 382 384 385 395 402 403 404 413 416 417 418 420 431 432 433 13

https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Inhalt

Kapitel 19: Kohärenz und die Einheit der Rechtsordnung . . . I. Zum Systemcharakter des Rechtssystems . . . . . . 1. Das Rechtssystem – ein kohärentes System? . . . 2. Das Rechtssystem – ein Gefüge partieller, temporär kohärenter Strukturen . . . . . . . . . . . . . . II. Die Einheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . 1. Widersprüche und Kollisionsregeln . . . . . . . . 2. Kohärenz und Kompetenzkonflikte – Gerichte und Rechtsordnungen im europäischen Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . .

. 435 . 435 . 436 . 444 . 447 . 448 . 451

Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung – die verfassungsrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . I. Das Ziel der Auslegung – der traditionelle Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Streitstand – die Grundpositionen . . . . . . . II. Die Vorgaben des GG aus der Perspektive historischer Auslegung – welche Maßstäbe hat der Verfassungsgeber gesetzt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erste Konsequenzen aus Art. 20 Abs. 3; 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erste Konsequenzen aus dem Gewaltenteilungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konsequenzen aus der Bindung an »Gesetz und Recht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Konsequenzen aus der Konkurrenz unterschiedlicher »Gesetzgeber« – »konkurrierende Bindungsformen« . 5. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Recht – ein Steuerungsinstrument oder ein selbstreferentielles System? . . . . . . . . . . . . . . 1. Recht als Schöpfung des »Volksgeistes« (Savigny) . 2. Recht als »vernünftige« Ordnung (urspr. objektive Theorie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Recht als eine vom Gesetzgeber geschaffene Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Recht als politisches Steuerungsinstrument und als »objektives« Ordnungssystem . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

455 457 457 458

461 462 465 468 476 477 478 478 480 481 482 483

Inhalt

IV. Die Absicht des Gesetzgebers – zur Problematik und Tauglichkeit der historischen Auslegung . . . . . . . . 1. Rüthers’ Methodenkonzeption . . . . . . . . . . . 2. Kritik der erkenntnistheoretischen Ausgangspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Befunde – Gesetzgebungs- und Begründungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Über die Tauglichkeit der Gesetzgebungsmaterialien als Auslegungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Entstehungsgeschichte als relevanter Auslegungsgesichtspunkt – eine Typologie . . . . . V. Gesetzesauslegung und ihre verfassungsrechtlich vorgegebene Regelstruktur . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegung und ihre pragmatische Ausrichtung (Subsumtion und Rechtsfortbildung – Dogmatik und der Hypertext Recht) . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Auslegungsregeln – Konzept einer kohärenten Regelstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der teleologische Ansatz – Funktion und Problematik

485 486 488 491 498 504 506

509 514 519

Teil E: Das Erkenntnisverfahren – Mustererkennung und »Fallverstehen« – Entscheidungstheorien . . . . . 527 Kapitel 21: Mustererkennung und Subsumtion . . . . . . . I. Mustererkennung – ein entscheidender Modus der Rechtserkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beispiel »Gesamtwürdigung« . . . . . . . . . . 2. Beispiel »Einordnungsmuster« . . . . . . . . . II. Subsumtion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von der »Begriffsarbeit« zur Mustererkennung . 2. Mustererkennung statt Subsumtion . . . . . . III. Zum Wechselspiel von Subsumtion und Mustererkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das semantische Dreieck . . . . . . . . . . . . 2. Das semantische Dreieck und der Prozess der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfortbildung – Rechtsgefühl, »reflektierende Urteilskraft« und Mustererkennung . . . . . .

. . 529 . . . . . .

. . . . . .

530 531 532 534 535 536

. . 537 . . 538 . . 540 . . 542 15

https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Inhalt

Kapitel 22: Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Phänomene der Mustererkennung und Musterbildung . 1. Einübungen in der Juristenausbildung . . . . . . . 2. Mustererkennungen im Prozess des »Fallverstehens« II. Zur Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. »Schema« und »Paradigma« . . . . . . . . . . . . 2. Leitbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einordnungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsanwendungsmuster . . . . . . . . . . . . . 3. Problemlösungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . 4. Regelungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Muster und Sachverhaltskonstituierung . . . . . . IV. Wechsel und Veränderung von Mustern . . . . . . . . Kapitel 23: Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vom »Hin- und Herwandern des Blicks« und dem hermeneutischen Zirkel . . . . . . . . . . . . . . . . II. Subsumierende und reflektierende Urteilskraft . . . . . III. Die Vermittlungsfunktion von Mustern . . . . . . . . IV. Gründe für den gewählten kognitionswissenschaftlichen Ansatz und zu den Grenzen der Analysierbarkeit kognitiver Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Richter – seine Vorurteile und Befindlichkeiten . 2. Unhintergehbare Subjektivität – rationale Struktur des analogischen Erkenntnisvermögens . . . . . . . V. Juristische Muster – Versuch einer kognitionswissenschaftlichen Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kognitive Mechanismen (Exkurs III) . . . . . . . . 2. Wir alle lernen Muster – aber nicht alle gleich gut . Kapitel 24: Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entscheidungstheorien . . . . . . . . . . . . . . II. Entscheidungsstrategie und richterliche Praxis . . 1. Theorien der »rationalen Wahl« und reduktionistische Entscheidungsstrategien . . . . . . .

545 545 545 547 550 551 552 553 554 555 555 556 557 559

561 563 565 568

571 572 573 574 575 580

. . . 585 . . . 585 . . . 587 . . . 588

16 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Inhalt

III. IV. V. VI.

2. Intuitiv-automatische Strategien . . . . . . . . . Gemeinsame Bausteine eines kohärenztheoretischen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesicherte neurowissenschaftliche Grundlagen (Exkurs IV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entscheidungsfindung im Modell . . . . . . . . Konsistenzmaximierungsprozesse vs. »richtige Entscheidung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die notwendige Unterscheidung von »Konsistenz« im Sinne intuitiv-automatischer Entscheidungstheorien und »Kohärenz« . . . . . . . . . . . . . 2. Von der Mustererkennung zum Urteil – zwei grundlegende Einsichten . . . . . . . . . . .

. 588 . 589 . 591 . 592 . 594 . 595 . 596

Teil F: Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Kapitel 25: Methoden der Praxis im Wandel . . . . . . . . . . I. Zur Typik methodischer Regeln . . . . . . . . . . . . 1. Such- und Begründungsregeln . . . . . . . . . . . 2. Arbeits- und Anwendungsregeln . . . . . . . . . . II. Wandel durch moderne Informationstechnologien . . . III. Informationstechnik und die Methoden der Praxis . . . 1. »Methode Simile« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Methode Stachelschwein« . . . . . . . . . . . . . 3. »Methode Collage« – »copy and paste« . . . . . . . 4. »Methode Sherlock Holmes« . . . . . . . . . . . . IV. Der Referenzmaßstab – das idealtypische Prüfprogramm

601 601 602 602 603 605 605 606 607 609 612

Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz . . . . . . . I. Das Postulat der »richtigen Entscheidung« . . . . . . . 1. Die »richtige Entscheidung« – eine Frage im Kontext der Methodendiskussion . . . . . . . . . . . . . . 2. Die »richtige Entscheidung« als »regulative Idee« . . II. Sachverhalt, Rechtsfeststellung, Urteil – Drei Aspekte der Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

614 616 616 617 620

17 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Inhalt

III. Die Kohärenzkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Widerspruchsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umfassendheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stimmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Herstellung von Kohärenz – Regeln und Operationen . 1. Zum Vorgang des »Eingliederns« – Prozesse des Abgleichens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kohärenz und ihre logischen Operationen . . . . . 3. Subsumtion und Abwägung . . . . . . . . . . . . V. Methodik und ihre Grenzen – Offenheit und Kontingenz 1. Die evolutionäre Struktur des Rechts . . . . . . . . 2. Rechtsfindung und ihre gesellschaftlichen Realitätskoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Grenze des methodisch nicht mehr Vertretbaren . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis Stichwortverzeichnis

622 623 624 627 627 628 629 635 643 644 646 649 653

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675

18 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Einleitung

Juristen haben ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrer Methode. – Da ist einerseits ihr Selbstverständnis. Die Fähigkeit, auch einen unbekannten Fall methodisch so zu lösen, dass andere, Juristen wie auch Laien, seine Einschätzung als professionelle Lösung akzeptieren können, macht die Professionalität des Juristen aus. Doch: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie«, sagte der Teufel (alias Mephisto) zum Scholaren und dieser stimmte freudig zu: Zum Selbstverständnis des Juristen gehört es keineswegs – und das ist die andere Seite –, dass man sich auch entsprechend ausgiebig der Methodenlehre als theoretischem Fach gewidmet hat und sich in der Methodendiskussion auskennt, wie man sich in der Rechtsprechung seines Fachgebietes auskennen muss. Man lernt die juristische Methode zumeist nicht aus Lehrbüchern und in Vorlesungen zur Methodenlehre, man lernt sie in Übungen und Klausurenkursen, aus Fallsammlungen und »Kochbüchern«. Für die methodischen Regeln schließlich, die der Richter braucht – etwa für die »Tatsachenarbeit«, den Umgang mit Präjudizien oder juristischen Datenbanken –, ist eine theorieferne Einübung in die Praxis dann nahezu Prinzip. Erlernt werden sie im Verfahren »learning by doing« und/oder, je nach Situation, die die Proberichterin oder der Proberichter in einer Kammer antrifft, auch über »Meister-Schüler-Beziehungen«. – Das Ergebnis ist eine »Gebrauchsmethodik«. Methodik wird nach dem Motto gehandhabt: »Methode hat man, über Methode spricht man nicht!« 1

I. »Methode hat man« – man hat ein Wissen um die für die tägliche Praxis notwendigen Handwerksregeln und Routinen. Wer in der 1

A. Voßkuhle 2002, S. 175.

19 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Einleitung

Routine steckt, denkt über sie nicht nach. Der Vorteil von Handwerksregeln liegt ja nicht zuletzt darin, dass sie auch ohne weiteres Nachdenken gehandhabt werden können und funktionieren. Funktionieren kann diese Gebrauchsmethodik freilich nur so lange, als die Methode, »die man hat«, die Praxis (noch) hinreichend erfasst und es der Methodenlehre, die hinter den Routinen steht, auch zugetraut wird, ihre Aufgabe zu erfüllen und die Praxis zu steuern. Beide Voraussetzungen können heute aber nicht mehr als gegeben unterstellt werden. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Zunächst zu denjenigen, die in der Praxis selbst liegen. 1. Ein erster Grund ergibt sich aus dem Befund, dass sich sowohl die praktischen als auch die theoretischen Bedingungen richterlicher Arbeit in den letzten Jahrzehnten z. T. so grundlegend verändert haben und noch stärker verändern werden, dass die hergebrachten methodischen Regeln – Auslegungsregeln und Subsumtion – die Praxis nicht mehr adäquat erfassen können. Seit der Zeit, als die Juristen begannen, in nennenswertem Umfang mit gedruckten Büchern zu arbeiten, hat es keinen so einschneidenden Wandel in ihren Arbeitstechniken gegeben. Um ein konkretes Beispiel herauszugreifen: Hatte ein erstinstanzlicher Richter noch in den 1980er Jahren oft nicht mehr als einen, meist schon älteren, Standardkommentar auf seinem Schreibtisch, steht ihm heute über Datenbanken nahezu die gesamte relevante Rechtsprechung zur Verfügung. Datentechnik und Informationstechnologie bestimmen so zunehmend Techniken, Muster und Stil, mit denen der Richter Informationen aufnimmt und verarbeitet – also die Methode, die »man hat«. Auch die Integration von Datenbanknutzung und Textproduktion ist am juristischen Arbeitsplatz weitgehend zur Selbstverständlichkeit geworden. Und die generelle Einführung der elektronischen Akte wird diese Integration richterlicher Arbeit in Architektur und Strukturen der eingesetzten Informationstechnik demnächst noch um entscheidende Schritte verstärken. 2 2. Zu analysieren ist aber nicht nur eine »Rechtsfindung«, die sich immer stärker von der Auslegung zur Rechtsermittlung über Datenbanken verschiebt. Die am Kodifikationsmodell entwickelte AusZu diesem Zusammenhang von Informationstechnik und Methode meine Beiträge Strauch 2007 und Strauch 2009.

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legungstheorie 3 kann sich auch immer weniger an diesem Idealtyp eines Gesetzes bewähren. Wesentliche Entwicklungen in Rechtsgebieten wie z. B. dem Arbeits- oder Gesellschaftsrecht lassen sich mit dem herkömmlichen Instrumentarium der juristischen Methode kaum noch als methodisch abgeleitete Rechtsfindung rekonstruieren. Da eine juristische Methode immer von dem Wechselspiel zwischen Gesetzgebungs- und Rechtsprechungspraxis abhängig ist, ergeben sich auch aus dem europäischen Mehrebenensystem – nationaler Gesetzgeber, EU-Richtlinien, EuGH-Rechtsprechung – neue Anforderungen an das methodische Instrumentarium; Diskussionen über die klassischen Streitfragen um die so genannte objektive oder subjektive Auslegungstheorie gehen dann oft schon an den Gegebenheiten vorbei. 3. Ein weiterer und entscheidender Grund, über Methode zu sprechen, liegt schließlich in dem Umstand, dass die Erkenntnis- und Handlungsprozesse, die die Sachverhaltsfeststellungen bestimmen, für die herkömmliche Methodenlehre weitgehend außerhalb des Blickfeldes liegen. Für eine Methodik der gerichtlichen Praxis ist die Feststellung dessen, »was Sache ist«, aber von zentraler Bedeutung, und für diese Prozesse gilt es, systematisch Strukturen und Regeln zu beschreiben. »Rechtens« kann eine Entscheidung nur sein, wenn auch ihre Tatsachengrundlage »richtig« ist.

II. Über Methode zu sprechen, kann aber nicht nur heißen, über die genannten Gründe zu diskutieren und über Abhilfen und Mängelbeseitigungen nachzudenken. Die Gründe für das Unbehagen an der Methodik liegen tiefer. Zu reden ist zunächst über das Selbstverständnis, mit dem Richterinnen und Richter – die im Folgenden nur noch unter der Funktionsbezeichnung »Richter« firmieren – das gerichtliche Erkenntnisverfahren eigentlich betreiben – und betreiben sollten. Aber zu fragen ist nicht nur nach dem wünschbaren Ethos und nach der richterlichen Methodenbefindlichkeit. Noch wichtiger sind die Antworten, die wir erwarten können, wenn wir die Methodenlehre auf dieses Selbstverständnis hin befragen. 3

Nachweise bei Hassemer 2004, S. 252 ff.; Strauch 2002, S. 312 ff.

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1. Einen anschaulichen Einblick in das richterliche Selbstverständnis gibt die 1988 von J. Schmid u. a. durchgeführte und 1997 publizierte empirische Studie »Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt«. Bereits einleitend möchte ich auf sie näher eingehen, weil sie nicht nur dieses Selbstverständnis, sondern auch die unterschiedlichen Perspektiven der »Methodentheoretiker« und der richterlichen Praktiker hervortreten lässt. Zum anderen ist sie eine der wenigen empirischen Studien über methodisches Verhalten von Richtern. Zugrunde lag ihr ein Arzthaftungsfall mit drei Klageanträgen (Schmerzensgeld, monatliche Rente und Feststellungsantrag hinsichtlich der materiellen und immateriellen Schäden). Beteiligt waren 52 Richterinnen und Richter (AG, LG, OLG). Sie konnten auf ein chirurgisches und ein neurologisches Gutachten zurückgreifen sowie auch auf Krankenunterlagen und vier Zeugen. Mündliche Verhandlungen und Beweisaufnahmen wurden als Simulationen durchgeführt. Auffallend waren zum einen die erheblichen Varianzen, die sich sowohl im richterlichen Entscheidungsverhalten als auch bei der Entscheidungsfindung zeigten. Die vorgelegten 51 Entscheidungen kamen zu 13 unterschiedlichen Urteilen – wobei weder die Divergenzen in den Beträgen, die bei teilweiser Stattgabe zugesprochen wurden, noch die in den herangezogenen Anspruchsgrundlagen und Begründungen berücksichtigt sind. Die Befunde, so J. Schmid in ihrem Resümee, legten »die Vermutung nahe, daß der Zufall bei der Konstitution des Rechtsfalles eine größere Rolle spielen könnte, als ihm in der Literatur bislang zugestanden wird«. 4 Aber nicht nur dieses Fazit über die Rolle des Zufalls fordert zum Nachdenken über Methode heraus, sondern vor allem auch die kollegialen Reaktionen auf die unterschiedlichen Ergebnisse. Sie werden wie folgt beschrieben: »Regelmäßig wurde in den sich an die Verhandlungssimulation anschließenden Nachbefragungen nicht nur die Vermutung geäußert, wie die Mehrheit geurteilt zu haben, sondern die meisten Richter waren der Ansicht, daß der von ihnen eingeschlagene Weg die einzig ›richtige‹ Lösung sei. Viele Richter artikulierten ihre Verwunderung darüber, daß von Kollegen eine andere Begründung vorgezogen worden sei, und sprachen in diesem Zusammenhang von der ›Eindeutigkeit‹ des Falles. Auffällig war auch, daß viele Richter, unabhängig davon, ob sie sich der Mehrheitsmeinung oder der Minderheitsmeinung zuordneten, nach den anderen Lösungen und deren Häufigkeit fragten und diese Lösungen mit zum Teil zynischen

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J. Schmid 1997a, S. 114.

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Bemerkungen versahen: ›absurd‹, ›Quatsch‹, ›eigentlich überhaupt nicht zu beurteilen‹, ›dazu konnte man nicht kommen‹, ›unglaublich‹, ›spitzfindig‹, ›Unschlüssigkeit wäre eine glatte Fehlentscheidung – bei so etwas werde ich giftig‹, ›abwegig‹, ›weltfremd – das sind die, die die Hose mit der Beißzange anziehen‹, ›nicht richtig, dies so zu behandeln‹, ›seltsam‹ ! …« 5

Hier werden offenbar nicht nüchtern unterschiedliche Ergebnisse registriert; diese Unterschiede lösen vielmehr massive Emotionen aus. Das richterliche Selbstverständnis – eingangs nur als professionelle Perspektive genutzt – scheint hier im Nerv getroffen. Völlig anders dagegen die Sicht des »Methodentheoretikers«: Er zeigt sich verwundert, dass die Richter mit den unterschiedlichen Ergebnissen Probleme haben. Sein Kommentar im unmittelbaren Anschluss an die Zitate: »Es scheint – bei vorsichtiger Bewertung dieses Phänomens – offensichtlich immer noch die Meinung vorzuherrschen, dass richterliche Entscheidungstätigkeit keine interpretative, sondern eine subsumtive Tätigkeit mit Richtigkeitsgewähr ist, eine Vorstellung, die ganz offensichtlich aus der der antizipierten Vereinheitlichung und Typisierung durch Präjudizien und dogmatische Konstruktionen erzielt wird.« 6 2. Über diese unterschiedlichen Perspektiven wird in diesem Buch zu reden sein, wenn es darum geht, über Aufgabe und Zustand der juristischen Methode nachzudenken. Da ist die typische Beobachterposition des Theoretikers, der als Befunde eine bisher so noch nicht gesehene Rolle des »Zufalls« und auf Seiten der richterlichen Akteure theoretische Naivität und unreflektierte Vorverständnisse konstatiert. Was er nicht sieht, weil es wahrscheinlich außerhalb seiner Perspektive liegt, ist die zentrale Rolle, die das »richtige Ergebnis« für den Richter spielen muss. Wir werden also der Frage nicht ausweichen können, die jeder Methodenskeptiker schnell als Zeichen unreflektierten Methodendenkens verspotten würde: Gibt es die »richtige Entscheidung«? Sie gibt es sicher nicht als die objektiv einzig richtige Entscheidung, die heute mit Dworkins Bild vom allwissenden »Richter Herkules« beschrieben wird. Notwendig ist die Perspektive der »richtigen Entscheidung« aber als »regulative Idee«. 7 Zu verstehen ist diese nicht als Ideal, das auch faktisch erreichbar wäre. Zu 5 6 7

Th. Drosdeck 1997, S. 24. Th. Drosdeck 1997, S. 24 f. Im Anschluss an Kant, KrV A 644/B 672; näher Kap. 26 I.

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verstehen ist sie als konstruktionsbedingter Fixpunkt, ohne den wir juristische Methode – so wir diese nicht nur als Beschreibung rhetorischer Figuren verstehen – weder entwickeln noch verstehen, noch sinnvoll handhaben können. Sie ist ihr konstituierendes Prinzip. Sie ist auch das Prinzip, an dem sich der Richter letztlich allein der Sinnhaftigkeit seiner Praxis vergewissern kann. Insoweit gibt es auch den elementaren Zusammenhang zwischen dem Postulat der »richtigen Entscheidung« und dem richterlichen Selbstverständnis. Sinnvoll zu diskutieren ist der Gedanke der »richtigen Entscheidung« aber selbst als »regulative Idee« nur, wenn davon auszugehen ist, dass die juristische Methode ihre Aufgabe, die Urteilsfindung durch Regeln zu steuern, prinzipiell auch erfüllen kann – und sie diese Funktion auch erfüllen muss, weil die Einhaltung dieser Regeln eine notwendige Bedingung für die »Richtigkeit« ist. Konkreter werden wir das Postulat der »richtigen Entscheidung« als »regulative Idee« also erst im Schlusskapitel bestimmen können (Kap. 26 I.). 3. Genau diese Voraussetzung wird jedoch in der Methodenlehre vielfach in Zweifel gezogen. Und es ist in der Tat nicht zu bestreiten, dass sich der theoretische Anspruch der Methodenlehre, Rechtsanwendung und Rechtsfindung voraussehbar und nachvollziehbar zu machen, allzu oft nicht bestätigt. Nicht die Rechtsbindung des Richters erscheint als das richtige Bild, sondern der desillusionierende Vergleich des Gerichts mit den Unberechenbarkeiten der hohen See. Angesichts dieses Befundes sind drei grundsätzliche Reaktionen zu verzeichnen: Da sind die Methoden-Skeptiker, die nur sagen können: Anderes kann man auch nicht erwarten, denn das, was man »Rechtswissenschaft« nennt, sei bei Lichte betrachtet eigentlich nichts anderes als ein Zweig der Rhetorik, die Hoffnung auf wissenschaftlich-methodisch abgesicherte Ergebnisse sei also gleichsam a limine zum Scheitern verurteilt. Methodenlehre solle diesen rhetorischen Charakter nur verschleiern. 8 Ein ähnliches Ergebnis intendieren Ansätze, die der philosophischen Hermeneutik folgen. Die Argumentation ließe sich hier so beschreiben: Gesetzesauslegung vollziehe

Charakteristisch Ballweg 1970; näher zur »Mainzer Schule« Lege 1999, S. 434 f. Methode wird weitgehend auf Argumentationstheorie reduziert und diese wesentlich auf die Analyse der rhetorischen Figuren in den Urteilsgründen; repräsentativ die Arbeiten von K. v. Schlieffen; vgl etwa dies. 2011, JZ 2011, S. 109–116. Kritisch U. Neumann 2008, S. 239 f.; H. Wohlrapp 2008, S. 148.

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sich in einem hermeneutischen Prozess und diesem Prozess sei eine prinzipielle Unbestimmtheit eigen – die Unendlichkeit der Interpretation. 9 Die dritte Reaktion, die Gegenposition, sieht demgegenüber prinzipiell Möglichkeiten, den genannten, ernüchternd negativen Befunden zum Positiven abzuhelfen; man kann diesen Weg als den Versuch beschreiben, das vorhandene Instrumentarium, das die Auslegungsregeln bieten, zu optimieren, zu schärfen und zu präzisieren. Um zur Veranschaulichung Namen und Beispiele zu nennen, seien insbesondere B. Rüthers genannt mit seiner Forderung: zurück zur subjektiven, d. h. historischen Auslegung 10 oder Koch/Rüßmann mit ihrem analytisch-linguistischen Ansatz. 11 Dafür, dass es mit diesen Ansätzen wirklich gelungen wäre, die Rechtsanwendung berechenbarer zu machen, sind überzeugende Nachweise freilich nicht gelungen. 12 Auch die Empirie ist, wie eben gezeigt, über diese Feststellungen nicht hinausgekommen. Ausgehend von dem Zentralelement der herkömmlichen Methodenlehre, der Gesetzesauslegung, hatte H.-J. Koch in den 90er Jahren konstatiert: »Die Diskussion um die Gesetzesauslegung pendelt seit Jahrzehnten zwischen einem vermeintlich rechtsstaatlichen, in Wahrheit nur realitätsblindem Gesetzbindungsdogmatismus einerseits und einer Bindungsskepsis.« 13 Im Kern trifft diese Feststellung die entscheidende Diskussionslinie der 60er Jahre genauso wie die gegenwärtige. 14 – Aber ist mit ihr auch bereits alles Wesentliche gesagt? Im philosophischen Zusammenhang gut dargestellt bei D. Mersch 1993, S. 105 ff., 132 f.; aus juristischer Sicht M. Frommel 1981; D. Simon 1975, S. 74 ff.; 94 ff. Die neuere juristische Hermeneutik beruft sich zwar auf Gadamer; übergeht dabei aber, dass Heidegger und auf ihm fußend Gadamer ihre Hermeneutik ausdrücklich nicht als Methodik (miss-)verstanden wissen wollten; mit den klaren Worten Gadamers 1990, S. 3: »Die Hermeneutik […] ist […] nicht etwa eine Methodenlehre«. 10 Siehe u. a. Rüthers 2006, S. 56 ff.; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 778 ff. 11 Koch/Rüßmann 1982. 12 Zum Ansatz von Rüthers ausführlich Kap. 20. Die analytischen Ansätze sind im Zusammenhang der jeweiligen Problemlagen zu erörtern – etwa der Anwendung von Wahrscheinlichkeitsberechnungen im Bereich von Indizienbeweisen. 13 H.-J. Koch 2003, S. 248; gehalten wurde der Vortrag 1995. 14 Die bibliographischen Kommentare von D. Simon, 1975, geben deshalb über die Grundpositionen immer noch einen guten Überblick. Aktueller der eher beschreibende Überblick über die »Haupt- und Gegenströmungen in der juristischen Methodik« von W. Krawietz 2011. 9

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Sicher ist: Das Ideal einer Methode, die den Rechtsfindungsprozess präzise steuert, wird uns aus prinzipiellen Gründen verschlossen bleiben. Selbst bei gleichen Sachverhalten wird es immer eine Streubreite juristischer Lösungen, richterlicher Entscheidungen geben, die unaufhebbar ist. Menschliche Kognition ist nicht programmierbar. Dieser Punkt scheint heute keiner Diskussion mehr zu bedürfen. Doch Kognition ist eben auch nicht nur ein Prozess unergründlicher Willkür; es sind Prozesse, die analysierbar sind und Regeln folgen. Allein auf den dezisionistischen Charakter richterlicher Entscheidungsfindung 15 lassen sich die grundlegenden theoretischen Einwände gegen die Möglichkeiten juristischer Methodik also nicht stützen. Viel eher bedarf die Annahme, dass für die juristische Methode nur diejenigen kognitiven Prozesse von Bedeutung sind, die man in Auslegungs- und Subsumtionsregeln greifen und begreifen kann, einer grundsätzlichen Diskussion. Und damit steht auch die theoretische Grundausrichtung der herrschenden Methodenlehre zur Diskussion: ihre hermeneutische Fixierung auf das Verstehen von Gesetzestexten. Mit der Eröffnung einer solchen Diskussion ist aber schon ein entscheidender Wechsel in der theoretischen Perspektive vollzogen, durch die das methodische Denken bestimmt wird. Nicht, dass Gesetzestexte unwesentlich wären, aber Thema dieses Buches ist das methodische Vorgehen des Richters und dieses erschöpft sich nicht in der Gesetzesauslegung. Methodisch sollen nicht nur Rechtsanwendung (Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung eingeschlossen) und Sachverhaltsfeststellung sein; Gegenstand einer Methodenlehre der richterlichen Praxis sind prinzipiell alle Prozesse richterlicher Kognition, die zu einer richterlichen Entscheidung führen. – Notwendig ist also nichts weniger als eine grundlegende Neuorientierung der Methodenlehre. Diese muss mehr sein, als ein weiterer Versuch, die Konstruktionsprinzipien und Annahmen, mit denen die Methodenlehre bisher gearbeitet hat, mehr oder minder zu verbessern. Für eine Neu-Konzeption bedarf es vor allem eines Paradigmenwechsels in den theoretischen Grundlagen. Es wird deshalb ein wesentliches Ziel dieses Buches sein, zu zeigen, dass mit dem Verständnis von juristischer Methode als Herstellung von Kohärenz (auf allen Stufen richterlicher Informationsverarbeitung) für ein solches Konzept auch eine tragfähige theoretische Grundlage zur Verfügung steht. Der ko15

So dezidiert C. Schmitt 1912.

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härenztheoretische Ansatz gibt so das Modell für eine theoretische Struktur vor, die es ermöglicht, die richterliche »Tatsachen- und Rechtserkenntnis« nicht nur punktuell, sondern in ihrer Komplexität zu erfassen.

III. Die Grundgedanken, die dieser Neu-Konzeption der richterlichen Methodik zugrunde liegen, lassen sich in drei Thesen zusammenfassen: Erste These: Methode ist immer auf die Praxis, das praktische Feld bezogen, in der sie ihren Gegenstand findet. Die Praxis der »Rechtsprechung« ist eine andere als etwa die der »Rechtswissenschaft« oder die des Klausurenschreibens. Dem hat die Methodik durch eine konsequente Ausrichtung auf die richterliche Praxis Rechnung zu tragen. 16 Zweite These: Gegenstand einer Methode des »gerichtlichen Erkenntnisverfahrens« sind all die Operationen, die der Richter auf dem Weg zu einer Entscheidung in diesem Verfahren vornimmt. Dritte These: Methode wird als Herstellung von Kohärenz verstanden, die alle Prozesse richterlicher Kognition umfasst – und nicht mehr nur als Beachtung explizierter Regeln, die aus dem Gesetz die richtige Ableitung dessen gewährleisten sollen, was konkret rechtens ist. Das Methodenverständnis, das mit diesen Thesen skizziert ist, hat auch den gewählten Titel dieser Methodenlehre bestimmt: 1. Man kann den Titel zunächst durchaus konservativ verstehen: Üblicherweise und ganz selbstverständlich wird das Urteils-, Klage- oder Entscheidungsverfahren in der Prozessrechtslehre als »Erkenntnisverfahren« bezeichnet. 17 In diesem Sinne dient der Begriff schlicht dazu, den Handlungszusammenhang abzustecken, den die MethoEs geht mir also nicht um das hergebrachte »Theorie-Praxisproblem« als Problem der Integration von Theorie und Praxis, etwa in der Juristenausbildung. 17 Vgl. etwa Rosenberg/Schwab/Gottwald Rosenberg/Schwab 2010, § 1 Rn 17; Jauernig, Zivilprozessrecht, 29. Aufl., 2007, § 2 I; A. Blomeyer 1985, § 3, 1. 16

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denlehre erfassen will, und ihn von dem der Rechtswissenschaft oder dem des Rechtsanwaltes abzugrenzen. Entsprechend erfolgen auch in der Prozessrechtsliteratur keine näheren Reflexionen über die Bedeutung des Wortes »Erkenntnis« in dem Begriff des »Erkenntnisverfahrens«; man behandelt ihn mit Selbstverständlichkeit ausschließlich im Begriffsfeld der Prozessrechtsterminologie, 18 d. h. zur Abgrenzung vom Vollstreckungs- und Arrestverfahren. – Im Gegensatz dazu soll der Begriff hier aber schon im Titel klarstellen, dass sich für eine Methodik des »Erkenntnisprozesses« 19 immer und unhintergehbar auch die Frage nach den erkenntnistheoretischen Bedingungen und Voraussetzungen von Sachverhaltsermittlung und Rechtserkenntnis stellt. 2. Außerhalb des Begriffsfeldes der Prozessrechtsterminologie liegt dagegen der Untertitel: »Prozesse richterlicher Kognition«. Schon im Titel soll damit deutlich gemacht werden, dass »Erkenntnis« nicht nur auf die »Erkenntnisse« beschränkt werden darf, die sich auf deduktive, logisch zwingende Schlüsse zurückführen lassen. Nur ein weiter Begriff des »Erkennens«, der grundsätzlich alle kognitiven Prozesse erfasst, die zur »Entscheidung« oder, wie es in Österreich heißt, zu einem »Erkenntnis« führen, ermöglicht es auch, für Beschreibung, Analyse und das Verstehen solcher Prozesse und ihrer Mechanismen auf die Kognitionswissenschaften zurückzugreifen. Diese hat die Fokussierung auf die Logik längst aufgegeben. – »Vor hundert Jahren hätte«, schreibt etwa Anderson einleitend in dem Kapitel »Logisches Denken und Entscheidungsfindung« seines Standardlehrbuches der Kognitiven Psychologie, »ein psychologischer Text, der sich auf ›kognitive Prozesse‹ bezieht, ausschließlich das ›logische Denken‹ behandelt. Die Tatsache, daß im vorliegenden Buch nur ein Kapitel vom logischen Denken handelt, spiegelt die derzeitige Auffassung wider, derzufolge sich ein Großteil des menschlichen Denkens nicht sinnvoll unter dem Gesichtspunkt des logischen Schlußfolgerns betrachten läßt.« 20 Nun hat sich auch die juristische Diskussion von der Gleichung

Eine wesentliche Ausnahme macht die Schrift von J. Rödig 1973, dem es um die Untersuchung des Rechtsanwendungsprozesses »in seinen logischen Strukturen« geht. 19 Schwab/Rosenberg/Gottwald 2010, a. a. O. 20 J. R. Anderson 2001, S. 315. 18

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Erkenntnis gleich logische Schlussfolgerung befreit; dem ist an dieser Stelle aber nicht nachzugehen. 21 Hervorzuheben ist jedoch die spezielle Funktion, die dem kognitionswissenschaftlichen Ansatz für ein Zentralproblem der Methodik zukommt: die Rolle des »Vorverständnisses«. 22 J. Esser behandelte in seiner überaus einflussreichen Schrift »Vorverständnis und Methodenwahl« 23 die Grenzen der herkömmlichen Methodenlehre und des sogenannten Justizsyllogismus. Auf den Erkenntnisbegriff bezogen, wird mit der hermeneutischen Figur des Vorverständnisses also der Bereich abgegrenzt, der jenseits des logischen Denkens, der klaren und zwingenden Ableitung liegt. Was aber dieses Vorverständnis nun genau ist, welche Inhalte und Mechanismen hier konkret wirksam sind, blieben weitgehend ungeklärte Fragen. 24 Instrumente, um auf diese Fragen Antworten geben zu können, vermochte die Hermeneutik auch nicht zu entwickeln. 25 Mit erkenntnistheoretischen und kognitionswissenschaftlichen Ansätzen stehen solche Instrumentarien aber zur Verfügung: Prozesse der Mustererkennung, die Prägung und Steuerung von Vorverständnissen durch Interpretationsgemeinschaften, die Bedeutung von Kontexten für die Informationsverarbeitung etc. sind Stichworte zu den Prozessen, die auf ihre methodische Bedeutung hin zu analysieren sind.

IV. Einer Methodik der richterlichen Praxis, der es entscheidend darauf ankommen muss, alle für die Urteilsfindung relevanten kognitiven Prozesse in den Blick zu nehmen, kann dies nur als multiperspektivische Reflexion gelingen.

Etwa durch Rückgriff auf die Arbeiten von Ch. S. Peirce und die Figur der Abduktion – vgl. dazu J. Lege 1999 u. L. Schulz 2008, S. 286, 305 ff. sowie Kap. 26 IV. 2. a. 22 Vgl. hierzu die insbesondere auf K. Larenz und J. Esser bezogene Analyse von M. Frommel 1981, S. 83 ff. 23 J. Esser 1972. 24 Zum Begriffsverständnis bei Esser: M. Frommel 1981, S. 90, 93. 25 Mit den Worten D. Simons 1975, S. 96: »Angaben, wie das Vorverständnis in den Griff der Rationalität zu bringen sei, konnten von den Hermeneutikern allerdings auch billigerweise nicht erwartet werden.« 21

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1. Warum »multiperspektivisch«? Weil die vielfältigen Prozesse, die das »Erkenntnisverfahren« ausmachen, zu einer Komplexität führen, die aus einer theoretischen Perspektive nicht zu erfassen ist. Theorien repräsentieren wohl nicht »die Welt« und liefern keine ausschließlichen Kriterien für »Wahrheit« und »Richtigkeit«, sie müssen aber in ihrer Funktion als »tools for handling« 26 verstanden und gehandhabt werden können. So sind konstruktivistische Theorieansätze sehr viel besser als andere geeignet, Grundstrukturen der richterlichen Sachverhaltsfeststellung zu beschreiben: Der Sachverhalt ist ein Konstrukt. Das ist einleuchtend, wenn er auf Indizien beruht, die Tat etwa aufgrund von Zeugenaussagen dem Angeklagten zugeordnet wird. Wird diese Zuordnung dagegen auf eine DNA-Analyse gestützt, ist diese Feststellung auf eine völlig andere Weise »konstruiert« und auch in anderer Weise inter-subjektiv verbindlich. Die Argumentation mit konstruktivistischen Ansätzen soll also nicht bedeuten, dass in dieser Methodik der »Radikale Konstruktivismus« als alles erklärende »Großtheorie« übernommen wird. 27 Menschliche Erkenntnis ist nicht mit stets gleichem Realitätsbezug konstruiert: Wenn wir einen Voodoo-Priester beim Regenzauber und eine Sonde nach zehnjährigem Flug bei ihrer nahezu punktgenauen Landung auf einem Kometen analysieren, liegt beiden Vorgängen eine »Konstruktion von Wirklichkeit« zugrunde – beide haben jedoch einen völlig anderen Zugang zur Realität. Das gilt jedenfalls aus unserer kulturellen Erkenntnisperspektive, und anders als aus dieser Perspektive kann auch die juristische Methodik nicht reflektiert werden. Auch die Neurowissenschaften sind als Grundlage für eine »Großtheorie« ungeeignet. Sie haben für unsere Thematik etwa einen unverzichtbaren Erklärungswert, wenn es um die Einschätzung des Zusammenhanges von Zeugenaussagen und Gedächtnisleistungen geht, überschätzen ihren Erklärungshorizont aber augenscheinlich, wenn sie beim derzeitigen Wissensstand meinen, endgültige Antworten auf die Fragen der Willensfreiheit geben zu können. 28 Nach einer Formulierung Richard Rortys, vgl. M. Frank 1992, S. 25. Zu Grundüberlegungen des Radikalen Konstruktivismus Strauch, JZ 2000, 1020 m. N. Zur juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht ausführlich K. I. Lee 2010. 28 Zur ersten Übersicht über die inzwischen fast unübersehbare Diskussion mit grundsätzlicher Kritik an den Positionen von G. Roth und dem Neurowissenschaftler W. Singer vgl. Th. Fuchs 2010, S. 77 ff. 26 27

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Die zentrale Rolle, die in dieser Methodenlehre die Kohärenztheorie einnimmt, steht zu der Forderung nach multiperspektivischer Reflexion nicht im Widerspruch. Denn anders als Konstruktivismus, Korrespondenz- und Diskurstheorie der Wahrheit macht die Kohärenztheorie keine Vorgaben über die Perspektive, aus der Fragen nach »Wahrheit« und »Richtigkeit« zu beantworten sind, indem sie bereits ein bestimmtes Wahrheitsverständnis voraussetzt. Wir haben es vielmehr mit einer ihrer Struktur nach offenen Theorie zu tun, die deshalb auch das strukturell adäquate Instrument ist, um komplexe Zusammenhänge und Prozesse aus unterschiedlichen Perspektiven erfassen und beschreiben zu können. 2. Wenn wir von einer Bindung des Richters an Gesetz und Recht durchaus auch als Faktum und nicht nur als kontrafaktische Idee reden können, dann beruht das mithin auf einem komplexen Geflecht sehr unterschiedlicher Mechanismen. Stark vereinfachend kann man aber zwei Ebenen unterscheiden, auf denen diese Mechanismen zu beschreiben sind: Zum einen die Ebene, auf der die theoretische Grundstruktur einer Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens zu entwickeln ist (insbes. Kohärenztheorie, Mustererkennung), und zum anderen die Ebene, auf der die einzelnen, sehr unterschiedlichen methodischen Prozesse zu analysieren und gegebenenfalls auch die dazugehörenden Regeln zu erarbeiten sind. Beide Ebenen werden bei den Lesern auf unterschiedliche Erwartungs- und auch Verständnishorizonte treffen. Auf beiden Ebenen sind jedoch Ableitungen nötig, die auf Wissen, Denkformen und Theorien zugreifen, die außerhalb der Felder liegen, auf denen Juristen sich auskennen und die ihnen vertraut sind. Aber gerade dort, wo es für die theoretische und praktische Neuausrichtung der Methodik darum geht, neue Ansätze zu gewinnen und diese auch zu entwickeln und gegebenenfalls für die Praxis handhabbar zu machen, müssen die entsprechenden Ableitungen auch Schritt für Schritt nachvollziehbar sein. Das verlangt, dass sie aus beiden Perspektiven diskutiert werden können – aus der juristischen und aus der des philosophischen oder jeweiligen wissenschaftlichen Ansatzes. Nur so kann die juristische Methodik auch wieder Anschluss an neue wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Entwicklungen finden. – Aus dieser Notwendigkeit folgt aber nicht, dass der Leser dem Autor in allen theoretischen Auseinandersetzungen zwingend bis in die Einzelheiten folgen 31 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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muss, sondern für ihn unwegsame Passagen auch überfliegen oder überblättern kann, ohne Gefahr zu laufen, den Anschluss an die für die Anwendungspraxis – und das Nachdenken über sie – entscheidenden Überlegungen und Ergebnisse zu verlieren. 3. Neben den genannten zwei Ebenen hat eine Methodenlehre der gerichtlichen Praxis immer noch eine dritte Ebene in die »multiperspektivische Reflexion« einzubeziehen: die Richterethik. – Im Ansatz ist die hier vertretene Methoden-Konzeption »szientistisch« oder, passender, »wissenschaftsorientiert«, denn sie versucht, die kognitiven Prozesse, die zur richterlichen Entscheidung führen, mit Hilfe unterschiedlicher wissenschaftlicher Ansätze so zu erfassen, dass man sie in ihrer Regelhaftigkeit beschreiben und analysieren kann. Dieser Ansatz hat jedoch nicht zum Ziel, die Grenzen zu verwischen, die gerade hier jeder Verallgemeinerung, allen überindividuellen Regeln und Routinen gesetzt sind. Richterliche Wertungen, Gesamtwürdigungen und Feststellungen, die auf einer »Gesamtschau aller Beweisanzeichen« beruhen, haben ihren »blinden Fleck«; in der Aktion des »Erkennens« ist man nicht zugleich »objektiver Beobachter« dieser Aktion. Entsprechend werden wir bei unseren Analysen immer wieder auf Prozesse stoßen, bei denen eine Schlussfolgerung auch nur noch als »höchstpersönlich« charakterisiert werden kann. Auch diese Prozesse lassen sich freilich objektivieren und als Sachverhalte reflektieren. 29 Methodisches Arbeiten heißt nicht nur Beherrschung von Handwerksregeln, sondern auch, über die Richtigkeit und Angemessenheit der Methoden, »die man hat«, nachzudenken; Methodik ist reflektierter Gebrauch. Über Problemfelder, die besonders kritisch sind und auf denen auch unangemessenes richterliches Agieren besonders häufig zu beobachten ist, wird deshalb in den Prozessanalysen jeweils konkret zu sprechen sein. Gleichwohl ist zu konstatieren: Es ist der Richter, der hier »höchstpersönlich« für sein Urteil einzustehen hat. – Methode der richterlichen Praxis und Richterethik sind keine getrennten Welten. Sie gehen – oft unmerklich – ineinander über.

Ein Versuch, dies methodisch zu tun, findet sich in verschiedenen Formen der »Supervision«.

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V. Einen Überblick über den Gedankengang und die zentralen Themenstellungen gibt die folgende Gliederung: 1. Als Ausgangspunkt für die nachfolgenden Erörterungen geht es im Teil A vornehmlich darum, den Methodenbegriff so zu bestimmen, dass mit ihm auch grundsätzlich alle für die richterlichen Urteils- und Entscheidungsfindung relevanten kognitiven Prozesse erfasst werden können. Am Beispiel der Auslegungsregeln ist zugleich deutlich zu machen, wie stark die methodischen Regeln theorieabhängig sind. Da eine regelgeleitete Anwendung wiederum selbst nicht hinreichend durch Regeln definiert werden kann, muss eine richterliche Methodenlehre mit einem weiten Begriff des Erkennens (Kognition) arbeiten. Zu erfassen sind nicht nur die (oft nicht expliziten) Anwendungsroutinen, die letztlich dafür maßgeblich sind, ob und wie in der Praxis die methodischen Regeln angewandt werden. Ins Bewusstsein zu rücken ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Erkenntnis, dass richterliches Denken nicht nur als individuelles Denken des individuellen Richters verstanden werden darf, sondern entscheidend auch institutionell geprägtes und eingebundenes Denken ist. Ohne die Perspektive der institutionellen Einbindung ist richterliche Methode weder theoretisch noch in der Praxis fassbar. 2. Die zentrale theoretische Perspektive dieses Buches wird durch den Gedanken bestimmt, dass Methode als Herstellung von Kohärenz zu verstehen ist. Ins Auge zu fassen ist unter diesem kohärenztheoretischen Ansatz das gesamte Erkenntnisverfahren – sowohl dessen einzelne Schritte als auch dessen Ergebnis: die »richtige Entscheidung«. In der philosophischen Diskussion spielt »Kohärenz« eine entscheidende Rolle als »Wahrheits«- bzw. Richtigkeitskriterium. Nutzt man diesen theoretischen Ansatz, lässt sich daraus auch eine Antwort auf die Frage nach der »richtigen Entscheidung« ableiten. Vereinfachend auf eine Faustformel gebracht, lautet sie: »Richtig« ist eine Entscheidung, für die es nach den Umständen, die dem Richter bekannt sind und die von ihm zu ermitteln waren, keine Alternative gab, die im Entscheidungszeitpunkt in sich stimmiger und damit »richtiger« gewesen wäre. – Im Schlusskapitel werden wir Tauglichkeit und praktische Relevanz dieser Formel genauer untersuchen. Vorab sind aber im Teil B, gleichsam in einem allgemeinen Teil, die 33 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Einleitung

philosophisch-theoretischen Hintergründe der Kohärenztheorie, ihre Grundelemente – Widerspruchsfreiheit, Umfassendheit und Stimmigkeit – und ihre Bedeutung für die juristische Methodenlehre darzulegen. Zu diskutieren sind auch die Bedingungen, auf denen diese theoretische Rolle kohärenztheoretischer Ansätze beruht. Sie liegt in der Grundstruktur pluralistischer Gesellschaften, die für ihre Antworten auf die Frage, was rechtens ist, weder mit dem Verweis auf eindeutige oder allgemein anerkannte Grundlagen noch auf zwingende und im Ergebnis nicht bestreitbare Ableitungszusammenhänge zurückgreifen können. Und alles, was wir über Sprache wissen, lässt keinen Zweifel daran, dass auch das Gesetz solche Ableitungen nicht garantieren kann. Im Ergebnis wächst deshalb anderen Mechanismen, insbesondere der »Akzeptanz«, eine entscheidende Vermittlerrolle zu – so problematisch diese Rolle auch sein mag. 3. Im Teil C geht es darum, systematisch Struktur und Regeln der Sachverhaltsfeststellung zu beschreiben. Die Regeln, die hier zu beachten sind, sind natürlich solche des Prozessrechts (Amtsermittlung, Beibringungsgrundsatz, Beweisrecht etc.). Doch die »Tatsachenarbeit« wird nicht nur durch Rechtsregeln bestimmt, sondern entscheidend auch durch die Art, wie der Mensch/Richter Tatsachen wahrnimmt, Zusammenhänge konstruiert und komplexe Informationen verarbeitet. Für diese Erkenntnis- und Handlungsprozesse gilt es, Regeln und Richtigkeitskriterien zu ermitteln. 4. Im Gegensatz dazu wird man im Teil D – Determinanten der Rechtserkenntnis – auf bekannte Thematiken stoßen: Rechtsprechung und Regelbindung, Recht und Sprache, Recht, System und Kohärenz und schließlich: Methode und Verfassung. Bei diesen Instrumentarien der Rechtsermittlung liegt die Aufgabe auch nicht so sehr darin, bisher noch nicht formulierte Regeln aufzudecken, sondern die bekannten, oft aber nur scheinbar vertrauten Regeln den Veränderungen, etwa durch die Informationstechnik, und neuen Befunden anzupassen und sie auch neu zu überdenken. Das Recht hat seine Realität nicht in den Gesetzestexten. 5. Rechtsermittlung und »Tatsachenarbeit« getrennt zu erörtern, entspricht dem methodischen Herkommen. Methodisch erfassbar wird das gerichtliche Erkenntnisverfahren aber nur als ein Prozess, in 34 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Einleitung

dem Tatsachen- und Rechtserkenntnis zusammengeführt und verzahnt werden. Anknüpfen lässt sich an die berühmte Wendung Engischs vom »Hin- und Herwandern des Blicks«; zu entwickeln ist – im Teil E – mit dem Gedanken der Mustererkennung aber ein eigenständiges theoretisches Konzept. Ausgehend von der Unterscheidung Subsumtion / Mustererkennung, erfolgt die Analyse der kognitiven Prozesse, die das »Fallverstehen«, den ersten Zugriff auf den Fall ausmachen und die dem Richter zugleich die Denk- und Argumentationsfiguren vorgeben, die die kreativen Momente der Rechtsfindung im Wechselspiel von Tatsachenerfassung und richterlicher Wertung steuern und prägen und am Ende die gerichtliche Entscheidung bestimmen. 6. Da Datentechnik und Informationstechnologie zunehmend Techniken, Muster und Stil bestimmen, mit denen der Richter seine Fälle bearbeitet, kann eine Methodik der Praxis an diesem Befund nicht vorbeigehen. Er gibt deshalb die pragmatische Perspektive vor, unter der im Schlussteil F – Kapitel 25 – die »Methoden der Praxis« zu beschreiben sind. Maßstäbe für eine »richtige Entscheidung« sind auf diesem Wege allerdings nicht zu gewinnen. Im Kontrast zu diesen »Methoden der Praxis« sind deshalb im Kapitel 26 die Regeln und Richtigkeitskriterien, die der Richter im Prozess der Urteilsfindung zu beachten hat, im systematischen Zusammenhang darzustellen. Das Schlusskapitel hat mithin Antwort darauf zu geben, wie sich die Ergebnisse der Erörterungen zur Sachverhalts- und Rechtserkenntnis sowie zur Mustererkennung mit den Grundgedanken und Kriterien, die sich aus dem Verständnis von »Methode als Herstellung von Kohärenz« ergeben, zu einem Gesamtkonzept eines »richtigen« methodischen Vorgehens zusammenführen lassen.

VI. Im Literaturverzeichnis sind die Quellen, aus denen der Verfasser geschöpft hat, alphabetisch wohl geordnet aufgeführt. Aber dieses Buch hätte vor allem ohne eine langjährige praktische Erfahrung nie entstehen können – als Richter in den drei Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, als Präsident eines Verwaltungs- und eines Oberverwaltungsgerichts, als Referent, Dozent und Tagungsleiter in der juristischen Aus- und Fortbildung. All die Kolleginnen und Kol35 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Einleitung

legen persönlich zu erwähnen, denen ich diese Erfahrungen zu verdanken habe, würde allerdings ein allzu langes »Dank-Verzeichnis« erfordern. Das darf aber nicht hindern, vier Namen besonders zu nennen: Prof. Dr. Dr. h. c. Eberhard Eichenhofer, zuletzt Inhaber des Lehrstuhls für Sozialrecht und Bürgerliches Recht an der FriedrichSchiller-Universität Jena, Joachim Lindner, den ehemaligen Präsidenten des Thüringer Verfassungsgerichtshofes, Diplom-Psychologin Almuth Roth-Bilz und den Richter am Bundesarbeitsgericht a. D. Christoph Schmitz-Scholemann. Ihnen habe ich ganz persönlich für ihre kritische Lektüre des Manuskriptes, ihr Gespür für Unklarheiten und ihre hilfreichen Anregungen zu danken. Und so ich ihren Hinweisen nicht gefolgt bin, sind die Fehler und Unverständlichkeiten allein dem Verfasser zuzuschreiben.

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Teil A Methodik der gerichtlichen Praxis – der notwendige Wandel des Methodenbegriffs

Was ist das: Methode? Als Antwort wird man keinen »subsumtionsfähigen« Begriff erwarten können, sondern nur einen Begriff, mit dem sich sehr unterschiedliche Vorstellungen verbinden, was Methode leisten kann und soll (Kap. 1). Das gilt umso mehr, wenn an die Stelle der Vorstellungen, durch die der Methodenbegriff traditionell bestimmt war, neue und veränderte Ansätze treten. Zu diskutieren ist der Methodenbegriff in diesem Teil A also nicht nur in seinem herkömmlichen Verständnis, sondern in erster Linie in der Perspektive einer »Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens«. Das führt zunächst zwangsläufig zu einer Verengung der Perspektive auf die gerichtliche Praxis – also zu einer Abgrenzung gegenüber einer allgemeinen Juristischen Methode und der traditionellen (akademischen) Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Gegenläufig dazu ist die Perspektive, die eine Methodik der Praxis einnehmen muss, zu erweitern. Sie muss insbesondere auch die Mechanismen erfassen, die im Hintergrund der richterlichen Methodenanwendung mitlaufen und die Handhabungsroutinen entscheidend mitbestimmen. Der veränderte Methodenbegriff verlangt dann auch einen entsprechend erweiterten Erkenntnisbegriff (Kap. 5). Wie in der Einleitung bereits betont, ist Methode die Handhabung von handwerklichen Regeln; zugleich wird aber im 2. Kapitel – an Beispielen zur Anwendung der Auslegungsregeln – zu zeigen sein, dass theoriefrei eine Methodenlehre weder formuliert noch reflektiert werden kann. Umgekehrt bleibt man an ihren Praxisbezug gebunden, woraus die notwendige Eigenständigkeit einer Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens folgt (Kap. 3). Der unmittelbare Bezug auf die Rechtsprechungspraxis lässt dann allerdings auch ein Grunddilemma aller Methode augenfällig werden: Ihre Regelanwendungen lassen sich nicht selbst wieder durch Regeln hinreichend steuern oder auch nur eindeutig beschreiben (Kap. 4). 37 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

A · Methodik der gerichtlichen Praxis

Methode, das sind wesentlich auch Routinen. Für eine Methodik der Praxis bekommen so die Mechanismen, die das Verständnis, die Einübung und die Handhabung von Regelanwendungen bestimmen, eine entscheidende Bedeutung (Kap. 5). Methodisches Denken ist immer auch als institutionell eingebundenes Denken zu verstehen (Kap. 6).

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Kapitel 1 Methode – ein Begriff mit vielfältigen Deutungen

Fragen wir, was der Begriff »Methode« besagt, scheint eine brauchbare Definition schnell gefunden zu sein: Methode ist ein »auf einem Regelsystem aufbauendes Verfahren, das zur Erlangung von [wissenschaftlichen] Erkenntnissen od. praktischen Ergebnissen dient«, heißt es z. B. im Fremdwörter-Duden. 1 Die Brockhaus Enzyklopädie beschreibt sie als »ein nach Gegenstand und Ziel planmäßiges (methodisches) Verfahren« 2 und die »Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie« als »ein nach Mittel und Zweck planmäßiges (= methodisches) Verfahren, das zu technischer Fertigkeit bei der Lösung theoretischer und praktischer Aufgaben führt«. 3 Die Methodenlehre bestimmt sich dann als die Lehre von diesem Verfahren.

I.

Zwingende Regeln oder freie Methodenwahl?

Doch in diese Definition fügt sich die juristische Methodendiskussion nur dann nahtlos ein, wenn man sie allein von ihren gängigen Regeln aus – hier den Auslegungs- und Subsumtionsregeln – bestimmt. Aber, und das ist das für Juristen entscheidende Problem, ist mit der Anwendung der Regeln zugleich auch die »richtige«, fachlich nicht mehr angreifbare Lösung garantiert? Hier wird ein Zwiespalt deutlich, den A. Podlech auf folgenden Nenner gebracht hat: Im Allgemeinen gilt: »Die Methodenlehre beschreibt die Kriterien, die die Frage zu entscheiden gestatten, wann ein hinreichend genau umschriebenes Problem als gelöst anzusehen ist«. Da aber »unter Juristen selten feststeht, wann ein Problem als gelöst anzusehen ist, wann also z. B. eine Entscheidung richtig […] ist, gehen sie meist den um1 2 3

Ausgabe 1997. 21. Aufl. 2006. K. Lorenz, EPhWTh (1. Aufl.): Art. »Methode«, Bd. 2, S. 876.

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A · Methodik der gerichtlichen Praxis

gekehrten Weg. Sie versuchen nachzuweisen oder gehen davon aus, daß es eine richtige Methode gibt, deren richtige Anwendung das richtige Ergebnis liefert.« 4 Beispiele bieten hier die Begriffsjurisprudenz und Vertreter der subjektiven Auslegungstheorie. Diese letztgenannte Position, die das richtige Ergebnis durch klare und eindeutige methodische Regeln – durch Methodensicherheit – erreichen will, kommt exemplarisch in der Kritik zum Ausdruck, die Rüthers an vielen Stellen gegen die in der Praxis der Rechtsprechung geübte »freie Methodenwahl« geäußert hat. So zitiert er etwa den früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, W. Zeidler, mit dem lakonischen Satz: »Ach, wissen Sie, bei uns hat jeder Fall seine eigene Methode« und nimmt dies als Beleg für sein Verdikt, hier würde »methodische Grundsatzlosigkeit zum theoretischen Prinzip« erhoben. 5 Unreflektiert bleibt dabei, dass die Lösung eines wirklich neuen Problems in der Regel auch ein methodisch innovatives Vorgehen verlangt – in den Naturwissenschaften eine Selbstverständlichkeit. »Methode« meint – und dies deutet sich bereits in seiner Etymologie an – nicht nur das Beschreiten bekannter Wege. Gebildet ist das Wort aus den griechischen Wörtern »hodos« in der Bedeutung: Weg, Gang, Wegstrecke, Art und Weise der Erklärung und der Präposition »meta« u. a. in der Bedeutung von nach, mitten, hinter, gemäß. Die naheliegenste Bedeutung ist also »im Nach-Gang« (meta-hodos). Methode weist den Weg, den man gehen muss, um zum Ziel zu kommen. Wie aber, wenn Neuland erschlossen werden muss, wenn eine Entscheidung nicht im »Nachgehen« eines bereits vorbegangenen Weges, sondern nur im Voranschreiten in noch unwegsamem Gelände getroffen werden kann? – Auch hier bleibt das Bild des »Weges« entscheidend: Der Weg muss dann so gebahnt sein, dass andere ihn, bequem Regeln folgend, nachgehen können. Er muss »nachvollziehbar« sein, es muss ein Verfahren nach neuen Grundsätzen 6 sein. Zur Illustration stelle man sich Examenskandidaten und den gleichen Klausurfall in den Jahren 1956 und 2011 vor, Thema: Berufszulassungsschranken. Seit dem Apothekenurteil des Bundesverfassungsgerichts kann man von jedem Kandidaten verlangen, dass er A. Podlech 1972, S. 492/Fn 5. B. Rüthers 2006, S. 54; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 704. 6 In Abwandlung der Definition Kants: »Wenn man etwas Methode nennen soll, so muss es ein Verfahren nach Grundsätzen sein«, KrV B 883. 4 5

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1 · Methode – ein Begriff mit vielfältigen Deutungen

die in der Entscheidung zur Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips entwickelte Dreistufentheorie kennt und den Fall »im Nachgang« zur Schrankensystematik dieses Urteils löst. Vor diesem Urteil hätte man den heute üblichen Lösungsweg von keinem der Kandidaten erwarten können und dürfen. Es spricht sogar vieles dafür, dass man einer Klausur, die diese Lösung gewählt hätte, in der Sache »methodische Grundsatzlosigkeit« vorgeworfen hätte. Der Weg, der Problematik des »einfachen« Gesetzesvorbehalts und der »leerlaufenden« Grundrechte statt über eine Wortlautinterpretation, d. h. über den Versuch einer subsumtionsfähigen Begriffsdifferenzierung zwischen »Berufswahl« und »Berufsausübung«, über das Muster des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beizukommen, gehörte noch nicht zum methodischen Repertoire. Methode muss offen sein, sich zu einem neuen Problem überhaupt einen Weg zu bahnen oder ein altes Problem auf neuen Wegen zu lösen. Wie dies methodisch geschehen kann – ohne sich mit dem Hinweis zu begnügen, hier handele es sich eben um Intuition oder (juristisch) Judiz –, ist eines der Hauptprobleme juristischer Methodik. Einen wesentlichen Ansatz, in diesem noch wenig strukturierten Bereich das methodische Repertoire zu erweitern, sehe ich in einer Lehre der (juristischen) »Mustererkennung« (Teil E). Voraussetzung einer solchen Erweiterung des methodischen Repertoires ist aber, dass sowohl die »Wege«, die zu gehen sind, als auch die Instrumente und Denkformen von der Methodik nicht starr vorgegeben sind – auch nicht durch dogmatische Vorgabe des Zieles.

II.

Methode – ein Instrument für unterschiedliche Zielsetzungen

Die Ziele juristischer Methoden, nach denen sich die »Wegführung«, d. h. die Methodenlehre, richten muss, sind – so wird sich im weiteren Verlauf unserer Untersuchungen zeigen – entscheidend von unserem Verständnis von dem abhängig, was »Recht« ist, wie es erkannt werden kann und was ein Urteil gewährleisten soll. Im Spiel sind mit anderen Worten grundsätzliche rechtsphilosophisch-theoretische Positionen. Nicht, um die diversen Zielkonflikte schon zu Beginn zu lösen, sondern um bei der Bestimmung dessen, was unter Methode zu verstehen ist, klarzumachen, wie unterschiedlich deren Ziele sein können, gilt es deshalb, sich diese Ziele wenigstens in einem Tableau 41 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

A · Methodik der gerichtlichen Praxis

zu vergegenwärtigen. Nur so ist es möglich, eine Zweck-Mittel-Relation aufzustellen (welches Methodenverständnis passt zu welcher methodischen Regel?) und die Tauglichkeit konkreter methodischer Instrumentarien zu prüfen (sind sie den Zwecken adäquat?), um eine Methodenlehre theoretisch überhaupt (re)-konstruieren zu können. Allein auf eine Methodik der gerichtlichen Praxis bezogen, ergibt sich bereits hier eine Vielzahl von z. T. parallelen, z. T. konfligierenden Zielsetzungen. Methode soll: 1. eine »gerechte« Entscheidung gewährleisten; 2. soll eine »willkürliche« Entscheidung verhindern – eine Entscheidung nach den persönlichen Maßstäben des Richters; 3. soll die Nachprüfbarkeit der Entscheidung gewährleisten a. für die Parteien und Beteiligte b. für die Rechtsmittelinstanz c. für die Öffentlichkeit d. im Sinne einer grundsätzlichen Transparenz staatlichen Handelns; 4. soll die Gesetzesbindung des Richters gewährleisten; 5. soll die Einordnung in das Recht gewährleisten; 6. soll die »Einheitlichkeit der Rechtsprechung« wahren; 7. soll zu einer »richtigen Entscheidung« führen. Während die unter 2. genannte Zielvorgabe mit allen anderen aufgeführten harmoniert, können dagegen die Ergebnisse von Entscheidungen mit den Zielen 3, 4 und 5 zwar durchaus übereinstimmen – müssen es aber keineswegs. Und darüber, ob etwa die Ziele 5 und 6 grundsätzlich identisch oder grundsätzlich zu unterscheiden sind, wird man lange streiten können. Man muss sich mit anderen Worten nur kurz in das Tableau hineindenken, um wesentliche Streitfragen der Methodendiskussion gleichsam systematisch entwickeln und aufzeichnen zu können. Die Diskussion über Maßstäbe und die entscheidenden inhaltlichen Gesichtspunkte, die als Prinzipien hinter ihnen stehen und nach denen diese Streitfragen dann konkret zu beurteilen sind, kann aber erst in den Sachkapiteln (Teile C, D, F) erfolgen. In der Sache sind dies etwa der Zusammenhang von Auslegungszielen und Demokratieprinzip (Nr. 4) und der Zusammenhang von Methode und Fragen der Werteordnung (Nr. 1) sowie die institutionelle Seite der Rechtssicherheit (Nr. 3, 5, 6). Das Postulat der »richtigen Entscheidung« (Nr. 7) ist dagegen, wie bereits in der Einleitung betont, 42 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

1 · Methode – ein Begriff mit vielfältigen Deutungen

nicht inhaltlich, etwa auf Kriterien objektiver Richtigkeit, ausgerichtet; es gibt der Methodik als Herstellung von Kohärenz vielmehr ihr formales Konstitutionsprinzip vor (Kap. 26 I.).

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Kapitel 2 Methode und Methodenlehre

Es divergieren aber nicht nur die Zielvorgaben, nach denen sich eine Methodenlehre der gerichtlichen Praxis ausrichten soll. Als Methodenlehre hat sie nicht nur ihre eigenen theoretischen Grundlagen und ihre rechtswissenschaftlichen Vorgaben (z. B. aus der Dogmatik und dem Verfassungsrecht) zu reflektieren und gegebenenfalls in Regeln zu transformieren. Als Gegenstand hat sie es vornehmlich mit der Methode zu tun, die als soziale Praxis auch gehandhabt wird. Hier hat sie nicht nur die Aufgabe, dieser sozialen Praxis – der Methode als praktiziertem Handwerk – Kriterien für ein »richtiges« methodisches Vorgehen an die Hand zu geben. Sie muss diese Praxis auch reflektieren und braucht dazu Instrumente zur Analyse. Erst über eine theoretische Reflexion so gewonnener Befunde, die die kritische Analyse eigener theoretischer Positionen einschließt, kann sie dann auch auf die expliziten und impliziten Regeln der Praxis zurückwirken und auf die oft changierenden Vorstellungen, die letztlich die Handhabungen prägen, Einfluss nehmen.

I.

Methode als Handwerk

»Methode hat man, über Methode spricht man nicht!« – Das zwiespältige Verhältnis, das Juristen gemeinhin zur theoretischen Reflexion ihrer Methode, d. h. zur Methodenlehre haben, scheint sich als Problem zunächst einfach aufzulösen. Methode verstehen sie als »Gebrauchsmethodik«, als Handhabung von handwerklichen Regeln und Anwendung von Schemata, die bei der Rechtsfindung und Rechtsanwendung systematisch abzuarbeiten sind – jedenfalls bei dieser Arbeit im Hintergrund zur Kontrolle immer mitlaufen müssen, wenn die Rechts- und Tatsachenermittlung professionellen Anforderungen genügen soll. Diese Einstellung ist auch nicht nur im oberflächlichen Sinne »pragmatisch«, sie entlastet die Praxis von

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2 · Methode und Methodenlehre

theoretischen Diskussionen und Reflexionen, die sie im Alltagsgeschäft kaum leisten könnte. Diese Regeln – z. B. die »Auslegungsregeln«, für die herkömmliche Methodenlehre ihr Kernstück – wollen, systematisch angewendet, wissenschaftlich abgesicherte und nachprüfbare Interpretationen der entscheidungsrelevanten Gesetzesnorm sicherstellen. Sie sind dem Juristen seit seinen Anfangssemestern vertraut. Eine Argumentation, die sie in üblicher Weise befolgt, sei es in einer Klausur, sei es in einem Urteil oder Aufsatz, kann deshalb meist an Vertrautes anschließen. Sie schafft so Vertrauen. Vergleichbar gilt das auch für die Regeln und Schemata, die wir im materiellen Recht und im Prozessrecht anwenden. Sie bilden nicht von ungefähr das Kernstück in Grundrissen und Repetitorien. Das Prüfungsschema für die »Teilnahme«, den Betrugstatbestand, die GoA, das Kondiktionsrecht und die Zulässigkeitsvoraussetzungen der verwaltungsgerichtlichen Klage sind Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen. Als »Handwerkszeug« für die Praxis sind diese Regeln und Schemata sogar geradezu davon abhängig, dass sie losgelöst von theoretischen Hintergründen angewandt werden können. Nur so sind sie praktikabel. Sie sind Routinen und es gilt für sie auch das Lob der Routine: Ihre Essenz liegt in dem »Nicht-Nachdenken-Müssen«. Eingebettet in die Übungen und Üblichkeiten der Praxis – gleichsam als geronnene Erfahrungen – überdauern und überspielen sie auch die unterschiedlichsten theoretischen Positionen derer, die sie anwenden. Als Konsequenz ergibt sich deshalb auch eine Art struktureller Immunität der methodischen Praxis gegenüber Forderungen, diese zu verändern. 7 Brüche wird es nur geben, wenn diese Regeln wesentliche Bereiche des Handwerks nicht mehr erfassen und sich das Handwerk selbst wesentlich verändert. Wenn da Zweifel aufkommen, muss man eben doch nachdenken. Über gute Gründe für solche Zweifel wird unten zu reden sein (III.). Aber in der Regel funktioniert es. Wer als Jurist sein Handwerk gelernt hat und versteht, weiß, wie er als »Praktiker« einen Fall juristisch angeht.

7

Näher dazu Kap. 26, Vorb.

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A · Methodik der gerichtlichen Praxis

II.

Schematismus im Vordergrund – Theorie im Hintergrund

Methode ist Handwerk, war eben die gleichsam beruhigende These. Methodenlehre ist aber auch Philosophie und Theorie – und dies nicht mit dem Ziel einer schönen Theorie, sondern einer auch theoretisch reflektierenden Handhabung von Regeln und Routinen. Die Notwendigkeit, uns diesen Zusammenhang von geübter Praxis und theoretischer Reflexion genauer anzusehen, zeigt sich am klarsten an den Schnittstellen, in denen theoretische, modellhafte Vorstellung von Praxis und die konkreten praktischen Erfahrungen in der Methodenlehre aufeinandertreffen, aber nicht mehr zusammenpassen. Wie gesagt, als »Handwerkszeug« für die Praxis sind methodische Regeln auch geradezu davon abhängig, dass sie losgelöst von theoretischen Hintergründen angewandt werden und praktikabel sind. Aber das ändert nichts daran, dass solche Regeln auf bestimmten Vorstellungen von Recht und wie Recht »gefunden« und angewandt wird oder werden soll »aufsitzen« – und so auch in der Luft hängen, wenn diese Modellvorstellungen falsch sind oder von den Erfahrungen der Rechtswirklichkeit – und auch vom Zeitgeist – nicht mehr getragen werden. Theoriefrei kann man eine Methodenlehre weder formulieren noch reflektieren. Gutes Anschauungsmaterial für den Zwiespalt und das Zusammenspiel von dem auf der Bühne gespielten Stück »Praxis« und der im Hintergrund wirksamen theoretischen Bühnentechnik bieten auch hier die Auslegungsregeln – das Kernstück der herkömmlichen Methodenlehre. In einer Beschreibung der Auslegungsregeln gibt W. Hassemer sehr anschaulich wieder, was Juristen gemeinhin unter Methode verstehen und was etwa auch das Maximum dessen ist, was man als Prüfer in den juristischen Examen oder als Vortragender in Fortbildungsveranstaltungen für Richter im Wissenshorizont des Gegenüber erwarten kann: »Den Kern einer juristischen Methodenlehre im kodifikatorischen System verdanken wir Friedrich Carl von Savigny. Er hat – gültig bis heute – vier Wege beschrieben, auf denen Gesetze sich dem Verständnis erschließen können, auf denen sich aber auch Rechtfertigung und Kritik dieses Verständnisses finden lassen. Das gibt diesen Wegen nicht nur Stabilität, sondern verschafft ihnen eine zwingende Vernünftigkeit; sie erklären sich gleichsam von selbst, wenn sie den Richter auffordern: Triff deine Entscheidung nach dem Wortlaut des Gesetzes; achte auf den systematischen Zusammenhang, in dem das Gesetz steht; verfolge das Regelungsziel, das der

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2 · Methode und Methodenlehre

Gesetzgeber im Auge hatte, und richte dich nach dem Sinn, den das Gesetz heute hat. Das nenne ich: das Gesetz ernst nehmen und daraus eine Lehre für den Umgang mit dem Gesetz erschließen, die dem Gesetz gerecht wird.« 8

Auf die Unterschiede in den Bezeichnungen und Formulierungen der Auslegungsregeln im Einzelnen kommt es mir an dieser Stelle nicht an. Es gilt aber zum einen festzuhalten, was L. Geldsetzer in seiner Einleitung zum Neudruck von Thibauts »Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts« von 1806 resümierte: »Die Namen der Kanones haben sich ein wenig geändert, der Schematismus ist aber geblieben.« 9 Das Lob der Routine muss den Schematismus einschließen. Es gilt aber vor allem auch, sich vor Augen zu führen, dass dieser Schematismus zugleich täuscht. Denn mit den theoretischen Hintergründen ändern sich auch die Vorstellungen, mit denen die Kanones interpretiert und angewandt werden. Das erweist schon ein kurzer Blick auf drei klassische Streitfragen der Methodenlehre; die Stichworte dazu sind: 1. der Zusammenhang von teleologischer Auslegung und Richterbild, 2. die Frage nach der topischen oder normativen Struktur der Kanones und 3. die Fragestellung Rekonstruktion oder Interpretation.

1.

Teleologische Auslegung und Richterbild

Es ist zwar auch heute immer noch üblich, die Methodik der Auslegung auf Savigny zurückzuführen; Hassemers Skizze ist da nur ein Beispiel. Und auch bei ihm fällt dabei, wie meist, ein ganz wesentlicher Unterschied unter den Tisch: Savigny klammerte ein zentrales Element der heutigen Auslegung aus – das teleologische. Die »EinW. Hassemer, ZRP 2007, 215; weiter heißt es: »Das alles kommt kreuzvernünftig daher, und man kann verstehen, dass diese Regeln der Auslegung Jahrhunderte überdauert haben. Die Kraft und Verlässlichkeit der Auslegungsregeln darf man aber nicht überschätzen. Ihre Wirkung auf die Bindung des Richters hat drei schmerzliche Grenzen, an denen die Hoffnung auf vollständig kontrollierbare und streng regelgerechte richterliche Auslegung zerschellt: Die Zahl der Regeln ist nicht vollständig beschrieben, und die Kriterien der Zugehörigkeit zum Regelkreis sind nicht eindeutig; sie sind untereinander heterogen, und sie verfügen nicht über ein eindeutiges Regelwerk ihrer Anwendung. Die juristische Methode ist und bleibt ein aporetisches Instrument.« 9 Geldsetzer, S. XLIII in der Einleitung zum Nachdruck der 2. Aufl. von Thibaut, Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts, Düsseldorf 1966. 8

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A · Methodik der gerichtlichen Praxis

sicht in den Grund des Gesetzes (ratio legis)« liegt für ihn »streng genommen außer den Gränzen jener Aufgabe« – der Aufgabe der Gesetzes-Auslegung. 10 Wer der »logischen« Auslegung folgt, wie nach dem damaligen Sprachgebrauch die »teleologische« genannt wurde, »stellt sich über den Gesetzgeber und verkennt also die Gränzen des eigenen Berufs; es ist nicht mehr Auslegung die er übt, sondern wirkliche Fortbildung des Rechts.« 11 Die teleologische Auslegung ist mithin »ein dem reinen Richteramt nicht zukommendes Verfahren«, das »aus dem Gebiete wahrer Auslegung verwiesen werden musste.« 12 Wie Savigny in seinem Streit mit Thibaut den Beruf der Zeit für die Gesetzgebung verneinte, 13 verneinte er auch – und wiederum gegen Thibaut – den Beruf des Richters zur Rechtsfortbildung. Bekanntlich konnte sich Savigny mit beiden Positionen nicht durchsetzen. Unbezweifelbar bleibt jedoch zum einen seine Erkenntnis, dass »im Einzelnen die Gränze zwischen reiner Auslegung und eigentlicher Fortbildung des Rechts oft sehr zweifelhaft sein kann«. 14 Zur Konstante der Methodendiskussion wurde zum anderen auch der untrennbare Zusammenhang von Richterbild – Beruf des Richters zur Rechtsfortbildung – und Grundpositionen zum Verständnis der Auslegungsregeln. Diskussionsgegenstand sind diese Probleme heute in Gestalt der nach wie vor ungelösten Fragen um die rechtstheoretische und methodische Einordnung des »Richterrechts« und im Streit um eine Abkehr von den Irrtümern »der vermeintlich ›objektiven‹ Methode«. 15

2.

Topische oder normative Struktur der Kanones

Auch wenn das teleologische Element heute ein fester Bestandteil der Auslegungsregeln ist – und der Schematismus der Kanones so gleichsam lückenlos abgesichert erscheint – sind die Anwendungsregeln, nach denen diese Regeln zu handhaben sind, immer noch hoch umstritten. Für Savigny waren das grammatische, das logische, das his10 11 12 13 14 15

Savigny 1840, Bd. 1, S. 216 f. Savigny 1840, Bd. 1, S. 322. Savigny 1840, Bd. 1, S. 330. Savigny 1814. Savigny 1840, Bd. 1, S. 329 f. B. Rüthers 2006, S. 57. Ausführlich dazu Kap. 20.

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2 · Methode und Methodenlehre

torische und das systematische Element in der Tat nur Elemente der Auslegung und »nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geschmack und Belieben wählen könnte«. 16 Demgegenüber werden die Auslegungsregeln heute (wie übrigens schon zu Savignys Zeiten 17) überwiegend im Sinne eines »Kataloges« von Argumentationsgesichtspunkten, also eines Topoi-Kataloges, verstanden und gehandhabt. Zur Ermittlung normativer Inhalte werden also – um es bildlich zu formulieren – Werkzeuge eingesetzt, deren Handhabung weder hinsichtlich ihrer Einsatzbedingungen noch ihrer Rangfolge und Priorität, noch schließlich ihrer Anwendungsintensitäten näheren normativen Vorgaben unterliegen. Anders formuliert heißt das: Die Rechtsfindung ist in ihrem Kerngeschäft von normativen Bindungen freigestellt. Unter dem Gesichtspunkt der Normbindung fordert diese Position es geradezu heraus, Theorieansätze zu entwickeln, mit denen es gelingen könnte, auch die Auslegung selbst normativ zu steuern. Daher der Streit über Rangfolge und normative Struktur der Auslegungsgrundsätze. Wenn also z. B. über eine notwendige Abkehr von den Irrtümern der vermeintlich »objektiven« Methode und im Gegenzug dazu um die Anerkennung der zentralen Bedeutung der Entstehungsgeschichte für die Auslegung einer Rechtsnorm gestritten wird, 18 geht es genau darum, Rangfolgen normativ – etwa über das Demokratieprinzip – zu begründen. Man kann einer solchen Position aus der langen Erfahrung der Methodendiskussion entgegenhalten, sie überschätze »sowohl die Verbindlichkeit als auch die Leistungskraft der juristischen Methodenlehre gewaltig«. 19 – Die entscheidenden Argumente für eine so formulierte Skepsis ergeben sich aber nicht nur aus einem Erfahrungswissen, sondern aus einem – auch normativ nicht überspielbaren – theoretischen Zusammenhang zwischen juristischer Methode und den erkenntnistheoretischen Bedingungen und Mechanismen, denen wir bei der Auslegung unterliegen. Wie man es auch immer nennen mag – ob Rechtserkenntnis, Rechtsfindung, Rechts-

Savigny 1840, Bd. 1, S. 215. Vgl. bei Savigny das Kap. § 50 – Ansichten der Neueren von der Auslegung, 1840, Bd. 1, S. 318 ff. 18 B. Rüthers, JZ 2006, 53, 57 f.; näher dazu Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 717 ff., 778 ff., 796 ff. 19 W. Hassemer, ZRP 2007, 213, 214 gegen die zuvor geschilderte Position von Rüthers. 16 17

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A · Methodik der gerichtlichen Praxis

gewinnung –, es geht bei der Auslegung um die Frage, wie und unter welchen Voraussetzungen wir einen Normtext »verstehen«, seinen Sinn erfassen, was wir ihm im Hinblick auf einen konkreten Fall als Vorgabe entnehmen können etc. 20 Eine Methodenfrage ist es, wie dieser »Verstehensprozess« theoretisch zu erfassen und zu formulieren ist. Es ist aber müßig, die Art und Weise, wie wir verstehen, also den »Verstehensprozess« selbst, in normative Regeln fassen zu wollen. Kognitive Prozesse lassen sich erkennen, aber nicht normieren. Zu den Phänomenen der Auslegungsregeln im Kaleidoskop der Methodenlehren gehören mithin nicht nur der Schematismus, mit dem die Kanones gelehrt und gehandhabt werden, sondern auch die mit ihnen untrennbar verbundenen – im Einzelnen sehr unterschiedlichen – theoretischen Positionen, die man als die dazugehörigen »Verstehenstheorien« bezeichnen kann.

3.

Rekonstruktion oder Interpretation – Exkurse zur Sprachphilosophie und Hermeneutik

Betreiben wir »Auslegung«, sind wir unweigerlich Mitspieler in Sprachspielen und damit den Spielregeln unterworfen, die Gegenstand der Interpretationstheorie und somit auch der Sprachphilosophie sind. Sehr anschaulich lässt sich dieser Zusammenhang am Beispiel der unterschiedlichen Vorstellungen belegen, die wir mit dem Begriff der Rekonstruktion verbinden können. Folgen wir zunächst nochmals Savigny: Wenn er »das Geschäft der Auslegung […] als die Reconstruction des dem Gesetze innewohnenden Gedankens« bestimmt 21, gebraucht er einen Terminus, der zu seiner Zeit – d. h. in der Zeit des deutschen Idealismus – ein Modewort war. 22 Zum Verständnis des damaligen Begriffsgebrauches sei aus dem Lessing-Aufsatz F. Schlegels von 1804 zitiert: »Es ist nichts schwerer, als das Denken eines andern bis in die feinere Eigentümlichkeit seines Ganzen nachkonstruieren, wahrnehmen und charakterisieren zu können […]. Und doch kann man nur dann sagen, daß man ein Werk, einen Geist verstehe, wenn man den Gang und Glie20 21 22

Näher dazu für das Sprachverstehen Kap. 17, für die Auslegungsregeln Kap. 20. Savigny 1840, Bd. 1, S. 213. Vgl. den Artikel »Rekonstruktion«, G. Scholtz, HWPh Bd. 8, S. 570 ff.

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2 · Methode und Methodenlehre

derbau nachkonstruieren kann«. 23 »Reconstruction« ist als »Wiederherstellung« zu verstehen und diesen Vorgang muss man sich mit F. Schleiermacher als Rekonstruktion aus dem Allgemeinen der Sprache und der Individualität des Sprechers oder Autors denken. 24 Dem Interpreten mag das gut oder schlecht gelingen; es ist aber nicht mitgedacht, dass es unhintergehbar der Interpret selbst ist, der mit seiner Individualität die Rekonstruktion inhaltlich prägt. Die Aufgabe der Hermeneutik (im damaligen Verständnis!) sieht Schleiermacher denn auch darin, »die Rede zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber«. 25 Es ist diese Sicht, in der auch noch die heutige Vorstellung wurzelt, das Gesetz sei klüger als der Gesetzgeber. Die Frage ist freilich, ob wir das Interpretieren von Texten heute noch in dieser Form der »Reconstruktion« verstehen können. Man wird sie verneinen müssen. Sprachphilosophie und der Wandel der klassischen hermeneutischen Auslegungstheorien zur »Philosophischen Hermeneutik« haben spätestens in der Mitte des letzten Jahrhunderts zu entscheidenden Paradigmenwechseln geführt. Diese sind auch für nahezu alle Diskussionen um die »Juristische Methode« so grundlegend, dass man die neuen Ansätze wenigstens in den Grundthesen verstanden haben muss, wenn man diesen Diskussionen folgen will. a)

Exkurs I zu Wittgenstein

In der, wie man sie genannt hat, »klassischen Referenzsemantik« 26 hatte die Sprache Abbildfunktion. Dem Wort entsprach ein Gegenstand oder eine Idee, und das ergab seine Bedeutung. Wörter als Zeichen für Sachen. 27 Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bauten einflussreiche Philosophen ihr erkenntnistheoretisches Denken auf Korrespondenzvorstellungen auf und waren »fixiert auf ein Bild der Sprache als Abbildfunktion, durch die wahre Aussagen adäquat mit der Wirklichkeit verkoppelt werden«. 28 Doch das Ziel einer Dieses Zitat fügt G. Scholtz in seinem Artikel »Rekonstruktion« zur Erläuterung der Savigny-Stelle unmittelbar an, aaO. S. 570 f. 24 G. Scholtz aaO. S. 571. 25 F. D. E. Schleiermacher 1999, S. 94. 26 E. Braun 1996, S. 40. 27 Siehe dazu J. Simon 1981, S. 107. 28 M. Geier 1989, S. 101, vgl. dort auch S. 23 f. 23

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A · Methodik der gerichtlichen Praxis

tragfähigen »Referenztheorie der Bedeutung« wurde nie erreicht 29 und ist aufgegeben. Spätestens die 1953 (posthum) veröffentlichten »Philosophischen Untersuchungen« Wittgensteins brachten die entscheidende, sprachpragmatische Wende (pragmatic turn). Sie liegt in dem Grundverständnis der »Bedeutung« als »Gebrauch«. In einer Grundaussage dazu heißt es: »Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ›Bedeutung‹ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« 30

Wie dies genauer zu verstehen ist, wurde von Wittgenstein allerdings nie systematisch entwickelt, sondern stets nur in kurzen Gedankenexperimenten, Feststellungen, Metaphern und dialogischen Überlegungen paraphrasiert. Zentral ist die oben schon benutzte Metapher des »Sprachspiels«. Sie diente ihm dazu, die vielfältigen Ähnlichkeiten zwischen Sprache und Spiel deutlich werden zu lassen. 31 Es ist die doppelte Abhängigkeit des Gebrauchs – von den konventionellen Regeln der Sprache und von den Sprachsituationen, in welchen das Wort verwendet wird –, die verstanden werden muss. Die »Analogie der Sprache mit dem Spiel« soll uns da ein Licht aufstecken 32, wie Sprache und Spiel durch Regeln bestimmt und andererseits doch wieder »nicht überall von Regeln begrenzt« sind. 33 Diese Analogie wird sich im weiteren Verlauf auch für unsere eigenen Überlegungen als durchaus fruchtbar erweisen; das gilt sowohl für die juristische Auslegungsproblematik 34 als auch für das Problem der prinzipiellen Unvollständigkeit von Spielregeln, das die Regeln der Sprache mit der Methodik teilen (Kap. 4). Zunächst bedeutet sie aber, dass ein Text, dessen Worte ihre Bedeutungen nicht mehr unmittelbar aus einem Gegenstandsbezug gewinnen, sondern aus Gebrauch und Sprachsituation heraus erhalten, kein Gegenstand einer »Reconstruction des dem Gesetze innewohnenden Gedankens« (Savigny) mehr sein kann.

29 30 31 32 33 34

J. Simon 1981, S. 75. L. Wittgenstein PU § 43. H.-J. Glock 2000, S. 325. PU § 83. PU § 84 – mit Beispielen §§ 66, 71, 83. Kap. 4 II.; Kap. 17 II. 2. »Exkurs III« zu Wittgenstein.

52 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

2 · Methode und Methodenlehre

b)

Exkurs »Philosophische Hermeneutik«

Für die Diskussion in der Bundesrepublik noch einflussreicher als Wittgenstein wurde die Philosophische Hermeneutik, verbunden mit den Namen Heidegger und Gadamer. Dieser philosophische Ansatz war es, der nach 1960 die juristische Methodendiskussion entscheidend prägte. Als Namen seien hier etwa genannt: A. Kaufmann, J. Esser, K. Larenz, W. Hassemer, B. Rüthers. Zwar wird die Hermeneutik von diesen Autoren in so unterschiedlichen Spielarten als theoretischer Ansatz genutzt, dass man bei näherem Hinsehen eher die Divergenzen findet als das Verbindende. Das mag an dieser Stelle allerdings auf sich beruhen. 35 – Entscheidend ist in unserem Zusammenhang die Abkehr der Philosophischen Hermeneutik von einem »objektivistischen Erkenntnisbegriff«, wie es A. Kaufmann formuliert hat. 36 Auslegung wird nicht mehr vornehmlich als Reproduktion eines vorhandenen Sinnes begriffen, sondern als kreativer Vorgang verstanden. 37 Gadamer spricht so ausdrücklich von der »hermeneutischen Notwendigkeit, stets über die bloße Rekonstruktion hinaus zu sein«. 38 »Eine richtige Auslegung ›an sich‹ wäre« deshalb für ihn »ein gedankenloses Ideal, das das Wesen der Überlieferung verkennte«. 39 Das Verstehen eines Textes läuft somit immer nur im Kontext der Überlieferung – über »Vor-Urteile«. Auf die übliche erkenntnistheoretische Vorstellung von einem erkennenden Subjekt bezogen, das frei und unvoreingenommen einem Objekt seiner Erkenntnis gegenübersteht, heißt das, dass es diesen objektiven, an der »Rekonstruktion« eines Textes unbeteiligten »Beobachter« nicht (mehr) gibt. Wir stehen also vor einem grundsätzlichen Problem: Rechtsnormen müssen sich der Sprache bedienen. Die Sprache liefert uns aber eher höchst labile als sichere Verknüpfungen von Worten und Bedeutungen (d. h. auch Zugriff auf die »Realität«). Legen wir Texte aus, haben wir es eben nicht nur mit dem »Allgemeinen der Sprache und der Individualität des Sprechers oder Autors« (Schleiermacher) zu tun, sondern immer auch mit dem Subjekt, das einen Text immer nur nach seinen Bedingungen verstehen kann. Verstehen ist immer Zur Analyse vgl. etwa M. Frommel 1981; zur grundsätzlichen Kritik an der Hermeneutik als wissenschaftliche Methode B. O. Küppers 2008, S. 200 ff. 36 A. Kaufmann 2004, S. 101. 37 Vgl. M. Jung 2001, S. 71. 38 Gadamer 1990, S. 380. 39 Gadamer 1990, S. 401. 35

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A · Methodik der gerichtlichen Praxis

ein »Einbauen« einer Information in den eigenen Kontext. Anders kann das Ich Informationen gar nicht decodieren. Wenn wir heute über die Auslegung von Normen sprechen, wissen wir also, dass wir damit keine alle Subjekte verbindende Bedeutungsfeststellung treffen können, sondern das Verstehen von Texten, vereinfacht gesagt, zunächst immer subjekt- und zeitgeistabhängig ist. Selbst die Wortlautinterpretation steckt mithin voller theoretischer Implikationen und wir werden im Kapitel 17 (III. u. IV.) genau analysieren müssen, inwieweit hier intersubjektive Verbindlichkeit möglich sein kann.

III. Schlussfolgerungen Aus den Überlegungen dieses Abschnittes sind es hauptsächlich drei Schlussfolgerungen, die wir für das weitere Nachdenken über eine Methodik der Praxis im Auge haben müssen: 1. Da ist zunächst die Grundthese, die sich aus der Analyse der theoretischen Implikationen um die Auslegungsregeln ergab: Theoriefrei kann man eine Methodenlehre weder formulieren noch reflektieren. Nur wenn das erkenntnistheoretische Vorverständnis als die Grundlage deutlich wird, auf der die eigenen methodischen Überlegungen aufbauen, kann der Leser sie auch reflektieren. 2. Zur Dynamik von Theorie und Handwerksregeln: Die – scheinbare – Konstanz im Schematismus der Auslegungsregeln bietet einen weiteren Grund zum Weiterdenken. – Spricht man von »theoretischen Implikationen« und »Vorverständnissen«, legt das die Annahme nahe, dass die Methode als Handwerk, als Routine oder als Schemaanwendung von alldem eigentlich unberührt bleibt. Aber so verhält es sich gerade nicht – weder für die Regeln noch für ihre Handhabung: 2.1 Methodische Regeln sind »Handwerkszeuge« für die Praxis und als Routinen geradezu davon abhängig, dass sie losgelöst von theoretischen Hintergründen angewandt werden können. Und damit ist auch das grundsätzliche Problem ihrer praktischen und theoretischen Bewährung angesprochen: Diese Regeln funktionieren nur so lange, soweit

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2 · Methode und Methodenlehre

sie im Bewusstsein der Beteiligten wesentliche Bereiche des Handwerks auch erfassen, • solange sich das Handwerk nicht selbst wesentlich verändert und • solange die Regeln auch mit dem theoretischen Bewusstsein der Beteiligten noch zusammenpassen. Wenn da Zweifel aufkommen, muss man eben doch nachdenken. Und Gründe für diese Zweifel gibt es in mehrfacher Hinsicht: Zum einen werden wesentliche Routinen der Praxis von der klassischen Methodenlehre gar nicht erfasst. Das gilt namentlich für den Bereich der Sachverhaltsermittlung und der Mustererkennung. Zum anderen haben sich die richterlichen Arbeitsweisen durch Informationstechnik (elektronische Akte) und die Routinen der Rechtsermittlung durch Datenbanken grundlegend verändert. Auch diese Routinen müssen in methodische Regeln gefasst werden, wenn Methode dem Anspruch gerecht werden soll, den Rechtsermittlungsprozess methodisch zu steuern. 40 •

2.2 Die »Janusköpfigkeit« der Methode – nämlich sowohl eine theoretische als auch eine praktische handwerkliche Seite zu haben – führt zu der generellen Feststellung eines unmittelbaren Zusammenhanges zwischen den theoretischen Vorverständnissen und der Handhabung der methodischen Regeln, Routinen und Schemata. Diese nicht im Blindflug zu handhaben, sondern sich der Abhängigkeit von Vorverständnissen immer wieder zu vergewissern, ist es, zu welchem »Berufe« wir Methodenlehre betreiben. Es ist die Selbstreflexion der Handhabung, die ein wesentliches Ziel dieses Buches ist. 41 3. Doch zunächst müssen wir uns mit der Konsequenz beschäftigen, die sich aus der »Janusköpfigkeit« der Methode für die praktische Begrifflichkeit ergibt. Hier fordert der Praxis-Theorie-Zusammenhang eine spezifische Begrenzung der jeweiligen Methodenlehre auf einen bestimmten Handlungsbereich von juristischer Praxis, hier der gerichtlichen Praxis. Er schließt eine allgemeine Juristische Methode als Gegenstand einer substantiellen Methodenlehre aus. Das ist im nächsten Abschnitt näher darzulegen.

40 41

Konkret thematisiert in den Beiträgen Strauch 2007 und Ders. 2009. Siehe F. K. v. Savigny 1814.

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Kapitel 3 Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens

Die richterliche Methode ist nur eine Methode im Feld der juristischen Methoden. Ein Tableau, das diese Weite deutlich macht und zugleich ordnet, findet sich etwa in der »Juristischen Methodenlehre« von E. A. Kramer mit folgendem Schema 42: Juristische Methodenlehre

A. Methode der Rechtssetzung (= Methode der Rechtsgewinnung)

I. II. GesetzMethode gebungs- der Rechtslehre geschäftsplanung (vor allem VertragsPlanung)

III. Methode des Richterrechts (der richterlichen Rechtsfortbildung)

B. Methode der Rechtsanwendung (= Methode der Rechtsinterpretation)

I. Methode der Gesetzesauslegung

II. Methode der Auslegung von Rechtsgeschäften (vor allem Vertragsauslegung)

Als entscheidendes Gliederungskriterium dienen hier die Funktionsbereiche. Der Nachteil liegt darin, dass auf diese Weise typische Handlungszusammenhänge getrennt werden. Uns interessiert aber vornehmlich das richterliche Handeln, das hier doppelt, nämlich als Normsetzung und Normanwendung aufscheint. Aber wir sind heute weiter denn je davon entfernt, zwischen Rechtsgewinnung und Rechtsanwendung eine begrifflich saubere Trennung vornehmen zu können. Schon ein kurzer Blick auf ein schematisierendes Tableau 42

E. A. Kramer 1998, S. 38.

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3 · Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens

bestätigt also die Unmöglichkeit, sich theoriefrei über Methodik auch nur terminologisch zu verständigen. Ich will deshalb auch nicht die einzelnen Spielarten der »Juristischen Methodenlehre« durchdeklinieren, sondern im Folgenden nur Abgrenzungen zu einer »Methode der Rechtswissenschaft« (I.) und einer akademischen Methodenlehre (II.) vornehmen und in den folgenden Kapiteln den daraus folgenden Perspektivwechsel hin zu einer Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens aufzeigen.

I.

Methodenlehre der Rechtswissenschaft – Methodik der Praxis

Veränderte Vorstellungen über das, was Recht ist und wie wir es erkennen sowie die immer wieder zu betonende »Janusköpfigkeit« der Methode geben auch hier die Notwendigkeit terminologischer Differenzierungen vor. Ist Rechtsfindung wesentlich eine Sache der logischen Deduktion, die Subsumtion eine Frage richtig angewandter logischer Schlussformen und wird die Gesetzesauslegung durch die Kanones präzise vorgegeben, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Juristen von einer Allgemeinen Methodenlehre ausgehen – einer Methodenlehre, die für die Rechtswissenschaft genauso gilt wie für die Praxis –, auch theoretisch durchaus konsequent. Rechtstheoretische Grundpositionen, wie sie mit dem Bild des Rechtsanwenders als Subsumtionsautomaten beschrieben werden, sind heute jedoch obsolet. Gleichwohl blieb die Idee einer Allgemeinen Methodenlehre bestimmend, sei es als »Juristische Methodenlehre« 43, sei es als »Methodenlehre der Rechtswissenschaft«. Nicht von ungefähr trägt das Lehrbuch von K. Larenz, das wie kein anderes die Methodendiskussion der früheren Bundesrepublik geprägt hat, den Titel »Methodenlehre der Rechtswissenschaft«. Der Anspruch, der sich mit dieser Methodik verband, war umfassend gemeint. Ihr »Gegenstand« war dem Vorwort zufolge »die ›dogmatische‹ Rechtswissenschaft mit Einschluß der richterlichen Fallbeurteilung«. 44 Überspielt wird so ein kategorialer Unterschied: Das »spezielle R. Zippelius 2012; E. A. Kramer 1998. K. Larenz 1960, S. V; übernommen auch in späteren Auflagen, in denen er aber auch von der »Jurisprudenz« spricht, so Larenz 1991, S. 243: »Methodenlehre als hermeneutische Selbstreflexion der Jurisprudenz«.

43 44

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A · Methodik der gerichtlichen Praxis

Erkenntnisziel« einer »›dogmatische[n]‹ Rechtswissenschaft« 45 ist ein anderes als das des gerichtlichen Verfahrens. Die Rechtswissenschaft hat eine andere Zielstellung als die im Rahmen des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens zu treffende Einzelfallbeurteilung. Und sie hat auch andere handwerkliche Regeln. Wie gesagt: Methodisches Denken und methodische Regeln sind immer auf eine Praxis, und damit auf spezifische Handlungszusammenhänge, bezogen und müssen sich an deren spezifischen Problemen bewähren. 46 Es macht deshalb einen wesentlichen Unterschied, ob das »Material«, mit dem es ein Jurist zu tun hat, also Gesetze, Literatur und gerichtliche Entscheidungen, wissenschaftlich und in den Handlungszusammenhängen der Rechtswissenschaft oder im Rahmen eines konkreten Entscheidungsprozesses von einem Gericht für eine konkret zu treffende Entscheidung verarbeitet wird. Ob ein wissenschaftlicher Beitrag oder ein Urteil in der Rechtswissenschaft oder in der Rechtsprechung Akzeptanz findet, richtet sich nach den je eigenen Beurteilungsmaßstäben – sie überschneiden sich zwar, decken sich aber nicht. Sie sind, um mit dem Soziologen P. Bourdieu zu sprechen, in Form und Inhalt an ihre jeweilig spezifischen Felder gebunden. 47 Dies lässt die herkömmlichen methodischen Regeln nicht obsolet werden. Die gegenüber der herkömmlichen Methodenlehre veränderte theoretische Perspektive verlangt aber, dass die Erkenntnisbedingungen, die sich aus dem Rechtsprechungsprozess selbst ergeben – seiner Organisation, seinen Traditionen, seinen prägenden Denkweisen –, nicht anders als die Muster, Techniken und Stile, mit denen der Richter Informationen aufnimmt und verarbeitet, in ihrer Eigenheit nicht nur reflektiert, sondern in eine Methodenlehre der Praxis auch theoretisch integriert werden müssen. Eine Methodenlehre der Praxis ist in ihrer Eigenheit allerdings nicht nur über den Unterschied zwischen rechtswissenschaftlichem System- und Dogmatikdenken und der richterlichen Fallentscheidung zu bestimmen. Sie kann in ihrem spezifischen Handlungs- und Theorie-Praxis-Zusammenhang auch nur erfasst werden, wenn man sie in den entscheidenden Punkten vom akademischen Modell abgrenzt – was keine Abgrenzung von dem Modell der rechtswissenschaftlichen Methode meint, sondern von der Methode, die auf die 45 46 47

K. Larenz 1991, S. 244 f. Strauch 2001, S. 197 ff. Ausführlicher zu Bourdieu unten Kap 5 I. 1.

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3 · Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens

Juristenausbildung ausgerichtet ist, also die, die der Jurastudent für das Klausurenschreiben einübt und durch die das Methodenbild für viele Juristen entscheidend geprägt wird.

II.

Die Praxis der akademischen Methodenlehre und die Methode der gerichtlichen Praxis

Am Anfang aller juristischen Praxis steht immer ein Fall. Aber es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen dem »Fall« in der Praxis der Übungen und Examen und dem Fall in der richterlichen Praxis. Und entsprechend unterschiedlich müssen die methodischen Ansätze sein. 1. Wenn sich die akademische Methodenlehre mit dem »Fall« beschäftigt, dann ist das ein vorgegebener Sachverhalt. Dieser ist um ein oder mehrere juristische Probleme herumgebaut, die es zu lösen gilt – das ist dann die Falllösung. Wenn der Fall richtig gestellt, und das heißt: richtig konstruiert ist, dann sollten alle Angaben im Sachverhalt für die juristische Bearbeitung auch eine Rolle spielen. Insofern ist es – wie im Urteil – die Aufgabe, Kohärenz zwischen Sachverhalt und rechtlicher Würdigung herzustellen. Aber der Sachverhalt bleibt statisch, der Student muss ihn nur genau lesen. Er kann sich nicht nur, sondern muss sich auf ihn verlassen können; das ist gleichsam Teil der Spielregel. Es ist ein wenig so wie beim Ostereiersuchen. Man weiß, wo man suchen muss und dass dort – im Fall – die juristischen Probleme auch versteckt sind. »Rechtsanwendung« ist so im Wesentlichen Auslegung und Subsumtion – entsprechend sind es auch die zentralen Themen der akademischen Methodenlehre. 2. Der Sinn und Zweck eines Prozesses liegt dagegen in der Regel nicht darin, eine Rechtserkenntnis zu gewinnen, sondern darin, einen sozialen Konflikt zu lösen, eine Straftat zu sühnen. »Der Richter soll es richten.« Bevor der Richter aber einen »Fall« lösen kann, muss er den Fall erst generieren. Der Richter muss den sozialen Konflikt, die »Tat« erkennen, sie jedenfalls aufnehmen, d. h., er muss die Geschichten verstehen, die ihm den Konflikt, die »Tat«, meist aus unterschiedlichen Perspektiven, erzählen und erklären sollen. Wenn er sich lege artis verhält, muss er dies auch auf dem Hintergrund »des Rechts«, d. h. im juris59 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

A · Methodik der gerichtlichen Praxis

tischen Denk- und Handlungsraum tun. Im Vordergrund steht freilich zunächst die Operationsebene »Erkenntnis des Sachverhalts«. Diese Operation ist nur als dynamischer Prozess zu erfassen. Der »Sachverhalt« kann sich mit jedem neuen Vortrag ändern, mit jeder Beweisaufnahme, ja mit jeder Erwiderung, die unterbleibt. Mit diesen unterschiedlichen Situationen wandeln sich die rechtlichen Gesichtspunkte – oder können sich jedenfalls wandeln, wie der Sachverhalt selbst unter neuen rechtlichen Gesichtspunkten eine (vielleicht völlig) veränderte Perspektive bekommen kann. Dieses Erfassen des »Sachverhaltes«, das Erkennen, was eigentlich »Sache« ist, ist denn auch das »Kerngeschäft«, von dem aus wir eine Methode der richterlichen Praxis zu formulieren haben. Nicht von ungefähr bedeutet das Wort »Sache« in seiner ursprünglichen Verwendung »Streit« im Sinne von »Rechtsstreit«. Es ist der Streit, der Streitgegenstand, der den Informationsprozess um das »Recht« und die »Tatsachen« des Erkenntnisverfahrens strukturiert, ja erst schafft – ein Fall entwickelt sich so im »Fallverstehen«. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die »Mustererkennung« (Teil E). Gibt es hier Fehl- und Missverständnisse, erkennt der Richter nicht, was Sache ist, bekommen die Parteien vielleicht eine »richtige« Falllösung – aber zum falschen Fall.

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Kapitel 4 Die »Vagheit in den Regeln« und der Methodenskeptizismus

Bislang war immer wie selbstverständlich von »Methode« die Rede. Nicht in Frage stand dabei eine Grundannahme: Sinnvoll kann man von Methode, einem methodischen Vorgehen, nur sprechen, wenn die richterliche Entscheidung mehr ist als nur Dezision, nur ein Willensakt, der vielleicht auf (unbewusste) Vorverständnisse, nicht aber auf rationale Gründe zurückzuführen ist. 48 Methode setzt mit anderen Worten voraus, dass zwischen den Wahrnehmungsreizen, aus denen unsere Informationen werden, und dem Urteil eine Wegstrecke des rationalen Überprüfens, Nachdenkens und Schlussfolgerns bleibt – ein Weg für methodische Reflexion und Regeln. Nur weil diese Methode der Praxis davon ausgeht, dass es diese »Wegstrecke« gibt, kann sie sich auch als Methode eines »Erkenntnisverfahrens« verstehen. Die Skepsis, die in dem Einwand zum Ausdruck kommt, die richterliche Entscheidung beruhe vielleicht doch entscheidender auf Dezision als auf Methodik, hat allerdings auch durchaus nachdenkenswerte Gründe für sich. Menschliche Kognition ist nur begrenzt programmierbar – anders könnte sie die oft verblüffenden Anpassungsleistungen nicht erbringen, die sie ausmacht. Rechtsanwendung – insbesondere Rechtsprechung – soll zwar eine regelgeleitete Anwendung von Regeln sein. Mit dieser Aufgabe stößt die Methode aber an prinzipielle Grenzen. In der Einleitung hatte ich die empirische Studie »Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt« mit ihrem für das richterliche Selbstverständnis nicht sehr schmeichelhaften Ergebnis bereits zitiert: 51 Richter kamen in ihren Entscheidungen über ein und denselben Fall (Arzthaftung) zu 13 unterschiedlichen Urteilen (die Unterschiede in den zugesprochenen Beträgen nicht einmal mitgerechnet). Sicher Zu nennen ist hier vor allen C. Schmitt 1912; zum Gegensatz von Dezisionismus und Dialogik R. Gröschner 1982, S. 224 ff.

48

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A · Methodik der gerichtlichen Praxis

sind diese Divergenzen zum Teil auch auf handwerkliche und intellektuelle Fehler und Mängel zurückzuführen: ungenaues Lesen der Schriftsätze, nicht ausgeschöpfte Beweismittel, mangelnde Sorgfalt in der Ermittlung und Differenzierung der Anspruchsnormen etc. Aber auch ohne derartige Mängel wären die Entscheidungen mit aller Wahrscheinlichkeit nicht gleichlautend ausgefallen. Auch wenn es bei der Normanwendung um die durch methodische Regeln gesteuerte Auslegung und Anwendung von normativen Regeln geht, bleibt zwangsläufig ein mehr oder minder großer Rest an offenen Entscheidungsspielräumen, der nicht in Regeln auflösbar, der nicht »programmierbar« ist. Die »Programmierbarkeit« von Rechtsprechung ist deshalb bislang immer an prinzipielle Grenzen gestoßen. Was damit am Beispiel anschaulich werden sollte, ist die Erkenntnis, dass sich eine regelgeleitete Anwendung von Regeln nicht lückenlos durch Regeln steuern lässt. Näher zu erläutern ist sie mit den Überlegungen, mit denen sie – aus ganz unterschiedlichen Perspektiven – in der philosophischen Diskussion von Kant und Wittgenstein begründet wurde. Insbesondere die Untersuchungen L. Wittgensteins (II.) führen dann auch zu der Folgerung, dass Vagheit, Unbestimmtheit und Spielräume die steuernde Rolle von Regeln nicht aufheben. Überzeugende Gründe für einen Methodenskeptizismus sind sie nicht (III.).

I.

Das Dilemma der Urteilskraft

Für Kant liegt das Problem, das uns zu beschäftigen hat, in der Eigenart unserer Urteilskraft. 49 Das Phänomen beschreibt er sehr anschaulich so: »Ein Arzt … ein Richter, oder ein Staatskundiger kann viel schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, daß er selbst darin gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Auf Kant und die »reflektierende Urteilskraft« wird im Kap. 23 II. ausführlich einzugehen sein.

49

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4 · Die »Vagheit in den Regeln« und der Methodenskeptizismus

Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden. Dieses ist auch der einige und große Nutzen der Beispiele: daß sie die Urteilskraft schärfen«. 50

Dass Kant die Urteilskraft auch für eine Frage subjektiver Disposition hält, macht er in diesem Zusammenhang mit einer Fußnote klar: »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.« 51 Unabhängig von jedem individuellen Urteilsvermögen ist für jede Methodik jedoch folgendes Dilemma der Urteilskraft entscheidend: »Wollte sie nun allgemein zeigen, wie man unter diese Regeln subsumieren, d. i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders, als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urteilskraft«. 52 Urteilen ist also zunächst eine regelgeleitete Anwendung von Regeln. Nach welchen Regeln dann wieder die Anwendung sich zu richten hat – dafür können aber »nicht immer wiederum Regeln gegeben werden«. 53 Eine regelgeleitete Anwendung kann folglich selbst nicht hinreichend durch Regeln definiert werden, »weil das ins Unendliche gehen würde«. 54

II.

Was heißt es, »einer Regel zu folgen«?

Während es Kant um die Analyse der Urteilskraft als das »Vermögen, unter Regeln zu subsumieren« 55 ging, hat sich Wittgenstein immer wieder in unterschiedlichsten Aspekten sehr allgemein mit der Frage auseinandergesetzt, was es eigentlich bedeutet, »einer Regel zu folgen«. 56 Gleichwohl werden wir in seinem Werk eine Definition oder gar den Versuch einer logischen Rekonstruktion der Regeln, die einen Handlungszusammenhang ausmachen, vergeblich suchen. Der Kern der Aussage ist denn auch, dass man den Gebrauch solcher Regeln in Kant KrV B 173. Kant KrV B 173 – Fn. 52 Kant KrV B 172. 53 Kant, Vorbemerkung zu seiner Schrift: Über den Gemeinspruch: »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«, S. 275 (Akademieausgabe). 54 AaO. S. 275. 55 Kant KrV B 171. 56 Immer noch grundlegend W. Stegmüller 1969, S. 524 ff. und zu Wittgenstein S. 562 ff. 50 51

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A · Methodik der gerichtlichen Praxis

ihren Strukturen überhaupt nicht begrifflich fassen oder abbilden kann. So bleiben – nicht anders als aus dem ersten Exkurs zur Sprachphilosophie Wittgensteins schon vertraut (Kap. 2 II. 2.) – nur Bilder und Metaphern. Bevor ich wiederum aus den »Philosophischen Untersuchungen« zitiere, muss ich aber wohl einer durchaus naheliegenden Frage des juristischen Lesers zuvorkommen: Warum an dieser Stelle nochmals so theoretisch und warum ein Text, der zwar zu den wichtigsten philosophischen Texten des 20. Jahrhunderts gehören mag, aber nicht von ungefähr auch zu den schwierigsten? 57 Denn die »Philosophischen Untersuchungen« sind gleichsam das Gegenbild zu einem guten Lehrbuch, einem klaren juristischen Text. Statt systematischer Erörterungen und klarer Definitionen findet der Leser nur »eine fast verwirrende Vielzahl von Hinweisen und Beispielen« (Alexy 58). Versuche, diese Gedanken zu systematisieren, sind natürlich zahlreich gemacht worden. 59 – Aber man verdeckt dann genau den Denkstil, auf den sich der Jurist auch einlassen muss, wenn er reflektiert methodisch arbeiten will. Und dieser Denkstil ist es, der auch den Kern von Wittgensteins Theorie ausmacht. Dazu zunächst fünf Textstellen 60: »§ 66. Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir ›Spiele‹ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ›Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ›Spiele‹‹ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! – Schau z. B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren. – Sind sie alle ›unterhaltend‹ ? Vergleiche Schach mit dem Mühlfahren. Oder gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz der Spielenden? Denk an die Patiencen. In den Ballspielen gibt es Gewinnen und Verlieren; aber wenn ein Kind den Ball an die Wand wirft und wieder auffängt, so ist dieser Zug

57 58 59 60

W. Stegmüller 1969, S. 563. R. Alexy 1983, S. 72. R. Alexy 1983, S. 72. Fn. 78. L. Wittgenstein PU § 66 ff.

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4 · Die »Vagheit in den Regeln« und der Methodenskeptizismus

verschwunden. Schau, welche Rolle Geschick und Glück spielen. Und wie verschieden ist Geschick im Schachspiel und Geschick im Tennisspiel. Denk nun an die Reigenspiele: Hier ist das Element der Unterhaltung, aber wie viele der anderen Charakterzüge sind verschwunden! Und so können wir durch die vielen, vielen anderen Gruppen von Spielen gehen, Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen. Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.« »§ 68. […] aber ich kann es [das Wort ›Zahl‹] auch so gebrauchen, daß der Umfang des Begriffs nicht durch eine Grenze abgeschlossen ist. Und so verwenden wir ja das Wort ›Spiel‹. Wie ist denn der Begriff des Spiels abgeschlossen? Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein. Du kannst welche ziehen: denn es sind noch keine gezogen. (Aber das hat dich noch nie gestört, wenn du das Wort ›Spiel‹ angewendet hast.) ›Aber dann ist ja die Anwendung des Wortes nicht geregelt; das ›Spiel‹, welches wir mit ihm spielen, ist nicht geregelt.‹ – Es ist nicht überall von Regeln begrenzt; aber es gibt ja auch keine Regel dafür z. B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf, oder wie stark, aber Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln.« »§ 71 Man kann sagen, der Begriff ›Spiel‹ ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern. – ›Aber ist ein verschwommener Begriff überhaupt ein Begriff?‹ – Ist eine unscharfe Photographie überhaupt ein Bild eines Menschen? Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen? Frege vergleicht den Begriff mit einem Bezirk und sagt: einen unklar begrenzten Bezirk könne man überhaupt keinen Bezirk nennen. Das heißt wohl, wir können mit ihm nichts anfangen. – Aber ist es sinnlos zu sagen: ›Halte dich ungefähr hier auf!‹ ? Denk dir, ich stünde mit einem Andern auf einem Platz und sagte dies. Dabei werde ich nicht einmal irgend eine Grenze ziehen, sondern etwa mit der Hand eine zeigende Bewegung machen – als zeigte ich ihm einen bestimmten Punkt. Und gerade so erklärt man etwa, was ein Spiel ist. Man gibt Beispiele und will, daß sie in einem gewissen Sinn verstanden werden. – Aber mit diesem Ausdruck meine ich nicht: er solle nun in diesen Beispielen das Gemeinsame sehen, welches ich – aus irgend einem Grunde – nicht aussprechen konnte. Sondern: er solle diese Beispiele nun in bestimmter Weise verwenden. Das Exemplifizieren ist hier nicht ein indirektes Mittel der Erklärung, – in Ermanglung eines Bessern. Denn, mißverstanden kann auch jede allgemeine Erklärung werden. So spielen wir eben das Spiel (Ich meine das Sprachspiel mit dem Wort ›Spiel‹.)«

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A · Methodik der gerichtlichen Praxis

»§ 84. Ich sagte von der Anwendung eines Wortes: sie sei nicht überall von Regeln begrenzt. Aber wie schaut denn ein Spiel aus, das überall von Regeln begrenzt ist? dessen Regeln keinen Zweifel eindringen lassen; ihm alle Löcher verstopfen. – Können wir uns nicht eine Regel denken, die die Anwendung der Regel regelt? Und einen Zweifel, den jene Regel behebt – und so fort? Aber das sagt nicht, daß wir zweifeln, weil wir uns einen Zweifel denken können. Ich kann mir sehr wohl denken, daß jemand jedesmal vor dem Öffnen seiner Haustür zweifelt, ob sich hinter ihr nicht ein Abgrund aufgetan hat, und daß er sich darüber vergewissert, eh’ er durch die Tür tritt (und es kann sich einmal erweisen, daß er recht hatte) – aber deswegen zweifle ich im gleichen Falle doch nicht.« »§ 100 ›Es ist doch kein Spiel, wenn es eine Vagheit in den Regeln gibt.‹ – Aber ist es dann kein Spiel? – ›Ja, vielleicht wirst du es Spiel nennen, aber es ist doch jedenfalls kein vollkommenes Spiel.‹ D. h.: es ist doch dann verunreinigt, und ich interessiere mich nun für dasjenige, was hier verunreinigt wurde. – Aber ich will sagen: Wir mißverstehen die Rolle, die das Ideal in unsrer Ausdrucksweise spielt. D. h.: auch wir würden es ein Spiel nennen, nur sind wir vom Ideal geblendet und sehen daher nicht deutlich die wirkliche Anwendung des Wortes ›Spiel‹.«

Ungeübt muss man diese Texte vielleicht zwei Mal lesen. Aber wenn wir »Spiel« auf »Normen« beziehen, dann wird das zeitgenössische Methodenbewusstsein Wittgenstein darin folgen, dass es bei der Gesetzesauslegung nahezu stets um Begriffe »mit verschwommenen Rändern« (§ 71) und um »Vagheit in den Regeln« (§ 100) geht. Mehrheitlich haben die Juristen heute wohl das Ideal des klar abgegrenzten Begriffs, der eindeutigen, allgemein geltenden Regel aufgegeben. Wittgenstein diagnostiziert es als Missverständnis: »Wir missverstehen die Rolle, die das Ideal in unsrer Ausdrucksweise spielt«, heißt es in dem zitierten § 100. Aber – und das ist entscheidend – preisgegeben wird nur das »Exaktheitsideal« 61, nicht der für unseren Gedankengang entscheidende Kern der Metapher um »Regel« und »Spiel«. Auch wenn z. B. das Tennisspiel »nicht überall von Regeln begrenzt« ist, so gilt gleichwohl: »Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln« (§ 68). Die dialogisch gestellte Frage: »Aber ist ein verschwommener Begriff überhaupt ein Begriff?« beantwortet er mit einem Hinweis auf eine unscharfe Photographie und fragt in § 71 rhetorisch zurück: »Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?« 61

W. Stegmüller 1969, S. 564 ff.

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Anders gesagt: Wittgensteins »Untersuchungen« umkreisen exakt die Probleme, die ein zentrales Dilemma ausmachen, das wir in der juristischen Methode zu bewältigen haben. Es gehört zur täglichen Praxis des Juristen, mit prinzipieller Ungenauigkeit, Vagheit, nicht genau definierten Begriffen und Regeln, zu Recht (!) zu kommen; Regeln mit verschwommenen Rändern, die weder normativ noch auch nur immer bewusst sind, das Urteil aber wesentlich bestimmen. Wittgenstein formuliert aber auch Regeln, wie mit dem Dilemma umzugehen ist. Seine Aufforderung, »denk nicht, sondern schau!« (§ 66) heißt ja nicht, dass man das Nachdenken unterlassen soll, sondern dass die Lösung nicht im Nachdenken über das Ideal, das Wesen eines Begriffes liegt, sondern darin, genau hinzuschauen – schau, wie es sich mit der Sache, dem »Spiel« verhält. Was wir zunächst aus den »Philosophischen Untersuchungen« lernen können, ist also eine Anschauung darüber, wie situationsbezogene, möglichst genaue Arbeit am Begriff, an der Differenz und an der Regel zu leisten ist. Auch das sind methodische Regeln – Regeln, wie z. B. das herkömmliche juristische Methodeninstrumentarium – Auslegungs- und Subsumtionsregeln – zu handhaben ist. Versuchen wir aber ein allgemeineres Fazit: Betrachten wir ein Spiel – das Tennisspiel oder das Sprachspiel 62 –, können wir zunächst festhalten, dass es durch seine Regeln definiert ist. Als »eingespielte Praxis« 63 funktioniert es dann auch durch die Beachtung dieser Regeln – obwohl die Regeln vage sind und nicht exakt sein können (Wittgenstein) –, weil es prinzipiell nicht möglich ist, die Anwendung dieser Regeln durch jeweils weitere Regeln zu reglementieren (Kant). Wenn der Methodiker also nun zu fragen hat, was heißt es, einer methodischen oder Rechtsregel zu folgen, muss er vor allem nach den Mechanismen fragen, die dem Funktionieren von Rechtsprechung als »eingespielter Praxis« zugrunde liegen (Kap. 5 u. 6). 64 Zuvor gibt die Frage jedoch Anlass, sich mit der Position des Methodenskeptizismus auseinanderzusetzen.

Zur Parallelität – »Familienähnlichkeit« – von Spielen und Sprachspielen W. Stegmüller 1989, S. 86 ff. 63 M. Geier 1989, S. 174. 64 Die inhaltlichen Bedingungen – die Determinanten der Rechtserkenntnis – werden im Teil D zu erörtern sein. 62

67 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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III. Wider den Methodenskeptizismus Methode als regelgeleitete Anwendung von Regeln wird mit der »Vagheit in den Regeln« (§ 100) in doppelter Weise in Frage gestellt: als regelgeleitete Anwendung, weil diese selbst nicht hinreichend durch klare Regeln gesteuert werden kann, und hinsichtlich ihres Gegenstandes, weil auch die Norm nur ein Phänomen mit unklaren Grenzen, verschwommenen Begriffen und entsprechend vagen Regeln ist. Die methodische Theorie löst dieses Dilemma nur allzu oft durch eine besondere Art der Reduktion von Komplexität: Entweder blendet sie diese Unschärfen aus und konzentriert sich nur auf den herkömmlichen Schematismus der Regeln oder sie stellt die Methodik als regelgeleitete Anwendung des Rechts grundsätzlich in Frage. Eine übliche Lösung ergibt sich auch aus der betont scharfen Trennung zwischen »Herstellung« und »Darstellung« der richterlichen Entscheidung. 65 Während die Darstellung, d. h. die Begründung, einer rationalen Analyse zugänglich sei und deshalb zum Gegenstand einer »Argumentationstheorie« gemacht werden könne, sei diese Möglichkeit wegen ihres letztlich dezisionistischen Charakters auf der Ebene der Entscheidungsfindung nicht gegeben. »Methode« gilt dann tendenziell nur noch für die Begründung, nicht mehr für das Erkenntnisverfahren selbst. Für eine differenzierte Analyse richterlichen Entscheidens ist diese Unterscheidung unverzichtbar; 66 und in der Sache findet diese Position nicht nur im Dilemma der Urteilskraft, sondern auch in der Beobachtung der Gerichtspraxis viele gute Gründe. Trotzdem greift sie zu kurz. Auch hier gilt wohl: »Der Regelskeptiker ist im Grunde ein enttäuschter Regelplatonist«. 67 Denn wie soll man sich die Ableitung einer regelorientierten Begründung aus einer »regelresistenten« Dezision vorstellen? Welche Basis und welchen Nutzen hätte eine allein auf die Darstellung konzentrierte Argumentationstheorie, die nur noch eine eigentlich nicht nachvollziehbare Entscheidung sekundär rationalisieren könnte? Der Methoden-Idealist mag den Rechtsfindungsprozess als eine Kette regelorientierter Schlussfolgerungen ohne entscheidende Lücken beschreiben. Mit dieser Ansicht würde 65 66 67

Zur Übersicht K. Röhl 1987, S. 610 f. Vgl. etwa W. Hassemer 2004, S. 268. U. Neumann 2001, S. 253.

68 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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er heute kaum noch jemand überzeugen können. Aber das Verfahren der Rechtsprechung wird auch nicht zureichend erfasst, wenn es nur als eine Kette von Dezisionen beschrieben wird. Es gehört zum Grundcharakteristikum des gerichtlichen Verfahrens, dass es als regelgeleiteter Prozess abläuft. Formal-inhaltlich ist das Verfahren ein Informationsverarbeitungsprozess. Dieser mag zwar, um es bildlich zu überspitzen, hier und da bzw. mehr oder minder auch als »Psychodrama« geführt werden. »In der Regel« bleibt er jedoch auf die »Rechtsfindung« ausgerichtet. Das bedeutet, das Verfahren ist auf mindestens drei parallelen Ebenen durch Regeln gesteuert: • das Sammeln von Informationen und der Umgang mit ihnen sind regelgesteuert, d. h., sie müssen nach Maßgabe des Prozessrechts erfolgen; • es geht um »regelrelevante« Informationen, was nach materiellem Recht zu beurteilen ist; • auch diese Informationsverarbeitungen sind insofern wieder regelorientiert, als sie durch methodische Regeln und Vorstellungen strukturiert sind. Alle diese regelgeleiteten Prozesse lassen sich, wie gesagt, nicht als eine Kette regelorientierter Schlussfolgerungen ohne entscheidende Lücken beschreiben. Die Lücken und die Zweifel, die aus der »Vagheit in den Regeln« (§ 100) und Begriffen »mit verschwommenen Rändern« (§ 71) folgen, zerstören jedes Ideal einer regeldeterminierten Rechtsfindung. Aber – und das war die Quintessenz der oben (unter II.) dargestellten Gedanken Wittgensteins – sie nehmen dem Verfahren deshalb nicht den Charakter eines Spiels »nach Regeln«. »Eine Regel steht da, wie ein Wegweiser«, heißt es an einer zentralen Stelle in den »Philosophischen Untersuchungen« 68 und Wittgenstein spielt das Bild vom Wegweiser als sicheres Zeichen durch, das bei genauerem Hinsehen dann doch nicht immer eindeutig ist. »Also kann ich sagen, der Wegweiser läßt doch keinen Zweifel offen. Oder vielmehr: er läßt manchmal einen Zweifel offen, manchmal nicht. Und dies ist nun kein philosophischer Satz mehr, sondern ein Erfahrungssatz.« 69 Dieses Zwischenergebnis ist für ihn Anlass, grundsätzlich nach dem theoretischen Umgang mit Zweifeln zu fragen, und die darauf in der Philosophie seit Descartes’ Rationalismus gegebene typische Antwort ist die, so lange zu bohren, bis man einen 68 69

PU § 85. PU § 85 am Ende.

69 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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sicheren Grund findet. Mit Wittgensteins Worten: »Es kann leicht so scheinen, als zeigte jeder Zweifel nur eine vorhandene Lücke im Fundament; so daß ein sicheres Verständnis nur dann möglich ist, wenn wir zuerst an allem zweifeln, woran gezweifelt werden kann, und dann alle diese Zweifel beheben« (§ 87). So wäre denn das Postulat des Regelplatonikers der Aufweis einer Methode, die auf einer Grundlage ruht, an der mit sinnvollen Argumenten nicht mehr gezweifelt werden kann. Diesem Ideal einer unbezweifelbaren sicheren Grundlage begegnet Wittgenstein dann im nächsten Satz mit der verblüffenden pragmatischen Wendung: »Der Wegweiser ist in Ordnung, – wenn er, unter normalen Verhältnissen, seinen Zweck erfüllt« (§ 87). So ist »›der Regel folgen‹ eine Praxis« (§ 202). Den Methodenskeptiker wird diese Wendung freilich kaum überzeugen und er wird zurückfragen: Halten Sie denn die juristische Methodik wirklich für einen Wegweiser, der in Ordnung ist und seinen Zweck erfüllt? Doch jeder, der viel unterwegs ist, weiß, dass es gute und schlechte Wegweiser gibt: Sie dürfen nur nicht in die Irre führen. Die Frage muss also lauten: Ist ein Wegweiser, der »unter normalen Verhältnissen« »seinen Zweck erfüllt«, nicht immer noch besser als gar kein Wegweiser? – Was könnte auch an die Stelle der Methodik treten? Der salomonische Richter, der göttlicher Eingebung folgt? Die Anerkennung des Zufalls? Oder Feyerabends Grundsatz: »anything goes« – »mach’, was du willst«?

70 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Kapitel 5 Methode und Handhabungsroutinen – Erkenntnis, Habitus und Kognition

Der Umweg über eine oft sperrige Philosophie hat also unversehens wieder in die bekannten Gefilde der Praxis geführt. Für diese bedeutet Methode, wie bereits betont, nach Regeln vorzugehen. Von Kant und Wittgenstein aber ist – wenn auch in sehr unterschiedlicher Art – zu lernen, dass sich eine Methodenlehre nicht auf die Entwicklung und Darstellung solch expliziter Regeln beschränken darf. Will sie wirklich eine Lehre sein, muss sie auch die nicht explizierten Regeln und Mechanismen der Handhabung zu ihrem Gegenstand machen. Noch ist die Methodenlehre jedoch weit davon entfernt, hierfür auf etablierte und tragfähige Konzepte zurückgreifen zu können. Wohl aber gibt es Ansätze und aus der Rechtssoziologie Beschreibungen solcher Mechanismen 70. Mit Beschreibungsmodellen will ich deshalb auch beginnen (I.), um sodann über einen kognitionswissenschaftlichen Ansatz (II.) eine Einordnung der Handhabungsroutinen zu versuchen. Das führt zu dem Leitgedanken dieser Methodenlehre: das gerichtliche Erkenntnisverfahren als Prozesse richterlicher Kognition zu verstehen. Daraus folgen zugleich auch die Gründe, warum »Erkenntnis« in dem Terminus »Erkenntnisverfahren« als »Kognition« zu verstehen ist und warum deshalb (III.) auch die Notwendigkeit eines weiten Methodenbegriffs gegeben ist.

I.

Habitus und Richtertypen

Wenn es im Folgenden darum geht, nicht nur den Umgang mit expliziten methodischen Regeln zu erfassen, sondern auch die richterlichen Handhabungsroutinen, d. h. die Spielräume, die Regeln der Praxis prinzipiell lassen, können wir dafür nicht auf allgemeine und in der Methodenlehre gesicherte Grundlagen zurückgreifen, sondern 70

Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen W. Hassemer 2004, S. 266 f.

71 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

A · Methodik der gerichtlichen Praxis

müssen dafür eine Basis erst entwickeln. Die Praxis methodischer Handhabungen wurde bisher theoretisch kaum thematisiert. 71 Um zu sehen, auf welche Problemlagen es dabei ankommt, beginnen wir zunächst mit Beobachtungen und Befunden: Der Richter transferiert die Methodik, die er im Studium gelernt hat und soweit er sie noch parat hat, in die Praxis. Aber sie betrifft ja von vornherein nur die »Normarbeit« und hier die Gesetzesauslegung. Der für die Alltagspraxis der meisten Richter sehr viel wichtigere Bereich der »Tatsachenarbeit« 72, der Arbeit am Tatbestand, war in der Regel im Studium nie Gegenstand theoretisch-praktischer Reflexionen. Für Sachverhaltsermittlung, Beweiserhebung und -würdigung, Glaubwürdigkeit von Zeugen, Verhandlungsführung, Kommunikation zwischen Gericht und Beteiligten usw. gibt es keine hinreichende theoretische Ausbildung 73; sie werden erlernt im Verfahren »learning by doing« und/oder über »Meister-Schüler-Beziehungen«. – Gleichwohl kann man sagen: Es funktioniert, wenigstens »irgendwie«. Warum es funktioniert, wie das »der Regel folgen« zur Praxis wird, darauf gibt die Beschreibung schon eine erste Antwort. Wittgenstein selbst formulierte sie so: »Einer Regel folgen, das ist analog dem: einen Befehl befolgen. Man wird dazu abgerichtet und man reagiert auf ihn in bestimmter Weise« (PU § 206). Heute würden wir allerdings nicht mehr von »Abrichten« sprechen, sondern, den zeitgenössischen Lerntheorien entsprechend, von »Nachahmung« und »Imitationslernen«. 74 Was zu analysieren ist, sind aber nicht nur die Lernphasen beim Berufseinstieg. Zur Anschauung: Man kennt die »Methoden« seiner Kollegen. Welcher Rechtsmittelrichter ist dann etwa nicht davor gefeit, diese Zur Übersicht über aktuellere Ansätze P. Stegmaier 2008; Morlok/Kölbel 2001 sowie die Hinweise unten 2. 72 Siehe hierzu und zum Folgenden: H. A. Hesse, AnwBl 2000, 325, 327. 73 Auch wenn es in § 5a Abs. 2 DRiG heißt: »Die Inhalte des Studiums berücksichtigen die rechtsprechende, verwaltende und rechtsberatende Praxis einschließlich der hierfür erforderlichen Schlüsselqualifikationen wie Verhandlungsmanagement, Gesprächsführung, Rhetorik, Streitschlichtung, Mediation, Vernehmungslehre, Kommunikationsfähigkeit«, sind diese Schlüsselqualifikationen doch kaum zu einem integralen Bestandteil des Studiums geworden. Zur Zulassung reicht i. d. R. der Besuch »einer Lehrveranstaltung zur Vermittlung interdisziplinärer Schlüsselqualifikationen«. 74 Obwohl der Gedanke an den Behaviorismus damit nahegelegt ist, liegt hier keine Anknüpfung an eine der beherrschenden Lerntheorien des 20. Jahrhunderts vor; vgl. dazu Geier 1989, 174. 71

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Einschätzung – positiv oder negativ – auch in seine Überprüfung einfließen zu lassen? Die Anwälte vor Ort kennen die »Methoden« »ihrer« Richter, und sie stellen sich darauf ein, wenn sie gut sind. Nach herkömmlicher Methodenlehre haben der Richter am Amtsgericht und der Richter am BGH die gleiche Methode. Aber wenn sich der Amtsrichter mit dem Palandt begnügt, genügt das in der Regel dem Standard, beim BGH in der Regel nicht. Wo aber stehen diese (methodischen) Regeln geschrieben und wie sähen sie genau aus? Es sind offenbar institutionelle Standards, die u. a. für Prüfungstiefe und Rechercheintensität Vorgaben machen – und die sich verschieben, wenn der Amtsrichter sich nicht mehr nur mit einem »Standardkommentar« begnügen muss (oder darf), weil ihm Datenbanken zur Verfügung stehen. Vergleichbare Unterschiede in den Standards gibt es bei der Intensität von Sachverhaltsermittlungen. Wieder in anderem Gewand taucht das Problem der Prüfungstiefe bei der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle von kommunalen Satzungen auf. Wie weit reicht hier die Amtsermittlungspflicht und wann greift der (immer rechtlich nachprüfbare?) Grundsatz ein, dass sich die Richter der Tatsachengerichte nicht »gleichsam ungefragt« auf Fehlersuche begeben sollten 75? Diesen »Beschreibungen aus der Praxis« ließen sich unschwer weitere hinzufügen: die unterschiedliche Arbeits- und Denkweise etwa von Arbeits-, Straf- und Verwaltungsrichtern, die Unterschiede in Verhandlungsstil und Methode zwischen Großstadtgerichten und Gerichten in idyllischen Provinzlagen, die Schwierigkeiten, die Richter im Nebenamt haben können, wenn es um die eigene Aktenbearbeitung statt einer solchen durch Assistenten geht, die erheblichen Differenzen in der Entscheidungsfindung, die man feststellen kann, wenn man die Gruppendynamik von Spruchkörpern mit drei, fünf oder mehr berufsrichterlichen Mitgliedern vergleicht. – All diesen Beobachtungen liegen jeweils typische Handhabungen juristischer Regeln oder eingespielter Routinen zugrunde. Methode funktioniert als eingespielte Praxis und eine Methodenlehre, die nicht wesentliche Mechanismen der Rechtsfindung ausklammern will, muss nach theoretischen Modellen Ausschau halten, um diese Phänomene auch erfassen zu können. Da es sich sowohl um soziale als auch um

Zum Grundsatz der sog. »ungefragten Fehlersuche« vgl. BVerwGE 116, 188–197, sowie H. Sendler, DVBl 2002, 1412–1414, S. Gatz, jurisPR-BVerwG 1/2007 Anm. 6.

75

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A · Methodik der gerichtlichen Praxis

kognitive Vorgänge handelt, sind hier zunächst die Soziologie und die Kognitionswissenschaften gefragt.

1.

Habitus

Ein wichtiger Versuch, Phänomene einer eingespielten Praxis, wie oben aus dem Gerichtsalltag beschrieben, zu erfassen und zu klassifizieren, geht von der Beobachtung aus, dass Mitglieder einer Gruppe im Denken, Fühlen und Handeln oft typische Gemeinsamkeiten aufweisen. Hinter dem, was zunächst als individuelles Handeln erscheint, werden Muster deutlich, die dieses bestimmen – ein »Habitus«. Wesentlich geprägt wurde dieser Begriff von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930–2002). 76 In dessen Theorie der Praxis, mit der er zwischen objektivistischen und subjektivistischen Sozialtheorien vermitteln wollte, 77 nimmt er eine Schlüsselstellung ein, wie er auch für unsere Überlegungen ein Schlüssel zum Verständnis des Zusammenhanges von Rechtssystem und richterlicher Kognition ist. Eine nur punktuelle Auseinandersetzung mit dem in der Philosophie und Soziologie schon lange geläufigen Habitus-Begriff 78 würde die Erklärungsperspektive allerdings zu sehr verkürzen. Voranzustellen ist deshalb eine erste allgemeine Einordnung in Grundpositionen der allgemeinen Gesellschaftstheorie. a)

Grundpositionen der Sozialtheorie Bourdieus – Parallelen und Unterschiede zur Systemtheorie Luhmanns

Wie die Systemtheorie Luhmanns gehört auch die Sozialtheorie Bourdieus zu den soziologischen »Großtheorien«, denen es darum zu tun ist, sowohl »die« Gesellschaft insgesamt zu erfassen als auch die Probleme ihrer Differenzierungen und ihrer Differenzierungsprozesse. 79 Luhmann differenziert dabei zwischen den unterschiedlichen »Systemen«, Bourdieu zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen »Feldern« – dem Feld der Universitäten, dem philosophischen Zu Bourdieu und seinem Habituskonzept vgl. G. Fröhlich/B. Rehbein 2014; C. Bohn/A. Hahn 2000; M. Schwingel 2003. 77 Etwa gegen den Strukturalismus einerseits und die Phänomenologie Husserls andererseits; vgl. C. Bohn/A. Hahn 2000, S. 254 ff. 78 Nachweise bei G. Fröhlich/B. Rehbein 2014, S. 110 f. 79 Zur Parallele Luhmann – Bourdieu vgl. etwa C. Bohn/A. Hahn 2000, S. 261 ff. 76

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Feld, dem Feld der Kunst, des Rechts etc. Doch während Luhmann – von Hause aus Jurist – sehr intensiv gerade das »Rechtssystem« analysiert hat, hat Bourdieu das »rechtliche Feld« als solches unbearbeitet gelassen. Wenn im Verlauf unserer Überlegungen das Spezifische des »Rechtssystems« und seine Differenzen zu anderen Systemen der Gesellschaft zur Debatte stehen, werden wir deshalb auch immer wieder auf Luhmann zurückkommen. – Andererseits: Zwar lässt sich die Frage nach den Mechanismen, durch die Individuen als »Akteure« in das System »integriert« 80 werden, systemtheoretisch beantworten: Statt von »Integration« müsste man dann von »struktureller Koppelung« sprechen. 81 Aber diesen Mechanismen hat Luhmann keine größere Aufmerksamkeit gewidmet, während sie für Bourdieu im Mittelpunkt stehen. Das Habituskonzept wurde von ihm nicht abstrakttheoretisch, sondern aus empirischen Forschungsfragen heraus entwickelt. 82 Da die Strukturen der Phänomene vergleichbar sind, ist es auch für uns relevant. Rechtsprechung ist in ihren Funktionsweisen nicht zu erfassen, wenn man nur den individuellen Richter vor Augen hat, der nur die ihm explizit vorgegebenen Regeln befolgt. Notwendig ist es, auch das zu verstehen, was an Individuen (den Richtern) in ihrer Eigenschaft als soziale Akteure im Rechtsprechungsprozess nicht individuell, sondern soziologisch relevant ist. 83 Hier greift das Habituskonzept ein – Habitus als System von Dispositionen, die für die Regelmäßigkeit und Angemessenheit des Handelns verantwortlich sind. 84 Dabei gibt es nicht den Habitus. Der Habitus entsteht im sozialen »Feld« und ist immer von diesen Feldern abhängig. Man kann deshalb von einer »Pluralität von Habitus« 85 ausgehen. Diese Pluralität begründet zugleich auch ein Veränderungs- und Differenzierungspotential: Innerhalb der Grenzen habitusbedingter Dispositionen verbleiben dem Einzelnen durchaus Spielräume für individuelles Handeln und damit Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang allerdings nicht von »Integration«, sondern von »Einverleibung«, »incorporation«, vgl. G. Fröhlich/B. Rehbein 2014, S. 81 ff. 81 Die »Akteure« wären dann »psychische Systeme« und das Rechtssystem oder andere gesellschaftliche »Subsysteme« dazu »Umwelt«; näher dazu R. Stichweh 2000, S. 210 f. Auf Probleme der »strukturellen Koppelung« wird in Kap. 16 IV. ausführlicher einzugehen sein. 82 M. Schwingel 2003, S. 59. 83 Siehe hierzu M. Schwingel 2003, S. 59. 84 Vgl. G. Fröhlich/B. Rehbein 2014, S. 113 f. 85 C. Bohn/A. Hahn 2000, S. 261. 80

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zu Veränderungen in den sozialen »Feldern«. 86 Hier liegt denn auch der entscheidende Ansatz für die so genannte »revidierte Professionssoziologie«. 87 b)

Der Habitus und seine Routinen

Doch was uns im jetzigen Zusammenhang interessiert, sind nicht die Veränderungspotentiale, sondern die Vermittlungsmechanismen. Bourdieu beschreibt sie ganz allgemein als Schemata: »Der Habitus bewirkt, daß die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils«. 88 Wenn wir professionelle Routinen analysieren wollen, müssen wir uns also den Habitus ansehen. Er leistet die Vermittlung zwischen »dem System objektiver Regelmäßigkeiten und dem System der direkt wahrnehmbaren Verhaltensformen«. 89 Er wirkt als »Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix« 90, die typische Muster der Problembewältigung generieren. Und so taugt dieser Ansatz auch zur Erklärung richterlicher Handhabungsroutinen. Die Art und Weise etwa, wie ein Richter eine Rechtsfrage bearbeitet, vollzieht sich sozusagen im Vollzug eines Habitus. 91 Der Habitus gibt Sicherheit, führt aber auch, und das ist die andere Seite der Medaille, zur professionellen Unbeweglichkeit. Man schirmt seine Routinen ab: »Das haben wir schon immer so gemacht.« »Das haben wir noch nie so gemacht.« Auch die von der C. Bohn/A. Hahn 2000, S. 259 ff. Das Habituskonzept ist hier der Ausgangsgedanke für empirische Untersuchungen, die typische Formen der individuellen Bewältigung des Theorie-Praxis-Problems zu erfassen suchen; siehe dazu Morlok/Kölbel 2001. Konkret wird dieser Ansatz in den Untersuchungen zu »Richterbildern«, eine Frage, auf die unter 2. eingegangen wird. 88 P. Bourdieu 1987, S. 278. 89 P. Bourdieu 1970, S. 40. 90 P. Bourdieu 1979, S. 169; Strukturalismus und soziologische Wissenschaftstheorie, in Ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a. M. 1970, 7–41, hier 40. 91 Zu den Mechanismen siehe K. I. Lee 2010, S. 263 ff.: »Exkurs: Juristisches Feld und Habitus«. 86 87

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Theorie immer wieder beobachtete Resistenz gegenüber neueren Ansätzen und Ergebnissen der methodologischen Wissenschaften hat hier ihren Ort. 92 Jede Theorietagung der Deutschen Richterakademie bietet hierzu hinreichende Anschauung. – Aber diese Anschauung belegt zunächst nur, dass Ergebnisse von Sozialisationsprozessen nicht auf Tagungen, wie sie die Richterakademie durchführt, aufgebrochen und verändert werden können. Die für eine Methodenlehre wesentliche Frage, wie dies geschehen könne, ist dann auch mit soziologischen Mitteln allein nicht mehr zu beantworten. Antworten sind hier davon abhängig, wie sich die entscheidenden Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmuster im erkennenden Subjekt, beim Richter selbst, ausbilden, entstehen und sich gegebenenfalls auch verändern. So hat sich die Rechtsermittlung von der Kommentarnutzung zur Datenbankrecherche grundlegend verändert. Auch für die gewandelte Methode der Rechtsfindung haben sich Mechanismen impliziter Regeln entwickelt. Darauf wird ausführlich einzugehen sein (Kap. 25). Doch damit sind die kognitiven Prozesse nicht benannt, die zu den Veränderungen geführt haben. Und andererseits kann man bei der Analyse dieser Prozesse nicht daran vorbeigehen, dass nicht nur die Gewohnheiten von Bedeutung sind, die allen Mitgliedern einer Gruppe gemeinsam sind. Am Beispiel: Da waren die ITFreaks, die die IT mit z. T. sehr persönlichem Engagement in den Geschäftsalltag zu implementieren suchten, Kolleginnen und Kollegen, die sich bestenfalls »zurückhaltend« verhielten, und Behördenleiter, die die Entwicklung – je nach Sachkompetenz, Interesse oder Unverständnis – förderten oder bremsten. Heute ist IT-Nutzung eine Selbstverständlichkeit. – Wie gesagt, der Habitus lässt Spielräume für individuelles Handeln und ermöglicht so durchaus Veränderungen in den sozialen »Feldern«.

2.

»Richtertypen«

Der Habitus wird erworben, der richterliche im Justizsystem, und wenn die Verweildauer lang genug ist, oft sehr konkret im Umfeld eines Gerichtes oder gar nur eines Spruchkörpers. Neben dem Habitus, mit dem wir typische richterliche Handlungsmuster zu erfassen suchen, interessieren deshalb auch die Verhaltensmechanismen, die 92

Näher dazu Kap. 26, Vorb.

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den eingeübten Mustern vorgegeben sind. So sah eine in den 60er Jahren vieldiskutierte These in sozialer Herkunft, Erziehung und Ausbildung den entscheidenden Schlüssel zum richterlichen Entscheidungsverhalten und zum richterlichen »Vorverständnis«. 93 Sie ließ sich – zugegebenermaßen polemisch vereinfacht – auf den folgenden Nenner bringen: »Sage mir, aus welchem Milieu/Elternhaus der Richter kommt, und ich sage dir, wie er entscheiden wird.« Schon in der damaligen Auseinandersetzung hat sich dieser Ansatz jedoch nicht durchsetzen können. Belastbare Nachweise für einen unmittelbaren Wirkungszusammenhang: Herkunft – Richtertypus – Entscheidungsverhalten hat die weitere Erörterung dieses Ansatzes nicht erbracht. 94 Gleiches gilt auch für andere Versuche, aus bestimmten (nicht individualisierten) Persönlichkeitsprofilen klare Indikatoren für konkretes Entscheidungsverhalten zu gewinnen. 95 Ein anderes Erkenntnisinteresse ist mit der Bildung von Typologien verbunden, wenn es darum geht, richterliches Verhalten zu beobachten, zu beschreiben und zu analysieren. Jeweils individuelle Beobachtungen, Selbstaussagen, situationsbezogene Bemerkungen (etwa in Interviews) etc. müssen dann zu allgemeinen Befunden generiert werden. Hier bieten sich Typisierungen an; die jeweiligen »Richtertypen« oder »Richterbilder« müssen dann aber auch in erster Linie aus dem Kontext der jeweiligen Studien verstanden werden. So beschreibt etwa J. Schmid aus der Beobachtung des Simulationsfalles »Arzthaftung« sehr anschaulich vier Typen der Fallbearbeitung: den der souveränen Verhandlungsführung, den »Relationstechniker« (den es so heute nur noch selten geben dürfte), den Routinier und den Chaotiker. 96 Ein anderes Beispiel ist die Untersuchung von T. Berndt; hervorgegangen aus einem von M. Morlok geleiteten Projekt »Recht als soziale Praxis«. 97 Aus Interviews mit Richtern wird hier versucht, aus ihren Selbsttypisierungen Typen zu entwickeln. Die theoretische Bedeutung solcher Typisierungen liegt also insgesamt eher darin, dass sie Prozesse der Habitualisierung konkretiVgl. insbesondere die Arbeiten von R. Dahrendorf 1964, Zur Soziologie der juristischen Berufe in Deutschland, Anwaltsbl. 1964, S. 216–234; W. Kaupen 1969. 94 Ein gute Übersicht gibt D. Simon 1975, S. 147 f., 160 ff. Siehe auch das Fazit von J. Schmid 1997a, S. 114 zu dem schon in der Einleitung zitierten Arzthaftungsfall. 95 T. Berndt 2010, S. 50 f. Kennt man die Person – etwa des zu wählenden Richters –, sieht das natürlich anders aus. 96 J. Schmid 1997b, S. 160 ff. 97 T. Berndt 2010; zum Projekt S. 70 ff., 291. 93

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siert und zugleich auf prinzipielle Grenzen von Generalisierungen verweist – auf den Bereich der Kognition, der unhintergehbar individuell ist und für den wir nur konstatieren können, dass er »höchstpersönlich« ist. 98 Für die methodische Praxis lassen sich am Beispiel bestimmter Richtertypen jedoch sehr anschaulich die Grenzen diskutieren, die zwischen methodisch noch vertretbarem und nicht mehr vertretbarem Handeln verlaufen. Ein Beispiel sind die Spielräume, die das Gesetz dem Richter bei der Verhandlungsführung lässt (Kap. 13 III. 2. b); ein anderes ist etwa der »Richterkönig« und sein »souveräner« Umgang mit der Methode. 99

II.

Kognition und Erkenntnisverfahren

Methodisches Verhalten, so war das Zwischenergebnis, ist nicht nur eine Frage bewusster Regelanwendung. Die Methodenlehre muss auch die nicht explizierten Regeln und Mechanismen der Handhabung zu ihrem Gegenstand machen. Und diese sind, wie gezeigt, über Prozesse der Habitualisierung als soziologische Prozesse auch erklärbar. Offen ist, wie sich diese überindividuellen Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmuster, die aus soziologischer Sicht als »Habitus« beschrieben werden, im erkennenden Subjekt, also beim Richter selbst, ausbilden, wie sie entstehen und wirken. Wir müssen also einen Perspektivwechsel vornehmen und nach den kognitiven Prozessen fragen, die der Habitualisierung zugrunde liegen. Ein derartiger Perspektivwechsel ändert selbstverständlich nichts an dem Befund, dass sich die Anwendungsroutinen nicht als eine Kette logischer Schlussfolgerungen darstellen lassen. Dieser Befund muss aber nicht zu der Folgerung führen, dass wir es mit einer Art »Black Box«, also mit Prozessen zu tun haben, die einer näheren Analyse nicht zugänglich sind und uns verborgen bleiben. Wir stehen vielmehr vor der Aufgabe, diese Prozesse mit Mitteln und Ansätzen aus den Kognitionswissenschaften auszuleuchten. Ziel ist es, aus der »Black Box« eine »Glass Box« werden zu lassen. 100 Der juristische Vgl. bereits Einl. sowie etwa Kap. 23 IV. 2.; 26 V. Siehe die anschauliche Darstellung bei T. Berndt 2010, S. 174 ff. Ein plastisches Beispiel dazu ist die Entscheidung BAGE 137, 275–291, s. Kap. 17 V. 100 Anknüpfend an F. Rösler 2011, S. 2: »Ziel der Kognitiven Psychologie ist es, ein 98 99

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Leser muss sich dann allerdings darauf einlassen, wesentliche Begriffe, die er aus der Methodendiskussion kennt, aus einem anderen Kontext zu verstehen und mit anderen Vorstellungen zu verbinden. Das betrifft insbesondere die Begriffe »Denken« und »Erkennen«. Eine erste Einstimmung mag der große Göttinger Gelehrte Lichtenberg (1742–1799) mit folgendem, berühmtem Eintrag in sein Sudelbuch geben: »Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; andere glauben wir wenigstens, hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.« 101

Die Vorstellung eines »Es denkt« verdeutlicht wohl am anschaulichsten das Gegenbild zu den Vorstellungen, die sich in der Methodendiskussion mit dem Begriff »Erkennen« verbinden. Rechtswissenschaftlicher Umgang mit dem Recht verlangt »Erkenntnis«, und Rechtserkenntnis versteht sich in dieser Tradition als begrifflichaxiomatische Deduktion. Für die Begriffsjurisprudenz und den Gesetzespositivismus liegt das zu Tage. Aber auch die Topik bezieht aus dieser Vorstellung ihre polemische Kraft. 102 Wenn Viehweg die »großen Verdienste« der Topik »um die Jurisprudenz« darin sah, dass sie es ist, »die die Jurisprudenz nicht zur Methode werden läßt, wenn man Methode nur ein Verfahren nennt, das logisch streng nachprüfbar ist, mithin einen eindeutigen Begründungszusammenhang, also ein deduktives System, schafft«, wendet er sich damit zwar gegen die Brauchbarkeit eines juristischen Denkens, das »logisch streng nachprüfbar ist«, geht dabei aber selbst von der Vorstellung eines auf logische Ableitung verengten Erkenntnisbegriffs aus.

Glass-Box-Modell der Informationsverarbeitung zu erarbeiten, in dem die Strukturen und Prozesse der Informationsverarbeitung nachvollziehbar sind.« 101 G. C. Lichtenberg 1971, Bd. II, S. 412 – Heft K 76. 102 Auf Begriffsjurisprudenz und Topik wird in Kap 18 I. über das »Recht« als Gegenstand der Methode zurückzukommen sein.

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1.

Erkenntnis oder Dezision

An Begriffsjurisprudenz und Topik entzünden sich die Geister heute kaum noch – an der Vorstellung über das, was wir »Erkenntnis« nennen, entscheidet sich aber, ob zu den beiden oben thematisierten Problemstellungen: • der gerichtlichen Entscheidungsfindung als Erkenntnis oder Dezision und • dem »Habitus« als Erklärungsmodell für eine mehr oder minder funktionierende professionelle Praxis, eigentlich bereits alles Wesentliche gesagt ist oder ob nicht doch noch Spielräume für weitere Analysemöglichkeiten bleiben. Bevor ich mich dem Habitus in seiner Funktion einer Vermittlung zwischen Regel und Entscheidung zuwende, ist der kognitionswissenschaftliche Ansatz selbst zu skizzieren. Das sollte jedoch erst geschehen, wenn keine hinreichenden Gründe vorliegen, an einem auf logische Ableitungszusammenhänge begrenzten Erkenntnisbegriff festzuhalten. Aber wo sollten sie liegen? Insbesondere für die Begriffsjurisprudenz und den Gesetzespositivismus war er selbstverständliches theoretisches Fundament; aber dieses ist mit beiden rechtstheoretischen Ansätzen entfallen. Was als Grund gleichwohl bleibt, ist die These von der Notwendigkeit, an der kategorialen Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Dezision festzuhalten. Am Beispiel des nachfolgenden Textes zeigt sich jedoch, wie problematisch diese These ist. Weil es auf den Gesamtzusammenhang der Argumentation ankommt und der Text zugleich auch die unterschiedlichen Begriffsverwendungen in der Diskussion dokumentiert, ist es ein sehr ausführliches Zitat: »Jedenfalls in Teilen der juristischen Methodenlehre wird weiterhin daran festgehalten, daß auch die Entscheidung umstrittener Rechtsfragen ein Akt der Erkenntnis sei. Das soll selbst für innovative Entscheidungen gelten, wie etwa die ›erstmalige Auffüllung einer Gesetzeslücke im Wege einer Analogie oder einer teleologischen Reduktion‹. Hier wird der Begriff der Erkenntnis allerdings durch das Attribut ›schöpferisch‹ spezifiziert. Aber das ist keine befriedigende Lösung. Man kann zugestehen, daß der paradox anmutende Begriff der ›kreativen Erkenntnis‹ einen Stellenwert im Rahmen eines Modells des Verstehens hat, das die aktive Rolle des Interpreten im Verhältnis zu dem zu interpretierenden Werk und dessen Urheber betont. In diesem Sinne mag man von der musikalischen, der literarischen, der kunstgeschichtlichen Interpretation als schöpferischer Erkenntnis sprechen.

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Bei der Tätigkeit des Juristen aber kommt es gerade darauf an, klarzustellen, wem eine bestimmte Entscheidung zuzurechnen ist. Das folgt aus der Bedeutung von Kompetenzregeln in der Rechtsordnung. Der Unterschied zwischen der kognitiven Komponente der richterlichen Entscheidung (Rekonstruktion der Entscheidung des Gesetzgebers) und der kreativen darf deshalb nicht durch harmonisierende Formeln verdeckt werden. Hält man deshalb an der scharfen kategorialen Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Dezision fest, so liegt auf der Hand, daß sich die Entscheidung strittiger Rechtsfragen nicht im Wege der reinen Erkenntnis vollzieht. Erkenntnis ist ohne gleichwertige Alternative; die Alternative zur Erkenntnis ist der Irrtum. Wer der Auffassung ist, die Planeten bewegten sich auf epizyklischen Bahnen, vertritt nicht einfach eine Mindermeinung, sondern unterliegt einem Irrtum. Wer dagegen der Auffassung ist, daß Notwehr (§ 32 StGB) auch gegen Angriffe von Tieren zulässig ist, irrt nicht, sondern vertritt eine Mindermeinung. Wenn es aber bei umstrittenen Rechtsfragen nicht um Erkenntnis geht: Folgt daraus, daß es die Rechtswissenschaft lediglich mit (Willens)-Entscheidungen zu tun hat?« 103

Neumann wendet sich zu Beginn des Textes gegen einen Begriff von Erkenntnis, der auch das »Schöpferische« einschließt. Und in der Tat hat die Methodenlehre »in Teilen« auch immer einen gegenüber dem »strengen« durchaus erweiterten Erkenntnisbegriff vertreten. Ein erweiterter Methodenbegriff gehört geradezu zum Kern der durch die Philosophische Hermeneutik geprägten Methodenlehre. Erinnert sei an die Ausführungen zu Gadamer, Wittgensteins Sprachspiel und Savignys Begriff der »Reconstruction« (Kap. 2 III. 3.). Auch der Grund für die Ablehnung dieses Erkenntnisbegriffs ist leicht einsehbar. Es ist ein normativ-funktionaler: die philosophisch-juristische Hermeneutik verwischt die Grenzen zwischen Rechts-Schöpfung und (im traditionellen Sinn) Rechts-Erkenntnis und es bleibt folglich unklar, »wem eine bestimmte Entscheidung zuzurechnen ist« – dem Gesetzgeber oder dem Gericht. Das Problem ist aber das Postulat: Die Forderung, der »Unterschied zwischen der kognitiven Komponente der richterlichen Entscheidung (Rekonstruktion der Entscheidung des Gesetzgebers) und der kreativen darf […] nicht durch harmonisierende Formeln verdeckt werden«, kann heute sowohl faktisch als auch theoretisch nicht mehr eingelöst werden. Hier hat schon die Analyse des Begriffs der »Reconstruction« bei Savigny gezeigt, dass eine eindeutige Erkenntnis dessen, was der Gesetzgeber entschieden hat, gerade via »Rekonstruktion« nicht mehr zu haben ist (vgl. Kap. 2 103

U. Neumann 2001, S. 242 f.

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III.). Das bedeutet aber, dass der Jurist mit »der scharfen kategorialen Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Dezision« keine Differenz von Bedeutung mehr in den Griff bekommt. Die Entscheidung einer strittigen Rechtsfrage vollzieht sich so viel und so wenig in einem vom Prozess der »Herstellung« losgelösten Prozess »reiner Erkenntnis« wie der Umgang mit einer unumstrittenen Rechtsfrage. Ein Rechtsstreit ist immer ein Streit um Alternativen. Aber er ist deshalb, wie in der Argumentation wider den Methodenskeptizismus mit Gründen schon skizziert, nicht nur als eine Kette von Dezisionen zu begreifen. Auch Neumann sieht indes, wie mit der rhetorischen Schlussfrage ja bereits angedeutet, dass auch dort, »wo der kognitive Bereich überschritten ist, […] es im Bereich des Rechts nicht um pure Dezision« geht, »sondern um begründetes Entscheiden«. 104 Der »kognitive Bereich« wird dabei als Erkenntnis im oben beschriebenen »strengen« Sinn verstanden. In der Konsequenz bleibt dann zwischen Erkenntnis und Dezision, wie im Abschnitt zuvor bereits beschrieben, nur noch Raum für eine Argumentationstheorie, d. h. eine Beschränkung der Methodik auf die Begründung der Entscheidung. Ein unverzichtbares Anliegen der Methodenlehre muss es demgegenüber aber sein, ihr die Möglichkeit zu eröffnen, auch das Erkenntnisverfahren – und damit auch den Prozess des »Entscheidens« mit seinen Anwendungsroutinen – als kognitiven Prozess zu verstehen. Nur so kann die juristische Methodik auch wieder Anschluss an die wissenschaftliche Diskussion finden. Denn das juristische Denken lässt sich heute nicht mehr sinnvoll allein »unter dem Gesichtspunkt des logischen Schlußfolgerns betrachten«, um die bereits in der Einleitung (III.) zitierte Feststellung aus einem führenden Lehrbuch der Kognitiven Psychologie zu wiederholen.« 105 Für die juristische Methode ist das gerichtliche Verfahren in erster Linie ein Informationsverarbeitungsprozess 106. Und so wie es Ziel der Kognitiven Psychologie ist, »ein Glass-Box-Modell der Informationsverarbeitung zu erarbeiten, in dem die Strukturen und Prozesse der Informationsverarbeitung nachvollziehbar sind« 107, muss auch die juristische Me-

Neumann 2001, S. 243. J. Anderson 2001, S. 315. 106 Kap 4 III. – Er ist, wie hinzugefügt werden muss, natürlich aber immer auch ein emotionaler Prozess. 107 F. Rösler 2011, S. 2. 104 105

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thode den Versuch machen, die richterlichen Informationsverarbeitungsprozesse mit Hilfe der Kognitionswissenschaften so nachvollziehbar wie möglich zu machen. Entsprechend werde ich für die folgenden Erörterungen nicht mehr von der Grundunterscheidung »Erkenntnis – Dezision«, sondern von der Unterscheidung zwischen »Logik« und »Mustererkennung« als den beiden Hauptformen des Denkens ausgehen. 108

2.

Kognition und Kognitionswissenschaft

Ein entscheidender Schritt wird darin bestehen (müssen), wichtige und weiterführende Ansätze für die nachfolgenden Überlegungen zur Methode und zu dem, was wir »Denken« und »Erkennen« nennen, in einem kognitionswissenschaftlich abgesteckten Bereich von »Erkenntnis« zu suchen – mithin weder den »kognitiven Bereich« und den Begriff des »Erkennens« auf unbestreitbare, logisch gewonnene Erkenntnisse einzuengen noch uns auf die rein geistesgeschichtlich und geisteswissenschaftlich ausgerichteten Erkenntnisvorstellungen, wie sie aus der philosophischen Hermeneutik übernommen wurden, zu beschränken. Mit empirisch abgesicherten Erklärungsmodellen kann auch Rechtstheorie nur gewinnen. So sind die Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmuster, die die Handlungsroutinen bestimmen – also den Habitus ausmachen – nicht nur soziologisch beobachtbare Phänomene. Ihnen liegen kognitive Prozesse zugrunde und wir müssen sie aus dieser Perspektive zu analysieren suchen – einer Perspektive, die Bourdieu angesichts des damaligen Standes der Kognitionswissenschaften noch kaum hätte einnehmen können. »Kognition« ist ein in den Kognitionswissenschaften – z. T. mit unterschiedlichen Inhalten und Akzentuierungen – verwendeter Sammelbegriff für Strukturen und Formen des Erkennens und Wissens. 109 Ein Standardlehrbuch der Psychologie umschreibt sie mit folgenden Begriffen: Im Anschluss an den Neurowissenschaftler (und Nobelpreisträger für Medizin) G. M. Edelman 2007, S. 145 f. Zur Mustererkennung als Denkform ausführlich Teil E. 109 Nach W. Singer »lassen sich mindestens fünf Bedeutungen differenzieren, die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden und verschieden scharf gefaßt und theoretisch ausgearbeitet sind«. War der Begriff zunächst hauptsächlich auf die Probleme »Denken« und »Problemlösen« ausgerichtet, wird er heute umfassend verstanden und 108

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»Kognitionen: Strukturen oder Prozesse des Erkennens und Wissens. Darunter fallen z. B. die Prozesse des Wahrnehmens, Schlussfolgerns, Erinnerns, Denkens und Entscheidens und die Strukturen […] des Gedächtnisses. Der Begriff der Kognition ist an die Stelle der traditionellen Bezeichnung des ›Geistigen‹ getreten.« 110

Als Definition wird diese Umschreibung kaum befriedigen. Das liegt aber in der Natur der Komplexität der zu beschreibenden Phänomene. Entsprechend ist die »Kognition« auch Gegenstand sehr unterschiedlicher Disziplinen, insbesondere der Psychologie, Neurobiologie, Informatik und Philosophie. Kognitionswissenschaften gibt es – jedenfalls beim derzeitigen Stand – sinnvoll nur im Plural. Anders als aus der Multiperspektivität verschiedener Disziplinen lassen sich die kognitiven Aktivitäten, die das richterliche »Erkennen« ausmachen, nicht analysieren. Beweisaufnahmen etwa – ob Zeugenvernehmung oder Augenschein – sind kompliziert vernetzte Prozesse von Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Wissen, Schlussfolgerungen, Gedächtnis, Sprache und Informationsverarbeitung. Das Aktenstudium, das Nachdenken über Rechtsfragen und das Lesen von Rechtstexten unterscheidet sich da nur in den Gewichtungen, die die einzelnen Funktionen haben, nicht aber in der Komplexität des Zusammenhanges.

3.

»Prozedurales Wissen« und juristische Methode

Nehmen wir hinzu, dass diese Prozesse auch nahezu stets mit »Emotionen« verwoben, jedenfalls mit ihnen kontaminiert sind, 111 liegt die Notwendigkeit einer Eingrenzung unserer kognitionswissenschaftlichen Betrachtungsweise auf der Hand. Wenn wir den Methodenbegriff durch die »Integration« kognitiver Prozesse nicht ins Uferlose erweitern wollen, müssen wir diesen Ansatz genauer auf die Problemstellungen richterlicher Methodik fokussieren. Als erster Schritt der Eingrenzung bietet sich hier eine grundlegende kognitionswissenschaftliche Unterscheidung an, nämlich die zwischen dem, was als deklaratorisches Wissen bezeichnet wird – Wissen über Fakten schließt vor allem auch die emotionalen Prozesse ein – Art. »Kognition«, Lexikon der Neurowissenschaft, Bd. 2, S. 247 ff. Vgl. dort auch den Art. »Kognitive Neurowissenschaft« von W. Schneider u. W. Prinz. 110 Zimbardo/Gerrig 1999, S. 790; in der Neubearbeitung – Gerrig/Zimbardo 2014, S. 276 – wird der Begriff ausführlich und mit Beispielen umschrieben. 111 Vgl. hier insbesondere A. R. Damasio 1997.

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und Dinge – und dem Wissen darüber, wie man bestimmte kognitive Operationen ausführt, dem prozeduralen Wissen. 112 Wenn Juristen eine Vorlesung hören, z. B. über Strafrecht oder Vermögensdelikte, ein entsprechendes Lehrbuch oder einen Fachaufsatz zu Problemen der Bauzeitverzögerung lesen, geht es ihnen zunächst um den Erwerb von speicherbarem, deklarativem Wissen. Das ist in der Regel nicht Selbstzweck. Ziel ist es vielmehr, sich Wissen für Problemlösungen zu verschaffen. Es geht, in der Terminologie der kognitiven Psychologie, um »prozedurales Wissen«. Methodisches Vorgehen bedeutet in diesem Sinne: Über Wege zum strukturellen Lösen von Problemen zu verfügen und dabei jeweils diejenigen Regeln und Mittel einzusetzen, die für die Problemlösung optimal geeignet scheinen. 113 »Optimal geeignet scheinen« aber auch – und nicht zuletzt – die Mittel, die dem Richter z. B. mit geringstem Aufwand die größtmöglichen Erledigungszahlen ermöglichen – gegebenenfalls noch verstärkt durch ein besonderes Lob im Dienstleistungszeugnis für seine besondere Belastbarkeit. Der kognitionswissenschaftlichen Betrachtungsweise ist also entgegenzuhalten, dass es hier nur um ein normbezogenes Methodenverständnis gehen kann. Aber gerade weil sich das richterliche Urteilen nur begrenzt in Regeln fassen lässt – nicht einmal hinreichend in genaue deskriptive, geschweige denn in normative –, wird die Wahl methodischer Regeln immer auch von Motiven bestimmt, deren sachliche Legitimation (zurückhaltend formuliert) mindestens zweifelhaft ist. Die kognitionswissenschaftliche Definition des prozeduralen Wissens ist also eine notwendige Ausgangsperspektive, um das Gesamtspektrum des methodischen Vorgehens im Auge zu behalten und immer gegenwärtig zu haben, dass dieses Vorgehen stets wesentlich auch durch Wissen und Regeln gesteuert wird, die sich von einer juristischen Methodenlehre nicht in Regeln fassen lassen. Das betrifft zunächst die Zielstellungen, für die der Richter sein prozedurales Wissen einsetzt. Sind es amtsadäquate Ziele, für die er dieses Wissen einsetzt (Feststellung der Rechtslage, Herstellung des Rechtsfriedens durch einen die Interessen austarierenden Vergleich), oder wird sein Verhalten durch Vorstellungen und Motive gesteuert,

112 113

Vgl. dazu J. R. Anderson 2001, S. 241. Vgl. dazu J. R. Anderson 2001, S. 241 ff.

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die er nicht öffentlich machen dürfte, ohne gegen Amtspflichten oder mindestens den Geist seines Richtereides zu verstoßen (»Was interessiert ein genauerer Blick auf die Sach- und Rechtslage – Hauptsache, das Verfahren ist erledigt«)? Das betrifft zum anderen die Mittel. Hier reicht die Skala von amtsadäquat und regelkonform über die Kunst, die Vagheit der Regeln auszunutzen, bis zur Regelmissachtung. Die Beispiele hierzu sind alltäglich: der Richter, der die Parteien oder eine Partei durch Drohung und (oft eigentlich auch) Täuschung zum Vergleich »prügelt«, der Fragen nicht stellt, obwohl sie für den Kundigen auf der Hand liegen, der zu bequem ist, einer Rechtsfrage nachzugehen, der sein auf problemlos schnelle Erledigung ausgerichtetes Verhandlungskonzept durchzieht und dem es dabei auf eine faire Verhandlungsführung nicht ankommt usw. In einem zweiten Schritt ist deshalb nach Regeln und Mechanismen der Einschränkungen zu fragen. Gehen wir dazu zunächst von den Mechanismen aus, die das Recht selbst zur Verfügung stellt, die aber voraussetzen, dass eine normative Regel besteht, deren Verletzung entweder in einem Rechtsmittelverfahren oder in einem außerordentlichen Überprüfungsverfahren festgestellt werden kann. Die letztgenannten, außerordentlichen Rechtsbehelfe haben augenscheinlich die Funktion und sind auch deshalb entwickelt worden, um eine Missachtung oder Nichtbeachtung von Regeln jedenfalls dann noch sanktionieren zu können, wenn sich deren Handhabung nicht mehr im Raum des Vertretbaren hält. Typische Fälle sind hier Gehörsrügen, Rüge eines unfairen Verfahrens, die Rüge richterlicher Willkür. Was in diesem Zusammenhang interessiert, sind aber nicht die prozessualen Überprüfungsmöglichkeiten als solche. Prozessrechtlich haben die genannten Regeln insoweit eine Sonderstellung, als sie als Rechtsregeln formalisiert sind. Betrachten wir die Mechanismen, durch die Handhabungsroutinen innerhalb der Justiz gesteuert werden, machen diese mit Rechtsbehelfen durchsetzbaren Normen jedoch nur den kleineren Teil der Regeln aus, mit denen das prozedurale Wissen gehandhabt wird. Klar abgrenzbar sind die Teile freilich nicht. Im nächsten Abschnitt wird sich zeigen, wie fließend die Grenzen zwischen beiden sein können. Insgesamt haben wir es mit einem komplexen Gefüge von Regeln und Routinen zu tun, die für das verantwortlich sind, was wir oben als »Handlungs-, Wahrnehmungsund Denkmatrix« beschrieben haben. Integrale Bestandteile dieses Steuerungsmechanismus sind nicht zuletzt auch die Verhaltenskodi87 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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zes, die sich aus dem »Richterbild«, aus dem, was amtsadäquat erscheint, und aus dem Ethos, dem der Richter verpflichtet ist, ergeben. Charakteristisch für dieses Gefüge ist es, dass es sich dabei um Phänomene sozialer Kognition handelt: Die Mechanismen individueller Kognition verzahnen sich mit Mechanismen sozialer Kognition. Bei allen individuellen Unterschieden zwischen den einzelnen Richterinnen und Richtern im Denken, Handeln und in den Einstellungen gibt es charakteristische gemeinsame Routinen, spezielle kommunikative Konventionen, gemeinsame Vorstellungen über relevante und irrelevante Informationen etc. Die Kommunikation funktioniert, weil man über einen »gemeinsamen begrifflichen Hintergrund für eine kooperative Kommunikation« 114 verfügt. Und über eine gemeinsame Methode. So agiert der Richter in einem Denk- und Argumentationsraum, der durchaus nicht nur sein eigener, sondern ein professioneller, gemeinsamer Denk- und Argumentationsraum ist.

III. Kognitive Strukturen des Habitus – Schlussfolgerungen Der Schritt, in den Diskurs über juristische Methode den Ansatz des prozeduralen Wissens einzubeziehen und so den Methodenbegriff entscheidend zu erweitern, führt also nicht ins Uferlose. In der Vorstellung eines gemeinsamen professionellen Denk- und Argumentationsraums, auf den im nächsten Kapitel nochmals zurückzukommen sein wird, mag das auch bildlich deutlich werden. Zunächst steht aber eine genauere Analyse zur Entstehung und zur Veränderbarkeit des beschriebenen komplexen Gefüges von Regeln und Routinen aus. Zu fragen ist mithin nach den kognitiven Strukturen des Habitus und den Chancen für eine institutionelle Selbstregulation dieses »Regelgefüges«.

1.

Habitus und Lernen

Die »Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix«, die typischen Muster der Problembewältigung, die den Habitus ausmachen, sind 114

M. Tomasello 2009, S. 85 ff.

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das Ergebnis von Sozialisationsprozessen. Sie werden im Habitus als soziologische Phänomene wahrgenommen und analysiert – sie sind aber als Lernvorgänge zunächst als kognitive Vorgänge zu erfassen. Die Anwendungsroutinen, die Regeln und Muster, nach denen das prozedurale Wissen gehandhabt wird, werden – zwar in einem institutionellen Rahmen – aber gleichwohl jeweils individuell gelernt und verbinden sich dann zu dem benannten spezifischen »Gefüge«. Fragen wir nach den Mechanismen, die diesen Prozessen zugrunde liegen, stoßen wir letztlich auf die Veränderungen, die die Einübung in einen Habitus im neuronalen Netzwerk unseres Gehirns bewirken. Auch wenn im Einzelnen hier noch vieles ungeklärt ist: Eine »überwältigende Masse an Beweisen belegt, dass sich Erfahrung in strukturellen Veränderungen an Synapsen niederschlägt«. 115 Es kommt zu »Bahnungen«, d. h. einer bevorzugten Verwendung einer Nervenverschaltung, die sich korrelierend im Gehirn verstärkt ausprägt. 116 Training und Lernen haben also ihre neuronalen Entsprechungen. Mit den Worten des Neurowissenschaftlers W. Singer: »Die Zahl der Kontakte zwischen Nervenzellen nimmt zu, die für die geübten Funktionen zuständigen Areale dehnen sich aus und die neuronalen Antworten spezialisieren sich auf die trainierten Inhalte.« 117 Etwas salopp formuliert: »Bahnungen« führen bei eingespielten Routinen zu »Datenautobahnen«; diese Routinen können deshalb ja auch ohne weiteres Nachdenken gehandhabt werden. Man bewegt sich in eingespielten Bahnen. Was als Regel in »Fleisch und Blut« übergegangen ist, lässt sich allerdings auch nicht mehr spielend umlernen. Und aus diesem Ansatz erklärt sich wohl auch, warum Tagungen, die ein Nachdenken oder gar eine Veränderung des (schon eingefahrenen) Habitus im Auge haben, zumeist mehr frustrieren als Erfolgserlebnisse vermitteln. Umgekehrt zeigt dieser Zusammenhang aber auch den Weg, den die Justiz gehen müsste, wenn es ihr mit besseren methodischen Standards ernst wäre. Notwendig sind R. F. Thompson 2001, S. 409. Die Bahnung beruht also auf dem Effekt der Änderungen von Synapsenstärken: Bei wiederholter Aktivierung zeigen Synapsen im Nervensystem Verstärkung (synaptische Bahnung), während es bei fehlender Aktivierung zu Abschwächung (synaptische Depression) kommt. Die Bahnung der synaptischen Übertragung wird als der fundamentale Mechanismus von Lernen, Gedächtnis und Habituierung angesehen; diese induzieren ein unverwechselbares Muster neuronaler Aktivität im Gehirn. Vgl. dazu, mit weiteren Nachweisen, etwa R. F. Thompson 2001, S. 371 ff., 408 ff. 117 W. Singer 2006, S. 283. 115 116

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keine entspannenden Tagungen zur Nachbesserung in Richterakademien. Eine Methoden-Lehre muss in den Stadien einsetzen, in denen sich der Habitus bildet, also dort, wo es im Studium »ernst« wird: zum Examen hin, im Referendariat und entscheidend – und zwar nicht nur als praktische Einübung, sondern auch theoretisch fundiert – zu Beginn der Richtertätigkeit.

2.

Zum »Fließcharakter« von Habitus und normativen Regeln

Den Regeln und Routinen, mit denen wir es bei diesem komplexen Gefüge zu tun haben, das es in seiner Funktionsweise zu untersuchen gilt, ist nicht nur gemeinsam, dass sie sowohl einen individuellen als auch einen sozialen Charakter haben. Gemeinsam ist ihnen auch eine »Fließcharakteristik«. Was ist damit gemeint? – Es handelt sich um formelle Regeln und um informelle, wie es sich einerseits um explizite, andererseits um implizite Regeln handeln kann. Entscheidend ist, dass es zwischen diesen »Zuständen« keine klaren, festgelegten Übergänge gibt, sondern nur fließende Grenzen. Wann ein richterliches Verhalten nicht mehr »amtsadäquat«, nicht mehr »vertretbar« oder nicht mehr »fair« ist, lässt sich nicht abstrakt bestimmen – und im Voraus meist nicht einmal konkret. Oft ist die Grenze schon überschritten, ohne dass es dem handelnden Richter oder Gericht bewusst geworden ist. Die Fälle unfairer Terminierungspraxis sind ein Beispiel. 118 Eine andere Beispielgruppe gilt der »Vertretbarkeitsgrenze« hinsichtlich der Verhandlungsführung, wenn es darum geht, die Prozessparteien zu einem Vergleich »zu bewegen«. Man ärgert sich, das Ansehen der Justiz nimmt Schaden, aber man nimmt es hin. Irgendwann wehrt sich aber eine Partei, und es ist dann nicht mehr zweifelhaft, dass die geübte Routine nicht mehr vertretbar war. Zur Illustration ein Leitsatz aus einem Urteil des BAG zu einem besonders krassen Fall: »Es liegt eine Drohung gemäß § 123 Abs. 1 BGB vor, wenn ein Vorsitzender Richter im Rahmen von Vergleichsverhandlungen äußert: ›Gleich werden Sie an die Wand gestellt und erschossen‹, ›Ich reiße Ihnen sonst den Kopf ab‹ Beispiele: BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 26. September 2012 – 2 BvR 938/12 –, juris; zur Obliegenheit des Gerichts, sich mit zunehmender Verfahrensdauer nachhaltig um eine Verfahrensbeschleunigung zu bemühen – BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 02. 09. 2009 – 1 BvR 3171/08 –, juris – m. w. N.

118

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5 · Methode und Handhabungsroutinen – Erkenntnis, Habitus und Kognition

und: ›Seien Sie vernünftig, sonst müssen wir Sie zum Vergleich prügeln‹ und sich aus dem Vorbringen der Parteien nicht ergibt, dass der betreffenden Prozesspartei die offenbar häufiger an den Tag gelegte ungewöhnliche Art des Vorsitzenden bekannt gewesen wäre oder die Vergleichsverhandlungen in einer aufgelockerten Gesprächsatmosphäre geführt worden wären, vielmehr sich aus dem Vorbringen beider Parteien eine durchgehende Anspannung der betreffenden Partei ergibt. Unter diesen Umständen kann bei der Prozesspartei aufgrund der in Rede stehenden Äußerungen der Eindruck entstehen, dem Vorsitzenden sei jedes, gegebenenfalls auch ein anrüchiges Mittel recht, um den Prozess zu dem gewünschten Abschluss zu bringen, und sie könne diesem Druck nur dadurch ausweichen, dass sie den angetragenen Vergleich (endlich) schließe.« 119

Die Entscheidung ist zwar auch als Einzelfall bemerkenswert, sie liefert jedoch vor allem ein Muster dafür, wie es zu einem Umschlag von einer informellen, implizit geduldeten Methode der »Vergleichskunst« zu normativ eingrenzenden Vorgaben für Vergleichsbemühungen eines Gerichts kommen kann. Zu Recht weist eine Anmerkung – »Auswirkungen für die Praxis« – Anwälte auf die mit den Maßstäben des Urteils gegebene Möglichkeit einer Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB hin und ergänzt: »Richtet sich der ›Vergleichsdruck‹ des Gerichts vorrangig gegen eine Partei, gehört es zu den Pflichten des Prozessvertreters der anderen Partei, das Risiko einer späteren Anfechtung in Abstimmung mit seinem Mandanten durch geeignete Interventionen auszuschließen«. 120 In den Fällen der »abgerungenen« Verfahrensbeendigung und in den Fällen der »unfairen Terminierung« handelt es sich um Verkürzungen des Rechtsschutzes. In einer Vielzahl von Fällen liegt eine Verkürzung des rechtlichen Gehörs vor. Ebenfalls noch nicht genannt sind die zahlreichen Fälle richterlicher Willkür bei der Rechtsanwendung. Die Besonderheit der dazu ergangenen Entscheidungen liegt darin, dass sie einerseits die »Fließcharakteristik« von Anwendungsregeln ganz deutlich werden lassen und zugleich zur Kernfunktion juristischer Methodik führen und so ihr Kernproblem thematisieren. Die Grenze zwischen dem verfassungsrechtlich Vertretbaren und BAG, Urt. v. 12. 05. 2010 – 2 ZR 544/0 – NZA 2010, 1250–1255, m. w. N. Nicht untypisch wohl auch die angegriffene Wertung durch das Landesarbeitsgericht: »Der Vorsitzende habe dem Kläger – wenn auch in unsachlicher Art und Weise – anhand der Prozesslage die voraussichtlichen Folgen eines möglichen Scheiterns der Vergleichsverhandlungen aufzeigen wollen«. 120 B. Ulrici, juris PR-ArbR 49/2010 Anm. 1. 119

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dem nicht mehr Vertretbaren wird hier genau dort gezogen, wo auch die Grenze des methodisch Vertretbaren verläuft. 121 Auf diese Fälle des bei der Auslegung und Rechtsanwendung methodisch nicht mehr Vertretbaren ist im Laufe unserer weiteren Untersuchungen naturgemäß noch vielfältig auch im Einzelnen einzugehen. Dem soll hier nicht vorgegriffen werden. Für die zu klärenden Fragen nach Entstehung und Veränderbarkeit des hier zu analysierenden komplexen Gefüges von Regeln und Routinen ergeben sich die entscheidenden Schlussfolgerungen schon aus dem untersuchten Material: Zunächst ist festzuhalten, dass die Regeln und Routinen, die den Habitus ausmachen und ihn steuern, nicht per se darauf festgelegt sind, implizite und informelle Regeln zu sein. Das Regel-Gefüge unterliegt vielmehr einer auch institutionellen Selbstregulierung – man könnte vielleicht sogar sagen: Selbstreflexion –, die die Steuerungscharakteristik der Regeln verändert: Implizite und informelle Regeln werden in bewusst formalisierte Regeln oder – etwa via Leitsätzen – in normative Direktiven transformiert. Das bedeutet für den Methodenbegriff – und um dieses Fazit ging es in diesem Abschnitt über die Notwendigkeit eines weiten Methodenbegriffs –, dass es keinen festen Kanon von methodischen Regeln geben kann. Wir haben es bei der Methodik der Praxis mit einem offenen Gefüge von Regeln zu tun: Regeln, die sich zum einen als methodische Regeln formulieren lassen und so einen normativen Charakter bekommen. Andererseits haben wir es aber vor allem auch mit Routinen, impliziten Arbeitsund Handhabungsregeln, zu tun. Sie gilt es in den folgenden Analysen als »Sachverhalte« zu beschreiben, um sie als methodisches Verhalten (Habitus) zum Gegenstand methodischer Reflexion machen zu können.

Vgl. etwa BVerfG, B. v. 16. 12. 2014 – 1 BvR 2142/11: »Ein solches Auslegungsergebnis lässt sich mit den anerkannten Methoden nicht erreichen« – juris Rn. 81 und folgend: »Die Grenzen verfassungskonformer Auslegung ergeben sich grundsätzlich aus dem ordnungsgemäßen Gebrauch der anerkannten Auslegungsmethoden (vgl. BVerfGE 119, 247 h274i)« – juris Rn. 86.

121

92 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Kapitel 6 Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode – »Wahrung der Kohärenz«

Die Anwendungsregeln und Routinen, mit denen der Richter sein Wissen im Prozess handhabt, sind – das war ein Ergebnis des vorigen Kapitels – nur erklärbar, wenn sie sowohl als Phänomene individueller als auch sozialer Kognition verstanden werden. Nur so wird es auch plausibel, von einem »gemeinsamen« professionellen Denkund Argumentationsraum zu sprechen. Dieser Denk- und Argumentationsraum bildet sich jedoch nicht von ungefähr, sondern wird durch spezifische Formen institutioneller Einbindung des Richters geprägt. Sie geben diesem Raum durch gemeinsame Kontexte Rahmen und Struktur. Eine entscheidende Rolle spielen hier der Instanzenzug und das Rechtsmittelrecht, die Aufgabe der Rechtsprechung, die »Einheit der Rechtsprechung« zu wahren. In besonderer Weise kommt diese institutionelle Einbindung bereits in dem Sprachgebrauch vom »erkennenden Gericht« zum Ausdruck. Nach üblichen Vorstellungen ist das »Ich« – also z. B. der einzelne Richter – im Erkenntnisprozess das »erkennende Subjekt«. Wie verhält es sich demgegenüber aber mit dem ebenso üblichen Sprachgebrauch vom »erkennenden Gericht«? Im Kern geht es um die theoretische Einbindung der Methodik in institutionelle Bezüge, um den Zusammenhang von Methode, Kohärenz und Gerichtsorganisation. Während die theoretische Einbindung der Methodik in institutionelle Bezüge für eine »Methodenlehre der Rechtswissenschaft« kaum ein Thema darstellt, 122 muss sich eine Methodik der Praxis den Fragen stellen, was mit der Figur des »erkennenden Gerichts« gemeint ist und was die Formel von der »Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung« bedeutet.

122

Vgl. Strauch 2003, ThürVBl. 2003, 1.

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I.

Die Problemstellung

In der Einleitung hatte ich als ein Resümee der empirischen Studie »Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt« J. Schmid mit dem Satz zitiert: »Hingegen legen die Befunde die Vermutung nahe, daß der Zufall bei der Konstitution des Rechtsfalles eine größere Rolle spielen könnte, als ihm in der Literatur bislang zugestanden wird«. 123 Die Ergebnisse schienen in der Tat kaum einen anderen Schluss zuzulassen. Die von 51 Richterinnen und Richtern (AG, LG, OLG) in einem Arzthaftungsfall getroffenen Entscheidungen kamen zu 13 unterschiedlichen Urteilen – wobei sowohl die Divergenzen in den Beträgen, die bei teilweiser Stattgabe zugesprochen wurden, als auch die in den herangezogenen Anspruchsgrundlagen und Begründungen nicht eingerechnet sind. Ob es sich wirklich um eine Zufallsproblematik handelt, wie Schmid meint, hängt von dem Zufallsbegriff ab, mit dem man arbeitet, 124 aber diese Frage kann hier auf sich beruhen. Jedenfalls beunruhigt die Streubreite der unterschiedlichen Ergebnisse. Diese überrascht aber auch kaum. Die Untersuchung erfolgte aus der Perspektive der herkömmlichen, akademischen Methodenlehre. Und insoweit bestehen auch keine Zweifel an der Validität der Simulation. Die 51 Richter, die den gleichen Fall zu lösen hatten, simulierten die Situation der Falllösung aus einer ähnlichen Perspektive, die man bei 51 Referendaren hat, die einen Aktenfall bearbeiten müssen, oder vielleicht auch wie bei einer Studie, in der man 51 Deutschlehrern ein Gedicht von Hölderlin gibt, um dann die Streubreite der Interpretationen zu messen. Aber simuliert wurde nicht die Rechtsprechungssituation. Man hat beobachtet, wie Richter je für sich als Individuen entscheiden. Als Richter entscheiden sie jedoch in einem institutionellen Zusammenhang; konkret lief der Ausgangsfall vor der Kammer eines Landgerichts. Die institutionelle Einbindung kann Streubreiten in den Entscheidungen gleicher Fälle zwar bekanntlich nicht verhindern, das Justizsystem ist aber geradezu auf die »Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung« angelegt. Instanzenzug und Rechtsmittel haben unmittelbar die Aufgabe, solche Streubreiten zu reduzieren. Innerhalb der Instanzen hat die Entscheidung in Spruchkörpern diese Funktion. Aber auch der Einzelrichter ist in das 123 124

J. Schmid 1997a, S. 114. Grundsätzlich zum Zufallsbegriff: Küppers 2008, S. 350 ff.

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institutionelle Gefüge »Justiz« eingebunden. – Bearbeitet ein Richter einen Fall, bei dem er damit rechnen muss, dass eine der Parteien ins Rechtsmittel geht, wirklich in derselben Weise wie ein Verfahren, bei dem er nur den »blauen Himmel der Rechtskraft« über sich hat oder gar in einer Situation, in der Entscheidung nur gespielt wird? Auf den ersten Blick müssen diese Einwände gegen die zitierte Studie freilich nicht überzeugen. Instanzenzug und Spruchkörperprinzip erscheinen zunächst nur als äußere Mechanismen, die gerade die Unzulänglichkeit juristischer Methode bestätigen. Das genau aber ist der Punkt. Wesentliche Teile des Justizsystems – Instanzenzug und Zugang zu Rechtsmitteln, Zuschnitt und Zusammensetzung von Spruchkörpern – sind gerade unter dem Aspekt zu sehen und zu verstehen, dass sie das leisten sollen, was die Methode, nur als individuelle Regelbindung verstanden, nicht leistet. Darauf ist gleich einzugehen (II.). Innerhalb des Justizsystems findet damit zugleich aber immer auch eine methodisch-inhaltliche Rückkoppelung statt. Die institutionelle Einbindung des Richters ist mithin nicht nur als Oberflächenphänomen (miss)zuverstehen. In dem Sprachgebrauch vom »erkennenden Gericht« zeigt sich diese Einbindung besonders deutlich und es ist deshalb zu fragen, ob es sich wirklich nur um ein Sprachbild handelt (III.). Der institutionelle Zusammenhang reicht jedoch weiter. Es ist dieser institutionelle Rahmen, in dem der Habitus generiert wird, d. h. die Anwendungsroutinen, Regeln und Muster, nach denen das prozedurale Wissen 125 gehandhabt wird. In diesem Rahmen wird er auch kontrollierend korrigiert. 126 Da sich Rechtsprechung in das Gefüge dieser Regeln einordnen muss, ist ihr als methodische Direktive auch die Herstellung von Kohärenz vorgegeben (IV.).

II.

Rechtsmittelrecht – die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung

Nach Art. 95 Abs. 3 GG ist zur »Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung« ein »Gemeinsamer Senat« der obersten GerichtsKap. 5 II. 3. Wie oben gezeigt (Kap. 5 I. 1.) spielt dabei die nicht durch den Habitus determinierte, »höchstpersönliche« »Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix« der Akteure allerdings eine erhebliche Rolle.

125 126

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höfe zu bilden. 127 Diese Norm ist der Schlussstein eines Systems prozessualer Regeln, die den Instanzenzug und das Rechtsmittelrecht auf das Ziel ausrichten, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren. Das gilt • sowohl für den Rechtsmittelzugang zu den obersten Gerichtshöfen des Bundes, soweit er davon abhängig gemacht wird, dass ein Urteil von einer Entscheidung des jeweiligen obersten Bundesgerichts, »des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht« oder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend gemacht werden kann (so § 132 Abs. 2 VwGO) 128; • als auch für die Zuständigkeit der jeweiligen Großen Senate in den Fällen abweichender Rechtsauffassungen – die dann obligatorisch angerufen werden müssen – oder in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, »wenn das […] zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist« (so z. B. § 11 VwGO, § 132 Abs. 4 GVG). Einen wesentlichen Baustein für die folgenden Überlegungen zum Zusammenhang von Rechtsmittelrecht und Methodik liefert zunächst die »Divergenzvorlage«. Sie ist notwendig, wenn (1.) ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen will und (2.) der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, dass er an seiner Rechtsauffassung festhält. 129 Vorgelegt wir dem Großen Senat eine Frage; die Entscheidung durch Beschluss erfolgt meist in der Form eines Leitsatzes. 130 Vergleichen wir diese VerfahVgl. § 1 RSprEinhG. Weitergehend z. B. § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG: »Die Revision ist zuzulassen, wenn […] das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, von einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, von einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts oder, solange eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts in der Rechtsfrage nicht ergangen ist, von einer Entscheidung einer anderen Kammer desselben Landesarbeitsgerichts oder eines anderen Landesarbeitsgerichts abweicht und die Entscheidung auf dieser Abweichung beruht«. 129 So § 132 Abs. 2 u 3 GVG; entsprechende Regelungen etwa in § 11 Abs. 3 VwGO, § 45 ArbGG. Als »Schlussstein« § 2 RsprEinhG. 130 Zur Frage der Bindungswirkung einer Entscheidung des Großen Senats vgl. Pietzner in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO § 11 Rn. 25 u. 78 (Stand 2015). Der Große Senat des BFH hat zur Möglichkeit einer erneuten Vorlage und damit zur Bindungs127 128

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rensweise mit dem rechtswissenschaftlichen Diskurs über Rechtsfragen, haben wir es in der Rechtsprechung mit einer hierarchischen Stufung der Antworten auf Rechtsfragen zu tun. Das Leitsatzrecht bekommt die Struktur einer Pyramide. Widersprüche werden – bis zum Großen Senat nach Art. 95 Abs. 3 GG – jeweils auf der höheren Stufe geklärt. Ob man den auf den oberen Stufen im Leitsatzrecht fixierten Antworten Rechtsnormcharakter zuspricht, ist die bekannte Frage nach der Qualität des Richterrechts. 131 Aber der Richter, der es übersieht oder ohne bessere Argumente übergeht, macht einen methodischen Fehler. Es sind auch diese Fehler, die das Rechtsmittelrecht korrigieren soll.

1.

Die Wahrung der Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung als Funktion des Rechtsbehelfssystems

Auf Einzelheiten der Divergenz und der Grundsatzvorlage 132 sowie der Rechtsmittelzulassung aus Gründen der Divergenz und Rechtsfortbildung kommt es dabei nicht an. Das BVerfG hat die Unterschiede, die hier zwischen den einzelnen Prozessordnungen bestehen, nie als grundsätzliches Problem gesehen: »Der Gesetzgeber hat weitgehende Freiheit, den Zugang zum Rechtsmittelgericht nach seinen Zweckmäßigkeitsvorstellungen auszurichten. Es obliegt seiner Entscheidung, einen unkontrollierten Zugang oder Zugangskontrollen in Form von Zulassungs-, Annahme- oder Ablehnungsverfahren durch den Vorderrichter oder durch den Rechtsmittelrichter vorzusehen (vgl. BVerfGE 54, 277 (292)). […] Selbst wenn man von der Vergleichbarkeit der Einzelvorschriften verschiedener Verfahrensgesetze ausgeht, so lassen sich sachlich einleuchtende Gründe für eine Differenzierung der Revisionsvorschriften in der Zivilgerichtsbarkeit gegenüber der Arbeitsgerichtsbarkeit finden, die einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ausschließen. Wewirkung der Entscheidung ausgeführt: »Will ein Senat von einer Entscheidung des Großen Senats abweichen, so ist die Vorlage an den Großen Senat nur zulässig, wenn in der Zwischenzeit neue rechtliche Gesichtspunkte aufgetreten sind, die bei der ursprünglichen Entscheidung des Großen Senats nicht berücksichtigt werden konnten, und (oder) neue Rechtserkenntnisse eine andere Beurteilung der entschiedenen Rechtsfrage rechtfertigen könnten«, BFHE 101, 13. 131 Näher Kap. 16 III.; zur Rechtsatzqualität dogmatischer Sätze – Richterrecht II – Kap 18 III. 3 sowie zu Richterrecht und GG – Richterrecht III – Kap 20 II 3. b). 132 Zur Praxis der Vorlagen vgl. Pietzner in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO § 11 Rn. 81 f. (Stand 2015).

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sentliche Funktion der Revisionsgerichte ist die Wahrung der Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung. Damit die Gerichte dieser Aufgabe gerecht werden können, bedarf es der Beschränkung des Zugangs zur Revisionsinstanz. Insofern sind unterschiedliche Regelungen möglich, die der jeweiligen Situation in den verschiedenen Gerichtsbarkeiten Rechnung tragen«. 133

Das BVerfG sieht eine »Beschränkung des Zugangs zur Revisionsinstanz« mithin im Interesse der Funktionalität des Revisionsrechts nicht nur als zulässig, sondern auch als notwendig an. In einer Entscheidung vom 11. 06. 1980 hat das Plenum des BVerfG zur Funktionalität von Rechtsmittelsystemen ausgeführt: »Das Grundanliegen, das mit der Einrichtung von gerichtlichen Rechtsbehelfssystemen im weitesten Sinne verfolgt zu werden pflegt, ist zum einen, eine tendenziell bessere Gewähr der Einzelfallgerechtigkeit, das heißt – gemessen am jeweils anzuwendenden Recht – der Richtigkeit gerichtlicher Entscheidungen zu erzielen, und zum anderen, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung, darunter auch der richterlichen Rechtsfortbildung, und dadurch die Einheit der Rechtsordnung institutionell zu sichern. Denn die Einheit der Rechtsordnung ist im Kern bedroht, wenn gleiches Recht ungleich gesprochen wird.« 134

Diese Argumentation verknüpft mit dem Rechtsbehelfssystem drei Funktionen: zum einen »eine tendenziell bessere Gewähr der Einzelfallgerechtigkeit«, zum anderen die Funktion, »die Einheit der Rechtsordnung institutionell zu sichern«, und unmittelbar damit verbunden eine institutionelle Absicherung dagegen, dass »gleiches Recht ungleich gesprochen wird«. Der Methodenskeptiker wird hierzu wahrscheinlich feststellen, dass das Rechtmittelrecht mithin offenbar das leisten soll, was die Methodik nicht leisten kann. Für eine Methodik der Praxis greift diese Schlussfolgerung aber augenscheinlich zu kurz. Es ist gerade diese Parallelität in den Funktionen von Rechtsmittelrecht und juristischer Methode, die die Notwendigkeit und Eigenständigkeit einer Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens begründet.

133 134

BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Mai 1990 – 1 BvR 467/90 –, juris Rn. 2. BVerfGE 54, 277 – juris Rn. 48.

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2.

Der Perspektivwechsel – von der Methodenlehre der Rechtswissenschaft zur Methodik der gerichtlichen Praxis

Wir haben in Kapitel 3 II. gesehen, dass ein wesentlicher Grund für diese Eigenständigkeit aus dem stets vorgegebenen Fallbezug folgt. Das wird noch zu vertiefen sein (Kap. 22 I. 2.). In diesem Kapitel gilt es, die institutionelle Einbindung als das weitere, ja entscheidende grundlegende Moment für die Konstituierung einer Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens zu analysieren. Es ist diese institutionelle Einbindung, die den Rahmen für den Denk- und Argumentationsraum schafft, in dem im gerichtlichen Verfahren Methode praktiziert wird. Gegenstand seiner Methodenlehre sei »die ›dogmatische‹ Rechtswissenschaft mit Einschluß der richterlichen Fallbeurteilung«, schrieb, wie schon zitiert, Larenz 1960 im Vorwort seines zum Standard gewordenen Lehrbuches. 135 Nun kann man Rechtswissenschaft und Rechtsprechung als zwei Seiten einer Medaille betrachten – als Teil des Rechtssystems und dieses wiederum als Teil des Gesellschaftssystems. Aber der Systembegriff ist ein perspektivischer Begriff 136. Es kommt auf den Ansatz an, unter dem man einen Gegenstand als System analysieren will. Wir haben Verfahrensweisen und Methoden zu analysieren und aus dieser Perspektive erweisen sich die Systemdifferenzen zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung in entscheidenden Punkten als sehr viel größer als ihre Gemeinsamkeiten. Zum Teil grundsätzlich divergierende Ziel- und Aufgabenstellungen, Instrumente und Funktionen führen hier zu sehr unterschiedlich arbeitenden und strukturierten Systemen mit entsprechend unterschiedlichen Systemrationalitäten. In der Terminologie der Sozialtheorie Bourdieus: Die rechtswissenschaftlichen Felder und die Felder der Rechtsprechung formen einen jeweils unterschiedlichen Habitus und verlangen unterschiedliche Habitusformen. Die »›dogmatische‹ Rechtswissenschaft« zielt auf wissenschaftlich-systematische Durchdringung des Rechtsstoffs, die begründete Lehrmeinung. Kriterien wie eine »ständige Rechtsprechung« oder die »Einheit der Rechtsprechung«, die für die richterliche Arbeitsweise zentrale Steuerungskriterien sind und sein müssen, sind für den Rechtswissenschaftler zwar von Interesse – insbesondere wenn er, 135 136

K. Larenz 1960, S. V. H. Lenk 1980, S. 615.

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etwa als Kommentarautor, in die Praxis wirken will –, aber es sind keine Kriterien wissenschaftlicher Leistung. Ein wissenschaftlicher Beitrag taugt nichts, wenn ein wichtiger Aufsatz eines wichtigen Kollegen übersehen wurde und ihm dazu noch jede Originalität fehlt. Das Votum eines Revisionsrichters taugt nichts, wenn er sich zwar ausführlich mit einem wichtigen Aufsatz auseinandergesetzt hat und auch zu einem originellen Ergebnis kommt, aber übersehen hat, dass der eigene oder ein anderer Senat, wenn auch in einer bisher nicht als sonderlich wichtig angesehenen Entscheidung, bereits eine völlig andere Rechtsauffassung vertreten hat. – Ein Beispiel, das nur demonstrieren soll, wie unterschiedlich die Regeln sind, nach denen die rechtswissenschaftliche und die auf die Rechtsprechung ausgerichtete Methodik Informationen auswählt, bewertet und verarbeitet. Geprägt sind diese Regeln durch die beschriebene institutionelle Einbindung der richterlichen Funktionen, nicht zuletzt durch die Aufgabe, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren, weil immer auch der Gleichheitssatz bedroht ist, »wenn gleiches Recht ungleich gesprochen wird«. 137 Will man den Unterschied auf einen Punkt bringen, hat die Rechtswissenschaft ihre Rechtsfragen aus einem (wie auch immer gearteten) System wissenschaftlicher Kategorien heraus zu beantworten, der Richter dagegen muss vornehmlich darauf achten, dass sich seine Antwort in die Rechtsprechung einfügt und insoweit kohärent ist – auch wenn es ihm nur gelingt, sie als »Einzelfall« ohne grundsätzliche Bedeutung einzuordnen. Und diese Kohärenz – ein zentraler Begriff dieser Methodenlehre, der im weiteren Gang der Überlegungen noch ausführlich zu erläutern sein wird – ist unmittelbar abhängig von der institutionellen Einbindung des Richters, von der Kohärenz in der Organisation der Justiz. Diese sicherzustellen, ist ein Grundanliegen neuzeitlicher Rechtsprechungssysteme. Beispielhaft und in aller Klarheit kommt dies in dem Bericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften zum Ausdruck. Expressis verbis wird in diesem Text der Vorschlag gemacht, »zur Wahrung der Kohärenz der Rechtsprechung« ein Kollegium zu schaffen, das »in regelmäßig und häufig stattfindenden Sitzungen über die Kohärenz der Urteilsentwürfe der einzelnen Spruchkörper des EuGH [wacht] und gegebenenfalls die Übertragung bestimmter Rechtssachen an das Plenum« be137

BVerfGE 54, 277 – juris Rn. 48.

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schließt. 138 In diesen Zusammenhang von institutioneller Einbindung, Methode und Kohärenz führt auch der Sprachgebrauch von dem »erkennenden Gericht«.

III. Das »erkennende Gericht« Das »erkennende Gericht« ist ein Terminus, den die Gesetzessprache in Prozessordnungen ganz selbstverständlich benutzt (vgl. etwa § 74 Abs. 1 GVG, § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 138 Nr. 1 VwGO, § 119 Nr. 1 FGO). »Die Parteien verhandeln über den Rechtsstreit vor dem erkennenden Gericht mündlich«, statuiert § 128 Abs. 1 ZPO. Die Prozessrechtslehre setzt den Terminus nur folgerichtig für die grundlegende Beschreibung des Prozessrechtsverhältnisses ein. Bezogen auf den Zivilprozess heißt es beispielsweise in dem Prozessrechtlehrbuch von Blomeyer: »Das Erkenntnisverfahren ist der Rechtsstreit zweier Parteien, des Klägers und des Beklagten, vor dem erkennenden Gericht. Sie sind die Subjekte des Verfahrens.« 139

Weitere Reflektionen zu dem Begriff des »erkennenden Gerichts« erfolgen in der Prozessrechtsliteratur so wenig wie zu dem Begriff des »Erkenntnisverfahrens«. 140 Aus prozessrechtlicher Sicht mag es auch sein Bewenden damit haben, wenn man mit dem »erkennenden Gericht« nur rein formal das Zurechnungs- und Zuordnungssubjekt für das Prozessrechtsverhältnis bezeichnen will. Anders verhält es sich jedoch, wenn man beiden in dem Zitat zur Beschreibung des Prozessrechtsverhältnisses genannten Begriffen auch eine substantielle Bedeutung beimisst. Wird in einer Methodenlehre des gerichtlichen Verfahrens das »Erkenntnisverfahren« – parallel zum Prozessrecht für das methodische Verfahren – als kognitiver Prozess verstanden, wäre es nur konsequent, dem »erkennenden Gericht« in diesem Prozess auch die Rolle eines »erkennenden Subjekts« zuzuweisen. Das ist

Zukunft des Gerichtssystems der EG, Abschlussbericht der Reflexionsgruppe, Sonderbeilage zu Heft 19/2000 der NJW, S. 13. 139 Blomeyer 1985, § 3, 1. 140 Eine wesentliche Ausnahme macht die Schrift von J. Rödig, 1973, dem es um die Untersuchung des Rechtsanwendungsprozesses »in seinen logischen Strukturen« geht. – Siehe auch Einl. III. 138

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näher darzulegen und es muss sich auch ausweisen, ob dieser Ansatz für die weitere Diskussion methodischer Fragen fruchtbar ist. Zunächst ist diese Formulierung erkenntnistheoretisch durchaus anstößig – geht es doch in der traditionellen Erkenntnistheorie, wie eingangs schon bemerkt, in der Regel nur um das »Ich« als Erkenntnissubjekt. Wenn wir von dem Gericht als dem Subjekt des Verfahrens sprechen, ist also bereits eine erkenntnisphilosophische Grundposition verschoben. Aus der Frage, wie erkennt das denkende »Ich«, werden Überlegungen zur Frage: Wie denken und erkennen Institutionen? 141 Anders wird man Antworten auf die Funktionsweise des gerichtlichen, also eines institutionellen Erkenntnisverfahrens, auch kaum gewinnen können.

1.

Institutionelles Denken als Befund

Der Ausgangspunkt für diesen Ansatz liegt in der täglichen Anschauung – in der richterlichen Alltagserfahrung eines kollegial funktionierenden Spruchkörpers (wobei nicht unter den Tisch fallen darf, dass Kammern und auch Senate oft so nicht funktionieren). Der Ansatz ist der Befund, dass in einem Spruchkörper der »Erkenntnisprozess« anders verläuft als bei drei oder fünf Richtern, die parallel und separat arbeiten. Um den Ausgangspunkt mit einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen: In einem obersten Bundesgericht gehen fünf Richter eines Senats mit zwei umfangreichen Voten, die in den Begründungen und im Ergebnis abweichen, um 9.30 Uhr in die Vorberatung. Wenn sie um 16.30 Uhr eine Entscheidungslinie gefunden haben und auseinandergehen, spricht vieles dafür, dass sich keiner der Richter schon zu Beginn die Lösung genauso vorgestellt hat. Zunächst ließe sich das als ein Beleg für die Bindungsfreiheit verbuchen, aber andererseits wird wahrscheinlich keiner der Richter in dem Bewusstsein votiert haben, frei und ungebunden – gleichsam nach eigenem Gusto – entschieden zu haben. Als empirischer Befund hat dieser Verweis auf ein eigenes Erfahrungsbild naturgemäß nur indizielle Bedeutung – er erlaubt jedoch einige allgemeine Feststellungen, die unsere Überlegungen weiterSo – ohne Fragezeichen – der Titel des Buches von M. Douglas 1991: »Wie Institutionen denken«.

141

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führen. Zunächst: das beschriebene Verfahren ist ein mehrstufiges Verfahren: Voten, Vorberatung, mündliche Verhandlung, Beratung, Begründung. Professionell gehandhabt, bedeutet dies einen »Erkenntnisprozess«, der auf jeder Stufe auch wieder methodisch gesteuert und kontrolliert wird, jedenfalls werden kann. Insbesondere die Zweiphasigkeit von Voten und Beratung führt dazu, dass sowohl die Vorteile intensiver individueller Durcharbeitung – mit vielleicht auch aus dem Rahmen fallenden Lösungsansätzen – als auch die Chancen einer offenen Diskussion genützt werden können. 142 Es handelt sich um ein vernetztes Denken. Wenn der Kollege A einen Ansatz vertritt, den die übrigen Senatsmitglieder keineswegs für überzeugend halten, kann eines seiner Argumente die Kollegin B aber durchaus auf einen Lösungsansatz bringen, der – evtl. präzisiert oder modifiziert – das Kollegium als Ergebnis überzeugt. Grundsätzlich bedeutet die Entscheidung durch einen Spruchkörper – so er als Team arbeitet –, dass das Urteil auf der Basis von mehr Informationen und Argumenten getroffen wird, als sie einem Einzelrichter zur Verfügung stehen können. Es fließen unterschiedliche Grundanschauungen und Vorverständnisse ein, die zugleich ausgeglichen werden können bzw. müssen. Die notwendige Abstimmung führt so dazu, die Wahrscheinlichkeit von Extremausschlägen, Entscheidungen also, die in der Begründung und im Ergebnis nicht oder kaum vertretbar sind, jedenfalls zu verringern. Die Folge ist nicht nur eine geringere Streubreite, sondern auch ein Ausrichten auf die bisherige Rechtsprechung des Senats – eine Fokussierung, die mindestens für die Spruchkörper der Revisionsgerichte geradezu konstituierend ist. Ein entscheidendes Argument für oder gegen eine vorgeschlagene Lösung ist immer, ob und inwieweit sie sich in die Rechtsprechung des Senats einfügt oder nicht einfügen lässt. Im Spiele ist mit anderen Worten immer die »Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung« und damit das Gebot, die Rechtsprechung kohärent zu halten. Beides ist schon angesprochen worden und wird noch weiterhin Thema sein.

Sozialpsychologische Untersuchungen bestätigen, dass eine solche zweiphasige Vorgehensweise – Ideen werden individuell und getrennt generiert, dann in der Gruppe aber gemeinsam bewertet – wesentliche Voraussetzung einer effektiven Gruppenleistung ist; vgl. Stroebe u. a. 2003, S. 522 f.

142

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2.

Zuordnungssubjekt – Subjekt des Erkenntnisverfahrens?

Natürlich denkt, argumentiert und formuliert auch im Senat jeweils ein »Ich«. Aber das, was als »Erkenntnis« das Ergebnis der gemeinsamen Bemühungen des Spruchkörpers ist, ist weder formal noch inhaltlich individuell seinen Mitgliedern zurechenbar. Dass es hier auch um substantiell-institutionelle Zuordnungen geht – und nicht um Einstellungen und Entscheidungen der beteiligten Richter –, zeigen die besprochenen Regelungen über die Zuständigkeit der Großen Senate bei abweichenden Rechtsauffassungen. Als »erkennender Senat« ist der Spruchkörper das Subjekt, das eine Rechtsauffassung hat und an ihr festhält oder sie aufgibt – völlig unabhängig von der konkreten Besetzung, den konkret mitwirkenden einzelnen Richtern. Die Zuordnung einer Rechtsauffassung zum Spruchkörper, der eine vorgefundene Rechtsprechung noch nicht aufgegeben hat, bleibt selbst bei einem Wechsel der Zuständigkeit erhalten (vgl. z. B. § 132 Abs. 2 S. 2 GVG). Man kann diese Regeln gleichwohl nur als rein rechtlich-technische Zuständigkeitsregeln ansehen. Eine konsequente Gegenposition müsste mit allen Implikationen die Frage klären, unter welchen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen es geboten ist, dem »erkennenden Gericht« die Rolle eines »erkennenden Subjekts« zuzuweisen. Auf einen solchen erkenntnistheoretischen Diskurs kann es uns hier nicht ankommen. Worauf es aber ankommt, sind Vorstellungen und Erklärungsmodelle dazu aufzuzeigen, welche Mechanismen den beschriebenen Phänomenen institutioneller Einbindungen zugrunde liegen und welche Konsequenzen daraus für die richterlichen Methoden und das Problem der Bindung an Recht und Gesetz zu ziehen sind.

IV. »Wie Institutionen denken« – Kohärenz und Bindung Zu den aufgezeigten Phänomenen der institutionellen Einbindungen, für die mit Blick auf unsere weiteren Überlegungen ein erklärender Zusammenhang gesucht werden muss, gehören insbesondere: • die »Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix«, die typischen Muster der Problembewältigung, die den Habitus ausmachen;

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das Gefüge von Anwendungsregeln und Handhabungsroutinen bei der Anwendung von methodischen Regeln; • die Unterschiede, die sich unverkennbar in den kognitiven Prozessen selbst und in der Streubreite der Ergebnisse zeigen, wenn Richter einerseits in einer individuellen Arbeitssituation und andererseits im und als Spruchkörper entscheiden. Zu klären ist, mit welchen Erklärungsmustern wir diese Phänomene noch genauer erfassen können. Unabweisbar scheint zunächst der Ausgangspunkt zu sein. Die Rolle, die das »erkennende Gericht« – als Spruchkörper, aber selbst auch als Einzelrichter – in dem »Erkenntnisverfahren« wahrzunehmen hat, ist mit einem Verweis auf das erkennende »Ich« als Subjekt eines autonomen und individuellen Erkenntnisprozesses nicht hinreichend erfassbar. Richterliches Wahrnehmen, Denken, Erkennen, Werten und Entscheiden vollzieht sich nicht in »Einsamkeit und Freiheit«. Es sind vielmehr Mechanismen sozialer Kognition, die wir zu analysieren haben, um juristische Interpretationen durch den Richter zu beschreiben, der ein Gesetz auszulegen und das Ergebnis in einer Entscheidung als Recht festzustellen hat. Und diese sind andere als die, die wirksam sind, wenn ein Leser z. B. einen Text von Hegel, Handke oder Hölderlin liest und auslegt. Es geht bei der »Gesetzesauslegung« eben nicht nur »vor allem um die Rolle des interpretierenden Subjekts im Prozess des Verstehens sprachlicher Äußerungen«, wie es Arthur Kaufmann formuliert hat, 143 und der Richter unterscheidet sich von dem Literaturwissenschaftler keineswegs nur dadurch, dass die Auslegung die im Gesetz festgelegten Zwecke zu verwirklichen hat, wie Rüthers meint. 144 Das gegenüber der Philologie Eigentümliche in der Auslegung der Gesetze beruht entgegen der Auffassung Savignys schließlich auch nicht entscheidend auf der Aufspaltung der Auslegung in seine vier Elemente 145, sondern darauf, dass dieses Auslegen als Teil der Rechtsermittlung in dem institutionellen Rahmen von Rechtsprechung stattfindet. •

143 144 145

A. Kaufmann 1982, S. 77; vgl. dazu auch Müller/Christensen 2004, Rn. 8 ff. B. Rüthers 2008, Rn. 160; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 160. Savigny 1840, Bd. 1, S. 213.

105 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

A · Methodik der gerichtlichen Praxis

1.

Erklärungsmuster

Eine Theorie der richterlichen Praxis wird mithin den Begrenzungen der Subjekt-Philosophie in cartesianischer Tradition entkommen müssen, ohne allerdings das »Ich«, hier den Richter, als handelndes und denkendes Subjekt, sogleich in einem systemtheoretischen Autopoiesis-Konzept vollends verschwinden zu lassen. 146 Wie oben (III.) einleitend schon vorgegeben, muss die Frage, wie das denkende »Ich« erkennt, durch Überlegungen zur Frage, wie das Ich in Institutionen denkt und erkennt, ergänzt werden. Der Mensch – in der klassischen Formulierung von Aristoteles ein zoon politikon – ist von Natur aus auf soziale Vernetzung hin angelegt. Schon das Baby könnte ohne seine wie selbstverständlich funktionierende Kommunikation über Gesten, Laute oder Körpersprache kaum überleben; bleibt diese Interaktion aus, oder ist sie unzureichend, nimmt das »Ich« zwangsläufig dauerhaft Schaden (Hospitalismus). – Zu weit ausgeholt? – Doch der Gedanke, dass unser Gehirn ein »soziales Organ« ist 147, ein Organ, das auf Vernetzung mit anderen hin, d. h. auf Sozialität und Kulturalität, geradezu programmiert ist, ist nicht völlig selbstverständlich. Zumeist stehen wir immer noch in einer Tradition, die auch heute noch unser Denken stets nur als subjektiv-individuelle Leistung des denkenden Ichs zu begreifen gewohnt ist – und folglich auch richterliches Denken nur als subjektiv-individuelle Leistung des »erkennenden Richters« verstehen kann. Überlegungen zum »Mechanismus sozialer Kognition« gehören deshalb nicht zu dem üblichen Themenbestand der Methodendiskussion. Sie sind aber notwendig, weil ohne diese Mechanismen das Funktionieren von Rechtsprechung nicht zu erklären ist.

Die Ansätze, die nach dem (manchmal aber wohl eher überschätzten) Zusammenhang von Richterbiographie und Entscheidungsfindung fragen (siehe hierzu Kap. 5 I. 2. u. etwa J. Schmid 1997a, S. 57 ff.), haben mithin ebenso ihre Funktion, wie es andererseits dem hier vertretenen Ansatz entspricht, nach den Unterschieden von Gericht zu Gericht zu fragen; vgl. W. Langer 1994. 147 W. Singer in der »Zeit« 2008 Nr. 15: »Ein soziales Organ«; vgl. auch Strauch 2005, S. 491 m. w. N. Eingehend T. Fuchs 2010, S. 183 ff., das Gehirn als Vermittlungsorgan für die Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt. 146

106 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

6 · Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode

a)

Soziologische Ansätze

Für die Erklärung des Phänomens der »Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix« im »Habitus« haben wir Ansätze der Soziologie bereits nutzen können. Aber damit ist die Frage nicht beantwortet, wie sich das Zusammenspiel von Einzelnen in einer Institution zur Entscheidung und »Erkenntnis« der Institution organisiert. Wir betreten damit das Feld der Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftstheorie und einer der Begründer der soziologischen Betrachtungsweise von Erkenntnisvorgängen, L. Fleck, hat hierzu bereits 1936 den entscheidenden Einstieg vorgegeben: Zur »soziale[n] Bedingtheit jedes Erkennens« schrieb er: »Vergleichende Erkenntnistheorie darf Erkennen nicht als zweigliedrige Beziehung des Subjektes und des Objektes, des Erkennenden und des ZuErkennenden betrachten. Der jeweilige Wissensbestand muß als grundsätzlicher Faktor jeder neuen Erkenntnis das dritte Beziehungsglied sein. Sonst bliebe unverständlich wie es zum abgeschlossenen, stilvollen Meinungssystem kommt und warum man Entwicklungsanlagen eines Wissens in der Vergangenheit findet, die zu ihrer Zeit durch keine ›sachlichen‹ Gründe legitimiert waren (Präideen). Historische und stilgemäße Zusammenhänge innerhalb des Wissens beweisen eine Wechselwirkung zwischen Erkanntem und dem Erkennen: bereits Erkanntes beeinflußt die Art und Weise neuen Erkennens, das Erkennen erweitert, erneuert, gibt frischen Sinn dem Erkannten. Deshalb ist das Erkennen kein individueller Prozeß eines theoretischen ›Bewußtseins überhaupt‹ ; es ist Ergebnis sozialer Tätigkeit, da der jeweilige Erkenntnisbestand die einem Individuum gezogenen Grenzen überschreitet. […] Der Satz ›jemand erkennt etwas‹ verlangt analog einen Zusatz z. B.: ›auf Grund des bestimmten Erkenntnisbestandes‹ oder besser ›als Mitglied eines bestimmten Kulturmilieus‹ oder am besten ›in einem bestimmten Denkstil, in einem bestimmten Denkkollektiv‹. Definieren wir ›Denkkollektiv‹ als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, so besitzen wir in ihm den Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles. Hiermit gibt das Denkkollektiv das fehlende Glied der gesuchten Beziehung.« 148

Gestützt auf diese Ansätze Flecks und eine Auseinandersetzung mit Émile Durkheims Lehre von den »kollektiven Vorstellungen«, hat M. Douglas in ihrem Buch »Wie Institutionen denken« Mechanis148

L. Fleck 1980, S. 53 ff.

107 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

A · Methodik der gerichtlichen Praxis

men der Steuerung von Gedächtnis und Wahrnehmungen, des Klassifizierens, des Unterscheidens von gleich und ungleich und auch des Entscheidens in Institutionen (im weitesten Sinn) analysiert. Auch wenn Institutionen »keinen eigenen Verstand haben« können, 149 so »steuern« sie dennoch »unmittelbar das individuelle Gedächtnis und lenken unsere Wahrnehmung in Bahnen, die mit den von ihnen autorisierten Beziehungen verträglich sind«. 150 Wie sie etwa auch bestimmen, was als gleich gelten kann, und das Klassifizieren besorgen. 151 M. Douglas beschreibt diese Phänomene als »Kohärenz« 152 – etwa wenn Theorien sich aufgrund ihrer Kohärenz mit anderen Theorien durchsetzen 153 oder Rechts- und Moralsysteme auch in Notfällen, z. B. bei Hungersnöten, dank ihrer Kohärenz ihre Struktur beibehalten. 154 b)

Sozialpsychologische Ansätze – Gruppenkohärenz

Neben die wissenssoziologische Perspektive treten die sozialpsychologischen Ansätze. Wesentlich für das Verstehen sozialer Kognition ist hier zunächst die Rolle, die das Phänomen der intersubjektiven Bestätigung in diesem Prozess spielt; und es liegt nahe, dass für deren Mechanismus die bereits angesprochenen Interaktionsmuster der frühen Kindheit »fortgeschrieben« werden. Worum geht es? Wenn wir unsere verschiedenen, sich vielleicht sogar widersprechenden Sinneseindrücke mit unseren Erfahrungen, genauer mit unseren Gedächtnisinhalten, zu einer »Wirklichkeit« koordinieren, tun wir dies in aller Regel in sozialer Vernetzung, aus der wir Erklärungsmodelle, Weltbilder, Anschauungen etc. beziehen. Eine entscheidende Funktion in unserem »Überzeugungssystem« kommt als kaum zu überschätzendes »Wirklichkeitskriterium« der »intersubjektiven Bestätigung« zu. 155 Sind wir über etwas Gesehenes oder Gehörtes – ja sogar Gefühltes – unsicher, holen wir uns von anderen Bestätigung – und sind uns oft erst dann wirklich sicher. Argumentationsmuster wie: M. Douglas 1991, S. 26 ff. Douglas 1991, S. 151. 151 Douglas 1991, S. 93 ff. und 149 ff. 152 Douglas 1991, S. 147. 153 Douglas 1991, S. 126. 154 Douglas 1991, zu Gerechtigkeit und Kohärenz, S. 192 ff. 155 G. Roth 1996, S. 321 ff. Ein anderer, weiterer Terminus ist »soziale Unterstützung (social support)«, vgl. dazu Stroebe u. a. 2003, S. 614 ff. 149 150

108 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

6 · Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode

»Das sehen alle anderen auch so«, haben in der intersubjektiven Bestätigung ebenso ihren Wirksamkeitsgrund wie der Hinweis auf die »h. M.« und das Zitieren von Autoritäten (d. h. Leuten, auf deren Kompetenz Autor und Leser, Redner und Zuhörer gemeinsam vertrauen). Etymologische Belege machen den Zusammenhang gleichfalls deutlich: So bedeutet Konsens (von lat. con-sensus) im ursprünglichen Wortsinn nichts anderes als die »gemeinsame Empfindung«, die »gemeinsame Wahrnehmung«. 156 »Gruppen tendieren dazu«, heißt es bei G. Roth, »nicht nur einheitliche Ideologien zu entwickeln, sondern auch einheitliche Wahrnehmungen. Wir sehen im allgemeinen die Welt so, wie wir gelernt haben, wie sie sein soll«. 157 Intersubjektive Bestätigung und Konsens sind – sozial gesehen – Phänomene der Gruppenkohärenz. 158 Je größer der Zusammenhalt der Gruppe, eben die Gruppenkohärenz, desto ausgeprägter ist die Tendenz, einheitliche Ideologien und Wahrnehmungsmuster zu entwickeln. Es geht um Befunde, die schon lange zum festen Bestandteil der Sozialpsychologie gehören. 159 W. Herkner hat sie in seinem Lehrbuch so zusammengefasst: »In jeder Gruppe besteht« – als Bedingung für das Funktionieren von Gruppenaktivitäten und für das Weiterbestehen der Gruppe – »ein gewisses Ausmaß an Konformität, d. h. die Verhaltensweisen, Einstellungen und Meinungen der Mitglieder stimmen weitgehend oder teilweise überein.« 160 Die Einfügungsund Anpassungsmechanismen, die hier wirken, sind durch zahlreiche Untersuchungen belegt; z. B. durch Experimente, die zeigen, wie schnell wir uns oft dem (falschen) Urteil der Mehrheit beugen oder besser: anschließen, obwohl unsere eigene Wahrnehmung »an sich«

Entsprechend auch die Wortbildungen Gemein-Sinn, common sense. Nicht zuletzt erhellt die Etymologie der »Wahrheit« diesen intersubjektiven Zusammenhang. Das deutsche Wort »wahr« wie das lat. »verus« stammt aus der indogermanischen Wortwurzel »ver«: Gunst, Freundlichkeit erweisen, mit der Grundbedeutung »vertrauenswert«. Das mhd. »ware« bedeutet der Vertrag, die Treue, wie das englische »true« (dt. treu) aus derselben etymologischen Wurzel stammt wie »trust«. Hier liegt die indogermanische Wurzel bei »deru« für »tree« (Baum) in der Bedeutung von Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit, vgl. hierzu J. R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, Frankfurt 1995/97, S. 217. 157 G. Roth 1996, S. 324. 158 Vgl. dazu M. Sader 2002. Zur Illustration lese man etwa Das Dienstbüchlein von Max Frisch. 159 M. Sader 2002, S. 88 ff. 160 W. Herkner 1991, S. 453. 156

109 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

A · Methodik der gerichtlichen Praxis

richtig ist. 161 – Einsichtig werden aus der Perspektive »Gruppenkohärenz« so auch typische Topoi der juristischen Argumentation. Der den Juristen völlig selbstverständliche Verweis auf die »h. M.« und Bewertungskriterien wie »vertretbar« setzen stillschweigend ein System von Wertungs- und Autoritätskriterien darüber voraus, welche Meinungen in eine »h. M.« einzurechnen sind und welche nicht. Sie sind auch ohne einen Konsens darüber nicht denkbar, innerhalb welcher Bandbreite eine Meinung noch akzeptiert werden kann. Die Kriterien sind aber auch hier umso verbindlicher, je ausgeprägter die institutionelle Einbindung und damit die »Gruppenkonformität« ist. In der Interpretationstheorie spricht man im Hinblick auf solche gemeinsamen Bewertungskriterien von »Interpretationsgemeinschaft«. 162 Ein Konsens über gemeinsame Einschätzungs- und Wertungskriterien, der zugleich über eine hinreichende Stabilität verfügt, bildet sich nicht auf dem offenen Markt des freien Diskurses. Er setzt eine Interpretationsgemeinschaft voraus, und das Maß an Kohärenz, das sie schafft, ist abhängig von der Dichte der Organisationsstruktur und der Stärke der Einbindung in die Gruppe oder die Institution. Justiz und Wissenschaft sind so – bei allen Überschneidungen – unterschiedliche Interpretationsgemeinschaften. Eine »ständige Rechtsprechung« hat deshalb – um ein Beispiel zu nennen – als Argument in der Rechtswissenschaft einen anderen Stellenwert als im gerichtlichen Verfahren. Wenn es um die Übertragbarkeit der Phänomene der Gruppenkohärenz auf den Rechtsprechungsprozess geht, ist sie für den Spruchkörper fast evident. Soweit ersichtlich, fehlen zwar entsprechende empirische sozialpsychologische Untersuchungen – Kammern und Senate sind jedoch gleichsam klassische Kleingruppen im beschriebenen Sinne. 163 Schon die Sprache – »Spruch-Körper« – belegt hier die Eigenständigkeit. – Viele der beschriebenen BeobachtunBerühmt geworden sind hier die Experimente zur Konformität, die Salomon Asch in den frühen 50er Jahren durchführte; siehe die Darstellung von Eddie von Avermaet, Sozialer Einfluss in Kleingruppen. In: W. Stroebe u. a. 2003, S. 459 ff. – Im Negativen entsteht anderenfalls das, was der Anthropologe R. Bilz »DisgregationsAngst« genannt hat, die Angst, die Herde (= grex) zu verlieren, Paläoanthropologie Bd. I/2, S. 29 ff. 162 H. Lenk 1995, S. 122 f.; zur Konzeption der Interpretationsgemeinschaft bei S. Fish ausführlich K. I. Lee 2010, S. 309 ff. 163 Sie unterliegen als »Kleingruppe« ganz unmittelbar Phänomenen, die als Gruppenkonformität untersucht sind; vgl. etwa W. Herkner 1991, S. 453 ff. 161

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6 · Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode

gen treten jedoch in kleineren, (auch wissenschaftlich) überschaubaren Gruppen nur deutlicher hervor. Ihre Bedeutung für das Verstehen sozialer Kognition macht aber vor umfassenderen Organisationsformen nicht halt. Aus dem dargelegten Zusammenhang wird zunächst vor allem deutlich, dass und warum Auslegung und Rechtsfindung im Rechtsprechungsprozess nicht vom individuellen Richter als einem autonomen Subjekt her, sondern nur institutionell verstanden werden können. Informationen und Verarbeitungsregeln, Denkstile und Prämissen, die in gerichtliche Entscheidungen eingehen sollen, müssen institutionell »netzwerkfähig« sein, das heißt, in einem durch die Interpretationsgemeinschaft vorgegebenen Denkraum einen Platz und Relevanz haben, um kommunizierbar zu sein und Aussicht zu haben, akzeptiert zu werden.

2.

Kohärenz

»Kohärenz« meint in den theoretischen Aussagen von M. Douglas das Einfügen von Theorien, Wertungen und Anschauungen in den Wertungskontext des Organisationszusammenhanges, weil sie in der jeweiligen Institution von den Mitgliedern, die sie ausmachen, als zusammengehörig, in sich stimmig, gesehen und erlebt werden. 164 Der Begriff hat so eine erkenntnistheoretische Seite. Es geht um den gedanklichen Zusammenhang verträglicher Sätze. Kohärenztheoretische Überlegungen werden deshalb in den folgenden Teilen im Mittelpunkt der erkenntnistheoretischen Analyse der zentralen Fragen stehen: Wie erkennt der Richter den »Sachverhalt« und wie erkennt der Richter »das Recht«? Der Sachverhalt ist ein Konstrukt, das den Kriterien der Kohärenz genügen muss. Und ob eine Rechtsauffassung oder eine Entscheidung akzeptiert werden kann, hängt, wie zu zeigen sein wird, wesentlich davon ab, dass sie sich in Recht und Gesetz, in das Gefüge der Rechtsprechung einfügt, d. h. wiederum: kohärent ist. Das schließt unmittelbar die institutionelle organisatorische Seite ein. Zur »Wahrung der Kohärenz der Rechtsprechung« 165 bedarf es in

Um es nochmals erläuternd aus der Sicht des Ansatzes von Bourdieu zu formulieren: Das »Feld« prägt die »Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix« seiner Akteure. 165 Siehe oben II. 2. – Zukunft des Gerichtssystems der EG, Abschlussbericht der Reflexionsgruppe, Sonderbeilage zu Heft 19/2000 der NJW, S. 13. 164

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A · Methodik der gerichtlichen Praxis

der Justiz auch Organisationsformen, welche die dafür notwendigen Bedingungen und Voraussetzungen schaffen, um eine entsprechend kohärente Rechtsanwendung zu strukturieren. Die beiden eben beschriebenen Ansätze müssen also zusammen gesehen werden. Die entscheidende Bedeutung als zentraler Begriff dieser Methodenlehre bekommt der Kohärenzgedanke aber erst, wenn er noch um einen weiteren, wesentlichen Ansatz ergänzt wird – den der Kohärenz als philosophisch-theoretisches Wahrheitskriterium. Wir haben es dann aber mit einem theoretisch durchaus komplexen Gesamtzusammenhang zu tun, der es auch erfordert, im Gesamtzusammenhang dargestellt und diskutiert zu werden. Dies soll im folgenden Teil B geschehen, um dann für die in den folgenden Teilen zu erörternden Prozesse richterlicher Kognition das notwendige theoretische Beurteilungsinstrumentarium zu haben. Zunächst sind jedoch die wichtigsten Ergebnisse dieses Teils A zusammenzufassen.

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Kapitel 7 Schlussfolgerungen für die Methodik des gerichtlichen Verfahrens

I.

Schlussfolgerungen für den Methodenbegriff

Am Beginn unserer Überlegungen stand die Frage: Was ist das eigentlich, Methode? Sie führte sehr schnell zu dem Ergebnis, dass sich die Methodenlehre nicht nur auf Auslegung, Subsumtion und deren theoretische Reflexion beschränken darf, sondern dass sich diese Frage nur beantworten lässt, wenn die Methodenlehre diese verengte Perspektive aufgibt und auch die Mechanismen thematisiert, die die Handhabung dieser Regeln letztlich steuern. Wie sich gezeigt hat, sind wesentliche Themen hierzu: • Habitus und Routinen, • die Mustererkennung, • der Zusammenhang von Methode und Gerichtsorganisation, • richterliche Ethik und das Selbstbewusstsein der Justiz. Die Regeln, die Gegenstand des Lernfaches »Methode« sind, sind mithin sozusagen nur die Spitze des »methodischen Eisberges«. Wesentlich sind die genannten Prozesse, die im Hintergrund der Anwendung und Handhabung dieser Regeln ablaufen. Diese Prozesse und Mechanismen sollte eine Methodenlehre nicht nur als gegeben voraussetzen. Sie muss sie zum Gegenstand machen. Das schließt nicht nur die Aufgabe ein, diese Vorgänge als Befunde festzustellen und zu beschreiben, sondern auch die Notwendigkeit des Versuches, diese Mechanismen theoretisch zu erfassen. Erst die theoretische Erfassung gibt die Möglichkeit, die Handhabung von Regeln auch zu reflektieren. Neben der Beherrschung methodischer Regeln ist die Reflexion der Handhabung dieser Regeln das weitere Ziel, das einer Methodenlehre gesteckt ist. Und wenn wir es unternehmen, den Rechtsanwendungsprozess insgesamt in den Blick zu nehmen, tritt auch eine dritte Ebene als bestimmend hervor: die der Gerichtsorganisation. Diese markiert ganz deutlich die Grenzen eines individuellen Methodenverständnisses, 113 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

A · Methodik der gerichtlichen Praxis

das sich wesentlich nur auf den »Richter« als das Subjekt des Erkenntnisverfahrens konzentriert. Eine Methodenlehre der gerichtlichen Praxis muss, wenn sie als Methode auf die Praxis Einfluss nehmen will, vor allem auch diese institutionelle Einbindung als Methodenproblem thematisieren und diskutieren.

II.

Erste Thesen zu den Rahmenbedingungen des methodischen Arbeitens

Dieser Sicht auf den Methodenbegriff entspricht es, an den Anfang unseres Diskurses nicht die methodischen Regeln und deren Inhalte und Grundlagen zu stellen, sondern den Blick auf die im Hintergrund laufenden Anwendungsroutinen zu richten. Je intensiver dies geschieht, desto deutlicher tritt dann im Verlauf der Untersuchung die prägende Kraft zutage, die die institutionelle Einbindung auf diese Mechanismen ausübt oder ausüben kann. – Konkret lassen sich die Ergebnisse der Überlegungen zum Zusammenhang Richter – Justizorganisation – Methode in folgenden ersten Thesen zusammenfassen: 1. Nach gängigen Vorstellungen der Hermeneutik ist der einzelne Richter als Interpret von Tatsachen und Texten – also von Lebenssachverhalten und Gesetzen – zwar abhängig von der Überlieferungstradition und den Vor-Urteilen seines je eigenen Vorverständnisses, in der Rolle des interpretierenden und entscheidenden Subjekts aber autonom. Diese Sicht übersieht die Bedeutung der institutionellen Einbindung der Richter. Diese institutionelle Einbindung führt dazu, dass die je eigenen Vorverständnisse des Richters durch die Vorverständnisse – genauer: die Denkstile, Wahrnehmungsperspektiven, Relevanzkriterien, Wertungen etc. – der jeweiligen Gerichtsbarkeit und der jeweiligen Organisationsform des »erkennenden Gerichts« überlagert, modifiziert und auch verdrängt werden. 2. Diese Modifikationen und Überlagerungen sind in Spruchkörpern ausgeprägter als bei Einzelrichtern, bei Einzelrichtern abhängig von der Kontrolldichte durch Rechtsmittel, bei Spruchkörpern abhängig davon, ob sie (noch) als Kollegium funktionieren oder nur als Gruppe von Einzelrichtern mit gemeinsamer Geschäftsstelle. – Parallel dazu besteht eine Abhängigkeit von den Sachgesetzlichkeiten der einzel114 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

7 · Schlussfolgerungen für die Methodik des gerichtlichen Verfahrens

nen Rechtsgebiete und dort insbesondere von der Organisationsstruktur auf Kläger- oder Beklagtenseite. Die Parteien in Mietstreitigkeiten werden und können divergierende Urteile eher hinnehmen als etwa die Finanzverwaltung abweichende Entscheidungen in Steuersachen. 3. Weil das »erkennende Gericht« unabhängig ist – Einheitlichkeit also nicht durch Anweisung hergestellt werden kann –, kommt den justiztypischen Einbindungen eine besondere Bedeutung zu. Sie schaffen zwar in der Regel keine direkten, 166 wohl aber durchaus wirksame »induktive« Koppelungen. Man orientiert sich etwa an der Rechtsprechung des »Obergerichts«. Es wirkt »die Schere im Kopf«. Die Gerichtsbarkeit kann so als ein Geflecht von »Interpretationsgemeinschaften« 167 beschrieben werden, wie sie auch insgesamt selbst eine solche darstellt. Es ist dieser institutionelle Zusammenhang, in dem entschieden wird, welche Vorverständnisse akzeptabel sind und welche nicht, was »richtig«, »vertretbar« oder »relevant« ist. Unter diesem Blickwinkel bekommt auch die Diskussion um »Topik und Jurisprudenz« eine besondere Perspektive. Denn ob Topoi, mit denen juristische Probleme angegangen werden, als geeignet angesehen werden, zur Lösung von Problemen beizutragen, ist wiederum davon abhängig, welche Topoi von der Gerichtsbarkeit akzeptiert werden, bildlich gesprochen: welche von ihnen »netzwerkfähig« sind. 4. Versteht man »Erkenntnis« im Kern allein als logische Deduktion, können wir die Prozesse, die im Hintergrund der richterlichen Methodenanwendung mitlaufen und die Handhabungsroutinen entscheidend bestimmen, nicht als Fragen des »Denkens« und »Erkennens« analysieren. – Jedenfalls wären sie einem rationalen Methodendiskurs nicht zugänglich. Der zentrale theoretische Ansatz, um diese Prozesse als integralen Teil der methodischen Rechtsanwendung einzuordnen und sie so auch beschreibbar und diskutierbar zu machen, liegt deshalb, wie in den Kapiteln 4, 5 und 6 dargelegt, in einem erweiterten Erkenntnisbegriff, »Erkenntnis« verstanden als »Kogni-

Wie z. B. bei der Zurückverweisung durch das Rechtsmittelgericht. Siehe zu diesem Begriff H. Lenk 1995, S. 122; K. I. Lee 2010, S. 309 ff., 399 ff. Näher Kap. 6 IV. 1. u. 8.

166 167

115 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

A · Methodik der gerichtlichen Praxis

tion« in dem Sinn, in dem der Begriff in den Kognitionswissenschaften verwendet wird. 168 Nur in dieser Bedeutung kann das »gerichtliche Erkenntnisverfahren« zu einem Schlüsselbegriff für eine Methodenlehre der gerichtlichen Praxis werden und nur von diesem Verständnis aus ist es gerechtfertigt, nach den theoretischen und praktischen Konsequenzen zu fragen, die sich aus diesem Begriff ergeben.

III. Die Perspektive des »erkennenden Richters« Die bestimmende Perspektive für die vorstehenden Kapitel war es, den Rechtsprechungsprozess als Gefüge von Regeln, Verhaltensweisen und Randbedingungen möglichst in seiner Gesamtheit zum Gegenstand der Beobachtung, Beschreibung und Analyse zu machen. Je stärker sich die weiteren Untersuchungen auf die konkrete richterliche Arbeit – Sachverhaltsfeststellungen und Rechtermittlung – konzentrieren werden, desto notwendiger wird es allerdings, diese umfassende Perspektive einzuschränken. Zwischen zwei unterschiedlichen Beobachtungspositionen ist zu differenzieren: Einmal der der umfassenden Perspektive des erweiterten Methodenbegriffs, der prinzipiell alle Regeln der Rechtsanwendung und der individuellen und institutionellen Bedingungen, Voraussetzungen und Formen ihrer Handhabung erfassen will, und zum anderen der Perspektive des »erkennenden Richters«. Elemente der Strukturbildung wie Art und Intensität von Ausund Fortbildung, die Formen der Einarbeitung in die richterliche Praxis, Sozialisation als Einzelrichter oder im Spruchkörper, Pensenschlüssel, faktische und deklarierte Anforderungsprofile, Arbeit im Team oder als »Einzelkämpfer« etc. darf eine Methodenlehre der gerichtliche Praxis nicht ausblenden, weil ihnen für den Rechtsfindungsprozess eine entscheidende Bedeutung zukommt. – Wobei jedoch wissenschaftlich vorsichtiger zu formulieren wäre: zukommen dürfte; denn empirische Untersuchungen über diese Zusammenhänge fehlen weitgehend. 169 Wir können in diesem Text nur darauf hinZu den Einschränkungen, die zu machen sind, siehe Kap. 5 II. 3. So konnte man begründet den Eindruck haben, manche Justizreformen der letzten Jahrzehnte folgten vornehmlich betriebswirtschaftlichen Rationalisierungsvorstellungen, z. B. dass drei Richter als Einzelrichter das dreifache Pensum einer Kammer

168 169

116 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

7 · Schlussfolgerungen für die Methodik des gerichtlichen Verfahrens

weisen, dass es sich um Desiderate der Rechtstatsachenforschung handelt. Und um einen Gegenstand notweniger justizpolitischer Diskussion. Der einzelne Richter sollte über sein Eingebundensein in diese Zusammenhänge reflektieren und sich über deren justizpolitische Dimension im Klaren sein. – Aber für seine Praxis sind ihm die Steuerungen durch institutionelle Einbindungen weitgehend vorgegeben. Auch der Leser sollte sie im weiteren Verlauf unserer Überlegungen immer im Bewusstsein behalten. Thematisch werden sie jedoch in den Hintergrund treten. Wenn wir uns im nächsten Teil mit der Frage auseinanderzusetzen haben, was es für das Verständnis von Methode bedeutet, wenn wir von dem »gerichtlichen Erkenntnisverfahren« sprechen, dann werden wir das im Wesentlichen aus der Perspektive des »erkennenden Richters« tun. – Die Notwendigkeit, Methode als Beachtung und Herstellung von Kohärenz zu verstehen, wird unsere Überlegungen allerdings auch hier immer wieder auf das Recht- und Rechtsprechungssystem selbst zurückführen, als dessen Organ der Richter urteilt.

leisteten und deshalb auch rechtsstaatlich gesehen effizienter seien. Untersuchungen über Qualitäts- und Akzeptanzverluste sind unbekannt geblieben.

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Teil B Kohärenz und juristische Methode

Einer Methodenlehre, für die Methode mehr ist als eine Lehre der herkömmlichen Subsumtions- und Auslegungsregeln, muss es darauf ankommen, das »gerichtliche Erkenntnisverfahren« jedenfalls in allen wesentlichen kognitiven Prozessen der Urteilsfindung zu erfassen, die in ihrer Struktur verallgemeinerungsfähig sind. Sie kann diese Aufgabe nicht erfüllen, wenn sie zugleich an den bisherigen theoretischen Instrumenten festhält. Bevor wir uns – hier zunächst der herkömmlichen Unterscheidung folgend – in den anschließenden Teilen C, D und E mit den Fragen auseinandersetzen, wie »erkennt« und konstruiert der Richter den Sachverhalt, wie »erkennt« er das Recht und wie »findet« er schließlich das Urteil, müssen wir uns also der Frage nach den theoretischen Perspektiven stellen, die uns den Blick für die Beschreibung und Analyse der Mechanismen freigeben, die die »Sachverhalts- und Rechtserkenntnis« entscheidend bestimmen. Wie schon in der Einleitung betont, kann auf diese Fragen jedoch nicht allgemein und mit einem umfassenden theoretischen Ansatz geantwortet werden. Nötig ist eine Differenzierung: 1. Bei den »Prozessen richterlicher Kognition«, die zu analysieren sind, haben wir es mit einer letztlich unübersehbaren Vielzahl von Vorgängen zu tun, die im Laufe des gerichtlichen »Erkenntnisverfahrens« Einfluss auf die zu treffenden Entscheidungen haben oder haben können. Schon ein erster Blick auf die unterschiedlichen Themen, die im Folgenden zu erörtern sein werden – Glaubwürdigkeit von Zeugen, Indizienbeweis, Auslegung und »Wortlautgrenze«, »Gesamtwürdigung«, subjektive Auslegungstheorie, Judiz, Einheit der Rechtsordnung etc. –, stellt klar, dass es ganz unterschiedlicher Ansätze bedarf, um diese Erkenntnisprozesse adäquat zu erfassen. Neben erkenntnistheoretischen, sprachphilosophischen und systemtheoretischen Modellen sind es oft die Kognitionswissenschaften, die die notwendigen Ansätze zur Beschreibung und zum Verstehen bieten. 119 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

B · Kohärenz und juristische Methode

2. Juristische Methodik ist nicht nur Subsumtion und Auslegung; sie ist auch mehr als nur ein Bündel unterschiedlicher kognitiver Prozesse. Eine Erkenntnistheorie etwa muss erklären können, wie wir aus einem Fließgeschehen von Sinneseindrücken und Gedächtnisspuren zu einer konkreten Erkenntnis kommen, z. B. ein Zeuge zu der Aussage: »Es war ein roter Ball«. Nicht anders muss eine Methodenlehre erklären können, wie die einzelnen Erkenntnisprozesse zu einem stimmigen Sachverhalt, zu stimmigen Gründen und diese insgesamt zu einer stimmigen Entscheidung – und d. h. einer »richtigen Entscheidung« 1 – zusammengeführt werden. Voraussetzung ist dann aber ein theoretischer Ansatz, über den diese Prozesse auch stimmig zusammengeführt werden können. Dieser kohärenztheoretische Ansatz soll in seinen Grundzügen im Folgenden – gleichsam als ein allgemeiner Teil – dargestellt werden.

Der Gedanke der »richtigen Entscheidung« ist als »regulative Idee« und unverzichtbares Konstitutionsprinzip einer Methodik bereits in der Einleitung angesprochen worden; ausführlich wird er im Schlusskapitel thematisiert werden.

1

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Kapitel 8 Kohärenz und Akzeptanz

Der Ausrichtung der Methodik auf die Stimmigkeit von Tatbestand und Gründen kann nur widersprechen, wer nachzuweisen vermag, dass man sich nicht mit einer stimmigen Entscheidung begnügen darf, weil es um eine objektiv richtige Entscheidung gehen muss. Dieser Einwand kann freilich auf sich beruhen, da man für ihn heute keine empirisch oder theoretisch belastbare Grundlage mehr wird angeben können. 2 Doch auch mit der These, dass ein Urteil stimmig sein muss, um »richtig« zu sein, ist für die Methodik erst etwas gewonnen, wenn es gelingt, die »Stimmigkeit« dergestalt als Begriff eines theoretischen Konzeptes zu bestimmen, dass sich aus diesem Theoriezusammenhang auch die methodisch notwendigen Kriterien und Regeln entwickeln lassen: Kriterien, um beurteilen zu können, unter welchen Voraussetzungen ein Urteil »stimmig« ist, und – aus der Perspektive des methodischen Vorgehens – Regeln, die bei der Herstellung einer Entscheidung zu beachten sind. »Stimmigkeit« beschreibt zunächst nur eine Einschätzung, ein Gefühl, den Eindruck, dass etwas so, wie es ist, eigentlich gelungen, »rund« ist – und jedenfalls keinen unmittelbaren Anlass für Bedenken gibt, dass etwas in diesem oder jenem Punkt nicht stimmt oder nicht überzeugend sei. Gemeint ist dann kein analytisches, sondern ein eher ästhetisches Urteil. Soll es ein methodisches Urteil sein, muss es weitere Bedingungen erfüllen: Die »Urteile müssen sich samt der Überzeugung, die sie begleitet, allgemein mitteilen lassen«; 3 sie müssen sich analysieren und letztlich auch auf Regeln zurückführen lassen, aus denen sie gewonnen wurden. Der mithin entscheidende

Nur weil es eine solche Grundlage nicht gibt, war es notwendig, im Teil A einen erweiterten Methodenbegriff zu entwickeln, und wird es in den folgenden Teilen erforderlich sein, sich differenziert mit den Tatsachenfeststellungen und den Bausteinen und Determinanten der Rechtsfindung auseinanderzusetzen. 3 So Kant in Bezug auf Geschmacksurteile – KrU § 21. 2

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Schritt zu einer theoretischen Konzeption ist aber im Begriff der »Stimmigkeit« schon vorgeben und bereits getan, wenn »Stimmigkeit« als Kriterium für Kohärenz verstanden wird. In diesem Kapitel wird deshalb die »Theorie der Kohärenz« das zentrale Thema sein. Mir geht es dabei zum einen um die Einsicht, dass wir juristisches Systemdenken heute nur noch als Denken in Kohärenzen begreifen und fassen können – Kohärenz in dem spezifischen Sinn verstanden, in dem ich den Begriff entwickelt habe, um die Bindung des Richters an Gesetz und Recht als nicht nur kontrafaktisches Postulat beschreiben zu können. 4 Der kohärenztheoretische Ansatz ist zum anderen die theoretische Grundlage für ein neues Methodenverständnis – Methode nicht mehr primär als Anwendung bestimmter Regeln, sondern als »Herstellung von Kohärenz«. Darzustellen sind die Vorraussetzungen, Implikationen und Grundannahmen dieses Kohärenzbegriffes – wobei es in diesem Teil B nur um die Grundlagen gehen kann. Zu vertiefen und zu konkretisieren sind sie nur in der Analyse der unterschiedlichen Erkenntnisprozesse, die der Richter bis zum Urteil methodisch durchlaufen muss. »Kohärenz« ist ein Begriff, der in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen und theoretischen Zusammenhängen verwandt wird; am Beginn muss deshalb eine erste Begriffsklärung stehen (I.). Einer ersten Übersicht dienen auch die drei Thesen zur besonderen Funktion der Kohärenz in der juristischen Methodik (II.). Die eingehende Auseinandersetzung mit den philosophischen und theoretischen Grundlagen und Konsequenzen folgt dann in den Abschnitten III. bis VII. Ein wesentliches Ergebnis ist die Notwendigkeit, sich auf »anerkannte Sätze« zu stützen. Für die kohärenztheoretische Konzeption dieser Methodenlehre kommt deshalb den im VIII. Abschnitt näher zu untersuchenden Phänomenen der »Akzeptanz« eine entscheidende Bedeutung zu.

I.

Zum Begriff »Kohärenz«

Der Begriff »Kohärenz« stammt aus dem Lateinischen, cohaerens: »zusammenhängend«, und bedeutet, dass zwischen bestimmten PhäStrauch 2002, S. 311 f.; 320 ff.; zu den philosophischen, soziologischen und kognitiven Grundlagen des von mir gebrauchten Kohärenzbegriffs ausführlich Strauch 2005, insb. S. 483 ff.

4

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nomenen ein Zusammenhang besteht. Synonyme zu kohärent sind neben »stimmig« etwa »schlüssig«, »verbunden«, »einheitlich«. Gebraucht wird der Begriff »zur Bezeichnung des mehr oder weniger engen Zusammenhangs eines aus Teilen bestehenden Ganzen«. 5 So beschrieben, fehlt dem Begriff allerdings jede genauere Kontur. Man kann ihn auch nicht einfach aus seiner Funktion heraus bestimmen, denn er wird für die unterschiedlichsten Zusammenhänge verwendet. Es ist deshalb sinnvoll, zunächst einen Blick auf die unterschiedlichen Phänomene zu werfen, für die der Begriff gebraucht wird (1.). Entscheidend für die Problemstellungen, denen wir uns in der Methodenlehre gegenübergestellt sehen, ist dann allerdings vor allem die Funktion der Kohärenz, die ihr als Wahrheits- und Richtigkeitskriterium zukommt, d. h., es geht um die Rolle, die der Kohärenzbegriff in der Erkenntnistheorie und der philosophischen Diskussion um die Wahrheitstheorien spielt. Aufgabe der folgenden Überlegungen wird es also sein, den Kohärenzbegriff so zu bestimmen, dass man mit ihm als Wertungs- und Richtigkeitskriterium auch methodisch arbeiten kann (2.).

1.

Unterschiedliche Kohärenzphänomene – gemeinsame Struktur

Das Auffinden und die Analyse von Kohärenzphänomenen ist in vielen Wissenschaften ein zentrales Forschungsfeld: In der Optik ist es eine Eigenschaft von Lichtbündeln gleicher Wellenlänge (z. B. Laser); 6 in der Gestaltpsychologie wird der Gestaltzusammenhang von Einzelempfindungen als Kohärenz erklärt; in der Sozialpsychologie dient der Begriff der Gruppenkohärenz (oder auch Gruppenkonsistenz) zur Erklärung der Unterschiede im Verhalten als Einzelner oder in einer Gruppe. Die Neurowissenschaften arbeiten mit diesem Begriff, um zu erklären, wie sich aus der Aktivität unzähliger Neuronen konkrete Erkenntnisse bilden. 7 Im EU-Recht fordert das »Kohärenzgebot«,

EPhWTh (2. Aufl.), Bd. 4., Art. kohärent, Kohärenz, S. 250. Weitere Beispiele aus dem Bereich der Physik und Linguistik vgl. EPhWTh (2. Aufl.), Bd. 4., Art. kohärent, Kohärenz, S. 252 f. 7 Dazu u. a. Edelman/Tononi 2002; S. 99 f. u. passim; Edelman 2007, S. 50 ff., 55; Wolf Singer 1990: Search for coherence: A basic principle of cortical self-organisation concepts, in: Neuroscience, 1,1–26. 5 6

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dass alle Organe der Gemeinschaft bei ihren Handlungen zur Erreichung der Ziele der Europäischen Union beizutragen haben. 8 In dem Beitrag »Richterliche Rechtsanwendung und Kohärenz« 9 hatte ich es unternommen, für diese Kohärenzphänomene – auch über die Grenzen der einzelnen Wissenschaften hinaus – Gemeinsamkeiten in der Form- und Strukturbildung zu finden: Kohärenz ist dann durch die drei folgenden Merkmale gekennzeichnet: a) eine Vielzahl von Elementen (z. B. Informationen, Neuronen, Mitglieder), die b) in einem komplexen System (z. B. Gehirn, Organisation, Gesellschaft) stehen und c) durch Interaktion eine jedenfalls momentane Einheit bilden. Kohärenz bedeutet so das Zusammenwirken von Elementen eines komplexen Systems zu einer kontingenten (partiellen) Einheit. 10 Dieser Versuch einer allgemeinen Bestimmung kohärenter Struktur bleibt jedoch zu stark im Abstrakten. Ausgangspunkte für methodische Analysen, Regeln und Kriterien können nur die jeweiligen wissenschaftlichen und philosophischen Ansätze sein, die auch auf konkretere juristisch-prozessuale Gegebenheiten und Problemstellungen bezogen sind und die uns dann als »tools for handling« die Instrumente an die Hand geben, um methodische Wertungskriterien zu entwickeln und methodisch relevante Prozesse zu beschreiben und zu analysieren.

2.

Kohärenz als Kriterium juristischer Methodik

In der Methodik sind die »Elemente«, die im Sinne der gegebenen allgemeinen Bestimmung zu einer »Einheit« (etwa einer Wahrnehmung, einem Zwischenergebnis, einem Urteil) zusammenzufügen sind, Informationen, Aussagen, Sätze, Feststellungen, Wahrnehmungen. Aber welche Bedingungen müssen gegeben sein, um sagen zu können, das Zusammenfügen, der hergestellte Zusammenhang sei auch »kohärent«? – Als prägnanteste Antwort darauf bietet sich die Vgl. dazu K Siems 1999; H.-J. Cremer, in: Christian Calliess / Matthias Ruffert (Hg.), EUV/AEUV 4. Aufl. 2011, Art. 21 EUV, Anm. 12 ff.; s. a. Art.13 EUV; Art. 221, 256 Abs. 4 AEUV. 9 Dort – Strauch 2005, S. 483 ff. – habe ich meine kohärenztheoretischen Überlegungen in einem größeren theoretischen Zusammenhang dargestellt. Auf diesen Beitrag werde ich bei der Behandlung von Kohärenzphänomenen immer wieder verweisen. 10 Strauch 2005, S. 499. 8

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Definition an, die Aleksander Peczenik in seinen »Grundlagen der juristischen Argumentation« gegeben hat: »Wenn p q unterstützt, kann man behaupten, p und q seien miteinander kohärent. Der Kohärenzbegriff gilt auch für Mengen von Behauptungen oder Sätzen (deskriptive, normative oder wertende, usw.).« 11 Diese formale Umschreibung verweist auf den Kern des Kohärenzbegriffs: die Stimmigkeit. Sie ist eines der drei Elemente der Kohärenz, die jeweils zu prüfen sind, wenn es darum geht, ob eine Feststellung, eine Aussage – eben ein Ergebnis, eine »Einheit« – kohärent ist. Es kommt darauf an, dass (1.) eine Aussage (p) mit anderen nicht im Widerspruch steht, dass (2.) zwischen ihr und anderen Aussagen oder Phänomenen (q) ein spezifischer Zusammenhang besteht und dass (3.) alle relevanten Aussagen (q) auch berücksichtigt sind. In den folgenden Teilen D bis F wird auf diese drei Elemente – Widerspruchsfreiheit, Umfassendheit und Stimmigkeit = Kohärenz i. e. Sinn – immer wieder zurückzukommen sein. An dieser Stelle muss es bei den Stichworten verbleiben, denn die näheren Voraussetzungen und Inhalte, die mit diesen drei Elementen verbunden sind, lassen sich hinreichend konkret nur im Zusammenhang mit den konkreten Fragestellungen darstellen – den Fragestellungen nach den »richtigen« Sachverhaltsfeststellungen (Kap. 14) und nach den Bedingungen einer »richtigen« Entscheidung (Kap. 26). Das gilt vor allem auch für die genauere Bestimmung dessen, was gemeint ist, wenn Kohärenz dadurch definiert wird, dass p q »unterstützt«; ausgeschlossen ist damit zwar ein beliebiger Zusammenhang zwischen q und p, aber zugrunde gelegt wird auch kein Verständnis von Kohärenz, nach dem q logisch aus p folgen muss (u. VII.2.).

II.

Die Kohärenz des Rechtsprechungsprozesses in drei Thesen

Für eine Methodik, die Methode als Herstellung von Kohärenz versteht, sind drei Kohärenzzusammenhänge von grundsätzlicher Bedeutung: der Zusammenhang von Kohärenz und Organisation des A. Peczenik 1983, S. 176. Peszenik bezieht sich an der zitierten Stelle ausdrücklich auf N. Rescher, der mit seinem Werk »The Coherence Theorie of Truth«, 1973, die neuere philosophische Kohärenztheorie stark beeinflusst hat. Einen Überblick gibt S. Bracker 2000, S. 32 ff.

11

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Justizsystems, der Zusammenhang von Rechtsprechung und »anerkannten Sätzen« und schließlich der Zusammenhang von Tatsachen- und Rechtsermittlung. In den folgenden Teilen, in denen wir die einzelnen Prozesse, die zur richterlichen Entscheidung führen, näher zu analysieren haben, werden wir immer wieder auf diese Zusammenhänge stoßen. In drei Thesen formuliert sollen sie deshalb als Grundgedanken vorangestellt werden 12: 1. These: Die Kohärenz des juristischen Denkens ist abhängig von der Kohärenz in den institutionellen Strukturen der Justiz, von ihrer Organisation. Ihr Bezugspunkt ist nicht primär das autonomindividuell denkende Ich. 2. These: Eine Feststellung muss sich entweder in ein vorhandenes und als relevant und richtig akzeptiertes Aussagesystem eingliedern lassen oder man muss dieses so abändern, dass es sich in den neuen Bezugsrahmen einfügt. Auch dieser neue Rahmen muss sich aber auf »anerkannte Sätze« stützen können. 3. These: Der Sachverhalt muss in dem Argumentations- und Denkraum generiert werden, in dem auch die Rechtsfindung erfolgt. Kohärenzbedingungen sind aber nicht bereits dann gegeben, wenn sich die Entscheidung in das Recht einfügt. Das Recht muss auch dem Fall und seinen Problemen gerecht werden.

1.

Zur ersten These

Wie die schon diskutierten kohärenztheoretischen Ansätze aus Soziologie und Sozialpsychologie gezeigt haben (Kap. 6 III.), ist der richterliche Denk- und Argumentationsraum viel stärker durch Mechanismen sozialer Kognition bestimmt als durch einen jeweils individuellen Denkstil des einzelnen Richters. Natürlich ist es zunächst das Denken der Richterin Charlotte Schmitt und das Denken des Richters Jörg Mann, wenn wir von richterlichem Denken sprechen; »Kohärenz« erscheint folglich jeweils als ein subjektives Phänomen im Denken dieser Personen. Zugleich ist es aber ein Phänomen »sozialer Kognition«. Recht, seine Kohärenz und die juristische Konstruktion eines »Falles« setzen denknotwendig »Intersubjektivi-

Gegenüber dem Beitrag, Strauch 2005, S. 500 ff., sind diese Thesen in den Formulierungen deutlich modifiziert, in den Kernaussagen aber unverändert.

12

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tät«, d. h. gemeinsame Denk- und Argumentationsräume voraus. Anders könnten sie nicht funktionieren und wir sie nicht denken. Einzubeziehen in die Methodendiskussion waren deshalb die Themen Habitus und Stil, die Formen institutioneller Einbindung sowie die Kohärenz als sozialpsychologisches Phänomen auch und gerade als Voraussetzung für eine Kohärenz im Denken und Erkennen. 13 Ein soziologischer Befund, unter dem nicht zuletzt Phänomene sozialer Kognition im Bereich des Rechts näher beschrieben wurden, ist der der Interpretationsgemeinschaft (Kap. 6 IV. 1. b) – sei es speziell der Richter oder allgemeiner der Juristen, institutionalisiert in der Gerichtsbarkeit und, wiederum allgemeiner, dem Rechtssystem. Ohne die spezifischen soziologischen und sozialpsychologischen Vermittlungsprozesse sozialer Interaktion könnten sich sozio-kulturelle Phänomene wie gemeinsame Denk- und Argumentationsräume nicht bilden. Nur über die Vermittlungsprozesse in solchen institutionellen Zusammenhängen – wie Interpretationsgemeinschaften oder allgemeiner: soziale Systeme mit spezifischen Funktionen und Organisationsstrukturen – erklärt sich auch die Einbettung unseres Denkens in eine historische Struktur mit ihren Institutionen, Traditionen, symbolischen Formen, Dogmatiken, Selbstverständlichkeiten und ihrem je eigenen kulturellen Gedächtnis. – Die erste Grundthese soll dieses für die hier vertretene Kohärenzlehre wesentliche Abhängigkeitsverhältnis von Organisationsstruktur und Denken (Kognition) auf eine allgemeine Formel bringen.

2.

Zur zweiten These

Keine im Wesentlichen deskriptive, sondern eine weitgehend normative Bedeutung kommt dem Kohärenzbegriff zu, wenn er – wie dies in den folgenden Teilen meistens der Fall sein wird – als Wahrheitsbzw. Richtigkeitskriterium diskutiert und eingesetzt wird. Abgeleitet ist die zweite These aus einer Formulierung, mit der es O. Neurath 1931 unternommen hatte, die Richtigkeit einer Aussage zu bestimmen. Obwohl aus naturwissenschaftlichen Kontexten entwickelt, liegt in dem Kohärenzgedanken Neuraths ein Ansatz, der sich auch in den nachfolgenden Untersuchungen für die Bewertung von Sach-

13

Weiterführend T. Fuchs 2010, insbes. S. 193 ff.

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verhalts- und Rechtsfeststellungen als tragfähig und fruchtbar erweisen wird. In diesen Untersuchungen wird der kohärenztheoretische Ansatz zugleich durch weitere erkenntnistheoretische Überlegungen ergänzt werden müssen. Der methodische Weg zu den Antworten auf die Frage nach den Bedingungen und Mechanismen der Sachverhaltsfeststellung und nach Kriterien für die Feststellung des »richtigen« Sachverhalts führt über die Einordnung dieser Fragestellungen in die Diskussion um die so genannten Wahrheitstheorien: Abbild-, Korrespondenz-, Diskurs- und Kohärenztheorien (Kap. 9 I.). Wenn dafür weitgehend kohärenztheoretische Ansätze (Kap. 11) zugrunde gelegt werden, dann beruht das nicht auf der Auffassung, dass schon im Grundsatz und generell allein diese Ansätze »richtig« seien und die anderen entsprechend »falsch«. Auszugehen ist vielmehr von der Situation, in der der erkennende Richter steht. Diese Erkenntnissituation vermögen die anderen Theorien nicht adäquat zu erfassen. Der Richter ermittelt »die Wahrheit« nicht in einem freien wissenschaftlichen Verfahren, sondern in einem Verfahren, das rechtlich formalisiert ist. Der Richter hat es in der Regel auch nicht unmittelbar mit beobachtbaren Tatsachen zu tun, sondern kann nur auf Aussagen über solche Tatsachen zurückgreifen. Maßstab für die Richtigkeit eines Sachverhaltes kann jeweils nur die Kohärenz der Schlussfolgerungen von den Indizien oder Aussagen auf die festgestellten Tatsachen sein, d. h. die Kohärenz der »Gesamtwürdigung« (Kap. 11). Auch im Laufe der Untersuchungen über die Kohärenzkriterien, die für die Rechtsfeststellungen zu gelten haben, wird die zweite These dann noch im Hinblick auf Mustererkennung und Entscheidungstheorie sowie die praktischen Konsequenzen, die sich aus dem Verständnis von Methode als Herstellung von Kohärenz ergeben (Teil F), in weiteren Schritten zu konkretisieren sein.

3.

Zur dritten These

Kohärent kann ein Urteil schließlich nur sein, wenn es gelingt, Wirklichkeitserfassung und Rechtsermittlung in einen stimmigen Zusammenhang zu bringen. Die dritte These formuliert deshalb die Notwendigkeit, Recht und Sachverhalt im Wechselspiel zu sehen. Die Prozesse der Mustererkennung, bei denen es um die Frage geht, welche Mechanismen wirksam sind, wenn der Richter Lebenswelt, 128 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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das Recht und den konkreten Fall im Urteil zusammenführen muss, sind aus dieser Sicht deshalb weitgehend Vorgänge der Kohärenzbildung. Das gilt insbesondere in Konstellationen, in denen Veränderungen in der Lebenswelt bisherige Rechtsüberzeugungen in Frage stellen, also Prozesse der Rechtsfortbildung und der Rechtsschöpfung auslösen. Diese Prozesse lassen sich theoretisch gut erfassen, wenn man sie mit Kants Begriff der reflektierenden Urteilskraft beschreibt (Kap. 23 II.). Kohärenztheoretisch formuliert heißt das, der Richter muss für seinen konkreten Fall eine allgemeine Regel finden, die sowohl das vorhandene Gefüge rechtlicher Aussagen als auch die besonderen Wertungs- und Gerechtigkeitsaspekte, die sich aus dem Fall ergeben, berücksichtigt und stimmig zusammenführt.

III. Die Kohärenzformel Otto Neuraths Ausgangspunkt unserer Überlegungen zur Kohärenz tatsächlicher und rechtlicher Feststellungen ist der Begriff in der Bedeutung, die er in den Diskussionen des für die neuere Philosophie so wichtigen Wiener Kreises 14 durch Otto Neurath 15 bekommen hat. Die Formel, auf die O. Neurath den Kohärenzbegriff gebracht hat, bezieht sich auf die »Wissenschaft« als ein »System von Aussagen«. Im Zusammenhang lautet der Text: »Aussagen werden mit Aussagen verglichen, nicht mit ›Erlebnissen‹, nicht mit einer ›Welt‹, noch mit sonst etwas. Alle diese sinnleeren Verdoppelungen gehören einer mehr oder minder verfeinerten Metaphysik an und sind deshalb abzulehnen. Jede neue Aussage wird mit der Gesamtheit der vorhandenen, bereits miteinander in Einklang gebrachten Aussagen konfrontiert. »Richtig heißt eine Aussage dann, wenn man sie eingliedern kann. Was man nicht eingliedern kann, wird als unrichtig abgelehnt. Statt die neue Aussage abzulehnen, kann man auch, wozu man sich im allgemeinen

Ein Diskussions- und Arbeitskreis aus Philosophen, Mathematikern, Sozial- und Naturwissenschaftlern; die Literatur ist umfangreich, vgl. etwa V. Kraft, Der Wiener Kreis, Wien, New York, 2. Aufl. 1968; M. Geiger, Der Wiener Kreis, Hamburg 1992; F. Stadler, Studien zum Wiener Kreis, Frankfurt/M. 1997. 15 Zur philosophiegeschichtlich umstrittenen, aber in unserem Zusammenhang zunächst nicht wesentlichen Frage, ob Neurath wirklich zu den Vätern des Kohärenzgedankens gerechnet werden kann, vgl. – zur damaligen Diskussion um 1930 – C. G. Hempel 1982, S. 1 ff. 14

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schwer entschließt, das ganze bisherige Aussagesystem abändern, bis sich die neue Aussage eingliedern lässt«. 16

1. Nehmen wir diese Passage zunächst nur als Deskription, lässt sie sich unschwer als Beschreibung des Prozesses lesen, der den Kern richterlicher Rechtsfindung ausmacht. Der Ausbilder etwa, der von dem Referendar für eine Feststellung im Urteilsentwurf eine nähere Begründung fordert – ein Rechtsprechungszitat oder eine Bezugnahme auf einen dogmatischen Satz –, verlangt nichts anderes als ein »Eingliedern« dieser Feststellung in das bisherige »Aussagesystem« des Rechts. Das Zitat beschreibt in der Grundstruktur auch die juristische Arbeit eines Revisionssenates. Bei jedem Votum stehen die Senatsmitglieder vor der dargestellten Situation: »Jede neue Aussage wird mit der Gesamtheit der vorhandenen, bereits miteinander in Einklang gebrachten Aussagen konfrontiert.« Kann man die Rechtsauffassung dann nicht einordnen – insbesondere nicht in die bisherige Senatsrechtsprechung –, muss eine Lösung gefunden werden, wie man »das ganze bisherige Aussagesystem abändern« kann. Nicht selten werden andere dann darauf hinweisen können, dass die Änderung oder der Umbau des bisherigen Systems nicht sonderlich gelungen sei. Aber der Konzeption dieses Kohärenzdenkens liegt auch nicht die Idee der perfekten und unangreifbaren Lösung zugrunde. Sehr plastisch wird das in einer Metapher, die Neurath für die »Wissenschaft« als ein »System von Aussagen« gebraucht. Es ist die Metapher vom Schiff, »für das es kein Trockendock gibt, und das deshalb auf offener See repariert und umgebaut werden muss«. Diese Metapher, die schon Einstein begeisterte 17, trifft sehr anschaulich und gleichsam im Kern die praktische Verfahrensweise von Rechtsprechung. Auch Grundsatzurteile entstehen nicht »im Trockendock«, sondern »auf offener See«. Neurath 1931/1981, Bd. 2, S. 541. Carnap 1993, S. 89. Vgl. dazu auch seine Schilderung einer Begegnung mit Einstein, in der es um Einsteins Einwand gegen den Positivismus zur Frage der Realität der physikalischen Welt ging. Er kritisierte »die auf Ernst Mach zurückgehende Ansicht, dass Sinnesdaten die einzige Realität seien, oder, allgemeiner, jede Ansicht, die eine absolut gewisse Grundlage der Erkenntnis beanspruche. Ich erklärte ihm, dass wir diese früheren positivistischen Auffassungen aufgegeben hätten und nicht mehr an eine ›felsenfeste Grundlage der Erkenntnis‹ glaubten; ich erwähnte Neuraths Gleichnis, wonach es unsere Aufgabe ist, das mitten im Ozean schwimmende Schiff zu reparieren. Dieser Metapher und der dahinter stehenden Auffassung stimmt er begeistert zu«, S. 60.

16 17

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2. In dem so beschriebenen Mechanismus der Kohärenz ist zugleich eine Grundstruktur des Rechts mitgedacht: Recht ist immer schon da. Es besteht immer schon ein »bisheriges Aussagesystem«. Jeder Rechtsgedanke trifft auf bereits bestehendes Recht und muss in einem Rechtsraum diskutiert werden, der durch den historischen Bestand ein stets vorstrukturierter Denkraum ist. Eine »neue Aussage« – ein neuer Rechtsgedanke – kann entweder eingegliedert werden oder er muss verworfen werden – oder er zwingt zum Umbau des Rechts. Aber eben nicht ab ovo. Wir können diesen Denk- und Argumentationsraum in seiner Struktur nur erfassen, wenn wir uns klarmachen, dass wir es nie mit einem neuen oder gar selbst geschaffenen Raum zu tun haben. Auch wenn er Wandlungen unterliegt, kann der Jurist unabhängig von dessen jeweiligen Strukturen nicht arbeiten. Wenn der Jurastudent oder der Berufsanfänger ihn betritt oder der Praktiker in ihm Recht spricht, nimmt er Einfluss auf seine kognitiven Prozesse. Zugleich manifestiert sich hier die historische Struktur des Rechts, Recht als Teil der kulturellen Evolution – Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft. 18 So führt der Gedanke dann auch wieder zurück auf die Phänomene sozialer Kognition und Kohärenz, die oben mit der Figur der Interpretationsgemeinschaft näher beschrieben wurden.

IV. Der Kohärenzgedanke – seine zentrale Rolle für die Methode Bevor im nächsten Abschnitt (V.) kurz die theoriegeschichtlichen Zusammenhänge beleuchtet werden, in denen das kohärenztheoretische Denken zu sehen ist, um sodann die grundsätzlichen Annahmen und Folgerungen zu charakterisieren, durch die der von mir zugrunde gelegte kohärenztheoretische Ansatz bestimmt wird, ist eingangs nochmals zusammenfassend die zentrale Rolle zu verdeutlichen, die ihm in dieser Methodenlehre zukommt. Sie liegt in der dreifachen Funktion der Kohärenz als Kriterium von »Richtigkeit«:

Siehe zu diesem Gedanken Strauch 2005, S. 507 mit Hinweis auf Dieter Simon, Es ist, wie es ist, in: Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität?, Göttingen 2000, S. 79 ff., 94.

18

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1.

2.

3.

Kohärenz hat eine deskriptive Funktion. Wir können mit ihr die Prozesse beschreiben, in denen die Rechtsprechung eine Kohärenz im Recht herstellt. Wie gezeigt, kann Neuraths Formel unmittelbar als Beschreibung des Rechtsfindungsprozesses gelesen werden. Kohärenz hat zugleich auch eine methodische Funktion, nämlich zu sagen, nach welchen Regeln Sachverhaltsfeststellungen zu treffen sind und nach welchen Regeln – Regeln zum Umgang mit Normtexten, Präjudizien und Dogmatik, also Regeln der Rechtsermittlung – Recht zu sprechen ist. Aus der Analyse der Prozesse, die bei der »Herstellung von Kohärenz« zu beobachten und festzustellen sind, ergeben sich auch die methodischen Regeln. Das Primäre ist aber ihre normative Funktion. Für die Methodik ist die »Herstellung von Kohärenz« nicht als Beschreibung richterlichen Verhaltens wesentlich, sondern als notwendige Bedingung der Regelbindung (Kap. 16). Es ist die Bindung an Gesetz und Recht, die die Verpflichtung des Richters begründet, seine Rechtsfeststellungen so zu treffen, dass sie sich in das bestehende Rechtssystem einfügen oder dieses System jedenfalls so anpasst, dass sich wieder eine neue (allgemeine) Regel ergibt.

Es sind diese drei Funktionen oder Ebenen, die den theoretischen Ansatz ausmachen und die zusammen gesehen werden müssen. D. h., die hier vertretene Kohärenzlehre ist auch deskriptiv; sie ist es insofern, als sie versucht, die Prozesse zu beschreiben, die eine Bindung durch Kohärenz in der Rechtsprechung auch praktisch gewährleisten können. Mit ihrer Verpflichtung des Richters auf eine kohärente Ableitung seiner Rechtsauffassung aus dem Recht ist sie jedoch wesentlich normativ. D. h., die Forderung nach Kohärenz gilt auch dann, wenn und soweit die Wirkungsmechanismen unzutreffend beschrieben sein sollten. Vertreten wird also primär eine normative Kohärenzlehre. 19

Vgl. zur »Bindung durch Kohärenz« Strauch 2002, S. 311 ff.; die Einordnung durch Lee 2010, S. 308 ff. in die deskriptiven Kohärenzlehren bedarf insofern also einer Klarstellung.

19

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V.

Kohärenz – zum theoriehistorischen Zusammenhang

Wenn in den beiden vorangegangenen Abschnitten der kohärenztheoretische Ansatz Neuraths unmittelbar zur Beschreibung richterlicher Praxis und der Grundstruktur juristischer Methodik genutzt wurde, ohne zunächst dem theoriehistorischen Zusammenhang nachzugehen, in den die Kohärenzlehre Neuraths eingebettet ist, dann sollte das keinen Verzicht darauf bedeuten, diesen Hintergrund wenigstens zu skizzieren. Das heutige und eigene erkenntnisleitende Interesse an einer kohärenztheoretischen Konzeption macht es jedoch nicht erforderlich, mit dem allgemeinen theoretischen Ansatz auch den besonderen Theoriezusammenhang zu übernehmen, aus dem er entstanden ist. Unser (erkenntnis-) theoretisches Problem ist nicht mehr der richtige Umgang mit Beobachtungssätzen (im damaligen Jargon: Protokollsätzen) und die Verifikation von (natur-) wissenschaftlichen Fundamentalsätzen, sondern die Qualifizierung von Behauptungen und Rechtsauffassungen als »richtig« oder »falsch« und damit die Bedingungen einer juristisch »richtigen« Ableitung und Begründung. Gleichwohl gilt es, sich den Grundgedanken zu vergegenwärtigen. Zu verstehen ist dieser Grundgedanke, wie an anderer Stelle näher ausgeführt 20, am besten vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung des Wiener Kreises um die Verifikationstheorie 21 und die mit ihr verbundene Korrespondenztheorie der Wahrheit, die der Kreis (hier vor allem Carnap und Schlick) von Wittgenstein übernommen hat. 22 Neurath hatte dieser Idee, dass es »eine Art letzter Erkenntnis gäbe« mit dem Ziel eines geschlossenen Erkenntnissystems 23, stets widersprochen. Seiner Ansicht nach, schrieb Carnap rückblickend, »war die Gesamtheit des Wissens von der Welt immer ungewiss und bedurfte ständiger Verbesserung und Umwandlung«, und er schließt hier die schon zitierte Metapher vom Schiff an, das »auf offener See repariert und umgebaut werden muss«. Neurath stellte sich mit seiner – ja nur in Ansätzen ausformulierten 24 – TheoStrauch 2005, S. 497 f. D. h. die Möglichkeit, Aussagen zu verifizieren. Eine erste Übersicht über den Streit gibt Carnap 1993, S. 68 ff., 88 ff. 22 Vgl. hierzu Coomann 1983, S. 70 ff. 23 Carnap 1993, S. 88. 24 Siehe Th. Bartelborth 1996, S. 117 ff. 20 21

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rie aber nicht nur gegen die Annahme der Verifikationstheorie, man könne aus empirischen Feststellungen eine sichere Erkenntnisbasis gewinnen. Er stellte sich auch gegen die Vorstellung, man könne die Wahrheit in umfassenden und geschlossenen Erkenntnissystemen finden. Ein Überblick über die Theoriegeschichte des philosophischen Kohärenzbegriffs beginnt meist mit der idealistischen Kohärenztheorie des englischen Neuhegelianers F. H. Bradley. 25 »Das Wahre ist das Ganze«, hatte Hegel in der Einleitung zu seiner »Phänomenologie des Geistes« formuliert, und an dieses Diktum knüpfte Bradley bewusst an. 26 Neuraths Position markiert genau die Gegenthese zu diesem ganzheitlichen Absolutismus. Um jeden Anklang an diesen idealistischen Ansatz zu vermeiden, verzichtete er selbst auch darauf, von »Kohärenz« zu sprechen. 27 Und in seiner Schrift über die »Einheit der Wissenschaft als Aufgabe« formuliert er mit aller Schärfe: »›Das‹ System ist die große wissenschaftliche Lüge«. 28 Adornos Verdikt: »Das Ganze ist das Unwahre« hatte Neurath also schon 1934 vorweggenommen und damit sowohl für den Kohärenz- als auch allgemein für den Systemgedanken die Gegenposition formuliert, auf die es in unserem Überlegungszusammenhang entscheidend ankommt. Die philosophische Diskussion, die die Kohärenztheorie zunächst im Wiener Kreis und dann darüber hinaus auslöste, war eine Auseinandersetzung um die »wahre« Wahrheitstheorie 29. Diese Perspektive ist eine andere als die einer »gerichtlich-prozessualen Wahrheit« mit den ihr eigenen Problemen, die uns interessiert. Insoweit muss auf sie nicht näher eingegangen werden. Einzugehen ist aber auf einige wichtige Namen und Stichworte der rechtstheoretischen Diskussion. 30 Hier wurde der Begriff der Kohärenz erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts virulent. 31 Zu nennen sind hier aus dem an-

Zum Überblick vgl. H. Coomann 1983; S. Bracker 2000; K. Gloy 2004, S. 175 ff. Siehe etwa H. Coomann 1983, S. 23 f.; S. Bracker 2000, S. 17 ff. 27 Th. Bartelborth 1996, S. 165. 28 O. Neurath 1981, S. 626. 29 Zu den Wahrheitstheorien vgl. allgemein K. Gloy 2004; L. B. Puntel 1993; weitere Nachweise Kap. 9 I. Aus der gerichtlich-prozessualen Perspektive ausführlich Kap. 10. 30 Dazu allgemein S. Bracker 2000 und K. I. Lee 2010, S. 287 ff. 31 Nachdem er in Deutschland auch in der Philosophie kaum noch eine Rolle gespielt hatte; charakteristisch das WBphB 1955, das für »Kohärenz« nur auf den Begriffsgebrauch in der Psychologie verwies. Zur allgemeinen philosophisch-kohärenztheoretischen Diskussion siehe Th. Bartelborth 1996. 25 26

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gelsächsischen Bereich R. Dworkin, S. Fish, B. Jackson, für die deutsche Diskussion R. Alexy und K. Günther. 32 Sowohl Dworkin als auch Alexy und Günther stützen ihre Kohärenzlehren jedoch auf Grundlagen, die ich nicht für tragfähig halte. Zu Dworkin: Unterstellt man mit Dworkin eine Idee des »richtigen Rechts« oder ein »Recht an sich«, vermag ein »Richter Herkules«, der alle Umstände kennt und die Bedeutung aller Prinzipien richtig einzuschätzen weiß, zwar eine »allein richtige Entscheidung« herzustellen, weil sie diesem objektiven Recht gegenüber kohärent ist. Für die Gewissheit der vorausgesetzten Rechtsidee gibt es jedoch keine Basis. Günther und Alexy greifen demgegenüber auf die Diskurstheorie von Habermas zurück. 33 Recht bedarf nun zwar der Akzeptanz, stellt sich jedoch nicht wesentlich als Konsens in einem herrschaftsfreien Diskurs her (u. VII. 1.).

VI. Die Kohärenzlehre – Grundannahmen und Implikationen Anknüpfend an die skizzierte Ausgangsposition Neuraths sind – um für die folgenden Schritte die Grundlage zu schaffen – in diesem Abschnitt die wesentlichen Voraussetzungen, Annahmen und Konsequenzen anzugeben, die eingeschlossen und mitgedacht sind, wenn in dieser Methodenlehre von Kohärenz die Rede ist. Wir müssen uns grundsätzlich der Frage stellen, in welchem Verhältnis die Grundbegriffe Kohärenz, Wahrheit und System zu einander stehen und wie wir dieses Verhältnis bestimmen. 1. Folgt man Neuraths Kohärenzformel, gibt es zwei Möglichkeiten, Kohärenz herzustellen: entweder die neue, zu prüfende Aussage fügt sich in das bestehende System ein oder das System selbst muss angepasst werden. Das bestehende System ist also zunächst der Maßstab für die Richtigkeit der Aussage; es steht für »die Wahrheit«. Die zweite Möglichkeit besagt dann aber auch, dass wir diese Wahrheit nie als sichere Basis, als archimedischen Punkt voraussetzen dürfen. Für »die« (eine) Wahrheit gibt es in dieser Theorie keinen festen Ort. Ausführlich zu diesen Autoren und auch zum Folgenden K. I. Lee 2010, S. 287 ff. Zu Günther Lee 2010, S. 300 f.; zu Alexys Bezug zu Habermas, vgl. Alexy 1990, S. 106 f.

32 33

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Die »alte« Wahrheit muss immer mit Veränderungen durch nicht passende Befunde oder Aussagen rechnen. In der Kohärenzlehre mitgedacht sind also sowohl der methodische Ansatz von trial and error als auch das dialogische Element der (Rechts-) Erkenntnis. 2. Kohärenz kann deshalb nur ein relativer Maßstab für eine »relative Richtigkeit« sein und die Konsequenz ist, dass man mit einer Pluralität von (in sich) kohärenten Systemen rechnen muss. Das führt zu dem Kernproblem der relevanten Kriterien für die »richtige« Auswahl der »richtigen« Hypothese (Aussagesystem, Theorie). Das Problem stellt sich jedoch unterschiedlich – je nach den Ebenen, auf denen es zu Inkohärenzen kommt, und je nach Ausmaß prinzipieller Unverträglichkeit zwischen den Grundpositionen. 2.1. Besteht eine Unverträglichkeit zwischen verschiedenen Satzsystemen (zwischen S1 etwa und S2), ist diese auflösbar, wenn S1 und S2 auf ein übergeordnetes System bezogen werden können und sich in dieser Beziehung etwa S2 kohärenter erweist als S1. In der juristischen Argumentation führt dieser Weg beispielsweise über ein übergeordnetes Satzsystem (etwa aufgrund der Hierarchie der Rechtsquellen) oder über Abwägungsregeln – die typische Methode, um mit sich widersprechenden Positionen und Theorien umzugehen. Dass eine solche »Harmonisierung« nicht immer gelingen kann, wird allerdings noch zu besprechen sein. 34 2.2. Gibt es aber in den Satzsystemen S1 und S2 keine hinreichende Anzahl von Grundannahmen und Sätzen, die untereinander verträglich sind und es erlauben, beide Systeme als Subsysteme eines dritten aufzufassen, bedarf es Kriterien für »richtig« und »falsch«. Am Beispiel der unterschiedlichen Satzsysteme im Märchen- und im Physikbuch hatte bereits M. Schlick, die zentrale Figur des Wiener Kreises, Neurath das Fehlen eines solchen Kriteriums als entscheidendes Argument gegen seine Kohärenztheorie entgegengehalten: »Wer es ernst meint mit der Kohärenz als alleinigem Kriterium der Wahrheit, muß beliebig erdichtete Märchen für ebenso wahr halten wie einen historischen Bericht oder die Sätze in einem Lehrbuch der Chemie, wenn nur die Märchen so gut erfunden sind, daß nirgends ein Widerspruch auftritt […]. Da es keinem Menschen einfällt, die Sätze eines Märchenbuches 34

Kap. 25 IV.

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für wahr, die eines Physikbuches für falsch zu halten, so ist die Kohärenzlehre völlig verfehlt. […] Sie gibt überhaupt kein eindeutiges Kriterium der Wahrheit, denn ich kann mit ihr zu beliebig vielen in sich widerspruchsfreien Satzsystemen gelangen, die aber unter sich unverträglich sind.« 35

M. Schlick selbst sah das entscheidende Kriterium in der »Übereinstimmung mit der Wirklichkeit«, also in einem Rückgriff auf die Korrespondenztheorie. 36 Unberücksichtigt bei seiner Kritik blieb allerdings, dass auch für Neurath »Kohärenz« nicht das allein hinreichende Kriterium war. Die »neue Aussage«, die zur Überprüfung mit den »bereits miteinander in Einklang gebrachte(n) Aussagen« gestellt wurde, wurde nicht mit beliebigen, sondern mit »anerkannten Sätzen« konfrontiert. Die Formulierung Neuraths ist klar: »Einen Satz, den wir ausschalten, weil er mit anderen anerkannten Sätzen in Widerspruch tritt, nennen wir einen falschen Satz«. 37 Eingeführt wird damit das Kriterium der Akzeptanz. Zu überlegen ist also, welches der beiden Kriterien – Korrespondenz mit der Wirklichkeit oder Akzeptanz – den Umgang mit dem Dilemma der Unverträglichkeiten zwischen verschiedenen Satzsystemen klarer und besser strukturieren kann. Nehmen wir die Märchenwelt als Anschauungsmaterial: 3. Die Satzsysteme der Märchen- und Physikbücher liegen in unserer Lebenswelt zunächst auf so unterschiedlichen Wirklichkeits- und Beschreibungsebenen, dass ihre Unverträglichkeit von uns in der Regel gar nicht als Dilemma empfunden wird. Wir haben es mit zwei Welten (der Märchenwelt und der Welt der Physik) zu tun, deren Inkongruenz für uns kein Problem, sondern selbstverständlich ist. Es ist für die meisten kein Problem, weil man den Widerspruch zwischen diesen beiden Welten (salopp: von Fällen, die den Psychiater angehen, abgesehen) mit aller Gelassenheit hinnehmen kann. Er führt auf der entscheidenden sozialen Ebene zu keinerlei Unverträglichkeiten. Auch auf der theoretischen Ebene gibt es hier im Ergebnis keinen wirklichen Unterschied zwischen den Ansätzen der Korrespondenztheorie und der Akzeptanz. Welche die »wahre« = wirkliche Welt ist, beantwortet sich über Schlicks Ansatz ebenso wenig eindeuM. Schlick 1934, S. 86 f. D. h., Aussagen sind dann wahr, wenn sie mit den Tatsachen in der objektiven Welt übereinstimmen (korrespondieren). Näher Kap. 9 I. Zur Diskussion innerhalb des Wiener Kreises siehe C. G. Hempel 1935/1977, S. 96 ff. 37 Neurath 1981, Bd. 2, S. 593, Hervorhebung durch Verf. 35 36

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tig wie über das Kriterium der »anerkannten Sätze«, die für Neurath die wissenschaftlich anerkannten Sätze sind. 4. Bleiben wir jedoch bei der Märchenwelt und versetzen uns in die Zeit der Gottesurteile und Hexenprozesse, in der gute und böse Geister durchaus für wirkmächtig gehalten wurden und Wunder nicht im Widerspruch zum gängigen Weltbild standen. Hier die »Übereinstimmung mit der Wirklichkeit« gegen die Märchenwelt auszuspielen, verfängt nicht, weil diese Welt selbstverständlicher Teil der damaligen Wirklichkeit war. Der Einwand, der aus diesem Beispiel folgt, wird auch nur scheinbar entkräftet, wenn man ihm entgegenhält, aber heute garantiere die Wissenschaft eine solche »Übereinstimmung mit der Wirklichkeit« als sichere Bewertungsgrundlage. Wie die Diskussionen zur Methode der Sachverhaltsermittlung im Teil C genauer zeigen werden, haben wir für die Sachverhaltsfeststellung zu konstatieren, dass die »Übereinstimmung mit der Wirklichkeit« hier nur ein begrenzt taugliches Kriterium ist und die Korrespondenztheorie deshalb keine alleinige Grundlage sein kann. Bei Alltagstheorien, Erfahrungssätzen und selbst bei wissenschaftlichen Erkenntnissen muss sich der Richter auch immer wieder der Akzeptanz dieser Grundlagen vergewissern. So ist es zwar nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis von Kohärenz eindeutig, dass eine Ableitung oder Feststellung wissenschaftlich gesicherten Tatsachen nicht widersprechen darf, ohne im juristisch-methodischen Sinn inkohärent und somit »falsch« zu werden. Aber es ist ein Unterschied, ob man gesicherte Erkenntnisse (Naturgesetze) zugrunde legt und »wissenschaftlich gesicherte Tatsachen« meint oder ob man von einer wissenschaftlich gesicherten »Wirklichkeit« spricht – »Wirklichkeit« ist ein Konstrukt, kein Abbild der Realität, über das man nicht streiten könnte. Doch um den möglichen Geltungsbereich der Korrespondenztheorie endgültig zu verlassen: Von einer wissenschaftlich gesicherten »Wertung« oder Norminterpretation kann man ganz sicherlich nicht im gleichen Sinn reden wie von einer »gesicherten« Tatsache. Die einschlägigen Wertungskriterien sind hier: »Akzeptanz«, »bewährt«, »anerkannt«, »nicht zweifelhaft«, »dogmatisch gesichert« etc. 5. Um das grundsätzliche Problem zu veranschaulichen, sei es statt am Beispiel von Märchen- und Physikbuch am Beispiel: Bibel – Naturwissenschaft / Evolutionstheorie diskutiert. Will man das Verhält138 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

8 · Kohärenz und Akzeptanz

nis beider Aussagesysteme erörtern, zeigen sich drei grundsätzlich unterschiedliche Positionen: Man versucht (1.) Kohärenz zwischen beiden herzustellen und die Widersprüche, die sich bei wörtlichem Verständnis ergeben, durch Interpretationen aufzulösen. 38 Oder man verzichtet auf den Versuch, beide gedanklich in Übereinstimmung zu bringen und belässt (2.) beide in ihrer Eigenständigkeit – das eine mit Gültigkeit in der Wissenschaft, das andere in der »Welt des Glaubens«. Wer (3.) einen grundsätzlichen Widerspruch sieht, ihn aber weder lösen noch hinnehmen kann, hat nur die Wahl, eines der beiden Systeme für falsch zu halten. Insbesondere in den USA zeigt sich die politisch-juristische Brisanz dieses Streites auch praktisch. Immer wieder zitiert wird das 1928 vom Staat Kansas erlassene Anti-Evolutions-Gesetz, das es verbot, den Darwinismus in der Schule zu erwähnen. Es wurde zwar durch eine Entscheidung des Supreme Court von 1968 aufgehoben. Beigelegt war der Streit damit aber nicht. Bis Ende 1980 gab es allein in mehr als zehn Bundesstaaten kreationistische Gesetzesentwürfe, von anderen Maßnahmen abgesehen. 39 Schlicks Argument: »Da es keinem Menschen einfällt, die Sätze eines Märchenbuches für wahr, die eines Physikbuches für falsch zu halten«, mit dem er die Kohärenzlehre für »völlig verfehlt« erklären will, verkennt also ein grundsätzliches Phänomen: Es gibt Satzsysteme, die man zwar mit fester Überzeugung für falsch halten kann, die andere aber ebenso sicher als wahr ansehen. Beide Systeme sind in sich kohärent und werden jeweils für wohlfundiert gehalten, aber es gibt »kein eindeutiges Kriterium der Wahrheit«, das den Widerspruch aufheben und von beiden Parteien akzeptiert werden könnte. Wir haben es mit einer »Unverträglichkeit« unterschiedlicher Weltbilder und Lebensformen zu tun, die einerseits argumentativ nicht auflösbar ist, andererseits aber als typische Konfliktlage pluralistischer Gesellschaften jederzeit als Rechtsproblem aktuell werden kann. Man denke an die rechtlichen Auseinandersetzungen um die strafrechtliche Sanktionierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Für die Kohärenzlehre bedeutet dies, dass zunächst die Bezugspunkte für die Bestimmung von »Kohärenz« und »Akzeptanz« ge-

Wie es etwa H. Küng 2005, S. 135 ff., versucht hat. Zur Übersicht vgl. H. Huber 2010, Geschichte des Kreationismus in den USA – LMU München – Institut für Philosophie, zit. nach http://web.archive.org/web/ 20100420082546/http://www.gavagai.de/HHP29.htm

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nauer erörtert werden müssen. Zu fragen ist auch, wie sich der Grad, mit dem bestimmte Argumente und Sätze akzeptiert werden, auf die Einschätzung auswirkt, ein Satzsystem sei stimmig. Wie eine auch nur oberflächliche Beobachtung von Diskussionen lehrt, kann Akzeptanz einem Argument auf der Waagschale so viel Gewicht verleihen, dass widersprechende Gründe nicht mehr »ins Gewicht fallen«, für die Frage der Widerspruchsfreiheit also ihre Relevanz verlieren. Es ist aber nicht zuletzt die Relevanz, die Gesichtspunkten zu- oder abgesprochen wird, die die Kohärenz von Satzsystemen bestimmt.

VII. Kohärenz und Akzeptanz als ihre notwendige Bedingung »Kohärenz« meint entgegen einer nicht nur von Schlick vertretenen Annahme mehr als nur »Konsistenz«. Wie bereits gesagt, ist die Widerspruchsfreiheit neben »Umfassendheit« und »Stimmigkeit« nur ein Element der Kohärenz. Kohärenz ist mit diesen drei Elementen auch nicht »selbsttragend«. In der vorstehenden Diskussion um den Kohärenzbegriff hat sich unabweisbar gezeigt, dass das Einfügen einer Aussage in ein Satzsystem nur dann als »richtig« zu überzeugen vermag, wenn es sich bei diesem um »anerkannte Sätze« handelt. Entsprechend hatte ich in früheren Darlegungen folgende Grundthese formuliert: Die Richtigkeit einer Entscheidung wird durch Kohärenz der Begründung innerhalb eines als hinreichend akzeptierten Norm- und Prämissenrahmens bestimmt. 40

Diese These ist im Folgenden in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen näher zu bestimmen. Zu erörtern sind: (1.) die Fundierung durch Akzeptanz, (2.) der graduelle Charakter von Kohärenzen und (3.) die Relationen zwischen juristisch-dogmatischer Fundierung und gesellschaftlicher Akzeptanz.

Strauch 2012, S. 342; Strauch 2005, S. 500 ff. In der Sache entspricht sie der oben formulierten zweiten These; sie ist nur abstrakter gefasst.

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1.

Akzeptanz

Jede Ableitung und jede Begründung braucht einen oder mehrere »anerkannte Sätze«, auf denen sie aufbauen kann. Doch was einen »anerkannten Satz« oder ein System »anerkannter Sätze« ausmacht, wird von Wissenschaft zu Wissenschaft und von einem gesellschaftlichen Bereich zum anderen unterschiedlichen Maßstäben folgen. Zum Teil ist eine solche Anerkennung das Ergebnis eines wissenschaftlichen Prozesses, zum Teil das Ergebnis einer sozio-kulturellen Entwicklung, zum Teil wirken beide Quellen zusammen. 41 Die Begriffe »Akzeptanz«, »bewährt«, »anerkannt« markieren in unserem Zusammenhang also keine prinzipiellen Unterschiede, sondern nur unterschiedliche Perspektiven. So spricht man im Empirismus von »Bewährung« und meint damit wissenschaftlich erwiesene Sätze. 42 Gemeint ist aber auch die »bewährte« Tradition, wie in der anschaulichen Diktion des Art. 1 (Schweizer) ZGB für die Normsetzung durch die Gerichte: »Es folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung«. Für den am besten geeigneten Ausdruck, die Phänomene zu erfassen, auf die es bei der Fundierung ankommt, halte ich den Begriff der »Akzeptanz«. Akzeptanz kann auf sehr unterschiedlichen Grundlagen beruhen: Autorität, Vernunft, Evidenz, »Alternativlosigkeit«, unreflektierte Tradition, Konsens. Für die erste, ganz allgemeine Betrachtung kommt es freilich nicht darauf an, aus welchen Gründen eine Prämisse als »richtig« anerkannt wird; es reicht, dass man sie als gegeben hinnimmt. Akzeptanz muss nicht notwendig im Diskurs oder Konsens gefunden werden. Sie ist das Ergebnis sowohl eines sozio-kulturellen als auch eines institutionellen Prozesses. (Dieser Prozess soll zunächst ausgeklammert und dann im Abschnitt VIII. gesondert behandelt werden.) In einem ersten Fazit ergeben sich daraus zur zweiten Grundthese (II. 2) folgende ergänzende Leitsätze: 1. Eine Ableitung oder Begründung kann nur insoweit Kohärenz und damit »Richtigkeit« beanspruchen, als ihre Prämissen, auf denen sie aufbaut, »anerkannt« werden.

Ein geradezu klassisches Beispiel ist der langwierige Prozess, in dem sich das Kopernikanische Weltbild durchgesetzt hat. 42 Vgl. etwa Carnaps Aufsatz 1936, Wahrheit und Bewährung. 41

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2. Will man als Prämissen nicht nur (natur-) wissenschaftlich anerkannte Sätze gelten lassen und das Kriterium der »Kohärenz« nicht nur auf den szientistischen Bereich beschränken, bedeutet die Frage nach »anerkannten« Sätzen die Frage nach der Akzeptanz dieser Sätze. Typische Beispiele für juristisch »anerkannte Sätze« sind die Sätze der Dogmatik. 43

2.

Der graduelle Charakter der Kohärenz

Es ist in der juristischen Argumentation üblich, mit standardisierten Angaben zu dem Grad der Akzeptanz zu arbeiten, die einer Aussage oder einem Aussagesystem zugesprochen wird; man qualifiziert sie als: unstr., ganz h. M., st.Rspr., h. L., Mindermeinung, str., etc. In den gedanklichen Operationen der Juristen haben diese Qualifizierungen die Funktion anzugeben, mit welchem Geltungsanspruch die verwendeten Prämissen in der Argumentation auftreten. Sind sie »wahr«, »wahrscheinlich wahr«, welche Verbindlichkeit können sie beanspruchen, auf welche Autorität sich berufen? Diese unterschiedlichen Modalitäten geben für den Umgang mit Prämissen zwei Wege vor: (1.) Werden Obersatz und Untersatz als »wahr« oder »richtig« akzeptiert, müssen sie als »anerkannte Sätze« nicht weiter legitimiert werden. Auch die Schlussfolgerungen sind dann als richtig anzuerkennen. Sind die Prämissen dagegen nicht unstrittig (2.), so bedarf es weiterer »anerkannter Sätze«, um die gewählten Prämissen verwenden zu können. Fügt sich die Prämisse in diese Sätze nicht ein, dann muss sie modifiziert oder durch eine »passende« ersetzt werden. Welche Operationen hier im Einzelnen zur »Herstellung von Kohärenz« nötig sind, wird noch zu erörtern sein (insbesondere Kap. 26). Zuvor ist die Grundstruktur der Operation selbst zu bestimmen: Ist sie wesentlich formaler, logischer Struktur oder schließt sie auch die pragmatisch-inhaltliche Dimension mit ein? Üblicherweise wird der Begriff der »Kohärenz« auf den der Begründung bezogen. Oft wird er dann auch noch in spezifischer Weise eingegrenzt, wie etwa in der Kohärenzlehre Alexys. Alexy verwendet den Begriff der Begründung in dem Sinne, »daß eine Aussage p eine Aussage q genau dann begründet, wenn q entweder allein aus p oder Zu dem unmittelbaren theoretischen Zusammenhang, in dem »Dogmatik« und das Münchhausen-Trilemma zueinander stehen, vgl. Kap. 18 II. 3. b.

43

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aus p zusammen mit weiteren Prämissen logisch folgt«. 44 Im Gegensatz zu dieser Position schließt der von mir verwandte Begründungsbegriff die »pragmatische Dimension des Begründens« 45 ein und klammert sie nicht aus. Er kann deshalb auch nicht rein deduktiv sein. Ich folge insoweit den Begriffsbestimmungen von Peczenik: »Wenn p q unterstützt, kann man behaupten p und q seien miteinander kohärent.« 46 P unterstützt q, bedeutet dabei, »dass p ein guter Grund für q ist«. 47 Und diese »guten Gründe« sind nicht nur analytische (formelle) Folgerungsregeln, sondern auch materielle, inhaltliche. 48 Wenn der Richter die »guten Gründe«, die eine Prämisse entweder unterstützen oder gegen sie sprechen, bewertet, gewichtet und untereinander abwägt, argumentiert er inhaltlich, nicht nur formal. Vollzogen wird ein »Schluß auf die beste Erklärung«. 49 Wie eingangs gesagt: Gebraucht wird der Begriff auch »zur Bezeichnung des mehr oder weniger engen Zusammenhangs eines aus Teilen bestehenden Ganzen«. 50 Und das folgerichtig auch, weil Kohärenz meist keine Sache der zwingenden Schlussfolgerung, sondern eine Sache des Grades ist. 51 Als 3. Leitsatz kann somit festgehalten werden: 3. Kohärenz ist nicht nur dann gegeben, wenn q aus p folgt. Ihr wesentliches Feld sind Operationen, in denen es um die Frage geht, ob p allein oder zusammen mit p1, p2 usw. gute Gründe für q liefert oder nicht die besseren Gründe für non-q bzw. für q2 sprechen. In diesen Operationen ist Kohärenz immer graduell.

R. Alexy 1990, S. 97. R. Alexy aaO. 46 Peczenik 1983, S. 176. 47 Peczenik 1983, S. 170. 48 Siehe auch dazu Peczenik 1983, S. 172 ff. 49 Aus einer allgemeinen kohärenztheoretischen Perspektive in diesem Sinn vor allem Th. Bartelborth 1996, S. 9 ff.: »Schlüsse auf die beste Erklärung«, S. 11; »Für wissenschaftliche Theorien und auch für viele Alltagsüberzeugungen ist ihre Erklärungsstärke der zentrale Aspekt ihrer epistemischen Beurteilung«, S. 13. 50 EPhWTh (2. Aufl.), Bd. 4., Art. kohärent, Kohärenz, S. 250. 51 Im Ergebnis auch R. Alexy 1990, S. 97; grundsätzlicher Th. Bartelborth 1996, S. 117 ff., 292 ff. 44 45

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3.

Juristisch-dogmatische Fundierung und gesellschaftliche Akzeptanz

Akzeptanz ist in mehrfacher Hinsicht ein ambivalenter Begriff. Er ist das Ergebnis eines sozio-kulturellen und institutionellen Prozesses, eines Prozesses, in dem die Prozessparteien und Richter, Gesellschaft und Gerichte Mitspieler sind, zugleich aber auch diejenigen, die durch ihre Bereitschaft zu akzeptieren Akzeptanz erst herstellen. Der Richter, der für seine Entscheidung Akzeptanz verlangt, muss den Normen- und Prämissenrahmen, aus dem heraus er entscheidet, selbst anerkennen. Und unabhängig von dem einzelnen Richter: Was in dem sozio-kulturellen Prozess an Akzeptanz gewonnen werden kann, kann in ihm auch wieder verloren werden. – Doch eines kann die Akzeptanz allerdings nicht garantieren: dass die akzeptierten Regeln und Lösungen auch gerecht sind. Der Umstand, dass der Zeitgeist eine Rechtslage akzeptiert, besagt etwas darüber, dass sie als Recht gilt. Gemessen an Menschenrechten und uns selbstverständlichen Rechtswerten, kann es tiefstes Unrecht sein. Man denke etwa an die Sklavenhaltung, die Hexenverfolgung, die faschistische Ideologie und die Errichtung von Konzentrationslagern. Ein noch aktuelles Beispiel bieten die USA. Wer hätte vor der Ära G. W. Bush daran gedacht, dass die Folter wieder zu einem akzeptierten Instrument staatlicher Gewalt werden könnte – jedenfalls eines, dem gegenüber sich das Rechtssystem als macht- und willenlos erweisen würde. Sicher, die Beispiele haben unleugbar unterschiedliches Gewicht, aber in allen spiegeln sich immer auch akzeptierte Rechtslagen. Zu konstatieren ist also: Auf die Grundfragen nach dem »richtigen Recht« – Thema etwa der Natur- und Vernunftrechtslehre und auch der Topik (Kap. 18 I. 3. e) – vermag die Kohärenzlehre keine Antworten zu geben. Sie kann es schon von ihrem Ansatz her nicht, basiert sie doch auf der Einsicht, dass es für das Recht keinen vorgegebenen, stabilen Maßstab, keinen archimedischen Punkt gibt. Überlegungen zu einem »richtigen Recht« können immer nur auf die Gedanken zurückgreifen, die im zeitbedingten Erkenntnis- und Erfahrungsbereich der jeweiligen Kultur und Gesellschaft liegen. Und ob sie im jeweiligen Rechts- und/oder Gesellschaftssystem dann auch eine Chance auf »Rechtswirksamkeit« haben, ist wiederum entscheidend eine Frage der Akzeptanz in diesen Systemen. Demgegenüber löst auch der Einwand, ohne eine metaphysische Verankerung des Rechts sei eben kein Maßstab zu gewinnen, das Problem nicht. Die 144 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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Hexenprozesse haben sich nicht ohne Hilfe der Theologie durchgesetzt; die nationalsozialistische »Rechtslehre« knüpfte vielfach an den deutschen Idealismus an (z. B. K. Larenz) und es gab sogar einen Versuch zu einem »völkischen Naturrecht«. 52 Worauf die Kohärenzlehre jedoch eine Antwort geben kann und muss, ist die Frage, wie sich das Rechtssystem – hier in erster Linie die Rechtsprechung – gegenüber Rechtsvorstellungen und Wertungen verhält und verhalten sollte, die sich in die bisher für richtig gehaltenen eigenen Systeme »anerkannter Sätze« nicht mehr kohärent einfügen lassen. Zu diskutieren ist also der Konflikt zwischen dem Recht und entgegenstehenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen. a)

Unterschiedliche Wertvorstellungen – Konstellationen der Unverträglichkeit

Sucht man einen theoretischen Zugang zu diesem Problem, d. h. Begriffe und Kategorien, in die man es strukturell einordnen kann, bietet sich die Systemtheorie Luhmanns und dort der Begriff der »strukturellen Koppelung« an. Diskutiert wird unter diesem Begriff das Verhältnis von Autonomie eines Systems zu direkten und indirekten Steuerungsmöglichkeiten durch andere Systeme (Kap. 16 IV. 3.). Es ist Luhmann jedoch nicht gelungen, diesen Begriff wirklich brauchbar zu präzisieren. 53 Wir haben es mit sehr unterschiedlichen, hochkomplexen Vorgängen zu tun, die sich offenbar theoretisch nicht hinreichend klar strukturieren lassen. Einfach sind nur die Endpunkte der Problemskala zu bestimmen: Einerseits wird eine Rechtsprechung, die für ihre Entscheidungen keine Akzeptanz (mehr) findet, auch keine Möglichkeit mehr haben, ihren Entscheidungen die nötige faktische Rechtswirksamkeit zu vermitteln. Sie bedarf eines Mindestmaßes an Institutionenvertrauen. Als Subsystem der Gesellschaft kann sich die Rechtsprechung nicht prinzipiell von deren Überzeugungen und Wertungen abkoppeln. Andererseits verliert das Recht jede Eigenständigkeit, wenn es jeweils diese Wertungen übernehmen müsste, ohne sie mit dem Hinweis auf die eigenen Systeme »anerkannter Sätze« abweisen zu können. Die Problemlagen, die zwischen diesen beiden klaren Endpunk52 53

Nachweise bei M. Stolleis 1994, S. 32. Anschaulich dazu N. Luhmann 2005, S. 106 ff., 269 ff.

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ten liegen, sind dann allerdings sehr unterschiedlich. Anschaulich werden sie etwa in den Entscheidungen des BVerfG, in denen es Wertungen des Gesetzgebers verwirft, oder in Entscheidungen von EuGH und EGMR, mit denen Urteile des BVerfG oder anderer deutscher Gerichte aufgehoben werden. Versucht man hier Verallgemeinerungen, kann man zu folgenden Feststellungen kommen: (1.) Jede Rechtsordnung hat ihre jeweils eigenen Systeme »anerkannter Sätze«; sie basieren auf historischen Erfahrungen, gewachsenen Strukturen und akzeptierten Wertungen. Unterschiedliche Rechtsordnungen sind deshalb vielfach nicht kohärent. »Unverträglichkeiten« zwischen deutschem und europäischem Recht sind insofern ebenso selbstverständlich wie Wertungswidersprüche zwischen BVerfG und EGMR. (2.) Die pluralistische Gesellschaft ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Wertvorstellungen und Ansichten über ein »wirklich« gerechtes Recht. Wann immer ein Streit um diese unterschiedlichen Positionen zu einem sozialen Konflikt und zu einem Rechtsstreit führt, muss sich die Rechtsprechung entscheiden, welche Position sich in die eigenen Aussagesysteme einfügt oder welche Position sie als Grund einer Rechtsänderung oder -anpassung akzeptiert. Die Gemengelage und Komplexität, mit der die Rechtsprechung dabei konfrontiert sein kann, macht der »Vorspann« deutlich, den das BVerfG in seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch gewählt hat: »Die Frage der rechtlichen Behandlung des Schwangerschaftsabbruchs wird in der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten unter mannigfachen Gesichtspunkten diskutiert. In der Tat wirft dieses Phänomen des Soziallebens vielfältige Probleme biologischer, insbesondere humangenetischer, anthropologischer, ferner medizinischer, psychologischer, sozialer, gesellschaftspolitischer und nicht zuletzt ethischer und moraltheologischer Art auf, die Grundfragen menschlicher Existenz berühren. Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die aus diesen verschiedenen Sichtweisen entwickelten, unter sich vielseitig verschränkten Argumente zu würdigen, sie durch spezifisch rechtspolitische Überlegungen sowie durch die praktischen Erfahrungen des Rechtslebens zu ergänzen und auf dieser Grundlage die Entscheidung zu gewinnen, in welcher Weise die Rechtsordnung auf diesen sozialen Vorgang reagieren soll. Die nach außergewöhnlich umfangreichen Vorarbeiten im Fünften Strafrechtsreformgesetz getroffene gesetzliche Regelung kann vom Bundesverfassungsgericht allein unter dem Gesichtspunkt geprüft werden, ob sie mit dem Grundgesetz als dem höchsten in der Bundesrepublik geltenden Recht vereinbar ist. Gewicht und Ernst der verfassungsrechtlichen Fra-

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gestellung werden deutlich, wenn bedacht wird, daß es hier um den Schutz menschlichen Lebens geht, eines zentralen Wertes jeder rechtlichen Ordnung. Die Entscheidung über Maßstäbe und Grenzen der gesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit erfordert eine Gesamtschau des verfassungsrechtlichen Normenbestandes und der in ihm beschlossenen Wertordnung.« 54

Das Ergebnis, zu dem die Mehrheit des Gerichts 1973 in einer »Gesamtschau des verfassungsrechtlichen Normenbestandes und der in ihm beschlossenen Wertordnung« kam, war bekanntlich kein endgültiges. Das Gericht musste 1993 erneut entscheiden, 55 und auch diese Entscheidung konnte nicht zu einer allseits akzeptierten und kohärenten Lösung führen (s. u.). 56 Es gibt sie nicht. Die Wertordnung des Grundgesetzes kann weder allein aus der Perspektive der Selbstbestimmung bestimmt werden, noch ist diese Ordnung »nicht zuletzt […] moraltheologischer Art«, will man das Grundgesetz »nicht zuletzt« im Sinne der katholischen Theologie verstehen. Die verschiedenen in der Gesellschaft vertretenen Wertperspektiven sind nicht kohärent. Sie können auch durch die Gerichte nur auf den Nenner eines temporär akzeptierten Kompromisses zwischen an sich unverträglichen Positionen gebracht werden. Ist das Parlament nach offener Diskussion und Abstimmung für ein solches Problem zu einer Entscheidung gekommen, stellt sich deshalb auch die Frage, welche Eindeutigkeit und welches Gewicht die »besseren Argumente« gegenüber der Kompetenz des Parlaments, eine demokratisch legitimierte Lösung zu finden, haben müssen, um – ja auch nur mit Mehrheit – eine andere Lösung zu legitimieren. b)

Recht vs. gesellschaftliche Wertvorstellungen

Rechtsprechung kann sich nicht von den gesellschaftlichen Wertvorstellungen abkoppeln. Das Verhältnis von Recht und gesellschaftlichen Wertvorstellungen kann deshalb nicht konfliktfrei sein, was bedeutet: je stärker und dynamischer sich im gesellschaftlichen und politischen Bereich Werte wandeln und verändern, desto stärker wächst der Anpassungsdruck auf Recht und Rechtsprechung. Juristisch gesehen stellt sich auch hier zunächst (1.) ein Kompetenzproblem; es geht um Zulässigkeit, Umfang und Grenzen der Rechtsfort54 55 56

BVerfGE 39, 1–95 – juris Rn. 133. BVerfGE 88, 203–366. Vgl. hier etwa die Kritik von H. Dreier 1993, S. 62.

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bildung und -änderung durch die Gerichte. Es geht zum anderen (2.) um die inhaltlichen Grenzen, die solchen Anpassungen durch die Verfassung gesetzt sind. (1.) Ob und inwieweit ein Gesetzgeber auf (neue) gesellschaftliche Konfliktlagen und rechtliche Regelungen reagiert, die nicht mehr im bisherigen Maße akzeptiert werden, hängt davon ab, ob die jeweilige Parlamentsmehrheit eine Änderung für opportun hält und sich auf eine konkrete Regelung einigen kann. Der Richter dagegen muss entscheiden. Gerade nach der »Adenauer Ära« war das Problem des »Alterns der Kodifikationen« besonders ins Bewusstsein getreten. In der viel zitierten Soraya-Entscheidung hat das BVerfG 1973 dazu die Feststellung getroffen, dass »mit zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen Gesetzesbefehl und richterlicher Einzelfallentscheidung notwendig die Freiheit des Richters zur schöpferischen Fortbildung des Rechts (wächst)«. 57 Nach dieser Entscheidung ist mit der Funktion von Rechtsprechung auch der Grundsatz vorgegeben: »Dem Richter kommt die Aufgabe und die Befugnis zu ›schöpferischer Rechtsfindung‹ und Rechtsfortbildung zu«. 58 Der Streit um die gleichwohl zu beachtenden verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung ist damit freilich erst eröffnet. 59 (2.) Die inhaltlich-materielle Grenzziehung scheint demgegenüber, ohne noch prinzipielle Fragen klären zu müssen, leichter möglich. Auch die Rechtsprechung ist an die Grundrechte gebunden und wenn es auch hier keine zeitungebundenen, allgemein akzeptierten Lösungen gibt, so kann doch eine rechtliche Grenze immer gezogen werden. – Erinnern wir uns aber der Eingangsfeststellung: Akzeptierte Werte können auch Unwerte sein und akzeptierte rechtliche Regelungen ganz und gar inakzeptabel. Und die historische Erfahrung hat gelehrt, dass Rechtsordnungen die Werte, auf denen sie aufbauen, nicht selbst garantieren können. Der »verfassungsrechtliche Normenbestand und die in ihm beschlossene Wertordnung« scheinen oft eine sichere Grundlage zu sein: vor Zeiten erkämpft und auch in Zukunft unumstößlich. Wenn jedoch gesellschaftliche Grundkonsense zerbrechen, sind auch vorher als sicher geglaubte Werte schnell entwertet oder umgewertet. Die Geschwindigkeit und der Erfolg, mit der nach 1933 die deutsche Rechtsordnung einem solchen Um57 58 59

BVerfGE 34, 269–293. BVerfGE 34, 269–293, Orientierungssatz 4. Ausführlich Kap. 20 V.

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8 · Kohärenz und Akzeptanz

wertungsprozess unterzogen werden konnte, hat das auf fürchterliche Weise deutlich werden lassen. Nach 1933 erwiesen sich nicht zuletzt die Generalklauseln und »Schleusenbegriffe« wie »Gemeinwohl«, Sittenwidrigkeit« etc. – von speziellen NS-Formeln: »Wille des Führers«, »gesundes Volksempfinden«, »Bedürfnisse der Volksgemeinschaft« u. ä. 60 ganz abgesehen – als höchst taugliches methodisches Mittel, die Rechtsordnung zum nationalsozialistischen Machtinstrument umzubauen. B. Rüthers hat das in seiner grundlegenden Schrift von 1968 auf den Begriff der »unbegrenzten Auslegung« gebracht und beschrieben. 61 Und aus dieser Perspektive wird auch die 1974 von Böckenförde formulierte grundlegende Kritik an der »Werttheorie« des BVerfG verständlich. »Die grundrechtlichen Freiheiten«, so sein Einwand, würden mit der Wertinterpretation der Grundrechte »im Ergebnis dem Zugriff des jeweils vorherrschenden – und im 20. Jh. erfahrungsgemäß schnell wechselnden – gesellschaftlichen Wertebewusstsein ausgesetzt«. 62 Dieser Kritik ist zuzugeben, dass die Wertinterpretation der Grundrechte auch zu einer Dynamisierung ihrer Schutzbereiche führt. Doch wie zu Recht gegen Böckenfördes Einwände vorgebracht wurde, gewährleistet auch die Theorie der Grundrechte als Abwehrrechte keineswegs sichere, vorausbestimmbare Interpretationsprozesse. 63 Die Offenheit, Beweglichkeit und Dynamik der »Wertordnung« bedeuten andererseits aber auch keine Instrumentalisierbarkeit zu beliebigen Inhalten. Die zentralen verfassungsrechtlichen Organisationsbestimmungen, Verfahrensregeln, Grundprinzipien und Grundrechte bilden ein Normgefüge, das zwar Verschiebungen in ihrem Kräfteparallelogramm zulässt. Es fügt sich aber nicht jeder Wertewandel kohärent ein. Man kann Art. 79 Abs. 3 GG als Verbürgung dieser Kohärenz sehen. Für den methodischen Zugriff eines faschistischen »Wertebewusstseins« wäre das GG nicht offen. 64 Insoweit ist auch »der Charakter des rechtlich Vorausliegenden (nicht) entfallen«. 65 Vgl. die Übersicht bei M. Stolleis 1994, S. 23 f. Grundlegend dazu B. Rüthers 1968. 62 E. W. Böckenförde NJW 1974, 1529, 1534, und Ders. 1976b, S. 234. Kritisch dazu etwa H. Dreier 1993, S. 54 ff. 63 Vgl. etwa die Beispiele bei H. Dreier 1993, S. 61 Fn. 260. 64 Siehe die Abgrenzungen in BVerfGE 2, 1–79 – SRP-Urteil vom 23. 10. 1952 – juris Rn. 37. 65 E. W. Böckenförde NJW 1974, 1529, 1534. 60 61

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B · Kohärenz und juristische Methode

Vor allem darf man aber nicht vergessen: Für die Analyse des nationalsozialistischen »Rechtssystems« spielte die Methodik der »unbegrenzten Auslegung« nicht die wesentliche, sondern wohl nur eine »akzessorische« Rolle. Die Ausrichtung der gesamten Staatsorganisation auf die NS-Ideologie und das »Führerprinzip« machten auch vor der Justiz, der Justizverwaltung und den Grundsätzen der richterlichen Unabhängigkeit nicht halt. Die »Gleichschaltung der Länder mit dem Reich« 66 führte 1934 zur völligen »Überleitung der Rechtspflege auf das Reich«. 67 Weitere Schritte waren die Einführung von Sondergerichten 68 und die Organisation der Gerichtsverwaltungen nach dem »Führerprinzip«. Das erlaubte, die Richter nach ihrer Gesinnung an die »richtigen« Stellen zu setzen. Schon gleich nach der Machtergreifung gab das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 in § 3 die Grundlage für die Entlassung von Richtern »nicht arischer Abstammung« und in § 4 die Möglichkeit, Richter aus dem Dienst zu entlassen, »die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten«. Nicht ohne Rückhalt in einer antidemokratisch und antiliberal eingestellten Richterschaft 69 hat man sich also Akzeptanz vor allem dadurch verschafft, dass man missliebige Richter entließ, herausdrängte oder umsetzte und sie, vor allem in Führungspositionen, durch bekennende Nationalsozialisten ersetzte. 70 Es sind also, wie das Beispiel der Machtergreifung auch zeigen sollte, nicht die methodischen Instrumentarien, die bestimmen, mit welchen Rechtswerten juristische Methoden Recht ermitteln. Entscheidend sind vielmehr, wie schon im 1. Teil (A) betont, die organisatorischen und institutionellen Rahmenbedingungen, in die eine Rechtsprechung eingebettet ist. Was 1933 geschah, war eine Zerstörung des Rechts über die Zerstörung der Rechtskultur und der sie tragenden Interpretationsgemeinschaft(en). 71 – Und in dieser Zerstörung liegt auch die Berechtigung, von »tiefstem Unrecht« zu spreSo paradigmatisch der Titel des ersten »Vorläufigen Gesetzes zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich«, Reichsgesetzblatt 1933 I, S. 153–154. 67 Reichsgesetzblatt 1934 I, S. 1214. 68 Vgl. die VO Reichsgesetzblatt 1933 I, S. 136–138 u. 1935 I, S. 4. 69 Vgl. etwa M. Stolleis 1994, S. 9 f., 23. 70 Zur Veranschaulichung am Beispiel Hamburgs W. Johe 1967, S. 64 ff. 71 Zu den unzähligen abfälligen Äußerungen der NS-Größen über Juristen vgl. B. Rüthers 1968, S. 104 ff. 66

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8 · Kohärenz und Akzeptanz

chen. Denn wenn der »Ausnahmezustand« 72 zum Normalzustand und »Mein Kampf« zum Ziel erklärt werden, um so Staat und Gesellschaft unter der Blankovollmacht »Not kennt kein Gebot« regieren zu können, und im inneren Zusammenhang damit das Prinzip menschlicher Gleichheit prinzipiell aufgegeben wird, wird Recht prinzipiell negiert.

VIII. Akzeptanz, Konsens, Institutionen – die verfassungsrechtliche Perspektive Im vorigen Abschnitt habe ich Akzeptanz zunächst ganz allgemein als das Ergebnis eines sozio-kulturellen Prozesses beschrieben und dabei das Augenmerk vornehmlich auf die mentalen Momente gelenkt. Spätestens im Zerrspiegel des NS-Regimes wurde jedoch deutlich, wie stark Akzeptanz- und Methodenfragen auch und wesentlich institutionelle Fragen sind. Es sind Institutionen, die aufgrund ihres »Institutionenvertrauens«, ihrer akzeptierten Legitimität und letztlich auch ihrer Macht, ihre Vorstellungen gegebenenfalls auch durchsetzen zu können, Akzeptanz erzeugen. 73 Akzeptanz ist also nicht nur ein deskriptiv zu fassender Tatbestand, sondern auch – und dies ist für die juristisch-methodische Sicht entscheidend – eine Frage verfassungsrechtlicher Kompetenzen. Es sind die verfassungsrechtlich legitimierten Entscheidungen und Normsetzungen, die zu akzeptieren sind. Für das Verständnis der Grundthese, um deren Begründung und Entfaltung es in diesem Kapitel geht, bedeutet dies, dass die gesetzlichen Normen und die Prinzipien der Verfassung den »Norm- und Prämissenrahmen« bilden, den der Richter als Grundlage für die Ableitung und Begründung seiner Rechtsentscheidung zu akzeptieren hat. Gelöst ist das Akzeptanzproblem damit jedoch zunächst nur, soweit es die Ausgangsprämissen der Rechtsermittlung betrifft. Bei jedem Akt der Auslegung kann sich erneut die Frage der Akzeptanz stellen. Einige Standardfragen: Kann ein Gesetz, das vor mehr als hundert Jahren erlassen wurde, auch heute noch uneingeschränkt »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«, C. Schmitt, Politische Theologie 1923, S. 11. 73 Nachlesenswert dazu immer noch die Ausführungen G. Jellineks zur »normativen Kraft des Faktischen« in seiner Staatslehre 1928/1959, S. 337 ff. 72

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B · Kohärenz und juristische Methode

Akzeptanz verlangen? Hat der Richter die Vorstellungen, die sich je nach politischer Situation zwischen dem Kaiserreich und heute bei der Formulierung einer noch anzuwendenden Norm durchsetzten, auch heute noch zu akzeptieren? Ist die Absicht des Gesetzgebers zu akzeptieren oder nur sein Normtext? Oder kann statt der entstehungszeitlichen Vorstellung nur das »entscheidungszeitliche« Verständnis des Gesetzes Akzeptanz beanspruchen – nicht zuletzt weil nur dieses aktualisierte Verstehen die Akzeptanz der Entscheidung auch vermitteln kann? Angesprochen sind damit die bekannten Streifragen um die »richtige« Auslegungsmethode, also insbesondere um die »subjektive« oder »objektive« Norminterpretation wie auch das verfassungsrechtliche Problem der Rechtsfortbildung. Sie werden Thema des Kapitels 20 sein. In unserem Zusammenhang von Akzeptanz, Institution und Verfassung interessiert die Frage, bei welcher Institution die verfassungsrechtliche Legitimation liegt, wenn verbindliche »Wertfestlegungen« zu treffen sind. Demokratietheoretisch kann es eigentlich nicht zweifelhaft sein, dass die primäre Legitimation, im Streit der Meinungen, Interessen und Weltanschauungen Wertentscheidungen zu treffen und normativ festzulegen, beim Parlament liegt. Nicht als Kompetenzfrage, sondern als Frage nach praktischer Konkordanz und richterlicher Zurückhaltung gestellt: Kann demgegenüber eine vom BVerfG getroffene Abwägungsentscheidung, die zu einem anderen Ergebnis kommt und sie verfassungsrechtlich festschreibt, per se mehr Akzeptanz verlangen als ein vom Parlament gefundener Konsens? Konkretisieren und verdeutlichen – wenn auch nicht lösen – lässt sich das Problem an der oben schon zitierten 2. Entscheidung des BVerfG zu Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs. 74 Hier hatte das Parlament nach offener Diskussion und freier Abstimmung über die Fraktionen hinweg einen Konsens gefunden. Das BVerfG hielt diesen Kompromiss für verfassungswidrig und hat ihn durch seine eigene Wertentscheidung ersetzt. Auch sie wurde – mit Mehrheit – im Konsens gefunden, der je nach Zusammensetzung des Senats auch anders hätte ausfallen können. 75 Aus klar abgeleiteten Wertungsvorgaben ergab sich die Entscheidung je-

BVerfGE 88, 203–366. Sowohl im Sinne einer strengen Indikationslösung als auch einer Zurückweisung der Anträge.

74 75

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8 · Kohärenz und Akzeptanz

denfalls nicht. 76 Methodisch ist sie ein Schulbeispiel für eine inkohärente Ableitung. Das betrifft zunächst die Abwägungsebene. Wenn für die Menschenwürde gilt, dass sie »jeder Abwägung von vornherein unzugänglich ist«, 77 fügt es sich in diesen Grundsatz nicht ein, die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG mit dem Persönlichkeitsrecht der Schwangeren abzuwägen. Auch die Lösung ist nicht stimmig. Als Grundsatz formuliert, würde diese lauten: Eine rechtswidrige und schuldhafte Tötungshandlung ist dann straflos, wenn sich der Täter vor der Tat einem formalisierten Beratungsverfahren unterzieht. Es ist augenscheinlich, dass es weder verfassungsrechtliche noch strafrechtliche Satzsysteme gibt, in die sich ein solcher Grundsatz kohärent einfügen würde. Die Frage nach der zu akzeptierenden Legitimation stellt sich zum anderen bei dem Problem, ob und inwieweit Richterrecht zu akzeptieren ist. Folgt man der Grundkonzeption, nach der Methode als Herstellung von Kohärenz zu verstehen ist, lässt sich als Ausgangsthese formulieren: Ein Richter, der eine Gesetzesnorm jeweils nur mit dem Zusatz akzeptiert: »aber allein in der Auslegung, die ich für richtig halte«, negiert die grundlegenden Vorgaben, die er – als Determinanten der Rechtserkenntnis – bei der Einordnung des Falles in das Recht zu beachten hat. Normen bedürfen der Auslegungs- und Anwendungsregeln. An diese hat sich der Richter zu halten. Eine Norm zu akzeptieren, heißt, sie zunächst grundsätzlich auch mit dem Verständnis zu akzeptieren, mit dem sie bisher ausgelegt wurde. Wie im Teil D zu erörtern sein wird: Der »Hypertext Recht« (Kap. 17 IV.) und dogmatische Satzsysteme (Kap. 18 III.) geben hier die Strukturen und die Wortverwendungsregeln (im Ergebnis: die Inhalte) des Denkraumes vor, in dem sich der Richter auf dem Weg zu einer kohärenten Rechtsermittlung bewegen muss. Die Überlegungen zu Recht und Sprache (Kap. 17) werden im Übrigen zeigen, dass der Inhalt einer Gesetzesnorm von ihrer Auslegung nicht zu trennen ist. Was wir üblicherweise die Rechtsordnung nennen, ist also nicht nur die Summe der gesetzlichen Normtexte, sondern das Gefüge, das aus diesen Texten und ihren Auslegungen erwächst; 78 der

Zu der fast unübersehbaren literarischen Auseinandersetzung mit dem Urteil siehe die Nachweise bei H. Dreier, in Ders. 2013, Bd. I, Art. 1 I Rn. 70 ff., 87, dessen aaO. formulierten Kritik ich mich der Sache nach im folgenden Text anschließe. 77 BVerfGE 129, 208–268 – juris Rn. 257 m. V. auf BVerfGE 109, 279 (318 f., 322). 78 In diesem Sinne vgl. bereits K. Engisch 1935/1987, S. 8 ff. 76

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B · Kohärenz und juristische Methode

»Hypertext Recht« und die dogmatischen Satzsysteme und Rechtsfiguren sind untrennbare Elemente dieses Gefüges, ja durch sie wird es vielfach erst strukturiert. In diesem Zusammenhang werden wir dann auch der Struktur der »Rechtsordnung« nachzugehen haben – ist »das« Recht selbst so strukturiert, dass es als kohärentes System gedacht werden kann? (Kap. 19)

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Teil C Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

Thema dieses Teils ist der »Sachverhalt«. Wie wird er ermittelt? Wird er »erkannt« oder konstruiert? Wann ist er »richtig«? Eine sehr abstrakte Antwort auf diese Fragen ist bereits gegeben worden: Auch die Herstellung des Sachverhaltes ist Herstellung von Kohärenz. Im Folgenden ist konkret darzulegen, was diese These für die richterliche »Sachverhaltsarbeit« praktisch bedeutet. Dazu bedarf es aber angemessener theoretischer Zugänge und diese müssen für die Sachverhaltsermittlung erst erschlossen werden. Anders als bei der Rechtsfindung stehen wir hier vor einer besonderen Situation. Wer sich bei der Rechtsermittlung vor methodische Probleme gestellt sieht, ist in Gestalt der Auslegungs- und Subsumtionsregeln mit Grundvorgaben vertraut und kann selbst für spezielle Fragen meist auf Ergebnisse einer theoretischen Diskussion zurückgreifen. Für die Sachverhaltsermittlung können wir das in der Regel nicht. Sie gilt als natürlicher Erkenntnisvorgang und methodisch unproblematisch; der zu beurteilende Sachverhalt ist aus dem Vorbringen der Parteien entweder nach den Grundsätzen der Amtsermittlung oder nach den Regeln über die Darlegungs- und Beweislastverteilung zu erschließen. Mit der Frage, wie die Sachverhaltsarbeit methodisch zu strukturieren ist, betreten wir weitgehend Neuland. Der Ausgangspunkt für eine solche Strukturierung scheint klar: Der Richter muss seiner rechtlichen Beurteilung den »wahren« Sachverhalt, die »richtigen« Feststellungen zugrunde legen. Doch schon bei kurzem Nachdenken und Nachfragen verliert diese Ausgangsthese ihre Klarheit und Eindeutigkeit. Wie »wahr« und »wirklich« kann ein »Sachverhalt« sein – kann er überhaupt ein »Abbild«, eine Feststellung, wie es wirklich gewesen ist, sein? Oder müssen wir akzeptieren, dass wir die Sachverhaltsarbeit methodisch nur strukturieren können, wenn wir uns damit begnügen, ihn als »Konstrukt« zu verstehen? Ob »Abbild« oder »Konstrukt« ist zum einen eine theoretische 155 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

Frage, die nicht ohne Rückgriff auf die philosophischen Wahrheitstheorien diskutiert werden kann. Sie kann augenscheinlich aber auch nicht ohne Rücksicht auf Vorgaben des Prozessrechts beantwortet werden. Entsprechend folgt nach einem einleitenden Kapitel 9 in Kapitel 10 eine Auseinandersetzung mit den beiden genannten Perspektiven – der philosophischen und der prozessrechtlichen. Am Beispiel des Zeugenbeweises werden dann auch Begründung und Ergebnis anschaulich: Der Sachverhalt kann nur als Konstrukt verstanden werden (11. Kap.). Dies führt zu einer weiteren theoretischen Frage: Wie haben wir uns die Verknüpfung von Indizien oder, allgemeiner, von Informationen zu Sachverhaltsfeststellungen vorzustellen und wann sind diese Verknüpfungen »richtig«? Um diese Fragen beantworten zu können, lässt es sich nicht vermeiden, sie in die allgemeine erkenntnistheoretische Diskussion einzuordnen (Kap. 12). Denn über die Konstruktion des Sachverhaltes zu reden, heißt vor allem auch, sich darüber klarzuwerden, mit welchen Prozessen wir es eigentlich zu tun haben, wenn wir von »Beweiswürdigung«, »Gesamtschau«, »Gesamtwürdigung« und »richterlicher Gewissheit« sprechen. Um diese Vorgänge in den Kap. 13 und 14 näher bestimmen zu können, müssen wir auf eine erkenntnistheoretische Basis zurückgreifen können, die als philosophische Position zwar nicht unstreitig sein kann, aber nachvollziehbar sein muss. – Wir haben es mit komplexen Informationsverarbeitungsprozessen zu tun, die in der Regel nicht als lineare, logisch eindeutig bestimmte Prüfprogramme ablaufen. Zu verstehen sind diese Vorgänge nur als – oftmals intuitiv ablaufende – Prozesse, 1 in denen aus einer Vielzahl unterschiedlichster Informationen ein stimmiges, d. h. kohärentes Gesamtbild gewonnen werden soll. Die entscheidende Frage ist deshalb jeweils die nach der Art und Weise, wie diese Informationen verknüpft werden und welche Qualität diese Verknüpfung hat. Beruht sie auf begründeten oder kurzschlüssigen Annahmen, wird sie der Komplexität gerecht oder verletzt sie das Gebot der »Umfassendheit«? – Dies sind die entscheidenden Fragen, für die eine Methodik Kriterien entwickeln muss.

1

Näher dazu Teil E, Kap. 24.

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Kapitel 9 Der »Fall« als Gegenstand des »Erkenntnisprozesses«

Das gerichtliche Verfahren ist als »Erkenntnisprozess« 2 ein Verfahren, in dem sich der Richter immer auf zwei unterschiedlichen Ebenen bewegen muss – der des Seins (Sachverhalt) und der des Sollens (Rechtsfindung). Weil sich bei der Sachverhalts- und Rechtsermittlung deshalb die entscheidenden erkenntnistheoretischen Fragen unterschiedlich stellen, sind in der Darstellung die Probleme der »Sachverhaltserkenntnis« – Teil C – und die der »Rechtserkenntnis« – Teil D – zunächst jeweils getrennt zu behandeln. Zugleich müssen beide Ebenen aber auch immer zusammen gesehen werden. Sonst führt das schnell zu einer richtigen Rechtsfeststellung zum falschen Fall oder zu einem richtigen Fall mit falscher Rechtsfeststellung. Es ist also eine stetige Verzahnung zwischen beiden Ebenen notwendig und dazu bedarf es Prozesse der Vermittlung. Dies sind vor allem die Prozesse der Mustererkennung, die im Teil E eigens und eingehend zu thematisieren sind. Ziel ist es, auf diese Weise die unterschiedlichen Aspekte und Fragestellungen in der einheitlichen Perspektive des Erkenntnisverfahrens zusammenzuführen. Als Problem des »Fallverstehens« ist die notwendige Verzahnung hier aber schon einleitend anzusprechen (II.).

I.

»Wahrheitstheorien« und »Wahrheitsfindung«

Ist von »Wahrheitsfindung« die Rede, assoziiert der Prozessualist wie selbstverständlich die prozessualen Wahrheitsbegriffe, abhängig vor allem von den Verfahrensgrundsätzen und der Ausgestaltung der konkreten Prozessordnungen. Für den Erkenntnistheoretiker ver-

2

Vgl. Einl. III.

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C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

weist der Begriff dagegen auf das weite Feld der – philosophischen – Wahrheitstheorien. 3 Sehr vereinfacht lassen sich auf der philosophischen Ebene drei Ansätze unterscheiden, Ansätze, die in sich wieder auf unterschiedlichen Gründen beruhen und in unterschiedlichen Varianten vertreten werden. So werden sie etwa von Kant auch im Sinne von drei unverzichtbaren Momenten eines komplexen Wahrheitsbegriffes verstanden 4, während die heutige Diskussion in ihnen demgegenüber eher drei konkurrierende Wahrheitstheorien sieht. Zunächst aber sind die drei wesentlichen Kriterien einfach und einleuchtend: Wahr ist, • was mit der Wirklichkeit übereinstimmt (Korrespondenzoder Abbildtheorie). Eine ihrer klassischen Formulierungen stammt von Thomas von Aquin (De veritate 1,2): »veritas est adaequatio intellectus et rei« (Angleichung/Übereinstimmung von Verstand und Sache/Gegenstand); • was von allen vernünftigen Gesprächspartnern anerkannt wird, worüber alle übereinstimmen (Konsenstheorie). Von besonderem Gewicht – insbesondere in der deutschen Diskussion – ist hier die Variante der Diskurstheorie von Habermas; • was sich widerspruchslos mit den übrigen Aussagen eines Systems zusammenfügen bzw. in diese Aussagen einordnen lässt (Kohärenztheorie). Auf diese »Wahrheitstheorien«, die an dieser Stelle zunächst nur kurz zu benennen waren, werden wir zurückkommen. Denn an dem Problem, wie wir zu Erkenntnissen und Aussagen kommen, die wir als »wahr« bezeichnen können, kann eine Methodenlehre nicht vorbeigehen. Zuvor müssen wir uns aber über den Fokus klarwerden, der es uns erlaubt, die Tauglichkeit dieser Theorien für die spezifische »Wahrheitsfindung«, die das Gericht zu leisten hat, zu überprüfen. Dieser Fokus liegt im »Fall«; d. h. in der prozessualen Situation, in der sich die Wahrheitstheorien auch als »tools for handling« bewähren müssen.

Einen Überblick über die »Wahrheitstheorien« geben: L. Kreiser u. P. StekelerWeithofer in: Enzyklopädie (2 Aufl.) Stichwort: Wahrheit/Wahrheitstheorien, S. 2927 ff.; L. B. Puntel 1993; K. Gloy 2004; eine gute Textauswahl gibt G. Skirbekk 1977. 4 Vgl. O. Höffe 2003, S. 158 ff. 3

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9 · Der »Fall« als Gegenstand des »Erkenntnisprozesses«

II.

Die Perspektive des Falls

Am Anfang eines Lehrbuches steht das System, jedenfalls der Gedanke, das zu erschließende Rechtsgebiet möglichst als Einheit in einem systematischen Zusammenhang zu erfassen; am Anfang der gerichtlichen Praxis steht der Fall – genauer das durch Klage, Antrag oder Anklage in Gang gesetzte Verfahren. Dieses ist das für die Methode der richterlichen Praxis entscheidende Konstitutiv. Im Zentrum einer so vom Verfahren her verstandenen juristischen Methodik stehen drei Grundfragen: Wie »erkennt« das Gericht den Sachverhalt, wie »erkennt« es das Recht und wie sind die beiden Erkenntnisprozesse verzahnt? Diese sind keine parallelen, streng zu trennenden Erkenntnisvorgänge, sondern es handelt es sich um verzahnte Prozesse. Wir haben es mit drei Operationsebenen zu tun: • der Ebene der »Sachverhaltserkenntnis«, • der Ebene der »Rechtserkenntnis«, • der Verzahnung und Verknüpfung beider Erkenntnisvorgänge, die insgesamt nur als ein dynamisches Gefüge zu begreifen sind. Gleichwohl müssen wir den Versuch machen, sie analytisch zu trennen, und das in zweifacher Hinsicht: Zum einen ist dieser Erkenntnisprozess in seinen unterschiedlichen Phasen der rechtlichen und tatsächlichen Beurteilung sowie der Verknüpfung von Rechts- und Tatsachenfragen zu beschreiben und zu analysieren. Ich gehe dabei von einem (sehr vereinfachenden) Phasenmodell aus. Entscheidend für dieses Phasenmodell ist das Fallverstehen durch Mustererkennung. 5 In allen diesen Phasen sprechen wir von »Erkenntnis«, d. h., es sind die mit den verwendeten Erkenntnisbegriffen verbundenen Wahrheitsvorstellungen zu analysieren und gegebenenfalls zu trennen. Es ist zu fragen, inwieweit die mit einem erkenntnistheoretischen Begriff gemeinte »Erkenntnis« mit der »Rechtserkenntnis« oder der »Sachverhaltserkenntnis« des Richters identisch ist, sich deckt oder sich vielleicht grundsätzlich von jener unterscheidet. Anders gewendet: Wenn es darum geht, ob die im Gerichtsverfahren aufgestellten Behauptungen wahr sind oder der Tatvorwurf zutrifft, das Gericht also vor der Aufgabe der »Wahrheitsfindung« steht, ist die »Wahrheitsfindung« des Richters dann identisch mit einer Wahrheitsfindung im Sinne der beschriebenen Wahrheitstheorien?

5

Darauf ist im Teil E ausführlich und im Zusammenhang einzugehen (Kap. 22 I. 2.).

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C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

Im Alltagsverständnis und im Prozessalltag scheint die Antwort sowohl einfach als auch selbstverständlich zu sein: Man vergleicht die Tatsachenbehauptungen mit der Realität und wenn diese übereinstimmen oder, mit anderen Worten, korrespondieren, ist damit unserem intuitiven Verständnis von Wahrheit entsprochen. In der philosophischen Diskussion bezeichnet man diese Vorstellungen von Wahrheit, wie gesagt, als Korrespondenz- oder Abbildtheorien. Aus dieser theoretischen Sicht formulierte etwa der Prozessrechtler Blomeyer ganz selbstverständlich als These: »Das Urteil kann nur dann gerecht ausfallen, wenn der vom Gericht festgestellte Sachverhalt der Wirklichkeit entspricht«. 6 Die »Wahrheitsfindung« vollzieht sich nach dieser Vorstellung schlicht durch einen (ordentlich durchgeführten) Vergleich zwischen einer Behauptung und der Realität. Mit diesem Alltagsverständnis wird die Korrespondenztheorie, soweit das juristische Schrifttum zu dieser Frage überhaupt eine Position bezieht, auch heute noch weitgehend vorausgesetzt. 7 Die zitierte Formel: »Das Urteil kann nur dann gerecht ausfallen, wenn der vom Gericht festgestellte Sachverhalt der Wirklichkeit entspricht«, betrifft zunächst nur die »Tatseite«. Folgt man einer Korrespondenz- oder Abbildtheorie, kann für das »Recht« jedoch kaum etwas anderes gelten. Korrespondierend für die »Rechtsfindung« müsste die Formel dann lauten: »Das Urteil kann nur dann gerecht ausfallen, wenn die vom Gericht festgestellte Rechtslage dem wirklichen Recht entspricht.« Für beide Varianten lässt sich die Kernfrage auf einen Nenner bringen: Können wir einen Gegenstand (eine »Tatsache« oder einen »Rechtssatz«) so erkennen, wie er an sich ist, oder verhält es sich mit dem richterlichen »Erkennen« so einfach leider doch nicht? Trotz dieser Parallelität ist es, wie schon dargelegt, sinnvoll, die Fragen: wie »erkennt« das Gericht den Sachverhalt und wie »erkennt« es das Recht, getrennt zu behandeln. Es wird dadurch zwar zu Überschneidungen in den Gedankengängen kommen und diese werden uns am Ende auch zu parallelen Ergebnissen führen. Nur so ist es aber möglich, die erkenntnistheoretischen Fragestellungen auf die gerichtliche Praxis hin zu fokussieren und die Probleme nicht nur auf einer abs-

Blomeyer 1985, S. 111. Zur Übersicht vgl. F. Stamp 1998, S. 37 ff. für den Strafprozess und M. Brinkmann 2005, S. 6 für den Zivilprozess.

6 7

160 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

9 · Der »Fall« als Gegenstand des »Erkenntnisprozesses«

trakten theoretischen Ebene, sondern aus der prozessualen Perspektive heraus zu analysieren. Insbesondere für die »Sachverhaltserkenntnis« ist diese Konkretisierung unabdingbar.

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Kapitel 10 Philosophische Wahrheitstheorien und prozessuale Wahrheit

Wer an der Sichtweise, den Inhalten und dem Ergebnis einer Theorie keinen Zweifel hat, hält schnell diese Theorie auch für »die« Wahrheit. Wem es um kritische Auseinandersetzung mit Theorien geht, tut allerdings gut daran, Theorien erst einmal nur als »tools for handling« 8 zu verstehen, als Modelle, Formen oder Beobachtungswerkzeuge zur Erfassung dessen, was wir Realität, Wirklichkeit oder Lebenssachverhalt nennen. So wird auch deutlich, dass deren Tauglichkeit nicht abstrakt zu bestimmen ist, sondern von der Tiefenschärfe abhängt, mit der wir ein Problem konkret beobachten müssen, das wir begreifen und lösen wollen. »Erkennen« heißt zunächst, mit unseren Sinnen Reize aufnehmen und sie zu Informationen verarbeiten. Das sind kognitive Vorgänge, die Gegenstand der Kognitionspsychologie, der Neurowissenschaften und auch der Sozialpsychologie sind. Wir haben uns damit bereits in den Kapiteln 5, 6 und 8 beschäftigt und werden besondere Aspekte dazu im weiteren Verlauf unserer Überlegungen zur Sachverhaltsfeststellung, Rechtserkenntnis und Mustererkennung vertiefen. Mit der Frage, wie das Gericht den Sachverhalt »erkennt«, ist aber nicht nur nach den kognitiven Mechanismen der richterlichen Wahrnehmung gefragt. Das Ziel der »Wahrnehmung« ist mit dem Wort selbst schon vorgegeben: Es gilt, »etwas für wahr nehmen« zu können. Analysieren wir unsere Wahrnehmungsprozesse, müssen wir uns allerdings klarmachen, dass wir selbst einfachste Selbstverständlichkeiten nicht »erkennen«, wenn unser Gehirn in einem internen Abgleich der Wahrnehmungen nach richtig/falsch nicht ständig automatisch mitlaufend Korrekturen vornehmen würde. Soweit solche Mechanismen, die unser Gehirn unbewusst mitlaufend zur »Realitätssicherung« einsetzt, in Rede stehen, müssen und können uns

8

Vgl. dazu im allgemeineren Zusammenhang Strauch 2000, S. 1027.

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10 · Philosophische Wahrheitstheorien und prozessuale Wahrheit

diese hier nicht eingehender beschäftigen. 9 Zu thematisieren sind aber die bewussten Wertungen, die der Richter vornimmt, wenn er Informationen zum Sachverhalt als richtig – falsch, wahr – unwahr, Tatsache – Irrtum, zutreffend – unzutreffend, bewiesen – nicht erwiesen bewertet. Auf dieser Stufe des Erkennens befinden wir uns dann auch auf der Ebene, auf der die »Wahrheitstheorien« die entscheidenden Kriterien zu liefern hätten, und damit wieder bei der Grundfrage: Sind deren Ansätze in der spezifischen Situation des gerichtlichen Prozesses in gleicher Weise anwendbar wie in der philosophisch-erkenntnistheoretischen Diskussion um die Wahrheit? Konkreter: Ist die Feststellung, das »Urteil kann nur dann gerecht ausfallen, wenn der vom Gericht festgestellte Sachverhalt der Wirklichkeit entspricht«, wirklich eine theoretisch sinnvolle Aussage? Oder versperrt eine »Abbildtheorie« so nur den Zugang zu den Problemen, die sich für einen pragmatisch-prozessualen Wahrheitsbegriff in der Praxis stellen?

I.

Wahrheitsfindung – Verfahrensrecht – Kohärenz

Werfen wir einen kurzen Blick auf die Praxis: Wenn der Richter der Wahrheit einer bestrittenen Behauptung nachgeht, wird er dies tun, indem er überprüft, ob sie den Tatsachen »entspricht«. Aber liefern Zeugenaussagen, Augenscheinseinnahmen, also die Gegenstände der Beweisaufnahme, deshalb Abbilder der Wirklichkeit? Kommt es darauf an, ob der Zeuge 10 oder 50 Meter vom Unfallgeschehen entfernt war oder ob Bäume die Sicht behinderten und der Zeuge eigentlich nichts hätte sehen können (wir werden auf eine solche Situation zurückkommen), wird das Gericht die genaue Entfernung oder den Umstand einer durch Bäume unbehinderten Sicht ins Protokoll aufnehmen. In diesem Sinne verstanden, waren »Protokollsätze« auch ein Schlüsselwort des logischen Empirismus (ca. 1920 bis 1950). Sie sollten die sichere Grundlage für eine empirisch sichere WirklichZu den unbewusst mitlaufenden »Wirklichkeitskriterien« vgl. G. Roth 1996, S. 321 ff. Für den Bereich unbewusster Bewegungskontrollen gilt hier das Reafferenzprinzip, ein Regelprinzip, welches es dem Zentralen Nervensystem ermöglicht, erwartete Reize auszublenden. Aufgrund des Reafferenzprinzips lässt sich erklären, warum zum Beispiel bei einer Augenbewegung die Umwelt unbeweglich wahrgenommen wird, obwohl die Vorgänge auf der Netzhaut sich nicht von einer Bewegung der Umwelt unterscheiden.

9

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keitserkenntnis schaffen. In der philosophischen Diskussion hat sich dieser Ansatz freilich recht schnell als zu kurzatmig und nicht »verifizierbar«, letztlich als »unrealistisch« erwiesen. 10 Jede sinnliche Beobachtung ist subjektiv; Gewissheit kann sie nur für den eigenen Eindruck, die eigene Feststellung bieten. Und jede Verknüpfung von Beobachtungen zu Geschehensabläufen ist, wie bereits jede Verallgemeinerung, keine beobachtbare Tatsache mehr. 11 Das, was sich im Gerichtssaal als Tatsache darstellt, ist deshalb nicht »die« Wirklichkeit, kein Abbild, das man in »Protokollsätzen« sicher und zweifelsfrei fixieren könnte. Bender/Nack/Treuer haben zum Indizienbeweis als Regelbeweis diese Sicht so formuliert: »In der Alltagssprache bezeichnet man als »Indizienprozess« Beweisführungen mit Sachbeweisen und Zeugen, die die Tat nicht unmittelbar wahrgenommen haben. Derartige Prozesse werden als besonders schwierig und problematisch angesehen. Damit werden sie von Beweisführungen mittels Augenzeugen abgegrenzt, obwohl auch mit diesen nur ein mittelbarer Beweis geführt werden kann. – Richtig ist indessen, dass nahezu jeder Beweis vor Gericht nur ein mittelbarer Beweis ist.« 12

Bei jedem Zeugen etwa müssen wir uns fragen: Hat er die Sache wirklich so gesehen? Hat er sie überhaupt gesehen? Ist er glaubwürdig? Das »Wahrnehmen« ist hier ein ständiges Urteilen. Es sind keine unmittelbaren Beobachtungen, die in »Protokollsätzen« festgehalten werden. Festgehalten werden Schlussfolgerungen. Es kam daher nicht von ungefähr, dass aus der Diskussion um die »Protokollsätze« im Wiener Kreis die Diskussion um die sog. Kohärenztheorie der Wahrheit hervorgegangen ist. Aus dem Blickwinkel des Gerichtssaales: Jede Beweiswürdigung ist der Versuch, die vorhandenen Informationen in einen – stimmigen – Zusammenhang zu bringen. Wir werden auf diesen theoretischen Ansatz ausführlich zurückkommen (Kap. 11). Aber es gibt gegen die Tauglichkeit der Korrespondenz- oder Abbildtheorie auch einen grundsätzlichen Einwand. Und dieser folgt unhintergehbar aus dem gerichtlichen Prozess als einem rechtlich geregelten Verfahren selbst; adäquat wird die Prozesssituation auch durch die Konsenstheorie nicht erfasst (III.). Soweit Methodenfragen erkenntnistheoretische Fragen sind, sind sie deshalb zunächst immer auch Verfahrensfragen (II.). Diese können 10 11 12

Ergänzend zu den Nachweisen in Kap. 8 V.: H. Poser 2001, S. 73 ff., 104 ff. Zum Begriff »Tatsache« in diesem Zusammenhang: G. Patzig 1996, S. 9 ff. Bender/Nack/Treuer 2007, S. 145, auch im Original fett hervorgehoben.

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nicht unabhängig von der prozessualen Situation beantwortet werden.

II.

Die »Wahrheit« – ein prozessrechtlicher Begriff

Wissenschaftliches Erkenntnisverfahren bedeutet nach unserem Wissenschaftsverständnis, Art und Weise des Vorgehens und die zu verwendenden Mittel frei wählen zu können. Im gerichtlichen Erkenntnisverfahren gilt dieser Grundsatz aber gerade nicht. Begrenzungen ergeben sich hier nicht nur aus methodischen Standards. Die freie Wahl des Verfahrens und der Erkenntnismittel – und damit auch die Methode der »Wahrheitsfindung« – ist vielmehr durch das jeweilige Prozessrecht prinzipiell beschränkt. Das »erkennende Gericht« kann das Verfahren und die Erkenntnismittel nur im Rahmen der Vorgaben der Verfahrensordnung bestimmen. Ist der Strengbeweis 13 vorgegeben, darf das Gericht keineswegs alle Erkenntnisquellen, die ihm zur Verfügung stehen, zur Klärung der beweisbedürftigen Tatsachen heranziehen. Werden diese Vorgaben nicht beachtet, berührt das grundsätzlich auch die »Richtigkeit« des Ergebnisses. Das gerichtliche Verfahren ist ein weitgehend formalisiertes Verfahren; die Richtigkeit des Ergebnisses ist deshalb immer auch eine Frage der Einhaltung der wesentlichen Verfahrensregeln – und erst sekundär eine Frage materieller Richtigkeit. Verfahrensmangel und die absoluten Revisionsgründe sind dazu die bekannten Stichworte. 14

1.

Verhandlungsmaxime – Amtsermittlung

Nur folgerichtig ist auch der Wahrheitsbegriff zunächst allein prozessrechtlich zu fassen. Es sind die Prozessordnungen, die – mit ihren jeweils unterschiedlichen Ausprägungen der Verhandlungsmaxime oder der Amtsermittlung 15 – in den unterschiedlichen Graden zwischen (nur) »formeller« und nachgewiesener »materieller Wahrheit« den Wahrheitsbegriff bestimmen. Der im Zivilprozess weitgehend geltende Verhandlungs- oder – anschaulicher – Beibrin13 14 15

Vgl. etwa §§ 244 – 256 StPO. Vgl. § 547 ZPO, § 338 StPO, § 138 VwGO, § 119 FGO. Diese ist z. B. im Verwaltungsprozess weniger stark ausgeprägt als im Strafprozess.

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gungsgrundsatz bedeutet die grundsätzliche Herrschaft der Prozessparteien über den Prozessstoff, über den Umfang der Beweisaufnahme und über die Wahrheit der Tatsachen. Einzelheiten interessieren dabei nicht, wichtig ist das Fazit: Das Postulat, dass der vom Gericht festgestellte Sachverhalt der Wirklichkeit entsprechen muss, kann kein entscheidender Maßstab für die Beurteilung der Richtigkeit einer Entscheidung sein. An dieser Grundfeststellung ändert sich auch nichts, wenn die Prozessstrukturen durch den Untersuchungsgrundsatz geprägt sind, wie dies, mit unterschiedlichen Ausgestaltungen, etwa für Ehesachen, § 606 ZPO, für die öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten und den Strafprozess gilt. Die öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten statuieren ausdrücklich, dass die Beteiligten bei der Erforschung des Sachverhaltes von Amts wegen heranzuziehen sind, § 86 Abs. 1 VwGO, § 103 SGG, § 76 FGO. Diese Mitwirkungspflicht führt zugleich auch zu Einschränkungen der Ermittlungspflicht 16. Und naturgemäß haben die zur Mitwirkung Verpflichteten nicht die »Wahrheit« im Auge, sondern die Version der Geschichte und der Dinge, mit der sie ihren Interessen am besten gedient sehen. Vor allem kann das Gericht den Sachverhalt grundsätzlich nur innerhalb des Prozessstoffes ermitteln, den die Parteien – auch wenn nur in Anhaltspunkten – vortragen oder den das Gericht aus eigener Sachkenntnis ergänzend in das Verfahren einführen kann. Die Grenzen werden hier, etwa unter dem Gesichtspunkt der »ungefragten Nachprüfung«, durchaus kontrovers diskutiert 17. Unstreitig ist aber: Auch der Untersuchungsgrundsatz machte eine Klage nicht zu einem Forschungsauftrag. Im Strafprozess entfällt zwar naheliegenderweise die Mitwirkungspflicht, der Richter bewegt sich aber auch hier nicht auf einem freien Feld der Forschung nach Wahrheit, sondern im (begrenzten) Rahmen einer »Wirklichkeit«, die er (nur) mit den Mitteln und den Maßstäben des Prozessrechts ermitteln kann.

Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. § 86 Rn. 5 d; 11 ff. Zum Grundsatz der sog. »ungefragten Fehlersuche« vgl. BVerwGE 116, 188–197, sowie H. Sendler, DVBl 2002, 1412–1414; S. Gatz, jurisPR-BVerwG 1/2007 Anm. 6. Eine notwendige Ergänzung gibt BVerwG, Beschluss vom 03. Juli 2013 – 9 B 5/13 –, juris Rn. 6. Siehe auch BSGE 116, 42–54.

16 17

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2.

Präklusion – oder »die Gerechtigkeit wartet nicht«

Dass es für die Beurteilung der Richtigkeit einer Entscheidung eines eigenständigen Maßstabes bedarf, machen auch die Präklusionsvorschriften deutlich. Sie finden sich nicht nur im Zivilprozess, 18 sondern auch in den öffentlich-rechtlichen Prozessordnungen, die auf die Amtsermittlung ausgerichtet sind. 19 Nur dem geltenden Strafverfahrensrecht sind sie fremd und wären verfassungsrechtlich auch kaum zu rechtfertigen. 20 Die geltenden Vorschriften, die die Möglichkeiten und Voraussetzungen regeln, ein Vorbringen als verspätet zurückzuweisen, haben, wie es der BGH formulierte, das Ziel, »eine abschließende Klärung des zwischen den Parteien bestehenden Streits in angemessener Zeit zu fördern«. 21 Der Gesetzgeber begrenzt auf diese Weise zwar das rechtliche Gehör. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG gewährt Art. 103 Abs. 1 GG aber keinen Schutz dagegen, dass das Gericht das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des materiellen oder formellen Rechts unberücksichtigt lässt. Er kann das »im Interesse der Verfahrensbeschleunigung« tun. 22 »Allerdings müssen solche Vorschriften dann wegen der einschneidenden Folgen, die sie für die säumige Prozesspartei nach sich ziehen, strengen Ausnahmecharakter haben«; diesen sieht das BVerfG jedenfalls dann als gewahrt an, »wenn die betroffene Partei ausreichend Gelegenheit hatte, sich in den ihr wichtigen Punkten zur Sache zu äußern, dies aber aus von ihr zu vertretenden Gründen versäumt hat«. 23 Während es bei den Regeln über die Sammlung des Prozessstoffes darum geht, in welchem Umfang, in welchen Formen und mit welchen Erkenntnismitteln das Gericht die »Wahrheitsfindung« betreiben darf, sollen die prozessrechtlichen Präklusionsvorschriften »die Partei anhalten, zu einem bereits vorliegenden Tatsachenstoff

Vgl. §§ 282, 296, 530, 531 ZPO. Vgl. z. B. §§ 87 b, 128 a VwGO; §§ 79 b, 121 FGO; §§ 106 a, 157 a SGG. 20 Vgl. BVerfG 2. Senat 2. Kammer, B. v. 06. 10. 2009 – 2 BvR 2580/08 – NJW 2010, 592–596. 21 BauR 2005, 1959. 22 Vgl. BVerfGE 55, 72 (93 f.); 66, 260 (264). 23 BVerfGE 69, 145–150, m. Hinweis auf BVerfGE 36, 92 (97 f.); 54, 117 (124); 55, 72 (94) und für den Ausnahmecharakter auf BVerfGE 59, 330 (334); 60, 1 (6); 62, 249 (254); 63, 177 (180); 66, 260 (264); st.Rspr. 18 19

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rechtzeitig vorzutragen«. 24 Zu Lasten einer säumigen Prozesspartei werden so allerdings nicht nur das rechtliche Gehör begrenzt, sondern auch Informationsmöglichkeiten, die evtl. Wesentliches zur »Wahrheitsfindung« beitragen könnten. Die Legitimation dafür gründet, wie gesagt, »im Interesse der Verfahrensbeschleunigung« 25 und dieses Argument verweist auf einen kategorialen Unterschied zwischen epistemischer, wissenschaftlicher Wahrheitssuche und prozessualer Wahrheitsfindung. Er liegt in der zeitlichen Dimension. Weder die Korrespondenz- oder Abbildtheorie noch die Konsenstheorie lassen Raum für einen Hinweis darauf, dass mehr Zeit für die »Wahrheitsfindung« nicht vertretbar gewesen sei. Ihr Wahrheitsbegriff verträgt keine pragmatischen Begrenzungen. Dem gerichtlichen Verfahren ist der Anspruch der Beteiligten – und auch der Allgemeinheit – auf eine baldmöglichste Konfliktlösung dagegen immanent. Der französische Philosoph Jacques Derrida hat dafür die schöne Formulierung gefunden: »die Gerechtigkeit wartet nicht« und die Aporie, die sich dahinter verbirgt, unter der Überschrift »Die Dringlichkeit, die den Horizont des Wissens versperrt« beschrieben. 26

III. Korrespondenz- und Konsenstheorie – untaugliche »tools for handling« Für unsere erkenntnistheoretische Fragestellung – unter welchen Voraussetzungen können wir sagen, eine Aussage ist wahr, und nach welchen Kriterien können wir die Antwort überprüfen – hat uns das Prozessrecht zur entscheidenden Grundposition geführt: Eine Antwort darauf, ob der einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegte Sachverhalt »richtig« oder »falsch« ist, kann nicht losgelöst von der Prozesssituation gegeben werden. Die Beurteilung der »Richtigkeit« eines Sachverhaltes ist unhintergehbar an eine solche – konkrete – prozessuale Situation gebunden. Anders gesagt: Es gibt keinen Standort außerhalb des Prozessgeschehens, den ein Beobachter 27 einBGHZ 170, 252–260 – juris Rn. 7. Vgl. BVerfGE 55, 72 (93 f.); 66, 260 (264). 26 J. Derrida 1996, S. 53. 27 Die Begriffe »Beobachtung«, »Beobachter« haben zentrale Bedeutung in der Systemtheorie Luhmanns. Darauf kann hier näher nicht eingegangen werden. Zum Problem der »Selbstbeschreibung des Rechtssystems« bei Luhmann siehe Ders. 1995, S. 496 ff. 24 25

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nehmen könnte, um einen festgestellten Sachverhalt »objektiv« beurteilen zu können. Damit wird zugleich ein grundsätzlicher Unterschied zwischen einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis und der Feststellung eines Sachverhaltes im Erkenntnisverfahren deutlich. Für die Beurteilung einer naturwissenschaftlichen Aussage spielt es keine Rolle, woher sie stammt oder wie man zu ihr gekommen ist. Der »Entstehungszusammenhang (context of discovery)« hat, so eine naturwissenschaftliche Grundposition, »mit dem Begründungszusammenhang (context of justification) nichts zu tun«. 28 Eine naturgesetzliche Aussage muss sich im Experiment jederzeit wiederholbar an der Wirklichkeit der Natur messen lassen – d. h. unabhängig von Zeit und Ort. Feststellungen zum Sachverhalt oder gar der Sachverhalt selbst sind dagegen unlösbar an Ort und Zeit ihres »Entstehungszusammenhangs« gebunden. Anders als aus der »aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung«, so etwa § 108 Abs. 1 VwGO, gibt es keine Grundlage für den Sachverhalt.

1.

Korrespondenz- oder Abbildtheorie

Diese spezifische Abhängigkeit der Sachverhaltsfeststellung von der prozessualen Situation bedeutet, dass es eine »objektive«, von der Prozessperspektive ablösbare »Wirklichkeit« als Maßstab für eine »Sachverhaltswirklichkeit« im Erkenntnisverfahren nicht geben kann. Zwar mag für einzelne Tatsachen, wie die oben angeführten Beispiele zur Feststellung von Entfernungen, messbaren Größen oder des Todes eines Tatopfers, die Korrespondenztheorie jedenfalls unserem Alltagsverständnis entsprechen. Ein Sachverhalt ist jedoch nicht die additive, logisch zwingende Einheit solcher Feststellungen, sondern der Sinn-Zusammenhang, in den der Richter diese Tatsachen gebracht hat. Wie der Sachverhalt näher zu charakterisieren ist, wird in den Kapiteln 13 und 14 darzulegen sein. Zunächst haben unsere Überlegungen nur gezeigt, dass mit der Abhängigkeit der Sachverhaltsfeststellung von der Prozesssituation den Wahrheitstheorien, die an die »Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem wirklichen Geschehen« anknüpfen oder »Erkenntnis« mit Abbildung der Wirklichkeit gleichsetzen, der Boden entzogen ist. 28

H. Poser 2001, S. 112.

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2.

Konsenstheorie der Wahrheit

Wenn es um die Frage geht, ob der einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegte Sachverhalt »richtig« oder »falsch« ist, werden wir auch nicht bei einer Konsenstheorie der Wahrheit ansetzen können, wie Habermas sie – gegen die Korrespondenztheorie – 1972 in einem Aufsatz mit dem Titel »Wahrheitstheorien« 29 entwickelt und dann in seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« (1981) und in »Faktizität und Geltung« (1992) ausgebaut und immer weiter differenziert hat. Das letztgenannte Werk thematisiert, wie der Untertitel deutlich macht, seine »Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates«. Die rechtstheoretische Diskussion hat diese Ansätze vielfach aufgenommen 30 und deshalb kann sie auch in unserem Kontext nicht übergangen werden – zumal im Kontrast die Eigenart des Gerichtssaals als »Kommunikationsraum« besonders deutlich wird. Zunächst zu den Grundbausteinen der Diskurstheorie (soweit sie für das gerichtliche Verfahren von unmittelbarer Bedeutung sind): »Wahrheit« ist für Habermas »ein Geltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, indem wir sie behaupten«. 31 Solche Geltungsansprüche verbinden wir nicht nur mit Aussagen mit dem Blick auf Sachverhalte, sondern auch in Bezug auf Normen. 32 Werden diese Aussagen hinsichtlich »Wahrheit« oder »Richtigkeit« in Frage gestellt, werden also erhobene Geltungsansprüche problematisiert, kommt es darauf an, ein Verfahren zu finden, das der Begründung (oder der Abweisung) problematisierter Geltungsansprüche dient. Und an dieser Stelle führt Habermas dann unter dem Stichwort »Diskurs« die »durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation ein, in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden«. 33 In dieser Skizze vermag der Jurist auf Anhieb Strukturen und Funktionen des gerichtlichen Verfahrens zu erkennen. Auch im ProJ. Habermas 1995, S. 127 ff. Zum Einstieg siehe U. Neumann 2008, S. 248 ff. und andererseits die Aufsätze, die J. Habermas im Anschluss an »Faktizität und Geltung« in: Die Einbeziehung des Anderen, Ders. 1999b, veröffentlicht hat, jeweils mit Nachweisen. 31 J. Habermas 1995, S. 129. 32 J. Habermas 1995, S. 128, 137. 33 J. Habermas 1995, S. 130. 29 30

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zess werden problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und es gilt, sie in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auf ihre Berechtigung hin zu untersuchen. Die Frage ist aber, ob die Struktur und die Diskursregeln, die Habermas seiner Konsenstheorie der Wahrheit zugrunde legt, auch der »gerichtlichen Wahrheitsfindung« adäquat sind. Folgt man dem theoretischen Ansatz von Habermas, kann ein Diskurs die Funktion, Wahrheit zu ermitteln, nur erfüllen, wenn dieser bestimmte Bedingungen erfüllt. Wesentlich ist eine ideale Sprechsituation, in der Kommunikation weder durch äußere Einwirkungen noch durch Zwänge behindert wird, die sich aus der Kommunikation selbst ergeben. 34 Habermas formulierte dazu vier methodischen Regeln, die als Bedingungen einer idealen Sprechsituation eingehalten werden müssen: Alle potentiellen Diskursteilnehmer müssen 1. jederzeit Diskurse eröffnen und diese durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort fortsetzen können (kommunikative Sprechakte); 2. die gleichen Chancen haben, Deutungen, Behauptungen, Empfehlungen, Erklärungen und Rechtfertigungen aufstellen sowie deren Geltungsanspruch problematisieren, begründen oder widerlegen zu können (konstative Sprechakte); 3. Einstellungen, Gefühle und Wünsche ausdrücken und damit ihre innere Natur offenlegen können, um sich als Diskussionsteilnehmer ihrer eigenen Wahrhaftigkeit versichern zu können (repräsentative Sprechakte) und 4. die gleiche Chance haben, regulative Sprechakte zu verwenden, d. h. zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, Versprechen zu geben und abzunehmen, Rechenschaft abzulegen und zu verlangen. 35 Mit jedem der vier unterschiedlichen Sprechakte verbindet sich jeweils ein bestimmter Geltungsanspruch: Der allgemeine Sinn, die Verständlichkeit wird durch die kommunikativen Sprechakte vermittelt. Dem Geltungsanspruch der Wahrheit entspricht der konstative Sprechakt. Wahrhaftigkeit wird durch den repräsentativen (oder sich selbst als Person darstellenden) Sprechakt angestrebt. Mit dem Geltungsanspruch der Richtigkeit korrespondiert der regulative Sprechakt. Nach Habermas’ eigenen Bemerkungen waren es die rechtstheoretischen Überlegungen von R. Alexy, die ihn veranlasst haben, die 34 35

J. Habermas 1995, S. 177. J. Habermas 1995, S. 177 f.

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für die Moral entwickelte Diskurstheorie auch auf das Recht auszudehnen. 36 Dieser Schritt, das Diskursprinzip auch für »juristische Diskurse« zu »operationalisieren« 37 hat, wie gesagt, eine breite theoretische Diskussion ausgelöst. Es fehlt aber eine klare Antwort auf die Vorfrage: Können wir überhaupt von dem juristischen Diskurs als einer einheitlich bestimmbaren Form ausgehen? 38 So gibt es den rechtswissenschaftlichen Diskurs (der allerdings durch sehr unterschiedliche Interessen geleitet sein kann), die gerichtlichen Beratung (wobei zu unterscheiden ist, ob mit oder ohne Laienrichter) oder im Prozess den Streit um Rechts- und Tatsachenbehauptungen (oft untrennbar verwoben). Ein – auch nach eigenen Beobachtungen – hervorzuhebendes Beispiel ist die »Verschränkung des institutionalisierenden Rechtsverfahrens mit einem Argumentationsprozess« 39 bei bestimmten Formen der Beratung. Wenn es in einem Spruchkörper mit mehreren Berufsrichtern »gut läuft«, dann sind dies die Beratungen, die durch die Situationen einer »idealen Sprechsituation« geprägt sind. Doch mitgedacht bleibt selbst in solchen Momenten – von der »Beurteilungsmacht« des Vorsitzenden einmal ganz abgesehen –, dass am Ende eine Abstimmung nach Regeln, §§ 196,197 GVG, stehen wird, wenn sich ein Konsens nicht einstellt, wobei im Hintergrund immer mehr oder minder deutlich die schon zitierte »Dringlichkeit, die den Horizont des Wissens versperrt« 40, steht. Doch der entscheidende Punkt liegt nicht in solchen Momenten, sondern in dem grundsätzlichen, strukturellen Unterschied zwischen (auch juristischem) Diskurs und gerichtlichem Prozess. Ursprünglich hatte Habermas den Prozess, die Gerichtsverhandlung nicht als kommunikatives Handeln, sondern als strategisches Handeln konzipiert. 41 Folgt man der Unterscheidung zwischen »kommunikativem Handeln« – gerichtet auf Verständigung – und »strategischem Handeln« – gerichtet auf das zielgerichtete Verwirklichen von Zwecken –, lässt sich in der Tat die Einordnung des Gerichtsprozesses als kommunikatives Handeln kaum nachvollziehen. BestimJ. Habermas 1999b, S. 366 mit Hinweis auf Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. 37 J. Habermas 1999b, S. 64. 38 Alexy 1983, S. 33 ff. bestimmt ihn als »Sonderfall« des rationalen praktischen Diskurses – dort aber nicht im unmittelbaren Anschluss an Habermas. 39 J. Habermas 1997, S. 219. 40 J. Derrida 1996, S. 53. 41 J. Habermas 1987, S. 62. 36

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mend für den Prozess ist der »Kampf ums Recht«, nicht die Verständigung im Recht. Der prägende Hintergrund ist nicht im sokratischen Dialog, sondern in Rache und Strafe, Gewalt und Gewaltmonopol zu suchen und zu finden. Der Gerichtssaal ist ein Kommunikationsraum, aber ein Kommunikationsraum eigener Art. Kommuniziert werden Geschichten, Tatsachen- und Rechtsbehauptungen, also Argumente, mit denen Rechtspositionen begründet oder zurückgewiesen werden sollen. Getragen sind sie keineswegs von Motiven »kooperativer Wahrheitssuche« als Bedingung einer idealen Sprechsituation, 42 sondern von der mehr oder minder manipulativen Absicht, auf die »Wahrheitssuche« des Richters Einfluss zu nehmen. Dieser muss sie als Argumente aufnehmen, sie in einen vorhandenen juristischen Argumentationsraum einordnen und sie dann – in den Entscheidungsgründen – argumentativ an die Parteien zurückspielen. Eingebettet ist dieser Argumentationsprozess in einen Kommunikationsprozess, der weder »zwanglos« noch unter »gleichen Teilnehmern« stattfindet. Er ist strukturell asymmetrisch. Die Akteure – die »potentiellen Diskursteilnehmer« – sind durch Interessen und durch das Prozessrecht auf unterschiedliche Rollen festgelegt. Kläger, Beklagter und Angeklagter habe ihre Prozessziele, die sie zu erreichen suchen. Bei der Staatsanwaltschaft ist es oft ein Schwanken zwischen der Rolle des öffentlichen Anklägers und der »objektivsten Behörde der Welt«. Und für den Richter gehört es nicht zur Wahrhaftigkeit seiner Rolle, dass er (in einem repräsentativen Sprechakt) deutlich macht, ob es ihm wesentlich auf ein gerechtes Urteil, einen gerechten Vergleich oder nur schlicht auf die Beendigung des Verfahrens ankommt, um es aus der Liste seiner Altverfahren streichen zu können. Als ein Ort des herrschaftsfreien Diskurses kann der Gerichtssaal mithin nicht verstanden werden. Der Prozess hat andere Regeln, Strukturen und Richtigkeitsbedingungen als die Konsenstheorie der Wahrheit. Nicht anders als über die Korrespondenztheorie können wir also auch über den Weg der Diskurstheorie und ihrer Bedingungen, Wahrheit prozessual zu bestimmen, 43 keine Kriterien für die Prüfung der »Wahrheit« eines vom Gericht festgestellten Sachverhaltes gewinnen. Offen bleibt so auch, wie sich aus Diskurs und Konsens der Schluss darauf ergeben soll, ob die Behauptung, die hinsichtlich eines Gegenstandes/Sachverhaltes aufgestellt wurde, richtig oder 42 43

J. Habermas 1987, S. 48. Vgl. J. Habermas 1999a, S. 49.

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falsch war, oder allgemeiner: wie und ob sich mit einer Konsenstheorie der Wahrheit überhaupt ein Gegenstandsbezug konstruieren lässt. 44 Um auf die Frage nach dem »richtigen« Sachverhalt eine Antwort zu finden, werden wir also nach einem anderen Ansatz suchen müssen.

Zu dieser Frage siehe die Kritik von K. Gloy 2004, S. 221 f. Grundsätzlich die Kritik von B. O. Küppers 2008, S. 172 ff.; er spricht ironisch von einer »Wahrheit, die im wahrsten Sinne des Wortes herbeigeredet wird«, S. 174.

44

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Kapitel 11 Der Sachverhalt als Konstrukt

Die bisherigen Überlegungen bestätigen zunächst nur, dass Versuche, dem »richtigen« Sachverhalt mit den beiden geläufigen Wahrheitstheorien beizukommen, kaum ergiebig sind. Wenn wir – als Beobachter eines Prozessgeschehens – beurteilen wollen, ob ein Gericht den Sachverhalt »richtig« festgestellt hat, können wir eine solche Frage immer nur im Blick auf die prozessuale Situation stellen. Es ist diese fachspezifische Beobachterperspektive, in die sich auch der Methodiker begeben muss, wenn es ihm darum geht, die für die Praxis relevanten »Wahrheits«- oder Richtigkeitskriterien zu entwickeln. Erst aus dieser Perspektive zeigt sich, warum wir den Sachverhalt nur als Konstrukt begreifen können (I.) und warum die Kriterien einer »erkenntnistheoretisch richtigen« Sachverhaltsfeststellung andere sind als die des Revisionsrechts (II. u. III.).

I.

»Der Ball war rot« – war der Ball auch tatsächlich rot? – die prozessrechtliche Perspektive

Prozesse beginnen mit Rechtsbehauptungen, die auf behauptete Tatsachen gestützt werden. Die Verteidigung besteht darin, diese Behauptungen zu bestreiten bzw. Gegenbehauptungen aufzustellen. Das Prozessrecht organisiert dieses Spiel von Behaupten und Bestreiten durch Regeln. Mit Habermas lässt sich das Gerichtsverfahren so als ein Verfahren beschreiben, das der Begründung oder der Abweisung problematisierter Geltungsansprüche dient. Nur werden die »problematisch gewordenen Geltungsansprüche« nicht in einem Diskurs »zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht« 45, der Vorgaben einer idealen Sprechsituation folgt, sondern nach den je eigenen Regeln der einzelnen Verfahrensordnungen. Da 45

J. Habermas 1995, S. 130.

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sind zunächst die Regeln zur Beweisführungslast in den Verfahren, die dem Beibringungsgrundsatz unterliegen, und dort, wo es keine Beweispflicht gibt, die Regeln, die die Amtsermittlung durch die Gerichte konkretisieren. Findet das Gericht auf die Frage, ob eine Behauptung »wahr« oder »falsch« ist, keine Antwort, so wird die »Wahrheitsfrage« zur Frage nach der Beweislast, also zu einer reinen, letztlich materiell-rechtlichen Rechtsfrage. Die »Wahrheitsfrage« erscheint aus dieser Sicht nur als prozessuales Problem. Aber bereits dann, wenn der Richter von seinem Fragerecht Gebrauch macht oder wegen der Wahrheitspflicht der Beteiligten oder seiner Amtsermittlungspflicht eine Behauptung nicht einfach stehen lässt, weil er weiß oder nur das Gefühl hat, »da stimmt etwas nicht«, stellt sich die Pilatusfrage: »Was ist Wahrheit?« auch inhaltlich. Ganz eindeutig natürlich dort, wo er eine Behauptung für nicht bewiesen hält und diese Einschätzung auch begründen, also Kriterien für dieses Urteil an der Hand haben muss. Es muss also zunächst darauf ankommen, aus einem prozessualen Blickwinkel diejenigen Momente im Verfahren herauszuarbeiten, in denen die »Wahrheitsfrage« Probleme aufwirft, die zu lösen üblicherweise Sache der Erkenntnistheorie ist. Zur Analyse dieser Probleme soll ein »Fall« dienen, in dem ein roter Ball ein Ereignis ausgelöst haben soll, dessen Folgen Gegenstand des Prozesses sind. Der Fall selbst soll im Dunklen bleiben. Es kommt nur darauf an, mit dem Versatzstück eines Falles – einem roten Ball – die Momente eines Verfahrens zu benennen, in denen es inhaltlich um den Geltungsanspruch einer Aussage als »wahr« geht, und in diesem Gedankenexperiment in fünf Schritten festzuhalten, in welcher Weise sich die »Wahrheitsfrage« dann stellt. (Und wenn für den Leser die Geschichte, Ereignis und Schaden, der durch den Ball verursacht wurde, offen bleibt, dann soll mit dieser Verkürzung zugleich die Verengung gespiegelt werden, mit der Richter in der Alltagspraxis oft in fataler Weise meinen, sich in ihrer Vernehmungspraxis nur auf die scheinbar allein relevante Tatsachenbehauptung konzentrieren zu können). (1.) Der Ausgangspunkt: Nach dem klägerischen Vortrag war das Schadensereignis entscheidend durch einen roten Ball verursacht worden. In der Beweisaufnahme ist die Aussage des Zeugen Z eindeutig: »Der Ball war rot«. – Diese Aussage kann richtig sein. Stimmen muss diese Aussage aber keineswegs: Der Zeuge kann farbenblind sein, eine Farbspiegelung nicht bemerkt haben, den roten Ball 176 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

11 · Der Sachverhalt als Konstrukt

mit einem anderen verwechselt haben, Erinnerungen durcheinandergebracht oder schlicht gelogen haben. Vielleicht existiert irgendwo auch eine Videoaufzeichnung, aus der sich ergibt, dass der Zeuge den Vorgang gar nicht beobachtet haben konnte – ja, dass ein roter Ball für das Schadensereignis überhaupt nicht entscheidend gewesen war. (2.) Wir haben es also mit vielfältigen Möglichkeiten zu tun, dass es entgegen einer klaren Aussage auch ganz anders gewesen sein könnte. Wie kann das Gericht unter diesen vielfältigen Möglichkeiten, dass eine Beweisaufnahme nicht die Wahrheit ans Licht bringt, sondern wenn nicht eine Falschaussage, so doch jedenfalls ein falsches Bild ergibt, sicher sein, dass es einen Sachverhalt »richtig« erfasst? Verlangen wir – im Sinne der Korrespondenztheorie –, dass »der vom Gericht festgestellte Sachverhalt der Wirklichkeit entspricht«, 46 kann die Antwort nur negativ ausfallen. Wie oben schon dargelegt, kann es diese Sicherheit einer objektiven Wahrheit nicht geben. Ob ein Sachverhalt »richtig« erfasst ist, ist eine Frage, die immer nur im Hinblick auf eine prozessuale Situation beantwortet werden kann. Bildlich gesprochen: Es können nur die Momente in die Konstruktion des Sachverhaltes einfließen, die in irgendeiner Form auf dem »Bildschirm des Prozessgeschehens« auftauchen und dann auch wahrgenommen werden. (3.) Fahren wir im Gedankenspiel fort und nehmen an, der Zeuge Z erschien glaubwürdig und weder einer der Beteiligten noch das Gericht hatten Zweifel an dieser Aussage: Dann ist der Ball für diesen Prozess rot und all die Möglichkeiten, dass es das Gericht mit einer unrichtigen Aussage zu tun hatte, ändern an diesem Ergebnis nichts. Das gilt selbst für den Strafprozess, in welchem dem Täter die Tat ja positiv nachgewiesen werden muss. Auch hier können nur die Tatsachen und Momente für Zweifel an diesen Tatsachen in die Konstruktion des Sachverhaltes einfließen, die – um die bildliche Formel zu wiederholen – in irgendeiner Form auf dem »Bildschirm des Prozessgeschehens« auftauchten und dann auch wahrgenommen wurden. Auch hier ist es eine prozessual geprägte Wahrheitsvorstellung, die für die richterliche Überzeugung entscheidend ist, nicht das auch theoretisch abgesicherte Wissen, dass es mit Sicherheit so war, wie dem Urteil zugrunde gelegt. In einer Entscheidung von 1951 hatte der BGH zur Beschreibung 46

A. Blomeyer 1985, S. 111.

177 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

des »Wesens« der richterlichen Überzeugung im Sinne des § 261 StPO folgende Formulierung gefunden: »Sie beruht, der Eigenart geisteswissenschaftlichen Erkennens gemäß, anders als das Ergebnis exakter, naturwissenschaftlicher Forschung nicht auf einem unmittelbar einsichtigen Denken, sondern auf dem Gewicht eines die Gründe klar abwägenden Urteils über den Gesamtzusammenhang eines Geschehens. Für sie ist es erforderlich, aber auch genügend, daß ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit besteht, dem gegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr laut werden können. Die bloße ›theoretische‹ oder ›abstrakte‹ Möglichkeit, daß der Angekl. nicht der Täter war, kann seine Verurteilung nicht hindern. Da eine solche Möglichkeit bei der Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnis nie ganz auszuschließen ist, wäre jede richterliche Wahrheitsfindung unmöglich. Diese Auffassung vom Wesen der freien richterlichen Überzeugung ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung stets vertreten worden.« 47 – In der Vorinstanz war der Angeklagte von dem Vorwurf der schweren Brandstiftung und des Versicherungsbetruges freigesprochen worden, weil das Schwurgericht es mit Rücksicht auf einen Teil der Zeugenangaben »theoretisch für möglich« gehalten hatte, dass der Brand an anderer als der vom Angeklagten in seinem Geständnis bezeichneten Stelle ausgebrochen sei »und daß nicht der Angeklagte den Brand gelegt hat«; es könne deshalb nicht mit »letzter Sicherheit« die volle Überzeugung von seiner Schuld gewinnen. (4.) Wenn in späteren Entscheidungen an die Stelle der Feststellung, dass die bloße »theoretische« oder »abstrakte« Möglichkeit, dass der Angeklagte nicht der Täter war, seine Verurteilung nicht hindern kann, vielfach die Überprüfung tritt, »ob der Tatrichter überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat«, 48 dann ist damit nur der dargestellte Grundgedanke anders beschrieben. Wesentlich für unsere weiteren Überlegungen ist der Maßstab der »Gewissheit«, auf den wir ausführlich im 14. Kapitel im Zusammenhang mit Fragen des Beweismaßes eingehen werden. Wenn dieser Maßstab, so wie er etwa in einem BGH-Urteil von 1957 umschrieben wurde, 49 als Grundlegung einer BGH, NJW 1951, 122 m. Hinweis auf RGSt. 61, 202 (202); 66, 164. BGH NStZ 2011, 648–650 m. w. N. auf st.Rspr. – juris Rn. 8.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 27. April 2010 – 1 StR 454/09, NStZ 2011, 108, 109, und vom 1. Februar 2011. 49 BGHSt 10,208 mit der Formulierung, dass es »für die Beantwortung der Schuldfrage allein darauf ankommt, ob der Tatrichter die Überzeugung von einem bestimm47 48

178 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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»subjektivistischen Beweiswürdigungstheorie« 50 gedeutet werden konnte, wird heute »vorausgesetzt, dass der Schuldspruch auf einer tragfähigen Beweisgrundlage aufbaut, die die objektiv hohe Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit des Beweisergebnisses ergibt«, wie es in einem Kammerbeschluss des BVerfG vom 30. 4. 2003 heißt. 51 Entsprechend prüft der BGH die Beweiswürdigung üblicherweise hinsichtlich folgender Ansätze: ob der Umfang und die Bedeutung des Zweifelssatzes verkannt sind, ob sie lückenhaft ist, ob sie widersprüchlich oder unklar ist oder ob sie gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. 52 Insbesondere sind die Beweise erschöpfend zu würdigen und das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. 53 (5.) Behalten wir diese Kriterien richtiger oder unzureichender Beweiswürdigung 54 im Auge und wenden uns wieder der Aussage des Zeugen Z zu. Gegen diese Aussage sind Einwände und Gegenbeweise, wie an den Beispielen gezeigt, in unendlicher Vielzahl denkbar. Es könnte etwa der Einwand kommen, es gäbe auf dem Markt gar keine roten Fußbälle. Es könnte auch ein Brief vorgelegt werden, in dem der Zeuge zusichert, falsch auszusagen. In beiden Varianten könnte die »Wahrheitsfrage« damit zunächst geklärt sein. In der Regel ergibt eine Beweisaufnahme jedoch keine so klaren Antworten. Erinnern wir uns hier nochmals an die schon zitierte Bemerkung von Bender/ Nack/Treuer, dass »nahezu jeder Beweis vor Gericht nur ein mittelbarer Beweis ist«. 55 Selbst mit dem Brief wäre bei genauerem Hinsehen die »Wahrheitsfrage« nur scheinbar geklärt. Der Zeuge könnte durchaus die Wahrheit gesagt haben, wollte sich aber vielleicht von dem Begünstigten für die richtige Aussage auch noch bezahlen lassen. Und wenn es, bei aller Seltenheit, doch rote Fußbälle gibt, käme ten Sachverhalt erlangt hat oder nicht; diese persönliche Gewissheit ist für die Verurteilung notwendig, aber auch genügend.« 50 Vgl. A. Schoreit 2008, Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, § 261 StPO Rn 4 h. 51 NJW 2003, 2444 f. – juris Rn. 36 – unter Hinweis u. a. auf BGH NStZ-RR 1996, S. 202 f. 52 BGH Urteil vom 10. 08. 2011 – 1 StR 114/11 – NStZ 2012, 110–111 – juris Rn. 11 m. Hinweis auf st.Rspr. 53 NStZ, 2011, 648–650. 54 Zum Beweismaß Kap. 14 III. 55 Bender/Nack/Treuer 2007, S. 145.

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C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

es etwa darauf an, ob der Schadensverursacher – entgegen seinen Beteuerungen – überhaupt mit einem roten Fußball gespielt haben könnte. Quod erat demonstrandum: Wir können diese Fäden möglicher Varianten des Versatzstückes »roter Ball« ins Unendliche weiterspinnen. Das aber zeigt, dass wir unser Gedankenspiel spätestens an diesem Punkt nicht sinnvoll weiter treiben können. Beweiswürdigung setzt Tatsachen voraus, die in Zusammenhänge eingeordnet sind und/oder in solche eingeordnet werden können. Für die Einschätzung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen ist es meist unerlässlich, wenigstens in entscheidenden Bezügen den sozialen Kontext zu kennen, in dem er zu den Prozessbeteiligten und zur Geschichte steht, über die gestritten wird. Man muss den Kontext kennen, in dem der Zeuge seine Beobachtungen gemacht hat. Der Richter muss eine Vorstellung von dem Handlungszusammenhang haben, der die Tat oder den Streitgegenstand ausmacht.

II.

Kohärenz einer Aussage und Nullhypothese

Das Stichwort »Zusammenhang« ist mithin ein Schlüsselwort für das Verstehen und die Analyse der kognitiven Vorgänge um die Beweiswürdigung. Es ist auch der entscheidende Terminus in den Regeln für die Zeugenvernehmung. Der Zeuge soll zunächst eben nicht punktuell auf das Versatzstück hin befragt werden, das der Richter für entscheidungserheblich hält, sondern der Grundsatz lautet: »Der Zeuge ist zu veranlassen, das, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang (Hervorh. d. Verf.) anzugeben« – § 69 Abs. 1 StPO und nahezu gleichlautend § 396 Abs. 1 ZPO. »Der Bericht ist das zentrale Erkenntnismittel für die Tatsachenfeststellung«, lautet deshalb auch nur folgerichtig der Kernsatz der Vernehmungslehre bei Bender/Nack/Treuer. 56 Dem Richter, der auf seine punktuellen Fragen mit Luther nur ein klares »ja, ja« oder »nein, nein« erwartet, bleibt für die Glaubwürdigkeitsprüfung in der Regel nur sein »Bauchgefühl«. Er wird sich – bewusst oder unbewusst – dann wohl auch an der »unausgesprochenen Beweisregel« orientieren, dass einem Zeugen mangels Anhaltspunkten für die Unrichtigkeit seiner Aussage regelmäßig zu glauben 56

Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 808 und ausführlich 811 ff.

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sei. Gegen einen solchen »Vertrauensbonus« einer Zeugenfeststellung hat sich der BGH jedoch zu Recht mit der Übernahme der »Nullhypothese« gestellt. 57 Sie bedeutet, dass jede Aussage so lange als unwahr zu gelten hat, bis sich diese Vermutung angesichts der Umstände nicht mehr aufrechterhalten lässt. Ihr »methodisches Grundprinzip besteht darin«, so der BGH, »einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst an, die Aussage sei unwahr (sog. Nullhypothese). Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, daß die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, daß es sich um eine wahre Aussage handelt.« 58

Die Umstände, aus denen die Hypothesen zu bilden sind, ergeben sich einmal aus der Aussage selbst, d. h. aus ihrem Zusammenhang. Nur wenn der Richter die Feststellungen, auf die es ihm ankommt, aus dem Kontext des (zusammenhängenden) »Berichts« würdigen kann, in den der Zeuge sie stellt, können sich für ihn die notwendigen Ansatzpunkte ergeben, um nach Umständen wie der Zahl und Qualität inhaltlicher Realitätskriterien und strukturellen Aussagekriterien eine Glaubhaftigkeitswürdigung vornehmen zu können. Auch die Chance einer ergiebigen Prüfung dieser Kriterien anhand von Tatsachen, die sich aus dem Prozess im Übrigen ergeben, wächst naturgemäß, je mehr es gelingt, den Zeugen das, was ihm bekannt ist, im Zusammenhang vortragen zu lassen. – Im Hinblick auf die erkenntnistheoretischen Überlegungen formuliert, auf die es für den »richtigen Sachverhalt« ankommt, heißt das: Der Richter kann nur aus dem Zusammenhang, dem »Inbegriff der Verhandlung«, Maßstäbe für die Kohärenz einer Aussage, also Kriterien für ihre »Richtigkeit« finden.

57 58

Grundlegend BGHSt 45, 164–182; für die ZPO: BGH, NJW 2003, 2527–2529. BGHSt 45, 164, 167 – juris Rn. 12.

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C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

III. Der »richtige« Sachverhalt – die revisionsrechtliche und die erkenntnistheoretische Perspektive Noch nicht beantwortet ist damit aber die oben gestellte Frage, wie es sich zum einen mit der revisionsrechtlichen Funktion und zum anderen mit der erkenntnistheoretischen Grundlage der richterlichen Überzeugung und des subjektiven Maßstabes der »Gewissheit« verhält. Der BGH hatte in der zitierten Entscheidung von 1951 zutreffend die »richterliche Überzeugung« auf das »Gewicht eines die Gründe klar abwägenden Urteils über den Gesamtzusammenhang eines Geschehens« bezogen und dieses Erkennen einem »Ergebnis exakter, naturwissenschaftlicher Forschung« gegenübergestellt. Es ist in der Tat dieser Unterschied zwischen dem Generieren eines Sachverhaltes einerseits und naturwissenschaftlicher Erkenntnis andererseits, der die Funktion dessen, was richterliche Überzeugung und Gewissheit ausmacht, plastisch und auch theoretisch verständlich werden lässt. Vereinfacht kann man ihn auf folgenden Nenner bringen: • Bei einer Realität, die naturwissenschaftlich erfasst und beschrieben wird, haben wir es mit einem objektiv verifizierbaren Gefüge von Tatsachen zu tun. Das bedeutet: Bei definierten Randbedingungen sind die Aussagen über dieses Gefüge sowohl unabhängig von der Person, die sie macht, als auch von der Situation, in der sie gemacht werden, richtig oder falsch. • Das Urteil eines Richters über den »Gesamtzusammenhang eines Geschehens« ist dagegen weder ablösbar von der prozessualen Situation, aus der heraus die Sachverhaltsfeststellungen getroffen werden, noch in der Weise intersubjektiv, dass auch jeder andere Richter bzw. Spruchkörper zu den gleichen Feststellungen gekommen wäre. Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen der tatrichterlichen »Überzeugung von einem bestimmten Sachverhalt« und naturwissenschaftlicher Gewissheit schließt nicht aus, dass es auch der Richter bei der Sachverhaltsgenerierung mit einem »objektiv verifizierbaren Gefüge von Tatsachen« zu tun haben kann, für das er aufgrund eigener Sachkenntnis oder aufgrund eines Sachverständigengutachtens Feststellungen zu treffen hat, die unabhängig von der prozessualen Situation jeder andere Sachkundige auch so getroffen hätte. Das än182 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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dert aber nichts daran, dass wir bei der Sachverhaltsgenerierung in aller Regel ein Urteil über den »Gesamtzusammenhang eines Geschehens« – also ein Konstrukt – zu beurteilen haben, das grundsätzlich weder situations- noch personen-unabhängig ist. In diese Ausgangsstruktur unserer Überlegungen passen sich die prozessualen Grundnormen, die den für die Feststellung des Sachverhaltes wesentlichen Vorgang der richterlichen Überzeugungsbildung zum Inhalt haben, nahezu nahtlos ein, etwa die Regelungen: • Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung (§ 261 StPO). • Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. – An gesetzliche Beweisregeln ist das Gericht nur in den durch dieses Gesetz bezeichneten Fällen gebunden (§ 286 ZPO). • Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (§ 108 VwGO). Diese normativen Grundlagen geben der Sachverhaltsfeststellung eine klare Struktur vor: Die Überzeugung ist aus dem »Zusammenhang« (oben in II. als Schlüsselwort bezeichnet) zu bilden; in den Formulierungen des Prozessrechts: aus dem »Gesamtergebnis«, »unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen«, dem »Inbegriff der Verhandlung«. Da eine Überzeugung immer auch an ein Subjekt gebunden ist – es ist die durch eigenes Urteil gewonnene Erkenntnis –, erhellt dies auch die Konsequenzen, die sich für das Revisionsrecht ergeben: • Der Revisionsrichter steht nicht in der prozessualen Situation des Tatrichters und kann seine Überzeugung nicht an die Stelle des Tatsachenrichters setzen, ohne selbst zum Tatrichter zu werden. • Gegenstand der revisionsrechtlichen Überprüfung kann nur sein, ob das »Urteil über den Gesamtzusammenhang eines Geschehens« auf einer tragfähigen Beweisgrundlage beruht, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wesentliche Tatsachen nicht oder unzureichend gewürdigt sind. 183 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

Gleichwohl: der routinierte Tatrichter kann eine Beweiswürdigung oder eine Sachverhaltsfeststellung bekanntlich auch »revisionssicher« machen. Oder grundsätzlicher: Wenn eine Sachverhaltsfeststellung revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, revisionsrechtlich also »richtig« ist, heißt das nicht, dass damit auch die Sachverhaltsfeststellung des Tatsachenrichters methodisch und inhaltlich richtig war. – Die Kriterien, mit denen wir als Beobachter der tatrichterlichen Sachverhaltsgenerierung diese aus der erkenntnistheoretischen Perspektive bewerten können, sind zwar in der Grundstruktur keine anderen als die revisionsrechtlichen, erfassen aber auch entscheidende Momente, die der revisionsrichterlichen Überprüfung entzogen sind. Von diesen erkenntnistheoretischen Kriterien wird im Folgenden zu handeln sein.

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Kapitel 12 Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

Dem Leser, der das vorstehende Gedankenspiel mit einer gewissen Aufmerksamkeit verfolgt hat, dürfte es immer wieder unterlaufen sein, dass er sich zu dem Versatzstück des »roten Balles« irgendwie eine Geschichte, einen Fall hinzugedacht hat. Ob es nun ein ärgerlicher Fußgänger gewesen sein mag, der einem Fußball einen Tritt gab, ein Vater, der auf sein ballspielendes Kind nicht aufpasste, oder ein Jugendlicher, der einen Fußball mit scharfem Schuss auf die befahrene Kreuzung kickte. Wir können eben nicht nicht interpretieren. Nur wenn wir ein solches Versatzstück in einen Vorgang, eine Geschichte einpassen können, können wir uns »einen Reim darauf machen«. Wir konstruieren zu einem solchen Versatzstück mit anderen Worten geradezu zwangsläufig eine »Realität«, in die es sich einfügt, in der es Sinn macht.

I.

Die erkenntnistheoretische Perspektive

Diese Ausgangsüberlegung mag vielleicht zunächst etwas herbeigezogen wirken. Jeder Richter, der eine Klageschrift liest, wird sich aber jederzeit genau bei diesem Vorgang beobachten können: Wie er – mitlaufend mit dem Lesen der Akte – dabei ist, sich ein Bild von dem Geschehensablauf zu machen, den er seiner Beurteilung zugrunde legen kann. Er bildet eine Sachverhaltshypothese, indem er dieses Bild auf seine juristischen Konsequenzen hin interpretiert – er sucht in dem Bild das passende rechtliche Muster. 59 Wesentliche Phasen und Bausteine der Sachverhaltsarbeit sind so aber nur beschrieben. Versuchen wir, diesen Beobachtungen eine Struktur zu geben, führt das wieder auf die oben schon eingeführten entscheidenden Begriffe

59

Näher zur Sachverhaltshypothese Kap. 22 I. 2.

185 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

der Kohärenz / des Zusammenhangs und der Konstruktivität 60 zurück. Doch wir müssen noch einen Schritt weiter gehen: Die Frage »Wie erkennt der Richter den Sachverhalt?« lässt sich nur beantworten, wenn wir uns der Mühe unterziehen, sie in die allgemeine erkenntnistheoretische Diskussion einzuordnen, und es gelingt, sie aus dieser Sicht so zu beantworten, dass sich daraus für die Methodik auch praktische Folgerungen ziehen lassen.

1.

Ausgangskriterien

Zur Konstruktivität: Der Sachverhalt soll die narrative Seite des Streitgegenstands erfassen. Der Richter generiert ihn aus den mitgeteilten, beobachteten und nachgefragten Tatsachen. Wesentlich für Auswahl und Fokussierung der Tatsachen ist einmal ihre Relevanz für den Sachverhalt als Grundlage für die rechtliche Beurteilung. Zum anderen müssen die Tatsachen zu einem Lebenssachverhalt gefügt werden, der als Geschichte bzw. als Beschreibung eines Vorganges stimmig ist. Mit dieser Stimmigkeit ist zugleich nichts anderes angesprochen als die These, dass der Sachverhalt kohärent sein muss. Dabei geht es hier darum, Kohärenz sowohl als Ziel der Sachverhaltskonstruktion als auch als Prüfkriterium zu verstehen, ob diese gelungen ist. Wie am Beispiel von Bewertungen von Zeugenaussagen – Stichwort: Nullhypothese – gezeigt, ist es für die Beurteilung der Wahrheit einer behaupteten Tatsache wesentlich, ob und wie sie sich in einen »Zusammenhang« einfügt. Umgekehrt muss auch die »Geschichte« in sich stimmig sein, d. h., sie muss sich daran messen lassen, ob sie mit allen Umständen, die zu Tage getreten sind, vereinbar ist. Im weiteren Verlauf unserer Überlegungen werden wir uns dann noch mit weiteren Kohärenzzusammenhängen beschäftigen: nämlich dem der Kohärenz zwischen Sachverhalt und Gründen (Kap. 26 II.) und den Kohärenzzusammenhängen, denen die Rechtsanwendung (im engeren Sinne) genügen muss (Kap. 26 IV.). In diesem Kapitel kommt es nur darauf an, die angesprochenen Grundbegriffe der Kohärenz und der Konstruktivität konkreter in die erkenntnistheoretische Diskussion einzuordnen, um sie dann auch mit konkreteren Kriterien zur Analyse der Sachverhaltsgenerierung nutzen zu können. 60

Näher zu diesem Begriff unten III.

186 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

12 · Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

2.

Notwendige Reduktion des Diskussionsstandes

Die erkenntnistheoretische Diskussion ist so komplex und unübersichtlich verästelt – sie erstreckt sich von den verschiedenen philosophischen Schulen über die Linguistik, die Psychologie und die Soziologie bis hin zu den Neurowissenschaften –, dass in unserem Zusammenhang nicht einmal ihre Grundzüge dargestellt werden können. 61 Ist man allerdings bereit, sich auf eine radikale Reduktion des Diskussionsstandes einzulassen, wird ein Funktionssystem von sechs Ansätzen deutlich, das bei aller Vielfalt in den theoretischen Ausgangspunkten und der Einschätzung dessen, was Erkenntnistheorie überhaupt zu leisten vermag, doch eine gewisse Grundstruktur erkennbar macht. So lässt sich ein Schema finden, von dem aus die erkenntnistheoretischen »Wahrheitsfragen« und Probleme, denen sich der Richter bei der Generierung des Sachverhaltes stellen muss, sowohl theoretisch eingeordnet als auch für die Praxis relevant diskutiert werden können.

II.

Die entscheidenden Ansätze: Subjektivität, Vermittlung und Intersubjektivität

Will man die Grundannahmen verstehen, die die erkenntnistheoretische Diskussion in der Moderne prägen, muss man sich zunächst von dem einfachen Subjekt-Objekt-Dualismus lösen, von allen Vorstellungen, die Erkenntnis auf eine unmittelbare Beziehung zwischen dem zu erkennenden (und als solches auch erkennbaren) Objekt – der Welt – und dem wahrnehmenden Subjekt – dem Ich – reduzieren. Wegweisend ist Kants berühmte Kopernikanische Wende, die er in seiner Vorrede zur »Kritik der reinen Vernunft« von 1787 als Hypothese so formulierte: »unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte[t] sich nicht nach diesen, als Dinge an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr, als Erscheinungen, richten sich nach unserer Vorstellungsart.« 62 Die Erkenntnistheorie nahm damit zum einen den entscheidenDie folgenden Hinweise können und sollen deshalb auch nicht den Diskussionsstand dokumentieren, sondern nur die für das Verstehen und die Analyse richterlicher Kognition notwendigen Diskussionszusammenhänge belegen. 62 Kant KrV B XX, S. 22. 61

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C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

den Perspektivwechsel auf die Subjektivität des Erkenntnisvorganges und der Erkenntnisbedingungen vor. 63 Es ging aber nicht nur darum, unsere Erkenntnis unhintergehbar als Leistung des erkennenden Subjekts zu erfassen, sondern auch darum, Erkenntnis zugleich entweder an eine dem Subjekt vorgegebene Realität oder – falls diese Möglichkeit aus grundsätzlichen Überlegungen verneint wird 64 – jedenfalls an Denkformen und Erkenntnisstrukturen zu binden, die unabhängig von dem Einzelnen sind. 65 In den Brennpunkt rücken mit diesem Perspektivwechsel die Vermittlungsprozesse zwischen dem erkennenden »Subjekt« und der »Realität«. Unsere Überlegungen müssen sich hierzu (metaphorisch gesprochen) auf die »Programme« richten, welche »unsere Vorstellung der Dinge« – und jetzt nicht nur im Sinne der kantschen Transzendentalphilosophie verstanden – hervorbringen, bilden und durch die sie geprägt werden. Zu untersuchen ist das »Dritte«, das diese Vermittlung übernimmt. Dieses »Dritte« – das »Vermittelnde« – hat viele Namen, nach denen sich auch die einzelnen Erkenntnistheorien unterscheiden. Dafür folgen sogleich Beispiele – für die es mir auch hier wesentlich nur auf die Funktion ankommt, die das »Vermittelnde« für unser Thema der »richtigen« Sachverhaltsermittlung hat.

1.

Zur Phänomenologie der Vermittlung

Für Kant wird »unsere Vorstellung der Dinge« entscheidend durch die Anschauungsformen von Raum und Zeit und die Kategorien geprägt – Erkenntnisformen, die nach Kant ebenso allgemeingültig wie erfahrungsunabhängig (a priori) gelten. Für Ernst Cassirer, den Kantianer und großen deutschen Erkenntnistheoretiker des 20. Jahrhunderts, konnte »Erfassung und Wiedergabe des Wirklichen« dagegen nur als Vermittlung über »selbstgeschaffene intellektuelle Symbole« 66 verstanden werden. Solch »symbolische Formen« waren für ihn: die Sprache, der Mythos, die Wissenschaft, die Kunst und auch Sandkühler/Pätzold 2003, S. 71. Ein wesentliches Ergebnis der kantschen Kritik war, dass man über das »Ding an sich« keine sinnvollen Aussagen machen kann. Exemplarisch ist heute der Streit zwischen dem Radikalen Konstruktivismus und naturwissenschaftlichen Perspektiven. 65 Zu nennen ist etwa Kant, aber auch die analytische Philosophie. 66 E. Cassirer 1953, S. 6/5. 63 64

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12 · Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

das Recht. Wesentliche »Medien der Vermittlung« sind so in Cassirers Untersuchungen bereits angesprochen oder angelegt: • die Sprache und Sprachphilosophie sowie die Linguistik; • die Semiotik, die wir heute u. a. mit den Namen Charles S. Peirce und Umberto Eco verbinden; • Mathematik und Logik; • Formen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und • die Strukturwissenschaften 67. Hegel hatte es in seiner »Phänomenologie des Geistes« (1807) unternommen, die »verschiedenen Gestalten des Geistes als Stationen des Weges« zum objektiven Wissen zu erfassen. Marx war es dann, der – Hegel vom Kopf auf die Füße stellend, wir er es selbst beschrieb – die »selbstgeschaffenen intellektuellen Symbole«, mit denen wir uns die Wirklichkeit erschließen, nicht mehr als »Gestalten des Geistes« begriff, sondern als Spiegelungen von Produktionsverhältnissen. Unabhängig von marxistischen Denktraditionen im engeren Sinn ist mit diesem Grundgedanken des Zusammenhangs von »Basis/Überbau«, von Denk- und Anschauungsformen und sozialer Wirklichkeit auch das Grundmuster wissenschaftssoziologischer Ansätze in der Erkenntnistheorie vorgeprägt. Zu nennen sind hier vor allem: • die Thesen über die »gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« von Berger und Luckmann. 68 Zentrale Gedanken verdankt deren Wissenssoziologie den Arbeiten von Alfred Schütz über die Strukturen der Lebenswelt. Dessen Ansätze sind wiederum entscheidend, um • Phänomene wie Alltagswissen, Alltagstheorien und allgemeine Erfahrungssätze auch theoretisch in den Blick zu bekommen. Sie liegen zwar kaum im Blickfeld der akademischen Erkenntnistheorie, spielen aber im gerichtlichen Erkenntnisverfahren eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wir können nicht nicht interpretieren, war unsere Ausgangsüberlegung, und es macht insofern keinen Unterschied, ob wir die Welt mit Hegels »verschiedenen Gestalten des Geistes« erfassen oder mit unseren Alltagstheorien. Denn »auch im Alltag theoretisieren wir im

Zum Zusammenhang von Strukturwissenschaften und Cassirer B. O. Küppers 2000; zu den Grundgedanken der Strukturwissenschaften B. O. Küppers 2008, S. 313 ff. u. passim. 68 Vgl. ihre gleichnamige Schrift von 1966 (5. Aufl. 1977). 67

189 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

weitesten Sinne alle und immer«. 69 Der berühmte Satz Nietzsches: »Das vernünftige Denken ist eine Interpretation nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können«, trifft deshalb ebenso den Kern des Vermittlungsproblems, wie er andererseits zu eng ist. 70 Auch das unvernünftige Denken ist Interpretation nach einem Schema. Diese Allgegenwart von Denk- und Anschauungsformen auf allen Ebenen des Interpretierens hat Hans Lenk zum Thema seiner allgemeinen Theorie der Schemainterpretationen und Interpretationskonstrukte gemacht. Wesentliche Formen der Vermittlung werden dabei aufgegriffen: der Gedanke der symbolischen Formen, die Lehre von den Zeichen, die Sprachspieltheorie Wittgensteins und auch kognitions-wissenschaftliche Ansätze. Der Grundgedanke: Es gibt keine nichtinterpretative Beschreibung der Welt. Wenn wir denken, handeln und wahrnehmen, sind immer Schemata am Werk, die uns den Zugang zur »Welt« bzw. zur »Wirklichkeit« vermitteln. Lenk unterscheidet dazu sechs Stufen der Interpretation: beginnend mit der Ebene der biologisch unveränderlichen oder angelegten primären Schematisierungen über habituelle Form- und Schemakategorisierung, sprachliche Begriffsbildung, »Einordnungsinterpretation« (Klassifikation, Subsumierung) und »Rechtfertigungsinterpretation« bis zur erkenntnistheoretischen Metainterpretation. 71 Von unmittelbarem Interesse sind hier die Kategorien »Einordnungsinterpretation« (Klassifikation, Subsumierung) oder »Rechtfertigungsinterpretation« (theoretisch begründende Interpretation). 72 Sie beschreiben genau auch wesentliche Momente der juristischen Sachverhaltskonstituierung: Tatsachen werden in Schemata und Strukturen eingeordnet und es werden »argumentative Zusammenhänge zwischen Einordnungen hergestellt«. 73 Das, was Lenk »habituelle Form- und Schemakategorisierung« nennt, ist im Teil A (Kap. 5 I.1.) bereits ausführlich behandelt worden. Dem wissenschaftstheoretischen – nicht zuletzt neurowissenschaftlich – orientierten Ansatz Lenks entspricht die in der Wissenschaftstheorie gängige These, dass es keine theoriefreie Wahrnehmung gibt. Man spricht von der »Theoriebeladenheit« oder auch

69 70 71 72 73

H. Lenk 1995, S. 108. H. Lenk 1995, S. 36. H. Lenk 1995 S. 103 ff. Vgl. die Stufen der Interpretation aaO. S. 103. H. Lenk 1995, S. 106 f.

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»Theoriegeladenheit« (engl. theory-ladenness) von Beobachtungen. 74 Einstein hat es für die moderne Naturwissenschaft nach den Worten von Heisenberg auf den Nenner gebracht: »Vom prinzipiellen Standpunkt aus ist es ganz falsch, eine Theorie nur auf beobachtbare Größen gründen zu wollen. Denn es ist in Wirklichkeit genau umgekehrt. Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann«. 75 Auch diese These findet ihre Entsprechung in der juristischen Praxis. Welche Tatsachen in den Blick kommen, auf welche Umstände der Richter sein Augenmerk richtet, unterliegt in doppelter Weise den Mechanismen theoriegeleiteter Beobachtung. Es sind zum einen die Kriterien rechtlicher Relevanz, die darüber entscheiden, welche Tatsachen vom Richter für wesentlich gehalten werden, und es sind zum anderen zumeist Alltagstheorien und Erfahrungswissen, mit denen sie erfasst werden. Die juristische Methodik – fokussiert auf die Arbeit mit Begriffen – hat erkenntnistheoretische Ansätze, die die Grenzen von Sprachphilosophie und Hermeneutik überschreiten, bislang kaum wahrgenommen, geschweige denn genutzt. Um die kognitiven Prozesse zu verstehen, die das gerichtliche Erkenntnisverfahren ausmachen, müssen wir jedoch auch die Phänomene der Vermittlung in den Blick nehmen, die jenseits der Sprache und des hermeneutischen Zirkels liegen. Das gilt insbesondere für den Gedanken, dass Methode auch Erkennen und Reflexion von Mustern ist. Über Mustererkennungen laufen nicht nur wesentliche Vorgänge der Rechtsfindung. Phänomene der Mustererkennung spielen auch bei der Sachverhaltsgenerierung eine entscheidende Rolle. Und das wohl wichtigste Organ in diesen Vermittlungsprozessen ist unser Gedächtnis. Wenn wir z. B. von Mechanismen theoriegeleiteter Beobachtung sprechen, sprechen wir von dessen Vermittlungsfunktion, setzen sie selbstverständlich voraus. »Wir sind Gedächtnis« ist nicht von ungefähr der Titel einer grundlegenden Untersuchung über das Gedächtnis. 76 Und es sind nicht zuletzt die persönlichen Erfahrungen, die unser Gedächtnis prägen und so die individuellen Verstehenskontexte ausmachen, mit Vgl. M. Carrier, Art. Theoriebeladenheit, in EPhWTh. Bd. 4, S. 272 f. Werner Heisenberg 1969/1973, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, 7. Aufl. München, S. 79 f. 76 D. Schacter 1999. 74 75

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denen wir wahrnehmen und werten. Es bilden sich die Vorverständnisse, die wiederum je nach unterschiedlichen Umständen zu sehr unterschiedlichen »Ansichten« führen können – bis hin zu Weltbildern, die so spezifisch und individuell sind, dass sie intersubjektiv nicht mehr vermittelbar sind.

2.

Zur Phänomenologie des erkennenden Subjekts

Die Wende zur Subjektivität in der modernen Erkenntnistheorie darf nicht mit einer Wendung zum Subjektivismus verwechselt oder gar gleichgesetzt werden. Gemeinsam ist nur die Grundvorstellung von der Rolle des Subjekts im Erkenntnisprozess, die nicht mehr passivrezeptiv gedacht wird – Wirklichkeit abbildend wie eine Kamera –, sondern als das Subjekt, das – z. B. mit »selbstgeschaffenen intellektuellen Symbolen« – Erkenntnis produziert. Es ist also in einer durchaus aktiven Rolle zu denken. Geht es dagegen um die Art der Bindung des Subjekts in dieser Rolle, um die Einschätzung seiner Freiheiten oder auch seiner Determiniertheit – im Ergebnis also um Wesen und Struktur des Subjekts –, ist ein gemeinsamer Nenner nicht mehr auszumachen. Das Gleiche gilt folgerichtig für die Objektivität der Erkenntnis oder, anders formuliert, für den Grad der intersubjektiven Verbindlichkeit der Erkenntnis, die wir erwarten können. Beginnen wir auch diese Skizze wieder mit Kant. »Woran liegt es nun«, fragt Kant in dem schon zitierten Vorwort, »daß hier [sc. anders als in der Mathematik und der Naturwissenschaft] noch kein sicherer Weg der Wissenschaft hat gefunden werden können?« Diese Frage enthält das Programm, der Erkenntnistheorie den sicheren Weg der Naturwissenschaft zu weisen. Die Lösung für das Problem hat O. Höffe in seinem Buch über Kants Vernunftkritik auf die nur scheinbar paradoxe Formel »Objektivität durch Subjektivität« gebracht. 77 Denn diese kantsche Subjektivität hat mit dem konkreten Subjekt, mit dem, was wir üblicherweise meinen, wenn wir vom »Ich« sprechen, also mit individuellen Besonderheiten empirischer Subjekte, nichts zu tun. Das »Ich« Kants hat – anders als etwa bei Descartes – keine Substanz. 78 Und auch die Anschauungsformen von 77 78

O. Höffe 2003, S. 42 ff. So G. Patzig 1996, S. 224.

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Raum und Zeit und die Kategorien, mit denen unser Erkenntnisvermögen arbeitet, sind apriorische (erfahrungsunabhängige) Strukturen. Sie gelten universal, sind weder kultur- noch epochenabhängig. »Sie entstammen«, um nochmals Höffe zu zitieren, »einer übersubjektiven Subjektivität«. 79 Dieser »transzendentalphilosophische« Ansatz der »Kritik der reinen Vernunft« – nach einem Wort Schopenhauers das »wichtigste Buch, das jemals in Europa geschrieben wurde« – prägt insbesondere in Deutschland noch heute Grundpositionen der erkenntnistheoretischen Diskussion. Folgt man diesem Ansatz, ergibt sich daraus schnell eine grundsätzliche Ablehnung aller Versuche, erkenntnistheoretischen Fragestellungen mit empirischen Untersuchungen und Methoden beizukommen. Das gilt für die evolutionäre Erkenntnistheorie ebenso wie für die Psychoanalyse und für die Wissenssoziologie nicht anders als für die Kognitionswissenschaften 80. Sie trifft dann der Vorwurf des »Naturalismus« bzw. Kategorienfehler nicht zu sehen. – Im Hintergrund wirkt dabei sicher auch ein fast strukturell erscheinendes Unverständnis der Geisteswissenschaften für empirische Ansätze, das sich etwa auch darin äußert, methodische Fragen immer wieder mit rein philosophischen, nicht aber mit kognitionswissenschaftlichen Ansätzen zu diskutieren. Wir werden uns auf den erkenntnistheoretischen Grundsatzstreit über den jeweiligen Geltungsbereich zwischen Transzendentalphilosophie und empirischer Erkenntnistheorie hier nicht einlassen können, da dies den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde, und es mag im Übrigen offen bleiben, inwieweit dieser Streit heute überhaupt noch fruchtbar ist. Sicher scheint mir aber, dass man auf Erkenntnisse u. a. der empirischen Psychologie, der Wissenssoziologie, der Neurowissenschaften und auf kognitionswissenschaftliche Beschreibungssysteme nicht verzichten darf, wenn man den Mechanismen richterlicher Erkenntnis und Entscheidungsstrukturen auf die Spur kommen will. Phänomene wie richterliche Routinen und richterlicher Habitus (Kap. 5 und 6), Glaubwürdigkeitsgutachten, Probleme der Rechts- und Tatsachenerfassung im gerichtlichen Verfahren und nicht zuletzt Fragen der Mustererkennung sind – auch theoretisch – nicht anders zu erschließen.

79 80

O. Höffe 2003, S. 45. Vgl. hierzu etwa Höffe 2003, S. 145, 165 ff.; Patzig 1996, S. 227 f.

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3.

Intersubjektivität

Eine Erkenntnis, die in dem Subjekt entsteht und dort auch endet, die keine Brücke zum anderen hat und so keine Möglichkeit, intersubjektiv geteilte Erkenntnis zu werden – welchen Sinn hätte diese Erkenntnis? Wir müssen also das »vermittelnde Dritte« in der Weise denken, dass es nicht nur zwischen »Welt« und »Ich« vermittelt, sondern auch zwischen den Subjekten. Erkenntnis muss bei all ihrer Subjektivität als »objektiv« wahrgenommen werden können. Konstruierbar ist eine derartige Intersubjektivität auf zwei Wegen: • Entweder man geht mit Kant von apriorischen Strukturen des Erkenntnisvermögens aus bzw. mit einer evolutionären Erkenntnistheorie von genetisch einheitlich geprägten Anschauungsformen und Kategorien, die deswegen bei allen Menschen grundsätzlich gleich sind, oder • es gilt die Annahme, dass diese Anschauungsformen und Kategorien, die Begriffe, Schemata, Zeichen oder Muster sozial eingespielt sind. Dann wären sie Teil der »gesellschaftliche[n] Konstruktion der Wirklichkeit«. Wenn Erkenntnistheorien die Möglichkeiten von Erkenntnis in den oben unter 1. beschriebenen Phänomenen der Vermittlung reflektieren, sind Intersubjektivität und in diesem Sinne auch Objektivität also immer mitgedacht. Nachzugehen ist dann freilich einer durch die Blickrichtung veränderten Fragestellung: Wie, auf welche Art und Weise, werden die genannten Schemata, Denkmuster und Anschauungsformen, die uns die »Welt« vermitteln, gemeinsam; wie kommt es wenigstens zu gemeinsamen Schnittmengen, so dass wir die Welt der Anderen in unseren Schablonen wiedererkennen können? Es geht also um die Mechanismen dieser intersubjektiven Vermittlung und soweit diese für die Methodenlehre eine unmittelbare Bedeutung haben, sind sie in unseren bisherigen Überlegungen auch bereits thematisiert oder wenigstens angesprochen worden, nämlich am Beispiel des Sprachspiels. An diesem Phänomen wird zugleich erklärbar, wie in einem umfassenden Sinn »Kultur« und »Sprache« zwischen »Ich« und den »Anderen« und der »Welt« vermitteln. Von »Interpretationsgemeinschaften« (Kap. 8 II. 1.) kann man nur sprechen, sofern sie »Sprache« und »Sprachspiele« gemeinsam haben. Sie alle sind notwendige Elemente der Vermittlung – stellen 194 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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gleichsam die »gemeinsamen Schnittmengen« zur Verfügung, die nicht nur das Verstehen und Kommunizieren von Normtexten, sondern auch von Mustern und theoretischen Vorverständnissen zur Bedingung haben. Das ist bereits besprochen oder wird noch ausführlich zu behandeln sein. 81 Einer Erläuterung bedarf aber schon an dieser Stelle die Rede vom »Denk- und Argumentationsraum« – ein Bild, mit dem kein erkenntnistheoretisches Problem auf den Begriff gebracht, wohl aber ein solcher Zusammenhang veranschaulicht werden soll. Dieses Bild soll die Vielfalt von Sprache, Schemata, Mustern, positiven und negativen Prägungen durch Lebens- und Berufserfahrungen vorstellbar machen, die wirksam sind, wenn das »Ich« wahrnimmt, erkennt, denkt. Soweit ist es »mein« Denkraum. Als zoon politikon aber, als ein auf Gemeinschaft angelegtes Lebewesen teilt das »Ich« die als Phänomene der Vermittlung beschriebenen Lebens- und Anschauungsformen, Schemata, Muster und vor allem auch die Sprache mit anderen. Es sind zwar immer nur Schnittmengen, aber diese gemeinsamen Schnittmengen sind die Voraussetzung dafür, dass »Erkenntnis« intersubjektiv vermittelbar ist, kommunizierbar wird. 82 Für eine Methodenlehre ist die Hypothese eines gemeinsamen »Denk- und Argumentationsraums« geradezu Grundbedingung, um überhaupt über Methode sprechen zu können. Eine nur individuelle Methode ist so unsinnig wie eine individuelle Privatsprache. Um den zuvor (Kap. 5 II. u. III.; Kap. 6 IV.) formulierten Gedanken zu den Phänomenen sozialer Kognition zu wiederholen: Die Mechanismen individueller Kognition verzahnen sich mit Mechanismen sozialer Kognition. Bei allen individuellen Unterschieden zwischen den einzelnen Richterinnen und Richtern im Denken, Handeln und in den Einstellungen gibt es charakteristische gemeinsame Routinen, spezielle kommunikative Konventionen, gemeinsame Vorstellungen über relevante und irrelevante Informationen etc. Es funktioniert, weil man über einen »gemeinsamen begrifflichen Hintergrund für eine kooperative Kommunikation« 83 verfügt. Und über eine gemeinsame Methode. So agiert der Richter in einem Denk- und Argumen-

Zur »Sprache« siehe Kap. 17, zur Mustererkennung Teil E. Nicht zu verschweigen ist allerdings: Diese Schnittmengen sind nicht selten viel kleiner, als man zumeist annimmt. Deshalb misslingt Kommunikation viel häufiger, als man es wahrhaben will. 83 M. Tomasello 2009, S. 85 ff. 81 82

195 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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tationsraum, der durchaus nicht nur sein eigener, sondern ein professioneller, gemeinsamer Denk- und Argumentationsraum ist. Andererseits ist wiederum zu differenzieren, etwa zwischen Gerichtszweigen und Instanzen. Der Arbeitsrichter und der Richter am BVerwG agieren zugleich in ihren speziellen, eigenen Denk- und Argumentationsräumen. 84

III. Die entscheidenden Folgerungen: Konstruktivität, Kohärenz und Akzeptanz Die Subjekt-Abhängigkeit der Erkenntnis bedeutet nicht nur die Perspektivität, sondern auch die Konstruktivität aller Formen des Wahrnehmens und Erkennens. Wenn aber Realität nicht mehr mit Selbstverständlichkeit als strukturadäquate Abbildung von Außenwelt in unseren Vorstellungen repräsentiert ist, sondern »konstruiert« wird, stellt sich sofort und zwangsläufig die Frage nach den Kriterien, mit deren Hilfe wir uns der »Richtigkeit« unserer Erkenntnisse und Wahrnehmungen versichern können. Wie in den Ausgangsüberlegungen schon beschrieben, ist das entscheidende Kriterium dann das der Kohärenz, das wiederum der Ergänzung durch Überlegungen zur Akzeptanz bedarf.

1.

Konstruktivität

Wenn von »Konstruktion«, »Konstruktivismus« oder »Konstruktivität« die Rede ist, schließt das keineswegs Beliebigkeit ein. Auch der Maschinen- oder Brückenbauer konstruiert seine Maschine oder seine Brücke ja nicht beliebig. Wer als Ingenieur oder Mathematiker konstruiert, tut das allerdings bewusst. Das Erkennen und Wahrnehmen über Schemata, Denkformen, Begriffe, Alltagstheorien, Muster etc. vollzieht sich dagegen meist »einfach nur so«, nicht bewusst konstruierend. Es geschieht beispielsweise, wie es Kleist mit dem Titel seines berühmten Essays beschreibt, als »allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«. Damit ist auch der eine Grund genannt, Die Prozessparteien müssen und können in diesen Argumentationsräumen nicht »zu Hause« sein; zur Problematik des Gerichtssaals als Kommunikationsraum vgl. Kap. 17 I.

84

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warum ich im Anschluss an Cassirer und im unmittelbaren erkenntnistheoretischen Zusammenhang den Ausdruck Konstruktivität verwende und nicht von »Konstruktion« spreche. 85 Der andere Grund liegt darin, dass der »Konstruktivismus« – insbesondere in Gestalt des »Radikalen Konstruktivismus« 86 – üblicherweise nur spezielle erkenntnistheoretische Ansätze bezeichnet, während mit »Konstruktivität« generell die konstruierende Funktion des erkennenden Subjekts erfasst werden soll. Das Konstruktive als gemeinsames Element schließt es gerade nicht aus, dass das erkennende Subjekt, je nach den sehr unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Ansätzen mit sehr unterschiedlich stringenten »Programmen« arbeitet. Da im transzendentalphilosophischen Ansatz Anschauungsformen und Kategorien allgemeingültig sind, folgt aus ihnen auch keine Varianz in den Ergebnissen, soweit nur die Randbedingungen gleich sind. Sie garantieren gleichsam Objektivität. Das Grundmodell ist hier die naturwissenschaftliche Erkenntnis, die durch das Experiment jederzeit und an jedem Ort bestätigend wiederholbar sein muss. Und diesem Modell wird auch eine Sachverhaltsfeststellung folgen müssen, wenn eine bestimmte Tatsache naturwissenschaftlich festgestellt werden konnte. Wenn dagegen im Gerichtssaal unabhängig von solchen Tatsachen darüber gestritten wird, »wie es wirklich gewesen ist«, bleiben, wie wir gesehen haben, die Feststellungen des Richters immer abhängig von der prozessualen Situation. Und die Alltagstheorien, die zur Konstitution des Sachverhaltes herangezogen werden, werden immer auch von den Erfahrungshorizonten der Richter abhängig sein.

2.

Kohärenz

Gilt es, eine Aussage, die auf einer Ableitung aus eindeutigen, nicht anzweifelbaren Annahmen (Axiomen) beruht, auf ihre Richtigkeit

Wenn im Text von Sachverhaltskonstruktion, Konstruktion des Sachverhalts etc. die Rede ist, dann aus sprachlichen Gründen. 86 Als »Neokonstruktivismus« verkennt der »radikale Konstruktivismus« mit seiner Reduktion auf die neuronalen Prozesse die Vielschichtigkeit der oben beschriebenen Einbindungen; sie sind nur mit einem »neuro-kulturellen« Ansatz zu fassen, vgl. Strauch 2005, S. 483, 485 ff. Zur grundsätzlichen Kritik siehe T. Fuchs 2010, S. 182 f. und bereits Einl. V. 85

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hin zu überprüfen, kann das Ergebnis nur eindeutig sein. Entweder die Deduktion ist logisch richtig, dann ist es auch das Ergebnis; anderenfalls ist es falsch. Der »Sachverhalt« aber ist ein Konstrukt und wird nicht logisch abgeleitet. Schon eher ist der Richter hier mit einem Kunstwissenschaftler vergleichbar, der ein Bild – ohne das Original zu kennen – daraufhin zu untersuchen und zu beschreiben hat, ob es das Original ist oder doch wenigstens zu Recht dem Meister M zugeschrieben werden kann. Ihm bleiben nur bildimmanente Kriterien oder Indizien, die er irgendwie aus relevanten Kontexten gewinnen muss. a)

Kohärenz und die »Wahrheitsfrage«

Der Richter befindet sich bei der Sachverhaltsermittlung mithin in aller Regel in der gleichen Situation, in der auch die erkenntnistheoretische Diskussion steht, wenn sie weder ein System zu unterstellen vermag, aus dem sich die Wahrheit logisch ableiten lässt, noch die Wahrheitsfindung als Abbildungsleistung qualifizieren kann. Damit rücken die Maßstäbe der »Kohärenz« in den Mittelpunkt der Wahrheitsfrage, d. h., wir können unmittelbar an die theoretischen Ausführungen im Kohärenzkapitel (Teil B) anknüpfen: Es sind die drei Elemente der Kohärenz – Widerspruchsfreiheit, Umfassendheit und Stimmigkeit des Zusammenhangs –, die auch für die Frage, wann eine Aussage, eine Beweiswürdigung oder die Feststellung einer Tatsache »richtig« ist, die entscheidenden Beurteilungskriterien liefern. Neben Widerspruchsfreiheit und Umfassendheit gilt also insbesondere: Sie müssen »stimmig« sein, müssen sich »einfügen«. Wie sich bei dem Gedankenspiel mit dem »roten Ball« und dem zur »Nullhypothese« Gesagten gezeigt hat, kommt es etwa bei der Zeugenaussage genau darauf an, ob »man sie eingliedern kann«. Nur wenn sie in das »ganze bisherige Aussagesystem« passt, kann man von ihrer Richtigkeit ausgehen. Lässt sie sich nicht eingliedern, steht die Beweiswürdigung vor der Wahl: Entweder ist zu begründen, warum der Umstand unbeachtlich ist, oder man muss eben das »ganze bisherige Aussagesystem« abändern, »bis sich die neue Aussage eingliedern lässt«. D. h., das Gericht muss die Tatsachen dann zu einer anderen Geschichte, einem veränderten Sachverhalt neu konfigurieren. »Stimmigkeit« hatten wir mit der Formel bestimmt: »Wenn p q unterstützt, kann man behaupten p und q seien miteinander ko198 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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härent.« 87 P unterstützt q, bedeutet dabei, »dass p ein guter Grund für q ist«. 88 – Das Kernproblem der kohärenztheoretischen Beurteilung liegt damit in der Qualität von »p«. Ist »p« ein Axiom, eine unbezweifelbare Feststellung oder ein naturwissenschaftliches Gesetz, sind »p« und »q« miteinander kohärent und es überzeugt auch das Ergebnis. Hat »p« diese Qualität nicht, muss es seinerseits begründet werden – eben so lange, bis es als »guter Grund« anerkannt wird. Aus der Frage, ob ein Zusammenhang kohärent ist, wird somit die Frage nach der Akzeptanz der Prämisse zum entscheidenden Problem. An der Akzeptanz der Prämissen entscheidet sich deshalb letztlich auch, ob die Sachverhaltsfeststellungen und Beweiswürdigungen überzeugen und als »richtig« akzeptiert werden können oder nicht.

3.

Akzeptanz der Prämissen – Wissenschaft und Alltagstheorien

Auch die grundsätzlichen Probleme, die sich unter dem Stichwort »Akzeptanz« für die Sachverhaltskonstruktion stellen, wurden bereits behandelt. Wir können also unmittelbar mit der konkreten Ausgangsfrage beginnen: Wann haben Sätze, mit denen Sachverhaltsfeststellungen begründet werden, als Begründungssätze eine hinreichende Akzeptanz. Welche Beurteilungsmaßstäbe haben wir dafür? – Tragende Sätze, die die Konstruktion eines Sachverhaltes kohärent halten, sind hier vornehmlich: • naturwissenschaftliche Gesetze; • wissenschaftlich begründete Zusammenhänge, Theorien; • Alltagstheorien, die auf Alltagserfahrungen beruhen und sowohl mehr oder minder allgemeine Erfahrungssätze sein können wie auch sehr individuelle Erfahrungen der Richter, die diese für mehr oder minder allgemeine halten. a)

Allgemeine Erfahrungssätze, Alltagstheorien und individuelle Erfahrungssätze

Mit der Reihenfolge, in der diese Typen von Begründungsmöglichkeiten genannt sind, ist zugleich die Skala für die Akzeptanzbewertung vorgegeben, von der man grundsätzlich ausgehen kann, ohne 87 88

Peczenik 1983, S. 176. Peczenik 1983, S. 170; siehe Kap. 8 VII. 2.

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sich im konkreten Fall noch über »Akzeptanz« streiten zu müssen. Wenn eine Sachverhaltsfeststellung naturwissenschaftlich abgesichert ist, wird sie akzeptiert. Es sind dann eher die Zweifel an diesen Feststellungen, die Kopfschütteln auslösen und nicht akzeptiert werden. Auf der anderen Seite muss eine vom Gericht verwendete Alltagstheorie, ein Erfahrungssatz akzeptiert sein oder plausibel begründet werden. (1.) Akzeptiert sind – schon per definitionem – die »allgemeinen Erfahrungssätze« im Sinne des Revisionsrechts. Wenn die tatrichterliche Auslegung im Revisionsverfahren nur der eingeschränkten Überprüfung darauf unterliegt, »ob gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verletzt sind«, 89 dann sind dies deshalb geeignete Maßstäbe, weil man sich über sie nicht wie über das Vorliegen von Tatsachen und deren Wertung sinnvoll streiten kann. 90 Es sind »jedermann zugängliche Sätze, die nach der allgemeinen Erfahrung unzweifelhaft gelten und durch keine Ausnahme durchbrochen sind«. 91 Alle anderen Formen der »Alltagstheorien« und »Erfahrungstatsachen« bedürfen, so scheint es zunächst, »guter Gründe«. – Aber es gehört auch zum Paradoxen des Alltagswissens, dass es, – »weil es in einer Welt der Selbstverständlichkeiten untergebracht ist« – in der Regel »inexplizit« ist. 92 Nur soweit es nicht geteilt wird, strittig ist, erwartet man »gute Gründe«, sonst sichert ihm seine Herkunft aus einem gemeinsamen Alltag auch seine Akzeptanz. Das bedarf näherer Begründung und Differenzierung: (2.) Was haben wir unter »Alltagstheorien« zu verstehen und wie funktionieren sie? Eine Antwort findet man, wenn man ihren Entstehungsgrund reflektiert. Er liegt in der Lebenserfahrung, an die auch die Rechtsprechung immer wieder anknüpft, wenn es um Beweiswürdigung geht (näher Kap. 13 III. 3.). Es ist das Wissen, das in der Lebenswelt des Alltags entsteht und aus dem wir die Anschauungen, Muster, Erkenntnis- und Handlungsschemata gewinnen, die uns zugleich unsere »Welt« und das Verstehen Anderer vermitteln. BGHZ 135, 269, 273. Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner/Eichberger VwGO § 137 Rn. 31: Allgemeine Erfahrungssätze sind nur »solche Sätze, die nach der allgemeinen Erfahrung unzweifelhaft und ausnahmslos gelten«; dort und unter Rn. 176 auch zur Abgrenzung von speziellen Erfahrungssätzen und Erfahrungstatsachen. 91 BVerwGE 67, 83–84. 92 Soeffner 2004, S. 25. 89 90

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Der Alltag ist unser primärer Interaktionsraum und prägt so unseren »unmittelbare[n] Anpassungs-, Handlungs-, Planungs- und Erlebnisraum« 93. Um es auch hier mit dem oben erläuterten Bild des Denkund Argumentationsraumes zu verdeutlichen: Wir können immer von einer (mehr oder minder großen) gemeinsamen Schnittmenge in einem gemeinsamen Denk- und Argumentationsraum ausgehen. So wird auch verständlich, wie individuelles Wissen zum »objektiven« Wissen wird 94 und wir zu der »Intersubjektivität der fraglos gegebenen Welt« kommen, wie es Alfred Schütz und Thomas Luckmann formuliert haben. 95 Aus einer veränderten Perspektive stoßen wir mit diesen Feststellungen auf ein Phänomen, das wir bei der Analyse richterlichen Arbeitens bereits unter den Stichworten »Habitus«, »Routinen« und institutionelle Einbindung als Erscheinungsformen sozialer Kognition beschrieben haben (Kap. 5). Auch der »Berufs-Alltag« des Richters ist »Alltag« im Sinne eines »kognitiven Stils der Praxis«. 96 Aus beiden »Alltags-Welten« bilden sich so – mit spezifischen Erfahrungen – die Alltagstheorien und Erfahrungssätze, mit denen Richter arbeiten. Dazu zählen etwa die Vorstellungen über typische Geschehensabläufe, Muster zu Glaubwürdigkeitskriterien, Verhaltenserwartungen, Vorstellungen, wie man sich in bestimmten Situationen oder in bestimmten Rollen verhält oder nicht verhält, und alle anderen Arten von Typenbildungen, mit denen Menschen im Alltag (und in der Wissenschaft) die »Welt« in eine Ordnung bringen wollen. 97 (3.) Doch die Welt ist pluralistisch, die Gesellschaft vielfach fragmentarisiert und somit liegen zwischen einer richterlichen »BerufsAlltags-Welt« und den Erfahrungen anderer oft Welten. Auch die richterlichen Erfahrungssätze sind durch ihren Erfahrungshorizont naturgemäß begrenzt. Es gibt dann für entscheidende Begründungssätze keine gemeinsamen Schnittmengen, die Akzeptanz vermitteln könnten. Zur Illustration ein protokollierter Ausschnitt aus einer Vernehmung in dem Strafverfahren gegen den Wettermoderator Kachelmann, das 2011 ein weidlich ausgemünztes Presseereignis war: Soeffner 2004, S. 18. A. Schütz und T. Luckmann 2003, S. 367 ff. 95 A. Schütz und T. Luckmann 2003, S. 98. 96 Soeffner 2004, S. 23. 97 Zur erkenntnistheoretischen Seite näher oben II. 1.; die Rolle, die diese Mechanismen bei der Sachverhaltskonstruktion spielen, ist zentrales Thema der Kap. 13 u. 14. 93 94

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Richter Seidling: »Was hat Sie veranlasst, nicht vom dringenden Tatverdacht abzurücken?« Haftrichter: »Seine Schilderung zum Ablauf des Abends war mir nicht einleuchtend.« Kachelmann lauscht mit dem Kopf in den Händen. Der Haftrichter weiter: »Ich ging davon aus, dass jemand, der einen einer solchen Straftat bezichtigt, wahrheitsgemäße Angaben macht. Es gab Bilder von den Verletzungen der Frau. Ich habe es ausgeschlossen, dass sich jemand diese Verletzungen selbst zufügt.« Kachelmann faltet die Hände. »Mir war auch nicht einleuchtend, dass eine Frau erst freiwillig den Geschlechtsverkehr ausführt und sich dann zur Trennung bespricht. Ich kann nicht sagen, ob damals schon ein Gutachten zu DNA-Spuren am Messer vorlag. Jörg Kachelmann gab spontan an, weder das Messer noch andere Gegenstände angefasst zu haben bei der Essenszubereitung. Er war ja schon einige Tage in Haft, er hat sich gut überlegen können, was er sagt.«

Das Beispiel 98 zeigt, wie leicht ein irgendwie auf »Lebenserfahrung« gestützter Begründungssatz – hier: »Ich ging davon aus, dass jemand, der einen einer solchen Straftat bezichtigt, wahrheitsgemäße Angaben macht« – Inhalte annehmen kann, die weder intellektuell noch empirisch irgendwie belastbar sind. Ob man im konkreten Fall aus dem Umstand, dass erst das OLG der Haftbeschwerde stattgab, schließen kann, dass es zwischen Haftrichter und Strafkammer eine »gemeinsame Schnittmenge« hinsichtlich der angewandten Erfahrungssätze gab, kann dahinstehen. In dem Mechanismus der Verwendung von Alltagstheorien innerhalb einer »Interpretationsgemeinschaft« – hier der Juristen – liegt jedoch immer die Gefahr, dass sie als Teil einer gemeinsamen Schnittmenge selbstverständlich werden, und man es selbst nicht mehr erkennen kann, dass sie Unsinn sind. b)

Akzeptanz zwischen Alltagstheorien und wissenschaftlichem Sachverstand

Alltagstheorien und die auf ihnen aufbauenden Erfahrungssätze sind also keineswegs immer »gute Gründe«. Wie in jedem Alltag sind sie jedoch auch im »Justiz-Alltag« unverzichtbar. Dieses Dilemma werden wir letztlich nicht auflösen können. Es gilt aber, die Analyse ihrer Mechanismen zu vertiefen und so zu versuchen, wenigstens weitere Rationalitätskriterien zu gewinnen. Während wir bisher vor allem die 98

Entnommen einem Bericht der Bild-Zeitung v. 29. 09. 2010 – Internetausgabe.

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12 · Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

Funktionsweise auf der sozialen Ebene betrachtet haben, ist es für eine solche Analyse wichtig, sich zunächst klar zu machen, welche logische Struktur solche Erfahrungssätze haben. Einem Ansatz folgend, den Rüßmann für die Beweislehre entwickelt hat, ist hier von einer Unterscheidung zwischen deterministischen und statistischen (prohabilistischen) Erfahrungssätzen auszugehen. 99 Deterministisch ist ein Erfahrungssatz dann, wenn sich aus den Prämissen, die er aufstellt, ein sicherer Schluss auf eine bestimmte Sachverhaltsfeststellung ergibt. Wir haben es mit einer Wenn-dannStruktur zu tun. Typisch ist das Naturgesetz. Bei statistischen Erfahrungssätzen ermöglichen die Tatsachen, genauer, die Indizien (I), von denen man ausgehen kann, dem Richter dagegen keineswegs einen sicheren Schluss auf eine bestimmte Sachverhaltsfeststellung, die zu ermittelnde Tatsache (T). Die Wenn-dann-Verknüpfung bedeutet hier: wenn I dann T (nur) mit einer Wahrscheinlichkeit X. Es kann also auch ganz anders sein. Der Rationalitätsgewinn dieser Differenzierung lässt sich bereits an dem Beispiel des oben zitierten Satzes – »Ich ging davon aus, dass jemand, der einen einer solchen Straftat bezichtigt, wahrheitsgemäße Angaben macht« – deutlich machen. Dieser Satz ist wohl als statistischer Erfahrungssatz gemeint. Die Formulierung »dass jemand, der …« könnte freilich auch als Wenn-dann-Verknüpfung verstanden werden und der Begründung auf diese Weise den Anstrich einer zwingenden Schlussfolgerung geben. Das Argument nutzt so die verdunkelnde Kraft, die im Alltagswissen deshalb steckt, »weil es in einer Welt der Selbstverständlichkeiten untergebracht ist«, und aus diesem Grund »inexplizit« bleiben kann. 100 In dem Moment, in dem Alltagswissen nicht akzeptiert ist oder jedenfalls nicht mehr mit Selbstverständlichkeit hingenommen wird, muss der Richter jedoch explizit machen, ob er seinen »Erfahrungssatz« als Grundlage für eine zwingende Schlussfolgerung oder nur als Wahrscheinlichkeitsaussage verstanden wissen will. Sowohl in der einen als auch in der anderen Variante hätten wir jedoch – um jetzt zu verallgemeinern – bereits den engeren Bereich einer »Alltagstheorie« verlassen und wären einen entscheidende Schritt weiter: • Haben wir es mit einer zwingenden Schlussfolgerung zu tun, muss es eine entsprechende, empirisch nachgewiesene Gesetz99 100

H. Rüßmann 2003b, S. 372 ff. Soeffner 2004, S. 25.

203 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

mäßigkeit geben. Im Zweifelsfall wäre die Frage durch einen Sachverständigen zu klären. • Geht es um eine Wahrscheinlichkeitsannahme, stellt sich nicht nur die Frage nach entsprechenden empirischen Befunden für eine Wenn-dann-Verknüpfung, sondern auch die nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit. Hätte der Haftrichter anhand dieser Kategorien seinen Begründungssatz explizieren müssen, wären ihm wahrscheinlich an seinem »Erfahrungssatz« selbst Zweifel gekommen. c)

Orientierungssätze zur Akzeptanzproblematik

Konkret werden wir uns mit der Bedeutung von Erfahrungstatsachen, Erfahrungssätzen, Alltagswissen und Alltagstheorien für die richterliche Sachverhaltsfeststellung in den beiden nächsten Kapiteln auseinanderzusetzen haben. Um die Fragen der Akzeptanz, die mit diesen Sätzen, mit denen die Richter ihre Feststellungen begründen, immer wieder verbunden sind, aber nicht jeweils neu thematisieren zu müssen, soll bereits hier die Akzeptanzproblematik im Sinne von »Merkposten« generalisierend zusammengefasst werden. (1.) Die Problematik von Alltagstheorien und Erfahrungssätzen lässt sich prinzipiell nicht auflösen. Sie bleibt bestehen. Wohl aber können – als Orientierungssätze für die richterliche Praxis – einige grundsätzliche Fehlerquellen markiert werden: • Unsere Annahmen über Wahrscheinlichkeiten unterliegen, wie die Kognitionspsychologie gezeigt hat, oft typischen Fehleinschätzungen. Dazu gehört einmal der sogenannte MonteCarlo-Effekt, d. h., man unterstellt ein »Gesetz des Mittelwertes«, nach dem ein Ereignis mit größerer Wahrscheinlichkeit eintreten werde, wenn dieses längere Zeit nicht eingetreten ist (der Trugschluss, dass etwa beim Münzenwerfen die Frequenz KZKZZK wahrscheinlicher sei als die Frequenz KKKKKK, obwohl beide gleich wahrscheinlich sind, oder die Vorstellung, dass man mit Wahrscheinlichkeit damit rechnen kann, dass beim Roulett jetzt »rot« gewinnt, nachdem die Kugel mehrfach hintereinander auf »schwarz« liegen geblieben ist). 101 Zum anderen werden bei der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten oft die

101

Vgl. dazu J. R. Anderson 2001, S. 342 ff.

204 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

12 · Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

Grundraten, also die Ausgangshypothese übersehen und so eine Wahrscheinlichkeit viel zu hoch eingeschätzt. 102 • Die Übergänge von Erfahrungssätzen, subjektiven Theorien 103 und individuellen Deutungsmustern zu Alltagstheorien und Vorurteilen sind fließend. Wirklich greifbar sind sie meist nicht. Vor allem macht sich der Einzelne oft nicht klar – und kann es auch nicht –, ob es sich nun konkret um Alltagstheorien handelt, die auch von anderen akzeptiert werden können, oder doch nur um individuelle Erfahrungen, von deren intersubjektiver Gültigkeit nur der Richter selbst überzeugt ist. Persönliche Einstellungen und Erfahrungen werden verallgemeinert und unterliegen nicht zuletzt Fehleinschätzungen, weil auch hier nicht tatsächliche Häufigkeiten oder gar statistische Vergleichszahlen die entscheidende Rolle spielen, sondern die Intensität und eigene Betroffenheit, die dafür maßgebend sind, inwieweit und wie tief sich uns eine Erfahrung einprägt. Da derartige Fehleinschätzungen in der menschlichen Kognition angelegt sind, sind auch die Korrekturmöglichkeiten begrenzt. Ein wichtiges institutionelles Korrektiv gegen die Überschätzung individueller Erfahrungswerte liegt im Spruchkörperprinzip; es ist Aufgabe der Kollegen, zu überprüfen, ob der »Erfahrungssatz« wirklich trägt. Ein anderes ist verfahrensrechtlicher Natur: Erfahrungssätze und Alltagstheorien, die das Gericht, etwa zur Rekonstruktion von Kausalverläufen, zur Konstituierung des Sachverhaltes benutzen will, sind den Parteien mit der Gelegenheit zur Stellungnahme offenzulegen. 104 (2.) Stützt sich das Gericht für eine Sachverhaltsfeststellung auf Annahmen, die wissenschaftlich abgesichert sind, stellt sich die Frage der Akzeptanz in der Regel nicht. Will sich das Gericht dagegen auf wissenschaftlich begründete Kausalzusammenhänge stützen, die auf theoretischen Ansätzen beruhen, die in der Wissenschaft umstritten sind, oder stützen sich Prozessbeteiligte auf solche Ansätze, steht auch das Gericht vor Akzeptanzproblemen. Solche können sich für

Vgl. das Beispiel bei J. R. Anderson 2001, S. 327. Unter »subjektiven Theorien« kann man die Theorien und Modelle verstehen, mit denen der Mensch im Alltag versucht, eben diese Alltagswelt, gestützt auf persönliches Wissen und die eigenen Erfahrungen, zu erfassen und »abzubilden«. 104 Vgl. etwa BVerwGE 67, 83–84. 102 103

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C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

die gerichtliche Praxis insbesondere bei folgenden Fallkonstellationen ergeben: • Es werden Zusammenhänge behauptet, die wissenschaftlich (noch) ungeklärt sind. Beispiele waren etwa Ansprüche auf Schutz vor Immissionen mit dem Argument erheblicher Gesundheitsgefährdungen (Lärmschutz 105, Elektrosmog 106). Beweisaufnahmen können hier in der Regel keine Lösung bringen; ein Gericht kann keine Forschungsprogramme initiieren. • Eine bislang als gesichert angesehene wissenschaftliche Position verliert an Akzeptanz. Worauf soll sich das Gericht stützen? (Beispiel etwa: Schulmedizin vs. Alternativmedizin). • Fälle, in denen das Gericht vor die Frage gestellt ist, ob es sich für seine Wertung (noch) auf Alltagswissen berufen darf oder ihm nur ein Sachverständigengutachten eine hinreichende Grundlage bieten kann. Bisher akzeptierte Annahmen und Erfahrungswerte können oder sollten nicht mehr genutzt werden, weil sie durch inzwischen vorhandenes Sachwissen über technische Entwicklungen (etwa zur Unfallverhinderung in Situationen der Gefährdungshaftung) oder durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse 107 überholt, modifiziert oder jedenfalls auf andere Grundlagen gestellt sind. Generalisierend und in allgemeine Regeln gefasst, kann der gebotene Umgang mit den methodischen und prozessualen Problemen, die sich dann stellen, wenn sich durch wissenschaftliche – und auch gesellschaftliche – Diskussionen die Grenzziehungen zwischen Alltagstheorien, Erfahrungssätzen und wissenschaftlichen Erkenntnissen verschieben und strittig werden, allerdings kaum beschrieben werden. Lösungen lassen sich hier nur aus dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen den konkreten Sachproblemen und den konkreten Rechtsproblemen des jeweiligen Rechtsgebietes entwickeln. BVerwGE 31, 15: Urt. v. 05. 11. 1968 zur Lärmbelästigung durch ein Gastwirtschaft bzw. Kegelbahn. 106 Vgl. aus den Anfängen der Diskussion den Beschluss des VGH Kassel v. 26. 11. 1997 – 14 UE 4076/97 –, juris. 107 Ein Beispiel sind die Erkenntnisse, die wir inzwischen über die Funktionsweise des Gedächtnisses haben, mit denen aber richterliche Alltagsvorstellungen vielfach nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen sind und die z. B. zur Vorgabe geführt haben, für die Glaubwürdigkeitsprüfung von der Nullhypothese auszugehen. Näher dargestellt im konkreten Zusammenhang des Fragenkreises »Zeugenbeweis«, Kap. 12 III. 1. 105

206 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Kapitel 13 Regeln der Sachverhaltsermittlung

Wenn ein Sachverhalt einerseits kein Abbild des rechtlich relevanten Geschehens – so, wie es wirklich gewesen ist – sein kann, wir andererseits aber von einem »richtigen« Sachverhalt sprechen, bedarf es Kriterien, um für die konkrete Arbeit am Sachverhalt zwischen »richtigen« und fehlerhaften Feststellungen unterscheiden zu können. Gerade weil der Sachverhalt ein Konstrukt ist, muss er nach Regeln konstruiert werden.

I.

Grundregel

Eine erste Bedingung liegt (selbstverständlich) darin, dass der Sachverhalt im Sinne des Revisionsrechts rechtlich nicht zu beanstanden ist. Worauf es uns in diesem Kapitel ankommt, sind darüber hinaus zwei weitere Bedingungen, die die Sachverhaltsfeststellungen erfüllen müssen: 1. Die Feststellungen müssen in sich stimmig, d. h. im engeren Sinn kohärent sein. Der Sachverhalt muss sich also für den Leser als folgerichtige Verknüpfung von Tatsachen darstellen. 2. Er muss darüber hinaus einem Abgleich mit allen Informationen standhalten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung sowie des gerichtsbekannten oder sachverständigen Wissens waren. Das bedeutet, alle Informationen müssen sich • entweder in die folgerichtige Verknüpfung der Tatsachen einfügen oder • es muss gute Gründe dafür geben, dass sie als nicht bewiesen, unwahr, eher unwahrscheinlich oder als unwesentlich und irrelevant bei der Konstruktion des Sachverhaltes nicht berücksichtigt werden. Um diese Grundregel zu konkretisieren und handhabbar zu machen, müssen wir uns die Struktur des Prozesses, in dem der Sachverhalt 207 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

konstruiert wird (II.), sowie die Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung (III.) näher ansehen, um ihn sodann im nächsten Kapitel auf die Kohärenzkriterien (Kap. 14) hin überprüfen zu können, die ein »richtiger« Sachverhalt erfüllen muss.

II.

Die Sachverhaltskonstruktion – als Prozess

Die Sachverhaltskonstruktion ist ein Prozess, der sowohl prozessrechtlich als auch »erkenntnistheoretisch« »richtig« laufen muss. Zugleich ist für die Analyse stets im Auge zu behalten, dass Sachverhalts- und Rechterkenntnis zwar in zwei Strängen oder Phasen nebeneinander herlaufen, aber immer sich beeinflussend aufeinander bezogen sind – und dies von Beginn an. Ohne rechtliche Bewertung lässt sich die Relevanz der Tatsachen für die Sachverhaltsfeststellung nicht beurteilen.

1.

Parteivorbringen, Informationen und Hypothesenbildung

Der Richter bekommt seine Informationen in der Regel nur in einer – oft mehrfach – gefilterten Form. Welche Geschichten und welche Details der Kläger oder Angeklagte seinem Anwalt erzählt hat, weiß der Richter so wenig, wie er die Intensität kennt, mit der sie modifiziert wurden. Nicht selten bleibt auch die »Geschichte« selbst undeutlich, sei es, weil sie aus taktischen Gründen unklar gelassen wird oder die Partei nicht genau weiß, worauf es rechtlich ankommt, oder schlicht nicht in der Lage ist, mehr als nur bruchstückhafte Angaben in Worte zu fassen. Es ist dann Sache des Richters, sich »einen Reim darauf zu machen«. Nur die prinzipielle Zielstellung der Informationen ist klar: Sie sollen rechtliche Ansprüche begründen oder abwehren. Der Richter wird die Informationen auf zwei Ebenen verarbeiten: Zum einen wird er eine rechtliche Einordnung vornehmen, die je nach Falllage mehr oder weniger eindeutig ist oder nur in ersten Überlegungen besteht. Oft ist dies schon deshalb nötig, um seine Zuständigkeit beurteilen zu können. Ist die rechtliche Einordnung dem Richter auf Anhieb nicht klar, wird es zu einer ersten Einschätzung dessen kommen müssen, »was Sache ist«. Für den Richter muss ein rechtliches Muster erkennbar sein, denn nur so wird er abschätzen können, auf welche Informationen es für die Sachverhaltsfeststellung 208 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

13 · Regeln der Sachverhaltsermittlung

ankommt. Diese ersten Überlegungen zum Sachverhalt werden je nach Vortrag, Prozesssituation und vor allem Prozessordnung sehr unterschiedlich konkret und konturiert sein. Im Prozess der Sachverhaltsfeststellung haben diese Einschätzungen die Funktion von Sachverhaltshypothesen. Sie bezeichnen die Annahmen des Richters, »so könnte es gewesen sein«, auf die er im Laufe des gerichtlichen Verfahrens immer wieder zurückgreifen muss. Ohne eine solche Vorstellung ist eine strukturierende, entscheidungsorientierte Verhandlungsführung und Sachverhaltsermittlung nicht möglich. In Verfahren, in denen die Amtsermittlung gilt, kann er anders als mit solchen Sachverhaltshypothesen, die er dem Sachvortrag der Beteiligten entnommen oder auch in kritischer Auseinandersetzung mit diesen Informationen entwickelt hat, den Prozess nicht führen. Auch die Aufklärungspflicht, die dem Richter nach § 139 ZPO – der »Magna Charta des Zivilprozesses« 108 – obliegt, setzt eine begleitende Vorstellung über den möglichen oder einen wahrscheinlichen Ablauf des Geschehens voraus, das dem Rechtsstreit zugrunde liegen könnte. Das betrifft nicht nur den Geschehensablauf insgesamt, sondern gilt auch für seine Elemente, für Einzelfeststellungen. Ohne Annahmen darüber, wie »es – auch – gewesen sein könnte«, kann der Richter die Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage oder die Wahrscheinlichkeit eines Kausalverlaufes nicht überprüfen. Nun ist es nicht richterliche Aufgabe, Hypothesen, sondern Sachverhaltsfeststellungen zu generieren. Die Vorstellungen, die sich der Richter macht, können und dürfen nicht mehr sein als vorläufige Arbeitshypothesen. Nicht zuletzt dürfen sie nie den Vortrag der Parteien »überwuchern« und sich verselbstständigen. 109 Als Hilfsmittel der richterlichen Informationsstrukturierung und -verarbeitung dienen sie im Verlauf des Prozesses nur dazu, Informationen (etwa eine Zeugenaussage oder eine Behauptung) daraufhin zu überprüfen, ob sie sich folgerichtig in einen Geschehensablauf, in einen strittigen Tatsachenzusammenhang einfügen lassen. Vom Richter verlangt dieses »Abgleichverfahren« eine hochgradige Beweglichkeit und Änderungsbereitschaft hinsichtlich »seiner« Hypothesen. Er muss bereit und in der Lage sein, zu erkennen, wenn umgekehrt Informationen sein Interpretationsschema bzw. seine bisherigen Vorstellungen über

108 109

Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 72. Aufl., § 139 ZPO. Rn. 1. J. Schmid 1997a, S. 68 ff.

209 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

das, wie es gewesen sein könnte, in der bisherigen Form nicht mehr stützen, in Frage stellen oder gar als falsch erweisen.

2.

Problemfelder der »Verifizierung«

Dieses »Abgleichverfahren« und die konkreten Probleme, die es aufwirft, müssen wir uns in seinen wesentlichen Vorgängen näher ansehen, um einer Analyse des »richtigen Sachverhalts« Kontur zu geben. Systematisch geht es dabei um drei Fragen: 1. Ist die behauptete – oder vom Richter zu unterstellende – Tatsache »richtig«? 2. Ist die behauptete – oder vom Richter zu unterstellende oder angenommene – Verknüpfung der Tatsachen »richtig« – im Sinne von tragfähig? 3. Sind die zu beurteilende Tatsache und/oder die angenommene Verknüpfung rechtlich relevant? Wenn ich hier für dieses »Abgleichverfahren« den Ausdruck der »Verifizierung« verwende (von lat. veritas: ›Wahrheit‹ und facere: ›machen‹), dann kann das nicht in dem Sinne eines Nachweises verstanden werden, dass ein vermuteter oder behaupteter Sachverhalt unzweifelhaft wahr ist. Gebraucht wird der Begriff vielmehr in dem deutlich weiteren Sinn einer Beschreibung des Vorganges, in dem der Richter den Sachverhalt und seine Elemente daraufhin zu überprüfen hat, ob sie unter den Bedingungen eines gerichtlichen Prozesses und nach den Kohärenzkriterien als »richtig« und insofern auch als »wahr« dem Urteil zugrunde gelegt werden können. Die Problemfelder, für die es auf eine solche »Verifizierung« ankommt, sind zahlreich: Sachverständigengutachten, alle Formen der Wahrnehmung, vom schnellen Blick bis zum richterlichen Augenschein, gelingende oder misslingende Kommunikation. Besonders herausgreifen und näher diskutieren werde ich: • den Zeugenbeweis; • die Zielgerichtetheit und Offenheit der Informationsverarbeitung; • die Verknüpfung der Tatsachen.

210 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

13 · Regeln der Sachverhaltsermittlung

III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung 1.

Der Zeugenbeweis

Der Zeugenbeweis ist als Mittel der »Wahrheitsfindung« in der gerichtlichen Praxis so unverzichtbar wie er gerichtsnotorisch ein »ungewisser, schlechter Beweis« 110 ist. Konsequent nennt denn auch Hartmann die Zeugenvernehmung »eine nur begrenzt erlernbare Kunst« 111. Ironisch könnte man ergänzen: Deshalb versuchen es Hochschulen und Justiz auch gar nicht erst, Juristen auf diesem Gebiet auszubilden. Die Grundregel – jedenfalls aller traditionellen Kunst –, dass Kunstfertigkeit Wissen und Beherrschung handwerklicher Regeln voraussetzt, wird ignoriert. Das Themenfeld, das unter dem Stichwort »Zeugenbeweis« in einer Methodenlehre der gerichtlichen Praxis darzustellen wäre, ist weit gespannt: Funktionsweise des Gedächtnisses, Vernehmungslehre und Vernehmungstaktik, Glaubwürdigkeits- und Aussageinhaltsanalyse. Angemessen zu bearbeiten ist es aber wohl nur durch ein Team von Fachleuten aus unterschiedlichen Erfahrungs- und Wissensbereichen. Ich kann für diese Themengebieten insofern nur auf die einschlägige Literatur verweisen 112 und werde mich hauptsächlich auf Probleme der Funktionsweise des Gedächtnisses beschränken. Denn deutlich zu machen sind in jedem Fall die Gründe für die prinzipiellen Ungewissheiten jeder Zeugenaussage. Sie liegen in der Struktur unseres »Gedächtnisses«, das es als das Gedächtnis gar nicht gibt. 113 Genau aus diesem Umstand resultiert dann aber die Notwendigkeit eines Abgleichs von Zeugenaussagen mit Kohärenzkriterien. Zwei Beispiele sollen die Problematik illustrieren:

Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Übers. § 373 Rn 5. Hartmann aaO. 112 Die wohl beste Übersicht geben Bender/Nack/Treuer 2007. – Zur Aussageinhaltsanalyse siehe insbesondere: Luise Greuel u. a.: Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage: Theorie und Praxis der forensisch-psychologischen Begutachtung: Die Praxis der forensisch-psychologischen Begutachtung, 1998. Zu nennen sind ferner: Axel Wendler / Helmut Hoffmann: Technik und Taktik der Befragung im Gerichtsverfahren: Urteile begründen. Urteile prüfen. Lüge und Irrtum aufdecken. Stuttgart 2009; Max Hermanutz / Sven Max Litzcke: Vernehmung in Theorie und Praxis: Wahrheit – Irrtum – Lüge. 2. Aufl. Stuttgart. 113 Einen guten Überblick über die Gedächtnissysteme geben Bear u. a. 2009, S. 821 ff. und J. R. Anderson 2001, S. 173 ff. 110 111

211 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

1. Fall: Der Knallzeuge: Drei Männer stehen an einer Straßenkreuzung, ins Gespräch vertieft, als es neben ihnen auf der Straße kracht. Zwei zerbeulte Pkws, einer davon Schrottwert. Was haben die drei gesehen? Ihre späteren Aussagen unterscheiden sich in wesentlichen Punkten. 2. Fall: Eine Krankenschwester stürzt aus dem dritten Stock vom Balkon eines Schwesternheimes. Sie ist sofort tot. Der Streit geht um die Lebensversicherung. Im Prozess sagt der Pförtner aus, er habe gesehen, wie die Krankenschwester vom Balkon gesprungen sei. Er beschrieb, wie sie in der Luft eine Spirale gedreht habe – wie beim Turmspringen. Dann sei sie aufgeschlagen. Abgespielt hatte sich dies an einem 30. September gegen 20.00 Uhr. Der Richter ist im späten Winter am Haus vorbeigefahren und da fiel ihm eine Reihe von Pappeln auf. Er wurde stutzig und hat genau ein Jahr später einen Ortstermin durchgeführt. Es stellte sich heraus, dass der Pförtner schon wegen der Belaubung von seiner Pförtnerloge nichts hatte sehen können. Der Zeuge selbst war völlig verstört – nicht weil er beim Lügen ertappt wurde, sondern weil er sich fest eingebildet hatte, die Sache, so wie geschildert, gesehen zu haben.

In beiden Fällen haben wir es mit »falschen Erinnerungen« 114 zu tun. Zeugen erbringen also nicht allein deshalb keine tragfähigen Aussagen, weil sie lügen oder sich nicht mehr (genauer) erinnern können (oder wollen). Sie erinnern sich auch an »Wahrheiten«, die sie gar nicht wahrgenommen haben (können), oder deuten Wahrnehmungen um, ohne dies selbst zu bemerken. Neu ist dieses Phänomen zwar keineswegs 115, doch erst die Neurowissenschaften haben uns in den letzten Jahrzehnten die notwendigen Einblicke in Struktur und Funktionsweisen des Gehirns gebracht, um verstehen und einordnen zu können, warum eine Zeugenaussage in der Regel nur ein begrenzt taugliches Beweismittel sein kann. Wie haben wir uns Struktur und Funktionsweisen unseres Gedächtnisses vorzustellen? Vorab negativ: Wir nehmen zum einen das, was wir sehen, nicht auf wie ein Videorecorder oder eine Digitalkamera. Zum anderen dürfen wir uns den Abruf von Erinnerungen nicht vorstellen wie den Aufruf einer Datei, auf die wir beliebig oft zurückgreifen können, ohne dass sie ihren Inhalt verändert. Übertragbar ist an diesem Bild nur, dass die Organisation unserer Wahrnehmung und unserer Erkenntnis unmittelbar mit der Organisation dessen verbunden ist, was wir Gedächtnis nennen. Die FunktionsweiEinen allgemeinen Überblick über den Forschungsstand geben Kühnel/Markowitsch 2009. 115 Vgl. Kühnel/Markowitsch 2009, S. 74. 114

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13 · Regeln der Sachverhaltsermittlung

se des Gedächtnisses lässt sich also nicht isoliert darstellen, sondern nur im Zusammenhang mit der Funktionsweise des Gehirns insgesamt – was hier nur im Herausgreifen einiger Grundstrukturen möglich ist. a)

Exkurs in die kognitive Neurowissenschaft (I.)

Werfen wir in diesem neurowissenschaftlichen Exkurs (I.) zunächst einen Blick auf Aspekte unserer Wahrnehmung. 116 – Wahrnehmen, Denken, Erleben und Sich-Erinnern vollziehen sich in einem Prozess des »Feuerns« unzähliger Neuronen in unterschiedlichen Hirnarealen. Bildgebende Verfahren ermöglichen es heute, solches Zusammenspiel auch sichtbar zu machen. 117 Eine der zentralen Fragen der Hirnforschung wird damit deutlich: Wie werden diese diversifizierten neuronalen Aktivitäten so organisiert, dass wir uns das Erkennen bestimmter Gegenstände oder die Erinnerung an bestimmte Ereignisse vorstellen können 118; wie werden aus einem »Fließgeschehen« 119 Geschichten? Nach dem heute wohl überwiegend anerkannten Modell ist der wesentliche Mechanismus darin zu sehen, dass die Neuronen im Ensemble nicht nur gleichzeitig feuern, sondern in dieser Aktivität auch eine temporal kohärente Struktur 120 bilden. Stellen wir uns zunächst einen Tisch vor, auf dem eine Tasse Kaffee steht. Das ist ein Bild. Aber unser Gehirn verarbeitet die Sinneseindrücke, die dieses Bild ausmachen, in den jeweils »zuständigen«, ganz unterschiedlichen Gehirnarealen. Es verarbeitet diese Informationen parallel. 121 So ist eine Kaffeetasse eben nicht einfach eine Kaffeetasse, sondern unsere Vorstellung entsteht, wenn etwa im Areal für das Dekodieren von Farben die Neuronen der Farben braun und weiß feuern und in einer »temporal kohärenten Struktur« zugleich die Neuronen für die Form und das Wort Tasse, aber auch dieDer in Kapitel 14 II. 3 – »Gesamtschau« – um einen Exkurs II, in Kapitel 22 (V.) über die Mustererkennung um einen Exkurs (III.) und in Kap. 24 (IV.) über Entscheidungstheorien um einen Exkurs (IV.) zu ergänzen ist. 117 Münte/Heinze 2001, S. 298 ff. 118 Vgl. etwa F. Deneke 2001, S. 73 ff. 119 F. Deneke 2001, S. IX f. 120 Im Anschluss an T. Metzinger 1996, S. 609, Fn. 26 u. 609 ff., dieser unter Hinweis auf einen Aufsatz von W. Singer aus dem Jahr 1994 (W. Singer 2002, S. 120 ff.). – Ein Gedanke, den ich dann kohärenztheoretisch aufgenommen habe, Strauch 2005, S. 489, 499. Siehe auch G. M. Edelman 2007, S. 50 ff., 55). 121 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 62. 116

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C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

jenigen Neuronen aktiv sind, die im Geruchszentrum das Kaffeearoma vertreten, wie auch solche, die für die emotionalen Wünsche aus dem limbischen System zuständig sind. 122 Alle diese Wahrnehmungen setzen ein Vorwissen voraus: was eine Tasse ist, was Kaffee, wie er riecht usw. All das muss ja gespeichert sein. Das Gehirn dekodiert also unsere Sinneseindrücke durch Abgleich mit Gedächtnisinhalten. Plastisch hat G. Roth diese elementare Funktion unseres Gedächtnisses auf den Nenner gebracht: »Das Gedächtnis ist unser wichtigstes Sinnesorgan«. 123 Stellen wir uns weiterhin diesen Kaffeetisch vor, aber der Akteur ist auf das Geschäft konzentriert, das er abschließen will, vielleicht interessiert ihn auch etwas anderes – das Bild an der Wand, weil er Kunstsammler ist, oder etwa die Gastgeberin. So mag er denn die Kaffeetasse irgendwie gesehen haben, sie hat jedoch über das (früher so genannte) Kurzzeitgedächtnis nicht so Eingang ins Langzeitgedächtnis gefunden, 124 dass er sich die Tasse leicht wieder in Erinnerung rufen könnte. Der Kunstsammler würde das Bild sofort wieder beschreiben können. Von dem Akteur, der ein Auge auf die Gastgeberin geworfen hat, ganz zu schweigen. So mag der Mensch zwar vieles sehen, das in seinem Gesichtsfeld liegt, aber nur ein Bruchteil davon findet Eingang in sein Gedächtnis. 125 Festzuhalten ist: Wie genau ein Zeuge etwas wahrgenommen hat, wird also wesentlich davon abhängen, wie stark sein Interesse ihn auf bestimmte Wahrnehmungsgegenstände fokussiert hat. Und die Richtigkeit seiner Beobachtung wird auch von dem Wissen abhängen, mit der er sie gemacht hat. Wesentliche Faktoren für die Einspeicherung (»Enkodierung« 126) in das Langzeitgedächtnis sind deshalb die Fähigkeit, das Wahrgenommene in vorhandenes Wissen einzuordnen und dort zu verankern, 127 sowie die Intensität des emotionalen Interesses an dem beobachteten Geschehen. 128 Nicht zuletzt »fördert G. Roth 1996, S. 255 gibt am Beispiel eines Stuhles eine detaillierte Aufgliederung solcher Aspekte und ihrer Zuordnung zu unterschiedlichen kortikalen Arealen. Allgemein auch G. M. Edelman 2007, S. 54. 123 G. Roth 1996, S. 261 ff. 124 Vgl. J. R. Anderson 2001, S. 174 ff. 125 Vgl. dazu näher Kühnel/Markowitsch 2009, S. 40 f., 117 f., 128 ff. 126 Vgl. J. R. Anderson 2001, S. 173 ff. 127 J. R. Anderson: »Wenn Inhalte elaborativer verarbeitet werden, dann werden sie besser behalten«, aaO. S. 193. 128 J. R. Anderson«, aaO. S. 198 ff. 122

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13 · Regeln der Sachverhaltsermittlung

Stress eine Festigung emotional relevanter Informationen«, allerdings »ohne dabei zu unterscheiden, ob diese Information tatsächlich der Wahrheit entspricht oder unserer eigenen Vorstellung entsprungen ist«. 129 Bleiben wir auch für den damit angesprochenen dritten wesentlichen Zusammenhang beim Kaffeetisch. Den Akteur hat der Kaffee, wie gesagt, nicht sonderlich interessiert. Gleichwohl soll er später als Zeuge eine Aussage machen. Hier kann schon die Fragestellung den Inhalt der Aussage bestimmen. Eine möglichst neutrale, offene Frage lautet: Stand etwas auf dem Tisch? Der Zeuge zuckt die Achseln; er kann nichts »abrufen«. Zu einer ganz anderen Reaktion kann es kommen, wenn etwa gefragt wird: Haben Sie denn die Kaffeetasse nicht gesehen? Oder gar: Ist Ihnen der Kaffeegeruch wirklich nicht aufgefallen? – Allerdings kann es dann so sein, dass nicht einmal der Zeuge selbst genau weiß, ob er sich nun wirklich – wenigstens bruchstückhaft – an eine konkret abgespeicherte Tatsache erinnert oder nur Suggestivfragen ihre Wirkung getan haben. So unbefriedigend diese typische Situation, in der eine Grenze zwischen »richtiger« und »falscher« Erinnerung nicht oder kaum auszumachen ist, für die richterliche »Wahrheitsfindung« auch sein mag – der Richter muss sie als gegeben hinnehmen. Das wird noch klarer, wenn wir den neurowissenschaftlichen Hintergrund weiter ausleuchten: Wie wir gesehen haben, ist das, was wir Gedächtnis nennen, keinem festen Speicher, etwa einem Neuron oder einem stabilen Verbund von Neuronen, klar und separat zugeordnet, sondern kann als »Gedächtnisspur« über sehr viele Verbindungen in einem ausgedehnten Neuronenverbund verteilt sein. Dieselben Neuronen, die Träger eines so gespeicherten Gedächtnisinhaltes sind, sind aber auch an dem Prozess der Wahrnehmung beteiligt. 130 Unsere Wahrnehmung ist geradezu daraufhin angelegt, dass wir sie durch Vorwissen ergänzen und für den größten Teil unseres Wahrnehmens und Denkens auf automatisierte Schemata zugreifen. 131 Es sind Gedächtnisinhalte, die unsere Wahrnehmungsfragmente zu kompletten Wahrnehmungen nach solchen Schemata und Kohärenzprinzipien Kühnel/Markowitsch 2009, S. 190. Bear u. a. 2009, S. 831; dort – S. 829 ff. – auch zum »Modell für ein verteiltes Gedächtnis« und zur Frage, wie man sich die physische Repräsentation eines »Engramms« oder einer »Gedächtnisspur« als »cell assembly« vorzustellen hat. 131 H.-L. Kröber, Freie Entscheidung gegen den Fahrstuhl, in: Gehirn und Geist 2/2003, S. 13. 129 130

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ergänzen. Hier liegen auch die entscheidenden Mechanismen, die in den beiden Ausgangsfällen wirksam waren: der Knallzeugen und des Pförtners. Man weiß, wie ein Unfall typischerweise abläuft und stellt ihn sich vor, wenn man den Knall hört und das Ergebnis sieht. Wir unterscheiden zwar wie selbstverständlich zwischen Wahrnehmung und Vorstellung – wenn wir etwas wahrnehmen oder uns etwas vorstellen, dann beruht das aber weitgehend auf denselben Hirnfunktionen. Dem entspricht es, »daß sich die Aktivitätsmuster, die auftreten, wenn sich Menschen etwas vorstellen oder das Vorgestellte tatsächlich vor Augen haben, kaum unterscheiden« (W. Singer). 132. So assoziierten sich beim Pförtner, als er den Aufschlag der Krankenschwester wahrnahm, Bilder mit denen er sich den Vorgang »erklären«, ihn »rekonstruieren« konnte. Und er »beschrieb« in seiner Vernehmung, wie die Person »in der Luft eine Spirale gedreht habe – wie beim Turmspringen.« Die Art, in der Gedächtnisinhalte gespeichert werden, macht auch verständlich, warum wir das Gespeicherte nicht, wie bei einer Festplatte, beliebig mit immer gleichem Inhalt abrufen können. Wir haben es mit einem prinzipiell dynamischen Prozess zu tun. 133 Denn bei jedem Abruf wird die Information in einer veränderten (Lebens-) Situation und somit in einem neuen Zusammenhang erinnert. 134 Im Kontext neuer aktueller Informationen verändert sich so auch das alte »Aktivitätsmuster« (W. Singer). Dabei wird wiederum ein Mechanismus wirksam, der schon bei der Einspeicherung eine entscheidende Rolle spielt und der sich auf den Nenner bringen lässt: »Erinnerungen müssen stimmen« 135 – nicht etwa »objektiv«, sondern sie müssen für mich stimmig sein. Auch hier geht es um eine »temporal kohärente Struktur« und sie wird hergestellt, indem wir Informationen und Erleben so ordnen, dass sie sich in unser Welt- und Selbstbild ohne Dissonanzen einfügen. 136 Erinnert sei an Nietzsches berühmte Satzfolge: »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht ge-

W. Singer 2005, S. 716; siehe auch G. M. Edelman 2007, S. 107; grundlegend zu »falschen Erinnerungen« – auch zu Erinnerungstäuschungen aufgrund fragwürdiger Therapiemethoden – die Arbeiten von E. Loftus, siehe Loftus 1998. 133 Vgl. näher Kühnel/Markowitsch 2009, S. 57 ff. 134 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 47. 135 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 219 ff. 136 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 221 f.; zu Mechanismen solcher »Rationalisierung« dort insbesondere der Hinweis auf die kognitive Dissonanztheorie von Festinger. 132

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tan haben‹, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach«. 137 Für die Vernehmungspraxis sind diese Phasen der so genannten Re-Konsolidierung 138 von kaum zu unterschätzender Bedeutung. 139 Worum geht es? Mit jedem Neuaufruf werden die alten Erinnerungen wieder ins Gedächtnis gerufen. Sie haben so die Chance, sich zu verfestigen. Zugleich hinterlässt auch die neue, veränderte Situation ihre Gedächtnisspuren. Das alte »Aktivitätsmuster« (W. Singer) verändert sich so im Kontext neuer, aktueller Information zu einem neuen Muster, einem veränderten Gedächtnisinhalt. Dafür gibt es gute Gründe. Unser Wissen passt sich so immer wieder den Gegebenheiten an. 140 Mithin ist der Mensch als Zeuge entsprechend schlecht geeignet. Vor allem ist es möglich, wie zahlreiche Untersuchungen gezeigt haben, durch Techniken der Suggestion – bewusste oder unbewusste – falsche Erinnerungen zu produzieren. 141 Das gilt vor allem bei kindlichen Zeugen, die per se zwar keineswegs schlechtere Zeugen, aber für Beeinflussungen besonders anfällig sind. 142 b)

Die »Nullhypothese« – Wege der »Verifizierung«

Kühnel und Markowitsch ziehen in ihrem Buch über »falschen Erinnerungen« u. a. folgendes Fazit: »Wenn wir aufhören, unsere eigenen Erinnerungen auf ein Podest zu stellen, können wir beginnen, sie als das zu sehen, was sie sind: Erinnerungen sind eine Mischung aus Wahrnehmung, Erfahrung, Überzeugung, Emotion, Vorstellung, Wünschen und Gesprächen und auch geprägt durch den sozialen Hintergrund eines jeden Einzelnen«. 143 Da das menschliche Gehirn also nicht dafür ausgelegt ist, »konsequent zwischen richtigen und falschen Erinnerungen zu unterscheiden«, 144 brauchen wir Methoden der »Verifizierung«. Sie sind, um Grundstrukturen sichtbar zu machen, wenigstens in Stichworten zu skizzieren: Friedrich Nietzsche, Werke III – Jenseits von Gut und Böse, § 68. Kühnel/Markowitsch 2009, S. 47. 139 Vgl. Kühnel/Markowitsch 2009, S 144 ff.; Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 253 ff., 888 ff. 140 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 47. 141 Vgl. E. Loftus 1998 und etwa J. R. Anderson 2001, S. 221 f. 142 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 150 ff. 143 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 224. 144 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 229. 137 138

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(1.) Eine solche Methodik der »Verifizierung« setzt erstens unabdingbar voraus, dass der Richter über ein hinreichend fundiertes Wissen darüber verfügt, warum die Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen ein Problemfeld ist. Aufgrund dieses Wissens muss er sich dann zweitens auch darüber klar sein, dass er sich nicht darauf verlassen darf, sich mit Selbstverständlichkeit in diesem Problemfeld mit Alltagstheorien und Alltagsweisheiten 145 zurechtfinden zu können. Verfügt er hier nicht über hinreichendes Wissen, bedarf es eines Sachverständigen. Entscheidend ist, wie der BGH in seiner Grundlagenentscheidung zur »Nullhypothese« ausgeführt hat: »Bei der Begutachtung hat sich ein Sachverständiger ausschließlich methodischer Mittel zu bedienen, die dem jeweils aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werden« 146; es fällt bei der Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens auch grundsätzlich in die Zuständigkeit des Tatrichters, »die Einhaltung der dargelegten wissenschaftlichen Mindestanforderungen sicherzustellen«. 147 (2.) Angesichts der oben im Hinblick auf (unbewusst) falsche Erinnerungen beschriebenen Gründe für die Unzuverlässigkeit des Zeugenbeweises und der Unzuverlässigkeit, die sich daraus ergibt, dass der Richter immer damit rechnen muss, dass der Zeuge schlicht bewusst lügt (ohne dass er ihm das, wie viel zitiert, an der Nasenspitze ansehen kann), liegt es auf der Hand, dass der Richter bei der Bewertung von Aussagen nicht von einer Anfangswahrscheinlichkeit für deren Zuverlässigkeit ausgehen darf. Da die Zeugenaussage andererseits ein unverzichtbares Beweismittel ist, bedarf es Kriterien für die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen. Für diese Beurteilung muss ein Abgleich der Aussage zu dem bezeugten Geschehen mit – jetzt sehr allgemein formuliert – anderen Daten vorgenommen werden. Dieser Abgleich kann auf zwei Ebenen stattfinden: 1. als Abgleich mit anderen für zuverlässig zu haltenden Aussagen oder mit fraglos feststehenden oder bewiesenen Tatsachen; 2. als Abgleich der Aussage des Zeugen mit Daten, die darüber Aufschluss geben können, ob die auf ein bestimmtes Geschehen

Vgl. dazu in diesem Zusammenhang näher Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 388 ff., 480 ff. 146 BGHSt 45, 164–182 – juris Rn. 46. 147 BGHSt 45, 164–182 – juris Rn. 58. 145

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bezogenen Angaben auch einem tatsächlichen Erleben des Zeugen entsprechen oder nicht. Je eindeutiger der Abgleich auf der 1. Ebene ausfällt, desto geringer wird die Bedeutung eines Abgleichs auf der 2. Ebene. Kann das Gericht dagegen auf fraglos feststehende oder bewiesene Tatsachen nicht zurückgreifen und/oder steht Aussage gegen Aussage, kann die Beweiswürdigung nur auf der 2. Ebene erfolgen. Die Aussage dieses Zeugen muss dann – jedenfalls wenn die Entscheidung im Strafverfahren davon abhängt, ob dem einzigen Belastungszeugen zu folgen ist – einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung – unterzogen werden. 148 Die wesentlichen Prüfungsgesichtspunkte und gedanklichen Arbeitsschritte einer methodischen Beurteilung der Zuverlässigkeit einer Aussage sind mit folgenden Stichworten wenigstens skizziert: (3.) Gearbeitet wird bei der aussagepsychologischen Begutachtung mit Analysen nicht nur allgemein der Persönlichkeit, sondern spezifischer Aspekte der Person und der Aussage; genannt seien: • die kriterienorientierte Aussagenanalyse: Es geht um die Frage, ob ein Bericht aus dem Gedächtnis rekonstruiert wurde oder eine (bewusst) lügende Person ihre Aussage aus ihrem gespeicherten Allgemeinwissen konstruiert. Kriterien sind hier aussageimmanente Qualitätsmerkmale wie logische Konsistenz, quantitativer Detailreichtum, raum-zeitliche Verknüpfungen, Schilderung ausgefallener Einzelheiten und psychischer Vorgänge, Entlastung des Beschuldigten, deliktsspezifische Aussageelemente; 149 • die Motivanalyse: Sie zielt vor allem auf die Feststellung möglicher Motive für eine unzutreffende Belastung des Beschuldigten durch einen Zeugen ab. Potentielle Belastungsmotive können sich etwa bei der Untersuchung der Beziehung zwischen dem Zeugen und dem von ihm Beschuldigten / einer Partei ergeben. Besondere Bedeutung kann der Frage zukommen, welche Konsequenzen der erhobene Vorwurf für die Beteiligten oder für Dritte nach sich ziehen kann. Bei Anhaltspunkten ist hier auch stets die Rachehypothese zu überprüfen 150 oder das Motiv, dass sich ein Zeuge selbst entlasten will; 151 Vgl. BGHSt 44, 153–160, – juris Rn. 14; grundsätzlich: BVerfG 2. Senat 3. Kammer, NJW 2003, 2444–2447. 149 BGHSt 45, 164, 182, – juris Rn. 20 ff. 150 BGHSt 45, 164, 173; BGH. NStZ-RR 2003, 206–209; Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 219, 364 ff., 486. 151 BGH, NStZ-RR 2003, 245–246. 148

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die Kompetenzanalyse: Die Beurteilung der persönlichen Kompetenz der aussagenden Person, insbesondere seiner allgemeinen und sprachlich-intellektuellen Leistungsfähigkeit sowie seiner Kenntnisse in Bezug auf den Bereich, dem die Beweisfrage zuzuordnen bzw. die dem erhobenen Tatvorwurf zuzurechnen ist. 152

Diese Stichworte vermitteln allenfalls grobe Vorstellungen über die Ansätze, um die es bei den »Methoden der Aussageanalyse« 153 geht. Für diese Methoden ist, wie bereits gesagt, auf die spezielle Literatur zu verweisen. 154 Jede verkürzte Darstellung würde diese Methoden zu dem machen, was sie nicht sein dürfen: schematische Anwendung von undifferenzierten Alltagstheorien 155 und von Kriterien, die untereinander weder trennscharf noch eindeutig sind, sondern oft gegenteilig interpretiert werden können. 156 Erst ein Zusammenspiel differenzierter Beobachtungskriterien und genauer situationsbezogener Beobachtungen kann hier zu tragfähigen Analysen führen. Noch schwieriger als im Falle der Lüge, diese von der Wahrheit zu unterscheiden, wird die Analyse für den Richter bei den falschen Erinnerungen. Da sich, um nochmals W. Singer zu zitieren, »die Aktivitätsmuster, die auftreten, wenn sich Menschen etwas vorstellen oder das Vorgestellte tatsächlich vor Augen haben, kaum unterscheiden«, 157 muss jedenfalls versucht werden, die Mechanismen in den Blick zu bekommen, mit denen sich die Entstehung »falscher Erinnerungen« erklären lässt. Die Praxis der Gerichte und Gutachter arbeitet hier mit folgenden Hypothesen: • Konfabulationshypothese: bei den Aussagen handelt es sich um ein reines Fantasieprodukt; • Wahrnehmungsübertragungshypothese: bei den Aussagen handelt es sich um Inhalte, die nicht durch eigene Wahrnehmung, sondern auf andere Weise – durch Filme, Fernsehen, Bücher, BGHSt 45, 164, 182, Rn. 35; allgemein zur Aussagefähigkeit U. Eisenberg 2015, Rn. 1362 ff. 153 BGHSt 45, 164–182 – juris Rn. 27; vgl. auch Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 247. 154 Etwa Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 212 ff.; U. Eisenberg 2015, Rn. 1426 ff. 155 Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 388 am Beispiel eines weiteren Analysegesichtspunktes, der Konstanzanalyse; grundsätzlich auch U. Eisenberg 2015, Rn. 1429 ff. 156 Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 306. 157 W. Singer 2005, S. 716. 152

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Zeitschriften – erworben wurden und die der Zeuge dann auf den Aussagegegenstand überträgt; • Übertragungshypothese: die aussagende Person hat die von ihr geschilderten sexuellen Übergriffe so erlebt, allerdings mit einer anderen Person als der angegebenen; • Instruktionshypothese: der Zeuge wurde von einer anderen Person gezielt instruiert, eine Falschaussage zu tätigen; • Suggestionshypothese: die Aussage ist das Ergebnis häufiger und subjektiver Beeinflussungen im Vorfeld oder auch während der Begutachtung beziehungsweise Anzeigenerstattung bei der Polizei. Eine Überprüfung nach diesen Kriterien 158 ist ein wesentlicher Teil einer aussagepsychologischen Begutachtung. Ihr methodisches Grundprinzip besteht, um die entscheidenden Passagen aus dem Grundsatzurteil des BGH nochmals zu zitieren, darin, »einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst an, die Aussage sei unwahr (sog. Nullhypothese). Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, daß die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, daß es sich um eine wahre Aussage handelt.« 159 Ergibt also eine Überprüfung, dass keine der genannten Hypothesen zutrifft, ist die Ausgangsannahme, die Aussage sei unwahr (sog. Nullhypothese) insoweit nicht mehr aufrechtzuerhalten, als man befürchten muss, dass es sich um »falsche Erinnerungen« handelt. Bestätigen weiterhin die Aussageanalysen und der Abgleich mit den übrigen erhobenen Fakten die Unwahrheitshypothese nicht, kann die Aussage als »richtig« einem Urteil zugrunde gelegt werden. Man hat damit eine wissenschaftlich fundierte und inzwischen auch elaborierte Methode für eine Glaubhaftigkeitsbegutachtung gefunden, die den Zufälligkeiten hausbackener Vorurteilsstrukturen

Die Aufstellung der Kriterien ist dem Urt. des OLG Saarbrücken v. 13. 07. 2011 – 1 U 32/08 – 9, 1 U 32/08 – juris Rn. 53 entnommen. Eine Übersicht über den Forschungsstand geben Kühnel/Markowitsch 2009, S. 93 ff.; über die Irrtums-Phänomene in der gerichtlichen Praxis ausführlich Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 20 – 211. 159 BGHSt 45, 164, 182, juris Rn. 12. 158

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und Alltagstheorien herkömmlicher Beweiswürdigungen eindeutig überlegen ist. Aber auch diese Methode macht die Beweiswürdigung nicht zu einem Verfahren, das aufgrund sicherer Datensätze und eindeutiger Korrelationen zu unbezweifelbaren Ergebnissen kommt. Gerade die Abwägungen, die die zitierte Entscheidung BGHSt 45, 164 und andere Urteile hinsichtlich unterschiedlicher Gutachtereinschätzungen immer wieder vornehmen müssen, machen das deutlich. Und selbst mit bildgebenden Verfahren ist es auch auf der neuroanatomischen Ebene bis heute nicht gelungen, belastbare Unterschiede zwischen echten (selbsterlebten) und falschen (»eingebildeten«) Erinnerungen auszumachen. 160. Insoweit überrascht es auch nicht, dass der BGH in neueren Entscheidungen klargestellt hat, dass die in BGHSt 45, 164 genannten methodischen Grundprinzipien »lediglich den derzeitigen wissenschaftlichen Standard beschreiben, dass aber aussagepsychologische Gutachten nicht einheitlich dieser Prüfstrategie folgen müssen, vielmehr weiterhin der Grundsatz gelte, dass es dem Sachverständigen überlassen bleiben müsse, in welcher Art und Weise er dem Gericht sein Gutachten unterbreite«. 161 c)

Zeugenbeweis – ein Zwischenergebnis

Die Beurteilung einer Zeugenaussage als richtig oder falsch wird sich in aller Regel nicht als einfache Schlussfolgerung aus einigen wenigen und klaren Indizien darstellen lassen. Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsprüfungen sind auch nicht die einzigen Richtigkeitskriterien. Die Qualität einer Zeugenaussage hängt zunächst und entscheidend von der Qualität der richterlichen Vernehmung ab; ein Thema, mit dem wir uns anschließend zu beschäftigen haben (u. 2.a). Weiterhin ist die Beweiswürdigung eine Frage der Gewissheit, mit der der Richter von der »Wahrheit« einer Aussage überzeugt sein muss, also des Beweismaßes. Erst am Schluss wird dann eine Gesamtwürdigung stehen, deren Gelingen darüber entscheidet, ob die Beweiswürdigung »kohärent« ist. Wie wir die »Gesamtschau aller Beweisanzeichen« zu verstehen haben, werden wir in ihrer komplexen Struktur jedoch erst im Kapitel 14 näher erörtern und analysieren können.

160 161

Kühnel/Markowitsch 2009, S. 142 f.; 223. NStZ 2008, 116–117 mit Hinweis auf BGH, NStZ 2001, 45–46.

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Als Zwischenergebnis ist aber festzuhalten: Soweit die Stimmigkeit der Beweiswürdigung von der Richtigkeit einer Zeugenaussage abhängt, kommt es für deren Verifizierung (oder umgekehrt: Falsifizierung) darauf an, ob es gelingt, auf folgenden zwei Ebenen Kohärenz herzustellen: • Zum einen ist die Frage zu beantworten: Fügt sich das, was der Zeuge ausgesagt hat, in das Wissen ein, was dem Gericht bislang zum Sachverhalt bekannt ist? Fügt es sich nicht ein, kommt es darauf an, ob die Aussage im eindeutigen Widerspruch zu bereits feststehenden Fakten steht – dann kann das Gericht der Aussage nicht folgen – oder ob die Aussage dem Gericht hinreichende Veranlassung gibt, seine bisherige Sachverhaltshypothese zu überprüfen – dann ist seine Hypothese gegebenenfalls der Aussage anzupassen. • Im zweiten Vorgang ist zu überprüfen, inwieweit sich Aussage und Umstände der Aussage und des Aussagenden so in das Wissen über die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage einordnen lassen, dass sich das Gericht darüber Klarheit verschaffen kann, ob es diese Überprüfung mit eigener Sachkunde vornehmen kann oder sich eines Sachverständigen bedienen muss. Die Einzelanalysen auf beiden Ebenen müssen also auch untereinander »stimmig« sein. Diese Kohärenz ist insoweit Bedingung für die Stimmigkeit der zu leistenden »Gesamtschau aller Beweisanzeichen«.

2.

Sachverhaltsermittlung: Kommunikation zwischen Zielgerichtetheit und Offenheit

Ob wir die Würdigung einer Zeugenaussage oder allgemein die Feststellung eines Sachverhalts als »kohärent« und damit »richtig« bezeichnen können, hängt also – um dies nochmals zu betonen – am Ende davon ab, ob die »umfassende Gesamtwürdigung« 162 des Gerichts überzeugt. Diese »umfassende Gesamtwürdigung« hat aber zur entscheidenden Voraussetzung, dass das Gericht die mündliche Verhandlung oder das (schriftliche) Verfahren zuvor so genutzt hat, Vgl. etwa die Formulierungen in BGH, Urt. vom 28. 02. 2013 – 4 StR 357/12 –, juris, Rn. 23 m. N.; BFH, Urt. v. 06. 03. 2003 – IV R 21/01 –, juris Rn. 22 ff. m. N.; BVerwGE 140, 185, 193.

162

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dass es bei seiner Überzeugungsbildung auch alle relevanten Daten zur Hand hat. Wie aber ist das Kohärenzkriterium der Umfassendheit praktisch zu handhaben? Diese Frage ist mit prozessrechtlichen Erörterungen allein – wie umfassend muss die Sachverhaltsermittlung sein und welche Grenzen muss der Richter je nach Prozessordnung einhalten? – nicht zu beantworten. Denn wie umfassend die Informationen sind, über die der Richter letztlich verfügen kann, verlangt auch Antworten, die jenseits der Fragen liegen, die von Juristen üblicherweise mit dem Hinweis auf die rechtlichen Vorgaben der Prozessgrundsätze beantwortet werden. Was sich bei den Gründen für die Unzuverlässigkeit von Zeugenaussagen beispielhaft gezeigt hat, gilt naturgemäß auch für Richter: Bereits unsere Wahrnehmungen sind selektiv und das Wahrgenommene merken wir uns auch keineswegs umfassend. Das häufige Misslingen menschlicher Kommunikation kommt hinzu. Man darf also zunächst nicht davon ausgehen, dass der Richter all die Informationen, die »auf dem Bildschirm des Prozessgeschehens auftauchen«, auch aufnehmen und verarbeiten kann. Für eine Methode der Sachverhaltsermittlung kommt deshalb der Frage, ob und wie der Richter seine Aufmerksamkeit steuern kann – und soll – eine entscheidende Bedeutung zu. Ich will es einleitend im Kontrast zweier Berufsrollen erläutern, für die das Zuhören-Können und somit auch das Zuhören-Lernen in sehr unterschiedlicher Weise Bedingung des professionellen Arbeitens ist. Beobachten wir die Kommunikation, die ein Psychoanalytiker mit seinem Klienten führt, und die Kommunikation, die ein Richter mit den Prozessparteien führt, haben sie etwas Gemeinsames: Sie ist professionell einseitig und im Alltag würde sich niemand, der etwas erfahren will, in dieser Weise mit einem anderen unterhalten. Vor allem aber unterliegen, wie gesagt, Richter und Analytiker den gleichen Mechanismen, die die Problematik von Zeugenaussagen ausmachen: den Problemen selektiver Wahrnehmung und der Steuerung der Verarbeitung durch individuelle Muster; was man an Informationen speichert, wird vielfach emotional bestimmt und unterliegt den Prozessen sekundärer Rationalisierung. Methode und Habitus haben hier die zentrale Aufgabe, die emotional bestimmte Aufmerksamkeit und Wahrnehmung professionell zu steuern. Unter diesem Gesichtspunkt professioneller Aufmerksamkeitssteuerung könnten die Unterschiede analytischer und richterlicher Methode dagegen kaum gegensätzlicher sein. Bei näherem Hinsehen 224 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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zeigt sich allerdings, dass auch die Sachaufklärung durch den Richter ohne Phasen, die sich an Freuds Idealregel »gleichschwebender Aufmerksamkeit« orientieren, nicht auskommen kann. In seinen »Ratschläge[n] für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung« von 1912 beschreibt Freud seine Technik als »eine sehr einfache«, nämlich »sich nichts besonders merken zu wollen und allem, was man zu hören bekommt, die nämliche ›gleichschwebende Aufmerksamkeit‹ […] entgegenzubringen«. 163 Auf Seiten des Patienten soll auf diese Weise der für die Analyse entscheidende Vorgang der »freien Assoziation« befördert werden, ohne Einschränkung alles das zu sagen, was ihm gerade einfällt. Der Gegensatz zur richterlichen Ermittlungstechnik liegt damit auf der Hand. Der Richter muss seine Aufmerksamkeit auf die – rechtlich – relevanten Tatsachen richten, und soweit er unmittelbar mit Parteien verhandelt, erfordert es oft sein besonderes Geschick, sie in ihrer »freien Assoziation« zu bremsen, um sich »auf das Wesentliche« konzentrieren zu können. Je konzentrierter die richterliche Aufmerksamkeit jedoch auf einen bestimmten Punkt gerichtet ist, desto leichter kann es zu einer »Wahrnehmungsblindheit« kommen, einem Phänomen, für das ein berühmter Videoclip (»Der Gorilla«) ein anschauliches Beispiel gibt: 164 Zwei Mannschaften – drei weiß gekleidete und drei schwarz gekleidete Studenten – werfen sich jeweils einen Basketball zu. Den Zuschauern wird die Aufgabe gestellt, genau mitzuzählen, wie oft der Ball innerhalb der weißen Mannschaft aufgefangen wurde. Ist das Video zu Ende, wird die Zahl abgefragt und der Versuchsleiter fragt, ob denn sonst noch etwas aufgefallen sei. Es hätte etwas auffallen müssen. Denn während des Zuspiels ging eine große, als Gorilla verkleidete Person mitten durch die Gruppe, gestikulierte, grinste in die Kamera und verschwand wieder. Ich selbst habe das Video häufiger auf Tagungen der Deutschen Richterakademie gezeigt und das Ergebnis war immer wieder verblüffend. Soweit die Teilnehmer es nicht schon kannten, war der Gorilla oft von nahezu allen Kolleginnen und Kollegen nicht wahrgenommen worden. Nachdenklich hat das allerdings nicht alle Richter gestimmt.

163 164

S. Freud 1975, S. 171. Siehe dazu näher M. O’Shea 2008, S. 93 f.

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a)

Die ideale Kommunikationshaltung – geteilte Aufmerksamkeit

So unabdingbar die selektive/fokussierende Aufmerksamkeit für die Sachverhaltsermittlung ist, so notwendig ist auch ein möglichst weiter Blick, eine Offenheit für Informationen, die zwar beim aktuellen Sach- und Streitstand nicht relevant erscheinen, aber es werden können. Man denke auch an all die zunächst nebensächlich erscheinenden Beweisanzeichen und Reaktionen, ohne die eine Beweiswürdigung nicht sinnvoll durchzuführen ist. Es bedarf deshalb oft einer »geteilten Aufmerksamkeit«, die in ihrer Intention gleichzeitig offen und fokussiert ist. Sehr anschaulich und auch auf die Rechtspraxis übertragbar, hat Freud in seinen »Ratschlägen« die Gefahren der Verengung, die sonst auftreten, so beschrieben: »Sowie man nämlich seine Aufmerksamkeit absichtlich bis zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen Materiale auszuwählen; man fixiert das eine Stück besonders scharf, eliminiert dafür ein anderes und folgt bei dieser Auswahl seinen Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade dies darf man aber nicht; folgt man bei der Auswahl seinen Erwartungen, so ist man in Gefahr, niemals etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß; folgt man seinen Neigungen, so wird man sicherlich die mögliche Wahrnehmung fälschen. Man darf nicht darauf vergessen, daß man ja zumeist Dinge zu hören bekommt, deren Bedeutung erst nachträglich erkannt wird.« 165

Ein Richter, der sich immer nur auf »das Wesentliche«, auf die Beschaffung der für die rechtliche Beurteilung »relevanten« Informationen konzentriert, läuft also eine doppelte Gefahr: zum einen, dass er die relevanten Informationen nicht bekommt, und zum anderen, dass er für relevant hält, was nicht relevant ist. Dies soll an typischen Schritten der Sachverhaltsermittlung verdeutlicht werden: (1.) Hypothesenbildung: Die Konstitution eines Sachverhaltes verlangt, wie wir gesehen haben, zunächst Ausgangshypothesen (oben II. 1.). Handelt es sich um eine dem Richter bekannte Fallkonstellation, wird das sofort ein rechtliches Muster sein. Anderenfalls muss er erst eine Vorstellung über den Sachverhalt bilden. So sehr er sich bei seiner »Arbeit am Sachverhalt« an diesen Vorstellungen und Mustern orientieren muss, so sehr muss er darauf achten, dass seine nur selektive/fokussierende Aufmerksamkeit nicht zum »Tunnelblick« wird. Der Richter muss das Verfahren mit einer zwischen Ziel165

S. Freud 1975, S. 172.

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gerichtetheit und Offenheit für überraschende Informationen geteilten Aufmerksamkeit führen. Um eine bildliche Formel zu wiederholen: Die »Wahrheit« eines Sachverhaltes hängt nicht zuletzt davon ab, dass der Richter auch zunächst nicht relevant erscheinende Informationen, die auf dem »Bildschirm des Prozessgeschehens« auftauchen, wahrnimmt und nicht gleich ausblendet. Anderenfalls kann er schnell in die Situation kommen, dass er, ohne es zu merken, den falschen Fall entscheidet. Typische Fehlerquellen: Schriftsätze werden nur selektiv auf Informationen hin gelesen, die dem Richter noch für seine Subsumtion fehlen. In der empirischen Studie anhand des schon mehrfach zitierten Arzthaftungsfalles wurde der Befund so beschrieben: »Die Sachverhaltsschilderungen der Prozessparteien werden nur insoweit verwertet, als mit ihnen ein für den Richter im Rahmen dogmatischer Konstruktion verwertbarer typisierter Lebenszusammenhang erkennbar wird«. 166 Dem Richter entgehen dann die Besonderheiten, die den konkreten Fall ausmachen. Der Arbeitsrichter übersieht etwa, dass es alleiniges Ziel einer Organisationsmaßnahme war, dem Inhaber dieses Arbeitsplatzes betriebsbedingt kündigen zu können. 167 Oder noch gravierender: Dem Gericht kommt der entscheidende Handlungszusammenhang nicht in den Blick, so dass es eine Schenkung annimmt, aber eine Gesellschafterstellung (causa societatis) übersieht. 168 (2.) Zeugenvernehmung: Die Notwendigkeit und Funktion von geteilter Aufmerksamkeit wird in kaum einem anderen Verfahrensabschnitt so deutlich wie bei der Zeugenvernehmung. Hier ordnet gleichsam schon der Gesetzgeber geteilte Aufmerksamkeit an. Der Zeuge soll zunächst eben nicht punktuell auf das relevante Tatbestandsmerkmal hin befragt werden, das der Richter für entscheidungserheblich hält, sondern der Grundsatz lautet: »Der Zeuge ist zu veranlassen, das, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang anzugeben«. 169 Mit Freud lässt T. Drosdeck 1997, S. 25. Vgl. LAG Berlin-Brandenburg Urt. v. 25. 11. 2010 – 2 Sa 707/10 – juris – Das AG Berlin hatte sich, vereinfacht, mit dem Grundsatz zufriedengegeben, es sei an die unternehmerische Organisationsentscheidung gebunden; s. a. BAG 2. Senat, Urt. v. 24. 05. 2012 – 2 AZR 124/11 – juris. 168 »Sportgate./.Boris Becker«-Fall; vgl. BGH Urt. vom 8. 5. 06 – II ZR 94/05 = BB 2006, 1467–1468 = WM 2006, 1202–1204. – Näher zu diesem Fall Kap. 23 I. 169 Vgl. § 69 Abs. 1 StPO und nahezu gleichlautend § 396 Abs. 1 ZPO. 166 167

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sich die Leitidee gerade hier dahin formulieren, dass man nur so »Dinge zu hören bekommt, deren Bedeutung erst nachträglich erkannt wird«. 170 Bender/Nack/Treuer formulieren die Maxime einprägsam mit der Überschrift: »Reden lassen«. 171 Denn es ist in der Tat nur »schwerlich möglich, die Glaubhaftigkeit einer Aussage zuverlässig zu beurteilen, wenn die Auskunftsperson nicht als erstes einen ungestörten Bericht abliefert«. 172 Was die Vernehmung selbst anlangt, die eine Kunst des konzentrierten Fragens und der geteilten Aufmerksamkeit ist – zuvor aber vom Richter verlangt, dass es ihm überhaupt gelingt, eine für das Verfahren fruchtbare Kommunikation herzustellen –, kann und muss auch hier für die konkreten Verhaltensprobleme und Regeln auf die vorhandene Handbuch- 173 und Kommentarliteratur 174 verwiesen werden. Notwendig sind jedoch wenigstens Hinweise darauf, dass der Richter gerade in der besonderen Situation der Zeugenvernehmung die Kommunikation nie nur als objektiver Beobachter führt und bestimmt. Er mag sich noch so sehr als unbefangener Neutraler fühlen, muss aber reflektieren, dass er im Persönlichen gefangen bleibt. Wir müssen uns mit anderen Worten darüber im Klaren sein, dass richterliche Offenheit gegenüber Informationen – wie jede menschliche Wahrnehmung – durch Bedingungen begrenzt ist, die sich prinzipiell nicht ausschalten lassen. Man kann sie als die neuro-kulturellen Strukturen bezeichnen, die unsere Erkenntnis- und Wahrnehmungsprozesse unhintergehbar prägen. 175 In dem neurowissenschaftlichen Exkurs sind für unsere Wahrnehmung und das Gedächtnis wichtige Momente solcher Begrenzungen näher beschrieben worden. Sie wirken beim Richter selbst nicht anders als beim Zeugen. 176 Das gilt auch für die kulturellen Muster unserer Wahrnehmung und unseres Verhaltens, also insbesondere unserer Kommunikation. Eine Erfahrung, die fast jeder macht, der längere Zeit in einem fremden Kulturkreis lebte, lässt sich nicht selten so formulieren: »Das werde ich nie verstehen« oder »Das wird mir immer fremd bleiben«. S. Freud 1975, S. 172. Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 811. 172 Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 808. 173 Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 705 ff. 174 U. Eisenberg 2015, Rn. 1318 ff. 175 Vgl. dazu näher Strauch 2005, S. 483 ff. 176 Zu Vernehmung und Persönlichkeit des Vernehmenden vgl. die konkreten Hinweise bei U. Eisenberg 2015, Rn. 1321 ff. 170 171

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Der Richter muss mit solchen Situationen – etwa in Asylstreitverfahren – aber vielfach zurechtkommen, obwohl er den anderen Kulturkreis nicht einmal selbst erlebt hat. Etwa bei Vernehmung von Zeugen, für die Familieninteressen aus tiefer ethischer Überzeugung immer höher stehen als die Wahrheit einer Aussage. Oder bei Zeugen, die mit einer Kommunikationsform, der es darum zu tun ist, ein Problem möglichst schnell, klar und unmissverständlich auf den Punkt zu bringen, nichts anzufangen wissen, weil sie ihnen völlig fremd ist. Und in nicht seltenen Fällen ist die »Situation eines fremden Kulturkreises« schon gegeben, wenn der Zeuge oder die Prozessparteien aus Milieus kommen, die außerhalb der Erfahrungs- und Lebenswelt des Richters liegen. Mechanismen, über die man nicht verfügen kann, kann eine Methodik auch nicht in Regeln fassen. Der Richter muss sie aber reflektieren können. Und es ist eine Frage der professionellen Einstellung, ob man mit einem offenen, wachen Blick aufmerksam ist. Zur Erläuterung eine Prozesssituation, über die ein Jugendrichter auf einer Methodentagung der Deutschen Richterakademie berichtete: Zwei Heranwachsende waren wegen schwerer Körperverletzung angeklagt. Der als Zeuge gehörte Taxifahrer hatte die Täterschaft der beiden bezeugt. Er war aus der Zeugenrolle entlassen, blickte aber nochmals zurück und dem Richter fiel etwas Unsicheres im Blick auf. Er fragte den Zeugen, ob da noch etwas wäre, und es ergab sich dann, dass sich der Taxifahrer geirrt hatte. Die eigentlichen Täter, die unter Bewährung standen, hatten die beiden überredet, in diesem Strafverfahren ihre Rolle zu übernehmen. b)

Verhandlungsführung

Die Kommunikation im Gerichtsaal unterliegt, wie in unseren Überlegungen schon vielfach thematisiert, gesetzlichen Regelungen. Sie ist nicht frei. Wie oben am Beispiel der Erfassung von Zeugenaussagen knapp skizziert, hängt das Gelingen oder Misslingen von Kommunikation zum anderen entscheidend von Mechanismen, Mustern und Vorurteilen ab, die der Richter in allenfalls sehr engen Grenzen steuern oder auch nur in ihren Wirkungen erkennen kann. Dies auch nur in Grundzügen darzustellen, würde unseren Rahmen sprengen. Aus dem weiten Themenbereich, den eine Standardtagung der Deutschen Richterakademie unter dem Titel »Menschen vor Gericht – Kommunikationskompetenzen als richterliches Qualitätsmerkmal« 229 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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behandelt, kann ich nur zwei Aspekte herausgreifen, um bislang noch nicht angesprochene Probleme der Sachverhaltsermittlung deutlich zu machen; nicht um sie in konkrete Regeln aufzulösen, sondern um sie zu beschreiben. Der eine betrifft das, was man »Asymmetrie der Kommunikation« nennen kann. Juristen haben ihre Fachsprache. Diese sprechen sie natürlich insbesondere dann, wenn sie juristische Fragen erörtern, und deshalb soll diese Problematik auch erst im Kapitel 17 über Recht und Sprache näher besprochen werden. Aber auch der Sachverhalt wird in weiten Strecken juristisch verhandelt und entsprechend juristisch formuliert. Das bedeutet: Soweit die Laien das »Juristische« nicht verstehen – und das geschieht vielfach in einem Umfang, den sich Juristen gar nicht klar machen –, sind sie aus der Kommunikation ausgeschlossen. Obwohl sie in aller Regel die Betroffenen sind, werden sie zum Objekt eines Diskurses und können nicht verstehen, um was es geht. Hier hat der Richter die Pflicht, »zweisprachig« zu verhandeln. Es ist – auch im Interesse eines »richtigen Sachverhaltes« – ein Gebot der »fairen Verhandlungsführung«, dass der Laie der Verhandlung in den für ihn entscheidenden Punkten folgen kann. Eine nachträgliche »Übersetzung« durch den Anwalt ist oft nicht mehr wert als eine ärztliche Aufklärung nach der Operation. 177 Als zweiter Aspekt ist die Frage nach der Intensität richterlicher Aufklärung zu erörtern; auf einen prozessrechtlichen Nenner gebracht: das Problem der Sachverhaltsermittlung zwischen formeller und materieller Wahrheit. Der Begriff der »formellen Wahrheit« wird üblicherweise dem Beibringungsgrundsatz, der »materiellen Wahrheit« der Amtsermittlung zugeordnet. Damit ist dann zwar auch die Grundstruktur vorgegeben, in der wir die in den Prozessordnungen unterschiedlich geregelten Aufklärungspflichten zu sehen haben. Für die methodische Anwendung dieser Regeln – und damit auch für die Frage nach den Kriterien für den »richtigen« Sachverhalt – lassen sich jedoch kaum klare Regeln entwickeln. Wesentliche Grenzen sind rechtlich nicht klar bestimmbar und so bleiben zwangsläufig offene Spielräume. (1.) Zur Amtsermittlung: Verletzt ein Gericht seine Aufklärungspflicht – etwa ein Verwaltungsgericht die nach § 86 Abs. 1 VwGO – ist dies ein Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Dieser liegt aber nicht schon vor, wenn das Gericht von einem un177

Näheres zur Problematik Alltags- und Fachsprache Kap. 17 I. u. II.

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richtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht. Entscheidend ist die Prozesssituation, nicht die von dieser losgelöste »objektive« Sachlage. Mit den Worten eines Beschlusses des BVerwG v. 29. 03. 2012: »Eine erfolgreiche Aufklärungsrüge (§ 86 Abs. 1 VwGO) setzt u. a. die Darlegung voraus, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben gerügt wird, hingewirkt worden ist, oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (stRspr, […]). Die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse in der Tatsacheninstanz zu kompensieren.« 178 Wir stoßen also auch hier auf die schon bekannte Differenz, die zentrales Thema dieses Teils ist: Auch wenn die Sachverhaltsfeststellung revisionsrechtlich »richtig« ist, schließt das durchaus die Möglichkeit ein, dass das Gericht von einem unvollständigen, nur oberflächlich und unzureichend ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist. Das Kriterium, dass sich die Feststellung weiterer entscheidungserheblicher Tatsachen »hätte aufdrängen müssen«, hat die Funktion eines revisionsrechtlichen Filters. Sie ist kein Kriterium dafür, dass der Tatrichter von einem richtigen und vollständigen Sachverhalt ausgegangen ist. Ausreichend ermittelt hat der Tatrichter hier erst, wenn er all die Daten ermittelt hat, die ermittelbar sind und nach Lage des Falles für die Beurteilung der Sachlage eine Rolle spielen können. Die Einschätzung dessen, was an der Sachlage relevant ist, hängt dabei unlösbar von der Einschätzung der Rechtslage ab. Um auf Seiten des Richters den entscheidenden Punkt zu fixieren, müsste er sagen können: Auch wenn ich jetzt noch weiter ermittele, gewinnt die Tatsachengrundlage, die ich für die rechtliche Beurteilung brauche, nicht an Richtigkeit. Rechtlich sichere Vorgaben für die Intensität richterlicher Aufklärung gibt es aber auch nicht für ein Übermaß an Aufklärung. Die Grenzen, die hier, etwa unter dem Gesichtspunkt der »ungefragten Nachprüfung«, kontrovers diskutiert werden 179, betreffen aber eher materiellrechtliche Fragen des zu wählenden rechtlichen Gesichtspunktes. Es ist keine ungefragte Nachprüfung, wenn der Richter seiAz.; 9 B 88/11 – juris Rn. 4; vgl. auch BVerwGE 126, 149–166. Zum Grundsatz der sog. »ungefragten Fehlersuche« vgl. BVerwGE 116, 188–197, sowie H. Sendler, DVBl 2002, 1412–1414.

178 179

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ne Ermittlung deshalb so ausdehnt, weil er ganz sicher sein will, von einem richtigen und vollständigen Sachverhalt ausgehen zu können. Als methodische Gegenregel muss er sich dann jedoch fragen lassen: Reichen die vorhandenen Daten wirklich nicht aus, um die gestellte Rechtsfrage beantworten zu können? Nicht selten ist es ja nur die mangelnde rechtliche Durchdringung des vorhandenen Materials, die zu der (trügerischen) Hoffnung verleitet, dass sich bei intensiverer Sachverhaltsermittlung auch eine richtige rechtliche Lösung einstellen wird. Und, wie gesagt, auch der Untersuchungsgrundsatz macht eine Klage nicht zu einem Forschungsauftrag. (2.) Zum Beibringungsgrundsatz: Der Zivilprozess kann mit dem früher gern zitierten Grundsatz »da mihi facta, dabo tibi jus« – Gib mir die Tatsachen, ich werde dir das Recht geben – nicht mehr charakterisiert werden. Insbesondere § 139 ZPO stellt mit seinen Aufklärungs- und Erörterungspflichten auch die Sachverhaltsermittlung in die Verantwortung des Gerichts. Das gebotene Maß richterlicher Aufklärung ist jedoch unbestimmt. Die rechtlichen Grenzen für das, was das Gericht einerseits tun muss, um seinen Pflichten nachzukommen, und was es andererseits nicht tun darf, ist Gegenstand umfangreicher Kasuistik. 180 Der Prozessrechtler kann hier zu Recht auf den jeweiligen Einzelfall verweisen. Uns muss aber genau der Grenzbereich interessieren: »Was das Gericht nicht zu tun braucht«, 181 aber tun kann, um seiner »prozessualen Fürsorgepflicht« 182 gerecht zu werden, ohne den Verhandlungsgrundsatz als Amtsermittlung zu handhaben und ohne gegen seine Rolle als unparteiischer Mittler und Richter zu verstoßen. Die Konfliktlage ist an Beispielen schnell klar zu machen: Auf eine ausführliche und sorgfältige Klageschrift folgt eine nichts sagende, unsubstantiierte Klageerwiderung. Der Richter bemüht sich nun, Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 72. Aufl. § 139 ZPO, Rn. 43 ff. Zöller/Greger, ZPO, 20. Aufl., § 139 Rn. 12. 182 Vgl. BGH, BauR 2010, 246–247: »Das Gericht muss – in Erfüllung seiner prozessualen Fürsorgepflicht – gemäß § 139 Abs. 4 ZPO Hinweise auf seiner Ansicht nach entscheidungserhebliche Umstände, die die betroffene Partei erkennbar für unerheblich gehalten hat, grundsätzlich so frühzeitig vor der mündlichen Verhandlung erteilen, dass die Partei die Gelegenheit hat, ihre Prozessführung darauf einzurichten und schon für die anstehende mündliche Verhandlung ihren Vortrag zu ergänzen und die danach erforderlichen Beweise anzutreten. Erteilt es den Hinweis entgegen § 139 Abs. 4 ZPO erst in der mündlichen Verhandlung, muss es der betroffenen Partei genügend Gelegenheit zur Reaktion hierauf geben.« Siehe auch BGH, BauR 2011, 1200–1202; BGH, NJW 1991, 493–495; Hartmann § 139 Rn. 7 ff. 180 181

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diesen Vortrag erheblich zu machen. Oder der Richter kommt seiner Aufklärungspflicht so nach, dass zwar ein Fachanwalt noch ohne größere Verständnisprobleme folgen kann, nicht aber der klagende Herr Müller. Oder folgender Beweisbeschluss: »Beweisthema: Erwerb von drei darlehensfinanzierten Eigentumswohnungen durch den Kläger und die Zeugin im Jahr 1993«. – In dieser Allgemeinheit kann das nur zur Aufforderung an die Zeugin führen: »Nun erzählen Sie mal, wie das alles so war«. Mit Frage und Nachfrage steht der Richter dann mitten in einer Amtsermittlung. Ein Versuch, für die Anwendung des § 139 ZPO methodische Regeln der Verhandlungsführung zu formulieren, müsste sich zunächst auf die unterschiedlichsten Kommunikationssituationen einstellen und festhalten, was in ihnen situationsangemessen ist. Und Entsprechendes gilt natürlich für die schriftliche Kommunikation (Aufklärungsverfügung). Will man hier methodischen Regeln aufstellen, zeigt sich unabweisbar, dass man (vor allem) diese nicht losgelöst von Person und Rollenverständnis des Richters diskutieren kann. In Anlehnung an die Untersuchung von J. Schmid u. a. und die dort sehr anschaulich beschriebene Art, wie Richter Fälle bearbeiten, 183 lässt sich die methodische Problematik aber typisierend anhand von vier Arten der Verhandlungsführung und entsprechenden »Richtertypen« deutlich machen. Da ist (1.) der Stil des »Routiniers«, (2.) der Stil des »Relationstechnikers«, (3.) der Stil extensiver Aufklärung und (4.) der Stil souveräner Verhandlungsführung. Dem »Routinier« reicht als Richtschnur das, was er als »Rechtsgefühl« versteht. Methodik sind für Routiniers die Techniken, die sie »im Laufe ihrer langjährigen Erfahrung […] entwickelt haben, um sich die Arbeit zu erleichtern«. 184 Die Frage, »was das Gericht nicht zu tun braucht, aber tun kann, um seiner prozessualen Fürsorgepflicht gerecht zu werden«, ist für sie eine rein theoretische Frage, die für ihre Praxis genauso irrelevant ist wie alle in diesem Buch erörterten methodischen Probleme. Für den »Relationstechniker«, 185 der seine Verhandlung entscheidend danach schematisiert, ob der Vortrag den Darlegungslasten und, wenn ja, auch den Beweisführungslasten genügt, stehen dagegen die rechtsmethodischen Vorgaben der Verhandlungsmaxime so stark im Vordergrund, dass die 183 184 185

J. Schmid 1997b, S. 159 ff.; vgl. auch Kap. 5 I. 2. J. Schmid 1997b, S. 167. Den es in »reiner Form« heute allerdings nur noch selten geben dürfte.

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Prozessbeteiligten auch dort nicht mit seiner prozessualen Fürsorgepflicht rechnen können. 186 Den Gegenpol bilden die Richter, die »extensive Aufklärung« betreiben und »in diverse Einzelheiten des Falles einsteigen«. 187 Als Typus kann man hier den »Kümmerer« und den »Chaoten« ausmachen. Ersterer dehnt – besonders oft in Familienrechtsstreitigkeiten – auch im Anwaltsprozess sein Aufklärungs- und Erörterungsbemühen so aus, dass er nicht nur Amtsermittlung betreibt, sondern auch noch in die Rolle eines Rechtsberaters schlüpft. 188 Extensive Aufklärung muss aber nicht nur gut gemeinter Fürsorge entspringen; oft ist sie nur Ausdruck unzureichender gedanklicher und rechtlicher Strukturierung. Man hofft dann wohl, in einem der möglichst vielen Details auch die Spur für die richtige Lösung zu finden. Es fehlt der Durchblick und für die Verhandlungsführung war zu konstatieren: Es »gerieten die Fragen durcheinander und verloren den Themenbezug, so daß im Extrem ein Zustand erreicht wurde, der nicht mehr erkennen ließ, wie weit das Verfahren gediehen war«. 189 Viertens bleibt schließlich das Ideal der »souveränen Verhandlung«. Sie zeigt sich »außer in der Rechtskenntnis vor allem in der gründlichen Vorbereitung der Verhandlung, in der vorab ausgearbeitete, klare konkrete Fragen gestellt wurden. Die Verhandlung verlief nicht nervös oder hektisch, und der Umgang mit den Prozessbeteiligten war freundlich.« 190 Man wird hinzufügen: In der Erörterung der Sach- und Rechtslage, in Frage und Antwort kann sich der Richter auf die Parteien einstellen. Seine Aufmerksamkeit ist konzentriert – zugleich aber auch hinreichend offen, um Indizien für eine möglicherweise ganz andere Sicht der Sachlage wahrnehmen zu können. Die Beschreibung unterschiedlicher Verhaltensmuster auf Seiten der Richterbank bliebe jedoch selbst als vereinfachende Skizze unvollständig, wenn nicht wenigstens ein Hinweis darauf erfolgte, dass die Analyse einer situationsadäquaten Kommunikation nicht nur die unterschiedlichen Rollenverständnisse der Richter, sondern auch die der Anwälte einzubeziehen hat. Stellt man sich einerseits den gut vorbereiteten Fachanwalt, den Staranwalt, den KleinstadtJ. Schmid 1997b, S. 164 f. aaO. S. 169. 188 Vgl. zu den rechtlichen Grenzen Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 72. Aufl. § 139 ZPO, Rn. 71. 189 J. Schmid 1997b, S. 172. 190 aaO. S. 160. 186 187

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Allrounder (der durchaus darauf vertrauen darf, dass ihm die Richter »seines« Gerichts notfalls schon helfen werden) oder den Anwalt als Typus des Routiniers oder des Chaoten vor, ergeben sich aus den Kombinationen eine Vielzahl von Interaktionsmustern. Diese könnten selbst nach umfangreichen Analysen nicht hinreichend auf den Nenner von Regeln gebracht werden. Aber es wird ein entscheidender Punkt deutlich: Die richterliche Fürsorge darf nicht dazu führen, dass die verfahrensrechtliche Gleichbehandlung unbeachtet auf der Strecke bleibt.

3.

Der Sachverhalt – eine Verknüpfung von Indizien

Die Sachverhaltsermittlung ist ein Informationsverarbeitungsprozess. Der Richter muss für das normative Schema Tatbestand – Rechtsfolge Feststellungen darüber treffen, ob die mit der Klage / Anklage / Einrede behaupteten Zustände / Ereignisse auf einem behaupteten Tun, Dulden oder Unterlassen einer Person oder dem Zustand einer Sache beruhen oder nicht. Und in der Regel trifft der Richter diese Feststellungen nicht durch unmittelbare Wahrnehmung der für den Tatbestand wesentlichen Tatsachen, sondern im Wege von Schlussfolgerungen aus ihm vorgetragenen oder von ihm ermittelten Informationen. Eingeordnet in das Problem revisionsrechtlicher Überprüfung der Beweiswürdigung hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner »Cadmium-Entscheidung« die »logische Operation« des indiziellen Beweises expressis verbis wie folgt hervorgehoben: »Der an sich bestehende Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) wird durch die richterrechtlich ausgebildeten Regeln des indiziellen Beweises eingeschränkt. Auch der indizielle Beweis ist Vollbeweis. Er besitzt insoweit einen logischen Aufbau, als Folgerungen auf das zu beweisende Tatbestandsmerkmal mit Hilfe von Erfahrungstatsachen gezogen werden. Der Indizienbeweis erfordert damit zum einen Indizien (sog. Hilfstatsachen), zum anderen allgemeine Erfahrungssätze und schließlich Denkgesetze und logische Operationen, um auf das Vorhandensein der Haupttatsache folgern zu können.« 191 Der Grundmechanismus, der hier nicht nur der Beweiswürdi191

BVerwGE 84, 271–274, juris Rn. 27, 20.

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gung und der Feststellung einzelner Tatsachen, sondern auch allgemein der Konstruktion des Sachverhaltes zugrunde liegt, lässt sich verallgemeinernd so beschreiben: Man verknüpft Informationen, indem man von einem oder mehreren bekannten Umständen (Indizien, Beweiszeichen, »Hilfstatsachen« 192) auf Tatsachen schließt, die unbezeugt sind, die jedenfalls bislang noch nicht fraglos feststehen. Ob diese Schlussfolgerungen von einer bekannten Erfahrung auf eine anzunehmende Realität richtig sind, ist augenscheinlich keine Frage des rein logischen Kalküls. Wie können diese Schlussfolgerungen dann aber überhaupt überzeugen, und woher nehmen wir die Kriterien für die Bewertung, dass sie keine ernsthaften Zweifel aufwerfen, unsere Kriterien für die Stimmigkeit unserer Sachverhaltskonstruktion? In der Praxis wirft das oft keine Probleme auf. Beispiele: X hat zugegeben, den Brand gelegt zu haben; Y hat eingeräumt, dass das gekaufte Haushaltsgerät im Geschäft ausprobiert wurde und keinen erkennbaren Mangel hatte; der Richter hat sich per Augenschein davon überzeugt, dass der Bau abweichend von der Baugenehmigung gebaut wurde. Oder ein Sachverständiger konnte den Unfallhergang rekonstruieren; ein anderer hat bestätigt, dass das Medikament zur Lähmung geführt hat. Bestreitet X aber, etwas zugegeben zu haben, oder wird dem Sachverständigen entgegengehalten, dass eine seiner Sachverhaltsannahmen unzutreffend sei, muss der Richter auch in dem zunächst »klaren« Fall in eine Beweiserhebung und -würdigung eintreten, die kompliziert werden kann. Und dann stellt sich, bevor wir überhaupt nach Richtigkeitskriterien fragen können, das erkenntnistheoretische Grundproblem nach den »Denkgesetzen« oder »Denkfiguren«, die hinter solchen Schlussfolgerungen stehen. a)

Die Verknüpfung und ihre Denkgesetze

Greifen wir auf die Folgerungen zurück, die sich insbesondere aus unseren erkenntnistheoretischen Überlegungen zu den »Phänomenen der Vermittlung« ergeben haben (Kap. 12 II. 1.), lassen sich die hinter dem Vorgang der Verknüpfung stehenden kognitiven Prozesse in ihrer Grundstruktur erkennen und sind so als Mechanismen zur Herstellung von Kohärenz auch verständlich. Für die konkreten

192

Vgl. Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 586 ff.

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Schlussfolgerungen, die wir jetzt zu ziehen haben, bedeuten diese Ergebnisse aber auch, dass es – jedenfalls bei dem derzeitigen Wissensstand – nicht möglich ist, die unterschiedlichen Ansätze aus traditioneller Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie oder Kognitionswissenschaft so auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, dass sich die Denkvorgänge, die der Sachverhaltskonstituierung zugrunde liegen, präzise beschreiben ließen. Das heißt, wir können die einzelnen »Denkgesetze« oder »Denkfiguren«, die bei der Konstruktion eines Sachverhaltes im Spiele sind, nur eher kasuistisch als theoretisch-systematisch erfassen. Und da diese »Denkgesetze« oder »Denkfiguren«, wie in dem Abschnitt über die Akzeptanz schon gezeigt (Kap. 8 VI. 3. b), nicht selten falsch spielen, gehört zu dieser Kasuistik auch eine solche typischer Fehlerquellen. b)

Eine Typologie der Verknüpfungen und ihre typischer Fehlerquellen

In dem Abschnitt über »Akzeptanz der Prämissen – Wissenschaft und Alltagstheorien« hatten wir – abgestellt auf die unterschiedlichen Wissensgrundlagen – drei Grundtypen von Verknüpfungen unterschieden, die die Konstruktion eines Sachverhaltes kohärent halten (müssen): • naturwissenschaftliche Gesetze; • wissenschaftlich begründete Zusammenhänge; • Alltagstheorien, Erfahrungssätze. Kann der Richter seine Schlussfolgerungen auf wissenschaftlich abgesicherte Wenn-dann-Beziehungen stützen, ist damit für das alltägliche Wirklichkeitsverständnis auch sichergestellt, dass er mit seiner Sachverhaltsfeststellung hinreichend beschreibt, »wie es gewesen ist«. In den meisten Fällen muss er seine Verknüpfungen jedoch auf Grundlagen vornehmen, für die er nur teilweise auf wissenschaftlich begründete Zusammenhänge zurückgreifen kann oder allein auf Alltagswissen angewiesen ist. Die methodischen Probleme, die mithin bei der Anwendung von Erfahrungssätzen zwangsläufig auftreten, sind jedoch wenigstens bewusst zu machen. Sie sollen deshalb im Folgenden in ihren unterschiedlichen Spielarten näher analysiert werden. Dies soll zugleich ein Versuch der Systematisierung sein. (1.) Betrachten wir zunächst nur die Struktur der Verknüpfung, haben Erfahrungssätze folgende Grundformen, die wir unterschei237 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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den können: Die Schlussfolgerungen erfolgen nach dem Schema: immer dann, wenn; nach dem Schema: fast immer dann, wenn; oder nach dem Schema: wahrscheinlich dann, wenn. (1.1) Die – insbesondere auch für das Revisionsrecht wichtige – Unterscheidung zwischen einerseits »allgemeinen Erfahrungssätzen«, die einer revisionsgerichtlichen Überprüfung zugänglich sind, und andererseits (sonstigen) Erfahrungssätzen bzw. Erfahrungstatsachen differenziert nach diesen Grundformen. • Die »allgemeinen Erfahrungssätze« sind durch das Schema: »immer dann, wenn« definiert. Darunter sind, so der BGH, »nur solche empirisch aus der Beobachtung und Verallgemeinerung von Einzelfällen gewonnenen Einsichten zu verstehen, die, auf ihren Anwendungsbereich bezogen, schlechthin zwingende Folgerungen enthalten, denen auch der Richter folgen muß«. 193 Es handelt sich um »jedermann zugängliche Sätze, die nach der allgemeinen Erfahrung unzweifelhaft gelten und durch keine Ausnahme durchbrochen sind«. 194 • Davon zu unterscheiden sind die übrigen Erfahrungssätze und Erfahrungstatsachen, die zwar ebenfalls auf Erfahrung beruhen, aber keine strikten Wenn-dann-Beziehungen ermöglichen, sondern nur Wahrscheinlichkeitsaussagen enthalten. In diesen Fällen hat der Richter den Tatsachenstoff erst anhand weiterer Beweisanzeichen darauf zu prüfen, ob sie im konkreten Fall zur Gewissheit werden. Erfahrungstatsachen können mit anderen Worten nicht unabhängig von den Umständen des Einzelfalles allgemein Gültigkeit beanspruchen. 195 (1.2) Die nächste Differenzierung liegt darin, zu unterscheiden, ob die Tatsache, aus der auf die zu treffende Feststellung geschlossen werden soll, eine notwendige und auch ausreichende oder nur eine notwendige Bedingung ist. Den unter (1.) genannten Formeln ist dann hinBGHSt 31, 86–91; s. auch BFHE 157, 165. BVerwGE 67, 83, 84. 195 Vgl. BGHSt 31, 86–91; BFHE 157, 165. – Zu den »historischen Tatsachen«: BVerwG Urteil vom 25. Juni 2008 – 8 C 12/07 –, Rn. 18, juris: »Der typische Charakter des Geschehensablaufs kann sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung, aus sonst offenkundigen Tatsachen einschließlich der historischen Tatsachen oder aus speziellem Erfahrungswissen ergeben. Ob beim jeweiligen Falle ein solcher typischer Geschehensablauf als Grundlage einer tatsächlichen Vermutung vorliegt, hat das Tatsachengericht im Rahmen seiner Aufklärungspflicht festzustellen« – Buchholz 428 § 1 Abs. 2 VermG Nr. 36. 193 194

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13 · Regeln der Sachverhaltsermittlung

zuzufügen: »… und wenn auch …«. Zur Illustration diene die unterschiedliche Verwendung des BAK-Wertes als Indiz: • zunächst der Autofahrer, bei dem eine Blutalkoholkonzentration von 0,9 Promille gemessen wurde. Für die Annahme einer Fahruntüchtigkeit (§§ 315c, 316 StGB) ist das nicht ausreichend. Kommen aber weitere Momente hinzu (»… und wenn auch …«), etwa waghalsiges Überholen, Fahren in Schlangenlinien, Bewegungsanormalitäten, ist eine solche Feststellung gerechtfertigt. 196 • Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit war dagegen »in älterer Rechtsprechung die Auffassung vertreten worden, bei Überschreiten bestimmter Grenzwerte sei die Steuerungsfähigkeit mit einem kaum widerlegbaren Grad an Wahrscheinlichkeit ›in aller Regel‹ erheblich vermindert«. 197 Diese Auffassung hat der BGH inzwischen aufgegeben. Der BGH hat sich damit der Kritik aus der forensisch-psychiatrischen Wissenschaft angeschlossen, dass es prinzipiell unmöglich sei, »einer bestimmten Blutalkoholkonzentration für jeden Einzelfall gültige psychopathologische, neurologisch-körperliche Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten zuzuordnen«. 198 Parallel dazu liegt die Argumentation zur Fahruntüchtigkeit: »Gesicherte Erfahrungswerte, die es erlauben würden, bei Blutwirkstoffkonzentrationen oberhalb eines bestimmten Grenzwertes ohne Weiteres auf eine rauschmittelbedingte Fahrunsicherheit zu schließen, bestehen nach wie vor nicht«. 199 (1.3) Soweit der Erfahrungssatz keine eindeutige Wenn-dannBeziehungen beinhaltet, sondern Aussagen nur nach dem Schema: »wahrscheinlich dann, wenn« zulässt, steht der Richter vor dem Problem, die Wahrscheinlichkeit richtig einzuschätzen. Der Grad der Wahrscheinlichkeit ist aber nur abschätzbar, wenn die Häufigkeitsverteilung bekannt ist, man also sagen kann, wie signifikant ein Indiz / Beweisanzeichen z. B. für einen Kausalverlauf oder eine Täteridentifizierung ist. Die Problematik wird evident, wenn die Häufigkeitsverteilung nur aufgrund eigener Erfahrung geschätzt wird.

Vgl. dieses Beispiel eines »Beweisringes« bei Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 625; s. auch BGH NStZ 2012, 324–325. 197 BGH, NJW 2012, 2672–2675, mit Hinweis u. a. auf BGHSt 37, 233 ff. 198 BGH, NJW 2012, 2672–2675 – juris 21. 199 BGH, B v. 21. 12. 2011 – 4 StR 477/11 – NStZ 2012, 324–325. 196

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Beispiel: A fährt nahezu täglich mit der Bahn. B nur ganz selten und dann hatte der Zug jedes Mal Verspätung. Wie brauchbar werden die aus diesen Erfahrungen gebildeten Erfahrungssätze sein? – Erfahrungssätze, die etwa von Bedeutung sind, inwieweit es einer Partei zuzurechnen ist, dass sie einen Termin versäumt hat. Wie grundsätzlich oben schon als Merkposten hervorgehoben: Unsere Annahmen über Wahrscheinlichkeiten unterliegen oft typischen Fehleinschätzungen. Eine typische Fehlerquelle liegt darin, dass bei der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten oft die Grundraten, also die Ausgangshypothese übersehen und so eine Wahrscheinlichkeit viel zu hoch eingeschätzt wird. 200 • Konkretisiert sei das Problem der Anfangswahrscheinlichkeit am Beispiel der DNA-Analyse. Die Seltenheit der Merkmalskombinationen liegt heute im Milliardenbereich, die Signifikanz ist insoweit eindeutig. Als man noch mit Dreierkombinationen gearbeitet hat, konnte man davon ausgehen, dass von 1000 Personen nur 1 Person die gleiche Kombination aufwies. Wann war unter diesen Voraussetzungen X als Sexualstraftäter überführt? Wenn 800 Personen getestet wurden, scheint das Ergebnis sicher. Wenn der mögliche Täterkreis aber (in einer größeren Stadt) 100.000 Personen umfasste, kommen neben X noch 99 andere Personen als Täter in Betracht. 201 (1.4) Der Mensch neigt aber nicht nur dazu, Wahrscheinlichkeiten falsch einzuschätzen. Damit zusammenhängend kann er insbesondere auch mit Kausalitäten nur sehr »subjektiv« umgehen, was nicht nur heißt: individuell unterschiedlich. In einer der Alltagserkenntnis oft eigentümlichen Weise werden vielmehr auch dort Kausalitäten als sicher angenommen, wo mit wissenschaftlicher Sicherheit keine auszumachen sind. Omen, Rauchzeichen, Vogelflug, Sternkonstellationen, manche Therapieformen sind traditionelle und aktuelle Beispiele. Bei der Sachverhaltswürdigung liegt der neuralgische Punkt insbesondere in dem uns eingewurzelten Bestreben, für ein Ereignis – eine Wirkung – auch eine Ursache zu suchen. Hier liegt die Gefahr einer voreiligen, unrichtigen Verknüpfung schnell nahe. Was bei einer ex ante-Betrachtung vielleicht gar nicht oder allenfalls als mög•

Vgl. das Beispiel bei J. R. Anderson 2001, S. 327. Das Beispiel ist Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 642 ff. entnommen, die an die Entscheidung BGHSt 38, 320 anknüpfen.

200 201

240 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

13 · Regeln der Sachverhaltsermittlung

liche Entwicklung in Betracht gezogen worden wäre, wird bei einer ex post-Beurteilung – wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist – zu der Feststellung: Das musste ja so kommen. In der psychologischen Forschung lautet das Stichwort hierzu »Rückschaufehler«. 202 Im Nachhinein, so der Fehler, unterstellt der Richter einen Grad der Wahrscheinlichkeit, den der Betroffene in der für ihn noch völlig offenen Situation so gerade nicht einschätzen konnte. H. Bergson hat dieses Phänomen anschaulich als »Illusion des retrospektiven Determinismus« beschrieben. (1.5) Eine nicht seltene Fehlerquelle ergibt sich daraus, dass aus Erfahrungen eine Wenn-dann-Beziehung abgeleitet wird, obwohl dem Indiz für die festzustellende Tatsache keine signifikante Bedeutung zukommt. M. a. W. das Indiz lässt auch Rückschlüsse auf viele andere Ursachen/Tatsachen zu (zur weiteren Erläuterung vgl. u. 2.1). Zulässig wäre nur der Schluss: »wenn, dann möglicherweise«. (2.) Inhaltlich ist zwischen den unterschiedlichen Wissensgrundlagen zu unterscheiden, aus denen die Erfahrungssätze abgeleitet sind: • Das können wissenschaftliche Untersuchungen sein (Unfallforschung, medizinische, metallurgische, kriminalistische, forensische, aussagepsychologische Untersuchungen etc.). Das Gericht hat hier darauf zu achten, ob sie als fachwissenschaftliche Erfahrungssätze hinreichend verifiziert und akzeptiert sind und – insbesondere hinsichtlich der Wahrscheinlichkeitsannahmen – auch richtig angewandt sind (s. 1.2.). • Handelt es sich um Erfahrungssätze, die auf allgemeine Lebenserfahrung oder bereichsspezifisches Alltagswissen gestützt werden, so wurde deren grundsätzliche Problematik bereits angesprochen. Unsere alltägliche »Wirklichkeitserfassung« kann auf Alltagstheorien nicht verzichten. Auch der Richter wird bei seiner Einschätzung, was denn »Sache war«, nicht ohne sie auskommen. Man kann über Alltagstheorien im Gerichtsalltag trefflich spotten. Aber sie gehören zu den Grundmechanismen menschlicher Kognition. Das Feld möglicher Fehleinschätzungen ist allerdings ein weites. Einige der typischen Anwendungsfälle und Fehlerquellen sollen in den folgenden Untergliederungspunkten wenigstens benannt werden:

202

Vgl. Kirchler/Stark 2014; Art. »Rückschaufehler«.

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C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

(2.1) Scheinbare Erfahrungssätze: Wenn Erfahrungssätze auf Erfahrungswerten beruhen, dann sind diese oft nur begrenzt, weil die Erfahrungsbasis / Perspektive nur begrenzt ist. Es wird so leicht eine scheinbar sichere Verbindung zwischen Indiz und festzustellender Tatsache hergestellt, ohne zu sehen, dass dieses Indiz nicht nur kein notwendiges, sondern nicht einmal ein typisches »Beweisanzeichen« für die angenommene Haupttatsache ist. Ein Trugschluss, dem nicht nur Richter unterliegen, die ihre individuellen Erfahrungen (insbesondere, wenn sie emotional nachhaltig waren) für mehr oder minder allgemeine halten. Auch wissenschaftliche Begutachtungen können mit solchen Wenn-dann-Beziehungen arbeiten, ohne zu sehen, dass spezielle Erfahrungen unzulässig verallgemeinert werden. • Bei Kindern, die sexuell missbraucht wurden, kommt es oft zu Verhaltensauffälligkeiten. Hat ein Sachverständiger – so das Beispiel von Bender/Nack/Treuer zu dieser Form des Trugschlusses – seine Erfahrung nahezu ausschließlich aus seinen Erfahrungen mit missbrauchten Kindern gewonnen, erfährt er ihre Auffälligkeiten als deliktstypisch und sie werden im Prozess zu Belastungsindizien. Dass solche Verhaltensauffälligkeiten vielfältige andere Gründe haben können, kommt nicht in den Blick. 203 (2.2) Scheinbare Alternativlosigkeit: Insbesondere der Strafrichter steht nicht selten vor der Situation, dass er über Indizien verfügt, von denen zwar keines einen sicheren Schluss auf das Geschehen zulässt, die aber eine bestimmte Sachverhaltsannahme plausibel erscheinen lassen. Der entscheidende Schritt zur Überzeugung wird dann mit dem Argument vollzogen: wie oder wer soll es denn sonst gewesen sein. Zur Illustration sei hier der Pistazieneis-Fall 204 zitiert, über den in der Presse unter dem Titel: Das falsche Bild von der teuflischen Tante 205 berichtet wurde. Die Tante kam abends als Babysitterin und brachte eine Portion Pistazieneis mit. Von diesem gab sie ihrer Nichte zwei Portionen mit Schokoladensoße, die im Haus war. Das Kind starb am nächsten Tag um 11.32 Uhr; diagnostiziert wurde eine Arsenvergiftung. Das Landgericht, das sich offenbar ein sicheres Bild von der Tante – in der Presse als »mondän« beschrieben – gemacht Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 597. BGH-Entscheidung vom 19. 01. 1999 (1 StR 171/98), NJW 1999, 1562–1564 – juris Rn. 8. 205 So der Bericht der SZ vom 22. 01. 1999. 203 204

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13 · Regeln der Sachverhaltsermittlung

hatte, verurteilte sie, trotz einer ersten Zurückverweisung, auch im zweiten Anlauf wegen Mordes. Der BGH hob das Urteil auf und begründete den Freispruch u. a. wie folgt: »Das Tatgericht legt […] in einseitiger Weise verschiedene Maßstäbe an die Prüfung der Täterschaft der Eltern des Tatopfers einerseits und der Angeklagten andererseits an. Da Motive und tatnahe Indizien fehlen, zieht das Landgericht aus zahlreichen Verhaltensweisen und allgemeinen, aber nicht unmittelbar tatbezogenen Äußerungen der Angeklagten Folgerungen zu ihren Lasten. Demgegenüber wird Gleichartiges auf Seiten der Eltern als plausibel, nachvollziehbar u. ä. qualifiziert. Dabei handelt es sich jedoch nur um zahlreiche Spekulationen über innere Vorgänge oder Vermutungen zu allenfalls möglichen (oder auch näher liegenden) Sachverhalten, ohne dass dies durch (wesentlich) mehr als die ›Überzeugung‹ des Landgerichts gestützt wird«.

(2.3) Richterlich gesetztes Erfahrungswissen: So kann man die meist nicht weiter reflektierte Anwendung von Alltagstheorien und Erfahrungswissen nennen, von denen das Gericht einfach als gegeben ausgeht. Es ist die übliche Art, mit der jedermann im Alltag mit seinem Wissen umgeht. Man hält es für selbstverständlich, dass man mit seinem Erfahrungswissen die Realität seiner Alltagswelt auch richtig erfasst. Falsch muss das nicht sein. Aber es muss auch nicht immer richtig sein. – Fragt man nach einem möglichen Korrektiv, so ist es das Kollegialitätsprinzip und zum anderen der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, der das Gericht verpflichtet, auch Erfahrungstatsachen, die es zur Begründung seines Urteils verwenden will, zum Gegenstand der Verhandlung zu machen. 206 (3.) Weitere, für die rechtliche Betrachtung wichtige Unterscheidungen sind hinsichtlich der Arten und Graden der Wahrscheinlichkeit zu machen: (3.1.) Zunächst ist zwischen zwei grundsätzlich unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitseinschätzungen zu differenzieren 207: • der objektiven, auch statistischen oder aleatorischen Wahrscheinlichkeit und • der subjektiven, auch induktiven oder epistemischen Wahrscheinlichkeit.

BVerfGE 10, 177; BVerfG 2. Senat 2. Kammer, B. v. 08. 03. 1988 – 2 BvR 19/87 – juris; BVerwGE 67, 83–84. 207 Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 568; vgl. auch U. Eisenberg 2015, Rn. 918. 206

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C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

Letztere stellt auf den konkreten Fall ab. Sie meint »den Grad von Gewissheit, den Überzeugungsgrad, das Fürwahrhalten« 208 und ist auf die richterliche Gewissheit bezogen, ein Problemfeld, das wir im Abschnitt über das Beweismaß (Kap. 14 III.) näher beleuchten müssen. Aus der objektiven, statistischen Wahrscheinlichkeit kann der Richter konkrete Schlussfolgerungen für den konkreten Fall nur ziehen, wenn die Wahrscheinlichkeit • entweder so hoch liegt, dass für vernünftige Zweifel an der Sicherheit der Schlussfolgerung kein Raum bleibt, weil der Wert, der an 100 % fehlt, statistisch kein Gewicht hat 209, oder • aus Rechtsgründen, d. h., wenn aus Gründen des Beweismaßes ein geringerer Grad von Wahrscheinlichkeit genügt. (3.2.) Ein typisierter Anwendungsfall, in dem der Richter aus einem nicht sicheren, aber wahrscheinlichen Kausalverlauf Schlüsse ziehen darf, ist der Anscheinsbeweis. Der Anscheinsbeweis erlaubt es, bei typischen Geschehensabläufen aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt ist. 210 Oder in der Formulierung des BVerwG: »Die Anscheinsbeweisführung setzt einen Sachverhalt voraus, der nach der Lebenserfahrung regelmäßig auf einen bestimmten Verlauf hinweist und es rechtfertigt, die besonderen Umstände des einzelnen Falls in ihrer Bedeutung zurücktreten zu lassen«. 211 – An diesen Voraussetzungen fehlt es, wenn mehrere Handlungsalternativen in Betracht zu ziehen sind oder besondere Umstände hinzukommen, die wegen der Abweichungen des Sachverhalts von den typischen Sachverhalten einen anderen Geschehensablauf als ernsthafte, ebenfalls in Betracht kommende Möglichkeit nahelegen. 212 Entsprechend führt der Anscheinsbeweis nach ständiger Rechtsprechung

Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 568; vgl. auch Eisenberg 2015, Rn. 920 ff. Als anschauliches Beispiel vgl. BGHZ 133, 110–117: »Im Streitfall hat das serologische Gutachten eine Wahrscheinlichkeit für die Vaterschaft des Klägers von 99,9993 % und damit einen weit höheren Grad an Gewißheit erbracht, als er in den meisten Prozessen möglich ist, in denen zur Feststellung der Wahrheit keine naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden zur Verfügung stehen.« 210 BGHZ 192, 84–90 m. w. N.; zur Übersicht vgl. Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl., vor § 284 Rn. 29. 211 BVerwG, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 305 m. H. auf BVerwGE 100, 310, (314). 212 BGH, NJW 2012, 2263–2265 – juris Rn. 13. 208 209

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13 · Regeln der Sachverhaltsermittlung

nicht zu einer Umkehr der Beweislast, sondern macht den Gegenbeweis nötig, wenn der Gegner eine atypische Folge behauptet. 213 Prinzipiell unvereinbar ist der Anscheinbeweis mit strafrechtlichen Grundsätzen: »Es gibt im Strafprozess keinen Beweis des ersten Anscheins, der nicht auf der Gewissheit des Tatrichters, sondern auf der Wahrscheinlichkeit eines Geschehensablaufs beruht (BGH, Urteil vom 15. Juli 2008 – 1 StR 231/08)«. 214 Die Tat muss konkret nachgewiesen werden. Eine nach dem Muster der Anscheinsregel zugrunde liegende Erfolgstypik reicht hier nicht. c)

»Gesamtschau«, Beweismaß und Kohärenz

Mit der »Typologie der Verknüpfung« und den typischen Fehlerquellen, die mit ihnen verbunden sind, ist zwar ein wesentlicher Teil des für die Methodik der Sachverhaltsfeststellung wichtigen Problemfeldes der Verknüpfung von Indizien im Vorgang der Beweiswürdigung besprochen. Offen ist aber nicht nur das für die richterliche Überzeugung entscheidende »Beweismaß«. Noch komplexer und in seiner Struktur noch schwieriger zu erfassen ist der Mechanismus, den die gerichtliche Praxis meist auf die Formel von der »Beweiswürdigung im Rahmen einer Gesamtschau aller Beweisanzeichen« 215 bringt. Es ist eine Formel mit vielen Unbekannten, die aber durchaus handhabbar wird, wenn man diese »Gesamtschau« als Herstellung von Kohärenz begreift.

BGHZ 100, 31–35 m. w. N. Vgl. BGH NStZ-RR 2011, 50 – juris Rn. 9. 215 So etwa BGH Urt. v. 07. 04. 2005 – 5 StR 544/04 – juris Rn. 10.; BGH Urt. v. 08. 05. 2012 – XI ZR 262/10 – juris Rn. 45, NJW 2012, 2427–2434; oder »Gesamtwürdigung aller Beweisanzeichen« BGH, B. v. 10. 02. 2009 – 5 StR 12/09 – juris Rn. 9. Beweisanzeichen stehen hier für Indizien oder den Terminus »Hilfstatsachen, vgl. Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 219. 213 214

245 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Kapitel 14 Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

Zu verknüpfen sind im Sachverhalt nicht nur einzelne Indizien. Oft ist es eine Vielzahl von Tatsachen und Indizien, die zu einer Einheit, zu einem kohärenten Sachverhalt verbunden werden müssen. Verlangt wird für diesen zentralen Vorgang der Beweiswürdigung eine »Gesamtschau aller Beweisanzeichen«. Aber was ist unter »Gesamtschau« bzw. »Gesamtwürdigung« zu verstehen? Wie haben wir uns die Vorgänge, die damit gefordert sind, vorzustellen? Eine Antwort auf diese Fragen werden wir nur insoweit geben können, als es uns im Folgenden gelingt, die kognitiven Prozesse zu beschreiben und zu analysieren, die diese »Gesamtwürdigung« bzw. »Gesamtschau« ausmachen. Nur so lassen sich auch Richtigkeitskriterien für die Sachverhaltskonstruktion gewinnen.

I.

Der Sachverhalt – die drei Elemente der Kohärenz

Ausgangspunkt unserer Analyse muss auch hier die Bestimmung des Kohärenzbegriffes durch seine drei Elemente sein. In ihrer grundsätzlichen Bedeutung sind die Elemente Widerspruchsfreiheit, Umfassendheit und Stimmigkeit zwar schon erläutert worden (Kap. 8 I. 2). Wie später im Kapitel 25 für die Rechtsermittlung müssen sie für die Sachverhaltsfeststellung jedoch nochmals thematisiert werden, um auch die konkreten Probleme, die sich in diesem Bereich stellen, zu veranschaulichen und einordnen zu können.

1.

Widerspruchsfreiheit

Die »Widerspruchsfreiheit« ist ein selbstverständlicher Maßstab für die Konsistenz eines Sachverhaltes. Sachverhaltsfeststellungen dürfen sich nicht widersprechen. Die Praxis hat jedoch auch ihre ein246 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

14 · Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

fachen Wege, dieses Ziel zu erreichen: Tatsachen oder Indizien, die nicht ins Bild passen und zu Widersprüchen führen würden, werden nicht wahrgenommen, übersehen oder schlicht unterdrückt. Das Kriterium der Widerspruchsfreiheit macht also als Richtigkeitskriterium nur Sinn, wenn es durch das der Umfassendheit ergänzt wird.

2.

Umfassendheit

Das Kriterium der Umfassendheit oder Vollständigkeit lässt sich zunächst uneingeschränkt wörtlich als all-umfassend begreifen und umschließt so jeden denkbaren Gesichtspunkt und auch jeden denkbaren Gegeneinwand, dem im Zusammenhang des Geschehens, in dem der Fall spielt, irgendeine Bedeutung zukommen kann. Mit dieser Definition wäre der Begriff freilich praktisch völlig unbrauchbar. Der Richter hat oft schon Schwierigkeiten genug, den Beteiligten klarzumachen, dass es für die Entscheidung nicht auf alle ihnen persönlich wichtigen Gesichtspunkte ankommt. – Diese Definition wäre auch rechtlich unbrauchbar. 216 Die Frage, wie umfassend und vollständig die Datenbasis sein muss, um auf ihr Sachverhaltsfeststellungen aufzubauen, kann, wie sich immer wieder gezeigt hat, nur im Hinblick auf die (unterschiedlichen) prozessrechtlichen Vorgaben für die Sachverhaltsermittlung und für eine konkrete Prozesssituation beantwortet werden. Um es zu wiederholen: Diese Datenbasis ist abhängig von den Informationen, die die Prozessbeteiligten beibringen (müssen), und von dem Recht und der Pflicht des Gerichts, auf eine Aufklärung hinzuwirken und in der Sache selbst zu ermitteln. Diese Ermittlungsvorgaben werden insbesondere im Strafrecht durch verfassungsrechtliche Vorgaben verstärkt. So ergeben sich aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und dem Prozessgrundrecht auf ein faires 217, rechtsstaatliches Verfahren »Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung im strafprozessualen Hauptverfahren […]. Sie setzen u. a. Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für eine hinreichende tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Denn es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den 216 217

Vgl. BGH NStZ-RR 2011, 50 – juris Rn. 13. Vgl. BVerfGE 57, 250 (274 f.).

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C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen«. 218 Bei Ermittlung des Sachverhalts unterliegt die richterliche Aufklärungspflicht mithin dem »Gebot bestmöglicher Sachaufklärung«. 219 Sie muss »umfassend« sein. Die prozess- und verfassungsrechtlichen Vorgaben sind die eine Seite. Daneben tritt bei der Sachverhaltsermittlung die methodischsachliche Verantwortlichkeit des Tatrichters. Sie betrifft den Bereich, in dem Fehler revisionsrechtlich nicht zu beanstanden sind, in dem es aber darum geht, ob der Richter – in seinem Zuständigkeitsrahmen – auch wirklich die Möglichkeiten genutzt hat, den Sachverhalt so zu ermitteln, wie dies nach Lage des Falles erforderlich gewesen wäre – auch um nicht fernliegende Zweifel auszuschließen. Insbesondere angesprochen sind damit der Umgang mit Zeugen und die Art und Weise, in der der Richter mit den Prozessbeteiligten kommuniziert. Die Probleme, mit denen der Richter hier zu kämpfen hat, und die Regeln, die er zu beachten hat, um die aus diesen Schwierigkeiten resultierenden Fehler zu minimieren, sind im Zusammenhang der Problemfelder »Zeugenbeweis« und »Kommunikation zwischen Zielgerichtetheit und Offenheit« dargestellt worden. Verallgemeinernd formuliert: Ob der Richter bei seinen Sachverhaltsfeststellungen über alle Informationen verfügt, die er nach Lage der Dinge in sie einstellen muss – seine Datenbasis also »umfassend« ist –, ist ein Teil dessen, was die Kunst der Verhandlungsführung ausmacht: Unvoreingenommen das aufzunehmen, »was Sache ist«.

3.

Stimmigkeit

Was wir unter »Stimmigkeit« zu verstehen haben, ist in Grundzügen gleichfalls bereits dargestellt worden (Kap. 8 II.; Kap. 11 III. 2.). Daran können wir anknüpfen, dürfen aber eine Besonderheit der Sachverhaltsfeststellung nicht überspielen. Mit dem Urteil, etwas sei »kohärent« (= stimmig zusammenhängend), wird eine Aussage über den Zusammenhang von zwei oder mehr Sätzen gemacht, die man in formalisierter Form so ausdrücken kann: »p« (das Argument a1…n) unterstützt »q« (die Aussage r1). Bei einer Sachverhaltsfeststellung haBVerfG 2. Senat 3. Kammer, B. v. 30. 04. 2003 – 2 BvR 2045/02 – NJW 2003, 2444– 2447; vgl. auch BGH, NStZ 2009, 401–403. 219 BVerfGE 57, 250 (277). 218

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14 · Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

ben wir es allerdings – sehr viel allgemeiner – mit Informationen zu tun, die sich in den Kontext anderer Informationen einfügen müssen. Die Grundstruktur ist aber gleich: Es geht um die konsistente Eingliederung in ein (schon als konsistent angenommenes) System aller bisher anerkannten Informationen. Für die uns interessierende Ebene der Sachverhaltsermittlung als Informationsverarbeitungsprozess sind die Ausgangsfragen also dahin zu formulieren: Unterstützt »q« (das Indiz) »p« (die Haupttatsache)? Und für den Sachverhalt insgesamt: Fügt sich die einzelne Sachverhaltsfeststellung ins Gefüge der bereits bewiesenen oder unstrittigen Tatsachen ein? Zu untersuchen sind also die richterlichen Schlussfolgerungen auf ihre Stimmigkeit. – Das betrifft sowohl die Tragfähigkeit der angewandten Regeln als auch die logischen Operationen und die – noch zu beschreibenden – kognitiven Mechanismen, mit denen sie angewendet werden. Zitiert sei zum Indizienbeweis nochmals aus der »CadmiumEntscheidung« des Bundesverwaltungsgerichts: Er »besitzt insoweit einen logischen Aufbau, als Folgerungen auf das zu beweisende Tatbestandsmerkmal mit Hilfe von Erfahrungstatsachen gezogen werden. Der Indizienbeweis erfordert damit zum einen Indizien (sog. Hilfstatsachen), zum anderen allgemeine Erfahrungssätze und schließlich Denkgesetze und logische Operationen, um auf das Vorhandensein der Haupttatsache folgern zu können.« 220 Mit solchen Erfahrungssätzen (die aber keine »allgemeinen« sein müssen) haben wir uns in dem Abschnitt »Typologie der Verknüpfungen und ihre typischen Fehlerquellen« ausführlich beschäftigt. Stehen sie nicht im Streit – weder als auf den Fall anwendbare Regel noch in ihrer konkreten Anwendung – oder anders: überzeugen die Schlussfolgerungen vom Indiz auf den Sachverhalt und lassen, bei Berücksichtigung aller relevanten Informationen, auch keine ernsthaften Zweifel zurück, ist die Feststellung im kohärenztheoretischen Sinne »richtig«. Zwei Beispiele: • Bestritten ist allein, ob der tödliche Schuss aus der Waffe des T abgegeben wurde. Wird dies durch ein ballistisches Gutachten festgestellt, ist dies auch der »richtige« Sachverhalt; • ein Autounfall: A ist auf den PKW des B aufgefahren. Besondere Umstände liegen nicht vor. Der Richter kann aufgrund des AnBVerwGE 84, 271–274, juris Rn. 20, 27 mit Hinweis auf Koch/Rüßmann, Begründungslehre, 1982 S. 278 ff.; Rüßmann, in: AK-ZPO § 286 Rn. 4.

220

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C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

scheinsbeweises davon ausgehen, dass A den Unfall schuldhaft verursacht hat. Diese Beispiele machen nochmals deutlich: Ob eine Sachverhaltsannahme stimmig ist, ist keine Frage objektiver, aus einem System sicher ableitbarer Wahrheit, sondern nur die Frage, ob sie sich in einen akzeptierten Prämissenrahmen kohärent einfügt. Dieser ist nicht primär durch logische Strukturen bestimmt, sondern durch kulturelle Strukturen, sozial anerkannte Erklärungsmuster und rechtliche Wertungen. Das System, in das sich die Sachverhaltsfeststellung einfügen muss, ist das konkrete Rechtssystem mit seinen Wirklichkeitsbildern. Dieses ist kein sicherer Fels, auf dem man sicher bauen könnte. Aber die Frage, warum eine Feststellung dann letztlich überzeugt, beantwortet sich auch hier aus den schon ausführlich dargestellten Mechanismen sozialer Kognition. 221 Um bei den Beispielen zu bleiben: Für eine Kultur, die fest daran glaubt, dass Geister und Hexen auch den Alltag bestimmen, haben nicht nur das Alltagswissen und die Alltagstheorien andere Inhalte. Selbst das beste ballistische Gutachten wäre (angesichts der Macht des Teufels) nicht zwingend. Und die Schlussfolgerung aus einem Anscheinsbeweis beruht auf einer Wertung, die für das Zivilrecht als Ergebnis einer Interessenabwägung akzeptiert, im Strafrecht aber inakzeptabel ist.

II.

»Gesamtschau«, »Gesamtwürdigung«

Die gedanklichen Operationen, die zu leisten sind, wenn im Vorgang der Beweiswürdigung aus Indizien auf eine für die Rechtsanwendung notwendige Tatsache geschlossen wird, sind nicht immer so unkompliziert, wie sie sich – aus richterlicher Sicht – in den beiden Beispielsfällen darstellten. Es ist zu differenzieren:

1.

Die revisionsrechtliche Sicht

Für die weiteren Untersuchungen bieten sich hier zur Unterscheidung zwei Fallgruppen an:

Deren »Wirkungsgrad« wiederum von dem Grad institutioneller Einbindung abhängig ist.

221

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14 · Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

(1.) Fälle, in denen eine übersichtliche Anzahl eindeutiger Indizien ohne Komplikationen nach den in der »Typologie der Verknüpfungen« beschriebenen Regeln daraufhin zu überprüfen sind, ob sie einen hinreichend sicheren Schluss auf die zu beweisende Tatsache zulassen. Die Feststellungen werden hier in der Regel kohärent sein. Jedenfalls aus richterlicher, pragmatischer Sicht erscheinen diese Fälle häufig als »einfach« – nämlich dann, wenn die Regel zwar selbst auf einer »Gesamtschau« von Einzelfakten beruht, die Verallgemeinerung aber als Alltagswissen oder fachwissenschaftliches Erfahrungswissen anerkannt ist. (2.) Fälle, in denen es darum geht, eine große, möglicherweise unübersichtliche Anzahl von Indizien, die in einem komplexen Zusammenhang stehen, kohärent zu Schlussfolgerungen zu verknüpfen. Notwendig ist dann in der Tat eine »Gesamtwürdigung« oder »Gesamtschau«. Um die Verknüpfung von Indizien in komplexen Vorgängen der Beweiswürdigung zu charakterisieren, gebraucht die Rechtspraxis diese Begriffe in unterschiedlichen Formeln: • als Pflicht einer »Beweiswürdigung im Rahmen einer Gesamtschau aller Beweisanzeichen«. 222 • »Liegen mehrere Beweisanzeichen vor, so genügt es nicht, sie jeweils einzeln abzuhandeln, erforderlich ist vielmehr eine Gesamtwürdigung« 223; oder ausführlicher: • »Werden mehrere Hilfstatsachen vorgetragen, die jeweils für sich allein betrachtet keine sicheren Rückschlüsse auf die Haupttatsache zulassen, ist vom Tatrichter aber auch zu prüfen, ob die Hilfstatsachen in einer Gesamtschau, gegebenenfalls im Zusammenhang mit dem übrigen Prozessstoff, geeignet sind, ihn von der beweisbedürftigen Behauptung zu überzeugen« 224; oder mit umgekehrtem Ergebnis: • »Selbst wenn nämlich jedes einzelne, die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin möglicherweise in Frage stellende Indiz noch keine Bedenken gegen die den Angeklagten belastende Aussage aufkommen ließe, so kann doch die Häufung der – jeweils für sich noch erklärbaren – Fragwürdigkeiten bei einer Gesamtschau

222 223 224

BGH Urt. v. 07. 04. 2005 – 5 StR 544/04 – juris Rn.10. BGH NStZ 2002, 48–49 m. Hinweis auf BGH NStZ 1983, 133. BGH, Urt. v. 08. 05. 2012 – XI ZR 262/10 – NJW 2012, 2427–2434, juris Rn.

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C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

zu durchgreifenden Zweifeln an der Richtigkeit der erhobenen Vorwürfe Anlass geben«. 225 Oft ist dann die revisionsrechtliche Wertung zugleich auch eine Auseinandersetzung mit der Anwendung von Erfahrungswissen: • »Die Gesamtwürdigung des Berufungsgerichts lässt wesentliche Fallumstände außer Acht und erscheint insgesamt lückenhaft. Sie begründet im Übrigen die Besorgnis, dass das Berufungsgericht ohne sachverständige Hilfe und auch ausreichende eigene Sachkunde einzelnen wenigen psychodiagnostischen Beweisanzeichen eine zu große Aussagekraft beigemessen hat« 226; • aus der Lebenserfahrung: »den Urteilsgründen fehlt es als Grundlage für eine Anwendung des Zweifelssatzes an einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Beweisanzeichen, insbesondere an einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit der – zudem nicht durchgängig einheitlichen – Einlassung des Angeklagten sowie mit dem objektiven Tatgeschehen, das nach der Lebenserfahrung in hohem Maße dafür sprach, dass der Angeklagte mit Gewalt auch den Geschlechtsverkehr mit den Geschädigten erzwingen wollte«. 227 • »Der Senat verkennt dabei nicht, dass es die Aufgabe des Tatrichters ist, die Bedeutung und das Gewicht der einzelnen beund entlastenden Indizien in einer Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses zu bewerten (BGH NStZ 2008, 146, 147). Allein, dass ein bestimmtes Ergebnis dabei nicht fern liegt, schließt nicht aus, dass der Tatrichter im Einzelfall auch rechtsfehlerfrei zu einem anderen Ergebnis kommen kann (BGH, Urt. vom 3. Juni 2008 – 1 StR 59/08 m. w. N.). Verwirft er jedoch die nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten und führt zur Begründung seiner Zweifel an der Täterschaft eines Angeklagten nur Schlussfolgerungen an, für die es nach der Beweisaufnahme entweder keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt oder die als eher fern liegend zu betrachten sind, so muss er im Rahmen der Gesamtwürdigung erkennbar erwägen, dass er sich dieser besonderen Konstellation bewusst war. Anderenfalls kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass der Tatrichter über-

225 226 227

BGH, B v. 10. 02. 2009 – 5 StR 12/09 – juris Rn. 9. BGH, B. v. 29. 10. 2008 – IV ZR 272/06 – juris Rn. 8. BGH, Urt. v.12. 10. 2011 – 2 StR 202/11 – juris Rn. 11.

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14 · Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

spannte Anforderungen an seine Überzeugungsbildung gestellt hat«. 228 Mit der Grundforderung nach einer »Gesamtschau« bzw. »Gesamtwürdigung« formuliert die Rechtsprechung die Grundvoraussetzung einer kohärenten Beweiswürdigung: Sie setzt eine umfassende Berücksichtigung aller relevanten Informationen voraus. Negativ schließt dieses Kriterium der Umfassendheit aus, sich die Gesamtwürdigung dadurch zu erleichtern, dass man unzulässig vereinfacht. Offen lassen allerdings beide Begriffe, wie wir uns denn die gedanklichen Vorgänge, die eine solche »Gesamtschau« oder »Gesamtwürdigung« ausmachen, vorzustellen haben. Das ironische Bild, das sich bei der Formel von der »Gesamtschau aller Beweisanzeichen« einstellt, ist das einer »Black Box«; alle Beweisanzeichen kommen hinein, ein Sachverhalt kommt heraus. Aber wie? Es ist nicht Aufgabe der Rechtsprechung, hochkomplexe Bewertungs- und Einschätzungsvorgänge wissenschaftlich-theoretisch zu beschreiben. Sie kann nur auf vorhandene Modelle und Analysen zurückgreifen. Für die Probleme der Glaubhaftigkeitsprüfung – insbesondere bei Belastungszeugen im Bereich der Sexualdelikte – konnte sie sich auf solche wissenschaftliche Analysen stützen und hat dies, wie oben ausführlich beschrieben, auch getan. Es gibt aber auch allgemeine Analyse- und Beschreibungsmodelle. In der Diskussion steht hier vor allem das Bayes-Theorem als der normative »Standard«, an dem »die Kohärenz der Beweiswürdigung gemessen werden muss«. 229 Es baut auf den Möglichkeiten der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf (2.). Der zweite Weg, die »Black Box« transparent zu machen, führt über kognitionswissenschaftliche Ansätze (3.).

2.

Die Wahrscheinlichkeitstheorie – eine allgemeine Lehre vom Indizienbeweis?

Wie sich bei der Typologie der Erfahrungssätze gezeigt hat, folgen diese meistens nicht einem eindeutigen Wenn-dann-Schema, sondern dem Schema: »fast immer dann, wenn« oder dem Schema »wahrscheinlich dann, wenn«. Das logische Grundmuster des Indizienbeweises ist mithin die Induktion. Induktive Schlüsse müssen 228 229

BGH, Urt. v. 18. 03. 2009 – 1 StR 549/08 – juris Rn. 28. M. Schweizer 2005, S. 151.

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nicht richtig sein. Sie müssen aber überzeugen. Sie sind deshalb dann nicht »richtig«, wenn sie durch bessere Gründe falsifiziert werden. Sind die Erfahrungssätze nicht deterministischer, sondern statistischer Natur, ist ihre Beweis- und Überzeugungskraft, wie wir gesehen haben, eine Frage der Wahrscheinlichkeiten, die ihnen zugrunde liegen. Und diese lassen sich berechnen. Wenn der Richter über den Zusammenhang von einem Indiz I und der Tatsache T nachzudenken hat, muss er einschätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit T gegeben ist, wenn nur der Umstand I bekannt ist. Eine entsprechend sichere Feststellungsgrundlage ergibt sich, wie wir an dem Beispiel der DNA-Analyse gesehen haben, wenn Anfangs- und Belastungswahrscheinlichkeiten bekannt sind. Haben wir es mit einer Beweiskonstellation in der Form eines »Beweisringes« zu tun 230, also mit dem Problem, dass zwar nicht das einzelne Indiz, wohl aber eine Mehrzahl von Indizien, die in einem statistischen Zusammenhang stehen, einen Beweis erbringen können, sind die Möglichkeiten von Indizienwertungen mit den mathematischen Mitteln der Wahrscheinlichkeitsberechnung natürlich von besonderem Interesse. Hier eröffnet sich die Möglichkeit, durch eine Analyse komplexer Beweiswürdigungen Licht in die »Black Box-Gesamtschau« zu bringen. Der Umgang mit Indizien ist ein Umgang mit bedingten Wahrscheinlichkeiten. Definiert ist die bedingte Wahrscheinlichkeit als die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses A (= gesuchte Tatsache) unter der Bedingung, dass ein Ereignis B (= Indiz) bereits eingetreten ist. Die mathematischen Grundlagen für das Rechnen mit bedingten Wahrscheinlichkeiten liefert das Bayes-Theorem (benannt nach Reverend Thomas Bayes, 1702–1761). Ein weiterer wesentlicher Baustein ist der so genannte »Likelihood-Quotient«, der den abstrakten Beweiswert eines Indizes angibt. 231 Wie ohne weiteres einsichtig, hängt die Beweiskraft des Indizes davon ab, »wie häufig es bei der Haupttatsache vorkommt, verglichen zu seinem Vorkommen bei der Nicht-Haupttatsache.« 232 – Soweit eine sprachliche Formulierung der Ansätze. Für Leser, die die mathematische Formulierung der Theorie (mit ihren umfangreichen Formeln bei einer Vielzahl von Indizien, zugehörigen Ableitungen und notwendigen Erläuterungen) nicht 230 231 232

So das Bild von Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 622 ff. Dargestellt etwa von H. Rüßmann 2003b, S. 375 ff. Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 679.

254 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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scheuen, sei auf die Darstellungen insbesondere von Bender/Nack/ Treuer 233, Rüßmann 234, Anderson 235 und Schweizer 236 verwiesen; natürlich auch auf die Links zum Bayes-Theorem. Zur Bewertung: Wir haben ein als theoretische Grundlage geeignetes Modell (1.), das (aber) seine Grenzen in den Anwendbarkeitsbedingungen erfährt (2.): (1.1) Der Ausgangspunkt ist von Rüßmann grundsätzlich zutreffend beschrieben worden, wenn er zur Problematik einer komplexen Indiziensituation feststellt: »Mit der Aufgabe, die Stärke eines solchen Beweisrings aufgrund der statistischen Verknüpfungen der verschiedenen Indizien im Beweisring zum gesuchten Merkmal einzuschätzen, ist unser Gefühl regelmäßig überfordert. Hier verspricht nun das Bayes-Theorem Hilfe, weil es uns bei Unabhängigkeit der Indizien untereinander erlaubt, unsere Einzelkenntnisse über die Zusammenhänge der Indizien mit dem gesuchten Merkmal Schritt für Schritt auf die Gesamtstärke des Beweisrings hin auszuwerten.« 237 (1.2) Das Bayes-Theorem »erlaubt es, eine bestehende Überzeugung und neue Erkenntnisse widerspruchsfrei zu integrieren«. Es ist der »normative Standard […], an dem die Kohärenz der Beweiswürdigung gemessen werden muss.« 238 Es bietet, so die Position von H. Rüßmann, in Verbindung mit dem »Likelihood-Quotienten« eine »tragfähige Grundlage für die allgemeine Lehre vom Indizienbeweis«. 239 (2.1) Fragen wir, wie sich die Wahrscheinlichkeit für das gesuchte Merkmal (die Haupttatsache) ändert, wenn wir die Information über ein zusätzliches Indiz (I) erhalten, kann das Bayes-Theorem eine Antwort nur geben, wenn wir die abstrakte Beweiskraft dieses Indizes kennen. Die Häufigkeiten, mit der ein Indiz bei T auftritt und anderseits nicht auftritt, sind aber oft unbekannt. Sie können also nicht sicher quantifiziert und mit Zahlenwerten in die Berechnung eingestellt werden. Die Problematik potenziert sich, wenn eine Mehr-

Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 664 ff. Rüßmann 2003b, S. 373 ff. 235 J. R. Anderson 2001, S. 333 ff. 236 M. Schweizer 2005, S. 151. 237 Rüßmann 2003b, S. 377, Hervorh. d. Verf. 238 M. Schweizer 2005, S. 151 mit der Formulierung: »Ausschließlich das BayesTheorem erlaubt es […]«; Hervorh. d. Verf. 239 Rüßmann 2003b, S. 377. 233 234

255 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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zahl von Indizien mit nicht bekannter oder auch nur ungenauer Beweiskraft eingerechnet werden muss. (2.2) Für die Voraussetzung zahlenmäßiger Quantifizierbarkeit weisen deshalb Bender/Nack/Treuer zu Recht darauf hin, dass das (nur) »bei einigen Sachverständigengutachten der Fall« sein wird. Und fügen hinzu: »meist bleibt nur die Abschätzung auf Plausibilitätsniveau«. 240 Das Niveau einer solchen Plausibilitätseinschätzung kann sehr unterschiedlich sein. Es ist zunächst abhängig von der Datenbasis: umfangreiches statistisches Material – sachverständige Erfahrung – lange richterliche Praxis in einem bestimmten Gebiet – oder die Plausibilität des Alltagswissens. Über die Gründe, warum bei ungesicherten empirischen Grundlagen die Einschätzungen auch hoher Wahrscheinlichkeiten durchaus »trügerisch« 241 sein können, braucht an dieser Stelle nicht mehr näher gesprochen werden. Auch nicht über die Fehleinschätzungen von Kausalitäten als Phänomen des »Rückschaufehlers« (Kap. 13 III. 3. b) – mit H. Bergson treffend als »Illusionen des retrospektiven Determinismus« charakterisiert. So scheinen uns unsere Wahrscheinlichkeitsannahmen zwar häufig plausibel, verfehlen aber gerade deshalb eine zutreffende Einschätzung, und es führt zudem schnell zu einer falschen Sicherheit, wenn falsch geschätzte Annahmen in eine an sich korrekte Berechnung eingesetzt werden. (2.2.1) Entscheidende Gesichtspunkte zur richterlichen Überzeugungsbildung nach dem Bayes’schen Theorem hat der BGH in seiner Entscheidung vom 28. 03. 1989 zusammengefasst: »Im Rahmen der Würdigung von Indizien wird der Tatrichter allerdings die unangefochtenen logischen und mathematischen Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht verletzen dürfen. Er wird dazu aber im allgemeinen, insbesondere wenn wie im Streitfall keine einigermaßen gesicherten empirischen statistischen Daten zur Verfügung stehen, im Rahmen der von ihm vorzunehmenden Beweiswürdigung nicht sog. Anfangswahrscheinlichkeiten in Prozentsätzen ausweisen und mit diesen dann Berechnungen anstellen müssen. Sicherlich kann es häufig nützlich sein, sich über die Tragfähigkeit und das Gewicht der einzelnen Indizien genauere Rechenschaft abzulegen und vielleicht auch einmal anhand von Berechnungsformeln das Ergebnis zu überprüfen. Andererseits besteht die Gefahr, daß bei wie häufig 240 241

Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 683. So U. Eisenberg 2015, Rn. 97 und dazu näher Rn. 918 ff.

256 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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ungesicherter empirischer Grundlage für die Annahme sog. Anfangswahrscheinlichkeiten ein solches Verfahren zu überdies manipulierbaren Scheingewißheiten führen kann«. 242 (2.3) Aus diesen Überlegungen ergibt sich als Fazit: Die Anwendbarkeit mathematischer Modelle der Wahrscheinlichkeitsberechnung auf die Verifizierung von indiziellen Beweisen steht und fällt mit der Datenbasis, die zur Verfügung steht. Können Richter und Sachverständige nicht auf hinreichend sichere Werte über die Korrelationen zwischen Indiz und Haupttatsache und die Korrelationen der Indizien untereinander zurückgreifen, haben wir also immer noch ein weites Problemfeld, für das das Bayes-Theorem keine Hilfe versprechen kann. Wenn wir mithin die Operationen, die den Folgerungen von Indizien auf den Sachverhalt zugrunde liegen, in der Regel auch nicht mathematisch abbilden können, so sind es doch kognitive Vorgänge. Der nächste Schritt muss es also sein, in den für die »Gesamtschau« wichtigen kognitiven Vorgängen diejenigen Mechanismen zu beleuchten und auch zu verstehen, die die Operationen ausmachen, die die Rechtsprechung »Gesamtwürdigung« nennt. So zeigt etwa das zuletzt genannte Problem der Plausibilitätseinschätzung (2.3), dass der Mensch – auch ohne direkte Anwendung mathematischer Gesetze – durchaus zu richtigen Abschätzungen von Wahrscheinlichkeiten in der Lage ist. Das ist dann aber keine Frage eines überforderten oder nicht überforderten Gefühls, sondern von Denkvorgängen, die auf sachkompetenter Erfahrung beruhen. 243

3.

»Gesamtschau« – kognitive Mechanismen (Exkurs II)

Die Skepsis, die Rüßmann mit der Feststellung formulierte, bei »Beweisringen«, also angesichts komplexer Abschätzungen, »ist unser Gefühl regelmäßig überfordert«, ist durchaus berechtigt. Es gibt, gerade aus kognitionswissenschaftlicher Sicht, unabweisbare Gründe für eine solche Skepsis (a). Andererseits kommt der Mensch augenscheinlich oft auch mit komplexen Situationen zurecht. Unser Denken muss also über Mechanismen, Techniken und Strukturen verfügen, die der Einschätzung solcher Situationen, wenn auch nicht 242 243

BGH NJW 1989, 3161–3162 – juris Rn. 19. Vgl. dazu etwa J. R. Anderson 2001, S. 282 ff.

257 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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immer adäquat, so doch auch nicht prinzipiell unangemessen sind (dazu b und c). a)

Die prinzipiellen Schwierigkeiten

(1.) Die prinzipiellen Schwierigkeiten unseres Denkens, mit Beweiswürdigungen bei komplexer Indizienlage rational und »richtig« umzugehen, liegen zum Ersten darin, dass unsere kognitiven Prozesse nahezu immer in emotionale Zusammenhänge – konkret das limbische System – eingebettet sind: 244 »Die Kategorisierung von Wahrnehmungen, die Analyse von Situationen unter logisch-rationalen Gesichtspunkten, die rationale Zuschreibung von Bedeutungen, das vernunftorientierte Planen von Handlungen – die meisten dieser kognitiven Prozesse werden durch begleitende emotionale Erfahrungsqualitäten inhaltlich und in ihrer Verlaufsrichtung ständig überformt, wie umgekehrt kognitive Prozesse die emotionalen Qualitäten des Erlebens ständig verändern.« 245

Wenn wir mit dem Einmaleins rechnen, können wir die logischen Vorgänge isolieren; so auch bei der Anwendung fachwissenschaftlicher Regeln. Arbeiten wir mit unserem Alltagswissen und unseren Alltagserfahrungen, sind an dieser Verarbeitung aber meist auch emotionale Kontexte beteiligt. Ein Richter, der hintereinander drei Zeugen hört, reagiert schon auf deren unterschiedliches Aussehen, ihre unterschiedlichen Stimmen nicht in gleicher Weise. Und das kann schon anders sein, wenn die Reihenfolge eine andere gewesen wäre. Wahrnehmungen und Erinnerungen sind, wie wir gesehen haben, immer (vereinfacht gesagt) emotional kontaminiert. Nur wenn diese Emotionalität einen bestimmten Grad überschreitet und dies auch bewusst wird, gibt es rechtliche Regeln, dem entgegenzusteuern. Solange aber der Grad der Befangenheit nicht erreicht ist, bleibt nur ein Verweis auf den professionellen Habitus und den Ausgleich und die Abmilderung durch kollegiale Korrekturen im Spruchkörper. »Mit der Aufgabe, die Stärke eine solchen Beweisrings aufgrund der statistischen Verknüpfungen der verschiedenen Indizien im BeEine zentrale, heute in den Neurowissenschaften nicht mehr bestrittene These; grundlegend A. R. Damasio, vgl. insbesondere Damasio 1997 und darauf aufbauend Ders: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München 2000. Anschaulich zum Limbischen System Solms/Turnbull 2007. 245 F. W. Deneke 2001, S. 101. 244

258 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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weisring zum gesuchten Merkmal [zutreffend] einzuschätzen« 246, ist unser kognitives System aber nicht nur deshalb schnell überfordert, weil ungesteuert immer wieder unsere Emotionen mit im Spiel sind. Schnell fehlt diesem System – bildlich gesprochen – auch der ausreichend große Arbeitsspeicher und eine hinreichende Rechenkapazität. (2.) Zum Problem des »Arbeitsgedächtnisses«: Versetzen wir uns in die Situation einer Zeugenvernehmung: Es geht um einen Geschehensablauf, den die Beteiligten völlig unterschiedlich darstellen. Die Indizien sind zahlreich, lassen aber direkte und sichere Schlüsse auf die zu beweisenden Umstände nicht zu. Der (einzige) Zeuge erzählt zunächst weitschweifig seine Sicht des Geschehens. Er wird dann von den Richtern und den Vertretern der Beteiligten befragt und zeigt dabei recht unterschiedliche Reaktionen. Die Vernehmung dauert weit über eine Stunde; ausführliche Stellungnahmen der Prozessparteien schließen sich an. Manche Details der Aussage passen mit den vorhandenen Indizien nicht zusammen. Der Zeuge hat aber nicht den Eindruck gemacht, dass er fabulierte oder bewusst gelogen hat. In der Situation der Beweiswürdigung wird jetzt von dem Richter verlangt, dass er vor dem Horizont des gesamten Prozessstoffes und aller Informationen, die die Beweisaufnahme ergeben hat, eine Gesamtwürdigung vornimmt. Und dazu gehören auch das Wissen und die Informationen, die es braucht, um eine qualifizierte Glaubhaftigkeitsprüfung vornehmen zu können. Alle diese Informationen muss der Richter gewichten, gegeneinander abwägen, auf ihre sinnvollen Verknüpfungen und ihre wahrscheinlichen oder sicheren Kausalbezüge überprüfen. Und soweit sie voneinander abhängig sind, muss er sie für die Gesamtschau gleichzeitig im Blick haben. – Genau mit einer solchen Aufgabe ist jedoch unser analytisches Denken strukturell überfordert. Der Grund liegt in einem kognitiven Mechanismus, für den sich der Ausdruck »Arbeitsgedächtnis« eingebürgert hat. Ich wähle hier nicht von ungefähr diese vage Formulierung. Die Forschung ist im Fluss und kann mit sicheren Zuordnungen nicht aufwarten. Was hier wie mit welchen Regionen des Gehirns neuronal genau vernetzt ist, ist noch weitgehend ungeklärt; es gibt dazu nur Hypothesen und Modelle. 247 Zu beschreiben ist also nur die Funktion Rüßmann 2003b, S. 377. Vgl. Kühnel/Markowitsch 2009, S. 28 ff.; R. F. Thompson 2001, S. 359 ff.; J. R. Anderson 2001, S. 173 ff.; zur Lokalisierung insb. Bear u. a. 2009, S. 857 ff.

246 247

259 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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des Arbeitsgedächtnisses als »Bezeichnung für das Bereithalten von (bzw. die aktuelle verfügbare Menge von) Informationen und Such-, Entscheidungs- bzw. Lösungsstrategien während der Beschäftigung mit einer Aufgabe«. 248 Es sind also die Informationen, die man – nebst prozeduralem Wissen – präsent hat, wenn man eine Schlussfolgerung zieht. Die Anzahl der Informationen (oder auch Informationseinheiten), die das Arbeitsgedächtnis parat hält bzw. halten kann, ist aber – und das ist der entscheidende Punkt – prinzipiell begrenzt. Terminologisch spricht man von »Chunks« und definiert: »chunk [Englisch: Klumpen], eine bedeutungstragende Informationseinheit im Arbeitsoder Kurzzeitgedächtnis (im Rahmen der Mehrspeichermodelle des menschlichen Gedächtnisses)«. Um sogleich hinzuzufügen; »Man nimmt an, daß etwa sieben solcher chunks gleichzeitig behalten bzw. verarbeitet werden können.« 249 In der neueren Literatur wird sogar davon ausgegangen, dass »nur vier Chunks zugleich im Kurzzeitgedächtnis bereitgehalten werden können«. 250 Andererseits verfügt das kognitive System durchaus über Techniken, die Verarbeitungskapazität zu erhöhen. Wir erhöhen den Informationsgehalt der einzelnen Chunks: Wir merken uns z. B. nicht die Buchstabenfolge, sondern das Wort, nicht die Wörter, sondern den Satz, nicht den Satz, sondern seine Bedeutung, nicht die Bedeutung, sondern die Relation, in der sie mit anderen steht. Das setzt Abstraktionsfähigkeit voraus (die auch bei Richtern nicht gleichermaßen gut ausgebildet ist) und muss darauf bauen, dass im Gang der Operation keine Information übersehen oder falsch verstanden wurde. Dann wäre der Chunk falsch. In der kognitiven Psychologie ist dieses Problem u. a. am Beispiel des Expertentums 251 von Meistern des Schachspiels untersucht worden – thesenartig mit folgendem Ergebnis: »Experten können bei Problemen zusammenhängende Chunks erkennen; dies sind Muster aus Elementen, die über verschiedene Probleme hinweg immer wieder vorkommen«, 252 und sie können sich auf diese Weise auch komplizierte Aufstellungen von Schachfiguren viel besser und selbstverständlicher merken als Anfänger. So das Stichwort »Arbeitsgedächtnis, working memory«, in: Lexikon der Neurowissenschaft, Bd. 1, S. 101. 249 Lexikon der Neurowissenschaft, Art. »chunk«, Bd. 1, S. 289. 250 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 28. 251 Vgl. dazu J. R. Anderson 2001, S. 281 ff., zum Schachspiel insbes. S. 300 ff. 252 Anderson aaO. S. 302. 248

260 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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In der Grundstruktur vergleichbar wird so auch der Richter seine Informationen zu Informationseinheiten zusammenfügen und mit ihnen bei der »Gesamtwürdigung« arbeiten. Das aber setzt das zweite wesentliche Element des Expertentums voraus, nämlich Erfahrung 253. Und dieses hat seine Grenze in den Fällen, in denen die Informationslage so komplex und vielfältig ist, dass sie nicht in einer überschaubaren Zahl von Informationseinheiten komprimiert werden kann. Möglichkeiten, auch diese Grenzen zu umgehen, liegen in der Abschichtung (b) und im Mechanismus der Mustererkennung (c). b)

Strategie der Strukturierung und Abschichtung

Hat der Richter es mit Hilfstatsachen zu tun, die zunächst voneinander unabhängig sind, kann er Schritt für Schritt vorgehen und so den Prozess der »Gesamtwürdigung« in Teilbewertungen abschichten. In der Struktur ist das eine Methode der Problemlösung, die auch bei der Wahrscheinlichkeitsberechnung nach dem Bayes-Theorem vorgenommen wird, nur dass der Vorgang dann mathematisch formulierbar ist. Hier beruhen die Schlussfolgerungen auf induktiven Einschätzungen. Im Vorgehen ist jedoch auch hier zunächst jedes Indiz einzeln in seiner Beweisbedeutung zu untersuchen und der BGH rügt zu Recht, »daß die Strafkammer den Zweifelsgrundsatz rechtsfehlerhaft schon auf einzelne Indiztatsachen angewandt und sich so den Blick dafür verstellt hat, daß mehrdeutige Indizien mit der ihnen zukommenden Ungewißheit in die erforderliche Gesamtwürdigung einzustellen sind«. 254 Eine weitere typische Konstellation, in der für solche Einschätzungen ein Schritt-für-Schritt-Vorgehen möglich und auch angezeigt ist, beschreibt der BGH, wie schon zitiert, für die Glaubhaftigkeitsprüfung: »Die Nullhypothese sowie die in der Aussagebegutachtung im wesentlichen verwendeten Elemente der Aussageanalyse (Qualität, Konstanz, Aussageverhalten), der Persönlichkeitsanalyse und der Fehlerquellen – bzw. der Motivationsanalyse sind gedankliche Arbeitsschritte zur Beurteilung der Zuverlässigkeit einer Aussage.« 255 Das Entscheidende an dem Ansatz der Nullhypothese ist in der Tat nicht, dass er einen »schematischen Gutachtenaufbau« ver253 254 255

Vgl. Anderson aaO. S. 300 ff. BGH NStZ-RR 2002, 243–244. BGH B. v. 30. 05. 2000 – 1 StR 582/99 – NStZ 2001, 45–46, juris Rn. 14.

261 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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langt 256, sondern die »Gesamtwürdigung« zunächst in einzelne »gedankliche Arbeitsschritte zur Beurteilung« aufspaltet und sie so einer rationalen Nachprüfbarkeit zugänglich macht. In der Aufspaltung liegt dann auch die Möglichkeit, die Beurteilung »auszulagern«, d. h. dort, wo das eigene richterliche Wissen nicht hinreichend ist, einen Gutachter zu beauftragen. Das aussagepsychologische Gutachten ist hier nur ein Beispiel. Es gilt immer dann, wenn ein Erfahrungssatz sachkundig zu »verifizieren« ist und/oder seine Anwendung fachliches Wissen und Erfahrung voraussetzt. Ob das eigene richterliche Wissen hinreichend ist, unterliegt zunächst der eigenen tatrichterlichen Einschätzung. »Die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut.« 257 Die Grenze liegt aber dort, wo »der Sachverhalt oder die Person des Zeugen solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel daran aufkommen können, ob die Sachkunde des Gerichts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht.« 258 – Aber es liegt auf der Hand, dass hier eine »Grauzone« vorliegt, in der zur tatrichterlichen Würdigung auch eine großzügige Einschätzung der eigenen Sachkunde gehört. Doch es lässt sich nicht übersehen, dass es hierfür auch gute Gründe der Verhältnismäßigkeit mit Blick auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis geben mag. Ist ein umfangreiches aussagepsychologisches Gutachten angemessen, wenn € 87,51 eingeklagt sind? Die »Gesamtwürdigung« kann so auch auf eigene Weise einer »Reduktion von Komplexität« dienen. c)

»Gesamtschau« – Mustererkennung

Die Problematik der »Gesamtwürdigung« bleibt also – jedenfalls für die Fälle, in denen die »Gesamtschau« eine Vielzahl von Informationen/Informationseinheiten erfassen muss, die im »Arbeitsgedächtnis« nicht mehr überschaubar sind und die wegen ihrer Vernetzungen einer Analyse Schritt für Schritt nicht zugänglich sind. Das

BGH aaO. BGH, NStZ-RR 2006, 242–243 mit Hinweis auf BGHSt 8, 130; vgl. auch BGHSt 45, 164, 182; BSG, B v. 24. 05. 2012 – B 9 V 4/12 B – juris Rn. 21. 258 BGH, NStZ-RR 2006, 242–243; siehe auch das OLG Saarbrücken, Urt. v. 13. 07. 2011 – 1 U 32/08 – 9, 1 U 32/08 – juris Rn. 48. 256 257

262 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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Postulat einer »Gesamtschau« gibt hierzu, wie gesagt, nur die Vorgabe, dass die Würdigung alle vorhandenen Informationen umfassen muss. Was mit »Gesamtschau« gemeint ist, findet sich allenfalls in der Wortbedeutung für »Schau«, als »(gehoben) intuitives, schauendes Erfassen (geistiger Zusammenhänge)«, so der Duden. Aber das besagt wenig darüber, wie der Vorgang einer »Gesamtwürdigung« selbst zu verstehen ist. Und hinreichend gesicherte Erklärungsmodelle, auf die wir zurückgreifen könnten, stehen, soweit ersichtlich, nicht zur Verfügung. Wie an anderer Stelle bereits dargelegt, lässt sich ein Ansatz, die angesprochene »Intuition« beschreib- und erklärbar zu machen, jedoch in dem Phänomen der »Mustererkennung« finden. Insbesondere im Hinblick auf die Frage, wie der Richter in Sachverhalten rechtliche Strukturen erkennt, werden wir auf die Mechanismen, die für die Mustererkennung wesentlich sind, noch ausführlich eingehen: An dieser Stelle können wir uns auf Grundüberlegungen, die zunächst auf die Sachverhaltserkenntnis konzentriert sind, beschränken. (1.) Als Ausgangspunkt für unsere Überlegungen bietet sich folgende Beobachtung an: Von einem Indiz schließen wir nicht nur auf eine bestimmte Tatsache; vielfach nehmen wir es, sehr viel weitergehend, als Indiz für eine Sachlage, also einen Tatsachenzusammenhang, einen (ganzen) Sachverhalt. Wenn wir etwa eine Sirene hören, bleiben unsere Gedanken meist nicht bei der Vorstellung eines Einsatzfahrzeuges der Polizei oder eines Krankenwagens stehen, sondern »getriggert« werden Vorstellungen wie Unfall, Überfall, Notarzteinsatz. Ein vergleichbares Phänomen haben wir oben am Beispiel der Knallzeugen bereits angesprochen. In der Sache geht es darum, dass partielle Informationen bzw. Beweisanzeichen oft zugleich Muster typischer Geschehensabläufe evozieren. (2.) Versuchen wir diese Beobachtungen in eine Theorie der Wahrnehmung einzuordnen, so zeigt sich, dass Wahrnehmung nicht einfach als Abbildung funktioniert. Die Informationen, die wir aufnehmen, werden nicht zu Bildern zusammengesetzt, wie bei Digitalaufnahmen Pixel um Pixel zu einem Bild zusammengefügt werden. Vielmehr treffen Informationen auf Kontexte im kognitiven System und daraus erwachsen unsere Vorstellungen. »Das theoretische Bild von den Grundstrukturen der Wahrnehmung, das in den vergangenen Jahrzehnten gewonnen werden konnte«, schreibt Mausfeld, »läßt sich stark verkürzt so zusammenfassen: Unser Gehirn verfügt über ein vorgegebenes Repertoire an ›Ge263 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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schichten‹ über die Beschaffenheit der Außenwelt. Welche ›Außenwelt-Geschichten‹ dem Gehirn verfügbar sind, wurde durch die Evolution festgelegt (wodurch eine Anbindung an die physikalisch-biologische Umwelt gegeben ist). Das Gehirn sucht gleichsam jedem sensorischen Input einen Sinn dadurch zu geben, daß es mit ihm eine Geschichte über die Beschaffenheit der Außenwelt verbindet. Der sensorische Input selektiert oder ›triggert‹ also eine ›Außenwelt-Geschichte‹. Die Sinne dienen folglich nicht zur ›Abbildung‹ der Welt, sondern lediglich als Stichwortgeber für die Selektion einer bereits im Gehirn vorhandenen ›Außenwelt-Geschichte‹ (dies steht in Einklang mit jüngeren neurophysiologischen Befunden, denen zufolge beim visuellen System der überwiegende Teil der Fasern im Dienste corticofugaler Informationsübertragung steht). Gegenüber dem alternativen Designprinzip, nach dem ein Organismus so beschaffen wäre, daß er alle relevante Information über die Umwelt aus dem sensorischen Reiz gewinnen müßte, hat dieser ›phylogenetische Umweg‹ den funktionalen Vorteil einer besonderen Stabilität der Ankopplung an die Umwelt sowie einer größeren Schnelligkeit.« 259 Entscheidend ist die Fähigkeit, zum Zweck der Erkennung von Objekten und Situationen trotz individuell unterschiedlicher Erscheinungen (Verdeckungen, perspektivische Verzerrung u. a.) Nebensächliches zu abstrahieren und allgemeine Eigenschaften herauszuheben. Für Tiere und Menschen ist es überlebensnotwendig, einen Raubfeind oder eine sonstige typische Gefahrenlage unter den verschiedensten Bedingungen sofort (wieder-) zu erkennen (gleichsam ohne vorherigen Beweisbeschluss und geregelte Beweisaufnahme). Abstrakt gesprochen: Es ist lebensnotwendig, auch komplexe Sachlagen in einer »Gesamtschau« überblicken zu können, um in gefährlichen Lagen schnell reagieren zu können. Das kann nicht funktionieren, indem das Gehirn alle Informationen, die von außen kommen, Schritt für Schritt verarbeitet, sondern nur mit radikal reduzierten Datenmengen, und dies geschieht in der Weise, dass sensorische Inputs über vorhandene Kontexte verarbeitet werden. Die Namen dafür können je nach Perspektive wechseln: Erfahrungswissen, Schemata, Erfahrungssätze, Muster. Die terminologischen Differenzen können an dieser Stelle auf sich beruhen. 260 R. Mausfeld, Art. »Wahrnehmung«, Lexikon der Neurowissenschaft, Bd. 3, S. 440 ff. 260 Näher Kap. 22 II. 259

264 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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Diese Muster oder Schemata sind aber nicht nur aus dem vorgegebenen Repertoire an »Geschichten« über die Beschaffenheit der Außenwelt gespeist, also von Annahmen, die dem Menschen bereits als biologisches Programm vorgegeben sind. Es ist auch unser erworbenes Vor-Wissen, das unsere Wahrnehmung beeinflusst. (»Ich sehe nur, was ich weiß.«) Und wir entwickeln aus unseren Erfahrungen Vorstellungen, wie bestimmte Situationen abzulaufen haben, 261 wie eine Bar oder ein Wohnzimmer aussieht 262 oder auf welche Kausalverläufe bestimmte Ereignisse typischerweise zurückzuführen sind (Voraussetzung des Anscheinsbeweises). (3.) Bevor wir uns konkret wieder dem Problem der »Gesamtschau« zuwenden, gilt es in einem weiteren Schritt, den theoretischen Rahmen, in dem wir Schemata bzw. Muster als Mittel der Erkenntnis und als Denkformen begreifen müssen, nochmals zu erweitern. Dieser Rahmen ist Thema der schon mehrfach genannten Untersuchung von H. Lenk über »Schemaspiele« 263. Unter der Überschrift »Grundlegendes zum Begriff der Schemainterpretation« gibt er folgende Zusammenfassung, die ich im Zusammenhang zitieren möchte: »Geradezu in genialer Weise hatte Kant (vgl. Kap. 1, sc.: über Kants Schemabegriff) neben den transzendentalen Voraussetzungen auch den Prozeß der erfahrungsmäßigen Bildung und Anwendung kognitiver Konstrukte zur vorstellungsmäßigen Vergegenwärtigung, zur ›Verbildlichung‹ mentaler Konfigurationen und Modelle, also der Kognitionen, vorweggenommen. Die kognitive Psychologie hat erst vor wenigen Jahrzehnten in der Nachfolge der Begrifflichkeit der Gestaltpsychologie diesen Begriff der Schemata als der ›verbildlichenden‹ kognitiven Konstrukte wieder aufgegriffen (vgl. z. B. Rumelhart 1978, Anderson 1988) 264. ›Schemata‹ werden von der kognitiven Psychologie als ›Bausteine der Kognition‹ bezeichnet: man erkannte, daß nicht nur die visuelle Wahrnehmung oder die Sinneserkenntnis allgemein, sondern daß auch die begriffliche und alltagstheoretische Erkenntnis in Prozessen der Schemabildung und -anwendung vonstatten geht, gestaltet oder ›realisiert‹ wird. Alle Kognitionen, Erkenntnisse, Deutungen sind an die Auslösung, Auswahl oder Anwendung sowie Überprüfung von Schemata gebunden. Der ›Prozeß der Interpretation‹ bestehe Zur Schematheorie aus diesem Blickwinkel vgl. Kühnel/Markowitsch 2009, S. 224. 262 Vgl. ein anschauliches Beispiel bei H. Welzer 2006, S. 112 ff. 263 Nicht im Sinne der Spieltheorie zu verstehen, sondern als Parallele zu den »Sprachspielen« Wittgensteins. 264 H. Lenk 1980. 261

265 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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geradezu darin, daß ›mögliche Konfigurationen von Schemata ausgewählt und daraufhin verifiziert werden, daß sie mit gespeicherten Daten – Gedächtnisfragmenten – zusammenstimmen‹ (Rumelhart 1978). Darüber hinaus ist dieser Vorgang ein aktiver Informationssuch- und -strukturierungsprozeß, der mit unseren jeweiligen (ebenfalls schematisiert repräsentierten) ›gegenwärtigen Bedürfnissen und Zielen‹ in relevanter Weise verknüpft ist. Ein solches Interpretieren ist also wesentlich auf das Auslösen oder Auswählen von Schemata (kognitiven Interpretationskonstrukten) und deren versuchsweiser Zuordnung zu Sinnesdaten, zu Wahrnehmungserlebnissen und zu abstrakteren inhaltlichen (etwa konditionalen) Datengegebenheiten sowie auf die sukzessiv rückkoppelnde Überprüfung der Stimmigkeit bei der Anwendung des jeweiligen Konstrukts bezogen. Es handelt sich um mentale Repräsentationen von Mustern oder datenmäßig gestalteten Merkmalen oder Gehalten, die typisiert, gattungsartig auf relevante Züge konzentriert und als solche aus dem Gedächtnis abrufbar sind.« 265

(4.) Ordnen wir die Frage, wie wir uns die Mechanismen, die einer »Gesamtschau« zugrunde liegen, vorzustellen haben, in den unter (1.) bis (3.) skizzierten Denk- und Argumentationsrahmen ein, erhellt sich zunächst das Grundprinzip: Die Rekonstruktion eines Geschehens, das der Richter bei der Sachverhaltsfeststellung vornimmt, geschieht nicht durch ein Zusammenfügen von je selbstständigen und gleichwertigen Einzelinformationen (Inputs), sondern es sind bestimmte Informationen/Indizien, die als Auslöser für Muster, Schemata und Verknüpfungen von Tatsachen (über Erfahrungssätze) wirken. Im Prozessverlauf wird beispielsweise aus einer Bemerkung plötzlich ein Motiv deutlich, aus dem heraus ein bisher unklarer Verhalts- und Geschehensablauf erst verständlich wird. Oder bei einem zunächst klaren Unfallverlauf fällt nebenbei ein Umstand auf, der es nahelegt, dass der Unfall gestellt war. 266 Oder ein Zeuge sagt aus; für den Richter war bislang alles glaubhaft – bis er, nur für den Bruchteil einer Sekunde, einen Blickkontakt mit einer Partei wahrnahm, der zu einer völlig veränderten Gesamtbeurteilung, auch bereits anders eingeordneter Indizien, führte. Diese Fähigkeit zum blitzschnellen Erfassen entspricht einer primären evolutionären Funktion von Mustererkennung. Das kognitive System soll sich augenblicklich ein Bild von einer – möglicherweise H. Lenk 1980, S. 59 f. Als Beispiel vgl. etwa OLG Köln, Beschluss vom 23. Oktober 2014 – 19 U 79/14 – juris – m. w. N.

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266 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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gefährlichen – Situation verschaffen können. Wie sich an dem Eingangsbeispiel – Sirene lässt an Unfall, Notarzt, Überfall denken – zeigte, sind die evozierten Vorstellungen andererseits zunächst häufig unbestimmt, gleiten in andere Muster über. Hier muss nicht sofort gehandelt werden (Angriff oder Flucht 267); die Information, das Indiz will jedoch verstanden sein und muss deshalb interpretiert werden. Es bedarf dann weiterer Schritte der Konkretisierung und des Verifizierens. Der Schwebezustand (was denn genau die Sirene bedeutet) muss »in dem Sinne optimiert werden, dass eine Art Vorstellung in Richtung der momentan jeweils ›wahrscheinlichsten‹ Interpretation erfolgt«. 268 Lenk hat in der obigen Textstelle diese Schritte einer »sukzessiv rückkoppelnde[n] Überprüfung der Stimmigkeit« als aktiven »Informationssuch- und -strukturierungsprozeß« beschrieben, als Prozess, in dem »›mögliche Konfigurationen von Schemata ausgewählt und daraufhin verifiziert werden, daß sie mit gespeicherten Daten – Gedächtnisfragmenten – zusammenstimmen‹«. (4.1) Im vorigen Kapitel haben wir den Prozess der Sachverhaltsfeststellung als einen Vorgang analysiert und dargestellt, bei dem es genau auf solche Verfahren der Konkretisierung, der rückkoppelnden Überprüfung der Stimmigkeit und der »Verifizierung« ankommt. Natürlich ist der Prozessstoff durch die Prozessbeteiligten und/oder Aktenlage meist so vorgegeben, dass der Richter eine Sachverhaltshypothese, ein Muster in den Informationen nicht erst mühsam suchen muss. Aber seine Grundfrage, von der auch sein »Fallverstehen« abhängt – nämlich: »was ist denn eigentlich Sache?« –, wird immer auch fordern, dass er den Prozessstoff mit eigenen Mustern, Sachverhaltshypothesen und eigenem Erfahrungswissen abstimmen muss. Insofern verdeutlichen die allgemeinen Überlegungen zur Mustererkennung nur den theoretischen Rahmen, in dem die Analysen zur Hypothesenbildung, zu den Problemfeldern der »Verifizierung«, zur »Verknüpfung« sowie zur Aufmerksamkeit und Kommunikation standen. (4.2) Kein Zweifel: Ein Indiz, das ein Muster evoziert, garantiert keineswegs, dass auch die Sachlage richtig getroffen wird. Die beschriebenen Methoden der »Verifizierung« sind aber nur der eine Weg, Fehleinschätzungen zu minimieren. Der andere wird deutlich, Solms/Turnbull 2007, S. 140 ff. R. Mausfeld 1996, Art. »Wahrnehmung«, Wörterbuch der Kognitionswissenschaft, S. 776, 790.

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267 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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wenn wir uns den Zusammenhang klarmachen, der zwischen unseren Erfahrungen, die wir in den Erkennungsprozess einbringen können, und der Chance besteht, die »jeweils wahrscheinlichste Interpretation« 269 zu treffen. »Erfahrungen« sind hier zu verstehen als Expertenwissen, das sowohl durch besonderes Fachwissen als auch durch besondere Erfahrungen in den Tätigkeitsfeldern des Faches gekennzeichnet ist. 270 (4.2.1) Näher können die wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Zusammenhang nicht dargestellt werden. Festzustellen sind aber die entscheidenden Gesichtspunkte und Ergebnisse, die sich aus ihnen ergeben und die wir den folgenden Überlegungen zugrunde legen werden. In Stichworten sind dies: • Wahrscheinlichkeit und Erfahrung: Die bewussten Wahrscheinlichkeitsurteile der Versuchsteilnehmer stimmen oft nicht mit dem Bayes-Theorem überein, ihr tatsächliches Verhalten dagegen schon. Experten kommen jedoch – mit zunehmender Erfahrung – zu immer genaueren Einschätzungen, insbesondere auch der Ausgangswahrscheinlichkeiten. 271 • Muster und Erfahrung: »Eine wichtige Dimension zunehmender Expertenschaft besteht in der Berücksichtigung reichhaltiger perzeptueller Merkmale bei der Enkodierung von Problemen«. 272 Mit anderen Worten: Mit zunehmender Praxiserfahrung werden sowohl mehr als auch umfangreichere und differenziertere Wahrnehmungsmuster ins Gedächtnis eingespeichert. 273 • Erfahrung und Chunks: »Experten können bei Problemen zusammenhängende Chunks erkennen; dies sind Muster aus Elementen, die über verschiedene Probleme hinweg immer wieder vorkommen.« 274 Wir können also von folgenden Annahmen ausgehen: Je mehr Muster und Erfahrungswissen zur Verfügung stehen, desto differenzierKohärenztheoretisch entspricht die »jeweils wahrscheinlichste Interpretation« dem »Schluß auf die beste Erklärung«; in diesem Sinn vor allem Th. Bartelborth 1996, S. 9 ff. Siehe Kap 8 VII. 2. 270 Vgl. zusammenfassend J. R. Anderson 2001, S. 300 ff. 271 J. R. Anderson 2001, S. 341 f. 272 J. R. Anderson 2001, S. 300, am Beispiel der Röntgendiagnostik. 273 J. R. Anderson 2001, S. 303. 274 J. R. Anderson 2001, S. 302, am Beispiel von Schachspielern; siehe auch S. 124 zu optischen Chunks. 269

268 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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ter kann ein Abgleich vorgenommen werden. Je kleinteiliger die Muster im Übrigen sind, weil man in einem bestimmten Bereich über vielfältige Erfahrungen verfügt, desto größer wird die Mustererkennung auch in ihrer Tiefenschärfe und desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, dass die »jeweils wahrscheinlichste Interpretation« getroffen wird. Ein erfahrener Verkehrsrichter, der in zahlreichen Fallvarianten Unfallgeschehen zu beurteilen hatte, wird in dem Erfassen einer Sachverhaltshypothese und deren Verifizierung sicherer sein als ein Proberichter, der keinen Führerschein besitzt. Dieser Zusammenhang von Erfahrung und Einschätzungskapazität gilt auch, wenn es um die Gesamtwürdigung komplexer Situationen geht, etwa um die Würdigung einer Zeugenaussage zu einem unübersichtlichen Tatsachenkomplex bei Zweifeln, ob das, was der Zeuge aussagt, auch wirklich seinem subjektiven Erleben entspricht. Einige Aspekte dazu: Ein Richter mit breiter Vernehmungserfahrung wird zunächst in seiner Konzentration nicht dadurch abgelenkt, dass er besonders darauf achten müsste, keine Verfahrensfehler zu machen. Kriterien der Aussageanalyse werden mehr oder minder automatisch mitlaufen und er wird auf Muster für Lügenindizien, Interessenorientierung, Inkompetenz in der Sache, gute und schlechte Gründe für Konstanz und Inkonstanz etc. zurückgreifen können. Das wird ihn auch befähigen, Zwischenergebnisse festzuhalten, also im zuvor erörterten Sinne Informationseinheiten bzw. übergreifende Chunks zu bilden. (4.2.2) Ist man den bisherigen Überlegungen und damit dem Versuch gefolgt, die Mechanismen, die im Vorgang der »Gesamtwürdigung« wirksam sind, kognitionswissenschaftlich zu rekonstruieren, eröffnet sich auch – geradezu spiegelbildlich – der Blick auf die Fehlerquellen, die in diesen Mechanismen liegen. Sie markieren zugleich Zusammenhänge »verfehlter Würdigung« 275: Es werden Muster übertragen, die nicht passen oder dazu führen, dass wesentliche Besonderheiten nicht gesehen oder ausgeblendet werden. Es wird nach Mustern gesucht, die es (noch) nicht gibt, statt sich unbefangen der Situation zu stellen; man denke an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. 276 Auch können das, was man gerne als berufliche Erfahrung ausgibt, nur sich stetig verfestigende Vorurteile sein. Gerade das Beispiel der Erfahrung zeigt aber auch die UnterDiese Formulierung gebraucht U. Eisenberg 2015, S. 342 ff. mit typischen Beispielen, Rn. 913 ff. 276 Dazu Strauch 2000, JZ 1020, 1026. 275

269 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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scheidung, auf die es ankommt. Gemeint ist nicht die Routine (zum Typ des Routiniers Kap. 13 III. 2. b), für den jede Erfahrung nur die Bestätigung der früheren ist. Das Ergebnis ist dann, dass die Erkennungsmuster immer starrer werden und ihr Erkenntniswert immer geringer. 277 Erfahrung im Sinne des zuvor beschriebenen Expertenwissens verfestigt sich nicht in der Routine, sondern differenziert sich in einem Prozess von trial and error aus. Es ist, soweit gegeben, auch immer durch Wissen erweitert und kontrolliert. Entsprechend differenzierter werden auch die Interpretations- und Wahrnehmungsmuster. Als methodische Maxime formuliert: Der Richter muss sich immer der Möglichkeit bewusst sein, dass er sich geirrt hat und ihn seine Erkenntnismechanismen nicht zur »Wahrheit«, sondern in die Irre führen können. d)

Zwischenergebnisse und noch offene Fragen

Ziehen wir das Fazit aus unseren Überlegungen, so ergibt sich als wesentliches Ergebnis, dass wir hinter den Vorgängen der »Gesamtschau« bzw. der »Gesamtwürdigung« mehr erkennen können als nur eine »Black Box«. Was wir nicht können, ist die Rückführung dieser Begriffe auf eindeutig strukturierte, klar nachvollziehbare kognitive Vorgänge. Aber es sind Vorgänge, die sich kognitionswissenschaftlich erfassen lassen – nur entsprechen sie in ihrer Komplexität eben der Komplexität der Informationen, die zu verarbeiten sind. So ist es auch im Ergebnis nicht überraschend, dass die Mechanismen, die wir zunächst getrennt zu analysieren versucht haben, oft alle gleichzeitig an dem beteiligt sind, was wir als »Gesamtschau« zu entschlüsseln suchten: die mehr oder minder präzise Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten, die Abschichtung und Abschätzung von Einzelanalysen, die Bildung von Chunks und schließlich das Arbeiten mit Mustern und Erfahrungswissen. Festzuhalten ist aber auch ein weiteres Ergebnis und das betrifft in zwei Richtungen den im Teil A immer wieder betonten Zusammenhang von richterlicher Arbeit und institutionellen Vorgaben. Erfahrungen, Beobachtungsperspektiven, Aufmerksamkeit etc. sind individuell. Der Horizont einer »Gesamtschau« ist also breiter und In diesem Sinne kritisch zur Rolle der Berufserfahrung auch U. Eisenberg, 2015, mit dem nachdenkenswerten Hinweis auf das Fehlen jeder Form von »Supervision« in der Richterausbildung, Rn. 916 f.

277

270 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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die Informationswahrnehmung und -verarbeitung umfassender in einem (funktionierenden) Spruchkörper als beim Einzelrichter. Der andere Punkt: Es gibt in der Justiz den (für jede Verwaltung verständlichen) Grundsatz: Jeder Richter muss grundsätzlich alles können. Auf Erfahrung kommt es dabei nicht selten auch in den Bereichen nicht an, in denen die Qualität der Beweiswürdigung und die Sicherheit bei einer »Gesamtwürdigung« unmittelbar von dem Erfahrungswissen des Richters abhängen. »Stimmigkeit« und »Richtigkeit« der Sachverhaltsfeststellung wird so unmittelbar zu einer Frage eines aufgaben-adäquaten Personaleinsatzes. Und das gilt unabhängig von dem Umstand, dem wir uns im Teil E noch näher widmen müssen: Wir alle arbeiten mit Mustern, aber nicht alle lernen in gleicher Weise aus Erfahrung. Damit ist die entscheidende Perspektive angesprochen, die wir bisher weitgehend ausgeblendet haben: Die Gesamtwürdigung oder Gesamtschau ist ein Vorgang, der unablösbar von der Person oder den Personen ist, die sie vornehmen. Der Richter muss aus der Gesamtwürdigung die für seine richterliche Überzeugung notwendige persönliche Gewissheit gewinnen. Beide Begriffe spielen eine entscheidende Rolle für die Bestimmung des Beweismaßes, dem wir uns zu Beginn des nächsten Abschnittes zunächst zuwenden müssen. Unabweisbar wird dann aber zugleich die Frage, wie wir das Kriterium der »Stimmigkeit« verstehen können, wenn es unhintergehbar auch die individuelle Persönlichkeit des Richters ist, die mit ihren Prägungen und Erfahrungen, ihrem Rollenverständnis, ihren persönlichen und institutionellen Vorverständnissen die subjektiven Raster vorgibt, mit denen die Beweise und die Tatsachen ermittelt und gewürdigt werden.

III. Die Stimmigkeit des Sachverhaltes – das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung »Im Normalfall ist es nicht möglich«, schreibt Grunsky zum »Normalbeweis« in seinen Grundlagen des Verfahrensrechts, »ein in der Vergangenheit liegendes Geschehen mit absoluter Sicherheit zu rekonstruieren. Es mag noch so viel dafür sprechen, daß die Dinge so und nicht anders abgelaufen sind, doch ändert dies nichts daran, daß die Möglichkeit eines Irrtums besteht: alle Zeugen können etwa lügen oder sich falsch erinnern. Wollte man diese Möglichkeit als Hin271 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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dernis für eine richterliche Überzeugungsbildung ansehen, so gäbe es praktisch keinen Weg dazu, sich vom Vorliegen einer bestimmten Tatsache zu überzeugen. Die Entscheidung müßte dann fast immer gegen den Beweisbelasteten ausfallen, womit insbesondere der gesamten Strafrechtspflege der Boden unter den Füßen entzogen wäre. Um dies zu verhindern, muß man sich damit begnügen, für die Feststellung einer Tatsache eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit genügen zu lassen, die keinen vernünftigen Zweifel mehr offen läßt.« 278 Genügt Wahrscheinlichkeit? Und welche Wahrscheinlichkeit genügt? Das Beweismaß bestimmt mit seiner Antwort auf diese Frage unmittelbar die »Wahrheitsmaßstäbe«, die bei der Sachverhaltsfeststellung zugrunde zu legen sind. Mit der Art und Weise, in der der Richter das Beweisrecht und insbesondere die Beweislastregeln handhabt, also diejenigen Regeln, »die als Entscheidungsnormen im Schnittpunkt von sachlichem und Verfahrensrecht stehen« 279, trifft er dann auch die Sachentscheidung. Es ist die materielle Komponente des Rechtsstaates, die an dieser Schnittstelle auf die »Erlangung und Erhaltung materieller Gerechtigkeit im staatlichen und staatlich beeinflußbaren Bereich« zielt. 280

1.

Die prozessrechtliche Seite und ihre praktischen Probleme

Die Abhängigkeit der Chance »Recht zu bekommen« von dem Beweismaß, das dafür erbracht werden muss, ist die prozessuale Seite des Problemzusammenhangs. Soweit sich ein Prozess nicht im Wesentlichen um Rechtsfragen dreht, ist die Frage, was ist bewiesen und was nicht, der Kern- und Angelpunkt eines Rechtsstreites. a)

Die Sachverhaltsermittlung – ein Kampf um die richterliche Gewissheit

Der Kampf ums Recht ist aus dieser Sicht ein Kampf um die richterliche Gewissheit. Die einen wollen den Richter von dem vorgetrage-

W. Grunsky 1974, S. 450. So die Richter Zeidler, Hirsch, Niebeler und Steinberger in der Entscheidung BVerfGE 52, 131–187 – juris Rn. 72. 280 BVerfGE 52, 131–187 – juris Rn. 70 mit Hinweis auf Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, Grundgesetz, Art. 20 Rn. 59. 278 279

272 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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nen Sachverhalt überzeugen, die anderen richten ihre Prozesstaktik nicht selten darauf aus, es dem Richter möglichst unmöglich zu machen, sich von dem Geschehen, das er zu beurteilen hat, ein zweifelsfreies Bild zu machen. Im Strafverfahren soll eine Flut von Beweisanträgen das Gericht zu einem Deal zwingen. Statt Rechtsanwendungsgleichheit zu gewährleisten, wird der Basar eröffnet. Im Zivilverfahren – man denke an die »Punktesachen« in Bauprozessen – werden Positionen für Positionen bestritten und solange Mängelrügen erhoben, bis der Prozess kaum noch entscheidbar ist bzw. die Kosten in keinem Verhältnis mehr zu der eingeklagten Summe stehen. Die Nötigung zum Vergleich erscheint dann als unabweisbar. Es ist deshalb naheliegend, dass Wege aus diesem Dilemma gesucht werden. Sie können über eine Abschwächung des Beweismaßes führen oder über Modifizierungen der Beweislastregel. Typische Beispiele sind etwa das Arzthaftungsrecht, 281 Versicherungsfälle 282 oder, allgemeiner, der Anscheinsbeweis. Die dogmatischen Konstruktionen sind hier vielfach umstritten. 283 Das mag auf sich beruhen. Es geht nicht um eine prozessrechtliche Auseinandersetzung mit dem Ziel, die unterschiedlichen Auffassungen zum Beweismaß auf ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten, auf richtige und weniger richtige Ansätze zu untersuchen. Im Blickpunkt ist hier nur die Funktion, die das Kriterium des Beweismaßes bei der Sachverhaltsermittlung spielt. Uns interessieren die Problemzusammenhänge, die sich aus dem Postulat der »generellen Geltung« des Beweismaßes 284 einerseits und unseren erkenntnistheoretischen Überlegungen zu Art und Weisen der richterlichen Sachverhaltsfeststellung andererseits ergeben. b)

Der »Normalbeweis«

Folgen wir den gesetzlichen Regelungen, gilt trotz etwas unterschiedlicher Formulierungen für alle Prozessordnungen das gleiche Beweismaß: Maßgebend ist die richterliche Überzeugung. 285 Wenn der Vgl. die Belege bei Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 72. Aufl., Anh. § 286 Rn. 56 ff., 127. 282 Vgl. die Belege bei Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 72. Aufl., Anh. § 286 Rn. 215. 283 Näher etwa Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 286 ZPO, Rn. 128 ff., 133 ff. 284 Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl., § 286 ZPO Rn. 20. 285 Ob es sich bei den Sonderregelungen in einzelnen Prozessordnungen – z. B. Glaubhaftmachung, §§ 287, 294 ZPO, § 77 OWiG – um Beweismaßreduzierungen 281

273 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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Strafrichter nach § 261 StPO, der Zivilrichter nach § 286 ZPO oder der Verwaltungsrichter nach § 108 Abs. 1 VwGO über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner »freien Überzeugung« entscheidet, verlangt dies persönliche Gewissheit. Parallel dazu liegen die Vorschriften § 128 Abs. 1 SGB, § 96 FGO. Aber fordert dies dann jeweils eine richterliche Gewissheit in gleicher Intensität – unabhängig davon ob es um Mord oder Bagatellen, um die staatliche Strafgewalt oder den Ausgleich privater Interessen geht? Für das Strafverfahren, und das ist schon dargelegt, folgt aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben, dass ein »zentrales Anliegen des Strafprozesses die bestmögliche Ermittlung des wahren Sachverhalts sein muss«. 286 Das bedeutet zwar nicht, dass die richterliche Überzeugung eine »mathematische, jede Möglichkeit des Gegenteils ausschließende Gewissheit« verlangt. »Wenn der Tatrichter aber […] nach erschöpfender Beweiswürdigung letzte Zweifel an der Schuld eines Angeklagten hat, die er trotz hohen Verdachts nicht überwinden kann, darf er den Angeklagten insoweit nicht schuldig sprechen. Auch ein sehr hohes Maß an Wahrscheinlichkeit für die subjektive Einstellung eines Angeklagten kann die notwendige persönliche Überzeugung des Tatrichters nicht ersetzen«. 287 Von rein abstrakten Denkmöglichkeiten, dass sich das Tatgeschehen auch anders zugetragen haben könnte, darf der Richter seine Überzeugungsbildung allerdings nicht abhängig machen. Der Grundsatz »in dubio pro reo«, so der BGH in ständiger Rechtsprechung, »bedeutet nicht, daß von der dem Angeklagten jeweils (denkbar) günstigsten Fallgestaltung auch dann auszugehen ist, wenn hierfür keine Anhaltspunkte bestehen […]. Unterstellungen zugunsten eines Angeklagten sind vielmehr nur dann rechtsfehlerfrei, wenn der Tatrichter hierfür reale Anknüpfungspunkte hat«. 288 Der Zweifelssatz »ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann anzuwenoder um Modifizierungen des materiellen Rechts handelt – vgl. Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl., vor § 284 Rn. 29. Vor § 284 ZPO Rn. 28, 35 –, ist umstritten; vgl. einerseits Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 72. Aufl., Einf. § 284 Rn. 6 ff. m. w. N., andererseits Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl., § 286 ZPO Rn. 20. 286 BVerfG NJW 2012, 907–917 unter Hinweis auf BVerfGE 57, 250 (275); 63, 45 (61); 80, 367 (375); 86, 288 (317); 107, 104 (118 f.); 115, 166 (192); 118, 212 (230 f., 233); 122, 248 (270). 287 BGH NStZ 1981, 389–390, VRS 62, 120–123; juris Rn. 7. 288 BGH NStZ-RR 2005, 209, mit Hinweis auf BGH StV 2001, 666, 667; NStZ-RR 2003, 166, 168.

274 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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den hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsache zu gewinnen vermag«. 289 Auch die Rechtsprechung der Zivilgerichte verlangt für den Vollbeweis nach § 286 ZPO naturgemäß »keine mathematische Sicherheit […], die jeden möglichen Zweifel und jede denkbare Möglichkeit des Gegenteils ausschließt«. 290 Eine von allen Zweifeln freie Überzeugung wird nicht vorausgesetzt. »Der Richter darf und muß sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen, der etwaigen noch verbleibenden Zweifeln Schweigen gebietet«. 291 Diese Formel, nach der ein Vollbeweis keine »von allen Zweifeln freie Überzeugung« erfordert, »sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet« 292, wird auch in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, 293 der Verwaltungsgerichte, 294 der Sozialgerichte 295 und der Finanzgerichte 296 verwandt. Sie findet sich jedoch nicht für die Umschreibung der strafrichterlichen Überzeugung. Während sich für den Strafrichter das letztlich steuernde Entscheidungskriterium aus dem Grundsatz »in dubio pro reo« ergibt, kann der Richter in anderen Verfahrensarten auf derart eindeutige Vorgaben für eine Entscheidungsfindung in Zweifelsfällen nicht zurückgreifen. Welche Partei die Folgen richterlicher Zweifel, die Last fehlender Klärbarkeit, zu tragen hat, ist hier jeweils eine Frage der konkreten materiellen Rechtslage. 297

289 290 291 292 293 294 295 296 297

BGH aaO. Mit Hinweis auf BGH NStZ 2001, 609 m. w. N. BGHZ 115, 141–150 m. w. N. BGH aaO. mit Hinweis auf BGHZ 53, 245, 256, Fall »Anastasia«. BGH NJW 2008, 2845–2846. Vgl. BAG MDR 2012, 1297–1298. Vgl. BVerwGE 71, 180–183. Vgl. BSGE 45, 285–290. Vgl. BFHE 229, 346. Zum Zivilprozess vgl. hier etwa Rosenberg/Schwab/ Gottwald 2010, § 115 Rn. 7 ff.

275 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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c)

Beweismaß und Wahrscheinlichkeit – pragmatisch flexibler Maßstab?

Wenn etwas sicher feststeht, hat es keinen Sinn, von einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit zu reden. Spricht man von Graden der Gewissheit, dann liegt das Problem darin, dass man es nur mit Graden der Wahrscheinlichkeit zu tun hat. Gleichwohl darf sich der Richter nach h. M. nicht auf eine lediglich überwiegende Wahrscheinlichkeit stützen. 298 Rechtspolitisch sieht man die Gefahr einer »Aufforderung zu noch unbekümmerterem Prozessieren«. 299 Ein weiterer Hintergrund hat mit Vorstellungen zum Wahrheitsbegriff zu tun. Darauf ist im nächsten Abschnitt einzugehen. Sieht man die Streitfrage zunächst prozessrechtlich-pragmatisch, spricht vieles für eine vermittelnde Position, die Gottwald wie folgt formuliert hat: »Im praktischen Ergebnis besteht freilich (obwohl vielfach bestritten) kein Unterschied zwischen diesen Auffassungen. Da in der Regel Mittel fehlen, um die Wahrscheinlichkeit im Einzelfall genau zu messen, kommt es auf die Überzeugungsbildung eines vernünftigen Urteilers an; in Grenzfällen entscheidet die subjektive Einschätzung der Richter. Es liegt deshalb nahe anzunehmen, das Gesetz lege zwar einzelne Beweiserleichterungen fest, habe aber kein Regelbeweismaß fixiert, sondern überlasse es den Gerichten, sich ihre Überzeugung nach der Bedeutung der Tatsachen, den Beweisschwierigkeiten und anderen, auch materiellen Umständen, unterschiedlich leicht zu bilden bzw. das Beweismaß entsprechend festzulegen. Danach gilt letztlich ein nach Richterrecht pragmatisch abgestufter flexibler Maßstab. In diesem Rahmen ist entscheidend, dass sich der Richter eine Überzeugung zu bilden vermag.« 300 Neben dem Ausgleich über die Beweislastverteilung, über die der Richter in Zweifelsfällen zu Entscheidungskriterien kommt, wer was und wie viel zumutbarer- und gerechterweise beweisen kann und zu beweisen hat, ist es nicht zuletzt die nie exakt vorgegebene Ermittlungstiefe, die dem Richter Spielräume einräumt. Wie weit muss der Richter seine Befugnisse nach § 139 ZPO ausschöpfen? Wann hat er seiner Pflicht zur Amtsermittlung Genüge getan? Wie sich in dem Abschnitt über die Verhandlungsführung gezeigt hat, lassen sich hier 298 299 300

Vgl. Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 286 Rn. 9 m. w. N. Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 286 Rn. 9. Rosenberg/Schwab/Gottwald 2010, § 113 Rn. 15 m. N.

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klare Regeln nicht ermitteln. Soweit nicht Beweisanträge eine weitere Aufklärung gebieten oder sich eine solche »aufdrängen musste«, 301 ist das entscheidende Kriterium letztlich kein anderes als die Überzeugung des Richters, dass »die Sache für ihn jetzt hinreichend klar ist«. Besonders deutlich zeigt sich die Ambivalenz zwischen Grundsatz und Praxis bei Prognoseeinschätzungen – etwa im Ausländeroder Asylrecht. So verlangte das BVerwG für eine »sachgerecht erarbeitete asylrechtliche Prognose« eine »vollständige Ausschöpfung aller verfügbaren Erkenntnisquellen«. 302 Wenn man diese Vorgabe wörtlich nehmen würde, bemerkt ein Kommentar dazu, würde »in der Praxis kein einziges Asylverfahren ordnungsgemäß zu Ende geführt werden können«. 303 Die Pflicht »zur vollständigen Ausschöpfung aller verfügbaren Erkenntnisquellen« wird in einer späteren Entscheidung dann auch dahingehend modifiziert, dass »ein Berufungsgericht in der Regel« verpflichtet ist, »zur Feststellung genereller Tatsachen jedenfalls solche von einem der Beteiligten in sein Verfahren eingeführte, bisher nicht beigezogene Erkenntnisquellen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen«. 304 Maßstab ist im Ergebnis wieder ein »für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewißheit«, mit dem man sich begnügen muss. 305 Auch für das Strafrecht können wir nicht davon ausgehen, dass das von der Theorie für alle Verurteilungen verlangte gleich hohe Beweismaß auch bedeutet, dass die von der Praxis einzuhaltende Ermittlungstiefe generell bestimmt ist und in gleicher Weise gehandhabt wird. »Die Praxis verfährt«, so Bender/Nack/Treuer, »bei den Anforderungen an die Überzeugung – zu Recht – mit Blick auf den jeweiligen Einzelfall differenzierter«. 306 Das Urteil muss zwar »auf einer Überzeugungsbildung unter vollständiger Ausschöpfung des Beweismaterials« 307 beruhen; ob es um ein Bußgeld oder eine langjährige Freiheitsstrafe geht, kann jedoch für die Intensität der ErmittFür § 139 ZPO greift hier die »gemilderte« Frage- und Hinweispflicht ein; Rosenberg/Schwab/Gottwald 2010, § 77 Rn. 15 ff. m. N.; vgl. etwa BGH BauR 2008, 1029– 1030. 302 BVerwG, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 143, NVwZ 1992, 270–272. 303 T. Stuhlauth in: Bader, VwGO, 6. Aufl., VwGO § 86 Rn. 8. 304 BVerwG, Beschluss vom 07. 09. 1993 – 9 B 509/93 – juris Rn. 4. 305 BVerwGE 71, 180; OVG NRW, Beschluss vom 04. 01. 2012 – 13 A 2821/11.A – juris Rn. 6. 306 Rn. 551. 307 BGH NStZ-RR 2012, 256–257 m. w. N. 301

277 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

lung kaum ohne Einfluss sein. Für den Umfang der Beweisaufnahme in Bußgeldsachen hat der Gesetzgeber dies auch ausdrücklich geregelt (§ 77 OWiG).308

2.

Wahrheit – Wahrscheinlichkeit – Gewissheit

Die prozessualen Grundfragen zum Beweismaß, mit denen wir uns bislang beschäftigt haben, kreisen um die Begriffe Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, richterliche Überzeugung und richterliche Gewissheit. Offen sind die erkenntnistheoretischen Problemzusammenhänge: Wie haben wir die kognitiven Prozesse zu verstehen, die die Topoi Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, richterliche Überzeugung und richterliche Gewissheit verbinden? Scheinbar rein objektive Gegebenheiten kollidieren hier mit höchst subjektiven Zuständen. Wie fügen sich »Gesamtschau« und »Überzeugungsbildung« zur »Gewissheit«? a)

Wahrheit – Wahrscheinlichkeit

Im Alltagsverständnis und im Prozessalltag sprechen wir ganz selbstverständlich von Wahrheit. Man vergleicht die Tatsachenbehauptungen mit der Realität und wenn beides übereinstimmt, sind sie »wahr«. Wenn Greger die »Aufgabe des Beweises« darin sieht, »die größtmögliche Übereinstimmung zwischen dem vom Gericht beurteilten und dem wahren Sachverhalt zu gewährleisten«, 309 dann korrespondiert dies genau mit unserem intuitiven Verständnis von Wahrheit. Alle bisherigen erkenntnistheoretischen Überlegungen zu Art und Weisen der richterlichen Sachverhaltsfeststellung haben jedoch ergeben, dass mit einer »Abbildtheorie der Wahrheit« die Probleme, die sich bei der Sachverhaltsermittlung stellen, nicht erfasst werden können. Dem traditionellen und alltagsüblichen Wahrheitsbegriff gegenüber lassen sich »wahr« und »Wahrheit« nur mit Anführungszeichen gebrauchen. Auszugehen ist vielmehr von folgenden, bisher getroffenen Feststellungen: Es gibt eine doppelte Verfahrensabhängigkeit der »Wahrheit«: sie kann nur auf die prozessuale Situation bezogen beurteilt werden und sie ist davon abhängig, dass sowohl die verfah308 309

Vgl. Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 552 f. Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl., § 286 ZPO Rn. 18.

278 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

14 · Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

rensrechtlichen Vorgaben als auch die in diesem Teil erörterten Regeln der Sachverhaltserkenntnis beachtet wurden. Der Sachverhalt erfasst nicht die »Wahrheit«, sondern ist ein Konstrukt; er kann nicht beanspruchen, objektiv richtig zu sein, sondern ist nur insoweit »richtig«, als er intersubjektiv vermittelbar ist. Als Konstrukt kann er nur mit mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit das Geschehene so rekonstruieren, wie es sich nach »bestem Wissen und Gewissen« darstellt – nicht »wie es eigentlich gewesen ist«, um mit Rankes berühmtem Postulat zu verdeutlichen, was dem Richter – und nach heutiger Auffassung auch dem Historiker – nicht möglich ist. Und wenn hier auf das »beste Wissen« und das »Gewissen« abgestellt wird, dann wird damit nicht auf eine Leerformel verwiesen, sondern auf den für das Richteramt unlösbaren Zusammenhang von Professionalität und Ethos. b)

Wahrscheinlichkeit und Gewissheit

Nahezu immer, wenn sich der Richter auf Alltagstheorien stützt, aus Indizien auf Tatsachen schließt, arbeitet er, wie gezeigt, mit Wahrscheinlichkeiten. Gedanklich liegt es deshalb nur nahe, eine objektive Konzeption des Beweismaßes anzustreben. 310 »Stimmigkeit« ließe sich dann dadurch herstellen, dass der Richter den (objektiven) Wahrscheinlichkeitsgrad angibt, mit dem er seine Feststellungen trifft. Schon oben waren wir allerdings zu dem Ergebnis gekommen, dass der Anwendungsbereich statistisch abgesicherter, objektiver Wahrscheinlichkeit in der gerichtlichen Praxis sehr begrenzt ist. Eine allgemeine Lehre des Indizienbeweises lässt sich deshalb auf dieser Grundlage ebenso wenig aufbauen wie eine objektive Konzeption des Beweismaßes. Muss der Richter eine Beweiswürdigung vornehmen, wird er also den sicheren Weg objektiver Wahrscheinlichkeit in aller Regel nicht gehen können. Seine Vorstellung vom richtigen Sachverhalt wird er dann nur im Wege einer »Gesamtschau aller Beweisanzeichen« gewinnen können. Unser Diskurs über den »richtigen Sachverhalt« muss folglich dort wieder ansetzen, wo wir unsere Überlegungen zur Gesamtschau bzw. Gesamtwürdigung unterbrochen haben: bei der Subjektivität der Gesamtschau, bei der subjektiven Wahrscheinlichkeit, der subjektiven Gewissheit. 310

Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald 2010, § 112 Rn. 11 m. N.

279 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

Wenn wir von der subjektiven Wahrscheinlichkeit sprechen, meinen wir damit »den Grad von Gewissheit, den Überzeugungsgrad, das Fürwahrhalten«. 311 Mit ihr wird der Bereich verlassen, in dem wir mit sicheren oder gar zwingenden Schlussfolgerungen rechnen können. Die wesentlichen Aspekte der dann gebotenen Einschätzungen von Wahrscheinlichkeiten als Wahrheit finden wir immer noch sehr gut zusammengefasst in der Erklärung, die R. Eisler dem Begriff in seinem »Wörterbuch der philosophischen Begriffe« gab. Wahrscheinlichkeit ist danach »ein Grad von ›Gewißheit‹, beruhend auf starken, überwiegenden Motiven zu Urteilen, so aber, daß diesen Motiven immerhin noch andere gegenüberstehen, die berücksichtigt werden wollen oder sollen; objektiv wahrscheinlich ist das, was, auf eine Reihe von Gründen gestützt, das Denken als wahr, wirklich anzunehmen, zu erwarten sich berechtigt weiß, ohne, wegen der Lücken in der Erfahrung und im Schließen, absolut stichhaltige Gründe, stringente Beweise zu haben. Je nach der Art und Menge der Gründe oder der Instanzen, auf die sich das Wahrscheinlichkeitsurteil und der Wahrscheinlichkeitsschluß stützt, gibt es verschiedene Grade der Wahrscheinlichkeit (s. Induktion).« Zu bedenken haben wir mit anderen Worten den Zusammenhang von induktiven Schlüssen und Gewissheit. In diesem Zusammenhang liegt ein Grunddilemma richterlicher Erkenntnis, richterlichen Urteilens. Diese sollen objektiv sein, sind aber »höchstpersönlich«. Naturwissenschaftliche Erkenntnis ist für uns dadurch bestimmt, dass sie von jedem Wissenschaftler jederzeit und an jedem Ort mit gleichem Ergebnis – mit gleicher Gewissheit – nachvollzogen werden kann. Die »Gewissheit« des Richters ist dagegen »unvertretbar«. Soweit sie höchstpersönlich ist, sind Sachverhaltsfeststellungen deshalb auch revisionsrechtlich nicht überprüfbar. c)

»Richterpersönlichkeit« vs. Methodenlehre?

Wir kommen damit auf einen entscheidenden Punkt zurück, den wir in dem vorstehenden Abschnitt über die »Gesamtschau« bzw. »Gesamtwürdigung« noch ausgeklammert hatten: Die Art und Weise, in der der Richter in der »Gesamtschau alle Beweisanzeichen«, Tatsachen und Indizien verknüpft und bewertet und sich eine Überzeugung bildet, darf zwar nicht beliebig sein; sie ist aber unhintergehbar 311

Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 568; vgl. auch U. Eisenberg 2015, Rn. 920 ff.

280 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

14 · Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

mit seiner Person verbunden. Es ist die Persönlichkeit, die mit ihren Prägungen und Erfahrungen, ihren Vorurteilen und ihrem Rollenverständnis, ihren persönlichen und institutionellen Vorverständnissen die subjektiven Raster vorgibt, mit denen die Beweise und die Tatsachen ermittelt und gewürdigt werden. Die Gepflogenheit in den Dienstleistungszeugnissen der Richter, »Berufsauffassung«, »Judiz«, »Richterpersönlichkeit« und »Entscheidungsfähigkeit« zu thematisieren, reflektiert aus dieser Sicht genau den untrennbaren Zusammenhang, der zwischen der Aufgabe, den »richtigen« Sachverhalt zu ermitteln, und richterlichem Berufsethos besteht. Vergegenwärtigen wir uns das Problem im Kontrastverfahren: Ein Teilnehmer an der Untersuchung von J. Schmid u. a., Richter am Amtsgericht, meinte bei der Befragung, dass ihm die Simulation (eines Arzthaftungsprozesses) ein höheres Maß an Aufklärung abverlangte, als er für sinnvoll bzw. vertretbar hielt, und gab zu Protokoll: »Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, so gut wie gar nichts zu sagen, sondern die Sache gleich totzumachen, denn Fragen solch evidenter Art sind mir während meiner ganzen Zeit am Landgericht nicht vorgekommen. Läßt man sich auf die Aufklärung ein, so führt das zum Chaos. Als Amtsrichter nicht aufzuklären ist auch völlig legitim. Ich habe hier im Jahr siebenhundert Sachen auf dem Tisch liegen. Sie können sich vorstellen, was passiert, wenn ich da anfange, aufzuklären. Eine vernünftige Aufklärung wird im Übrigen auch von der Justizverwaltung nicht erwartet. Diese Zurückhaltung entspricht auch dem Alltag der Fälle hier. Die sind so langweilig, da hält man als Amtsrichter lieber den Mund. Schließlich gibt es ja auch noch die Landgerichte und die sollen ja auch noch etwas tun.« 312

Sehen wir davon ab, dass hier auch die Hinweispflicht nach § 139 ZPO (a. F.) nicht in den richterlichen Blick gekommen ist, zeigt sich eine Einstellung, die jeden Gedanken an Methodik ins Leere laufen lässt. Dafür gibt es aber nicht nur Beispiele aus simulierten Situationen: Es ist auch kein Ausweis für richterliches Berufsethos, wenn ein Richter, dem ein Beweisantrag nicht ins Konzept passt, auf den Vorhalt eines Bevollmächtigten, es sei auch seine Aufgabe, die Wahrheit zu erforschen, entgegnet: »Die Wahrheit interessiert mich nicht.« Besonders kritisch ist dieses Beispiel auch deshalb, weil selbst im Instanzenzug keine Korrektur erfolgte. Mit Gründen, die das BVerfG in seiner stattgebenden Entscheidung nur als »unvertretbar« und »erst recht 312

J. Schmid 1997b, S. 173 f.

281 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

[…] nicht tragfähig« charakterisieren konnte, hatten sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht das Ablehnungsgesuch abgelehnt. 313 Gewählt ist das Beispiel nicht als ein Fall, in dem der grundrechtliche Anspruch auf den gesetzlichen Richter nicht gewahrt ist, sondern als Hinweis auf das weite Feld der Fälle, in denen das richterliche Verhalten nicht so eindeutig willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist, dass es rechtlich korrigiert werden kann. Man muss also fragen, wie es mit dem richterlichen Berufsethos aussieht, wenn die richterliche Selbstkontrolle schon dann versagt, wenn ein Richter so eindeutig »bekundet, dass er an der Erfüllung einer wesentlichen richterlichen Amtspflicht nicht interessiert sei«? 314 Letztlich ist es nur das Berufsethos, das in der Grauzone zwischen Rechtsverstoß und notwendigem richterlichem Beurteilungs- und Handlungsspielraum das richterliche Verhalten steuert. d)

Überzeugungsbildung – Persönlichkeit und Professionalität

Richterliches Urteilen ist als Erkennen und Beurteilen von Sachverhalten der Lebenswelt immer auch höchstpersönlich. Wenn es deshalb nicht in eine Folge zwingender Schlussfolgerungen auflösbar ist, vollziehen sich Überzeugung und Gewissheit aber doch in Prozessen, die auch als kognitive Erkenntnisprozesse analysierbar sind – »Erkenntnis« allerdings in dem bereits grundsätzlich dargelegten Verständnis der Kognitionswissenschaften. Überzeugung kann durchaus als plötzlich sichere Gewissheit erlebt werden. Zu analysieren ist sie jedoch als Prozess, der in Schritten und auf mehreren Ebenen stattfindet und mit den Mechanismen sozialer und individueller Kognition arbeitet, die wir bisher gesondert beschrieben haben. Die bisherigen Überlegungen zusammenfassend, lassen sich folgende Ebenen und Schritte unterscheiden: • Die Überzeugungsbildung muss auf einer objektiven Tatsachengrundlage beruhen. 315 Und die dafür notwendige Beweisgrundlage muss nicht nur tragfähig, sondern auch umfassend sein. D. h., die ermittelten und die zu ermittelnden

BVerfG 2. Senat 3. Kammer, B. v. 12. 12. 2012 – 2 BvR 1750/12 – juris. AaO. – juris Rn. 16. 315 Wenn etwa das Gericht eine nicht gemachte Aussage oder eine Urkunde mit anderem Wortlaut gewürdigt hat, dann fehlt dem »inneren Vorgang der Überzeugungsbildung […] die notwendige äußere Grundlage«, so BGHSt 29, 18–23 m. N. 313 314

282 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

14 · Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

Tatsachen müssen – in dem beschriebenen kohärenztheoretischen Sinn: »umfassend« – in die gebotene Gesamtwürdigung einbezogen werden. • Die Schritte von der Tatsachenbasis zur Gewissheit sind zwar keine logisch zwingenden Schritte. Es muss sich jedoch um Begründungsschritte handeln. Schon im ursprünglichen Wortsinn von zunächst »mit Zeugen überführen« zu »mit Gründen zu einer Ansicht bekehren« 316 kommt der prozedurale und nichtdezisionistische Charakter der »Überzeugung« zum Ausdruck. • Die Regeln, nach denen der Richter die ermittelten Daten verknüpft und vermittels derer er auf den Sachverhalt »schließt«, waren Gegenstand unserer ausführlichen Analyse: Naturgesetze, Alltagstheorien, wissenschaftlich abgesicherte oder sehr individuelle Erfahrungssätze, die Muster und Schemata, mit denen unser Denken arbeitet, wenn es eine »Gesamtwürdigung« leisten muss. • Diese Regeln vermitteln allerdings, wie ebenfalls schon dargelegt, Gewissheiten mit sehr unterschiedlicher Überzeugungskraft. Je nachdem, ob man diese aus der Sicht des Richters selbst oder eines objektiven Beobachters wertet, sind die subjektiven von den objektiven Gewissheiten zu unterscheiden. So kann die subjektive Gewissheit – etwa bei rein subjektiven Erfahrungssätzen – sehr hoch sein, während sie für andere nur eine geringe oder gar keine Überzeugungskraft hat. • Fachwissenschaftliche oder alltägliche Erfahrungssätze, Alltagstheorien oder allgemein: Argumente, die anerkannt sind, sind dagegen bereits ihrer Struktur nach inter-subjektiv. Insoweit sie akzeptiert sind, kann auch die richterliche Überzeugung Akzeptanz finden. Die Überzeugungsbildung auf richterlicher Seite und das Überzeugt-Werden Dritter kann sich auf diese Weise über sich überschneidende Schnittmengen vollziehen. 317 Selbst in den Fällen, in denen die Beweiswürdigung nicht eindeutig auf sichere oder gar zwingende Schlussfolgerungen aufbauen kann, bleibt also ein weiter Bereich für intersubjektiv vermittelbare Feststellungen. Aber auch der Bereich, in dem die subjektiven Einschätzungen entscheidend dafür sind, mit welchen Gewichten und VorverVgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Aufl. 1995, Stichwort: »überzeugen«. 317 Siehe Kap. 12 II. 3. 316

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C · Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

ständnissen Indizien eingeordnet und Beweise gewürdigt werden, wird damit nicht zu einer Zone sinnvoll nicht weiter analysierbarer Mechanismen, methodisch nicht weiter hinterfragbarer Subjektivität. • Ein wesentliches Moment liegt zunächst in der Pflicht des Richters, die Gründe, auf denen seine Überzeugung beruht, in der Entscheidung auch öffentlich zu machen. »Aus den Urteilsgründen muß sich ergeben, daß die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern von einem zutreffenden Ausgangspunkt betrachtet und unter diesem Blickwinkel in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden.« 318 Der Richter muss die Überzeugungsbildung transparent machen. 319 • Insofern wird die Beweiswürdigung des Richters analysierbar. Man kann sie nachvollziehen. Obwohl die Überzeugungsbildung ein intra-subjektiver Vorgang bleibt, ist der Richter gezwungen, sich jedenfalls im Hinblick auf die Urteilsbegründung die Gründe für seine Einschätzungen und Abwägungen bewusst zu machen. Nach außen treten aber nicht die Zwischenschritte der Überzeugungsbildung, sondern nur diejenigen Gründe, die dem Richter im Ergebnis mitteilenswert scheinen. • In einem Spruchkörper müssen auch die Zwischenschritte, d. h. viele der induktiven Schlussfolgerungen, Gewichtungen und Abwägungsvorgänge, die beim Einzelrichter intra-subjektiv bleiben, offen dargelegt werden. Die Richter müssen die Gründe, die sie zum Ergebnis der Beweiswürdigung führen, diskursiv erarbeiten. Jedenfalls innerhalb des Spruchkörpers ist die Überzeugungsbildung deshalb auch inter-subjektiv vermittelt. Insoweit scheint es nur noch eingeschränkt zu passen, sie als »höchstpersönlich« zu charakterisieren. Eindeutig ist nur die Unvertretbarkeit ihrer Wertung.

3.

Die höchstpersönliche Verantwortung des Richters für seine »Gewissheit«

Unsere Überlegungen stoßen an dieser Linie des Intra-Subjektiven an die Grenzen, jenseits deren die Mechanismen der Sachverhaltsfest318 319

BGH NStZ 2001, 491–492. Vgl. U. Eisenberg 2015, Rn. 98 m. N.

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14 · Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

stellung nicht mehr methodisch analysierbar sind. Zugleich liegen die Einwände gegen eine allzu »idealistische« Betrachtung auf der Hand: Selbst in einem Spruchkörper, in dem jedes Mitglied um die Selbstverantwortung und Kollegialität des anderen weiß – und jeder Richter mit Erfahrung in Kammern und Senaten kennt Beispiele, in denen die Wirklichkeit diesem Bild nicht entspricht –, gibt es gruppendynamische Prozesse, die einer rationalen Überzeugungsbildung nicht förderlich sind. Und hinter den Gründen, auf die die Begründung gestützt wird, stehen bekanntlich oft die »eigentlichen« Gründe, die nicht öffentlich werden. Aus rationalistischer Perspektive ergäbe sich daraus nur die resignierende Feststellung, dass richterliche Erkenntnis eben deshalb keine sei, weil sie in aller Regel »emotional kontaminiert« ist. Dem ist aus realistischer Sicht – die man mit guten Gründen auch humanistische nennen kann – entgegenzuhalten: Rein funktional kann das Richteramt eben auch nicht gedacht werden. Die richterliche Gewissheit ist immer auch »höchstpersönlich«, d. h., der Richter muss sie persönlich verantworten. Und darauf muss man vertrauen können. Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern »anvertraut«, Art. 92 GG. Der Diskurs über den »richtigen Sachverhalt« nimmt an dieser Grenzlinie eine andere Gestalt an; er wird zum Diskurs über das, was Professionalität von der »Richterpersönlichkeit« fordert. Was das konkret bedeutet, ist an zahlreichen Beispielen erörtert worden, etwa für das Zuhören-Können und somit auch Zuhören-Lernen als Bedingung des professionellen Arbeitens oder für die persönlichen Erfahrungssätze die Einsicht und Möglichkeit, mit diesen kritisch umgehen zu können. Das Richteramt fordert – bei der Sachverhaltsfeststellung vielleicht noch nachdrücklicher als bei der rechtlichen Würdigung – mehr als nur die richtige Anwendung der Regeln des richterlichen Handwerks. Methode verlangt Reflexion: die Fähigkeit des Richters, in seinen Einschätzungen, Schlussfolgerungen und Wertungen die Relativität der eigenen Wahrnehmung und Wahrheit reflektieren zu können. Methode setzt hier nichts weniger voraus als die sich selbst sichere und selbstbewusste Persönlichkeit, die – weil sie dies ist – sich selbst relativieren kann.

285 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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Teil D Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

Auslegungsregeln und Subsumtion sind die klassischen Themenfelder, die man erwartet und die herkömmlich im Zentrum der Überlegungen stehen, wenn es um die Vorgänge geht, die wir je nach methodischem Standpunkt als »Rechtserkenntnis«, »Rechtsfindung«, »Rechtsgewinnung«, »Rechtsanwendung« oder als »Normkonkretisierung« 1 bezeichnen. Wie immer wieder betont, werden methodische Regeln zwar als Handwerksregeln eingesetzt, sind als solche aber nie »theoriefrei« zu verstehen und theorieunabhängig zu handhaben. Sowohl in ihrem Inhalt als auch in der Art und Weise ihrer Anwendung sind sie unlösbar von dem Vorverständnis abhängig, was Recht ist und wie wir es erkennen können. In den folgenden Kapiteln müssen wir uns mithin im Einzelnen der Voraussetzungen vergewissern, unter denen die Richter Recht ermitteln, finden, anwenden. Zu diskutieren sind in diesem Teil die Elemente, die Determinanten, von denen eine »richtige« Rechtserkenntnis (oder Normkonkretisierung) und damit auch die Methode der Rechtsanwendung abhängig sind. Im Zentrum stehen damit folgende Themen: • Rechtsprechung und Regelbindung; • Recht und Sprache; • Recht, System und Kohärenz; • Methode und Verfassung – Fragen der Gesetzesauslegung. Zu diesen Determinanten der Rechtserkenntnis gehören auch die Prozesse der Mustererkennung. Die kognitiven Operationen der Mustererkennung stellen dem Richter zugleich die Denkformen zur Verfügung, über die er Sachverhalts- und Rechtserkenntnis zusamIm Sinn der strukturierenden Rechtslehre Friedrich Müllers, Ders./Christensen 2002, S. 250 ff. – GlNr. 314.8. Zu den Bedeutungsvarianten der anderen Begriffe vgl. die Kritik F. Müllers an den Theorieansätzen, die diesen Begriffen jeweils zugrunde liegen, Ders./Christensen aaO. S. 234 ff. GlNr. 314.1.

1

287 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

menführt. Diese Operationen – in der juristischen Methodenlehre herkömmlich als »Subsumtion« thematisiert – werden deshalb gesondert erst im Teil E behandelt.

288 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Kapitel 15 Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses

In den folgenden Kapiteln werden sich entscheidende Parallelen zwischen der Sachverhalts- und der Rechterkenntnis zeigen: Auch das Recht lässt sich nicht als solches, als Gegenstand, als »Recht an sich« erkennen (I.). Auch hier sind die erkenntnistheoretischen Fragestellungen von spezifischen Randbedingungen abhängig, sowohl von theoretischen Ausgangspositionen als auch von der Wertung tatsächlicher Befunde (II.). Ändern sich diese Randbedingungen, muss eine zeitgemäße Methodik auch die Determinanten der Rechtsermittlung neu bestimmen und gegebenenfalls neue Ansätze formulieren (III.).

I.

»Das Recht« und die divergierenden Vorstellungen vom Recht

Ein Diskurs über die juristische Methode scheint zunächst unausweichlich in den Strudel eines hermeneutischen Zirkels zu geraten: Die Methode soll auf einen sicheren Weg zu dem führen, was Recht ist. Sie muss also vom Recht, von ihrem Gegenstand her, den es zu erkennen gilt, entwickelt werden. Das Recht kann aber nicht so erkannt werden, wie es »wirklich« ist. Folgen wir unseren bisherigen Feststellungen zur Struktur unserer Erkenntnis, ist die Frage, »was« wir erkennen, untrennbar verbunden mit der Art und Weise, »wie« wir erkennen. Die Grundthese wäre dann: Ausgangspunkt für unsere Überlegungen zur Rechtserkenntnis kann nicht der Versuch sein, das, was Recht ist, objektiv zu fixieren. Entscheidend sind vielmehr die Vorstellungen von Recht, die unsere Vorstellungen, wie wir Recht erkennen, begleiten und bestimmen. Nicht, was Recht »an sich« ist, ist zu untersuchen, sondern zu analysieren sind die Bedingungen und Vorgaben, die in durchaus unterschiedlicher Weise unsere Vorstellungen von Recht und »Rechtsfindung« prägen. Schon der eingangs zitierte unterschiedliche Sprachgebrauch verweist auf divergierende 289 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

Vorstellungen darüber, wie Recht zu erfassen ist. Wenn wir schon die Welt der Dinge oder – im Sachverhalt – das »wirklich« Geschehene nicht einfach abbilden können, umso weniger kann das bei dem komplexen soziokulturellen Phänomen »Recht« gelingen. Rechtserkenntnis lässt sich jedenfalls nicht als Prozess darstellen, in dem ein an sich vorhandenes Recht nur nachbildend zum Bewusstsein gebracht wird. Die These, dass Rechtserkenntnis – »Erkenntnis« auch hier im Sinne des kognitionswissenschaftlich verstandenen Begriffs – immer über unsere Vorstellungen über das Recht und die Art und Weise seiner Erkenntnis vermittelt ist, »Recht« also nicht unabhängig vom Erkenntnisprozess »gefunden« werden kann, macht die Antwort auf die Frage, wie wir es erkennen, zwar nicht einfacher als die naive Annahme eines nur nachbildenden Bewusstseins, ist aber als Ansatz einer kritischen, die Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft spiegelnden Rechtstheorie unausweichlich.

II.

Methodenlehre im Netz ihrer Abhängigkeiten

Auf die Fragen: Wie erkennen wir, was rechtens ist? und: Was ist Recht? hat die Rechtstheorie bekanntlich keine einhellige Antwort gefunden. Es gibt Rechtstheorie nur im Plural. Entsprechendes gilt für die uns primär interessierende Frage: Welche Vorstellungen von Recht haben welche Methoden hervorgebracht? Man bekommt auf diese Frage sehr unterschiedliche Antworten – je nach Perspektive, aus der man sie stellt. Auf diese unterschiedlichen Vorstellungen muss sich eine Methodenlehre auch inhaltlich einlassen, indem sie die Argumente, die sich aus ihnen ergeben, entweder aufgreift oder verwirft. Vergegenwärtigen wir uns einige der wesentlichen Ansätze, in denen die Abhängigkeit der Methode von solchen unterschiedlichen Perspektiven deutlich wird: 1. Die Frage gäbe zunächst Gelegenheit, im Rahmen einer Ideengeschichte der Rechtstheorien die Abhängigkeit der Methoden der Rechtsfindung von den jeweiligen Vorstellungen über Ursprung, Geltungsgrund und Wesen des Rechts konkret darzustellen und detailliert zu belegen. Um Beispiele zu nennen: etwa das mittelalterliche Verständnis von Rechtsprechung als Erhaltung des überkommenen, guten alten Rechts oder die Vorstellungen eines von Gott gegebenen Gesetzes (Tafeln Moses) oder eines vorgegebenen Naturrechts, das es 290 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

15 · Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses

nur richtig zu erkennen gilt. Eine Gegenposition liegt in der Sicht des Rechts als bloßes Instrument gesellschaftlicher Macht, als Spiegelung konkreter gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse. – Methodenlehre als Geschichte der Rechtstheorien zu betreiben, kann hier freilich nicht unser Ziel sein. 2. In der Regel gibt die Methodenlehre ihre Antwort auf die Frage »Wie erkennen wir, was rechtens ist?« auch nicht aufgrund einer ideengeschichtlichen Analyse, sondern durch eine Ableitung aus einem der in der Rechtstheorie üblicherweise verwendeten Ansätze, etwa durch Übernahme systemtheoretischer oder hermeneutischer oder durch die Rhetorik geprägter Konzeptionen des Umgangs mit und des Verstehens von Recht. Den grundsätzlichen Einwand gegen Deduktionen aus solchen »Großtheorien« hatten wir aber schon im Eingangsteil formuliert (Einl. IV.). Weder über die Systemtheorie noch über die Hermeneutik können wir die für die Analyse der Rechtsanwendungsprobleme in concreto notwendige »Tiefenschärfe« erreichen. 3. Eine sehr viel konkretere theoretische Perspektive gewinnen wir, wenn wir von den unterschiedlichen Paradigmen ausgehen, die die Rechtstheorie zum Verhältnis von Recht und Methode entwickelt hat und die auch die aktuelle Diskussion über Recht und Methode (z. T. immer noch) bestimmen. Dies sind im Wesentlichen folgende Vorstellungen: (1.) Recht als System von Rechtsbegriffen; was rechtens ist, ist aus diesem System ableitbar (Rechtspositivismus); (2.) Recht als System von Normen, die ihren Geltungsgrund in der Autorität des Gesetzgebers haben; was rechtens ist, ist aus diesem System ableitbar (Gesetzespositivismus); (3.) Recht, das nach seiner Struktur nur vom Problem bestimmt werden kann, 2 gewonnen wird Recht in einem diskursiven Verfahren (Topik); (4.) Recht als Produkt des Rechtssystems, insbesondere – oder auch nur – der Rechtsprechung (Systemtheorie); bestimmendes Paradigma der Rechtserkenntnis ist die Selbstreferenz; das gilt auch für das 2

Vgl. die Formulierung von Viehweg 1974, S. 66, 68.

291 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

(5.) Recht als Produkt aller an Rechtsetzung, Rechtsprechung, Rechtsumsetzung und Auslegung Beteiligter, das nur als Gefüge partieller, mehr oder minder kohärenter Strukturen erfasst werden kann. 4. Es sind schließlich auch die aktuellen Befunde, unsere tatsächlichen Erfahrungen mit dem Rechtssystem, die unsere Vorstellungen prägen. Wir erfassen dieses Rechtssystem weitgehend über unsere Vorstellungen von den Institutionen, die es ausmachen, über die hierarchischen Strukturen, in denen sie miteinander kommunizieren, wie auch die Art und Weise, wie diese Institutionen denken, handeln und Informationen verarbeiten. Soweit wir hier mit traditionellen Vorstellungen arbeiten, passen sie mit aktuellen Befunden oft nicht mehr zusammen: Da ist das traditionelle Bild von den klaren Rollen, die Gesetzgebung und Parlament in einem solchen System haben. Wie etwa die Beispiele Deutschland, England, USA zeigen, lässt sich bereits für diese Staaten, die sich als Demokratien verstehen, die dem Gewaltenteilungsgrundsatz verpflichtet sind, das Netzwerk der Institutionen und Rechtsvorstellungen, die das Rechtssystem ausmachen, nicht mehr auf einen Nenner bringen. Auch innerhalb eines Rechtssystems sind die Kräfteparallelogramme oft weder austariert, noch bleiben sie konstant. Vier Momente, die für das Verhältnis Gesetzgeber – Rechtsprechung wesentlich sind, sind besonders hervorzuheben: 1.

2.

3.

Seit Gründung der Bundesrepublik hat die Rechtsprechung – unter Führung des Bundesverfassungsgerichts – die überkommene Rechtsordnung wesentlich »grundgesetzlich« umgestaltet. Diese Entwicklung setzt sich durch EuGH und EGMR europarechtlich fort. Die Regelungsdichte ist in vielen Bereichen davon abhängig, inwieweit das politische System (Parteien, gesellschaftliche Machtgruppen, Bund, Länder, Parlamente) einen Konsens findet. Bleibt es untätig, bleibt der Konflikt ungeregelt, muss die Rechtsprechung dann Grundregeln vorgeben (z. B. für das Arbeitskampfrecht) oder Generalklauseln (oft nichts anderes als vage Kompromissformeln) auf dem Wege eines konkretisierenden Leitsatzrechtes »durchnormieren«. Die normative Kraft eines Parlamentsgesetzes ist immer auch abhängig von der handwerklichen Qualität, mit der es gemacht

292 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

15 · Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses

4.

ist. Die zunehmende Komplexität der Regelungsmaterien stellt den Gesetzgeber fachlich vor immer größere Anforderungen an die eigene Sachkompetenz. Mit dem entsprechend stärkeren Heranziehen von Lobbyisten und Großkanzleien bei der Gesetzesarbeit stellen sich zwangsläufig Probleme hinsichtlich Transparenz der Willensbildung, Gemeinwohlorientierung und Legitimation. Noch problematischer sind die Phänomene »symbolischer Gesetzgebung«. Gesetze sollen im politischen Geschäft Wertbekenntnisse oder Handlungsfähigkeit demonstrieren – jedenfalls Handlungswillen und diesen oft gerade in den Bereichen, in denen man eigentlich nicht handeln will oder kann. Faktische Unwirksamkeit der Regelung wird in Kauf genommen oder ist sogar beabsichtigt. 3

In das Bild einer aus dem Kodifikationsmodell entwickelten akademischen Methodenlehre lassen sich diese Entwicklungen nicht mehr bruchlos einfügen. Für unsere Vorstellungen von dem, was Recht ist, und für die Frage, wie eine Methode beschaffen sein muss, die mit diesen Phänomenen umgehen kann, sind sie jedoch wesentlich. Hinzu tritt ein weiteres – zunächst nur technisches – Moment, das unmittelbar die Art und Weise betrifft, wie in unserem Rechtssystem miteinander kommuniziert wird und Informationen verarbeitet werden: die Auswirkungen, die die Informationstechnik, insbesondere die Datenbanken, auf den Rechtsfindungsprozess haben. 4

III. Determinanten der Rechtserkenntnis – ein grundlegend verändertes methodisches Vorverständnis Aufgabe wird es im Folgenden sein, für unsere Vorstellungen von dem, was Recht und Rechtserkenntnis ausmacht, einen gemeinsamen Prämissenrahmen zu suchen, der auch hinreichend Akzeptanz finden kann. Diesen Rahmen werden wir weitgehend im Blick auf die genannten Abhängigkeiten – Rechtsprechung und Regelbindung, Recht und Sprache sowie Recht, System und Kohärenz und schließlich Methode und Verfassung – festzulegen haben. Sie sind die 3 4

Vgl. dazu. näher G.-P. Calliess 1999, S. 76 ff. m. w. N. zu Literatur und Beispielen. Näher dazu Kap. 25.

293 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

Grundelemente der Rechtsermittlung. Ein spezifischer Zusammenhang von Sprache, System und »Rechtserkenntnis« hat freilich auch die traditionelle Methodenlehre geprägt. Doch nur die Worte sind gleich, die theoretischen Inhalte sind grundlegend andere. Einen neuen Prämissenrahmen für eine zeitgemäße Methodenlehre können wir also nur abstecken, wenn wir zunächst in einem Kontrastverfahren die völlig unterschiedlichen theoretischen Kontexte deutlich machen, in deren Rahmen die hergebrachte Methodenlehre die Grundelemente Sprache – System – Erkenntnis verstanden hat, und uns demgegenüber der Kontexte vergewissern, in denen wir diese Begriffe heute handhaben müssen.

1.

Der Justizsyllogismus und seine theoretischen Vorverständnisse

In dem Kapitel »Vom wissenschaftlichen zum Gesetzespositivismus« seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit hat F. Wieacker auch die theoretischen Methoden und Postulate dieser Epoche, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hineinreicht, skizziert. 5 Zurückführen lassen sich die Grundelemente dieses »wissenschaftlichen Gesetzespositivismus« auf folgenden Grundüberlegungen: • das Recht als wissenschaftliches System, • die aus diesem System sich ergebende objektive Bedeutung juristischer Begriffe, • die Lückenlosigkeit der geschriebenen Rechtsordnung, • die Bindung des Richters an wissenschaftliche Methoden. Im »Justizsyllogismus« verdichteten sich diese Ansätze zum Idealtypus rechtswissenschaftlicher Methodik. a. Das Kodifikationsmodell garantierte in der Idee eine lückenlose rechtliche Ordnung. Wo dennoch Lücken in der gesetzlichen Regelung auftraten – und das Lückenproblem wurde zu einem zentralen Thema dieser Methodenlehre 6 –, konnten sie im Rahmen der »Vor-

F. Wieacker 1967, S. 460. Kaufmann/Hassemer 2004, S. 114, Fn. 284 mit Hinweis auf C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983. Zur Funktion der »lückenlos gedachten Gesamtrechtsordnung«, vgl. auch B. Rüthers 1970, S. 17 ff. – Näher zu diesem Zusammenhang auch Strauch 2001, S. 315.

5 6

294 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

15 · Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses

stellung, daß alle Rechtsentscheidungen im Gesetz vorgezeichnet seien« 7, geschlossen werden. So ergab sich ein Zusammenhang zwischen dem Dogma der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung und der Vorstellung eines mehr oder minder geschlossenen Begriffssystems, das es ermögliche, auch neu auftretende Rechtsfragen im Wege logischer Gedankenoperationen zu beantworten. Begriffe wie »Gesamtrechtsordnung« und die »Einheit der Rechtsordnung«, in denen sich das Systemdenken des Positivismus und die naturrechtliche Kodifikationskonzeption verbinden, markieren weitere zentrale Kategorien und die tragenden Säulen der traditionellen Methodik. »Das Prinzip der ›Einheit der Rechtsordnung‹«, so hat es Engisch formuliert, »steht in einem doppelten logischen Verhältnis zur Rechtsdogmatik. Bald erscheint es als Axiom, bald als Postulat juristischer Arbeit« 8, und zwar dort, wo es um Normergänzung, Analogie, »Normfindung« und methodisch um die Gesetzesbindung geht. Damit schließt sich auch der Kreis zum Subsumtionsmodell im oben beschriebenen Sinn. Denn ein prinzipiell stringentes System axiologisch zusammenhängender Begriffe und Sollenssätze ist Voraussetzung dafür, Rechtsfindung auch dann noch über deduktive Subsumtionsvorgänge zu beschreiben, wenn eine konkrete Gesetzesnorm nicht vorhanden ist. b. Eine Regel ist nur in dem Maße allgemein, in dem durch den Text die Bedeutung so eindeutig bestimmt ist, dass sie von jedem Richter auch gleich angewandt wird. Für das Sprachverständnis, das dem Kodifikationsgedanken und dem Rechtspositivismus zugrunde lag, war diese Bedingung allgemeiner Geltung kein grundsätzliches Problem. Man ist von einem im Prinzip eindeutigen Zusammenhang von Wort und Gegenstand ausgegangen, von einer klaren Zuordnung von juristischem Begriff und seinem Bedeutungsinhalt. Ein juristischer Begriff war in den klaren logischen Strukturen des Systems verankert und deshalb in seinem Inhalt auch klar bestimmbar. Der absolute Textgehorsam, den die Kodifikationen ursprünglich forderten – Napoleon für seinen »Code civil« von 1804 9 ebenso wie das preußische ALR und das Josefinische Gesetzbuch von 1786 –, war und ist in dem Maße schlüssig, in dem man von dem repräsentativen Charakter der Sprache, d. h. einer realistischen Semantik 7 8 9

Röhl 1987, S. 44. K. Engisch 1935/1987, S. 69. Vgl. B. Rüthers 1970, S. 15.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

ausgehen konnte, wie Sprachwissenschaftler das formulieren würden 10. Das setzt eine befriedigende Referenztheorie der Bedeutung voraus, und zwar in der Weise, dass 1. der jeweilige Begriff CodeCharakter hat, also in seiner regelhaften Verwendung eindeutig definiert ist und 2. eine eindeutige Korrespondenz zwischen Gegenstand und Begriff, allgemein zwischen Welt und Sprache besteht. Das juristische Subsumtionsmodell ist in diesem Sinne nur ein Unterfall des allgemeinen Subsumtionsmodells 11, das auf der traditionellen Korrespondenztheorie der Wahrheit aufbaut – Wahrheit als Übereinstimmung von Einsicht und Gegenstand. 12 c. »Erkenntnis« konnte in diesem Zusammenhang auf logisches Erkennen reduziert werden. Rechtserkenntnis war richtiges Schlussfolgern, »logisches Ableiten aus juristischen Begriffen« 13, eben: Justizsyllogismus. d. In der Konsequenz konnte sich auch das Problem des Richterrechts nicht stellen, allenfalls in der Funktion als »Rechtserkenntnisquelle« 14. Denn wenn sich die Entscheidungs- oder Fallnormen, die der Richter zur Fallentscheidung benötigt, jeweils schlussfolgernd und ohne kreative richterliche Beimengungen unmittelbar aus dem Gesetz ergeben, hat das Gefüge solcher Entscheidungsnormen keine Eigenständigkeit. Es ist nicht sinnvoll, Leitsätzen, die nur den Charakter analytischer Urteile haben, also eigentlich nichts Neues sagen, eine eigenständige normative Bedeutung zuzusprechen.

2.

Der veränderte Rahmen – neue theoretische Ansätze

Einwände gegen den Justizsyllogismus sind natürlich immer wieder erhoben worden – etwa durch die Freirechtsschule, durch die Interessenjurisprudenz oder durch die geisteswissenschaftliche Methode F. v. Kutschera 1975, S. 38 ff. Vgl. dazu M. Frank 1992, S. 14, 34, 63. 12 Thomas von Aquin, De veritate 1,2 – »veritas est adaequatio intellectus et rei«. Einen Überblick über die Korrespondenztheorien geben L. Kreiser u. P. StekelerWeithofer in: Enzyklopädie Philosophie, Hg. Sandkühler, 1999, Stichwort: Wahrheit/Wahrheitstheorien. 13 F. Bydlinski 1991, S. 11, Anm. 21. 14 K. Larenz 1992, S. 320. 10 11

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15 · Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses

(R. Smend). Doch theoretische Positionen sind gegenüber der Realität immer unterkomplex und blenden Realitäten und Probleme aus, die dann von konkurrierenden Theorien aufgegriffen werden. Ihre Vormachtstellung verlieren herrschende Theorien erst, wenn ihre theoretischen Grundpositionen als idealtypische Konstrukte von der Zunft nicht mehr geglaubt werden. Als »tools for handling« taugen sie dann nichts mehr und werden obsolet. Inzwischen hat dieses Schicksal alle genannten Grundpositionen ereilt. a. Das betrifft zunächst das Systemdenken. Die Gleichung: Rechtserkenntnis bedeutet Rechtswissenschaft, Wissenschaft bedeutet umfassendes deduktives System, baute auf einem Verständnis von »System« auf, dem Wissenschaftsentwicklung und theoretische Diskussion heute die Grundlage entzogen haben. In der rechtstheoretischen Auseinandersetzung waren es vor allem die Vertreter der Topik, die diesen Kampf geführt haben. Das »Lückenproblem« dürfte damit geklärt sein: Eine »Lücke« ist nichts anderes als eine nicht vorhandene Regelung, die der Richter in methodischer Weise schließen muss. Man kann diese Operation nicht mehr als Subsumtion im Sinne einer »Rechtserkenntnis durch logische Ableitung aus juristischen Begriffen« 15 ausgeben. Daraus darf aber nicht der Schluss gezogen werden, das Systemdenken insgesamt für obsolet zu erklären, oder doch zu glauben, es aus der Methodendiskussion ausklammern zu können. Wie in Kapitel 18 zu zeigen sein wird, kann »in methodischer Weise« nur bedeuten: auch systematisch. Die oft zitierte Formulierung H. J. Wolffs: »Rechtswissenschaft zumindest ist systematisch oder sie ist nicht!« 16 hat nichts von ihrer Richtigkeit verloren. Nur muss der Systembegriff – und zwar in einem kohärenztheoretischen Rahmen – neu formuliert werden. b. Wie in Kapitel 2 schon angesprochen, haben Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie dem eindeutigen, man kann auch sagen, naiven Verständnis dessen, was die Bedeutung eines Wortes ausmacht, die Grundlage entzogen. Im Anschluss an Wittgenstein hatte sich als der entscheidende Erklärungsansatz für die »Bedeutung« der des Sprachgebrauchs erwiesen. Aber wie ist dieser Gebrauch dann 15 16

F. Bydlinski 1991, S. 11, Fn. 21. H.-J. Wolff 1952, S. 205.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

näher zu bestimmen? Können unter den Voraussetzungen einer Gebrauchstheorie der Sprache den Tatbestandsmerkmalen einer Norm noch hinreichend genaue, bestimmbare Bedeutungen zugesprochen werden? Mit Hinweis auf Wittgenstein wird das vielfach grundsätzlich bestritten. Im 17. Kapitel werden wir uns mit dieser Frage und konkret mit den Problemen Fachsprache, Wortlautgrenze und den Möglichkeiten semantischer Stabilität auseinanderzusetzen haben. c. Wenn heute auch in der allgemeinen philosophischen Diskussion eine »Subversion des Subsumtionsmodelles« zu konstatieren ist 17 – und das völlig unabhängig von juristischen Methodenfragen –, dann wird unübersehbar, dass auch die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des hergebrachten Modells als überholt gelten müssen. Der Erkenntnisbegriff kann auch für die Rechtserkenntnis nicht mehr entscheidend als logische Ableitung aus Begriffen verstanden werden. Wie im bisherigen Verlauf unserer methodischen Reflexionen immer wieder dargelegt und betont, bedarf es also eines umfassenden Erkenntnisbegriffs, der alle Momente und Mechanismen der Kognition erfasst – auch die Mechanismen der »Gesamtschau«, der sozialen Kognition und der Mustererkennung. d. Mit der Veränderung in den bisherigen theoretischen Ansätzen verändert sich schließlich zwangsläufig auch die Bedeutung, die dem Richterrecht beizumessen ist. Die Regeln, die die Begründung tragen – die in Leitsätzen formulierten Obersätze und Entscheidungsnormen –, können nicht mehr nur als logische Zwischenschritte qualifiziert werden, sondern sind »synthetische Urteile«; sie wiederholen also nicht nur das Gesetz, sondern formulieren als richterliche Erkenntnis, wie es verstanden werden soll. Die Regelbindung des Richters, die sich – wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird – u. a. aus der Begründungspflicht ergibt, ist so zugleich auch die »Quelle« des Richterrechts.

17

M. Frank 1992, S. 63.

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Kapitel 16 Rechtsprechung und Regelbindung

Wenn man die Determinanten der Rechtserkenntnis bestimmen will, ist es sinnvoll, zuvor den Fixpunkt auszumachen, den der Richter einnehmen muss, um Recht zu sprechen. Man kann auch anders fragen: Von welchen Vorstellungen müssen wir unabdingbar ausgehen, wenn wir über Rechtsprechung sprechen? Da es oft einfacher ist, sich darauf zu einigen, was mit einem Begriff unvereinbar ist, als für eine positive Begriffsbestimmung einen Konsens zu finden, beginnen wir mit der Frage: Was darf Rechtsprechung nicht sein? Und da gibt es neben dem Postulat, dass der Richter ein unabhängiger und unbefangener Dritter sein muss, keinen Zweifel: Rechtsprechung darf nicht beliebig, darf nicht willkürlich sein. Wenn der Richter eine Entscheidung nach seinem Belieben trifft, spricht er kein Recht. Die freie Wahl der Entscheidung nach dem alleinigen Maßstab des eigenen Willens lässt den Richterspruch genauso rechtlos sein wie eine Entscheidung aus dem Würfelbecher. Wobei allerdings das Bild des Richters, der würfelt, nicht einmal eindeutig ist. Dahinter könnte ein Glauben an eine lenkende unsichtbare Hand stehen, der Gedanke an eine Art Gottesurteil. Die Vorstellungen von dem, was den gesuchten Fixpunkt ausmacht, sind, wie Rechtsgeschichte und Ethnologie zeigen, sehr unterschiedlich. Der König urteilt, der göttlichen Eingebung folgend. 18 Die Richter finden das Recht in Tradition und Herkommen, orientieren sich am Narrativ, d. h. an der Erzählung, wie man früher in einem derartigen Fall verfahren ist. Diese Rückschau soll nicht vertieft werden, sondern nur deutlich machen, dass die Vorstellungen über die Legitimations- und Höchst anschaulich der Bericht über das Urteil König Salomons im Streit zweier Mütter um ein Kind: »Doch die andere rief: ›Es soll weder mir noch dir gehören. Zerteilt es!‹ Da befahl der König: ›Gebt jener das lebende Kind, und tötet es nicht; denn sie ist seine Mutter.‹ Ganz Israel hörte von dem Urteil, das der König gefällt hatte, und sie schauten mit Ehrfurcht zu ihm auf; denn sie erkannten, dass die Weisheit Gottes in ihm war, wenn er Recht sprach,« 1 Kön 3,16–28.

18

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Ableitungsschemata, auf die Rechtsprechung zurückgeführt wird, sehr verschiedene und wechselnde Inhalte haben – ein Ableitungszusammenhang als solcher aber unverzichtbar ist. Unser Sprachgebrauch lässt daran keinen Zweifel: Das Recht wird durch den Richter »gesprochen« – »jurisdiction« –, nicht »erzeugt«, »gesetzt«, »geschaffen«. In unserem heutigen Verständnis wird der notwendige Ableitungszusammenhang durch die Regelbindung geschaffen. Das ist näher zu begründen (I.). Zu diskutieren ist dann anhand des Toulmin-Schemas die Struktur dieser Regeln und ihrer Bindung (II.), um in einem dritten Schritt aus den Überlegungen zu I. und II. den rechtstechnischen Entstehungsgrund von Richterrecht skizzieren zu können (III.). Unumstritten ist die Sicht notwendiger Regelbindung allerdings nicht. Diese Kritik gibt Anlass, über einen Exkurs zur Systemtheorie Luhmanns die Regelbindung in ihrer Struktur als Mehrebenensystem auch theoretisch besser zu fassen (IV.).

I.

Notwendige Regelbindung

Zunächst ist das Postulat der Regelbindung selbst näher zu begründen. Dies geschieht über drei unterschiedliche Ansätze: als notwendige Bedingung einer rationalen Begründung (1.), als notwendige Folge aus dem Gleichheitssatz (2.) und als verfassungsrechtliche Vorgabe (3.). 19

1.

Der argumentationstheoretische Ansatz

Folgt man der üblich gewordenen Unterscheidung zwischen Herstellung und Darstellung 20 und stellt mit der Argumentationstheorie entscheidend auf die Begründung ab, dann ergibt sich die Regelbindung aus dem Erfordernis, das Urteil als rational begründete Entscheidung darzustellen. 21 Mit den Worten U. Neumanns: »Rational Grundlegend R. Alexy 1983, S. 273 ff. und für das Folgende insbesondere auch U. Neumann 2012, S. 315 ff., Ders. 2011, S. 578 ff. 20 Zur Übersicht K. Röhl 1987, S. 610 f. 21 Das bedeutet nicht, dass die Begründungspflicht Wesensmerkmal eines Urteils ist. Historisch hat sich die Begründung eines Urteils in Deutschland erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchgesetzt; vgl. B. Lahusen 2011, S. 49 ff. 19

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begründet ist eine Entscheidung nur dann, wenn sie auf eine Regel zurückgeführt werden kann, der zufolge alle Fälle dieses Typus in entsprechender Weise zu entscheiden sind. Dieses Moment der Generalisierung folgt aus dem Begriff der rationalen Begründung selbst. Denn Gründe im normativen Bereich lassen sich, ebenso wie Ursachen im Bereich der Empirie, nicht auf den Einzelfall beschränken.« 22 In der Regel tritt so in dem konkreten Fall das Allgemeine zu Tage. Hier hakt – etwa aus dekonstruktivistischer Perspektive – die Kritik ein. »Jeder Fall ist anders«, heißt es bei Derrida, »jede Entscheidung ist verschieden und bedarf einer vollkommen einzigartigen Deutung, für die keine bestehende, eingetragene, codierte Regel vollkommen einstehen kann und darf.« 23 In der Konsequenz bedeutete dies allerdings – und das wird von Derrida durchaus gesehen 24 –, dass ein konkreter Fall nie nach allgemeinen Regeln entschieden werden könnte. Es gäbe dann folglich kein anwendbares Recht. Recht können wir nur anwenden, wenn wir »Strukturelemente« 25 extrahieren, die auch in anderen Fällen gegeben sind. Nicht anders verhalten wir uns auch, wenn wir das, was die Besonderheit eines Einzelfalles ausmacht, diskutieren. Wir müssen es benennen. Allein die Benennung setzt aber voraus, dass der Besonderheit begriffliche Eigenschaften von einem gewissen Allgemeinheitsgrad zugeordnet werden können. »In dem Augenblick aber, in dem wir uns über das Individuelle und das Einzigartige intersubjektiv verständigen, avanciert es bereits zum Gegenstand allgemeiner Bestimmungen und ist damit, zumindest im Prinzip, einer erklärenden und gesetzmäßig beschreibenden Wissenschaft zugänglich.« 26 Was der Wissenschaftstheoretiker B. Küppers im Anschluss an E. Cassirer hier für die Wissenschaft und allgemein für das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen formuliert, 27 gilt auch für das Verhältnis Regel – Einzelfall. Wenn eine Regel für den konkreten Fall nicht passt, muss das Besondere so auf den Begriff gebracht werden, dass sich daraus wiederum eine Regel bilden lässt.

U. Neumann 2004, S. 335. Derrida 1996, S. 48. 24 Derrida 1996, S. 48; Derrida lässt dabei allerdings die Frage außen vor, wieweit Regeln immer als Allsätze verstanden werden müssen. Vgl. dazu u. II. 2. 25 U. Neumann 2011, S. 579. 26 B. Küppers 2012, S. 264. 27 Zum Gesamtzusammenhang B. Küppers 2012, S. 262 ff. und S. 148 f. 22 23

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Sie hat dann entweder die Form: »das gilt auch dann, wenn …« oder die Form: »… es sei denn, dass …«. In beiden Formen ist dies das tägliche Geschäft des Richters. Im Zusammenhang der Erörterung des Argumentations-Schemas, das wir für die Regelanwendung brauchen (II.), ist darauf noch näher einzugehen. Auf konkrete Anwendungsfälle werden wir stoßen, wenn es um die Analyse der Denkoperationen geht, die bei der richterlichen Rechtsfortbildung am Werke sind. 28

2.

Gebot des Gleichheitssatzes

Regelorientierung ist auch ein notwendiges Gebot gerechter Entscheidung. Das Prinzip der formalen Gerechtigkeit 29 fordert, Gleiches gleich zu behandeln. Der Richter, der bei der Behandlung oder Bewertung zweier Fälle in unterschiedlicher Weise vorgeht oder entscheidet, muss angeben können, worin der Unterschied liegt, der ihn in diesem Fall zu dieser und in jenem Fall zu jener Entscheidung veranlasst hat. Anders handelt er willkürlich und ungerecht. Das heißt aber, dass er den Weg, den er bei seiner Entscheidung gegangen ist, gedanklich muss nachgehen können – und nichts anderes bedeutet, wie bereits dargelegt, ins Griechische rückübersetzt »methodisch«. Der Richter bewegt sich auch hier in dem oben beschriebenen Problemfeld des Allgemeinen und Besonderen. Des Allgemeinen, das gebietet, nach der allgemeinen Regel zu entscheiden, und des Besonderen, das gebietet – oder es jedenfalls ermöglicht – dem Besonderen Rechnung zu tragen. Was dann inhaltlich für eine Differenzierung auch immer relevant sein mag, das Besondere muss benannt werden. Eine Begründung nach der Formel: »der Fall X ist anders als der Fall A, weil es der konkrete Fall A ist«, reicht augenscheinlich nicht. Auch hier muss das Besondere so verallgemeinert werden, dass die Begründung (»weil es …«) in einer Regel formuliert werden kann, einer Regel, die dann auch für andere gleichgelagerte Fälle Geltung hätte.

28 29

Stichwort ist die »regulative Urteilskraft«, Kap. 23 II. Siehe in diesem Zusammenhang R. Alexy 1983, S. 274 f.

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16 · Rechtsprechung und Regelbindung

3.

Bindung an »Gesetz und Recht«

Das Kapitel ist mit »Regelbindung« und nicht mit »Regelorientierung« 30 überschrieben. So soll auch sprachlich ein Zusammenhang zur verfassungsrechtlichen Vorgabe hergestellt werden: der Bindung des Richters an Gesetz und Recht nach Art. 20 Abs. 3 GG. Was diese Bindung verfassungsrechtlich bedeutet oder nur bedeuten kann, ist im Kapitel 20 zu erörtern. Bereits hier klarzustellen ist freilich, dass mit der sprachlichen Anbindung an die Grundgesetzbestimmung nicht – gleichsam klammheimlich – das idealtypische Postulat des Gesetzespositivismus zum Kriterium der Bindung gemacht werden soll. Darüber, dass ein Urteil aus »Gesetz und Recht« nicht logisch ableitbar ist, kann heute kein Zweifel mehr bestehen. Worum es in unserem Zusammenhang geht, sind die Ableitungszusammenhänge und dort liegen die entscheidenden Unterschiede der drei Ansätze: »Regelbindung« bedeutet aus argumentationstheoretischer Sicht etwas anderes als aus der verfassungsrechtlichen Perspektive. Mit R. Alexy lassen sich zwei Aspekte der Rechtfertigung (= Begründung) unterscheiden: die »interne Rechtfertigung« und die »externe Rechtfertigung«. 31 Gegenstand der Letzteren ist die Begründung der in der internen Rechtfertigung benützten Prämissen. Dazu gehören insbesondere die Regeln des positiven Rechts 32. Die Regeln für die »interne Rechtfertigung«, die der Konkretisierung des Universalisierbarkeitsprinzips dienen, formuliert R. Alexy in zwei Schritten: 1. »Zur Begründung eines juristischen Urteils muß mindestens eine universelle Norm angeführt werden«, und 2. »Das juristische Urteil muß aus mindestens einer universellen Norm zusammen mit weiteren Aussagen logisch folgen.« 33 Diese Regeln gelten sowohl in den Fällen, »in denen eine positive Rechtsnorm zur Begründung benutzt werden kann, als auch in den Fällen, in denen es eine solche positive Rechtsnorm nicht gibt. Wenn dem Gesetz keine Regel entnommen werden kann, ist eine Regel zu bilden«. 34

U. Neumann spricht nur in Ders. 2001, S. 244 von »Regelbindung«, sonst von »Regelorientierung«. 31 R. Alexy 1983, S. 273; kritisch dazu U. Neumann 1986, S. 20 f. 32 R. Alexy 1983, S. 283. 33 R. Alexy 1983, S. 275. 34 R. Alexy 1983, S. 275. 30

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Für die »interne Rechtfertigung« spielt mithin die Frage der rechtlichen Qualifizierung und Ableitung zunächst noch keine Rolle. So wie wir auch isoliert beurteilen können, ob eine Begründung »in sich« stimmig ist und eine Subsumtion richtig sein kann – die Prämisse, der juristische Obersatz, von der der Richter ausgegangen ist, aber durchaus zweifelhaft oder gar falsch ist. Auf einer zweiten Ebene bedarf es deshalb einer »externen Rechtfertigung«; d. h. der Begründung, dass die eingesetzte Regel auch als Rechtsregel zu gelten hat. 35 Zu differenzieren ist mithin zwischen der Begründungsebene, die man die Ebene der argumentationstheoretischen Rechtfertigung nennen kann, und der Ableitungs-Ebene, auf der die eingesetzte Regel auf eine rechtliche Grundlage, auf »Gesetz und Recht« zurückgeführt wird. Dass diese Ableitung nicht logisch zwingend sein kann, ist bereits gesagt. Der Legitimationszusammenhang muss aber über methodische Regeln hergestellt werden, und das heißt zunächst: Wir brauchen ein Argumentations-Schema, das sowohl einem differenzierten Umgang mit unterschiedlichen Regeln (des Allgemeinen und Besonderen) als auch der Differenzierung in zwei Ebenen (Ableitung und Argumentation) Rechnung trägt. Beide Voraussetzungen erfüllt das 1958 von Stephen Toulmin (1922–2009) für die Argumentationsanalyse entwickelte Schema. 36

II.

Zur Struktur der Regel – das Toulmin-Schema

Die Frage, wie der Richter allgemeine Regeln auf den Fall anwendet, werden wir in den folgenden Teilen E und F thematisieren. Aber über den Grundmechanismus, der bei der Regelanwendung zum Tragen kommt, müssen wir uns schon im Zusammenhang mit den Grundfragen der Regelbindung klar werden. Traditionell greift die Methodik hier auf den juristischen Syllogismus zurück. Für unsere Überlegungen müssen wir uns jedoch nicht in der ganzen Bandbreite mit der Kritik am juristischen Syllogismus und dem Themas »Logik und juristische Argumentation« 37 auseinandersetzen. Uns interessiert die Struktur von Regel und Regelanwendung und für diese kann im AnVgl. parallel dazu den Grundgedanken des Münchhausen-Trilemmas, Kap. 18 III. 3. b). 36 Dargestellt ist das Argumentationsschema bei Toulmin 1996, S. 88 ff. 37 Vgl. U. Neumann 1986, S. 19 ff. 35

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schluss an U. Neumann an zwei Beispielen deutlich gemacht werden, warum das von Toulmin entwickelte Argumentationsschema 38 der Aufgabe, den Mechanismus der Regelanwendung zu rekonstruieren, besser gerecht wird als der traditionelle Ansatz.

1.

Die Begründung der Prämisse

Der Syllogismus rechtfertigt die Konklusion, lässt aber die Berechtigung der Prämisse außen vor. Zur Erläuterung beginnen wir mit einem klassischen Lehrbuch-Beispiel für den Modus barbara 39: • Alle Menschen sind sterblich. • Sokrates ist ein Mensch. • Also ist Sokrates sterblich. Aber, was ist damit gesagt? – doch nur, dass der Mensch Sokrates sterblich ist, weil Menschen sterblich sind. Die Feststellung, dass Sokrates ein Mensch ist, impliziert bereits die Feststellung, dass er sterblich ist. Das ist tautologisch, eine neue Erkenntnis wird nicht gewonnen. 40 Eine Konklusion kann nur dann überzeugen, wenn man den Obersatz für richtig hält. Die Prämisse – oder »Schlussregel« – muss folglich so durch Argumente »gestützt« werden (können), dass sie als Ausgangspunkt und Grundlage für weitere Schlussfolgerungen akzeptiert wird. Dies kann etwa durch den Erfahrungssatz geschehen, dass bisher alle Menschen vor Erreichung eines bestimmten Lebensalters gestorben sind. Rechtliche Obersätze werden durch Normen gestützt. Entsprechend »ist es unter logischen Gesichtspunkten nicht nur sinnvoll, sondern unabdingbar, die Frage der Gültigkeit eines Schlusses von der der Wahrheit und der Beweisbarkeit der Prämissen zu trennen.« 41 In dem von Toulmin entwickelten Konzept kommt dieser Zusammenhang in der Differenzierung von Sachverhalt (»Datum« – »D«) und »Konklusion« (»K«) sowie »Schlussregel« (Prämisse – »P«) und »Stützung« (Ableitung – »A«) in folgendem Schema 42 zum Ausdruck:

Insbesondere U. Neumann 1986, S. 21 ff. Zur Ableitung des Argumentationsschemas: Toulmin 1996, S. 88 ff. 39 Herberger/Simon 1980, S. 23 ff. 40 Vgl. dazu näher U. Neumann 1986, S. 20 ff. 41 U. Neumann 1986, S. 27. 42 U. Neumann 1986, S. 23. 38

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D Sokrates ist ein Mensch

K Sokrates ist sterblich Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind bisher vor Erreichen des 170. Lebensjahres gestorben.

2.

Allsätze – Regel und Ausnahme

Der Syllogismus baut auf Allsätzen auf, d. h. auf Sätzen in der Form: »… immer wenn, dann …« oder in der Grundstruktur gleich: »… wenn die Tatbestandsmerkmale a, b und c gegeben sind, gilt die Rechtsfolge F«. Ein typisches Beispiel, zunächst auch sprachlich als Allsatz formuliert: »Alle Mörder sollen mit … bestraft werden«, sodann mit dem Gesetzeswortlaut: • Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. • A ist ein Mörder • A wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. 2.1 Da der Obersatz in diesem Beispiel mit dem Wortlaut des § 211 Abs. 1 StGB identisch ist, fällt das zuvor besprochene Problem einer fehlenden Ableitung der Prämisse nicht sofort auf. Mit einem Hinweis auf § 211 Abs. 1 StGB könnte es auch zunächst behoben werden. Um subsumieren zu können, muss die Prämisse jedoch konkretisiert werden. Zu Beginn mit dem Gesetzeswortlaut selbst: • »Mörder ist, wer … aus niedrigen Beweggründen heimtückisch … einen Menschen tötet«; in weiteren Schritten dann durch Unterprämissen, die jeweils durch Interpretation gewonnen werden, z. B.: • »Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt.« 43

43

BGH, NStZ 2011, 634–635.

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16 · Rechtsprechung und Regelbindung

»Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet.« 44 Beide Sätze, sind keine logischen Schlussfolgerungen, die sich zwingend aus dem Normtext ergeben. 45 Sie verstehen sich aber als Ableitungen aus dem Gesetz. Geltung können sie auch nur beanspruchen, weil und soweit die so aufgestellten Prämissen in der Norm ihre Stütze finden. Insoweit wird das oben beschriebene Schema also nur ergänzt. Dem Beispiel der »Stützung« durch einen empirischen Satz wird das Beispiel der Stützung durch eine normative Regel hinzugefügt. Um so nochmals den entscheidenden Vorteil des Toulmin’schen Schemas hervorzuheben: Das Modell markiert den Ort in der Argumentationsstruktur, der nötig ist, um die argumentativen Zwischenschritte zu beschreiben, die wir brauchen, um den Obersatz so zu konkretisieren, dass wir den konkreten Sachverhalt auch auf dessen Begriffe bringen können. •

2.2 Der noch nicht behandelte Kritikpunkt an dem juristischen Syllogismus, der Toulmin zu einer Erweiterung seines Schemas veranlasst hat, liegt aber vor allem in der Prämisse selbst. Wenn sie etwa lautet: »Alle Mörder sollen mit … bestraft werden«, ist sie als Allsatz formuliert. Als Allsatz ist sie jedoch nicht stimmig; sie stimmt z. B. nicht, wenn sich der Täter über wesentliche Tatumstände geirrt hat oder schuldunfähig war. Im vorangegangenen Abschnitt I haben wir bereits auf das grundsätzliche Problem solcher Allsätze hingewiesen. Eine Regel muss einerseits allgemein gelten. – Doch so notwendig die Allgemeinheit der Regel ist, ihr steht potentiell immer die Notwendigkeit gegenüber, dem Besonderen Rechnung zu tragen. Wenn es der Jurist mit Rechtssätzen zu tun hat, dann sind diese Sätze also »eher als – für Ausnahmen offene – Regeln denn als – ausnahmefeindliche – logische Allsätze zu verstehen«. 46 Ein Modell, mit dem wir die Struktur: allgemeine Regel – Regelanwendung – Ausnahme

BGH, NStZ 2005, 526–527; Urt. v. 06. 09. 2012 – 3 StR 171/12 – juris Rn. 5. Der BGH hatte den Begriff der Heimtücke mit der Entscheidung GS – BGHSt 9, 385–390 – »fortentwickelt« und die bisherige Rechtsprechung aufgegeben. Vgl. dazu näher Kap. 21 III. 46 U. Neumann 1986, S. 45. 44 45

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

hinreichend beschreiben wollen, muss in dieser Struktur also auch einen Ort für die Ausnahme vorsehen. Toulmin tut dies mit dem »Modaloperator« (O), den eine Argumentation durchlaufen muss, bevor eine Schlussfolgerung gezogen werden kann. Das Schema hat dann folgende Gestalt: D

Deshalb, O, K Wegen SR

Wenn nicht AB

Aufgrund von S

Überträgt man dieses Schema 47 auf die für unsere Überlegungen wesentlichen Vorgänge der Rechtsanwendung, ergeben sich folgende Entsprechungen: – »D« steht für »Datum«; das sind die Tatsachen, die als Begründung für die Behauptung herangezogen werden, juristisch: die Sachverhaltsfeststellungen; – »K« für »Konklusion«, das Urteil; – »SR« für »Schlussregel«, die Prämisse, d. h. die Regel oder das Prinzip, das den Schritt von den Daten zur Konklusion legitimiert; – »S« für »Stützung«; d. h. die Begründung, Ableitung, Legitimation der Schlussregel; – »AB« für »Ausnahmebedingung«, sie gibt die Umstände an, unter denen die in der Schlussregel ausgedrückte Legitimation des Schlusses von den Daten auf die Konklusion aufzuheben ist; 48 – »O« für »Modaloperator«: er gibt den Grad der Notwendigkeit an, die die Schlussregel dem Schluss vom Datum auf die Konklusion verleiht. 49

47 48 49

Toulmin 1996, S. 95.; vgl. auch Neumann 1986, S. 34 ff. Toulmin 1996, S. 92 f. Toulmin 1996, S. 92.

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16 · Rechtsprechung und Regelbindung

3.

Struktur der Regelbindung

Von zentraler Bedeutung ist in diesem Schema das Verhältnis von »SR« und »S«. Hier geht es um die Art der Gründe oder die Stützung, auf denen eine Schlussregel beruht, und diese ist abhängig vom Bereich der Argumentation. 50 Wir hätten dieses Schema also bereits in Teil C unseren Überlegungen zur argumentativen Rekonstruktion der Sachverhaltsfeststellungen zugrunde legen können. Die Erfahrungssätze, mit denen der Richter aus Indizien auf Tatsachen und Sachlagen schließt, müssen in einem entsprechenden Fach- oder Erfahrungswissen ihre Stütze finden. 51 Für diesen Argumentationsbereich hätte das Schema m. E. aber kaum einen zusätzlichen Erklärungswert gehabt. Für die Analyse der Regelbindung ermöglicht dieses Schema dagegen, sowohl die Struktur hinreichend komplex darzustellen als auch so zu strukturieren, dass wir daraus unmittelbare Folgerungen für die weiteren Überlegungen ziehen können. 1. Mit der Unterscheidung von Schlussregel und Stützung wird zunächst eine klare Differenzierung zwischen der Regelebene geschaffen, auf der die Obersätze zu formulieren sind, und der Ebene, auf der sie begründet werden. Die juristischen Bezeichnungen, auf denen der Richter auf der Ebene der »Schlussregel« arbeitet, wechseln: Prämissen, Obersatz, »Entscheidungsnorm« oder, konkreter, »Fallnorm« 52. Die Fallnorm ist die Norm, die alle für den konkreten Fall rechtlich relevanten Merkmale abstrakt als Bedingungen einer generellen Regel formuliert. Die andere Ebene ist die der Ableitung dieser Schlussregel aus dem Gesetz oder allgemeinen Rechtsprinzipien. 53 Hier geht es um die Frage, ob und wie »SR« durch »S« argumentativ hinreichend abgesichert ist oder werden kann, in der Sache also um Auslegung, die Tragweite verfassungsrechtlicher Vorgaben, Argumente aus der Systematik oder der Meinungsstand etc. – Formuliert man es kohärenztheoretisch, bedeutet die Notwendigkeit, »SR« durch »S« argumentativ abzusichern, nichts anderes als die Forderung, sich auf »anerkannte Sätze« zu stützen. 54 50 51 52 53 54

Toulmin 1996, S. 102. Vgl. Kap. 13 III. 3. b. Zum Begriff: W. Fikentscher 1977, Bd. IV., S. 202 ff., 288 ff. Vgl. dazu U. Neumann 2012, S. 329. Kap. 8 IV. 2 ff.; VII.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

2. Der Modaloperator »O« und die »Ausnahmebedingung« (AB) markieren demgegenüber die wesentliche Schnittstelle zwischen allgemeiner Norm und Ausnahme, d. h. die Schnittstelle, an der die allgemeine Regel auf die Regeln trifft, die die generelle Norm an die Besonderheiten des konkreten Falls anpassen sollen. Wenn man die generelle Norm als Direktive des Gesetzgebers an den Richter auffasst, in einer typisierten Konfliktsituation so und so zu entscheiden, dann geht es hier um die Beschränkung dieser Direktive. Sehr allgemein formuliert: Der Richter hat dann auch die Direktive, der Besonderheit des Falles Rechnung zu tragen. 2.1 Dabei geht es zunächst um Spielräume, die die Normen selbst lassen. Klassische Beispiele sind im Verwaltungsrecht Ermessen und Beurteilungsspielraum, im Prozessrecht die Schadensschätzung. Generalklauseln geben einen weiten Bereich vor, so oder so zu werten, d. h., sie zwingen nicht zu einer bestimmten Rechtsfolge. Der Modaloperator ist also keineswegs immer der der Notwendigkeit (müssen), sondern auch der der Möglichkeit (können), der Erlaubnis (dürfen) oder der Empfehlung (sollen – d. h. mit der Einschränkung: nur in der Regel). 2.2 Die meisten der umfangreicher geregelten Rechtsmaterien sind bereits gesetzlich nach dem Regel-Ausnahme-Modell normiert: etwa im Bereich der Ordnungsverwaltung die Baufreiheit nach dem Schema Baugenehmigungspflicht – Ausnahmen oder die gewerbliche Betätigung nach dem Schema Gewerbefreiheit – besondere Zulassung. Hat der Gesetzgeber keine Ausnahmen geregelt oder diese nicht ausreichend differenziert, stellt sich das Regel-Ausnahme-Problem als verfassungsrechtliche Frage einer möglichen Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes oder des Differenzierungsgebotes. 55 Räumt die gesetzliche Regelung selbst einen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum ein, ist die Verhältnismäßigkeit konkret bei der Vgl. etwa BVerfGE 121, 317–388 (Verfassungswidrigkeit der Ausgestaltung landesgesetzlicher Vorschriften über das Rauchverbot in Gaststätten); BVerfGE 111, 10–54 (Angemessene Ausnahmeregelung bei den Ladenschlusszeiten); BVerfGE 30, 292 (»Dadurch, daß das Gesetz keine Möglichkeit vorsieht, diese Sonderfälle angemessen zu berücksichtigen, … also … in einer das Gerechtigkeitsgefühl nicht befriedigenden Weise ›Ungleiches gleich‹ behandelt, ist bei der in dem angefochtenen Gesetz enthaltenen Berufsausübungsregelung Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG verletzt worden.«).

55

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16 · Rechtsprechung und Regelbindung

Rechtsanwendung zu prüfen. 56 Klassisches Beispiel ist die Einschränkung der polizeilichen Generalklausel durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. In all diesen Fällen hat das Grundschema die Struktur: »wenn …, dann … ; es sei denn, es besteht eine Ausnahmeregel oder eine solche ist aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes oder des Differenzierungsgebotes erforderlich«.

III. Regelbindung und Richterrecht Das Thema »Richterrecht« behandelt die Methodenlehre in der Regel als Problem der Rechtsquellenlehre 57 und damit als Problem des Geltungsgrundes und des Verbindlichkeitsgrades oder aus der Perspektive verfassungsrechtlicher Zulässigkeit und Legitimität. 58 Bestimmt wird diese Diskussion, so hat man den Eindruck, auch heute noch unterschwellig durch die Vorstellung, dass sich eigentlich alle wesentlichen Fragen aus dem Gesetz beantworten lassen, und dies auch eindeutig. 59 Hat man sich dagegen von diesem Glauben gelöst, ergibt sich aus dem Postulat notwendiger Regelorientierung geradezu selbstverständlich und folgerichtig auch die Konsequenz, die wir hergebracht mit dem Etikett »Richterrecht« umschreiben.

1.

Justizgewährleistungsanspruch

Am Anfang eines jeden Rechtsstreites steht – wie immer wieder betont – der Fall. Zur Entscheidung des Falls bedarf es einer Regel. Fehlt es nun an einer solchen Regel, müsste der Richter den Kläger wieder nach Hause schicken, weil ihm für diesen Fall niemand ein Recht vorgegeben hat, nach dem er entscheiden könnte. Gegen diese Konsequenz steht jedoch der staatliche Justizgewährleistungsanspruch, d. h. der Anspruch insbesondere auf Zugang zu den Gerichten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Beispiel: Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund eines einmalig festgestellten Haschischbesitzes und der Weigerung, am Drogenscreening teilzunehmen, verletzt in unverhältnismäßiger Weise die allgemeine Handlungsfreiheit – 1. Senat 1. Kammer, B. v. 20. 06. 2002 – 1 BvR 2062/96 – NJW 2002, 2378–2380. 57 Vgl. etwa E. A. Kramer 1998, S. 175 ff. 58 Dazu näher Kap. 20 II. 3. b; zur Rechtsatzqualität dogmatischer Sätze Kap 18 III. 3. 59 Nachweise Kap. 20 II. 2. u. 3. 56

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Verfahren sowie die verbindliche gerichtliche Entscheidung. 60 Das bedeutet: Dort, wo keine gesetzliche Regelung vorhanden ist, weil der Gesetzgeber in diesem Bereich (noch) nicht tätig geworden ist oder sich eine solche Regelung angesichts des konkreten Falls als lückenhaft erweist, muss der Richter die fehlende Regelung selbst erzeugen. – Anderes gilt nur, wenn sich aus einer anderen Regel, wie etwa aus Art. 103 Abs. 2 GG, ergibt, dass der Richter eine »Lücke« nicht schließen, keine eigene Regel bilden darf. Den Angeklagten, auf dessen Verhalten keine Strafnorm passt, muss der Richter wieder nach Hause schicken. »Wenn dem Gesetz keine Regel entnommen werden kann, ist eine Regel zu bilden«. 61 Was Alexy als theoretische Feststellung formuliert, hat das Schweizer Zivilgesetzbuch in Art. 1 ZGB normativ gefasst: »1 Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. 2 Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das Gericht nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. 3 Es folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung«. Diese Regelung kann durchaus als allgemeiner methodischer Grundsatz verstanden werden. Der Richter ist in seiner richterlichen Rechtsetzung nicht frei und kann es aus den unter I. genannten Gründen nicht sein. Abs. 3 nennt als »verbindliche Leitplanken« die »bewährte Lehre«, also die Dogmatik, und die »bewährte Überlieferung«, also die gefestigte Rechtsprechungspraxis. 62 Das sind, neben den allgemeinen Rechtsprinzipien, die noch gesondert zu nennen wären, die Maßstäbe 63, mit denen auch der deutsche Richter arbeiten muss. Insofern statuiert Art. 1 ZGB nichts, was sich nicht auch allgemein aus der Regelbindung ergäbe. Er normiert aber so etwas wie die Ver-

Zum allgemeinen Justizgewährungsanspruch vgl. etwa BVerfGE 93, 99 (107); 107, 395 (401); P. M. Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 19 Abs. 4 Rn. 242 (6. Aufl. 2011). Zur Entstehung und Bedeutung für das Rechtssystem anschaulich N. Luhmann 1995, S. 310 ff. 61 R. Alexy 1983, S. 275. 62 Grundlegend Arthur Meier-Hayoz, Berner Kommentar, Band I, Einleitung und Personenrecht, Bern 1966, Rn. 423 ff. zu Art. 1 ZGB. 63 Zu den »Verobjektivierungsformen« näher E. A. Kramer 1998, S. 179 ff. 60

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16 · Rechtsprechung und Regelbindung

pflichtung, bei der Schaffung von Richterrecht »methodenehrlich« 64 zu sein, also klar darzulegen, warum dem Gesetz keine Regel entnommen werden kann und nach welchen Kriterien der Richter die Regel gebildet hat, die er deshalb zugrunde legt. An Beispielen für richterliche Rechtserzeugung herrscht bekanntlich kein Mangel. Typische Bereiche sind das Arbeitsrecht und das Verwaltungsrecht, hier exemplarisch das Arbeitskampfrecht oder das allgemeine Verwaltungsrecht. Vom Kreuzbergurteil aus dem Jahre 1882 hat es bis zum preußischen Polizeiverwaltungsgesetz von 1931 gedauert, bis das Leitsatzrecht des Preußischen OVG kodifiziert wurde. Das allgemeine Verwaltungsrecht wurde erst 1976 im Verwaltungsverfahrensgesetz in eine Gesetzesform gebracht. Für das Arbeitskampfrecht scheint es derzeit sogar ausgeschlossen, dass das politische System eine gesetzliche Regelung auch nur anstreben könnte. Auf der Ebene des Unionsrechts bietet die Entwicklung des unionalen Grundrechtsstandards durch die Rechtsprechung des EuGH ein beeindruckendes Beispiel für die Entwicklung von Verfassungsrecht durch Richterrecht aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen. 65

2.

Rechtserzeugung und Urteilsgründe

Richterliche Rechtserzeugung in der Konsequenz des Justizgewährleistungsanspruches ist der eine Entstehungsgrund von Richterrecht; der andere ergibt sich aus der Argumentationsstruktur, wie wir sie in dem dargestellten Toulmin-Schema abgebildet haben. »Schlussregeln« müssen abgeleitet werden (a). Besonderheiten müssen berücksichtigt und dafür zunächst in Regeln gefasst werden (b). a)

Gesetzesnorm und Entscheidungsnorm

Das »Leitsatzrecht« hat zunächst einen ganz trivialen Grund: In jeder Begründung werden Gründe formuliert, und soweit Leitsätze nicht allein später hinzugefügte »Orientierungssätze« sind, formulieren sie nur die eine oder die wesentlichen Regeln, die die Begründung tragen. In den seltensten Fällen ergibt sich die Entscheidungsnorm unmittelbar aus der gesetzlichen Norm. Die Fallnorm, auf die die 64 65

E. A. Kramer 1998, S. 182. Vgl. M. Herdegen 2014, § 8 Rn. 17 ff.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

konkrete Fallentscheidung gestützt werden soll, muss begründet werden. Es bedarf also – oft zahlreicher – Zwischenschritte, über die eine Entscheidung aus jeweils konkreter werdenden Regeln schlussendlich abgeleitet wird. Am Beispiel des § 211 StGB hatten wir die Notwendigkeit, eine Norm durch nähere Regeln zu konkretisieren, um sie »subsumierbar« zu machen, bereits dargestellt. Das sei hier, nur etwas ausführlicher, anhand von »Rechtsgrundsätzen, die für Regelfälle der Heimtücke gelten«, 66 nochmals wiederholt: »Nach ständiger Rechtsprechung handelt heimtückisch, wer in feindlicher Willensrichtung (BGHSt 30, 105, 119) die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewußt zur Tötung ausnutzt […]. Er überrascht es infolge von dessen Arglosigkeit in hilfloser Lage und will es so daran hindern, sich zu verteidigen, zu fliehen, Hilfe herbeizurufen, ihn umzustimmen oder dem Anschlag in sonstiger Weise zu begegnen … Heimtücke setzt nicht voraus, daß der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers selbst bewußt herbeiführt oder bestärkt, indem er es z. B. in eine Falle lockt […]. Es genügt, daß er eine vorgefundene Situation für sein Vorhaben ausnutzt. Das Opfer ist arglos, wenn es sich in der ›unmittelbaren Tatsituation‹, d. h. bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs […] keines Angriffs von seiten des Täters versieht.« 67 Man kann diese Verkettung von Leitsätzen einerseits verfeinern und andererseits mit weiteren Beispielen quer durch alle Rechtsgebiete auch ausführlicher illustrieren. Es sollte aber nur veranschaulicht werden, wie aus dem Ableitungszusammenhang von Normtext und konkreter Entscheidungsnorm, den der Richter in der Begründung darstellen muss, ein Geflecht von »Rechtsgrundsätzen« erwächst. Immer dann, wenn sich in der Rechtsprechung ein solcher Ableitungszusammenhang von Gesetzesnorm und Leitsätzen etabliert und stabilisiert hat, ist es dieses Geflecht, das in der gerichtlichen Praxis weitgehend das ausmacht, was tatsächlich gemeint ist, wenn von Auslegung und Rechtsanwendung die Rede ist.

66 67

BGHSt 32, 382–384 – juris Rn. 8. BGHSt 32, 382–384 – juris Rn. 7.

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16 · Rechtsprechung und Regelbindung

b)

Ausnahmeregeln und Regelungen durch unbestimmte Rechtsbegriffe

Welches Rechtsgebiet man sich auch immer zu erschließen hat, man wird es wahrscheinlich nach dem Schema Regel – Ausnahme – Modalitäten tun. Wie das Schema im Einzelnen ausgestaltet ist, kann durch Gesetz in den Grundzügen oder auch detailliert vorgegeben sein. Vielfach ist es jedoch das »Leitsatzrecht«, durch das dieses Schema ausgestaltet ist. Wenigstens auf zwei strukturelle Aspekte dieses weiten Problemfeldes ist in Stichworten einzugehen: (1.) Der eine betrifft ein prinzipielles Problem des Verhältnisses von Regel und Ausnahme. In den Abschnitten I. und II. haben wir es unter den Gesichtspunkten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes oder des Differenzierungsgebotes 68 bereits thematisiert. Nochmals aufgreifen müssen wir aber die »dekonstruktivistische Perspektive« und zwar als methodische Mahnung vor einem Mechanismus, den man die »dialektische Dekonstruktion des Rechts durch Ausnahmen« nennen kann. Die gut begründbare These: »Jeder Fall ist anders« (Derrida), führt zu der gut begründbaren Regel, jeder neue Fall rechtfertige eine neue Ausnahmeregel. Die Sicherheit und Berechenbarkeit, die das Recht schaffen soll, verflüchtigt sich dann schnell in unübersichtliche Kasuistik und Kadijustiz (Max Weber). Dabei lässt sich über die Frage, wann eine Differenzierung geboten, vernünftig, vorzuziehen, gut begründbar oder nur möglich ist, bekanntlich trefflich streiten – die Entscheidung des BVerfG zu den Ausnahmen, die für ein Rauchverbot zu fordern sind, gibt dazu mit den abweichenden Voten ein plastisches Beispiel. 69 (2.) Der andere Aspekt betrifft die Regeln, die schon nach der gesetzgeberischen Intention die Anpassung an den Einzelfall oder an veränderte Situationen der Rechtsprechung überlassen. Es geht um Regelungen mittels unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln. Beide Instrumente können jeweils unterschiedliche Funktionen und Strukturen haben und entsprechend unterschiedlich bildet sich dann auch das Leitsatzrecht aus.

68 69

Dort – III. 1. – auch die Beispiele. BVerfGE 121, 317–388.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

3.

Offene Regelungen – gesetzgeberische Gründe und die Mechanismen der Konkretisierung

Weil allgemein, ist jede Regel mehr oder minder offen; man kann fast immer darüber streiten, ob ein konkreter Fall ein Fall der Regel ist oder nicht. Der Grad der Unbestimmtheit und Allgemeinheit der Regel kann unterschiedlich sein (a). Er lässt der Rechtsprechung dann jeweils unterschiedliche Spielräume für die Konkretisierung. Aber auch hier gilt: Sie muss auf eine Regel zurückgeführt werden können (b). a)

Gesetzgeberische Gründe

Für den Einsatz von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen lassen sich im Wesentlichen vier Gründe ausmachen: 1. Je konkreter eine Regelung ausfällt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sachverhalte, die auch erfasst werden sollten, ungeregelt bleiben. Im Gegensatz zu einer »kasuistischen« Tatbestandsbildung – besondere Fallgruppen werden in ihren Eigenarten näher umschrieben – ist das Ziel deshalb eine »Tatbestandsfassung, die mit großer Allgemeinheit eine Fallgruppe umfasst«. 70 2. Mit der Verwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen schafft der Gesetzgeber wertausfüllungsbedürftige Tatbestände. Er delegiert so das konkrete Wert- bzw. Unwerturteil an die Rechtsprechung. Wandeln sich die Anschauungen und Wertmaßstäbe, kann die Normanwendung angepasst werden, ohne dass das Gesetz angepasst werden müsste. 3. Betritt der Gesetzgeber mit einer Regelung Neuland, sind oft schon mangels Erfahrung mit den Wirkungszusammenhängen neuer normativer Eingriffe die Regelungstatbestände nicht hinreichend konkret zu fassen. Der direkte Weg, wie bei neuer Software, erst einmal eine Beta-Version eines Programms zu Testzwecken zu veröffentlichen, ist kaum gangbar. Die Formel lautet dann üblicherweise: Das Nähere bleibt der Rechtsprechung überlassen. So die Definition der Generalklausel bei Engisch 1975, S. 118 f.; dort, S. 106 ff. auch immer noch lesenswert die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Problematik »Juristenrecht«, unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln.

70

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4. Nicht selten überlässt der Gesetzgeber die nähere Ausgestaltung aber auch einfach deshalb der Rechtsprechung und flüchtet in unbestimmte Rechtsbegriffe oder Generalklauseln 71, weil auch gerade im politischen Prozess der Teufel meist im Detail steckt. Kompromisse lassen sich viel leichter in vagen, abstrakten Formulierungen finden als in konkreten Regelungen und präzisen Zuweisungen von Ansprüchen. b)

Probleme der Konkretisierung

Unterschiedlich sind aber nicht nur die Gründe für die Verwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen, sondern auch ihre Strukturen und die Art und Weise, in denen sie durch die Rechtsprechung in Richterrecht umformuliert und gehandhabt werden. Wir haben es einerseits mit dem sprachlichen Phänomen semantischer Spielräume zu tun, die durch die Verwendung vager Begriffe – und das sind sowohl die Wert- als auch die Allgemeinbegriffe – entstehen (ba), andererseits mit spezifischen Formen des »Juristenrechts« 72, mit solchen Spielräumen umzugehen (bb). ba) Der Umgang mit vagen Begriffen Die Frage, ob im konkreten Fall ein Tatbestand erfüllt oder nicht erfüllt ist, macht – soweit der Sachverhalt und die relevante Entscheidungsnorm geklärt sind – im alltäglichen richterlichen Geschäft meist keine sonderlichen Schwierigkeiten. Probleme treten aber auf, wenn man sich im konkreten Fall durchaus streiten kann, ob die Voraussetzung, die das Tatbestandsmerkmal verlangt, »schon«, »noch nicht« oder »möglicherweise doch« gegeben ist. Das gilt für wertausfüllungsbedürftige Begriffe, also z. B. die Frage, ob etwas »grob unbillig«, »angemessen«, »erforderlich« »unzumutbar« oder jemand »unzuverlässig« ist oder an seiner Verwendung ein »besonderes Interesse« besteht. Das Problem stellt sich aber auch für deskriptive Begriffe, die zwar auf konkrete Tatsachen Bezug nehmen, dabei aber nicht exakt und trennscharf, sondern insoweit ebenfalls vage sind. In beiden Fallgruppen liegt das Grundproblem darin, dass nicht genau bestimmbar ist, welche Tatsachen ein Sachverhalt – als notSiehe den Titel der berühmten Schrift von Justus Wilhelm Hedemann: Die Flucht in die Generalklauseln: eine Gefahr für Recht und Staat. Tübingen 1933. 72 Engisch 1975, S. 188 ff. 71

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wendige und hinreichende Bedingungen – aufweisen muss, um die Feststellung zu rechtfertigen, dass der Tatbestand erfüllt ist. Nehmen wir als Parallelbeispiele die Regelungen über die Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden in § 35 GewO und zur Brandstiftung in § 306 StGB, wonach bestraft wird, wer fremde Wälder in Brand setzt. In beiden Fällen haben wir eine notwendige Bedingung: »Wald« bzw. »Unzuverlässigkeit«; gemeinsam ist beiden das Problem der Bestimmbarkeit: Welche Quantität ist hinreichend? – Wie viele Bäume müssen es sein, um von einem »Wald« sprechen zu können, und ab welcher Höhe rechtfertigen Steuer- oder Abgabenschulden den Schluss auf die Unzuverlässigkeit? Um näher zu bestimmen, was genauer unter einem vagen Begriff zu verstehen ist, haben H.-J. Koch und H. Rüßmann ein Modell entwickelt, das mit folgender Dreiteilung arbeitet: »Es gibt – erstens – Gegenstände, die unzweifelhaft unter den Begriff fallen (sogenannte ›positive Kandidaten‹); es gibt – zweitens – Gegenstände, auf die der Begriff ebenso unzweifelhaft nicht anzuwenden ist (sogenannte ›negative Kandidaten‹); schließlich gibt es – drittens – Gegenstände, hinsichtlich derer nicht entschieden werden kann, ob sie unter den Begriff fallen oder nicht (sogenannte ›neutrale Kandidaten‹).« 73

Vage Begriffe sind dann solche Begriffe, die neutrale Kandidaten haben. 74 Es besteht dann keine eindeutige semantische Regel über die Verwendung eines Prädikates 75 – wie »Wald«, »unzuverlässig«, »Dunkelheit« etc. Die hochstrittige sprachphilosophische Frage, wie sicher solche Verwendungsregeln überhaupt sein können (Kap. 17 III.), kann an dieser Stelle offen bleiben. Hier interessiert uns nur die Frage, wie die Rechtsprechung in einem Streitfall mit solchen semantischen Unschärfen umgeht, d. h. mit welchen Möglichkeiten der Konkretisierung sie arbeitet. Es sind zwei Wege, auf denen die Rechtsprechung eine Lösung des Konkretisierungsproblems zu erreichen sucht: entweder bb) über eine vom Einzelfall unabhängige normativ-inhaltliche Konkretisierung oder bc) über rechtliche oder in der Natur der Beurteilung liegende Vorgaben, die Konkretisierung konkret einzelfallbezogen vorzunehmen.

73 74 75

Koch/Rüßmann 1982, S. 195; vgl. auch Herberger/Simon 1980, S. 287 ff. Koch/Rüßmann 1982, S. 196. Koch 1977, S. 44.

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bb) Konkretisierung durch ergänzende Regeln Die Rechtsprechung konkretisiert den unbestimmten Rechtsbegriff, indem sie eine mehr oder minder klare Grenze zwischen den »positiven Kandidaten« und den so genannten »negativen Kandidaten« zieht. Der Vagheitsspielraum wird dadurch begrenzt oder aufgehoben, dass die strittige sprachliche Verwendungsregel durch eine Auslegungsregel, d. h. durch eine Rechtsregel, ersetzt wird. Vagheit wird durch das Ausscheiden eindeutiger Fälle vermindert. Diese Umwandlung semantisch unklarer und deshalb strittiger Wortverwendungen via »Leitsatzrecht« in rechtliche »Schlussregeln« kann in unterschiedlicher Art und Weise erfolgen. Zur Illustration seien dazu einige typische Beispiele genannt: 1.

Es gelingt eine abstrakte Definition des unbestimmten Rechtsbegriffs. Die Definition macht den Begriff dergestalt subsumtionsfähig, dass sie als »Schlussregel« bzw. Obersatz in die Argumentation eingesetzt werden kann. Musterbeispiel ist die heute selbstverständliche und unumstrittene Umschreibung der »öffentlichen Sicherheit« in der polizeilichen Generalklausel. – Für den Begriff der »öffentlichen Ordnung« ist dies dagegen nicht gelungen. Mit dem Verweis auf »ungeschriebene Regeln, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen unerlässliche Voraussetzung für ein geordnetes Zusammenleben ist«, ist zunächst nur ein vager Begriff durch mehrere andere, ebenfalls vage Begriffe ersetzt. Obwohl deshalb gute Gründe dafür sprechen, die rechtsstaatliche Bestimmtheit dieser Eingriffsermächtigung in Zweifel zu ziehen, sieht die h. M. im Ergebnis dazu keine Veranlassung, weil man die Reservefunktion der Generalklausel, auch außerrechtliche Sozialnormen zu schützen, glaubt nicht aufgeben zu können. Man setzt deshalb auf eine restriktive Praxis. 76 Das klassische Beispiel einer Generalklausel ist § 242 BGB. Sie enthält den die Rechtsordnung als Ganzes prägenden Grundsatz von Treu und Glauben, ein allgemeines Gebot redlichen Verhaltens, das je nach den unterschiedlichen Anwendungsbereichen rechtskonkretisierend, rechtsbegründend, rechtsbestärkend oder

Vgl. zu dieser Diskussion etwa Pieroth/Schlick/Kniesel 2014, § 8 Rn. 46 ff. m. w. N.; dort Rn. 3 auch zur »öffentlichen Sicherheit«.

76

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auch rechtsbeschränkend wirken kann. 77 Entsprechend haben Literatur und Gerichte den offenen Tatbestand – Leistung, Treu und Glauben, Verkehrssitte – funktionsspezifisch konkretisiert. 78 Im Ergebnis wird die typische Genese von Richterrecht deutlich: In der Rechtsprechung bilden sich charakteristische Fallgruppen heraus. Aus diesen sind dann eigenständige (»subsumtionsfähige«) Rechtsinstitute hervorgegangen, so etwa die Verwirkung oder das nunmehr in § 314 BGB gesondert geregelte Recht zur außerordentlichen Kündigung von Dauerschuldverhältnissen und der Anspruch auf Vertragsanpassung nach § 313 BGB. 2.

Ein Beispiel für das Drei-Bereiche-Modell, an dem Engisch das Problem unbestimmter Rechtsbegriffe erläuterte, war die Frage, welcher Zeitpunkt während des Geburtsvorganges dafür maßgeblich ist, ob es sich um Totschlag (»Mensch«) oder um Abtreibung handelt (»Leibesfrucht«). 79 Die Antwort hat der BGH mit folgendem Leitsatz gegeben: »Bei regulärem Geburtsverlauf wird die Leibesfrucht zum Menschen im Sinne der Tötungsdelikte mit dem Einsetzen der Eröffnungswehen«. 80 – Vergleichbare Beispiele für solche Grenzziehungen sind etwa die Feststellung: »Eine Sache ist geringwertig im Sinne von § 243 Abs. 2 StGB, wenn sie die Wertgrenze von 25 Euro nicht übersteigt«, 81 oder die Bestimmung des Grenzwertes der nicht geringen Menge eines Betäubungsmittels. 82

3.

Zur näheren Bestimmung werden Normen herangezogen, die bereits konkrete oder jedenfalls konkretere Begriffsbestimmungen enthalten, etwa die TA Lärm als normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift, der im gerichtlichen Verfahren eine zu beachtende Bindungswirkung zukommt, »soweit sie für Geräusche den unbestimmten Rechtsbegriff der schädlichen Umwelteinwir-

Vgl. etwa Pfeiffer in: jurisPK-BGB, 6. Aufl. 2012, § 242 BGB, Rn. 1. Siehe Palandt/Grüneberg § 242 BGB Rn. 3. (74. Aufl. 2015). 79 Engisch 1975, S. 108 f.; vgl. auch Koch/Rüßmann S. 195. 80 BGHSt 32, 194–197, Weiterentwicklung von BGH, 22. 04. 1983, 3 StR 25/83, BGHSt 31, 348. Kritisch dazu R. Herzberg 2005, JuS 2005, 1 ff. 81 BGH, Beschluss vom 09. 07. 2004 – 2 StR 176/04 – juris Rn. 3. 82 BGHSt 56, 52–71 zur nicht geringen Menge von Benzodiazepinen und Zolpidem. 77 78

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kungen konkretisiert.« 83 So kommt es auch weder im Baurecht noch im Strafrecht, soweit die Eigenschaft als »Wald« streitig ist, auf die Zahl der Bäume an, sondern man arbeitet entweder mit einem Normverweis und nimmt Bezug auf die Begriffsbestimmung in § 2 Bundeswaldgesetz 84 oder, wie in § 306 StGB, mit einer eigenen normbezogenen Definition. 85 4.

Schließlich steht die Rechtsprechung vor dem Problem, für eine Unzahl nahezu gleichgelagerter Fälle aus Generalklauseln – insbesondere des Unterhaltsrechts – für den Einzelfall Berechnungsmaßstäbe zu entwickeln, die jedenfalls in einem gewissen Umfang in gleichen Fällen vergleichbare Entscheidungen gewährleisten. Mittel sind hier die Tabellen und Leitlinien zum Unterhaltsrecht, Rechengrößen zum Zugewinn- und Versorgungsausgleich. Der BGH qualifiziert sie als »auf allgemeiner Erfahrung beruhende Richtsätze, die dem Rechtsanwender die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs des ›angemessenen Unterhalts‹ erleichtern sollen.« »Da die Werte (aber) nur Hilfsmittel für die Unterhaltsbemessung sind, ist das mit ihrer Hilfe gewonnene Ergebnis nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles stets auf seine Angemessenheit und Ausgewogenheit hin zu überprüfen.« 86 Sie haben also nicht die Verbindlichkeit normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften, prägen die Praxis allerdings mit ihrer normativen Kraft des Faktischen. Ähnliches gilt etwa für Streitwertkataloge. 87

BVerwG, NVwZ 2013, 372–375 mit der näheren Feststellung: »Die normative Konkretisierung des gesetzlichen Maßstabs für die Schädlichkeit von Geräuschen ist jedenfalls insoweit abschließend, als sie bestimmte Gebietsarten und Tageszeiten entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit bestimmten Immissionsrichtwerten zuordnet und das Verfahren der Ermittlung und Beurteilung der Geräuschimmissionen vorschreibt. Für eine einzelfallbezogene Beurteilung der Schädlichkeitsgrenze aufgrund tatrichterlicher Würdigung lässt das normkonkretisierende Regelungskonzept der TA Lärm nur insoweit Raum, als es insbesondere durch Kann-Vorschriften (z. B. Nr. 6.5 Satz 3 und Nr. 7.2) und Bewertungsspannen (z. B. A.2.5.3) Spielräume eröffnet (Urteil vom 29. August 2007 – BVerwG 4 C 2.07 – BVerwGE 129, 209 Rn. 12 m. w. N.).« 84 Vgl. BVerwG, NVwZ 2012, 318–319; OVG Lüneburg, DVBl 2012, 772–775. 85 BGHSt 31, 83–86. 86 BGH, NJW 2000, 3140–3142. 87 Gehandhabt werden sie wie Normen; vgl. etwa OVG Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. April 2015 – 2 E 332/15 –, juris. 83

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bc) Regelbindung und Einzelfallentscheidung Oft wird der Richter aber auch auf solche ergänzenden Regeln, auf die er sich stützen könnte, nicht zurückgreifen können. Das Recht verweist ihn vielmehr ausdrücklich auf die Abwägung im Einzelfall. Typisch sind hier zum einen die im Zusammenhang von Sachverhaltsfeststellungen vorzunehmenden »Gesamtwürdigungen« (Kap. 14 II.). Paradigmatisch für die materiellrechtliche Einzelfallabwägung ist die Grundrechtsanwendung über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Doch weil im Recht stets konfligierende Interessen und Wertungen im Spiel sind, die situativ oder jedenfalls fallspezifisch gewürdigt werden müssen, ist die Abwägung nicht anders als die Subsumtion selbstverständlicher Teil der methodischen Praxis. Sie ist ein »im Recht ubiquitärer Entscheidungsmodus«. 88 Als solcher ist er im Schlusskapitel – im Zusammenhang der Herstellung von Kohärenz durch »Subsumtion und Abwägung« (Kap. 26 IV. 3. c) – noch ausführlich zu thematisieren, und zwar gerade auch im Hinblick auf das Problem der Regelbindung der in diesem Modus zu treffenden Entscheidungen. Insofern kann es aber auch genügen, mit den genannten Stichworten an dieser Stelle den Problemzusammenhang darzustellen.

4.

Wertbegriffe und Wertewandel als Problem der Regelbindung

Mit unbestimmten Rechtsbegriffen kann man sich nicht hinreichend befassen, ohne auf die besondere Funktion einzugehen, die sie für Anpassung und Selbstorganisation des Rechtssystems haben. Böckenförde spricht in diesem Zusammenhang von »Schleusenbegriffen« und erläuterte den Ausdruck zur Charakterisierung des Rechtsstaatsbegriffs so: »Er gehört zu jenen vom Wortsinn her vagen und nicht ausdeutbaren Schleusenbegriffen, die sich ›objektiv‹, aus sich heraus niemals abschließend definieren lassen, vielmehr offen sind für das Einströmen sich wandelnder staats- und verfassungstheoretischer Vorstellungen und damit auch für verschiedenartige Konkretisierungen, ohne sich dabei in dessen Inhalt völlig zu verändern, d. h. ihre Kontinuität zu verlieren, und zu einer bloßen Leerformel herabzusinken.« Als weitere Beispiele nennt er die »Freiheits- und Eigentumsklausel«, den Begriff der »Öffentlichen Sicherheit und Ordnung« so88

H.-J. Koch 2003, S. 236.

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wie die »Freiheitlich-demokratische Grundordnung«. 89 Das BVerfG beschreibt in diesem Sinne die Generalklauseln als »die ›Einbruchstellen‹ zur Verwirklichung grundrechtlicher Entscheidungen der Verfassung«. 90 Den »Wertbegriffen« kommt damit eine Rolle zu, die man als ihre osmotische Funktion bezeichnen kann, was heißen soll: Sich verändernde Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen diffundieren in die gesetzliche Norm und erlauben so ohne Tätigwerden des Gesetzgebers eine Rechtsanpassung. Die Veränderung solcher Einschätzungen geschieht oft in kleinen Schritten und diese fallen oft nicht weiter auf, bis dann ein Wandel so selbstverständlich geworden ist, dass frühere Wertungen kaum noch nachvollzogen werden können. Ein nahezu klassisches Demonstrationsbeispiel ist die Entscheidung, in der der BGH, Großer Senat für Strafsachen, 1954 die Feststellung trifft, dass der Geschlechtsverkehr zwischen Verlobten grundsätzlich unzüchtig im Sinne der §§ 180, 181 StGB ist (damals geltende Fassung). In der Begründung konstatiert der Große Senat zunächst eine Entwicklung »zu einer immer stärkeren Relativierung des Unzuchtsbegriffes«. 91 Damit werde, so der entscheidende Kritikpunkt, »eine objektiv geltende und verpflichtende Wertordnung verneint und alles auf die wechselnden Meinungen oder Verhaltensweisen wechselnder Volksteile abgestellt, die der Richter überdies kaum feststellen kann und von denen er nicht weiß, ob hinter ihnen wirklich eine sittliche Überzeugung steht oder bloße Gleichgültigkeit oder aber noch das Gefühl für das Ordnungswidrige des Geschehens«. 92 Um den Wert- bzw. Unwertbegriff »Unzucht« zu konkretisieren, formuliert der Senat das Problem deshalb zunächst mit der grundsätzlichen Frage, ob das »das Gebot geschlechtlicher Zucht […] ein Gebot der bloßen Sitte, der bloßen Konvention oder eine solche der Sittlichkeit, des Sittengesetzes ist«, und erläutert dies dann näher: »Gebote der bloßen Sitte, der Konvention leiten ihre (schwache) Verbindlichkeit nur aus der Anerkennung derjenigen her, die sie freiwillig anerkennen und befolgen; sie gelten nicht mehr, wenn sie nicht mehr anerkannt und befolgt werden; sie ändern ihren Inhalt, wenn sich die Vorstellung über das, was die Sitte verlangt, ändert. Normen des Sittengesetzes dagegen gel-

89 90 91 92

E.-W. Böckenförde 1976a, S. 65 f. BVerfGE 49, 220–243 unter Hinweis auf E 42, 143, 148. BGHSt 6, 46–59 – juris Rn. 7. BGHSt 6, 46–59 – juris Rn. 8.

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ten aus sich selbst heraus; ihre (starke) Verbindlichkeit beruht auf der vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte und der das menschliche Zusammenleben regierenden Sollenssätze; sie gelten unabhängig davon, ob diejenigen, an die sie sich mit dem Anspruch auf Befolgung wenden, sie wirklich befolgen und anerkennen oder nicht; ihr Inhalt kann sich nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln.« 93 Die Entscheidung zugunsten der »(starken) Verbindlichkeit« wird nun allerdings mitnichten begründet, sondern es wird ex cathedra festgestellt: »Nun kann es aber nicht zweifelhaft sein, daß die Gebote, die das Zusammenleben der Geschlechter und ihre geschlechtlichen Beziehungen grundlegend ordnen und die dadurch zugleich die gesollte Ordnung der Ehe und der Familie (in einem entfernteren Sinne auch die des Volkes) festlegen und verbürgen, Normen des Sittengesetzes sind und nicht bloße dem wechselnden Belieben wechselnder gesellschaftlicher Gruppen ausgelieferte Konventionalregeln.« 94

Ich habe diese Entscheidung deshalb so ausführlich zitiert, weil sie durchaus folgerichtig und auch verallgemeinerungsfähig die Konkretisierungsprobleme benennt, die sich bei Wertungen stellen, die auf allgemeine Anschauungen und Wertvorstellungen Bezug nehmen. Zum anderen macht sie die Zeitgeistabhängigkeit solcher Wertungen und Konkretisierungen deutlich. Die Wertung durch den BGH war damals schon alles andere als »nicht zweifelhaft« 95, konnte aber jedenfalls an durchaus nicht nur periphere Strömungen des Zeitgeistes anknüpfen – etwa an die Grundeinstellungen, die nach 1945 in der »Naturrechtsrenaissance« zum Ausdruck kamen. Eine Gerichtsentscheidung, die heute in dieser Form mit Vorstellungen eines unveränderlichen Sittengesetzes operieren würde, hätte dagegen keine Chance mehr, noch mit einer hinreichenden Akzeptanz rechnen zu können. – An dem Beispiel zeigt sich aber auch klar, dass die in diesem Abschnitt zu behandelnde Frage des rechtstechnischen Umgangs mit wertausfüllungsbedürftigen Begriffen nur einen Ausschnitt aus dem grundsätzlichen Thema erfasst, unter welchen Bedingungen Urteile als gerechte Entscheidungen Akzeptanz finden können. In Bezug auf die Akzeptanz einer Sachverhaltsfeststellung haben wir diese Frage insbesondere als Problem der Akzeptanz zugrunde gelegter Alltagstheorien und Erfahrungssätze bereits erörtert. Für die rechtlichen Feststellungen ist dies zentral eine Frage der Akzeptanz des recht93 94 95

BGHSt 6, 46–59 – juris Rn. 10. BGHSt 6, 46–59 – juris Rn. 12. Vgl. etwa Schönke/Schröder StGB 10. Aufl. 1961 § 181 II 2 a, S. 761.

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lichen Prämissenrahmens, in dem die Entscheidung zu begründen ist (Kap. 8 V.).

IV. Vertikale Struktur der Regelbindung – Gesetzesbindung und Systemtheorie Wie eingangs gesagt: Unumstritten ist die in diesem Kapitel dargestellte Sicht notwendiger Regelbindung nicht. Ins Grundsätzliche geht hier insbesondere die Kritik von W. Grasnick. An die Stelle des Postulates der Gesetzesbindung tritt »der systemtheoretisch fundierte Ausschluß des Gesetzgebers aus dem Rechtssystem. Der landet dann dort, wo er hingehört. Im politischen System.« Und mit ihm auch »seine Produkte, die Gesetze«. 96 Aus diesem auf Luhmann gestützten Ansatz ergibt sich für Grasnick die These, »dass Gesetze eben nichts anderes sind als Topoi, mehr oder weniger nützliche Materialien für den Rechtsherstellungsprozess«. 97 Es liegt auf der Hand, dass diese grundsätzliche gesetzesskeptische Position mit der in diesem Kapitel zugrunde gelegten Konzeption der Regelbindung unvereinbar ist. Doch die Gründe, sie nicht zu teilen, geben zugleich auch Gelegenheit, die vertikale Struktur der Regelbindung zu verdeutlichen und näher zu begründen.

1.

Das Gesetz – nur ein Topos?

Unstrittig ist zunächst, dass die Gesetzesbindung nicht mehr mit dem Vorverständnis des Gesetzespositivismus erörtert werden kann. Schon der Sachverhalt ist ein Konstrukt und alle bisherigen Überlegungen zur Regelbindung haben gezeigt, dass und warum es einen logisch determinierten Ableitungszusammenhang zwischen Gesetz und Rechtsfeststellung nicht geben kann. Mit der Gleichsetzung von Gesetz und Topos wird die Gesetzesbindung allerdings prinzipiell aufgegeben. Sind Gesetze nur »Topoi im Rahmen der juristischen Argumentation« 98, ist das Gesetz nur ein Argument, das jederzeit durch ein einleuchtenderes Argument verdrängt werden 96 97 98

W. Grasnick 2000, S. 156. W. Grasnick 2000, S. 158. W. Grasnick 2000, S. 158.

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kann. Eine Argumentation nach dem Grundschema: »das steht zwar so und so im Gesetz, für meine Auffassung sprechen jedoch die besseren Gründe«, war zwar in der antiken Rhetorik, wie man bei Aristoteles nachlesen kann, 99 durchaus üblich, ist heute in einer juristischen Argumentation aber prinzipiell unzulässig. Aufgrund der vertikalen Struktur der Regelbindung wäre eine solche Argumentation nur dann zulässig, wenn sie einem höherrangigen Rechtssatz entnommen wäre. Die Konsequenzen, die dann zu ziehen wären, hingen im Übrigen davon ab, ob und inwieweit in diesem Fall eine Verwerfungskompetenz bestünde. Sinnvoll ist eine Gleichsetzung von Regel und Topos allerdings auf der jeweiligen horizontalen Ebene. So kann ein Gericht von einer Regel des Richterrechts abweichen, wenn es dafür die besseren Gründe hat – also aufgrund des typischen topischen Verfahrens. Auch für den Gesetzgeber ist das geltende eigene Gesetz nur ein Topos in der Argumentation, wenn es um eine Änderung geht. Die Verfassung darf er dagegen auch mit besseren Argumenten nicht beiseiteschieben. Und das gilt auch für die Regelungsebene, die wir bisher noch nicht berücksichtigt haben – das EU-Recht. Wenn der Bundestag eine EU-Richtlinie in nationales Recht umsetzen muss, dann sind diese Richtlinien eben keineswegs »nichts anderes […] als Topoi, mehr oder weniger nützliche Materialien für den Rechtsherstellungsprozess«. Er muss sie umsetzen, gegebenenfalls einschließlich der Rechtsregeln, die sich aus inzwischen ergangenen Entscheidungen des EuGH ergeben. Gerade für die spezifischen methodischen Probleme des Zusammenspiels von nationalem und EU-Recht 100 würde ein Ausklammern des Gesetzgebers und des Gesetzes aus dem Rechtssystem den Blick auf wesentliche Momente der Regelbildung und Regelbindung verstellen: etwa, dass der nationale Gesetzgeber wesentlich nur die Funktion eines Rechtsanwenders hat, wenn er eine Richtlinie umsetzt, 101 und dass er dann auch die Rechtsbegriffe nicht mehr eigenständig definieren darf. 102 Wie auch der nationale Richter, der ein solches Gesetz anzuwenden hat, dabei nicht nur an das Gesetz, sondern auch an Aristoteles, Rhetorik, übersetzt (Hbd. I) und erläutert (Hbd. II) von Christof Rapp, Berlin 2002, Hbd. I, I 1375 (S. 66); Hbd. II, S. 509 f. 100 Zum Überblick vgl. M. Herdegen 2014, § 8 Rn. 73 ff. 101 Zum zweistufigen Rechtsetzungsverfahren der Umsetzung vgl. Herdegen 2014, § 8 Rn. 36 ff.; näher zur Umsetzungspflicht Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/ AEUV, Kommentar, Art. 288 AEUV Rn. 23 ff. (4. Aufl. 2011). 102 Zur einheitlichen Auslegung autonomer Begriff des Unionsrechts siehe die Ent99

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die Richtlinie und die oft schon vorliegenden Entscheidungen des EuGH gebunden ist. 103

2.

Das Mehrebenensystem – das Regelwerk der Regelbindung

Wir haben es also mit einem Gefüge von Regelebenen zu tun, das durch verfassungs- und europarechtliche Normen hierarchisch – und keineswegs topisch – strukturiert ist. Zentral für die Kohärenz dieses Mehrebenensystems ist ein Netz von Regeln, die – im Fluss unzähliger Einzelentscheidungen und Anpassungen an veränderte Umweltbedingungen – die Einheit des Systems sicherstellen sollen, sei es unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung oder dem der Einheitlichkeit der Rechtsprechung (Art. 95 Abs. 3 GG), die wir im Teil A bereits ausführlich erörtert haben, um die institutionelle Einbindung richterlicher Methodik zu belegen. Die Regel des Art. 95 Abs. 3 GG ist aber nur ein Beispiel. Unter dem Gesamtaspekt der Kohärenz des Rechtssystems haben wir es mit einer Vielfalt von Regeln zu tun, die die Regelbindung der Rechtsprechung gewährleisten sollen:

scheidung SGAE, EuGH, Urteil vom 21. 10. 2010, C-467/08, Celex-Nr. 62008CJ0467 – juris Rn. 37, Tenor 1. 103 Veranschaulicht sei die Wirkungsweise im Mehrebenensystem am Beispiel § 439 BGB: Der Nacherfüllungsanspruch ist 2002 im Zuge der Schuldrechtsreform eingefügt worden. Die »Zielsetzung« des »Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts« wurde einleitend mit folgenden Sätzen begründet: »Die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 1999/44/EG vom 25. Mai 1999 ist nach ihrem Artikel 11 Abs. 1 bis zum Ablauf des 31. Dezember 2001 in deutsches Recht umzusetzen. Sie sieht namentlich vor, dass Verbraucher bei Kaufverträgen neben Wandelung und Minderung auch Ansprüche auf Nachbesserung oder Ersatzlieferung haben und dass diese Ansprüche in zwei Jahren (statt bisher in sechs Monaten) verjähren.« Es folgt der Hinweis auf zwei weitere Richtlinien, die umzusetzen sind. Auch die detaillierte Einzelbegründung stellt dann auch ausdrücklich immer wieder auf die Richtlinie 1999/ 44/EG ab. Gleichwohl ist es auf der Anwendungsebene immer wieder zu Streitfragen gekommen. Einen Zwischenstand dokumentiert eine BGH-Entscheidung vom 17. 10. 2012 (NJW 2013, 220–223) mit folgendem Leitsatz: »§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB ist richtlinienkonform dahin auszulegen, dass die Nacherfüllungsvariante ›Lieferung einer mangelfreien Sache‹ neben dem Ausbau und Abtransport der mangelhaften Kaufsache auch den Einbau der als Ersatz gelieferten Sache erfasst (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 16. Juni 2011, Rechtssachen C-65/09 und C-87/09, NJW 2011, 2269; BGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, VIII ZR 70/08, NJW 2012, 1073).«

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1.

2.

3.

4.

5.

Die Vorrangregeln, also die Regeln, die in der herkömmlichen Rechtsquellenlehre die »Rechtsquellenhierarchie« bestimmen: Beispiele sind die Art. 31, 28, 80 GG oder der Grundsatz »Lex posterior derogat legi priori«. Für das EU-Recht geht der EuGH in st.Rspr. von einem Grundsatz des uneingeschränkten Vorrangs des Gemeinschaftsrechts aus. 104 Regeln, die eine Bindung der Rechtsprechung unmittelbar aussprechen, etwa Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3, Art. 25 GG; die Vorlagepflicht, die Art. 234 Abs. 3 EGV anordnet. Die Regeln des Rechtsmittelrechts, deren Funktion immer auch in Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung liegt. Dazu gehören auch die unabhängig von Anträgen der Parteien bestehenden Vorlagepflichten, etwa Art. 100, Art. 95 Abs. GG; Art. 234 Abs. 3 EGV. Auf der »Erkenntnisebene« die methodischen Regeln zur Gesetzesauslegung und die Regeln zur »verfassungskonformen Auslegung« und auf der EU-Ebene die Grundsätze der »richtlinienkonformen Auslegung«. 105 Schließlich Regeln, die ein Eingreifen ermöglichen, wenn Gerichte Regeln der vorgenannten vier Ebenen eindeutig missachten. Wird etwa ein Vorlageverfahren nach Art. 234 Abs. 3 EGV nicht eingeleitet oder unterbleibt eine notwendige Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe, so verletzt dies die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). 106 – In anderen Fällen von Missachtung der Bindung an höherrangige Regeln, die nicht mehr im Instanzenzug korrigiert werden können, liegt das Dilemma in einer oft prinzipiell schwierigen Grenzziehung. Es gibt, wie gesagt, grundsätzlich keine Regeln ohne Spielräume – andererseits: »mit welchem Spielraum [auch] immer für die Interpretation« eine Regel angewandt wird, so hat jeder Spielraum Grenzen, die auch überschritten werden können. Sind diese Grenzen überschritten, nimmt die Rechtsprechung des BVerfG eine Verletzung von

Grundlegend die Entscheidung Costa ./. E.N.E. L. (Rs 6/64, Slg. 1964, 1251, 1269 ff.). Zur Übersicht: Herdegen 2014, § 10 Rn. 1 ff. 105 Vgl. Herdegen 2014, § 8 Rn. 41. 106 Näher zur Vorlage an den EuGH siehe BVerfGE 82, 159–198. Zu Art. 95 Abs. 3 GG vgl. BVerfG 2. Senat 3. Kammer, B. v. 23. 10. 1991 – 2 BvR 776/90 – juris. 104

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Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 2 Abs. 1 GG bzw. Art. 3 Abs. 1 GG an 107. In der Formulierung des BVerfG: »Die Auslegung des einfachen Rechts, die Wahl der hierbei anzuwendenden Methoden sowie seine Anwendung auf den Einzelfall sind Sache der dafür zuständigen Fachgerichte und vom Bundesverfassungsgericht nicht auf ihre Richtigkeit zu untersuchen. Nur wenn die Gerichte hierbei Verfassungsrecht verletzen, kann das Bundesverfassungsgericht auf eine Verfassungsbeschwerde hin eingreifen. Das ist nicht schon dann der Fall, wenn eine Entscheidung am einfachen Recht gemessen objektiv fehlerhaft ist (vgl. BVerfGE 1, 418 h420i; 18, 85 h92 f.i; 113, 88 h103i). Setzt sich die Auslegung jedoch in krassen Widerspruch zu den zur Anwendung gebrachten Normen und werden damit ohne entsprechende Grundlage im geltenden Recht Ansprüche begründet oder Rechtspositionen verkürzt, die der Gesetzgeber unter Konkretisierung allgemeiner verfassungsrechtlicher Prinzipien gewährt hat, so beanspruchen die Gerichte Befugnisse, die von der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen sind.« 108 Der Richter hat zwar, wie sich zeigen wird, eine – eingeschränkte – Freiheit in der Methodenwahl, 109 und die »Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse [gehört] zu den Aufgaben der Dritten Gewalt.« 110 »Dabei ist [jedoch] den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen.« 111 Eine Interpretation, die »sich mit keiner der anerkannten Auslegungsmethoden rechtfertigen« lässt, 112 überschreitet die Grenzen des richterlichen Interpretationsspielraums und damit auch die Grenzen richterlicher Kompetenz. Es sind also die Regeln methodischer Gesetzesauslegung und -Anwendung, die, verfassungsrechtlich gesehen, die rechtsstaatliche Grenze zur Willkür markieren. Und wenn das BVerfG die Grenze damit begründet, dass die richterliche Rechtsfortbildung nicht dazu führen darf, »dass der Richter seine eigene materielle GerechtigkeitsvorstelArt. 3 Abs. 1 ist verletzt, wenn das Gericht »die Rechtslage in krasser Weise verkannt« hat, BVerfGK 18, 515–519 m. w. N. 108 BVerfGE 128, 193–224 – juris Rn. 51. 109 Bezogen auf die Auslegung näher Kap. 20. 110 BVerfGE 128, 193–224 – juris Rn. 53. 111 BVerfG 1. Senat 3. Kammer B. v. 04. 04. 2011 – 1 BvR 1803/08 – juris Rn. 15 mit Hinweis auf BVerfGE 84, 212 h226i; 96, 375 h395i. 112 BVerfGE 128, 193–224 – juris Rn. 68. 107

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lung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt« 113, stellt es – aus systemtheoretischer Sicht – fest, dass der Richter die strukturelle Koppelung nicht in Frage stellen darf. 114 Der Grundgedanke bleibt dabei gleich: Eine ungebundene Freiheit von Amtsträgern kann eine differenzierte, demokratische Gesellschaft strukturell nicht akzeptieren.

3.

Der systemtheoretische Ansatz: Gesetz und strukturelle Koppelung

Die Systemtheorie Luhmann’scher Prägung hat mithin gute Gründe, prinzipiell zwischen dem Rechtssystem und dem politischen System zu differenzieren. Für Luhmann unterscheiden und bestimmen sich die Systeme durch die unterschiedlichen »Codes«, nach denen sich die Systeme funktional organisieren – das politische System nach dem (binären) Code Regierung/Macht – Opposition, das Rechtssystem nach dem (binären) Code Recht – Unrecht. Betrachten wir diese Differenz aus der Sicht juristischer Methodik, entspricht sie dem Unterschied, den wir machen müssen, wenn wir nach den Gestaltungsspielräumen und Prinzipien der Rechtserzeugung fragen, die auf den unterschiedlichen Regelungsebenen der Gesetzgebung und des Richterrechts bestehen. Hier unterscheiden sich Gesetzgebung und Richterrecht grundsätzlich. Der Gesetzgeber kann seine Spielräume, die ihm höherrangiges Recht lassen, frei ausgestalten – frei nach seinen politischen Vorstellungen. Was er als Recht setzt, ist – im alten Sprachgebrauch – gewillkürtes Recht. Der Richter, der eine Regel zu bilden hat, wenn dem Gesetz keine Regel entnommen werden kann, hat dagegen diese Freiheit nicht. Er kann sich nicht auf einen politischen oder moralischen Gestaltungswillen oder -auftrag berufen, sondern muss seine Regeln aus vergleichbaren Normen, allgemeinen Rechtsgrundsätzen und Rechtsüberzeugungen ableiten. Das gilt für den Amtsrichter nicht anders als für den EuGH. Insofern sind die Grenzen und Maßstäbe, die das Schweizer Recht mit Art. 1 Abs. 3 ZGB der richterlichen Rechtsetzung vorgibt, auch systemimmanent. BVerfGE 128, 193–224 – juris Rn. 52. In diesem Sinne auch die Ausführungen zur strukturellen Koppelung von Di Fabio 2012, S. 65 ff.

113 114

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Die juristische Methodik muss deshalb, so das Fazit, sowohl von einer Steuerungsfunktion des Gesetzes und des Gesetzgebers 115 ausgehen als auch die eben beschriebene Systemdifferenz theoretisch einbeziehen. Die Charakterisierung als »Mehrebenensystem« soll genau dieses Sowohl-als-auch begrifflich erfassen. Das setzt aber zugleich eine theoretisch befriedigende Antwort voraus, wie dann die Systemdifferenz »eingebaut« wird. Dabei ist es allerdings nicht so sehr von Bedeutung, ob und inwieweit die Antwort genau in das Luhmann’sche »Theoriedesign« 116 passt. Wichtig ist nur, dass die beschriebene Systemdifferenz zwischen politischem System und Rechtssystem auf der Ebene Kognition und Kommunikation nicht zu einer Differenzierung zwischen Gesetz und Richterrecht zwingt, die das Bindungspostulat als rein fiktional erscheinen lässt oder, anders gesagt, die es prinzipiell ausschließt, einen Kohärenzzusammenhang zwischen den unterschiedlichen Regelungsebenen herzustellen. Und hier erweist sich die aus der Systemtheorie Luhmanns entwickelte These Grasnicks zur prinzipiellen Unmöglichkeit, die Regelbindung auch als Bindung an das Gesetz zu verstehen, mitnichten als zwingend. Luhmann nutzt zur Beschreibung des Verhältnisses von Gesetz und Rechtssystem keineswegs nur das System/Umwelt-Schema, sondern arbeitet auch mit der »Differenzierungsform von Zentrum und Peripherie innerhalb von Funktionssystemen«. 117 In diesem Zentrum/Peripherie-Schema wird die Organisation der Gerichtsbarkeit dem Zentrum zugeordnet, während das Vertragswesen (etwa der Bereich der AGBs) und insbesondere die Gesetzgebung der Peripherie zugewiesen werden. Die Peripherie ist für Luhmann die »Kontaktzone zu anderen Funktionssystemen der Gesellschaft«. 118 In ihr »werden Irritationen in Rechtsform gebracht«, 119 und es ist der Bereich der »über politische Konsensbildung zustande gekommenen Gesetze,« 120 die dann den Gerichten als Programme vorgegeben werden. »Programme« nennt Luhmann die »Regeln, die darüber entscheiden (mit welchem Spielraum immer für die Interpretation)« 121, wie »die Werte 115 116 117 118 119 120 121

Zu dieser Funktion und ihren Grenzen ausführlich Kap. 20. Luhmann 1984, S. 26; ein von Luhmann häufiger verwendete Ausdruck. Luhmann 1995, S. 334. Luhmann 1995, S. 322. Luhmann aaO. Luhmann 1995, S. 323. Luhmann 1995, S. 93; zum grundsätzlichen Zusammenhang ferner S. 84, 189.

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Recht und Unrecht zugeteilt werden« 122, also wie die Codierung zu handhaben ist. Die Programme des Rechtssystems sind für ihn grundsätzlich Konditionalprogramme 123 und er denkt dabei an »Rechtsgesetze, aber auch an andere Entscheidungsprämissen des Rechtssystems, etwa an Selbstbindung durch Präjudizien in der Gerichtspraxis.« 124 Für unseren Gedankengang festzuhalten ist dabei zunächst die Selbstverständlichkeit, mit der Luhmann Gesetz und Gesetzgebung auch dem Rechtssystem zuordnet. Der Gesetzgeber, der, anders als die Gerichtsbarkeit im Zentrum des Rechtssystems, keinem Entscheidungszwang unterliegt 125, arbeitet zwar nach dem Code des politischen Systems bei der Entscheidung, ob und mit welchem Inhalt er ein Gesetz erlässt. Das Gesetz muss aber von ihm »in eine Form gebracht werden, die gegebenenfalls vom Rechtssystem als verbindliches Recht gelesen werden kann«. 126 Das »Programm« muss also im Code des Rechtssystems geschrieben werden. Das Gesetz verknüpft so die Teilsysteme Politik und Recht und schafft das, was Luhmann »strukturelle Koppelung« nennt. 127 Aus dieser Sicht stellt sich die Gesetzesbindung »als strukturelle Koppelung von Politik und Recht« dar, 128 und die »Rechtstextabhängigkeit (Bindung nur an das geltende Recht)« 129 wird zu einer Bedingung für eine strukturelle Koppelung. Auch für die »Sprache des Rechts« ist damit ein wesentlicher Tatbestand festzustellen: Beide Systeme nutzen die gleiche (Fach-)Sprache – und insofern muss eine Kommunikation, d. h. hier das Verstehen eines Gesetzestextes durch den Richter, auch nicht an der prinzipiellen Systemdifferenz scheitern. 130 Um Missverständnisse zu vermeiden, die die Verwendung des Wortes »Programmierung« – für das »an der Computersprache getankt« wurde 131 – nahelegt: Es geht nicht um die Vorstellung eines AaO. Luhmann 1995, S. 195 ff. 124 Luhmann 1995, S. 93. 125 Luhmann 1995, S. 310 ff., 320 ff.; die EU-Richtlinien bleiben unberücksichtigt. 126 Luhmann 1995, S. 325 f. 127 Zu diesem Zentralbegriff der Systemtheorie Luhmanns ist die erklärende und kritische Literatur fast unübersehbar. Einen guten Einstieg bietet die Vorlesungsveröffentlichung, Luhmann 2005, S. 254 ff. 128 Di Fabio 2012, S. 66. 129 Luhmann 1995, S. 330. 130 Näher dazu Kap. 17 II. 3. 131 So die Formulierung von Luhmann 2005, S. 266. 122 123

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16 · Rechtsprechung und Regelbindung

Gesetzgebers, der via Gesetz den Rechtssprechungsprozess operativ steuert, nicht um den Richter als Subsumtionsautomaten. Natürlich kann eine Gesetzgebung sehr detailreich sein und für Interpretationen kaum Spielräume lassen, jedenfalls nicht in den Kernregelungen (z. B. Änderung von Fristen, Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern, Voraussetzungen für konkrete Leistungsansprüche etc.). Aber das nimmt dem Rechtssystem nicht seine Eigenschaft der Selbstreferenz. Mitzudenken ist bei der »Programmierung« stets: »mit welchem Spielraum immer für die Interpretation«. Es gibt grundsätzlich keine Regeln ohne Spielräume. Das führt zu einem weiteren wichtigen Zwischenergebnis: Gehen wir davon aus, dass wir zwischen Gesetz und Rechtsfeststellung keinen logisch determinierten Ableitungszusammenhang annehmen können, liegt der Schlüssel für das Problem der Gesetzesbindung auch nicht wesentlich in der systemtheoretischen Differenz zwischen politischem System und Rechtssystem. 132 Es ist ein Problem des Spielraums, den das Gesetz der Interpretation lässt. Zu analysieren sind also die Spielräume, die Sprache und System schaffen oder einengen.

Diese Differenz wird insbesondere wirksam, wenn es um die unterschiedliche Systemrationalitäten geht, die die unterschiedlichen Codes beider System fordern (Recht/Unrecht einerseits Macht/Opposition andererseits); vgl. dazu näher Kap. 20 IV. 3. a.

132

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Kapitel 17 Rechtsprechung und Sprache

Wer über Rechtsprechung spricht, muss auch über Sprache sprechen. Rechtssätze sind Sprachgebilde. Und jeder Rechtsstreit – das unterscheidet ihn von dem Streit, der mit Gewalt ausgetragen wird – wird über die Sprache geführt, wie auch jeder Diskurs über das Recht nur mit Argumenten geführt werden kann, die sich in Sprache fassen lassen. In diesem Kapitel müssen wir dazu konkret werden und uns der Frage stellen, wie der Rechtsprechungsprozess durch Sprache determiniert wird. Dazu gehört notwendig auch die Einsicht, dass Sprache kein willfähriges Mittel ist. – Oft misslingt Kommunikation, obwohl alle Beteiligten Verständigung wollen. Sie ist selten so eindeutig, wie eigentlich angestrebt. Und Sprache ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern auch ein Mittel, andere von der Kommunikation auszuschließen. Wird der allgemeine Sprachgebrauch verlassen und gilt ein spezifischer juristischer Gebrauch, so schließt dieser diejenigen von der Kommunikation aus, die sich auf diesen Sprachgebrauch nicht verstehen (I.). Mit der Feststellung, dass Rechtssätze, weil sie Sprachgebilde sind, durch ihren Text allein in ihrer Bedeutung nicht so eindeutig bestimmt sein können, dass sie von jedem Richter auch gleich verstanden werden, steht die Methodik zugleich vor einem ihrer zentralen Probleme: Muss die Regelbindung nicht spätestens an ihrer Sprachlichkeit scheitern? Ist die Regelbindung nur eine Art rechtsstaatlicher Fetisch oder gibt es bei näherem Hinsehen gleichwohl Mechanismen, die es erlauben, von einer Bindung des Richters an Regeln zu sprechen? Um die Grundthese vorwegzunehmen: Eine wesentliche Bedingung der Regelbindung liegt in der Eigenart des spezifischen juristischen Gebrauchs des »Juristischen« als Fachsprache. Zu erörtern sind deshalb zunächst die Differenzierung Alltagssprache – Fachsprache (I.) und Grundfragen der Gebrauchstheorie der Sprache (II.). Entscheidend wird dann sein, ob und inwieweit über die 334 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

17 · Rechtsprechung und Sprache

(Fach-)Sprache ein hinreichendes Maß an semantischer Stabilität erreicht werden kann (III. u. IV.). Dazu gehören auch Überlegungen zur »Wortlautgrenze« (V.).

I.

Der Gerichtssaal als Kommunikationsraum

Der Gerichtssaal ist ein Kommunikationsraum, aber ein Kommunikationsraum eigener Art. Kommuniziert werden Geschichten, Tatsachen- und Rechtsbehauptungen, also Argumente, mit denen Rechtspositionen begründet oder zurückgewiesen werden sollen. Getragen sind sie keineswegs von Motiven »kooperativer Wahrheitssuche« (Habermas) als Bedingung einer idealen Sprechsituation, sondern von der mehr oder minder manipulativen Absicht, auf die »Wahrheitssuche« des Richters Einfluss zu nehmen. Auch ist dieser Kommunikationsprozess weder »zwanglos«, noch findet er unter »gleichen Teilnehmern« statt. Er ist, wie bei der Sachverhaltsermittlung bereits erörtert (Kap. 10 III. 2.), strukturell asymmetrisch. Für das Rechtsgespräch gilt dies in noch viel stärkerem Maße. Es agieren vornehmlich die Professionals: der Richter, die Anwälte der Parteien, Staatsanwälte, Behördenvertreter. Sie »verstehen« sich – jedenfalls in aller Regel –, obwohl sie unterschiedliche Rollen und Interessen haben. Die Überblendung dieser kommunikativen Situation auf die eigentlichen Beteiligten, auf Kläger und Beklagte, Angeklagte also, oder auf Zeugen und Zuhörer, führt mit gleicher Regelmäßigkeit zu einer völligen Fehleinschätzung: Die Nicht-Professionellen verstehen von dem Prozessgeschehen meist nur wenig. Sie nehmen an diesem Kommunikationsprozess grundsätzlich nicht gleichberechtigt teil. Hinzu kommt die mentale Asymmetrie. Für die Professionals kann der Prozess als ein Verfahren professioneller Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung beschrieben werden; für die Betroffenen ist es ein Kampf, ein Streit um Positionen, in aller Regel erleben sie ihn viel elementarer auch als emotionalen Prozess. Sprache ermöglicht, wie gesagt, nicht nur Kommunikation. Sie schließt auch aus, wenn man den Sinn dessen, was da kommuniziert wird, nicht voll verstehen kann. Das kann schon dann passieren, wenn Richter und Anwälte Umgangssprache als »gehobene« Sprache sprechen oder sich, besonders »volksnah«, munter im Dialekt unterhalten, dem einer der Beteiligten nur mit Mühe folgen kann. Kaum überwindbar wird die Sprachbarriere, wenn – wie im Gerichtssaal 335 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

häufig – die Sprache zur juristischen Fachsprache wird, die man als Laie nicht oder jedenfalls nicht vollständig verstehen kann. Aus einer anderen Perspektive: Wenn der Richter mit den Beteiligten rechtliche Fragen erörtert, merkt er oft gar nicht, dass Nichtjuristen meist nicht wirklich abschätzen können, was er sagt. Selbst Worte wie »Vergleich«, »Klagerücknahme« etc. werden meist nicht hinreichend erfasst. Denn ein Laie wird oft nicht genau abschätzen können, welche rechtlichen Konsequenzen mit ihnen verbunden sind oder sein können.

1.

Alltagssprache – Fachsprache

Diese Asymmetrie – das Dilemma der Rechtssprache – ist zwar immer wieder Anlass, Verständlichkeit anzumahnen, aber doch letztlich ein Spezifikum rechtlicher Kommunikation. So behandelt die Sprachwissenschaft die Rechtssprache einerseits ganz selbstverständlich als Fachsprache 133, während man andererseits immer wieder die Notwendigkeit einer Alltagssprachlichkeit hervorhebt. Die Rechtssprache hebe sich zwar von der Allgemeinsprache deutlich ab; weil sie das »Mittel zum verbindlichen Regeln gegenüber jedermann ist, also die Allgemeinheit des Staatsvolks betrifft«, dürfe sie jedoch nicht »zu einer ausschließlich von einer bestimmten Berufsgruppe verwendeten und verstandenen Fachsprache werden«, so der grundsätzliche Einwand Paul Kirchhofs. »Die Sprache des Rechtslebens ist deshalb nicht Fachsprache, sondern fachlich geprägter Teil einer an die Allgemeinheit gewendeten oder in ihren Inhalten zumindest der Allgemeinheit vermittelten Sprache.« 134 Noch radikaler der Linguist W. Klein: »Ein Gemeinwesen, in dem das Volk herrscht, darf nicht von Gesetzen beherrscht werden, die das Volk nicht versteht«. 135 Was dabei verkannt wird: Das Recht hat es zwar täglich mit dem Alltag zu tun, ein Mindestmaß systemnotwendiger Stabilität und Verlässlichkeit kann das Rechtssystem jedoch nur über seine Fachsprachlichkeit erlangen. Und dies geht zwangsläufig auf Kosten all-

Zur Übersicht vgl. B. Jean d’Heur, in: »Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft«, Bd. 14.1, im Abschnitt XVI »Wissenschaftliche Fachsprachen des Deutschen«, S. 1286 ff.; siehe auch W. Kahl 2006, S. 389 f. 134 P. Kirchhof 1987, S. 5 f. 135 W. Klein 2004, so der Titel. 133

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gemeiner Verständlichkeit. Von einem »fachlich geprägte(n) Teil einer an die Allgemeinheit gewendeten« Sprache statt von Fachsprache zu reden, verdeckt demgegenüber eher das Problem des »Juristischen«, das N. Luhmann zutreffend in folgender Beschreibung analysiert hat: »Rein von der Sprache her gesehen, käme man nie auf die Idee, den juristischen Diskurs für ›autonom‹ oder für ein operativ geschlossenes System zu halten; und er findet ja auch in der Gesellschaft statt. Das Problem ist nur, daß man ihn oft nicht verstehen kann, wenn man nicht speziell dafür geschult ist. Und das schließt nicht nur Sinnverstehen ein, sondern auch und erst recht das Verstehen der Intention und der Folgen bestimmter Mitteilungen.« 136 Als Beispiele sind der »Vergleich« und die »Klagerücknahme« oben schon genannt worden.

2.

Die Janusköpfigkeit der Rechtssprache

Es ist gerade die Janusköpfigkeit der Rechtssprache, die ihre Funktion ausmacht. Worte wie »Besitz«, »Leihe«, »vergleichen«, »unverzüglich«, »fahrlässig«, »Sache«, »Nachbar«, »sozialer Rechtssaat«, »fremd«, »Schaden« – diese Wortliste könnte nahezu bis auf Dudenlänge fortgesetzt werden – benutzen wir im Alltag und gebrauchen sie als Juristen. Auf den ersten Blick erscheint es deshalb durchaus einleuchtend, wenn man von der Feststellung ausgeht, dass die Rechtssprache, von speziellen rechtswissenschaftlichen Termini abgesehen, »die normale Sprache verwendet«. Die besonderen Verständnisprobleme liegen dann aber in dem »fachlich geprägte(n) Teil einer an die Allgemeinheit gewendeten« Sprache. Der Laie versteht etwas umgangssprachlich, meint es richtig zu verstehen, missversteht es aber, weil es juristisch einen ganz spezifischen, ihm jedenfalls nicht genau bekannten Sinn hat. Das Gerechtigkeitsdilemma, das sich damit auftut, ist offensichtlich. Wenn ich ein Gesetz befolgen muss, muss ich auch verstehen können, was im Gesetz steht. Fair kann ein Prozess nur sein, wenn ich ihm folgen kann. Rechtliches Gehör macht nur Sinn, wenn ich weiß, um was es geht. Um nochmals W. Klein zu zitieren: »So scheint es vernünftig, an Rechtstexte das Erfordernis zu stellen, daß sie verständlich seien. Dem Laien ist daher sehr befremdlich, wenn die Leute 136

N. Luhmann 1995, S. 36.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

von der Zunft über solche Vorstellungen oft nur milde lächeln, sie für gut gemeint, aber letztlich abwegig oder gar schädlich halten, wenn es um die Wahrung und Wiederherstellung des Rechtsfriedens geht.« 137 Der Richter darf diese Einwände nicht einfach »milde lächelnd« abtun. Er muss sich dem Dilemma stellen, das sich weder durch vermittelnde Charakterisierungen wie »fachlich geprägter Teil einer an die Allgemeinheit gewendeten« Sprache noch mit guten theoretischen Gründen wegdiskutieren lässt. Als Richtschnur kann auch heute noch eine Entscheidung des BSG von 1975 dienen, die für medizinische Fachausdrücke – aber auch gültig für das »Juristische« – für ein Urteil die Grundsätze so formulierte: »Die Vorschrift, daß deutsch die Gerichtssprache sei (§ 184 GVG iVm § 61 Abs. 1 S. 1 SGG), ist nicht schon dann mißachtet, wenn das Gericht, die Beteiligten und die Sachverständigen – in bescheidenem Umfang – Fremdwörter und lateinische Fachausdrücke gebrauchen. Ein solcher Wortgebrauch kann sogar unumgänglich sein, wenn – wie im medizinischen Bereich – Gegenstände einer Wissenschaft behandelt werden, die auch von der Allgemeinheit häufig nicht eingedeutscht werden und deren deutsche Benennung nicht die volle Gewähr für die Genauigkeit des damit Gemeinten bietet. Jedenfalls kann es ein Gericht, um Mißverständnissen zuvorzukommen, für angebracht halten, den von einem Sachverständigen benutzten Spezialbegriff dann unverändert zu wiederholen, wenn auch die Beteiligten sich dieses Begriffs bedient haben. Der Gefahr einer abgewandelten Vorstellung, die mit einer Übersetzung, Vereinfachung und Generalisierung einer Fachbezeichnung verbunden sein kann, wird ein Gericht entgehen wollen, ohne daß ihm daraus ein Vorwurf zu machen wäre. Die Auffassung, daß bei Abfassung des Urteils und seiner Gründe Fremdwörter und nicht allgemein übliche Ausdrücke tunlich vermieden werden sollen …, ist kein zwingendes Gebot der Rechtsstaatlichkeit.« 138

a. Konkretere Regeln lassen sich kaum aufstellen. Zunächst ist die Frage, wie »verständlich« das Urteil oder die Verhandlung sein müssen, davon abhängig, ob Anwaltspflicht besteht oder nicht. Der Anwalt hat gegenüber seinem Mandanten dann auch die Aufgabe eines »Sprachvermittlers«. Und auch die Verständnisebenen der Laien können sehr unterschiedlich sein. Für die Verhandlungsführung ist es jedoch ein nobile officium, jedenfalls dort, wo Kläger und Beklagte persönlich einbezogen sind, die Verhandlung so zu führen, W. Klein, Einleitung, in Ders. (Hg.), Sprache des Rechts II. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 128 (2002), S. 5. 138 BSG, B. v. 30. 04. 1975 – 9 RV 276/74 – juris Rn. 3. 137

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dass diese ihr auch folgen können. Insbesondere Ausdrücke, die umgangssprachlich anderes bedeuten als fachsprachlich, sind dann zu erläutern bzw. zu »übersetzen«. Ob dies in der Verhandlung gelingt, entscheidet letztlich auch darüber, ob das Urteil verstanden und akzeptiert werden kann. b. Anders als auf der Kommunikationsebene des Gerichtssaales scheint das Gebot der Verständlichkeit dagegen für Normtexte – wenigstens im Grundsatz – eine schärfere Kontur zu haben. Insbesondere im Hinblick auf die Garantie des Art. 103 Abs. 2 GG hat das BVerfG hier »den rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten« ausdrücklich betont: »Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Art. 103 Abs. 2 GG hat insofern freiheitsgewährleistende Funktion. […] Das Bestimmtheitsgebot verlangt daher, den Wortlaut von Strafnormen so zu fassen, dass die Normadressaten im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht«. 139 Selbst für den Bereich des Strafrechts folgt dem Grundsatz aber immer ein »Allerdings«: »Allerdings muss der Gesetzgeber auch im Strafrecht in der Lage bleiben, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden (BVerfGE 28, 175 h183i; 47, 109 h120i). Müsste er stets jeden Straftatbestand bis ins Letzte ausführen, anstatt sich auf die wesentlichen für die Dauer gedachten Bestimmungen über Voraussetzungen, Art und Maß der Strafe zu beschränken, bestünde die Gefahr, dass die Gesetze zu starr und kasuistisch würden und dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden könnten (vgl. BVerfGE 14, 245 h251i). Wegen der gebotenen Allgemeinheit und der damit zwangsläufig verbundenen Abstraktheit von Strafnormen ist es unvermeidlich, dass in Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. Das Bestimmtheitsgebot bedeutet nicht, dass der Gesetzgeber gezwungen wäre, sämtliche Straftatbestände ausschließlich mit unmittelbar in ihrer Bedeutung für jedermann erschließbaren deskriptiven Tatbestandsmerkmalen zu umschreiben. Es schließt die Verwendung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe bis hin zu Generalklauseln im Strafrecht nicht von vornherein aus (vgl. BVerfGE 48, 48 h56 f.i; 92, 1 h12i; ferner BVerfGE 75, 329 h341 f.i). Der Gesetzgeber kann Tatbestände auch so ausgestalten, dass zu ihrer Auslegung auf außerstrafrechtliche Vorschriften zurückgegriffen werden muss. Dies führt, soweit es sich nicht um Normen zur Ausfüllung eines strafrechtlichen Blanketts handelt, nicht dazu, dass 139

BVerfGE 126, 170–233 mit Hinweis auf BVerfGE 48, 48 h56 f.i; 92, 1 h12i.

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auch die betreffenden außerstrafrechtlichen Vorschriften am Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen wären (vgl. BVerfGE 78, 205 h213i)«. 140

Die Formel, die das BVerfG üblicherweise gebraucht, ist kürzer: Art. 103 Abs. 2 GG »verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen«. 141 Sie überspielt aber mit dem von mir im Zitat kursiv hervorgehoben »und« nur das Dilemma: Die Forderung nach Verständlichkeit für den Normadressaten nimmt in dem Moment eine andere Gestalt an, in dem auf die Notwendigkeit der Auslegung verwiesen wird. 142 Dieser Verweis auf Informationen, die in einem Text enthalten sind – enthalten sein sollen – kann nur ein Verweis auf einen juristisch-methodischen Umgang mit dem Normtext sein. Und dieser ist ein anderer als unser alltäglicher Umgang mit Sprache. Allein aufgrund seiner Sprachkompetenz in der Alltagssprache kann der Normadressat nicht zureichend sicher über die Bedeutung, die einem Begriff in einem Normtext zukommt, entscheiden; 143 das geht selbst dann nicht ohne juristisches Regelwissen, wenn es letztlich – aus Rechtsgründen! – nur auf die umgangssprachliche Bedeutung ankommen sollte. Im Rechtssystem muss man die Regeln beachten, mit denen das systemimmanente Sprachspiel gespielt wird.

II.

Recht und Semantik

Wir haben uns mit dieser Methodenlehre die Aufgabe gestellt, die theoretischen Annahmen und Voraussetzungen aufzuzeigen, die hinter den expliziten Regeln und den Anwendungsroutinen der richterlichen Praxis stehen, und dies mit dem Ziel, die theoretischen Implikationen zu reflektieren, gegebenenfalls auch um die Routinen der BVerfGE 126, 170, 199 f. BVerfGE 105, 135, 157, vgl. auch BVerfGE 73, 206 h234i; 75, 329 h340i; 78, 374 h381 f.i; 92, 1 h11 ff.i; st.Rspr. 142 Vgl. dazu die grundsätzlichen Ausführungen des BVerfG zum Untreuetatbestand, BVerfGE 126, 170–233 – juris Rn. 71 ff. 143 Vgl. U. Neumann 1992, S. 16, 18 ff. 140 141

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Praxis zu verbessern. Zu diesen in Routinen angewandten Regeln gehören die klassischen Auslegungsregeln und dort zuforderst die Auslegung nach dem Wortlaut, die nach dem Wortsinn, dem semantischen Gehalt eines Tatbestandsmerkmals fragt, wie er sich aus Grammatik und Sprachgebrauch ergibt. Diese Regeln sind zwar – wie gesagt – Handwerksregeln, aber als solche nie »theoriefrei« und theorieunabhängig zu handhaben (Kap. 2 II.). Betreiben wir »Auslegung«, sind wir unweigerlich Mitspieler in Sprachspielen und damit den Spielregeln unterworfen, die Gegenstand der Interpretationstheorie 144 und der Sprachphilosophie sind, genauer der Semantik, die sich als der Teil der Linguistik (Sprachwissenschaft) mit der Bedeutung sprachlicher Zeichen befasst. Die entscheidende Perspektive, die wir dabei im Auge haben müssen, lässt sich als Frage formulieren: Wie ermittelt der Richter die Bedeutung eines Tatbestandsmerkmales? – oder allgemeiner: Wie sicher kann der Richter die anzuwendende Rechtsnorm »richtig« erfassen? Um eine Antwort geben zu können, ist zunächst näher auf die Gebrauchstheorie der Bedeutung einzugehen.

1.

Die Gebrauchstheorie der Bedeutung

Die entscheidende Ausgangsposition haben wir uns bereits in den Exkursen zur Sprachphilosophie und zu L. Wittgenstein erarbeitet 145: Wörter gewinnen ihre Bedeutung nicht unmittelbar aus einem Gegenstandsbezug, sondern aus Gebrauch und Sprachsituation. Es gibt also im Prinzip keinen eindeutigen Zusammenhang von Wort und Gegenstand, zwischen juristischem Begriff und seinem Bedeutungsinhalt. Ist die Sprache kein Abbild der Welt, ist damit aber nicht nur einer realistischen Theorie der Sprache – der »realistischen Semantik« 146 – der Boden entzogen, sondern, wie wir gesehen haben, auch dem »Wortlautverständnis« der traditionellen Methodenlehre. Wenn wir heute nach der juristischen Bedeutung eines Normtextes, seiner Tatbestandsmerkmale fragen, können wir für eine solche Bestimmung folglich nicht von vorgegebenen und sicheren Relationen und Hier im weiten Sinn verstanden; eine Übersicht gibt der Reader von Tom Kindt und Tilmann Köppe: Moderne Interpretationstheorien, Göttingen 2008. 145 Kap. 2 II.; Kap. 4 II. 146 Vgl. dazu ausführlich F. v. Kutschera 1975, S. 136 ff. 144

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Bezügen 147 ausgehen, sondern nur von der Bedeutung, die sich aus dem Gebrauch ergibt. Diese Gebrauchstheorie der Bedeutung erhielt, wie bereits gesagt, 148 ihre entscheidenden Impulse durch die »Philosophischen Untersuchungen« Wittgensteins. Statt abstrakt nach der Bedeutung eines Ausdruckes zu fragen, gibt er den methodischen Rat: »Frag’ nicht nach der Bedeutung, frag’ nach dem Gebrauch!« 149 Eine gesicherte und allgemein anerkannte Grundlage für die semantische Bestimmung von Norminhalten ist dem interpretierenden Juristen damit aber nicht an die Hand gegeben. Entsprechend kontrovers sind die Schlussfolgerungen, die für die Probleme der Wortlautinterpretation aus seinen Ansätzen gezogen werden. Besonders deutlich wird dies, wenn etwa mit Gedanken Wittgensteins die Tauglichkeit von Wortlautinterpretationen grundsätzlich in Frage gestellt wird. Aus rechtslinguistischer Sicht wäre dann etwa Art. 103 Abs. 2 GG im Ergebnis obsolet. Aber das Verdikt, »die These, der Wortlaut könne dem Textverständnis eine Grenze setzen«, huldige »einem spätestens seit Wittgensteins Gebrauchsphilosophie der Sprache überholten Wort(laut)verständnis«, 150 lässt sich auf Wittgenstein eben nicht stützen. Es verkennt den von Wittgenstein vorgegebenen theoretischen Rahmen. Das zeigt gerade auch der von M. Jestaedt zum Beleg angeführte Nachsatz: »Sieh den Satz als Instrument an, und seinen Sinn als seine Verwendung«. 151 Denn Instrumente können für ihren Verwendungszweck sehr speziell konstruiert sein. Das schließt zwar einen zweckentfremdenden Gebrauch nicht aus, man kann deshalb aber nicht sagen, der Sinn, wie das Instrument zu gebrauchen ist, sei in der Regel nicht bestimmbar. Inwieweit wir dieses Bild auf den Gebrauch von Normtexten übertragen können, wird zu diskutieren sein. Festzuhalten ist aber, dass Überlegungen zur so genannten Wortlautgrenze (V.) nicht bereits a limine an (vermeintlichen) sprachphilosophischen Glaubenssätzen scheitern müssen.

Die Sprachphilosophie spricht hier meist von »Repräsentation« oder von »Referenz« – J. Simon 1981, S. 79, zieht hier das Fazit: »Es hat vielmehr niemals eine befriedigende Referenztheorie der Bedeutung […] gegeben.« 148 Kap. 2 I. 3. Exkurs I zu Wittgenstein. 149 Zitiert nach Lenk/Skarica 2009, S. 73. 150 M. Jestaedt 2012, S. 59. 151 Wittgenstein PU § 421. 147

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2.

Die Gebrauchstheorie – das Gebot des korrekten Gebrauchs (Exkurs III zu Wittgenstein) 152

Für das, was man in der Sprachphilosophie zutreffend »Bedeutungsskeptizismus« genannt hat, kann man sich im Ansatz durchaus auf Wittgenstein berufen. 153 Denn mit der Wendung zur Gebrauchstheorie der Sprache gab Wittgenstein die Vorstellung auf, dass es so etwas wie absolute Exaktheit, insbesondere eine absolute Präzision in der Bestimmung von Wortbedeutungen geben könne. 154 Aber: wie die mangelnde Präzision unseres Gedächtnisses uns bessere Anpassungen an veränderte Situationen ermöglicht, 155 so sind auch Vagheit und Mehrdeutigkeit Bedingungen einer lebenden Sprache. Und Bedingungen der Anpassungsfähigkeit des Rechts. Doch Vagheit und Mehrdeutigkeit heben das Recht nicht auf. In dem Exkurs Wittgenstein (II.) 156 waren wir zu dem Ergebnis gekommen, dass das Sprachspiel zwar »ein Begriff mit verschwommenen Rändern« ist 157, dass aber die Schlussfolgerung: ›Es ist doch kein Spiel, wenn es eine Vagheit in den Regeln gibt‹ 158 nicht richtig ist. Die »Vagheit der Regel« nimmt ihr nicht den Charakter als Regel. Auch Begriffe »mit verschwommenen Rändern« haben ihre Gebrauchsregeln. Derjenige, der sie benutzt, muss sie beachten, wenn er verstanden werden will. Wir haben so einmal das Vage als Faktum; »absolute Exaktheit ist ein Phantom, dem man nicht nachjagen soll.« 159 Aber es bleibt bei einer Regelbindung – bei der Möglichkeit einer je nach Sprachspiel mehr oder weniger weitgehenden Annäherung an »Exaktheit« als Ziel. 160 Die Rede vom Gebrauch bezieht sich ja nicht auf einen beSiehe zu den Exkursen I und II Kap. 2 II. und Kap. 4 II. Zur Übersicht M. Klatt 2005, S. 348 ff. 154 Hier liegt der radikale Bruch zu der im »Tractatus« vertretenen Position; vgl. F. v. Kutschera 1975, S. 136 ff. 155 Vgl. Kap. 13 III. 1. a. 156 Kap. 4 II. 157 PU § 71. 158 PU § 100. 159 W. Stegmüller 1969, S. 126. 160 Mit den Worten Wittgensteins wird das sehr deutlich in PU § 88: »›Unexakt‹, das ist eigentlich ein Tadel, und ›exakt‹ ein Lob. Und das heißt doch: das Unexakte erreicht sein Ziel nicht so vollkommen wie das Exaktere. Da kommt es also auf das an, was wir ›das Ziel‹ nennen. Ist es unexakt, wenn ich den Abstand der Sonne von uns nicht auf 1 m genau angebe; und dem Tischler die Breite des Tisches nicht auf 0,001 mm? Ein Ideal der Genauigkeit ist nicht vorgesehen; wir wissen nicht, was wir uns darunter 152 153

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liebigen Gebrauch, eine willkürliche oder abnorme Verwendungsweise, sondern auf den tatsächlichen, korrekten Gebrauch eines Wortes. 161 Dieser korrekte Gebrauch setzt Regeln voraus. Um zu verdeutlichen, wie wir uns diese Regeln vorzustellen haben, benützt Wittgenstein zum einen die Metapher des Sprachspiels. Wie bereits beschrieben, dient ihm die Metapher des »Sprachspiels« dazu, die vielfältigen Ähnlichkeiten zwischen Sprache und Spiel deutlich werden zu lassen. 162 Es ist die doppelte Abhängigkeit des Gebrauchs – von den konventionellen Regeln der Sprache und von den Sprachsituationen, in welchen das Wort verwendet wird –, die verstanden werden muss. Die Analogie der Sprache mit dem Spiel soll uns da ein Licht aufstecken 163, wie Sprache und Spiel durch Regeln bestimmt und andererseits doch wieder »nicht überall von Regeln begrenzt« sind. 164 – »Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ›Zeichen‹, ›Worte‹, ›Sätze‹, nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen. […] Das Wort ›Sprachspiel‹ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.« 165 Es ist die Lebensform, in die die einzelnen Sprachspiele eingebettet sind, aus der sie erwachsen, in der die Regeln gelernt und aus der heraus verstanden wird, was der andere meint. 166 Erfasst wird der außersprachliche Kontext, mit dem unser Sprachgebrauch und damit unser Sprachverstehen untrennbar verwoben sind. 167 F. v. Kutschera weist zu Recht darauf hin, dass die Redeweise von den Sprachspielen nicht zu wörtlich genommen werden darf; von Anwendungsfall zu Anwendungsfall ergeben sich nicht einfach unterschiedliche Sprachen mit unterschiedlichen Bedeutungen. 168 Im Fovorstellen sollen – es sei denn, du selbst setzt fest, was so genannt werden soll. Aber es wird dir schwer werden, so eine Festsetzung zu treffen; eine, die dich befriedigt.« 161 Siehe W. Stegmüller 1978, S. 585. 162 H.-J. Glock 2000, S. 325. 163 Wittgenstein 1984, PU § 83. 164 PU § 84 – mit Beispielen §§ 66, 71, 83. 165 PU § 23. 166 Eine Definition gibt Wittgenstein nicht. Glock 2000, S. 200 spricht von seinem »nonchalanten Gebrauch«. 167 Siehe Glock 2000, S. 200; W. Stegmüller 1978, S. 592: das gesamte »soziale Tätigkeitsfeld« ist als Lebensform mit der Sprachbeherrschung verwoben. 168 F. v. Kutschera 1975, S. 137.

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kus der Überlegungen von Wittgenstein – und auch unseres Interesses – liegen nicht die Fragen der allgemeinen Sprachverwendung, sondern das Phänomen der Verschiedenheit der Sprachverwendung in verschiedenen Kontexten. Für uns gilt es, die Besonderheit des juristischen Sprachspiels herauszuarbeiten, weil nur so die Besonderheit des juristischen Sprachgebrauchs deutlich wird. Es geht um das »Juristische« als Fachsprache. Wenn man von Sprachspiel spricht, spricht man ja bereits von Handlungsformen mit sehr unterschiedlicher Regeldichte (ein paar Kinder beschließen, Fußball zu spielen – Schachspiel in einem Schachturnier). Wittgenstein verwendet zur Beschreibung der Regeln des Sprachgebrauchs und des Sprachverstehens, was oft übersehen wird, nicht nur die Analogie Sprache – Spiel. Neben dem Bild des »Sprachspiels« gebraucht er auch das der »Stadt«. Als Bild für die Alltagssprache spricht er von einer »alten Stadt« mit »Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten« und unterscheidet davon – als Bild für die Fachsprache – eine »Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.« 169 Und noch deutlicher wird der Gedanke unterschiedlicher Struktur, Funktion und Bestimmtheit im eingangs zitierten Vergleich mit einem Instrument: »Die Sprache ist ein Instrument. Ihre Begriffe sind Instrumente. Man denkt nun etwa, es könne keinen großen Unterschied machen, welche Begriffe wir verwenden. Wie man schließlich mit Fuß und Zoll Physik treiben kann, sowie mit m und cm; der Unterschied sei doch nur einer der Bequemlichkeit. Aber auch das ist nicht wahr, wenn, z. B. Rechnungen in einem Maßsystem mehr Zeit und Mühe erfordern, als wir aufwenden können.« 170

In diesem Sinne ist auch der juristische Begriff als »Instrument« zu verstehen, das auf bestimmte Verwendungen hin »konstruiert« ist.

3.

Sprachspiel, Intersubjektivität und Interpretationsgemeinschaft

Bevor wir uns im nächsten Abschnitt unmittelbar mit dem »Juristischen« als Fachsprache beschäftigen, sollen die Ansätze der GePU § 18 mit der Frage, »ob unsere Sprache vollständig ist; – ob sie es war, ehe ihr der chemische Symbolismus und die Infinitesimalnotation einverleibt wurden«. Den Ausdruck Fachsprache gebraucht er nicht. 170 PU § 569. 169

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brauchstheorie Wittgensteins zunächst in den im 8. Kapitel (1. These zur Kohärenz) und im 12. Kapitel (II.) abgesteckten erkenntnistheoretischen Rahmen eingeordnet werden. Vornehmlich geht es dabei um das Problem der intersubjektiven Verbindlichkeit des Sprachgebrauchs. 171 In den genannten Kapiteln hatten wir die Bedingungen von »Intersubjektivität« erörtert und als Voraussetzung dafür, dass »Erkenntnis« intersubjektiv vermittelbar ist und kommunizierbar wird, auf die Notwendigkeit eines gemeinsamen »Denk- und Argumentationsraums« hingewiesen, also eines Bereichs, in dem wir mit Anderen über gemeinsame Schnittmengen verfügen (Kap. 12 II. 3.). Das gilt jedenfalls bei der Annahme, dass unsere Anschauungsformen und Kategorien, die Begriffe, Schemata, Zeichen oder Muster intersubjektiver Vermittlung sozial eingespielt sind und wir nicht auf eine stets exakte, immer unmissverständliche Sprache zurückgreifen können. Das genau ist ja auch der Ausgangspunkt der Gebrauchstheorie. Mit dieser Theorie hatte Wittgenstein das Ziel der »Verifikation« 172 aufgegeben, d. h. das Unternehmen, die Frage nach der Bedeutung eines Wortes (eines Zeichens) mit der Frage zu klären, worauf es sich »in Wirklichkeit« bezieht. In Wittgenstein Worten: »Die Frage nach der Art und Möglichkeit der Verifikation eines Satzes ist nur eine besondere Form der Frage ›Wie meinst du das?‹«. 173 Oder konkreter und unmittelbar auf die Frage bezogen, wie Sprache Intersubjektivität herstellen soll: »Man sagt mir: ›Du verstehst doch diesen Ausdruck? Nun also, – in der Bedeutung, die du kennst, gebrauche auch ich ihn‹.« 174 Dieser an sich einfache Tatbestand – »in der Bedeutung, die du kennst, gebrauche auch ich ihn« – beschreibt geradezu trivial den Bezugsrahmen, im dem wir Worte verstehen und gebrauchen sollten, wenn wir verstanden werden wollen. Es ist die Formel, auf die man die Kommunikation bringen kann, wenn sich Juristen im Gerichtssaal unterhalten. Ein Nichtjurist kann dann aber die Frage »Du verstehst doch diesen Ausdruck?« (wenn sie denn an ihn gestellt würde) meist nur verneinen, weil er ihn eben nicht kennt. Es bedarf mithin eines sozialen Bezugsrahmens für das Verstehen von Bedeutung. Und die-

Eine gute Übersicht über die Problematik gibt F. v. Kutschera 1975 in dem Abschnitt »Bedeutung und Gebrauch von Prädikaten«, S. 152 ff. 172 Zu diesem Zentralthema des Wiener Kreises vgl. L. Krauth, 1997, S. 75 ff. 173 PU § 353. 174 PU § 117. 171

346 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

17 · Rechtsprechung und Sprache

ser Bezugsrahmen, in dem das juristische Sprachspiel gespielt wird, ist unter anderer Perspektive bereits benannt: die Interpretationsgemeinschaft. Der Begriff erfasst so auch die Grundsituation des juristischen Sprachspiels. 175 Der Gerichtssaal ist ein Kommunikationsraum, aber ein Kommunikationsraum eigener Art, weil grundsätzlich strukturell asymmetrisch, hatten wir oben festgestellt. Man braucht sich allerdings nur einige unterschiedliche Gerichtsverfahren vorzustellen, um zu sehen, dass »der« Gerichtssaal keineswegs ein stets gleicher Kommunikationsraum ist. Wenn in dem einen Verfahren Probleme des Verteilungsmaßstabes im Straßenbeitragsrecht, im anderen Probleme des Warenzeichenrechts und in einem dritten Fragen der betrieblichen Mitbestimmung erörtert werden, dann haben wir es mit sehr unterschiedlichen Sprachspielen zu tun. Sie sind unterschiedlich wie die Lebenswelten, die jeweils Gegenstand des juristischen Sprachspiels sind. Von »Interpretationsgemeinschaft« können wir mithin nur insoweit reden, als Begriffe mit der Bedeutung gebraucht werden, die auch der Andere kennt. Setzen wir die Begriffe »Sprachspiel« und »Interpretationsgemeinschaft« mit der soeben vorgenommenen Differenzierung ein, werden sie auch auf den uns zentral interessierenden Zusammenhang von Gesetzgeber – Gesetzestext – Rechtsprechung anwendbar. Dieser überspielt so die systemtheoretische Differenzierung von Politik und Recht. Nach systemtheoretischer Sicht arbeiten beide Systeme mit unterschiedlichen Codes; wie dargelegt, führt das aber nicht zu einem »systemtheoretische[n] Ausschluss des Gesetzgebers aus dem Rechtssystem« 176. Aus sprachtheoretischer Sicht ergibt sich nichts anderes. Das »soziale Tätigkeitsfeld« 177, in dem die Gesetzestexte entstehen, ist vielfach dadurch bestimmt, dass systemüberlappend und damit systemübergreifend ein gemeinsames Sprachspiel gespielt wird. Die Juristen, die die Gesetze formulieren, und die Juristen, die sie anwenden, sprechen eine gemeinsame Sprache. Je spezialisierter Rechtsgebiete sind, desto sicherer kann man für die Gesetzgebungspraxis davon ausgehen, dass »man« sich kennt, Ministerialbeamte, Abgeordnete, Verbandsvertreter, Richter – also systemZu Interpretationsgepflogenheiten, auch im Anschluss an Wittgensteins Sprachspiel, vgl. H. Lenk 1995, S. 122; 246 ff. 176 Wie W. Grasnick 2000, S 156, meint; Kap. 16 IV. 3. 177 W. Stegmüller 1978, S. 592. 175

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

übergreifende Interpretationsgemeinschaften bestehen. Demgegenüber gibt es natürlich Ausnahmen – wenn etwa Spitzenpolitiker nächtens im Vermittlungsausschuss einen Kompromiss aushandeln. Aber diese sind nicht strukturbestimmend. Vielmehr ist festzuhalten: Auch auf Befunde sprachlicher Kommunikation lassen sich die systemtheoretischen Einwände gegen die Regelbindung, mit denen wir uns am Ende des 16. Kapitels auseinandergesetzt haben, nicht stützen.

III. Juristische Semantik Rechtssätze sind Sprachgebilde. Wenn wir im Folgenden zu analysieren haben, wie mit ihnen umzugehen ist, wie sie verstanden werden und wie Juristen mit ihnen arbeiten, können wir aufgrund unserer bisherigen Überlegungen davon ausgehen, dass ein alleiniger Rückgriff auf allgemeine linguistische und semiotische Überlegungen und Theorieansätze nicht ausreichend ist. 178 Entscheidend ist vielmehr, »dass der Sprachgebrauch in den verschiedenen Lebenskontexten jeweils spezifischen Regeln folgt, dass für die verschiedenen Sprachspiele verschiedene Regelsysteme gelten.« 179 Und das heißt auch: verschiedene spezifische Regeln semantischer Bestimmtheit und semantischer Festlegungen. Sie machen die besondere Struktur juristischer Semantik aus. Um diese näher herausarbeiten und beschreiben zu können, ist es aufschlussreich, sich zuvor in einem Gedankenexperiment zu vergegenwärtigen, mit welchen Unterschieden ein Textverstehen von den verschiedenen Lebenskontexten abhängig ist.

1.

Textverstehen – ein Gedankenexperiment

Dieses Gedankenexperiment soll von folgenden unterschiedlichen Situationen ausgehen, in denen wir vor die Aufgabe gestellt sein können, einen Text zu verstehen: 1. Man stelle sich zunächst einen nach dem Zufallsprinzip zusammengestellten Leserkreis vor. Zu lesen und dann in den GrundgedanGrundsätzlich zur Notwendigkeit eigenständiger Ansätze K. D. Lerch 2005, S. 170 ff. 179 F. v. Kutschera 1975, S. 137. 178

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17 · Rechtsprechung und Sprache

ken wiederzugeben sind Texte von Handke, Hegel, Hölderlin und aus dem HGB. Wie werden diese Leser die genannten Texte verstehen? 2. In einem zweiten Schritt stelle man sich zwei jeweils ausgewählte Leserkreise vor: eine Gruppe ausgewiesener Hegelkenner (Lesegruppe 2.1) interpretiert den Hegeltext, eine Gruppe von Richtern aus OLG-Senaten mit den Arbeitsschwerpunkten Handels- und Wirtschaftsrecht (Lesegruppe 2.2) den HGB-Text. 3.1 Es wird niemand ernsthaft überraschen, wenn in der Lesergruppe 1 die Interpretationen höchst unterschiedlich ausfallen. Es ist sogar zu vermuten, dass es schwierig bis fast unmöglich sein würde, hinter den Interpretationen die gleichen Texte wiederzuerkennen. Die traditionelle Vorstellung, dass ein Text, den man lesen und verstehen kann, im Großen und Ganzen auch ein übereinstimmendes Verstehen zu Tage bringt, würde sich jedenfalls nicht bestätigen. In den Lesegruppen 2.1 und 2.2 würde dagegen – so der wahrscheinliche Befund, auf den es mir bei dem Gedankenspiel ankommt – die Varianz deutlich geringer ausfallen und von Ausnahmen abgesehen, die hier die Regel bestätigen, wird ein fachkundiger Leser auch keine Schwierigkeiten haben, den Ausgangstext wiederzuerkennen. 3.2 Fragt man nach den Gründen für diese Unterschiede im Textverstehen, dann sind es die sehr unterschiedlichen Strukturen der Sprachspiele und deren Lebenswelten, die hier den Worten und Sätzen Bedeutung geben: • Einen Text zu verstehen bedeutet, zwischen ihm und schon bekanntem Wissen Kohärenz herzustellen; er muss an gemeinsame Muster und Interpretationsschemata andocken können. Wie und welche Bedeutung einem Wort beigemessen wird, hängt unmittelbar von der Dichte der Muster, der Schemata und dem Vorwissen ab, über das wir verfügen. Daraus ergeben sich prinzipielle Unterschiede: • Bei dem Laien stoßen die genannten Texte auf ein allenfalls diffuses Wissen und damit auch auf diffuse Kontexte; »unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ›Zeichen‹, ›Worte‹, ›Sätze‹, nennen« 180, stehen ihm offen. Es ist der in der Sprachgemeinschaft irgendwie denkbare Sprach180

Wittgenstein PU § 23.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

gebrauch, der eine mögliche Grenze setzt. Argumentieren kann man allenfalls mit dem Duden. Für den Fachkundigen ist die Mannigfaltigkeit möglicher Bedeutungen dagegen durch Vorwissen, Kenntnis der Kontexte, professionelle Muster und Interpretationsschemata schon prinzipiell begrenzt. Eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten wird dem Experten erst gar nicht in den Sinn kommen, weil sie sich nicht in das System Hegel’scher Philosophie einfügen oder nicht in die Systematik des HGB und der dort verwandten Begriffe passen würden. Auch dort, wo der Laie vielleicht auf sehr individuelle Erfahrungen und Muster, gar auf freie Assoziationen zurückgreift, um sich den Text verständlich zu machen, greifen bei dem Experten 181 professionelle Filter. Gegenüber der allgemeinen Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft haben wir es also bei den Fallgruppen 2.1 und 2.2 mit speziellen, professionellen Interpretationsgemeinschaften zu tun, die sich ja auch und gerade durch ihr Sprachspiel definieren, das sie durch ihre überindividuell gültigen Konventionen – oft sehr rigide – reglementieren. Ziel ist immer eine möglichst genaue Fachsprache mit möglichst geringen Unschärfen. Also eine Sprache, die ihre Funktion dann am besten erfüllt, wenn sie in ihrer gewöhnlichen Gebrauchsform, nämlich Mittel alltäglicher Kommunikation zu sein, nicht mehr brauchbar ist. Bei aller Vergleichbarkeit der beiden Fallgruppen 2.1 und 2.2 besteht zwischen diesen Interpretationsgemeinschaften allerdings ein prinzipieller Unterschied. Und der liegt in der institutionellen Struktur. Auch in der Gruppe der Hegelinterpreten wird es unterschiedliche Auffassungen geben; man wird sie wahrscheinlich kennen und sie nach »Schulen« und »Zitierkartellen« strukturieren können. Aber die »Entscheidung« über die »Richtigkeit« trifft letztlich der »Meinungsmarkt« – soweit eine solche »Entscheidung« überhaupt getroffen werden kann. Wenn sich Richter dagegen im Rahmen ihrer rechtsprechenden Tätigkeit 182 mit Normtexten befassen, sind diese Gegenstand komplexer institutioneller Auslegungs- und Anwendungsverfahren 183. In diesen Verfahren wird über das »richtige Verstehen









181 182 183

Zum Thema Mustererkennung und »Expertenforschung« Kap. 23 V. 2. Im Unterschied etwa zur Tätigkeit als Kommentatoren, der beachtlich sein kann. Zu diesem Zusammenhang instruktiv K. D. Lerch 2005, S. 171.

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17 · Rechtsprechung und Sprache

und den richtigen Gebrauch« eines Textes befunden und entschieden. Die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung bedeutet aus semantischer Perspektive nichts anderes als größtmögliche Standardisierung des Sprachgebrauchs. 4. Schließlich: Im Urteilsspruch beschreibt die Sprache nicht mehr nur etwas. Sie wird performatorisch. Das Urteil entfaltet als performativer Sprechakt »materielle Wirkungen«. Es verändert im Moment seiner Verkündung die Rechtslage.

2.

Das Spezifische juristischer Semantik

Das Gedankenexperiment sollte nicht nur nochmals verdeutlichen, dass man über das Verstehen von Texten nicht abstrakt diskutieren kann. Die Analyse des Textverstehens muss immer auch die Analyse der sprachlichen und sozialen Kontexte – das »soziale Tätigkeitsfeld« 184 – einschließen. Es zeigt auch klar das Spezifische der juristischen Semantik. Diese wird entscheidend durch die spezifische Einbindung in die institutionellen Zusammenhänge der Rechtsetzungsund Rechtsprechungsprozesse bestimmt. Wirksam werden mithin all die Mechanismen, die wir bereits unter den Stichworten Habitus und Interpretationsgemeinschaft sowie mit der 1. These zur Kohärenz beschrieben haben (Kap. 8 II. 1.). Für die Bestimmung der besonderen Struktur juristischer Semantik müssen wir also zum einen die entscheidenden Modifikationen feststellen, die das »Juristische« durch diese Einbindungen und Mechanismen erfährt. Das ist die – entscheidende – institutionelle Seite juristischer Begriffsbildung. Inhaltlich geht es um die prinzipiellen Unterschiede, die die Alltagssprache und das »Juristische« bei der Frage semantischer Stabilität aufweisen. Diese Unterschiede sind für das Recht konstitutiv. Wie im 16. Kapitel gezeigt, stehen Rechtsprechung, Regelbindung und Richterrecht in einem untrennbaren Zusammenhang. Geschaffen wird dieser durch die Sprache. In ihr vollzieht sich die Regelbindung. Sie hat dann aber auch Regeln zur Voraussetzung, die für ihren Gebrauch und damit das Sprachverstehen eine hinreichend klare Unterscheidung zwischen »richtig« und »unzutreffend« ermöglichen. Denn eine 184

W. Stegmüller 1978, S. 592.

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Regel ist nur in dem Maße allgemein, als sie nicht nur situativ gilt. Folgt man der Idee der Regelbindung, muss der Text die Bedeutung grundsätzlich so eindeutig vorgeben, dass die Regel, soweit sie keine Beurteilungsspielräume einräumt, von jedem Richter auch gleich angewandt werden kann. Semantische Stabilität ist also Bedingung der Regelbindung. – Aus der Perspektive juristischer Semantik ergibt dies für den Zusammenhang von Regelbindung und Richterrecht: Richterrecht ist das wesentliche Instrument, mit dem das Rechtssystem semantische Stabilität herstellt – also Bedeutung festschreibt, sagt, wie ein Normtext richtig zu verstehen ist, und Kriterien für den »richtigen« und »unzutreffenden« Gebrauch angibt.

3.

Vom »invisible-hand Phänomen« zur gerichtlichen »Definitionskompetenz«

Die herkömmliche realistische Semantik – und mit ihr die traditionelle juristische Methodik – ist von einer vorgegebenen stabilen Relation von Wort und Bedeutung ausgegangen. Unter den Voraussetzungen einer Gebrauchstheorie der Sprache muss die juristische Methodik demgegenüber andere Antworten finden, ob und wie unter diesen Voraussetzungen den Tatbestandsmerkmalen einer Norm noch bestimmte, hinreichend genau abgrenzbare Bedeutungen zugesprochen werden können. Anders gefragt: Wie bilden sich Rechtsbegriffe und wie wird ihre Bedeutung stabil gehalten? a)

Die Perspektive des »semantischen Kampfes«

Im Feld des allgemeinen Sprachgebrauchs haben wir es – abgesehen von Eigennamen und speziellen Bezeichnungen, die auf eindeutige Definitionen verweisen – in der Regel nicht mit derart abgegrenzten Bedeutungsinhalten zu tun. Mit der Gebrauchstheorie ist zwar kein beliebiger Gebrauch gemeint, sondern der korrekte Gebrauch eines Wortes. Über diesen entscheidet aber der tatsächliche Gebrauch. Die Verwendungsregel wird nicht von einer »Definitionsinstanz« festgelegt, sondern sie entsteht, wie insbesondere im Sprachwandel deutlich wird, nach dem Muster des Marktes als »invisible-hand Phänomen«. 185 Nach diesem Muster bestimmt sich, welche Verwen185

Vgl. dazu und zum Sprachwandel grundlegend R. Keller 1994, S. 87 ff.

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17 · Rechtsprechung und Sprache

dungsregel sich durchsetzt – ob das Wort so verstanden werden kann, wie es gemeint ist. Wirksam ist in diesem Feld freilich nicht nur eine »unsichtbare Hand«. Gesellschaftliche und politische Konflikte wie auch wissenschaftliche Auseinandersetzungen sind meist sehr gezielt und bewusst geführte Kämpfe um die Hoheit über semantische Bedeutungen und Einordnungen. Werden diese Auseinandersetzungen im Gerichtssaal als Rechtsstreitigkeiten ausgetragen, werden die gegenseitigen Positionen als »semantischer Kampf« 186 um die richtige Lesart des Normtextes geführt. Das gilt für Prozesse, in denen sich gesellschaftliche Grundkonflikte widerspiegeln, nicht anders als für den Streit um alltägliche Interessen und Rechthabereien. Den streitenden Parteien liegt nicht eine objektiv richtige Auslegung des Gesetzes am Herzen, sondern es geht ihnen »im semantischen Kampf darum, ihre eigenen Erklärungen zur Bedeutung eines Ausdrucks als einzige ›Erklärung der Bedeutung‹ durchzusetzen«. 187 – Das Gericht muss diese Interpretationen nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern sich mit ihnen auch auseinandersetzen. Insofern steht die »richtige« Interpretation eines Gesetzes immer zur Debatte. Zwischen diesen von den Beteiligten vertretenen Rechtsauffassungen und der gerichtlichen Entscheidung besteht allerdings – systemtheoretisch gesprochen – allenfalls eine strukturelle Koppelung (Kap. 16 IV. 3.). Wie das Rechtsprechungssystem mit den Lesarten der Parteien inhaltlich umgeht, folgt den eigenen Regeln des Systems. b)

Gerichtliche Definitionskompetenz

Der Prozess ist allerdings nicht nur ein semantischer Kampf um die Bedeutung eines normativen Begriffs und das Verständnis einer Norm. Seine zentrale Funktion liegt in der Entscheidung über diese Bedeutung. Das Gericht hat einen sozialen Konflikt zu lösen – aber nicht nur situativ, auf den Einzelfall bezogen, sondern es muss dies nach einer allgemeinen Regel tun. Daraus ergibt sich nicht nur das Spezifische des Urteils, sondern auch der juristischen Semantik: Ein Urteil legt auch den »richtigen Gebrauch« – die Bedeutung eines Tatbestandsmerkmals – rechtskräftig fest. Mit jedem Urteil macht das Rechtssystem von seiner ihm eigentümlichen »Definitionskom186 187

Ausführlich dazu R. Christensen, insbes. 2005, S. 77 ff. R. Christensen 2005, S. 80.

353 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

petenz« Gebrauch. Indem es feststellt, wie ein Text richtig zu verstehen ist, schafft es insoweit semantische Stabilität.

4.

Semantische Stabilität und semantische Spielräume

Aus dem Blickwinkel des »Kampfes ums Recht«, des Prozesses als »semantischer Kampf« ist die Feststellung, der »Jurist hat immer die Möglichkeit, eine andere Sprachverwendung vorzuschlagen«, ebenso zutreffend, wie die grundsätzliche Offenheit rechtlicher Regeln für neue Deutungen und Bedeutungen Bedingung für die Anpassung an veränderte Realitäten oder veränderte Wirklichkeitseinschätzungen ist. Semantische Stabilität wird im Recht dann in der Tat an vielen Punkten überhaupt erst ausgehandelt. Als allgemeine Aussage – also nicht nur bezogen auf die grundsätzliche Offenheit des Rechts und semantische Offenheit in konkreten Streitpunkten – würde die Schlussfolgerung, die »semantische Stabilität [sei] in einem Rechtsstreit gerade keine Voraussetzung, sondern höchstens mögliches Resultat von Argumentationen« 188, aber mit der semantischen Stabilität auch das Recht selbst aufheben. Ein Recht, das in jedem Prozess prinzipiell neu ausgehandelt werden muss, weil der Bedeutungsinhalt jeder Norm jeweils neu auszuhandeln ist – ein Recht, das also in gleicher Weise von Fall zu Fall in Frage steht, wie es Geltung beansprucht –, dieses Recht hat keine Geltungskraft. Seine Funktion der Verhaltenssteuerung 189 kann das Recht nur erfüllen, wenn die semantische Stabilität prinzipiell größer ist als die Chance einer Partei, in einem Prozess für ihre Interessen neue Deutungen und Bedeutungsspielräume zu erkämpfen. Entsprechend ist denn auch, wie es K. D. Lerch – passend unter der Überschrift: »Justitia im Bett des Prokrustes« – formulierte, »die Auslegung der Gesetzestexte den Bedingungen der Institutionalität unterworfen, der Einbindung in institutionelle Deutungs- und Arbeitsrahmen, die dem einzelnen Gesetzesanwender in der Praxis meist nur wenig semantischen Spielraum lassen«. 190

188 189 190

Christensen/Sokolowski 2005, S. 128. N. Luhmann 1995, S. 157 ff.; Di Fabio 2012, S. 69 f. K. D. Lerch 2005, S. 171.

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a. Die »Auslegung« – d. h. Bedeutung eines Tatbestandsmerkmales – ist in der richterlichen Alltagspraxis meist nicht das Problem. Man weiß oder hat es nachgelesen, was die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen bedeuten, und wendet die Norm mittels dieser Definitionen an. Die notwendige Reduktion von Komplexität, die das Rechtssystem zu leisten hat, könnte die Rechtsprechung auch gar nicht erbringen, wenn semantische Stabilität nicht weitgehend vorausgesetzt, sondern in jedem Verfahren neu hergestellt werden müsste. Die Semantik ist durch die h. M. fixiert. Über § 242 StGB z. B. wird man sinnvoll kaum noch einen semantischen Streit führen können. Wenn ein Angeklagter bestreitet, die Sache gestohlen zu haben, denn sie sei ihm geschenkt worden, so steht nicht zur Debatte, was »fremd« oder was »Schenkung« ist, sondern Vorgänge auf der Sachverhaltsebene. Auch den Wertungsfragen, die sich bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Einzelfall ergeben, liegen meist keine Bedeutungs-, sondern Bezeichnungskonflikte und unterschiedliche Sichtweisen des Sachverhalts zugrunde. Wenn es etwa darum geht, ob ein beobachteter Ladendieb bereits Gewahrsam erlangt hat oder überhaupt eine Zueignungsabsicht hatte, eine Handlung fahrlässig war oder ein Verhalten als unzumutbar zu werten ist, geht der Streit um die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Schluss von einer (oft nicht bestimmbaren) Anzahl indizieller Tatschen auf die zu treffende Wertung gerechtfertigt ist. Wir haben es damit mit dem schon ausführlich behandelten Problem der Gesamtschau, der Gesamtwürdigung zu tun, also mit Wertungen, bei denen sich Tatsacheneinschätzungen und Einschätzungen von Normzwecken im Einzelfall verzahnen. Mit Aussicht auf befriedigende Antworten lassen sich Probleme der Bestimmbarkeit hier allerdings erst dann lösen, wenn sich in der Rechtsprechung hinreichend klar unterscheidbare Fallgruppen gebildet haben, aus denen sich Regeln formulieren lassen, unter welchen Voraussetzungen allgemein die zu treffende Wertung zulässig ist und unter welchen nicht. b. Wenn sich semantische Spielräume ergeben, dann werden sie im Alltag der erst- oder auch zweitinstanzlichen Praxis meist erst aufgrund von Veränderungen bisheriger Gegebenheiten wahrgenommen: Gesetzesänderungen, neue Problemsituationen, veränderte Verhältnisse, Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung der Revisionsgerichte, der Verfassungsgerichte oder von EuGH oder EGMR. Wie groß die Spielräume sind, hängt bei neuen gesetzlichen Re355 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

gelungen davon ab, ob und inwieweit der Gesetzgeber nur bisheriges Recht modifiziert oder Neuland betritt. Liefert die Entstehungsgeschichte hierzu hinreichend dichte Kontexte, aus denen sich auch das mit dem Gesetzestext Gemeinte erschließen lässt, muss semantische Stabilität durch die Rechtsprechung nicht erst von Entscheidung zu Entscheidung hergestellt werden; 191 fehlen solche Kontexte oder sind sie gar widersprüchlich, muss sie in mehr oder weniger langwierigen Argumentationsprozessen erst gewonnen werden. 192 Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung schaffen zwangsläufig dann neue und auch erhebliche semantische Spielräume, wenn sie die Fachgerichte zu einem Um- oder sogar Neubau der Systematik eines ganzen Rechtsbereiches zwingen; die Konsequenzen, die für das System öffentlichrechtlicher Ersatzleistungen aus der Nassauskiesungsentscheidung des BVerfG 193 zu ziehen waren, veranschaulichen dies am Beispiel. 194

IV. Wortbedeutung – Rechtsbegriff, Hypertext und Rechtsermittlung Die Auslegung einer Norm soll dem Richter Kriterien und Maßstäbe für ihre Anwendung an die Hand geben – soll sie ihm die »Subsumtion« ermöglichen: Die Voraussetzungen einer Entscheidungsnorm sollen so definiert werden, dass im Wege begrifflicher Subordination geprüft werden kann, ob die Sachverhaltsfeststellungen diese Voraussetzungen erfüllen. Allein aus Wortlaut und Begrifflichkeit ergeben sich diese Definitionen nicht. Nicht nur für die Sprache, sondern auch für die Definitionen gilt, dass sie sich aus dem Gebrauch ergeben – aus dem Gebrauch der Norm von Fall zu Fall, in einer Kette von Entscheidungen. – Aus der Perspektive des Gerichts bedeutet dies: In dem Maße, in dem ein Gericht eine solche Definition seinem Urteil als »richtig« zugrunde legen kann, erübrigen sich SinnEin Beispiel ist das Investitionszulagengesetz; siehe dazu unten 2. a). Ein Beispiel für einen widersprüchlichen Entstehungskontext gibt § 124 VwGO; siehe dazu Mayer-Ladewig/Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO § 124 Rn. 1 ff. (Stand 2015). 193 Das BVerfG nahm mit der Entscheidung BVerfGE 58, 300 eine grundsätzliche neue Abgrenzung von Enteignungen einerseits und Inhalts- und Schrankenbestimmungen andererseits (Art. 14 GG) vor. 194 Vgl. Ossenbühl/Cornils 2013, S. 205 f.; 269 ff.; 292 ff. 191 192

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ermittlungen über Auslegungsregeln. Insoweit besteht semantische Stabilität und die methodische Arbeit liegt darin, diese Definitionen und den Grad ihrer Akzeptanz zu ermitteln. Auslegung wird zur Rechtsermittlung. Die besondere Struktur juristischer Semantik modifiziert damit auch, wie eingangs gesagt, die Methoden, mit denen Juristen Wortbedeutungen ermitteln (2.). Zuvor sind aber die Definitionsbegriffe zu klären, von denen auszugehen ist: Wie bestimmen wir die Bedeutungsinhalte der Worte, die als Rechtsbegriffe die Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm bilden? (1.)

1.

Der Rechtsbegriff – zur juristischen Begriffsbildung

Folgt man einer Gebrauchstheorie der Sprache, lassen sich Streitfragen über Bedeutung und Bezeichnungen nicht über »Wesensbestimmungen« lösen. Die klassischen Formen des Definierens – die »Definition als Wesensbestimmung« oder als »Begriffsbestimmung (Begriffskonstruktion bzw. -zergliederung)« 195 – scheiden damit zunächst aus. 196 Im Rückgriff auf die Definitionslehre W. Dubislavs eignen sich als Einstieg aber die beiden folgenden Definitionen, die stattdessen auf die Verwendung abstellen: (1.) »Eine Definition besteht in der Hauptsache aus einer Feststellung (nicht Festsetzung) der Bedeutung, die ein Zeichen besitzt, bzw. der Verwendung, die es findet. (2.) Eine Definition besteht in der Hauptsache aus einer Festsetzung (nicht Feststellung) über die Bedeutung eines (neu einzuführenden) Zeichens bzw. über die Verwendung, die es finden soll.« 197 Typische Beispiele für eine Feststellung nach (1.) sind die Feststellungen, die ein Lexikon trifft, wenn es einen Begriff definiert. Typische Festlegungen nach (2.) finden sich in der Mathematik. 198 Die juristische Semantik kennt solche Festlegungen in der Form der Legaldefinition oder in den Fällen, in denen Entscheidungen Gesetzeskraft zukommt, also in den Fällen, für die das BVerfG annimmt, dass die Bindungswirkung gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG auch die tragenden

Näher dazu W. Dubislav 1931/1981, S. 2 ff. Dass juristische Definitionen eine Begriffsbestimmung als Grundlage für eine Subordination zu liefern haben, steht damit nicht in Zweifel. 197 W. Dubislav 1931/1981, S. 2. 198 W. Dubislav 1931/1981, S. 20 ff. 195 196

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Gründe der Entscheidung umfasst, soweit diese Ausführungen zur Auslegung der Verfassung enthalten. 199 Dubislav zählt zu den typischen Beispielen für Definitionen nach (1.), also »Nominaldefinitionen, die mit dem Anspruch auftreten, bestehenden Sprachgebrauch innerhalb einer Gemeinschaft oder Gesellschaft zu präzisieren«, auch die »Definitionen in der Jurisprudenz« und zitiert die Feststellungen des RG zum Begriff der »Eisenbahn«. 200 Diese Einordnung befriedigt jedoch nicht. Bei einer Charakterisierung, die nur auf die Feststellung eines bestehenden Sprachgebrauchs abstellt, bleiben wesentliche Besonderheiten juristischer Semantik ausgeblendet. Juristische Definitionen stehen immer im Zusammenhang normativer Kontexte, aus denen sie entwickelt sind, und sie bilden sich nach den spezifischen Regeln des Rechtssystems. Ihr Ziel ist es nicht, den Gebrauch einer Regel zu konstatieren, sondern ihre Verwendung festzulegen. Dass dies – jedenfalls mit einer gewissen Stabilität – gelingt, ist zugleich Voraussetzung dafür, dass Rechtsprechung ihre Kohärenz sichert; sie stellt sie über diese Begriffsbestimmungen her. Diesen Charakteristika soll folgende Definition, der dann allerdings leider die Bündigkeit und Klarheit der Formulierungen Dubislavs fehlt, Rechnung tragen: (3.) Eine juristische Definition besteht in der Hauptsache aus einer Feststellung über die Bedeutung, mit der ein Begriff im Rechtssystem Verwendung findet und die dieses System gemäß der ihm eigenen Regeln trifft. Getroffen wird diese Feststellung mit dem Ziel einer Festlegung und diese hat die Funktion, Kohärenz herzustellen und zu sichern. Wegen der Kohärenz des Rechts kommt es für den inhaltlich-semantischen Aspekt, der uns im Folgenden (vor allem auch im nächsten Kapitel über System und Kohärenz) beschäftigen wird, nicht entscheidend auf die Wortbedeutung an sich an. Entscheidend ist vielmehr die spezielle Bedeutung, die ein juristischer Begriff aus dem Kontext mit seinen »Nachbarbegriffen« gewinnt. Bezogen ist der juristische Begriff immer auch auf den systematischen Zusammenhang, in dem er gebraucht wird und der letztlich auch die »Rechtsordnung« als Textgestalt insgesamt umfassen kann. Ich werde hier 199 200

BVerfGE 40, 88,93 f. m. w. N.; offen gelassen in BVerfGE 115, 97–118. W. Dubislav 1931/1981, S 18 f.

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17 · Rechtsprechung und Sprache

vom »Hypertext Recht« sprechen, um die spezielle Verflechtung, mit der es die Juristen dabei zu tun haben, mit einem Begriff zu benennen.

2.

Recht als Hypertext

Hypertext: Der Begriff ist in den 60er Jahren für eine computer-organisierte Vernetzung von Texten geprägt worden. 201 Typische Beispiele für derartige juristische Texte sind juristische Datenbanken wie juris oder beck-online, die als Hypertext konzipiert sind. Charakteristisch für den Hypertext ist seine Nichtlinearität; die Verbindung der Texte hat keine hierarchische Struktur. »Bei Hypertext-Dokumenten gibt es nicht (wie bei Druckwerken) eine einzige, lineare Lesereihenfolge, sondern die Leser können jede Einzelinformation über viele verschiedene Wege und von vielen verschiedenen Stellen aus erreichen«, so einem von ungefähr 18,7 Millionen Suchergebnissen für »Hypertext« entnommen, die Google (am 28. 09. 2015) in 0,37 Sekunden ausgeworfen hat. Aber auch die »klassischen« Hilfsmittel zur Erschließung linearer, gedruckter Texte wie Inhaltsverzeichnisse, Indizes, Querverweise und Fußnoten sowie Wörterbücher und jegliche Verweissysteme entsprechen funktional einem Hypertext. Nicht anders bewegt sich auch der Jurist in einem solchen Verweisungssystem, der es, ausgehend von einem Gesetzestext oder einer Rechtsbehauptung, »genauer wissen will« und deshalb in einem Kommentar nachschaut, anschließend eine angegebene Entscheidung liest, um von dort auf eine nächste Fundstelle verwiesen zu werden, etc. Auch ohne dass es sich um eine computer-organisierte Vernetzung von Texten handeln muss, können wir also vom »Hypertext Recht« sprechen und damit auch das Spezifische einer juristischen Zur Entwicklung vgl. F. Krüger, jur-pc, Heft 3/92, S. 1497–1503; Krüger gibt dort folgende Definition: »Hypertext (oder in der multimedialen Form Hypermedia) ist ein assoziatives Netzwerk von Textteilen (sog. Knoten, engl. nodes), die durch Graphen (Kanten, engl. links) verknüpft sind. Ausgangspunkte dieser Kanten sind einzelne Wörter oder Wortgruppen (Anker, engl. anchor), die aktiviert werden können, um zu anderen Knoten zu gelangen. Charakteristisch für Hypertext ist dabei die maschinelle Unterstützung beim Verfolgen dieser Kanten und die generelle Auswahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Kanten, was zu einer nicht-linearen Textstruktur führt. Ein weiterer notwendiger Bestandteil des Hypertext-Modells sind Orientierungshilfen, die oft als graphische Übersichtsfunktionen (sog. Browser) realisiert werden.«

201

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Semantik auf einen Begriff bringen. Die entscheidenden Momente, die dieses Spezifische ausmachen, liegen, zusammenfassend in Thesen formuliert, darin dass • die allgemeine Sprache eine andere Hypertextstruktur hat als die juristische Semantik. Dieser Unterschied ergibt sich aus • den Unterschieden der Verknüpfung und den Regeln der Verlinkung, d. h. • die juristischen Begriffe sind »systemisch« viel dichter und eindeutiger miteinander verknüpft als im allgemeinen Sprachgebrauch üblich. Damit sind nicht nur • die semantischen Spielräume enger und entsprechend • die semantische Stabilität größer, sondern es bedeutet auch, dass • für juristische Bedeutungsinhalte die Ermittlung von Wortbedeutungen in anderer Weise erfolgt als in der Umgangssprache. Als Zwischenergebnis ist damit aber auch festzuhalten, dass sich das Spezifische einer juristischen Semantik ohne eine nähere Vorstellung über die Bedeutung des Systemdenkens nicht erfassen lässt. Denn die Stabilität eines Rechtsbegriffs ist nach diesen Überlegungen abhängig von der Intensität, mit der er systemisch eingebunden ist. Das Recht weist hier eine besondere Form der »Intertextualität« 202 auf. Dem »Hypertext Recht« kommt deshalb eine eigenständige Struktur zu. a)

Intertextualität

In der Literaturwissenschaft bezeichnet »Intertextualität« 203 einmal eine konkrete Bezugnahme eines (literarischen) Textes auf einen anderen (literarischen) Text, in der Kulturtheorie dann grundsätzlich das allgemeine Phänomen, dass Texte innerhalb einer kulturellen Struktur immer im Bezug zur Gesamtheit der anderen Texte stehen und verstanden werden. Zur Illustration für solche literarischen Verweise denke man an J. Joyces »Ulysses« (und Homers Odyssee und Vergils Aeneis als Hintergrundtexte), den »Doktor Faustus« von Thomas Mann oder Ecos Roman »Im Namen der Rose«, den man wohl erst dann mit dem größten Gewinn liest, wenn man ihn als postmoderne Parabel zum Thema »Intertextualität« versteht.

202 203

Grundlegend zur Intertextualität im Recht M. Morlok 2004, S. 93 ff. Zur Entstehung des Konzepts und zu Beispielen vgl. M. Morlok aaO. S. 96 ff.

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Was nun in der Literatur nicht selten ein Spiel des Autors mit dem – hoffentlich wissenden – Leser ist, ist für den Juristen professionelles Handwerk. Der Jurist, der Rechtstexte (Urteile, Schriftsätze, Aufsätze) produziert, verweist ständig auf andere Texte. Und wenn er einen Text verstehen will und es darauf ankommt, möglichst genau die Bedeutung eines Rechtsbegriffs zu ermitteln, dann wird er in anderen Texten, die auf seinen (z. B. Gesetzestext) Bezug nehmen, danach suchen, mit welcher Bedeutung das Wort dort gebraucht wird. Handelt es sich um eingespielte Normen, wird er zum Kommentar greifen oder die Norm bzw. ein Stichwort in einer juristischen Datenbank aufrufen. Ist die Norm neu, muss er die Vor-Texte suchen, aus denen sie hervorgegangen ist. Das ist, fernab des Streites um objektive oder subjektive Auslegungstheorien, der Kern des historischen Auslegungselements. Dazu ein oben schon genanntes Beispiel: § 1 Abs. 4 des Investitionszulagengesetzes vom 18. August 1969 knüpfte den Anspruch auf Förderung an die Voraussetzung, dass die Investition »volkswirtschaftlich besonders förderungswürdig« sein musste. Wie konnte und sollte diese Voraussetzung in der gerichtlichen Praxis konkretisiert werden, nach welchen Theorien und Kriterien die besondere volkswirtschaftliche Förderungswürdigkeit beurteilt werden? Wie sie zu verstehen war, dazu sagte das Gesetz in der ursprünglichen Fassung nichts. Nach der Entstehungsgeschichte war aber klar, was das Gesetz wollte: Eine langjährige Förderung, die durch Richtlinien geregelt war, sollte auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden, um einen Rechtsanspruch zu schaffen. Und in diesen Richtlinien war sehr ausführlich bestimmt, was unter »volkswirtschaftlich besonders förderungswürdig« zu verstehen war. 204 Nun ist es zwar nicht die Regel, dass der Richter die Verwendungsregel für einen Rechtsbegriff in dieser unmittelbaren Weise in einem Text hinter dem (Gesetzes-) Text findet. Gesetze kommen aber in der Regel auch nicht aus dem Nichts. Ihnen sind nahezu immer Vor-Texte vorausgegangen, aus denen sich ihre Wortbedeutungen erschließen lassen – wenn auch mit oft großen semantischen Variationsbreiten. Unter den Stichworten Gesetzgebungsverfahren und Interpretationsgemeinschaft ist oben bereits die institutionelle Seite der Inter-

Vgl. zu dem Auslegungsstreit um das Tatbestandsmerkmal »volkswirtschaftlich besonders förderungswürdig« in § 1 Abs. 4 InvZulG 1969 einerseits VG Köln, BB 1972, 870, andererseits BVerwGE 48, 211.

204

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textualität angesprochen worden. Nimmt man beide Phänomene zusammen – Intertextualität und Interpretationsgemeinschaft –, werden damit aber auch die beiden gegensätzlichen Einschätzungen, mit denen die Bedeutung des Normtextes eines Gesetzes oft diskutiert wird, obsolet. Sicher sind die Annahmen des Gesetzespositivismus heute nicht mehr diskussionswürdig. Aber auch die Gegenthese, dass der Gesetzestext eigentlich nur ein Argumentationsgesichtspunkt unter anderen ist oder gar nicht mehr ist als Papier und Druckerschwärze 205, greift zu kurz. b)

Der »Hypertext Recht«

Aus der Perspektive einer sprachwissenschaftlichen Theorie der Intertextualität liegt es nahe, Wörterbücher mit Literaturformen wie der des Gesetzeskommentars zu vergleichen und gleichzusetzen. Der Kommentar wird dann zum Wörterbuch der Juristen. »Beide sammeln gelungene Gebrauchsbeispiele«, wie es R. Christensen formulierte. 206 Und man benutzt einen Kommentar als Jurist ja auch in der Tat wie ein spezielles Fachwörterbuch. Wer wissen möchte, was »wegnehmen« in § 242 StGB bedeutet, greift zum Kommentar, um den richtigen fachsprachlichen Gebrauch zu ermitteln; ein Blick in ein allgemeines Wörterbuch der deutschen Sprache würde da nur in die Irre führen. Der strukturelle Unterschied wird aber sofort deutlich, wenn wir uns fragen, was denn »gelungene Gebrauchsbeispiele« eigentlich sind. Wie man sie für ein Wörterbuch ermittelt und sammelt, hat die Duden-Redaktion als »Wortsuche per Computer« so beschrieben: »Das wichtigste Verfahren der Dudenredaktion besteht darin, dass sie mithilfe von Computerprogrammen sehr große Mengen an elektronischen Texten daraufhin ›durchkämmt‹, ob in ihnen bislang unbekannte Wörter enthalten sind. Treten sie in einer gewissen Häufung und einer bestimmten Streuung über die Texte hinweg auf, handelt es sich um Neuaufnahmekandidaten für die Wörterbücher. Die Textbasis bildet dabei das Dudenkorpus, das mittlerweile mehr als 2 Milliarden Wortformen zählt und sich aus einer Vielzahl aktueller Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Romane, Reden, Reparatur- und Bastelanleitungen usw. zusammensetzt.« 207

205 206 207

Zu diesem Bild Müller/Christensen 2004, Rn. 531. R. Christensen 2010, S. 130. Vgl. http://www.duden.de/ueber_duden/wie-kommt-ein-wort-in-den-duden

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Ähnlich wird etwa derjenige, der unterschiedliche Auffassungen zu einer Rechtsfrage wissenschaftlich untersuchen will, die juristische Literatur und entsprechend die Datenbanken »durchkämmen«. Der typische Standardkommentar wird ihm dafür aber kaum behilflich sein. Und das liegt an dem entscheidenden Unterschied: Anders als ein Wörterbuch hat der Kommentar nicht die Aufgabe, die Gebrauchsbeispiele in möglichst großer Variationsbreite zu generieren, sondern zu selektieren; er soll möglichst exakt angeben, wie und mit welchem »Verlässlichkeitswert« eine Verwendungsregel im geltenden Recht verwandt wird. Der Hypertext Recht ist mit anderen Worten durch einen sehr spezifischen Wertungscode strukturiert. Jede Wissenschaft verfügt über einen Code, über den sie die Bewertung von Informationen steuert. Intertextualität wird durch Rankings handhabbar gemacht: Rankings der Standardlehrbücher, der Handbücher, der Zeitschriften, Vorstellungen über den Rang von Fakultäten, Instituten, Autoren. Das ist im Bereich des Rechts zunächst auch nicht grundsätzlich anders. Die Orientierung an diesen wissenschaftlichen Rankings tritt jedoch nahezu völlig in den Hintergrund, wenn mit der Frage, was denn »rechtens« ist, im juristischen Hypertext nach dem geltenden fachsprachlichen Gebrauch eines Rechtsbegriffes gesucht wird. Dieser geltende Gebrauch wird selbst dann (mit-) recherchiert, wenn man primär einen Beleg für einen Bedeutungsinhalt sucht, der davon abweicht, weil man ein anderes Ergebnis begründen will. Entscheidend ist also nicht die Möglichkeit der freien assoziativen Bewegung in der Intertextualität, die den Hypertext Recht ausmacht, sondern der zum Teil informelle, zum Teil aber auch sehr formelle Code, der ihn strukturiert und mit dem der Nutzer auch arbeitet. Das Entscheidende an den »Gebrauchsbeispielen« und an den Links, die wir in einem Gesetzeskommentar suchen, sind deshalb nicht die unterschiedlichen Wortverwendungsmöglichkeiten an sich, sondern die Informationen, mit denen sie »annotiert« sind. 208 Der eigenen Auffassung und den »Links« werden Orientierungscodes beigefügt: unstr., h. L., h. M., a. A., st.Rspr. Die entscheidende Wertung ergibt sich nicht zuletzt aus der Information, von welchem Gericht das »Gebrauchsbeispiel« stammt. Denn weitgehend Im Hinblick auf diese wertende Verlinkung erhält die Intertextualität dann auch ihren die Wortbedeutung deutlich stärker verengenden und reglementierenden Charakter; die Akzentuierung bei M. Morlok 2004, S. 129 ff. ist hier deutlich zurückhaltender.

208

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unabhängig von dem Streit um die Einordnung des Richterrechts in die traditionelle Rechtsquellenlehre folgt die Praxis in ihrem Wertungscode, mit dem sie sich an Präjudizien hält, der Hierarchie der »richterlichen Rechtsquelle«. Die Mechanismen, die unter dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Rechtsprechung beschrieben wurden, 209 bestimmen also auch in spezifischer Weise die Struktur des Hypertextes Recht. Die Texte, die den Gebrauch von Rechtsbegriffen belegen, und die Texte, die die Bedeutung von Rechtsbegriffen festlegen, sind im »Hypertext Recht« in einem institutionell bestimmten Gefüge aufeinander bezogen. Diese Beziehung ist nicht nur linear, sondern selbstreferentiell; ein Gericht (Senat), das seine Rechtsprechung fortführt, weiterentwickelt oder ändert, tut das (soweit es nach üblichem professionellen Standard arbeitet) in der Regel immer im Selbstbezug auf die eigene Rechtsprechung oder andere Texte des rechtlichen Hypertextes und nicht »aus dem Off«. Der Hypertext Recht ist damit das eine entscheidende Moment für die semantische Stabilität von Rechtsbegriffen und damit auch die eine Voraussetzung für die Kohärenz des Rechts. Das andere liegt im Systemischen des Rechts. Der »Hypertext Recht« ist, wie gesagt, dadurch gekennzeichnet, dass er die Links nicht zur freien Wahl stellt, sondern durch einen Code reglementiert und begrenzt. Das Systemische des Rechts führt darüber hinaus zu einer weiteren Beschränkung semantischer Varianz. Rechtliche Systeme begrenzen die Zahl wählbarer Knoten und Verlinkungen – also wählbarer Bedeutungsvarianten – inhaltlich noch viel entscheidender und nachhaltiger als die genannten Codes. Das gilt, wie sich im folgenden Kapitel 18 zeigen wird, insbesondere dann, wenn die Systeme dogmatische Qualität haben. Begriffe wie »Versuch«, »Vertrag« oder »Verwaltungsakt« sind in ihren jeweiligen Systemen so stabil festgelegt, dass sie ohne Umgestaltung des Systems selbst kaum geändert werden können. Wenn es zu Veränderungen kommt, dann sind es meist nur Modifikationen durch ergänzende Rechtsfiguren, wie etwa die des »faktischen Vertrages« oder die des »Abwägungsgebotes« als spezifisches Zwischenglied zwischen Ermessen und Beurteilungsspielraum.

209

Kap. 8: 1. Kohärenzthese.

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V.

Die »Wortlautgrenze«

In den vorausgehenden Abschnitten haben wir uns auf das Problem konzentriert, auf welche Weise trotz aller semantischen Offenheit eine für das Recht unhintergehbar notwendige semantische Stabilität hergestellt werden kann. Die Frage, ob sich dem Wortlaut eines Gesetzes überhaupt Grenzen für die Auslegung entnehmen lassen und, wenn ja, welche, blieb offen. Diese Frage, am besten bezeichnet als Frage nach der semantischen Grenze, ist, wie leicht einsichtig, nicht identisch mit der nach der semantischen Bedeutung. Für den Umgang mit vagen Begriffen haben H.-J. Koch und H. Rüßmann das oben dargestellte Dreiteilungsmodell entwickelt 210; sie unterscheiden zwischen den sogenannten »neutralen Kandidaten« und den Gegenständen, die unzweifelhaft unter den Begriff fallen (so genannte »positive Kandidaten«), sowie den Gegenständen, auf die der Begriff ebenso unzweifelhaft nicht anzuwenden ist (sogenannte »negative Kandidaten«). Dieses Modell konkretisiert, worum es bei der »Wortlautgrenze« geht: die negativen Kandidaten. Die Diskussion um die »Wortlautgrenze« ist in der aktuellen Auseinandersetzung um Semantik und Methode zu einem der zentralen Streitpunkte geworden. 211 Während etwa die Rechtsprechung des BVerfG ganz selbstverständlich von einer solchen Grenze ausgeht, 212 handelt es sich aus sprachphilosophischer und linguistischer Sicht bei der »Wortlautgrenze« um einen ungeeigneten Maßstab: Der Wortlaut könne die Rechtsanwendung nicht begrenzen. Die Bedeutung einer Norm sei kein vor der Rechtsanwendung feststehender Maßstab. 213 Für die einen ist eine empirische Ermittlung von Bedeutungen unmöglich, 214 während der Linguist D. Busse etwa meint, »daß es (unterhalb der Objektivitätsfixiertheit juristischer Gesetzesinterpreten) schon so etwas wie eine empirische Feststellbarkeit von Kap. 16 III. 3. b. aa. Zu dieser Diskussion vgl. einerseits M. Klatt 2004 und Ders. 2005, S. 343 ff. m. N.; anderseits R. Christensen 2005 und 2010; Kudlich/Christensen 2007; siehe auch Jestaedt 2012; S. 59 f. 212 BVerfGE 92, 1–25 – juris Rn. 46: »Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation«. 213 R. Christensen 2005, S. 14. 214 So die Beschreibung der Position Christensens durch M. Klatt 2005, S. 348 f. 210 211

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Bedeutungen gibt«. 215 – Auch die nachfolgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es »so etwas wie« semantische Grenzen gibt und dass sich Kriterien entwickeln lassen, um Überschreitungen solcher Grenzen festzustellen. Zunächst zu einem grundsätzlichen Gegenargument: Das immer wieder verwendete Sprachspielargument trägt die grundsätzliche sprachphilosophische Kritik der Methodenskeptiker nicht. Denn es steht, wie gezeigt, nicht nur für semantische Offenheit, sondern auch für sprachliche Verwendungsregeln. Gerade eine Gebrauchstheorie der Sprache ist ohne einen hoch wirksamen Konventionalismus 216 in der Bedeutungsfeststellung nicht denkbar. Von ihm gehen die Sprachnutzer ja auch mit aller Selbstverständlichkeit aus. Ohne die in der Regel begründete Erwartung, dass der Andere versteht, was ich mit einem theoretischen Text sagen will, in meinem Brief oder meiner Mail schreibe, und dass die entscheidenden Punkte, um die es den Parteien geht, in einem Vertrag auch hinreichend sprachlich fixiert werden können – welchen Sinn sollte dieses Tun sonst haben? Für unsere rechtsmethodischen Überlegungen können wir von den bisherigen Darlegungen zum Problem der semantischen Stabilität ausgehen. Sie zeigen bereits dreierlei: 1. Der Rechtsstreit als semantischer Kampf ums Recht wird durch semantische Grenzziehungen entschieden (z. B.: Fügt sich ein Bauvorhaben nach § 34 BauGB ein?). 2. Die Grenzziehung muss regelhaft sein, baut also auf Verwendungsregeln auf, und sofern diese variant sind, ist das Rechtssystem darauf angelegt, Begriffsfeststellungen zu stabilisieren. 3. Auf der Ebene des Urteilens macht die semantische Grenzziehung das »Kerngeschäft« aus; auf der Ebene der Rechtsmittel (und auch der Rechtswissenschaft) ist eine Auseinandersetzung mit definitorischen Argumenten unabdingbar, wenn mit rationalen Kriterien überprüft werden soll, ob sich der Richter innerhalb seiner Entscheidungsgrenzen gehalten hat. Es ist im Wesentlichen die im 3. Punkt angesprochene Perspektive, unter der wir in diesem Abschnitt die Frage der »Wortlautgrenze«

D. Busse 1989, S. 124. M. Klatt stützt seine »analytische Rekonstruktion semantischer Grenzen« auf die normative Pragmatik R. Brandoms, die sprachphilosophisch derzeit wohl am stärksten diskutierte Variante des Konventionalismus; dazu näher M. Klatt 2004, S. 349 ff. m. w. N. – Kritisch Kudlich/Christensen 2007.

215 216

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zu erörtern haben. Semantische Grenzen sind nicht nur eine »unverzichtbare Grundlage der juristischen Methodik« 217. Sie sind auch notwendig, um dem speziellen Gesetzesvorbehalt des Art. 103 Abs. 2 GG und dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt des Art. 20 Abs. 3 GG überhaupt eine juristische Kontur geben zu können. Erst wenn deren verfassungsrechtliche Vorgaben hinreichend konkretisiert sind, kann auch hinreichend bestimmt werden, ob der Begriff der »Wortlautgrenze« diese Funktion angesichts des linguistischen und sprachphilosophischen Diskussionsstandes auch einlösen kann (2. und 3.). Zuvor sind jedoch einige Klarstellungen angezeigt (1.).

1.

Notwendige Differenzierungen

Der Terminus von der »Wortlautgrenze« gibt zu Missverständnissen Anlass. 218 Es geht vor allem nicht um das einzelne Wort. Wie nach den vorstehenden Darlegungen zur juristischen Semantik nicht zweifelhaft sein kann, kommt es für die festzustellende Wortbedeutung auf die Bedeutung an, die aus dem Kontext zu ermitteln ist; »Kontext« dabei nicht nur verstanden als Kontext des Satzes, sondern als der Kontext, den der Jurist insgesamt bei der Wortauslegung zugrunde zu legen hat. 219 Schließlich bleibt das Missverständnis auszuräumen, das Abstellen auf die »Wortlautgrenze« bedeute die »These, dass der Wortlaut die Grenze der Auslegung markiere«. 220 Zu Recht weist M. Klatt darauf hin, dass eine solche Sperrwirkung für die meisten Rechtsgebiete gerade nicht gegeben ist. 221 Ob sie besteht, ist wiederum in erster Linie eine Frage konkreter verfassungsrechtlicher Vorgaben für den jeweiligen Normbereich. – Wenn gleichwohl der Terminus der »Wortlautgrenze« beibehalten und nicht durch den präziseren der »semantischen Grenze« ersetzt wird, dann weil er sich als Schlagwort für die Problemstellung eingebürgert hat und so auch von der Rechtsprechung verwandt wird. 222 M. Klatt 2005, S. 345 ff. Vgl. dazu und zum Folgenden M. Klatt 2005, S. 344. 219 Also auch Systematik, Terminologie und Gesetzesmaterialien – zu den Materialien näher Kap. 20 IV. 220 So M. Jestaedt 2012, S. 59. 221 M. Klatt 2005, S. 344. 222 Vgl. etwa aus 2014: BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2014 – KRB 47/13 –, juris; OVG Lüneburg, Urteil vom 30. April 2014 – 1 KN 110/12 –, juris, NuR 2014, 568– 217 218

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In der Sache ist klarzustellen, dass die Feststellungen der Wortbedeutung und der »Wortlautgrenze« unterschiedliche Operationen sind und auch unterschiedliche zeitliche Dimensionen haben. Sprache ist vom Gebrauch abhängig und verändert sich mit ihm. Sie ist ein Fließgeschehen. Im Bereich des allgemeinen Sprachgebrauchs entstehen Wortverwendungsregeln weitgehend nach dem Muster des Marktes als »invisible-hand Phänomen« (III. 3.). Auch für die rechtliche Bedeutung, d. h. die juristischen Wortverwendungsregeln, gilt, dass sie sich aus dem Gebrauch ergeben – aus dem Gebrauch der Norm von Fall zu Fall, in einer Kette von Entscheidungen. Aber ergibt sich aus diesem Gebrauch bereits etwas zur »Wortlautgrenze«? Der Richter, der »seinen« Fall zu entscheiden hat und sich über die anzuwendenden Verwendungsregeln klar werden muss (z. B. hinsichtlich des »Einfügens« in § 34 BauGB), steht in einer solchen Kette. Die herkömmliche »Auslegung« erweist sich aus dieser Sicht als Aufgabe, den »Gebrauch« in der Rechtssprache zu ermitteln. Und an dieser Stelle bedeutet methodisches Arbeiten nichts anderes, als sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob man sich mit seinem Verständnis noch im Rahmen des bisherigen Gebrauchs hält oder stattdessen eine abweichende, evtl. auch neue Verwendungsregel zugrunde legt. – Doch man kann mit diesem Beispiel sicher nicht sagen, dass immer dann, wenn der Richter eine abweichende Verwendungsregel gebraucht, auch die Wortlautgrenze überschritten ist. Welcher Art muss dann aber eine solche Abweichung sein? Eine Abweichung von der h. M.? Eine neue Verwendungsregel, die sich aber auf die Entstehungsgeschichte stützen kann? Ein Rückgriff auf einen Sprachgebrauch der Alltagssprache? Kann sich ein Gericht in diesem Fall auch dann auf den »möglichen Wortsinn« berufen, wenn der Gesetzgeber (nach der Entstehungsgeschichte) eindeutig einen fachlichen Terminus benutzt hat, dem umgangssprachlich oder mit Verwendungsregeln aus anderen theoretischen Ansätzen nicht beizukommen ist (Beispiel. »volkswirtschaftlich besonders förderungswürdig«)? – Fragen, die deutlich machen, dass die Skepsis gegenüber dem Kriterium der »Wortlautgrenze« gute Gründe hat und die Bestimmung von

571 (Bebauungsplan); BVerwG, Urteil vom 27. März 2014 – 2 C 2/13 –, juris Rn. 15, DRiZ 2014, 346–347: »Eine Auslegung, die […] dieses Tatbestandsmerkmal ignoriert, würde die Wortlautgrenze überschreiten und sich damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen« – mit Hinweis auf BVerfGE 119, 247, 259 und BVerfGE 128, 193, 209. f.

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17 · Rechtsprechung und Sprache

Grenzen nur über die Funktion gelingen kann, die die Verfassung dem Gesetzeswortlaut zuweist. Insbesondere in Art. 103 Abs. 2 GG wird die Funktion einer solchen Grenzziehung gesehen. Um das Problem der »Wortlautgrenze« im Zusammenhang klären zu können, muss die verfassungsrechtliche Bedeutung dieser Bestimmung für die Methodenlehre deshalb auch vorab geklärt werden und nicht erst im Rahmen des Kapitels 20 über die verfassungsrechtlichen Vorgaben.

2.

Art. 103 Abs. 2 GG

Während die Fruchtbarkeit der allgemeinen These, »Methodenfragen sind Verfassungsfragen« 223, erst noch zu erweisen ist, liegt die Relevanz des Art. 103 Abs. 2 GG (»Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.«) für die Methodik auf der Hand. In Gestalt des Bestimmtheitsgebotes und des Rückwirkungsverbotes enthält die Bestimmung nicht nur Handlungsanweisungen an den Gesetzgeber. Mit dem Grundsatz »nullum crimen sine lege stricta« statuiert sie zugleich auch eine wesentliche Handlungsbeschränkung für den Richter. 224 Wie andere Gesetze sind auch Strafgesetze auslegungsbedürftig und es gelten die üblichen Auslegungsregeln. Durch Art. 103 Abs. 2 werden jedoch die Konkretisierungstechniken im Umgang mit dem Gesetz, die dem Richter sonst zur Verfügung stehen – insbesondere seine Kompetenz zur Rechtsanpassung und zur Rechtsfortbildung –, rechtsgrundsätzlich eingeschränkt. Er verbietet dem Richter jede strafbegründende oder strafverschärfende Auslegung, mit der der Norminhalt überschritten wird, insbesondere also jede Form einer Analogie. Die Grundpositionen sind hier kaum streitig und die Rechtsprechung des BVerfG ist hier in den Grundsätzen seit langem eindeutig: »Der Gesetzgeber und nicht der Richter ist zur Entscheidung über die Strafbarkeit berufen (vgl. BVerfGE 71, 108 h116i; 92, 1 h19i; 126, 170 h197i). Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, ob und in welchem Umfang ein bestimmtes Rechtsgut mit den Mitteln des Strafrechts verteidigt werden muss. Den B. Rüthers 2006, S. 56. Sehr klar und grundsätzlich dazu Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 IV Rn. 224 ff. (Stand 2003).

223 224

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Strafgerichten ist es verwehrt, seine Entscheidungen zu korrigieren (vgl. BVerfGE 92, 1 h13i; 126, 170 h197i). Sie müssen in Fällen, die vom Wortlaut einer Strafnorm nicht mehr gedeckt sind, daher zum Freispruch gelangen und dürfen nicht korrigierend eingreifen (vgl. BVerfGE 64, 389 h393i; 126, 170 h197i). Aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit folgt ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Dabei ist ›Analogie‹ nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die – tatbestandsausweitend – über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht, wobei der Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen ist (vgl. BVerfGE 71, 108 h115i; 82, 236 h269i; 92, 1 h12i; 126, 170 h197 f.i). Dementsprechend darf die Auslegung und Anwendung der Tatbestandsmerkmale, mit denen der Gesetzgeber das unter Strafe gestellte Verhalten bezeichnet hat, nicht dazu führen, dass die dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird«. 225

Das BVerfG bezeichnet in diesen Grundsätzen auch den für die Methode entscheidenden Punkt: den »Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation«. a)

»Wortlautgrenze« – Sprachwandel und Sprachebenen

In seiner Kommentierung zu Art. 103 Abs. 2 spricht Schmidt-Aßmann plastisch vom »›Wortsinn‹ als Kompetenzgrenze« 226 und es ist in der Tat nicht erkennbar, wie anders als über den »Wortsinn« oder die »Wortlautgrenze« Kriterien für eine Grenzziehung zwischen dem »strengen Gesetzesvorbehalt« des Art. 103 Abs. 2 GG und dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt des Art. 20 Abs. 3 GG zu ermitteln wären. Die Diskussion um die semantische Tauglichkeit der »Wortlautgrenze« steht also vor der Alternative, entweder eine Grundsatznorm des liberalen Rechtsstaates für obsolet zu erklären, weil ein entscheidendes Unterscheidungskriterium aus rechtslinguistischer Sicht nicht einlösbar ist, oder trotz aller Schwierigkeiten den Versuch zu unternehmen, Kriterien für eine Bestimmung des »Wortsinns als Kompetenzgrenze« zu finden. (1.) Angesichts der Phänomene des Sprachwandels ist die erste Frage, auf die es bei dieser Feststellung der Wortbedeutung und der

BVerfGE 130, 1–51 – juris Rn. 165. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 IV Rn. 225 (Stand 2003).

225 226

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»Wortlautgrenze« ankommt, die nach dem Zeitpunkt, auf den abzustellen ist – auf den der Entscheidung oder den der parlamentarischen Verabschiedung. Die Antwort ergibt sich aus der Doppelfunktion des Art. 103 Abs. 2 GG: Diese Grundnorm soll einerseits gewährleisten, dass »die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten im voraus vom Gesetzgeber … gefällt wird« 227 (1.1). Sie liegt andererseits in dem rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten: »Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist« 228 (1.2). (1.1) Weil das Grundgesetz die alleinige Kompetenz des Gesetzgebers gewährleisten will, zu bestimmen, was strafwürdiges Verhalten ist, enthält Art. 103 Abs. 2 GG »einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung festzulegen.« 229 Es ist allein der Gesetzgeber, der »mit der Entscheidung über strafwürdiges Verhalten die demokratisch legitimierte Verantwortung für eine Form hoheitlichen Handelns (übernimmt), die zu den intensivsten Eingriffen in die individuelle Freiheit zählt; es ist eine grundlegende Entscheidung, in welchem Umfang und in welchen Bereichen ein politisches Gemeinwesen gerade das Mittel des Strafrechts als Instrument sozialer Kontrolle einsetzt.« 230 Für eine Ermittlung der Wortlautgrenze ist deshalb als Ausgangspunkt festzuhalten: Entscheidend muss zunächst das »ursprüngliche(n) Sprachverständnis des Gesetzgebers (Gesichtspunkt der parlamentarischen Verantwortung für die Strafdrohung, Parlamentsvorbehalt)« 231 sein. Um auf die Beschreibung des Sprachwandels als »Fließgeschehen« zurückzukommen, bedeutet dies, dass der für die Bedeutungsfeststellung relevante Sprachgebrauch gleichsam auf den Stand »eingefroren« wird, der bei Erlass des Gesetzes bestand. Denn so wenig die Rechtsprechung Straftatbestände strafverschärfend ändern darf, so wenig darf auch ein Sprachwandel dies bewirken. (1.2) Eine differenziertere Betrachtung erfordert der Sprachwandel unter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Schutzes des Normadressaten. Dieser verlangt, dass ein Richter einen Sachverhalt wei227 228 229 230 231

BVerfGE 92, 1–25 – juris Rn. 44: vgl. auch BVerfGE 126, 170–233 – juris Rn. 71. BVerfGE 126, 170, 197 f. – juris Rn. 70, m. w. N. BVerfGE 126, 170, 197 f. – juris Rn. 69. BVerfGE aaO. BVerfGK 16, 190–198 – juris Rn. 21.

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terhin nur dann unter eine Strafnorm subsumieren darf, wenn dies »auch nach dem aktuellen Sprachverständnis der Normadressaten (Gesichtspunkt der Erkennbarkeit der Strafdrohung) möglich ist«. 232 Wichtig ist dann allerdings auch die Differenzierung, die die 2. Kammer des 2. Senats BVerfG anfügt: »Aus dem allgemeinen Grundsatz, dass es in Grenzfällen genügt, wenn das Risiko einer Bestrafung erkennbar ist, folgt allerdings auch, dass nicht jede Veränderung im tatsächlichen Sprachgebrauch sogleich die Erkennbarkeit der Strafdrohung in Frage stellen kann. Vielmehr darf ein nach herkömmlichem Sprachgebrauch von einer Strafnorm erfasster Sachverhalt erst dann nicht mehr unter die Vorschrift subsumiert werden, wenn sich der ›neue‹ Sprachgebrauch so weit gefestigt und durchgesetzt hat, dass das Bewusstsein für das herkömmliche Verständnis nicht mehr als allgemein vorhanden vorausgesetzt werden kann. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Normadressaten, die den Sprachgebrauch des Gesetzes tatsächlich nicht mehr verstehen und daher bei einem Gesetzesverstoß ohne Unrechtsbewusstsein handeln, im geltenden Strafrecht durch die Vorschrift über den Verbotsirrtum (§ 17 StGB; vgl. Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 17 Rn. 8a zur Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums bei Sprachunkenntnis) ausreichend geschützt werden.« 233 (2.) Diese Ausführungen leiten unmittelbar zum zweiten Fragenkreis über. Neben dem Problem der zeitlichen Dimension stellt sich das Problem der Sprachebene: Ist der herkömmliche Sprachgebrauch oder die fachsprachliche Bedeutung zu ermitteln? – Nimmt man die vom BVerfG immer wieder benutzte Formulierung, dass der Wortlaut »aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen ist« 234, beim Wort, stellt das Gericht entscheidend auf den herkömmlichen Sprachgebrauch ab. Es verlangt aber nur, »dass die Normadressaten im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht« 235. Wie oben beschrieben (I. 2. b), verweist das Gericht im Nachsatz oder jedenfalls im nächsten Absatz dann immer auch auf die Notwendigkeit der Auslegung und Interpretation, also darauf, dass bei näherem Hin-

BVerfGK aaO. BVerfGK aaO. 234 BVerfGE 126, 170, 197 f. – juris Rn. 71, mit Hinweis auf. BVerfGE 71, 108 h115i; 82, 236 h269i; 92, 1 h12i; 126, 170 h197 f.i. 235 BVerfGE 126, 170, 197 f. – juris Rn. 71; Hervorhebung d. Verf. 232 233

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sehen die Wortverwendungsregel der Fachsprache zu entnehmen ist. Letztlich gilt dann doch nur der zitierte allgemeine Grundsatz, »dass es in Grenzfällen genügt, wenn das Risiko einer Bestrafung erkennbar ist«. 236 b)

Bestimmungskriterien

Für die Bestimmung des »Wortsinns als Kompetenzgrenze« bedeuten diese Überlegungen zunächst, dass wir nicht entscheidend auf die Umgangssprache abstellen können. Die Frage, ob eine Interpretation die Wortlautgrenze beachtet oder nicht beachtet hat, lässt sich insbesondere nicht davon abhängig machen, ob es in den allgemeinen Wörterbüchern Belege für dieses Wortverständnis gibt oder nicht. Wörter und Begriffe beziehen ihre Bedeutung, wie immer wieder betont, aus dem Kontext, in dem sie stehen. Stehen sie im Kontext »Recht«, ist ihr Gehalt aus ihrem rechtlichen Zusammenhang heraus zu bestimmen. Und der Kontext, auf den es nach Art. 103 Abs. 2 GG ankommt, ist das »ursprüngliche(n) Sprachverständnis des Gesetzgebers«, das der Entscheidung über »Strafwürdigkeit oder Straffreiheit im demokratisch-parlamentarischen Willensbildungsprozess« zugrunde lag. Es handelt sich also nicht allein und nicht entscheidend um semantische Operationen, wenn von der »Wortlautgrenze« die Rede ist. Gemeint sein kann immer nur der »Wortsinn« in Abhängigkeit von juristisch relevanten Kontexten (dem Normtext und den »Vortexten« der Entstehungsgeschichte). Nur in diesem Verständnis als juristische Operation kann die Wortlautgrenze auch ihre juristisch-methodische Funktion erfüllen. Oder wie es die Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio in ihrer abweichenden Meinung zur Entscheidung »Rügeverkümmerung« formuliert haben: »Andernfalls wäre es für den Gesetzgeber angesichts der Schwierigkeit, textlich Eindeutigkeit herzustellen, nahezu unmöglich, sein Regelungsanliegen gegenüber der Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum durchzusetzen.« 237 Für die praktische Handhabung bedeutet dies insbesondere, dass die Eindeutigkeit der im Wege der Auslegung gewonnenen gesetzgeberischen Grundentscheidung nicht notwendig dadurch relativiert wird, »dass der Wortlaut Für BVerfGE 126, 170, 197 f. – juris Rn. 75 »trägt dies der Unvermeidbarkeit von Randunschärfen Rechnung«. 237 BVerfGE 122, 248–303 – juris Rn. 100. 236

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der einschlägigen Norm auch andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet, soweit diese Deutungen offensichtlich eher fern liegen oder von der ganz überwiegenden Praxis zu keinem Zeitpunkt ernsthaft erwogen worden sind«. 238 Weil es in erster Linie um eine juristische und nicht um eine semantische Operation geht, hat es das BVerfG in seiner »Sitzblockade III«-Entscheidung deshalb auch mit dem Satz bewenden lassen, dass der Begriff der Gewalt »im allgemeinen Sprachgebrauch mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird«, ohne dem weiter nachzugehen, und dann entscheidend darauf abgestellt, dass der Begriff »im Zusammenhang des Normgefüges verstanden werden« muss. 239 Kriterium war also nicht die Bedeutung des einzelnen Wortes »Gewalt«, sondern der Kontext, der dadurch gekennzeichnet ist, dass über das Merkmal der »Nötigung« hinaus mit den Begriffen »Gewalt« und »Drohung« zusätzlich die Nötigungsmittel als Voraussetzungen normiert sind, die in der Interpretation auch ihr eigenes Gewicht beanspruchen. 240 Für die Grenzziehung ist aber nicht nur der Kontext maßgebend, der sich aus dem Normgefüge ergibt. Da es entsprechend der Ratio des Art. 103 Abs. 2 GG – die Entscheidung über den Inhalt von Strafnormen hat allein der Gesetzgeber zu treffen – bei der Interpretation wesentlich auf das »ursprüngliche(n) Sprachverständnis des Gesetzgebers« ankommt, kann auch kein Kompetenzverstoß vorliegen, wenn eine Auslegung auf dieses Sprachverständnis gestützt werden kann. – Zu prüfen bleibt dann nur, ob die Auslegung dem Sprachverständnis der Normadressaten noch angemessen ist. Ausgeschlossen ist jedoch eine Argumentation, die sich darauf beruft, dass Auslegung und Anwendung der Strafnorm auf ein in der Rechtsprechung seit langem gefestigtes Verständnis eines Tatbestandsmerkmals oder der Norm insgesamt beruhen 241, wenn sie auf eine dynamische Ausweitung eines Straftatbestandes hinausläuft. 242 Können Begriffsverwendungen am Anfang der Kette nicht an ein »ursprüngliche(s) Sprachverständnis des Gesetzgebers« anBVerfGE 122, 248 aaO. BVerfGE 92, 1–25 – juris Rn. 56. 240 Zur näheren Begründung vgl. Müller/Christensen 2004, Rn. 327 ff. 241 Vgl. BVerfGE 126, 170 – juris Rn. 82. 242 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 103 Abs. II Rn. 46 (2. Aufl. 2008); Wortsinn und »anerkannte Rechtsprechung« sind keine gleichrangigen Erkenntnisquellen, Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 103 II Rn. 229 (Stand 1992). 238 239

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knüpfen, so genügen sie dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitserfordernis auch dann nicht, »wenn sie durch eine gefestigte Rechtsprechung eine Auslegung erfahren haben, die dem Normadressaten hinreichend verdeutlicht, was die Bestimmung strafrechtlich verbietet«. 243 Art. 103 Abs. 2 GG ist eben nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Voraussehbarkeit zu sehen, sondern auch unter dem der alleinigen Kompetenz des Gesetzgebers.

3.

Art. 20 Abs. 3 GG und die »Wortlautgrenze«

Im Rahmen des allgemeinen Gesetzesvorbehalts, den Art. 20 Abs. 3 GG statuiert (»Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.«), gibt es eine »Wortlautgrenze« nicht in gleicher Weise als Kompetenzgrenze wie bei Strafnormen. Die Rechtsfortbildung ist im Rechtsprechungsauftrag der Gerichte eingeschlossen. 244 Dynamische Ausweitungen gesetzlicher Tatbestände und Rechtsetzung via Analogie bilden kein grundsätzliches Problem. Ein »Weihnachtsmann« kann, salopp formuliert, im Sinne des Gesetzes einem »Schokoladenosterhasen« durchaus gleichgestellt werden. Gleichwohl vermittelt sich Gesetzesbindung zunächst über den Text; anders ist die Regelbindung heute nicht zu denken. Es ist der in einem höchst formalisierten Verfahren festgestellte Text, in dem sich der Geltungsanspruch des Gesetzes manifestiert. 245 Zwar markiert der »mögliche Wortsinn des Gesetzes« nicht mehr »die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation«, aber es gilt auch für den Bereich des Art. 20 Abs. 3 der Satz: »Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium.« 246 Die sich aus dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt ergebende Gesetzesbindung verlangt von dem Richter, dass er methodisch mit dem Gesetz umgeht – sonst handelt er willkürlich. 247 Und der wesentlich erste Schritt in der So die abweichende Meinung in der »Sitzblockade III«-Entscheidung, BVerfGE 92, 1–25. – juris Rn. 79. 244 Näher Kap. 20. 245 Zum Grundgedanken vgl. U. Volkmann 2013, S. 300 f. 246 BVerfGE 92, 1–25 – juris Rn. 46. 247 Das ist, wie die zunehmende Zahl von entsprechenden Entscheidungen des BVerfG zeigt, nicht nur eine theoretische Schlussfolgerung. 243

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methodischen Bewertung der rechtlichen Ausgangshypothese ist es, sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob man sich mit seinem Textverständnis noch im Rahmen des juristischen Sprachgebrauchs hält, d. h. sich noch im Bereich des »Hypertextes Recht« bewegt. Setzt sich der Richter hier über den Wortlaut hinweg, muss er für die weitere Argumentation gute Gründe haben, um seine Auslegung so abzusichern, dass er sich nicht im Ergebnis zu Recht mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, er habe die gesetzliche Regelung überspielt, weil sie ihm nicht gepasst habe. Es sind vor allem zwei Fallgruppen, in denen sich diese allgemeinen Überlegungen auch verfassungsrechtlich konkreter fassen und erläutern lassen und die ohne den Gesichtspunkt der »Wortlautgrenze« methodisch nicht einmal greifbar wären. Sowohl die Grenzen »verfassungskonformer« und »europarechtskonformer« Auslegung als auch die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung lassen sich nur bestimmen, wenn methodisch sinnvoll auch über den Gesetzestext und die Grenzen, die sein Wortlaut der Interpretation setzt, diskutiert werden kann. 248 Mit diesen verfassungsrechtlichen Grenzen werden wir uns in Kapitel 20 ausführlich auseinanderzusetzen haben. Festzuhalten ist bereits in diesem Kapitel aber die prinzipielle Notwendigkeit und auch Möglichkeit, in der juristischen Argumentation mit einer »Wortlautgrenze« zu arbeiten. Dass es dabei nicht um einen Wortsinn »an sich« gehen kann, sondern nur um einen »Wortsinn« in Abhängigkeit von juristisch relevanten Kontexten, insbesondere den »Vortexten« der Entstehungsgeschichte, ist bereits gesagt worden. 249 Nicht zu bestreiten ist auch, dass es hier keine strenge Exaktheit geben kann, Randunschärfen also bleiben. 250 Zu diskutieren ist aber, ob die Interpretation eines Gesetzestextes mit einem Wortverständnis operiert, das – bezogen auf den Kontext des Regelungszusammenhanges und auch seine Vor-Texte – eindeutig außerhalb des bisherigen Sprachgebrauchs liegt. Der prinzipielle Einwand, dass gleichwohl eine Grenze zwischen einer möglichen und einer durch den Sprachgebrauch nicht mehr gedeckten, sondern höchst kreativen Interpretation sinnvoll nicht zu ziehen sei, würde Zu den methodischen Grenzen der verfassungskonformen Auslegung vgl. BVerfGE 119, 247–292, Rn. 92 ff., st.Rspr.; zu denen der Rechtsfortbildung BVerfG, B. v. 19. 05. 2015 – 2 BvR 1170/14 –, m. N., juris Rn. 51 ff. 249 Vgl. auch M. Klatt 2005, S. 345 ff. 250 Bleiben müssen, wie die Exkurse zu Wittgenstein – Kap. 4 II. und in diesem Kap. – gezeigt haben. 248

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letztlich jede Diskussion um Interpretation und Methode zu einem freien Spiel frei flottierender Argumentationen machen.

4.

Zur Veranschaulichung: BAGE 137, 275–291 (sachgrundlose Befristung)

Um diese Feststellungen nicht im Abstrakten zu belassen, sei im Folgenden ausführlicher ein Urteil des BAG vom 06. April 2011 zur zeitlichen Beschränkung des Vorbeschäftigungsverbots in § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG 251 besprochen, an dem sich anschaulich darstellen lässt, dass es eine »Wortlautgrenze« gibt und wie man mit ihr methodisch nicht umgehen sollte: Das BAG kommt bei der Auslegung dieser Vorschrift zu dem Ergebnis: »Eine Vorbeschäftigung iSv. § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG ist nicht gegeben, wenn das frühere Arbeitsverhältnis mehr als drei Jahre zurückliegt.« 252 a. Zunächst zum Gesetzestext selbst: Während Satz 1 regelt, wie ein Arbeitsverhältnis ohne Sachgrund befristet werden kann, bestimmt Satz 2: »Eine Befristung nach Satz 1 ist nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat.« Das BAG und die überwiegende Meinung in der Literatur hatten dazu bislang immer die Auffassung vertreten, dass Satz 2 keine zeitliche Begrenzung enthalte; 253 auf den zeitlichen Abstand zwischen dem früheren Arbeitsverhältnis und dem nunmehr ohne Sachgrund befristeten Arbeitsverhältnis komme es damit grundsätzlich nicht an. 254 Demgegenüber meinte das BAG nunmehr, der Wortlaut »gebietet zwingend kein bestimmtes Auslegungsergebnis«, der Bedeutungsgehalt des Tatbestandsmerkmals »bereits zuvor« sei nicht eindeutig. »In seiner zeitlich-inhaltlichen Dimension ist das Adverb ›bereits zuvor‹ […] mehreren Deutungen zugänglich.« 255 Nun kann man sich bei temporalen adverbialen Bestimmungen mit dem BAG beliebig unterschiedliche Zusätze hinzudenken, wie Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge. BAGE 137, 275 – juris Rn. 13 – ausdrücklich gegen diese Entscheidung etwa LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Februar 2014 – 7 Sa 64/13 – juris. 253 BAG – juris – aaO. Rn. 14 mit Nachweisen. 254 BAGE 108, 269. 255 BAG aaO. Rn. 17. 251 252

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etwa »jemals zuvor« bzw. »irgendwann zuvor«, »unmittelbar zuvor«. Diese Zusätze machen aber auch eine Technik deutlich, wie man mit dem Spiel, einen Text durch mögliche Zusätze zu ergänzen, Uneindeutigkeit zu erzielen sucht. Hier fragt man sich, wo im Ergebnis ein Unterschied liegen soll, wenn das Gesetz statt »bereits zuvor« die Wendung »jemals zuvor« oder »irgendwann zuvor« benutzt hätte. Nur die Wendung »unmittelbar zuvor« hätte der Gesetzgeber ins Gesetz schreiben müssen, wenn das denn gewollt gewesen wäre. Dass diese Variante nicht gemeint sein konnte, wird vom Senat auch durchaus erkannt, wenn argumentiert wird: »Der Umstand, dass sich zu § 14 Abs. 3 Satz 1 TzBfG – in der seit dem 1. Mai 2007 geltenden Fassung – die Formulierung ›unmittelbar vor Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses‹ findet, spricht zwar dagegen, die Worte ›bereits zuvor‹ in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG im Sinne von ›unmittelbar zuvor‹ zu verstehen. Er gebietet jedoch kein Verständnis, wonach ›bereits zuvor‹ gleichbedeutend mit ›jemals zuvor‹ sei.« 256 – Aber was spricht dagegen, das Gesetz zunächst unmittelbar beim Wort zu nehmen? Die anderen ins Spiel gebrachten Varianten können demgegenüber zunächst jedenfalls nur als Spielmaterial zu Verdunklungszwecken verstanden werden. Gleichwohl sind zeitliche Beschränkungen denkbar, aber sie begründen als rein abstrakte, aus der Weite der Sprachwelt herbeigedachte Möglichkeiten keine konkrete semantische Unklarheit. Dazu bedarf es konkreter Anknüpfungspunkte aus der Systematik, den Kontexten und den Vor-Texten der Norm. Aber solche gibt es nicht. Typisch ist die Argumentation des Senats aus der gesetzessystematischen Textvergleichung. Zwar spreche die Textgeschichte dafür, »§ 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG zeitlich unbegrenzt zu verstehen« 257; es wird jedoch sogleich angefügt: »Zwingend ist dies aber nicht.« 258 Ohne eine solche Einschränkung räumt der Senat allerdings ein: die »Gesetzesgeschichte des TzBfG spricht dafür, das Verbot der Vorbeschäftigung in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG zeitlich unbeschränkt zu verstehen.« 259 Und die Materialien sind hier in der Tat eindeutig, wenn der Gesetzestext wie folgt begründet wird: »Die erleichterte Befristung eines Arbeitsvertrages ist künftig nur bei einer Neueinstellung 256 257 258 259

AaO. AaO. Rn. 18. AaO. Rn. 18. AaO. Rn. 19.

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zulässig, d. h. bei der erstmaligen Beschäftigung eines Arbeitnehmers durch einen Arbeitgeber. Bei der nach neuem Recht nur einmaligen Möglichkeit der Befristung ohne Sachgrund wird der Arbeitgeber veranlasst, den Arbeitnehmer entweder unbefristet weiter zu beschäftigen oder bei weiter bestehendem nur vorübergehendem Arbeitskräftebedarf einen anderen Arbeitnehmer befristet einzustellen.« 260 b. Um ein Fazit zu ziehen: Nicht die Art, wie das BAG eine unliebsame Entstehungsgeschichte beiseiteschiebt 261 und ein plastisches Beispiel gibt, wie man mit der objektiv-teleologischen Auslegung, auf die das Gericht sein Ergebnis stützt 262, nicht umgehen darf 263, war zu thematisieren. Vielmehr kam es darauf an, die Grenzen deutlich zu machen, die dem Richter bei dem Umgang mit dem Wortlaut gesetzt sind. Zunächst: Die »Wortlautgrenze« verlangt nicht, das Wort in seiner unmittelbaren, üblichen, selbstverständlichen, naheliegenden Bedeutung zu verstehen. Auch wenn der Wortsinn »bei unbefangener Bewertung« des Textes »fach- und umgangssprachlich […] eindeutig« erscheint, 264 kann er in Zweifel gezogen und durch einen anderen ersetzt werden. Diese Zweifel können auch in einem freien Wortspiel generiert werden, wie es das BAG praktizierte. Es geht aber methodisch nicht an, diese Bedeutung dann als die gegebene und richtige zu setzen und im Gegenzug zu verlangen, dass die selbst eingespielten Zweifel durch »eindeutige« Gegenbeweise ausgeräumt werden. Die Argumentationslast muss derjenige tragen, der behauptet, dass das nach dem üblichen Wortgebrauch Gesagte hier konkret nicht das Gemeinte ist. Insofern hat die Argumentation des BAG schon im Ansatz sehr viel mehr mit »Wortlautakrobatik« zu tun als mit »Ludwig Wittgensteins Erkenntnis, dass die Bedeutung von WörBT-Drucks. 14/4374 S. 14, auch aaO. Rn. 23 wiedergegeben. AaO. Rn. 19. 262 AaO. Rn. 20 ff. 263 Man formuliere den Gesetzeszweck so, dass man alle anderen Auslegungselemente, die dem gewünschten Ergebnis entgegenstehen, überspielen kann. Näher dazu Kap 20 IV. Hier wird der Zweck vom BAG darin gesehen, zu verhindern, dass eine sachgrundlose Befristung zu »Befristungsketten« bzw. »Kettenverträgen« missbraucht werden kann. Überspielt wird damit die aaO Rn. 23 ausdrücklich zitierte Stelle: »Die erleichterte Befristung […] ist künftig nur bei einer Neueinstellung, bei der erstmaligen Beschäftigung eines Arbeitnehmers durch einen Arbeitgeber« zulässig. 264 LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Februar 2014 – 7 Sa 64/13,- juris Rn. 19. 260 261

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tern abhängt von den ›Sprachspielen‹, in denen sie verwendet werden«. 265 Erinnern wir uns an die Antwort, die Wittgenstein auf die Frage gab, wie Sprache Intersubjektivität herstellen soll: »Man sagt mir: ›Du verstehst doch diesen Ausdruck? Nun also, – in der Bedeutung, die du kennst, gebrauche auch ich ihn‹.« 266 Das ist eben die Bedeutung, die »bei unbefangener Bewertung« des Textes »fach- und umgangssprachlich« zunächst »eindeutig« erscheint, hier aber nicht nur »zunächst«: Aufgrund der Vor-Texte, der oben zitierten Stelle aus der Gesetzesbegründung, war auch das Gemeinte klar: »bereits zuvor« konnte nur unbefristet verstanden werden. Das BAG hat sich mithin über die semantische Grenze, die mit der Norm gesetzt war, ebenso hinweggesetzt wie über den gesetzgeberischen Willen. 267

W. Linsenmaier 2012, S. 380 in einer Rechtfertigung der kritisierten Senatsentscheidung, die unter seinem Vorsitz getroffen wurde. 266 PU § 117. – Siehe oben II. 3. 267 Soweit der Senat in der Regelung eine Verletzung des Art. 12 GG sah, hätte er also vorlegen müssen. In diesem Sinne auch etwa: Clemens Höpfner NZA 2011, 893–899; Bastian-Peter Stenslik, Ralf Heine: Sachgrundlose Befristung trotz Vorbeschäftigung?, DStR 2011, 2202–2205; Thomas Lakies: Verfassungswidrige Rechtsprechung zur Erleichterung sachgrundloser Befristung, AuR 2011, 190–192. 265

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Kapitel 18 Recht – System – Kohärenz

Die Abhängigkeit der Methodenlehre von den jeweiligen zeittypischen theoretischen und rechtsphilosophischen Vorstellungen, auf denen sie aufbaut, erschließt sich, wie wir gesehen haben, für den Zusammenhang Methode – Recht – Sprache erst dann, wenn man den Paradigmenwechsel in der Sprachphilosophie nachvollzogen hat (die Stichworte waren: »linguistic turn«, »sprachanalytische Wende«). Für den Zusammenhang Methode Recht – System lag diese Abhängigkeit dagegen stets deutlicher zu Tage. Die Methodenlehre hat sie selbst immer wieder ins Zentrum ihrer Überlegungen gestellt. Paradigmatisch sind die Probleme dieses Zusammenhangs im Positivismus und in der Topik diskutiert worden. Um die Notwendigkeit eines veränderten Systemdenkens deutlich zu machen, soll in diesem Kontext eingangs die Funktion des Systemgedankens im Positivismus, in der Topik und in der Grundrechtsdiskussion (»Wertsystem«) skizziert werden (I.). Auch wenn Recht heute nicht mehr als axiomatisch-deduktives System vorstellbar ist, so kann doch eine Methodik des Rechts nicht ohne eine Vorstellung von System, jedenfalls Systematik gedacht werden. Erst wenn es gelingt, die wesentlichen Elemente juristischen Systemdenkens, nämlich juristische Theorien und Dogmatik, genauer zu fassen (II.), können wir auch auf das Problem des Zusammenhangs von semantischer Stabilität und System eingehen (III.), das im vorangegangenen Kapitel noch offen bleiben musste. Thesen zum methodischen Umgang mit juristischer Dogmatik schließen das Kapitel ab (IV.).

I.

Paradigmen des Systemdenkens: Positivismus – Topik – Wertsystem

Für den Positivismus bildete das System die rechtstheoretische Grundlage der Methode; für die Topik war genau dieser nicht mehr 381 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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akzeptable Kern der Grund, diesen Ansatz zu »dekonstruieren« und eine Methodik gegen den Systemgedanken zu entwerfen. Beide Positionen folgten dabei philosophischen Zeitströmungen und werden, weil diese uns heute weitgehend fremd sind, nur mit Blick auf diese philosophischen Hintergründe verständlich. Ein Systemdenken ist immer im Spiel, wenn es um die methodische Organisation und Darstellung von Wissen geht; in diesem Sinne ist die Frage des »äußeren Systems« für die juristische Methode auch immer ein Thema geblieben 268. Der philosophische Systembegriff, an den Begriffsjurisprudenz und Gesetzespositivismus anschließen, zielt jedoch auf mehr als ein bloßes Systematisieren; er zielt auf die Einheit und Totalität des Erkennbaren selbst. 269 Hegel hat diesen Zusammenhang von System, Wissenschaftlichkeit und Ganzheit in § 14 seiner »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« mit folgenden – oft zitierten – Sätzen beschrieben: »Ein Philosophieren ohne System kann nichts Wissenschaftliches sein; außerdem, daß solches Philosophieren für sich mehr eine subjektive Sinnesart ausdrückt, ist es seinem Inhalte nach zufällig. Ein Inhalt hat allein als Moment des Ganzen seine Rechtfertigung, außer demselben aber eine unbegründete Voraussetzung oder subjektive Gewißheit; viele philosophische Schriften beschränken sich darauf, auf solche Weise nur Gesinnungen und Meinungen auszusprechen.«

1.

Die Begriffsjurisprudenz – Paradigma 1

Die Idee eines reinen Begriffssystems beherrschte nicht nur die Philosophie, sondern als das Paradigma von Wissenschaft auch die Rechtswissenschaft. Prägend wurde es für die historische Rechtsschule. Bereits Savignys Marburger Methodenlehre von 1802/03 beruht in ihrer theoretischen Grundkonzeption auf der Wissenschaftstheorie der zeitgenössischen idealistischen Philosophie. 270 Nicht anders sein großes dogmatisches Werk, sein »System des heutigen Römischen Rechts«, dessen 1. Band 1840 erschien. 271

Vgl. C.-W. Canaris 1969, S. 19. K. Steinbacher, Art. »System/Systemtheorie«, Enzyklopädie (2. Aufl.), Bd. 3, S. 2669. 270 W. Wilhelm 1969, S. 123 ff. 271 W. Wilhelm 1969, S. 126 f. 268 269

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Einen ersten Kulminationspunkt erreichte dieses Paradigma in der Begriffsjurisprudenz. Formuliert wurde deren rechtstheoretische Konzeption vor allem durch Rudolf von Jhering (1818–1892) 272 und Carl Friedrich von Gerber (1823–1891). 273 Zur Veranschaulichung der »begriffsjuristischen Systemtheorie« sei hier aus dem Programm zitiert, das C. F. v. Gerber 1865 in seinen Grundzügen für das Staatsrecht formulierte: »Die Literatur des deutschen Staatsrechts hat eine Reihe von Werken aufzuzeigen, welchen nach verschiedenen Richtungen volle Anerkennung gebührt. Wenn ich gleichwohl der Ansicht bin, dass die wissenschaftliche Dogmatik dieser Lehre noch einer weiteren Ausbildung fähig und bedürftig sei, so glaube ich mit dieser Ansicht keineswegs vereinzelt zu sein. Ich denke mir, dass eine Förderung besonders nach folgenden Gesichtspunkten möglich ist. Zunächst besteht unläugbar das Bedürfniss einer schärferen und correcteren Präcisirung der dogmatischen Grundbegriffe. Ein Theil unserer Schriftsteller scheint die Aufgabe der rechtlichen Bestimmung der durch unsere modernen Verfassungen gegebenen Begriffe nicht sowohl als eine juristische, denn als eine staatsphilosophische oder politische anzusehen; […] Sodann aber scheint mir, was freilich mit jenem ersten Punkte aufs Innigste zusammenhängt, ein dringendes Bedürfniss die Aufstellung eines wissenschaftlichen Systems zu sein, in welchem sich die einzelnen Gestaltungen als die Entwickelung eines einheitlichen Grundgedankens darstellen. Erst durch Begründung eines solchen Systems, welches das eigenthümliche Wesen unseres modernen Verfassungsstaats zum anschaulichen Gesammtausdrucke brächte und die rechtlichen Verbindungen aller einzelnen Erscheinungen klar stellte, würde nach meinem Dafürhalten das deutsche Staatsrecht seine wissenschaftliche Selbständigkeit erlangen und die Grundlage sicherer juristischer Deduction gegeben sein.« 274

Savigny hatte im Kampf um den »Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft« 275 gegen die Kodifikationsidee die Autonomie der Rechtswissenschaft gesetzt 276 – Autonomie nicht nur gegenüber dem Gesetzgeber, sondern auch gegenüber anderen Wissenschaftsdisziplinen. 277 Entsprechend konnte der »Rechtspositivismus« – dessen entscheidende Texte nach 1848 und vor der Reichsgründung publiziert wurden – eine theoretische Rechtseinheit ohne 272 273 274 275 276 277

H. Coing 1969, S. 149 ff. W. Wilhelm 1958, S. 88 ff. – zu Jhering und Gerber. Gerber 1865, S. VII f. – Vorrede. Savigny 1814 in seiner berühmten Streitschrift gegen Thibaut. B. Lahusen 2013, S. 88 ff. W. Wilhelm 1958, S. 35 f.; B. Lahusen 2013, S. 91 ff.

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einheitlichen Staat, ohne Gesetz und Gesetzgeber schaffen. Konstitutiv waren der axiomatisch verstandene Systembegriff und die damit verbundene Vorstellung, dass das Begriffssystem »eine Ordnung widerspiegelt, die mit dem Wesen des Rechts verknüpft ist«. 278 – So sind denn auch in der zitierten Passage die entscheidenden Implikationen und Konsequenzen dieses Positivismus angesprochen: Das Postulat der rein rechtlichen Betrachtung, also die Ablösung des Rechts von seinen konkreten historischen, politischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen. 279 »Rein rechtlich« konnte und sollte auf dieser Grundlage auch die juristische Konstruktion und die »sichere juristische Deduction« sein.

2.

Der Gesetzespositivismus – Paradigma 2

Nach der Reichsgründung setzte sich die politisch im 19. Jahrhundert immer latente und in der juristischen Theorie zunächst nur antizipierte Forderung nach Rechtseinheit auch als Rechtsetzungspraxis durch. So kam es zu einer spezifischen Verbindung der Kodifikationsidee mit dem Positivismus – ein Zusammenhang, der sich nicht nur über seine geistesgeschichtlichen Hintergründe erschließt, sondern auch seine ganz konkreten Gründe hatte. Mit F. Wieackers Worten: »Die Justizgesetze des Bismarckreichs sind zwar meist nicht von Gelehrten oder nicht von ihnen allein redigiert worden, aber von hohen Richtern und Ministerialbeamten, die durch die Schule der Pandektenwissenschaft gegangen waren und deren Wertvorstellungen in sich trugen, wenn auch ihr praktischer Sachverstand viel, oft entscheidend, zum Gelingen beitrug. Auch für sie blieben die Methoden und Postulate dieser Wissenschaft maßgebend: das wissenschaftliche System und der juristische Begriff, die Lückenlosigkeit der geschriebenen Rechtsordnung, die Bindung des Richters an die wissenschaftlichen Methoden und die politische Neutralisierung der Rechtspflege durch diese Wissenschaftlichkeit.« 280 Zur Charakterisierung des Paradigmas »Gesetzespositivismus« möchte ich aber nicht auf ein Beispiel aus der rechtstheoretischen Literatur zurückgreifen, sondern auf einen Text Max Webers. 278 279 280

H. Coing 1969, S. 153. Konkret zu Gerber vgl. W. Wilhelm 1958, S. 101 f. F. Wieacker 1967, S. 459 f.

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Zu verstehen ist er als soziologischer Blick auf das Recht, aber nicht als Beschreibung rechtlicher Praxis, sondern als idealtypische Skizze einer rationalen Rechtsordnung, die, so sein Bezugspunkt, »unseren heutigen juristischen Denkgepflogenheiten« 281 entspricht: »Wenn von ›Recht‹, ›Rechtsordnung‹, ›Rechtssatz‹ die Rede ist«, heißt es bei M. Weber einleitend zu dem Abschnitt »Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung«, »so muß besonders streng auf die Unterscheidung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise geachtet werden.« 282 Aus juristischer Sichtweise gelten für die Systematisierung des Rechts 283 folgende Charakteristika: »Die juristische, genauer: die rechtsdogmatische, Betrachtung stellt sich die Aufgabe: Sätze, deren Inhalt sich als eine Ordnung darstellt, welche für das Verhalten eines irgendwie bezeichneten Kreises von Menschen maßgebend sein soll, auf ihren richtigen Sinn und das heißt: auf die Tatbestände, welche ihr und die Art, wie sie ihr unterliegen, zu untersuchen. Dabei verfährt sie dergestalt, daß sie die verschiedenen einzelnen Sätze jener Art, ausgehend von ihrer unbezweifelten empirischen Geltung, ihren logisch richtigen Sinn dergestalt zu bestimmen trachtet, daß sie dadurch in ein logisch in sich widerspruchsloses System gebracht werden. Dies System ist die ›Rechtsordnung‹ im juristischen Sinn des Wortes.« 284 Und in der »Rechtssoziologie«: »Nach unserer heutigen Denkgewohnheit bedeutet sie: die Inbeziehungsetzung aller durch Analyse gewonnenen Rechtssätze derart, daß sie untereinander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses und, vor allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden, welches also beansprucht: daß alle denkbaren Tatbestände unter eine seiner Normen müssen logisch subsumiert werden können, widrigenfalls ihre Ordnung der wesentlichen Garantie entbehre.« 285

3.

Die Topik – Paradigma 3

Die bisherige Beschreibung von Begriffsjurisprudenz und Gesetzespositivismus als Paradigmen und Denkformen des Rechts vermitteln – wie es solche Skizzen zwangsläufig tun – nur verkürzte Bilder. Es fehlen die Nuancen, Differenzierungen und Antithesen – die zeitgenössische Kritik, die es an dem Systemdenken immer gegeben hat. Zum Verständnis der weiteren Entwicklung ist jedoch wenigstens M. Weber 1964, S. 504. M. Weber 1964, S. 233. 283 »Sie ist in jeder Form ein Spätprodukt. Das urwüchsige ›Recht‹ kennt sie nicht«, M. Weber 1964, S. 506. 284 M. Weber 1964, S. 233. 285 M. Weber 1964, S. 506. 281 282

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

ein kurzer Blick auf deren Positionen und Gegenentwürfe notwendig; Gedanken, die dann auch die Oberhand über das Systemdenken gewonnen haben: a)

Antipositivistische Positionen

In der Philosophie nach Hegel verliert der Glaube des Idealismus an das System als notwendige erkenntnisleitende Denkform sehr schnell seine zentrale Stellung. Es überwiegen stattdessen die Positionen der Skepsis, Kritik und Ablehnung. Genannt seien Novalis und F. Schlegel, die beißende Kritik Nietzsches (»Wille zum System« als ein »Mangel an Rechtschaffenheit«), N. Hartmanns Unterscheidung von »Systemdenken« und »Problemdenken« (auf das dann Th. Viehweg rekurrieren wird), Heideggers grundlegende Ablehnung und Gadamers Kritik an dem a-historischen Ansatz. Die Aufzählung ließe sich beliebig vertiefen und von Adorno (der seine Philosophie als »Antisystem« charakterisierte) bis zum Dekonstruktivismus Derridas verlängern. 286 Von der »Freirechtsbewegung« 287, bis zu den dekonstruktivistischen Varianten der Rechtsrhetorik spiegeln und spiegelten sich Rechtstheorie und Methodendiskussionen auch in diesen philosophischen Positionen und bezogen aus ihnen ihre entscheidenden Ansätze. Larenz nennt zur Beschreibung der Hintergründe der Freirechtsschule zutreffend Schopenhauer, Nietzsche und Bergsons Lebensphilosophie 288. Das, was wir »Die Moderne« nennen, ist in dieser Zeit vor dem Ersten Weltkrieg entstanden und die Freirechtsschule ist insofern »nur« der juristische Aspekt dieser Umbruchszeit. Mit einer Stoßrichtung gegen den Primat der Logik im Positivismus war auch die »Interessenjurisprudenz« angetreten. Anknüpfend an »Jherings Wendung zu einer pragmatischen Jurisprudenz« 289 hatte Ph. Heck die entscheidenden Grundgedanken schon vor 1914 formuStatt Einzelnachweise vgl. die Nachweise im Art. »System« HWPh Bd. 10, S. 846 ff. und im Art. »System/Systemtheorie« in der Enzyklopädie (2. Aufl.), S. 1671 ff. 287 Vgl. insbesondere den auf dem Ersten Deutschen Soziologentag 1910 gehaltenen Vortrag von H. Kantorowicz »Rechtswissenschaft und Soziologie«, abgedr. In: Ders. 1962, S. 117–144; E. Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, Vortrag, Leipzig 1903, in: Ehrlich: Leben und Recht, 1967 S. 170–202. 288 K. Larenz 1991, S. 59 ff.; zu Bergson vgl. auch A. Kaufmann 2004, S. 121. 289 K. Larenz 1991, S. 49. 286

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liert. 290 Statt um Begriffe und System ging es der Interessenjurisprudenz um die »Rechtsfindung auf realer Grundlage«. 291 Nicht die »Rechtsidee« – im Sinne der damaligen rechtsphilosophischen Diskussion 292 – und natürlich auch keine Wertordnung – im Sinne der heutigen Diskussion – bildeten die Fluchtpunkte, sondern das »Gesetz als Kraftdiagonale ringender Interessen« 293. Der vom Gesetzgeber gefundene pluralistische Interessenausgleich 294 wurde zum »springenden Punkt« der Auslegung; auf die Auslegungsmethoden bezogen stand erst hier die »subjektive Methode« zum ersten Mal im Zentrum der Strukturierung des Auslegungskanons. 295 In der Rechtspraxis hatte sich die Interessentheorie erstaunlich schnell durchgesetzt – Fikentscher sprach von »ihrem Sieg in der Praxis«. 296 Die Vorstellung des Positivismus, Rechtsgewinnung und Rechtsanwendung seien logische Deduktionen aus einem logischen System, war so wohl schon lange obsolet; jedenfalls war sie 1953, als Viehwegs Schrift »Topik und Jurisprudenz« in der 1. Auflage erschien, sicher nicht mehr herrschende Doktrin. Gleichwohl hat nach 1945 keine theoretische Schrift in der Methodenlehre eine so kontroverse und nachhaltige Grundlagendebatte ausgelöst wie Viehwegs schmales Bändchen. Diese Diskussion genauer nachzuzeichnen wird mehr als 60 Jahre später kaum noch zu einem aktuellen Erkenntnisgewinn führen. Weiterführend scheint aber eine Antwort auf die Frage nach den Gründen für diese Wirkung. Es sind wohl drei Hauptgründe, die sich als Antwort ausmachen lassen: 1.

Für die Methodenlehre wurde mit dieser Schrift deutlich, wie unzureichend ihre bisherige theoretische Basis war; die Sicherheit des positivistischen Systems war weggebrochen und für

In: Das Problem der Rechtsgewinnung. Tübingen 1912. So ein Aufsatz von Müller-Erzbach von 1906, Ders. 1974, S. 36 ff. 292 Vgl. hierzu Binder, Neuere Strömungen in der Rechts- und Sozialphilosophie, in: Jahrbücher der Philosophie 1927, S. 242 ff., insbes. 252 ff. mit Hinweis auf Max Weber. 293 G. Ellscheidt 1974, S. 3. 294 Vgl. Ellscheidt a. a. O. 295 Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht kann nicht bereits Savigny für die »subjektive Methode« in Anspruch genommen werden; die »Absicht des Gesetzgebers« war für ihn gerade kein anerkanntes Auslegungselement, näher Kap. 20 III. 1. 296 K. Larenz 1991, S. 58, Fn. 57; konkret am Beispiel der RG-Rspr. dargestellt von R. Müller-Erzbach 1974, S. 126 ff. 290 291

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

2.

3.

eine tragfähige Erneuerung dieser Basis fehlten die Voraussetzungen. Der Methodendiskussion wurden neue Perspektiven gegeben; die Schrift wurde entscheidend für die Rhetorische Rechtstheorie der so genannten »Mainzer Schule«. 297 Vor allem aber: Viehweg gab der Methodenlehre mit dem Begriff der »Topik« eine Formel an die Hand, auch alle diejenigen argumentativen Operationen als methodisch relevant in die juristische Argumentation integrieren zu können, die nicht mehr als logisch-deduktive Ableitungen zu qualifizieren waren.

Über die »Interessen« im Sinne der Interessentheorie und die »Werte« der sie ablösenden Wertungsjurisprudenz 298 hinaus bekamen so alle Argumente und Abwägungen, die als Topoi im juristischen Diskurs akzeptiert wurden, ihren methodischen Ort. Gefunden war mit der »Topik« ein »Schleusenbegriff«, der die Methode und die juristische Argumentation nicht nur für neue Gesichtspunkte und Topoi der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion eröffnete. Sie kam auch der Vorliebe der Juristen für das Denken in geisteswissenschaftlichen Bahnen entgegen und bereitete in diesen Bahnen »zugleich den Boden für die Rezeption der philosophischen Hermeneutik«. 299 b)

»Topik und Jurisprudenz« – Theodor Viehweg

Am prägnantesten (und interessantesten) wurde die Verbindung von Gadamers Hermeneutik und der Topik in den Schriften von J. Esser. 300 Aber darauf soll es an dieser Stelle nicht ankommen; auch nicht auf die Wandlungen des Topik-Begriffs und seine unterschiedlichen Verwendungen in der Methodendiskussion. 301 Im Zusammenhang unserer Überlegungen zum juristischen Systemdenken können wir uns auf die Lehre Viehwegs als Paradigma konzentrieren – und dies

Zur Rhetorischen Rechtstheorie siehe zunächst die Beiträge von Viehweg 1995, S. 191 ff. Zur Übersicht: J. Lege 1999, S. 434 f.; anschaulich das Sonderheft Rechtsrhetorik, »Das Enthymem«, Rechtstheorie 2011, Heft 4, S. 377–619. 298 Vgl. dazu Larenz 1991, S. 119 ff. 299 R. Dreier 1995, S. 155, 157. 300 Vgl. etwa J. Esser 1972, S. 154 ff.; allgemein zu dieser Verbindung M. Frommel 1981. 301 Siehe dazu etwa M. Kriele 1967, S. 137 m. N. 297

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auch nur unter einer besonderen Fragestellung: Welche Rolle genau spielt der Systemgedanke in dieser Lehre? Und bietet die Topik eine hinreichende Grundlage entweder für den Verzicht auf den Systemgedanken oder doch Ansätze, um ihn fortzuentwickeln? Dazu zunächst einen zentralen Textausschnitt: »Wenn es nun aber richtig ist, daß die Topik die Techne des Problemdenkens ist (vgl. oben § 3. I), dann muß die Jurisprudenz als eine Techne, die einer Aporie dient, in den wesentlichen Punkten der Topik entsprechen. Folglich muß man an der Topik ablesen können, welche Struktur der Jurisprudenz zukommt. Wir versuchen dies zu tun und stellen demgemäß drei Erfordernisse auf: (1.) Die Gesamtstruktur der Jurisprudenz kann nur vom Problem bestimmt werden. (2.) Die Bestandteile der Jurisprudenz, ihre Begriffe und Sätze, müssen in spezifischer Weise an das Problem gebunden bleiben und können daher nur vom Problem her verstanden werden. (3.) Die Begriffe und Sätze der Jurisprudenz können deshalb auch nur in eine Implikation gebracht werden, die an das Problem gebunden bleibt. Eine andersartige ist zu meiden.« 302 Um das Systemkonzept, das hinter diesen Feststellungen steht, deutlich werden zu lassen, ist einmal der Grundgedanke herauszuarbeiten, auf dem Th. Viehwegs Theoriekonzept aufbaut und das er im unmittelbaren Anschluss an die zitierte Textstelle auch konkretisiert. Das soll nachfolgend unter e) geschehen. Für unsere paradigmatischen Überlegungen zum juristischen Systemdenken ist zunächst jedoch die negative Abgrenzung wichtig. Sie ergibt sich, wenn man der (1.) Grundthese: »Die Gesamtstruktur der Jurisprudenz kann nur vom Problem bestimmt werden«, als Ergänzung hinzufügt: und nicht aus einem axiomatisch-deduktiven System. Betrachtet werden »Topik und Axiomatik« 303, »Problemdenken« und »Systemdenken« wesentlich als alternative Denkstile. 304 Gegen die Topik steht für Vieh-

302 303 304

Viehweg 1974, S. 97. Viehweg 1974, S. 81 ff. Viehweg 1974, S. 81 ff.

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weg eine »Rechtswissenschaft, welche die Szientifizierung der juristischen Techne zu entwickeln wünscht«. 305 Deren Programm wird von ihm so beschrieben: »Erforderlich wären: Eine strenge Axiomatisierung des gesamten Rechts verknüpft mit einem strikten Interpretationsverbot innerhalb des Systems, was am vollständigsten durch Kalkülisierung zu erreichen wäre; strenge und zwar lediglich am Rechtssystem (oder Rechtskalkül) orientierte Interpretationsvorschriften für den Sachverhalt; unbehinderte Zulässigkeit von Non-liquet-Entscheidungen; fortgesetztes Eingreifen eines systematisch (oder kalkulatorisch) exakt arbeitenden Gesetzgebers, um neu auftauchende, zunächst unlösbare Fälle schließlich lösbar zu machen, ohne die logische Perfektion des Systems (oder Kalküls) zu stören. Nunmehr würden einmal festgesetzte Rechtsaxiome in der bisher vollkommensten Form logisch entfaltet werden können, womit der optimale Grad der eindeutigen Nachprüfbarkeit erreicht wäre. Das Verfahren more geometrico, um in der alten Ausdrucksweise zu sprechen, wäre jetzt erst auf unserem Gebiete vollendet.« 306

c)

Axiomatisches System vs. Topik – eine schiefe Alternative

Viehweg berief sich für seinen axiomatischen Systembegriff nicht von Ungefähr auf Hilberts »Grundlagen der Geometrie« (1913). 307 Mit Hilberts Namen, dem damaligen Mathematiker-Papst, ist die Forderung und der Glaube an die umfassende Axiomatisierung der Mathematik verbunden. Doch Hilberts Theorieansatz war schon 1931 durch Kurt Gödel widerlegt worden. Nach Gödel gibt es auch in starken widerspruchsfreien Systemen immer unbeweisbare Aussagen und selbst hinreichend starke widerspruchsfreie Systeme können ihre eigene Widerspruchsfreiheit nicht beweisen. 308 Die Topik wird mithin als Antithese zu einem Systembegriff und einem Denkstil entwickelt, die in den 60er Jahren aus juristisch-praktischer Sicht bereits obsolet

Viehweg 1974, S. 93. Viehweg 1974, S. 92 mit Verweis auf D. Hilbert: »[…] verdient doch zur endgültigen Darstellung und völligen logischen Sicherung des Inhalts unserer Erkenntnis die axiomatische Methode den Vorzug.« 307 Viehweg 1974, S. 82, Fn. 2. 308 Als verständliche Erklärung der beiden Unvollständigkeitssätze von Gödel und seinen Implikationen sei auf D. R. Hofstadter 1987, S. 17 ff. und passim verwiesen. 305 306

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waren und für die es auch theoretisch keinen angemessenen »wissenschaftstheoretischen Standpunkt« 309 mehr gab. In der Überzeichnung des Systembegriffs wird zwar einmal mehr deutlich, dass sich die Rechtsordnung nicht mehr als axiomatisch-deduktives System konstruieren und denken lässt. Die Frage aber ist, ob mit der »überzeichneten Alternative« 310 von »Problemund Systemdenken« der Topik und dem Problemdenken nicht Schwierigkeiten aufgebürdet werden, denen sie nicht Herr werden können. »Topik und Jurisprudenz« ist ein Text, den man als Theoretiker mit Begeisterung lesen kann, für den Praktiker lässt er aber mehr Fragen offen als er beantwortet. Methode verlangt nach Regeln und diese nach Kriterien für eine richtige oder falsche Handhabung: Mindestens müssen aber Beurteilungen wie »vertretbar« oder »so kann man das nicht machen« intersubjektiv vermittelbar begründet werden können. Eine Auswahl solch offener Fragen: • Wenn nicht »jede Frage, die anscheinend mehr als eine Antwort zuläßt«, auch eine »ernstzunehmende Frage« ist, 311 wann ist eine Frage dann ernst zu nehmen? • Wann ist ein Problem relevant? • Nach welchen Kriterien ist ein Gesichtspunkt, der zu dem Problem einfällt, auch ein relevanter Topos? • Ist eine gesetzliche Norm nur ein Topos unter anderen? • Gibt es so etwas wie eine Hierarchie der Topoi? • Wenn das Problemdenken »situativ« 312 ist, ist dann auch jede Gerichtsentscheidung in gleicher Weise situativ? Rechtsprechung ist Urteilen nach Regeln: Die rechtliche Beurteilung darf also nie nur oder auch nur im Wesentlichen situativ sein. Die gestellten Fragen sind deshalb notwendig Fragen nach Regeln und einem systematischen Zusammenhang. Will die Topik nicht nur als Anti-Methodik verstanden werden, kann sie also letztlich nicht ohne einen positiv ausformulierten Systemgedanken auskommen.

Viehweg 1974, S. 81. L. Bornscheuer 1976, S. 142. 311 Viehweg 1974, S. 32. 312 Viehweg 1974, S. 111; zur Bedeutung der situativen Sichtweise für »Topik und Pragmatik« vgl. A. Launhardt 2004, S. 136 ff. 309 310

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d)

Topoikataloge und System

Man hat Viehweg oft »Systemfeindlichkeit« vorgeworfen 313 – aus topischer Sicht allerdings zu Unrecht. 314 Und bezieht man seine Veröffentlichungen im Anschluss an »Topik und Jurisprudenz«, insbesondere zur Dogmatik, mit ein, zeigt sich 315, dass Viehweg auch klassische Elemente des juristischen Systemdenkens aufnimmt. Gleichwohl ist der Streit um die »Systemfeindlichkeit« der Topik nicht von ungefähr entstanden. Denn ein eindeutiges, in sich schlüssiges und für die praktische Anwendung taugliches Systemkonzept wurde von ihm nicht formuliert. 316 Die Topoikataloge können diese Aufgabe nicht erfüllen. Viehweg unterscheidet in seiner Analyse der Topik eine Topik erster Stufe von einer Topik zweiter Stufe. In der ersten Stufe werden »mehr oder weniger zufällige Gesichtspunkte in beliebiger Auswahl versuchsweise« aufgegriffen. »Man sucht auf diese Weise sachlich passende und ergiebige Prämissen, um Folgerungen ziehen zu können, die uns etwas einleuchtend erschließen.« Die zweite Stufe besteht dann darin, diese Gesichtspunkte »in einem stets bereiten Repertoire von Gesichtspunkten« zu sammeln: »So entstehen Topoikataloge, und wir nennen ein Verfahren, das derartige Kataloge benutzt, Topik zweiter Stufe. 317 Viehweg hat solche Kataloge nicht aufgestellt, um zu demonstrieren, ob und wie man mit solchen Katalogen methodisch arbeiten kann. Es gibt aber einen solchen Katalog von G. Struck mit 64 Topoi. Er beginnt mit dem Grundsatz: »Lex posterior derogat legi priori« 318, und schon dieser Topos lässt die Grundproblematik deutlich werden: Ein Richter, der sich auf diesen Grundsatz beruft, um jemand für eine Tat zu bestrafen, für die erst nach der Tatzeit eine Strafnorm geschafVgl. etwa Canaris 1969, S. 135 ff.; Diederichsen, NJW 1966, 698 ff.; K. Larenz 1991, S. 167; Röhl/Röhl 2008, S. 446. 314 Ausführlich gegen den Vorwurf der »Systemfeindlichkeit« A. Launhardt 2004, S. 77 ff. 315 Vgl. hier insb. den Aufsatz »Systemprobleme in Rechtsdogmatik und Rechtsforschung«, Viehweg 1995, S. 97 ff. 316 Wie insbesondere M. Frommel 1981, S. 220 ff., herausgearbeitet hat: Anders als etwa J. Esser hat Viehwegs begrifflich-systematisches Denken und Topik vor allem als Gegensatz verstanden, aber nicht den Versuch gemacht, beide Argumentationsweisen zu verbinden. 317 Viehweg 1974, S. 35 f. 318 G. Struck 1971, S. 20. 313

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fen wurde, spricht ein Fehlurteil. Der Grundsatz nulla poena sine lege ist in dem Katalog nicht enthalten, und würde man ihn finden, gäbe es keine Regel, welcher Grundsatz vorgeht. Beide Grundsätze sind nur historische Etiketten für verfassungsrechtliche Normzusammenhänge. Diese wiederum zeigen, dass die Kompetenz des Gesetzgebers, die mit dem Topos »Lex posterior derogat legi priori« etikettiert wird, durch die Verfassung vielfältig eingeschränkt ist. Stichworte sind etwa Vertrauensschutz, Bestandsschutz, Rückwirkungsverbot. Dazu haben Rechtsprechung und Lehre wieder Untergruppen gebildet, um daraus Zulässigkeit oder Unzulässigkeit ableiten zu können. Auch kleine Kommentare zum GG bieten hier eine Fülle von Material. Darauf kommt es aber konkret nicht an, sondern auf das Fazit: Selbst ein so scheinbar eindeutiger Topos wie der als Beispiel gewählte, gewinnt seine juristische Bedeutung nur aus dem Kontext anderer Grundsätze und Regeln, in den er konkret eingebettet ist. Systemdenken ist aber das Denken in und mit solchen Kontexten. Nun erkennt auch Viehweg: »Hat sich ein Katalog zulässiger Topoi gebildet, ergibt sich für die weitere Gedankenführung […] eine logische Bindung.« Aber, so die sofortige Einschränkung: Die »Ableitungszusammenhänge […] müssen im Hinblick auf das Problem zu jeder Zeit unterbrochen werden können. Jedes Problemdenken ist bindungsscheu.« 319 Diese These, Topik sei wesensmäßig »bindungsscheu«, provoziert natürlich geradezu die Schlussfolgerung, Topik sei keine Methode, sondern Anti-Methodik. Allerdings würde damit übersehen, dass für Viehweg das topische Denken durchaus nicht bindungslos ist, es keineswegs »gänzlich auf Bindungen verzichten« 320 kann. Die Frage ist allerdings, ob die »Ordnung (System im weiteren Sinne)« 321, auf die Viehweg in verschiedenen Formulierungen immer wieder rekurriert, mehr ist als eine vormoderne metaphysische Mystifikation. e)

System – Topik – Gerechtigkeit

Viehweg bezieht sich zur Erläuterung seiner Vorstellungen zu dieser Ordnung ausführlich auf Fritz v. Hippels Schrift »Zur Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung« von 1930 und betont hier insbeson319 320 321

Viehweg 1974, S. 41. Viehweg aaO. Viehweg 1974, S. 99.

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dere: »Das Auffallendste an diesem Entwurf ist, daß die hier angestrebte Ordnung (System im weiteren Sinne) nicht mehr auf der Seite des positiven Rechts gesucht wird. Zum positiven Recht wird vielmehr ein Gegenstück gefunden, welches sich als Fragengefüge erweist. Es ist ein Problemzusammenhang, der durch die Gerechtigkeitsfrage als Grundfrage zusammengehalten wird.« 322 Entsprechend sieht Viehweg die »Gesamtstruktur der Jurisprudenz« auf die »Frage nach der gerechten Ordnung« als »deren Grundaporie« ausgerichtet. 323 – Die Antworten auf die Frage, »was denn hier und jetzt gerecht sei« 324, sind dann freilich sehr abstrakt: eine »dem Gerechtigkeitserfordernis entsprechende, historische Ordnungswahl« 325 oder eine Anerkennung der Topoi, die »von der Überzeugung getragen (wird), daß sich in den tradierten Texten wie überhaupt im Ordo der Welt etwas Immergültiges enthüllt«. 326 Auch was »überhaupt als eine ernstzunehmende Frage erscheint« 327, also für die topische Erörterung als Problem relevant ist, soll sich »aus einem immer schon vorhandenen Verständniszusammenhang« 328 ergeben. Die »Topik« ist folglich denn auch »nicht zu verstehen, wenn man nicht die hier angedeutete Eingeschlossenheit in eine wie auch immer zu bestimmende Ordnung, die nicht als solche erfaßt wird, annimmt, gleichgültig, wie man sie im einzelnen gedanklich ausgestaltet.« 329 – Erst dieser – sehr zeitbedingte – weltanschauliche Hintergrund 330 macht dann auch die Aporie oder »Weglosigkeit« deutlich, in die der Ordogedanke mit seinen Vorverständnissen eine juristische Methodik zwangs-

Viehweg 1974, S. 99. Viehweg 1974, S. 100. – »Aporie«, eigentlich die »Weglosigkeit«, zu verstehen als Unmöglichkeit, zu einer philosophischen Lösung zu kommen. »Aporetik« entsprechend: »Verfahren, die Probleme als solche ohne Rücksicht auf ihre mögliche oder unmögliche Lösbarkeit zu untersuchen.« 324 Viehweg 1974, S. 97. 325 Viehweg 1974, S. 98. 326 Viehweg 1974, S. 76 mit Hinweis auf »etwa Hans Meyer, Geschichte der abendländischen Weltanschauung, III. Bd. (1948). S. 1–35«. 327 Viehweg 1974, S. 32. 328 Viehweg 1974, S. 34. 329 Viehweg 1974, S. 34. 330 Dessen näheres Verhältnis zur Philosophischen Hermeneutik (Gadamer, ausgehend von Heidegger) und der Figur des »hermeneutischen Zirkels« hier offen bleiben muss. Zum Zusammenhang dieser Grundgedanken mit dem Thema »Gerechtigkeit« ausdrücklich A. Kaufmann 2004, S. 145 f. 322 323

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läufig führen muss. Vor allem zwei zentrale Kritikpunkte liegen auf der Hand: Erstens: Viehwegs Theoriekonzept basiert in einem wesentlichen Teil – seinem Systemkonzept – auf einem Vorverständnis, das auf einem Konsens über eine historisch-ontologische Ordnung aufbaut, die in einer pluralistischen Gesellschaft selbst als kontrafaktische Fiktion nicht mehr tragfähig ist. Es kann deshalb auch ein frei floatendes topisches Denken nicht systemisch einbinden, keine Kriterien für relevante und nicht relevante Topoi bereitstellen. 331 Zweitens: Rechtsprechung ist keine Veranstaltung zur Beförderung des Problemdenkens, sondern zur Lösung sozialer Konflikte: Sie ist funktional zwingend auf Stabilität und Verlässlichkeit der Rechtsordnung ausgelegt. Unzweifelhaft geht es auch um Gerechtigkeit. Aber diese kann nicht nach den Maßstäben des Problem- und Gerechtigkeitsverständnisses des einzelnen Richters gewährleistet sein. Die Entscheidung über das, was gerecht ist, ist eine Entscheidung, die in einem demokratischen Rechtsstaat zunächst nur im und vom Rechtssystem (Gesetzgebung und Rechtsprechung) getroffen werden kann. Das gilt jedenfalls dann, wenn man weder von einem charismatischen Zugang des jeweiligen Richters zur Gerechtigkeit (Archetypus: der Richter Salomon) noch von einem prästabilisierten Verständnis eines jeden Richters ausgeht, schon zu wissen, was »eigentlich« gerecht ist; auch wenn dieser darauf verwiesen wird, sie »im Ordo der Welt« zu suchen.

4.

Wertsysteme – Paradigma 4

Wie man in der Topik von Topoikatalogen spricht, so spricht man im Verfassungsrecht von Grundrechtskatalogen. Anders als dort gibt es in der Grundrechtstheorie jedoch eine intensive, inzwischen fast unübersehbare Diskussion um den Systemcharakter dieses Kataloges 332. Für unsere paradigmatische Betrachtung des Systemdenkens ist diese Diskussion aber nicht um der Grundrechte willen von Interesse, sonVgl. dazu auch die Kritik von P. Schwerdtner 1971, Rechtstheorie 2, 83. Zur Übersicht vgl. etwa H. Dreier, in: Dreier Bd. I., Vorb. vor Art. 1, Rn. 82. (3. Aufl. 2013).

331 332

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dern weil sie beispielhaft zentrale Gesichtspunkte, Strukturen und Funktionen der Systembildung deutlich macht, auf die dann unter II. näher einzugehen ist. Das BVerfG hat insbesondere in seinen früheren und grundlegenden Entscheidungen zur Grundrechtsdogmatik immer wieder mit dem Topos des »grundrechtlichen Wertsystems« 333 gearbeitet und dabei herausgestellt, »daß die verfassungsmäßige Ordnung ein Sinnganzes bildet, ein Widerstreit zwischen verfassungsrechtlich geschützten Belangen mithin nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems zu lösen ist.« 334 Die grundlegende Position ist bereits im Lüth-Urteil formuliert: »Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.« 335 Spätestens mit dem Lüth-Urteil vollzog das BVerfG eine radikale Abkehr von der in der Weimarer Republik gängigen Grundrechtsinterpretation. 336 Entsprechend scharf war die Kritik, die die Entscheidung zum Teil auslöste. 337 Auch der Gebrauch des Topos vom »Wertsystem« ist vielfältig kritisiert worden; Isensee sprach von »Begriffswolke« und scheint damit einen entscheidenden Punkt zu treffen: Es ist nicht einfach, sich über das zu verständigen, was mit »Wertsystem« eigentlich und genau gemeint ist. BVerfGE 7, 198 (205). BVerfGE 49, 24–70, Beschluss vom 1. August 1978 – 2 BvR 1013/77 – mit Hinweis auf BVerfGE 28, 243 (261); 30, 1 (19); 30, 173 (193); 34, 269 (287); 35, 202 (225), juris Rn. 106. 335 BVerfGE 7, 198 (205). 336 Grundrechte als Ausformung spezieller Gesetzesvorbehalte. Dem positivistischen Denken entsprechend wurde in der ersten Phase der Weimarer Republik (1919–1924) den Grundrechten meist sogar die Rechtssatzqualität abgesprochen. Zum Überblick vgl. Stolleis 1999, S. 110 ff. und konkret. R. Smend 1968, S. 119, 262. Smend, aaO. S. 265, entwickelte dagegen seine Position eines »Wertsystems«. Diese war dann ein wesentlicher Ausgangspunkt für die »Werttheorie« des BVerfG – vgl. dazu etwa Böckenförde 1976b, S. 232 ff.; H. Dreier 1993, S. 14 ff. m. w. N. 337 Prominent Forsthoff 1964, S. 147 ff. und Böckenförde 1976b, S. 233 ff. 333 334

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18 · Recht – System – Kohärenz

a)

Zum Systembegriff

Beginnen wir mit einer ersten Annäherung und dem Versuch, zunächst die allgemeinen Momente des in der Philosophie, Umgangsund Wissenschaftssprache mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen gebrauchten Wortes herauszustellen. Ein allgemeines Moment zielt darauf, einen Komplex von Teilen (Dinge, Begriffe, Erkenntnisse etc.) zu einer Einheit (einer »Ganzheit«) zusammenzufassen; zu einer Einheit, der dann auch eine besondere Struktur und Funktion zugesprochen werden kann, die dieses System von anderen unterscheidet bzw. sie mit anderen vergleichbar macht. »System« ist insofern ein Begriff für eine Menge von Elementen, aus denen das »Zusammengesetzte« (systemata) – die Einheit – besteht und deren Systemeigenschaft entscheidend durch die Art, Kontinuität und Intensität der Relationen geprägt werden, die der Komplex von Elementen zueinander aufweist. 338 Stellt man auf diese Relationen ab, lässt dies die wesentlichen Unterschiede zwischen dem (nur) aus Begriffen konstituierten »Rechtssystem« und dem »grundrechtlichen Wertsystem« deutlich werden: C. W. Canaris nahm für seine einflussreiche Monographie zum »Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz« die Bestimmung des Begriffs durch den Kantianer R. Eisler zum Ansatz für die eigene Begriffsumschreibung. 339 R. Eisler sah das »System« als »Anordnung einer Mannigfaltigkeit von Erkenntnissen zu einem Wissensganzen, zu einem in sich gegliederten, innerlich-logisch verbundenen Lehrgebäude, als möglichst getreues Korrelat zum realen System der Dinge, d. h. zu dem Ganzen von Beziehungen der Dinge untereinander, das wir annähernd im wissenschaftlichen Fortgange zu reconstruieren suchen«. 340 Was Eisler hier formuliert, ist, wie oben schon konstatiert (I. 1.), die Idee einer Wissenschaft als eines reinen Begriffssystems. 341 Das Begriffssystem ist das zentrale Strukturelement des positi-

Umschreibung im Anschluss an die Begriffserläuterungen von K. Steinbacher, Enzyklopädie (2. Aufl.), Art. »System/Systemtheorie«, Bd. 3, S. 2668. 339 Canaris 1969, S. 11. 340 R. Eisler 1910, S. 1478 f. 341 Noch plastischer wird dies in der Funktionsbeschreibung des von Eisler 1910, S. 1478 f., zitierten Philosophen Chr. Sigwart: Die Systematik hat die Aufgabe, »die Totalität der in irgend einem Zeitpunkt erreichten Erkenntnisse als ein Ganzes darzustellen, dessen Teile durchgängig in logischen Verhältnissen verknüpft sind«. 338

397 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

vistischen Paradigmas. Es bedeutet eine hierarchische, bildlich oft als Pyramide dargestellte Struktur der Elemente. Diese Struktur ist stabil bis starr und sie erlaubt sichere logisch-deduktive Ableitungen und Einordnungen. – Wenn aus herkömmlicher Sicht von »Rechtssystem« oder »Rechtsordnung« die Rede ist, dann sind diese Elemente noch heute oft »irgendwie« mitgedacht. 342 Inwieweit dieses Denken noch heute wenigstens Systemelemente zutreffend erfasst, wird unter II. und III. zu analysieren sein. Sicher dürfte jedoch sein, dass das, was das BVerfG das »grundrechtliche Wertsystem« nennt, mit den für das positivistische Rechtssystem charakteristischen Strukturelementen nicht beschrieben werden kann: Die Grundrechte bilden keine »Wertpyramide«, geschweige denn eine Begriffspyramide. Sie sind nicht »durchgängig in logischen Verhältnissen verknüpft« 343. Die Relationen zwischen ihnen sind weder durch Rangfolge noch durch das System selbst vorgegeben. Sie erweisen sich vielmehr oft als höchst »fluid« und erlauben keine sichere Ableitung aus dem System. b)

Zum Sinngehalt des »grundrechtlichen Wertsystems«

Als Zwischenergebnis ist also festzuhalten: Wenn zum einen von einem »grundrechtlichen Wertsystem« die Rede ist und zum anderen (positivistisch verstanden) von dem »Rechtssystem«, wird, was Elemente, Relation der Elemente und damit die Struktur des Systems betrifft, ein unterschiedlicher Systembegriff verwandt. Die Struktur eines (komplexen) Systems, die nicht über die logischen Relationen ihrer Elemente (Begriffe) definiert ist, kann aber, wie wir sehen werden (c), nur über die theoretischen Kriterien und Muster bestimmt werden, nach denen die Elemente ausgewählt und einander zugeordnet werden. Um die Struktur zu verstehen, ist zuvor jedoch nach der besonderen Funktion des »grundrechtlichen Wertsystems« zu fragen. Eine Antwort soll in drei Thesen gegeben werden: 1. Was gemeint ist, wenn das BVerfG von »Wertordnung«, »wertgebundener« Ordnung« oder eben von einem »grundrecht-

Die Selbstverständlichkeit, mit der Canaris an die Definition Eislers anknüpft und für seine Vorstellungen eines »objektiven Systems« aus der Bedingung des »möglichst getreuen Korrelats« Folgerungen zieht (vgl. aaO. S. 13), mag hier als Beispiel ausreichen. 343 So der zuvor zitierte Sigwart. 342

398 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

18 · Recht – System – Kohärenz

lichen Wertsystem« spricht, erhellt sich am besten aus den Ordnungsvorstellungen, die damit ausgeschlossen werden sollen. Eine konkrete Gegenthese formulierte das Gericht schon im SRP-Urteil vom 23. 10. 1952 sehr nachdrücklich: Die Grundordnung ist »eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt.« 344 Ausgeschlossen wird generell die Vorstellung einer wertneutralen Methodik und Rechtsermittlung. »Das Grundgesetz will keine wertneutrale Ordnung sein, sondern hat in seinem Grundrechtsabschnitt objektive Grundentscheidungen getroffen, die für alle Bereiche des Rechts, also auch für das Zivilrecht, gelten. Keine bürgerlichrechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu den Prinzipien stehen, die in den Grundrechten zum Ausdruck kommen«. 345 2. Die Basisannahme einer durch die Verfassung statuierten »wertgebundenen Ordnung« hat sowohl für die Grundrechtsinterpretation als auch für das Recht als Rechtssystem tief greifende Konsequenzen. Dem Paradigma eines Rechtssystems als (reines) Begriffssystem ist damit ebenso die Grundlage entzogen wie der Vorstellung einer wertfreien Rechtsordnung. Folgt man der Rechtsprechung des BVerfG, kann die Rechtsordnung nur noch als ein System gedacht werden, in dem Rechtsbegriffe und die Wertungen der Grundrechte systemisch miteinander korrelieren. Anders ausgedrückt: Das »Rechtssystem« oder, schlichter, die jeweiligen Rechtsgebiete werden auch durch die Grundrechte als »wertentscheidende Grundsatznormen« strukturiert. Fritz Werner brachte es für das Verwaltungsrecht auf die klassisch gewordene Formel vom Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht. 346 3. Für die Grundrechte selbst heißt das einerseits, dass sie – entgegen ihrem historisch-politischen Entstehungsgrund – nicht mehr wesentlich als spezielle Freiheitsverbürgungen mit je eigener Genese und Dogmatik verstanden werden können. Darüber hinaus dürfen sie auch nicht allein innerhalb des Kontextes des »grundrechtlichen Wertsystems« ausgelegt werden, sondern müssen im Gesamtkontext »der allgemeinen Werteordnung der Verfassung« 347 verstanden wer-

BVerfGE 2, 1 (12), Hervorhebung durch Verf. BVerfGE 81, 242–263 – juris Rn. 46 – unter Hinweis auf das Lüth-Urteil, BVerfGE 7, 198 (205 f.), st.Rspr. 346 DVBl. 1959, S. 527 ff.; Fritz Werner war von 1958 bis 1969 Präsident des BVerwG. 347 BVerfGE 10, 59 (81). 344 345

399 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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den. Klassisches Beispiel ist die Bezugnahme im Lüth-Urteil auf das Demokratieprinzip. 348 Allgemeiner formuliert: »Eine Verfassungsvorschrift darf nicht allein aus ihrem Wortlaut heraus isoliert ausgelegt werden. Alle Verfassungsbestimmungen müssen vielmehr so ausgelegt werden, daß sie mit den elementaren Grundsätzen des Grundgesetzes und seiner Wertordnung vereinbar sind.« 349 c)

Das »Wertsystem« – die Schöpfung einer Grundrechtstheorie

Mit dem Versuch, zu klären, was es im Kontext der Rechtsprechung des BVerfG bedeutet, wenn von »Werteordnung« und »Wertsystem« die Rede ist, ist zunächst nur die Funktion dieser Begriffe beschrieben. Mit der Beschreibung wurden unausgesprochen aber auch zentrale Momente der (keineswegs unumstrittenen) Grundrechtsdoktrin des Gerichts übernommen. Im Anschluss an H. Dreier können deren Grundaussagen auf folgende Nenner gebracht werden: »1. Die Bedeutung der Grundrechte geht nicht in ihrer subjektiven, auf direkte Staatsabwehr gerichteten Dimension auf. 2. Grundrechte beanspruchen prinzipielle (nicht überall identische) Geltung in allen Rechtsbereichen; einen grundrechtsfreien Rechtsraum kann es demnach nicht geben«. 350 Hinzufügen ist als 3. Punkt: Kollisionen mit anderen Werten und grundrechtlich geschützten Bereichen anderer sind durch Abwägung zu lösen. Interpretationen sind immer auch theoriegeleitet, und Grundrechtsinterpretationen sind in besonderem Maße von der Grundrechtstheorie abhängig, die sie leiten und bestimmen. Dabei wird Grundrechtstheorie hier mit E.-W. Böckenförde verstanden als »eine systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte. Sie hat ihren Bezugspunkt (die systematische Orientierung) in aller Regel in einer bestimmten Staatsauffassung und/oder Verfassungstheorie.« 351 Böckenförde unterscheidet fünf solcher Grundrechtstheorien: die liberale oder bürgerlich-rechtsstaatliche Grundrechtstheorie, die institutionelle Grundrechtstheorie, die Werttheorie

BVerfGE 7, 198–230 – das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung – »Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend.« 349 BVerfGE 30, 1 – juris Rn. 70. 350 H. Dreier 1993, S. 12. 351 E.-W. Böckenförde 1976b, S. 221 f. 348

400 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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der Grundrechte, die demokratisch-funktionale und die sozialstaatliche Grundrechtstheorie. 352 Sie haben – und auf diesen Punkt kommt es für unsere Überlegungen entscheidend an – alle eine anders »systematisch orientierte Auffassung« über Inhalt und Bedeutung der Grundrechte und alle eine unterschiedliche »systematische Orientierung« in ihren verfassungstheoretischen Ansätzen. Zur Erläuterung ein Beispiel: Wenn die h. M. zur Weimarer Verfassung in den Grundrechten »vor allem Spezialisierungen des ohnehin selbstverständlichen Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung« sah, wie es R. Smend formulierte 353, oder Grundrechte im Wesentlichen nur als punktuelle Abwehrrechte mit je eigener Genese und Dogmatik verstanden werden, wird sich »eine systematisch orientierte Auffassung« in einer Systematisierung des Grundrechtskataloges und einiger allgemeiner Lehrsätze erschöpfen. Hier von einem System zu sprechen, führt zu keinem zusätzlichen Gewinn. Die Interpretationen des BVerfG stellen die Grundrechte dagegen in einen dreifachen systemischen Zusammenhang: untereinander, zur Gesamtordnung der Verfassung und als prägende Strukturelemente zur Rechtsordnung insgesamt. Wie diese Systemstruktur, zum einen bezogen auf die Grundrechte, zum anderen auf die Rechtsordnung insgesamt, konkret zu beschreiben ist, ist eine Diskussion in der Sache um die »richtige« Grundrechtstheorie. Um die geht es hier nicht, sondern um die Mechanismen der Systembildung. Und hier führen unsere Überlegungen zu dem Ergebnis: Es sind die Grundrechtstheorien, die die Mannigfaltigkeit der Grundrechte, ihrer Bezüge, ihrer Wert- und Begriffsinterpretationen zu einem je ihnen eigenen System fügen. Daraus ergibt sich aber auch eine allgemeine These: Ein System ist nicht vorgegeben. Es sind unsere theoretischen Perspektiven, aus denen heraus wir die Elemente eines Systems auswählen, zueinander in Relationen setzen und so zu einem System strukturieren. Noch abstrakter gesagt: Der Mechanismus der Systembildung ist ein Mechanismus der Theoriebildung. Im Zusammenhang des Themas »System und Dogmatik« (III.) werden wir auf diesen Gedanken zurückgreifen.

352 353

E.-W. Böckenförde 1976b, S. 224 ff. R. Smend 1968, S. 119, 262.

401 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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5.

System und Gerechtigkeit – ein Fazit

Die vier dargestellten Paradigmen verdeutlichen, idealtypisch dargestellt, vier völlig unterschiedliche Ansätze und Formen des juristischen Systemdenkens. Rechtstheorie und Methode formulieren so aber nicht nur vier unterschiedliche Denkformen, um die krude Mannigfaltigkeit des Rechts zu ordnen. Sie geben auch vier unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dem »richtigen« Recht, noch allgemeiner: auf die »Gerechtigkeitsfrage«. Vernunftrecht, Naturrecht und Gerechtigkeit galten nicht umsonst lange Zeit und immer wieder als Synonyme. Ein Rechtssystem, das das Recht in einem logischen System auf eindeutige Begriffe bringt und deshalb auf die Frage, was rechtens ist, eindeutige Antworten gibt – so die Vorstellung, die dieser Gleichstellung zugrunde lag –, ist per se vernünftig und schließt per se Willkür aus. Als Reaktion auf den Positivismus hat die Topik demgegenüber auf ein dualistisches Schema gesetzt: auf der einen Seite das positive Recht, auf der anderen die Gerechtigkeitsfrage. Das Systemdenken wurde so zum Gegenbild eines topischen (= gerechten) Umgangs mit dem Recht. Nahm doch die Topik für sich in Anspruch, die entscheidende »Frage, was denn hier und jetzt gerecht sei« 354, allein über das Problemdenken beantworten zu können. Eine theoretisch hinreichende Analyse oder auch nur plausible Erklärung, wie sich in einer pluralistischen Gesellschaft und unter sich stets verändernden Umständen »aus einem immer schon vorhandenen Verständniszusammenhang« 355 konkrete und nachvollziehbare Maßstäbe für eine gerechte Entscheidung ergeben können, ist die Topik dagegen schuldig geblieben. – Wie gesagt, die »Frage, was denn hier und jetzt gerecht sei«, kann in einem demokratischen Rechtsstaat nur durch eine Entscheidung beantwortet werden, die im und vom Rechtssystem (Gesetzgebung und Rechtsprechung) getroffen wird. Betrachtet man das Verhältnis Positivismus – Topik dialektisch, kann man dann im Wertsystem eine Synthese sehen: Das »Rechtssystem« und die jeweiligen Rechtsgebiete werden durch die Grundrechte als »wertentscheidende Grundsatznormen« strukturiert. Die Grundrechte bilden so als »po-

354 355

Viehweg 1974, S. 97. Viehweg 1974, S. 34.

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sitiviertes Naturrecht« 356 gleichsam die »Schnittstelle«, um Gerechtigkeitsfragen im Rechtssystem als Rechtsfragen diskutieren zu können. Diese Wertungen für die Rechtspraxis in Rechtsbegriffe und Handhabungsschemata zu transformieren, ist dann Aufgabe der Rechtsdogmatik – wie auch die Anpassung der Rechtsordnung an einen Wertungswandel deren Aufgabe ist. 357

II.

Juristisches Systemdenken – Elemente und Funktionen

Diskutiert man heute das Problem Recht und System, ist eigentlich nicht mehr streitig, dass es hier einen Zusammenhang gibt. Wie gezeigt, folgt selbst für die Vertreter der Topik aus dem antithetischen Widerspruch gegen die Vorstellung eines axiomatisch-deduktiven Systems keine grundsätzliche Negation jedes Systemdenkens. Nicht, dass es im Recht Systeme gibt, ist also das Problem, sondern wie der Systemgedanke in Bezug auf das Recht zu verstehen ist. Und die Antwort darauf hängt, wie am Beispiel der Grundrechte gezeigt, entscheidend von der Art, der Kontinuität und der Intensität der Relationen ab, die der Komplex von Elementen aufweist, die den Charakter eines Systems – seine systemische Eigenheit – ausmachen. Einer systematischen Behandlung des juristischen Systemdenkens entspricht es, zunächst seine Elemente (1.) und Funktionen (2.) zu beschreiben. Die Frage nach der Struktur und den Mechanismen der Systembildung leitet dann über zur Rolle, die Theorien und Dogmatik bei der Konstituierung von Systemen (III). und damit auch für die Methodik spielen (IV.). Aufbauend auf diesen Überlegungen wird es dann im folgenden Kapitel darum gehen, über kohärenztheoretische Überlegungen eine zeitgemäße Vorstellung für einen juristischen Systembegriff zu entwickeln.

H. Dreier, in: H. Dreier, Grundgesetz. Kommentar, Bd. I, Vorb. vor Art. 1, Rn. 69; vertiefend zur Gerechtigkeitsordnung U. Volkmann 2013, S. 41 ff. 357 Aus systemtheoretischer Sicht und grundsätzlich zu dieser Aufgabe von Dogmatik N. Luhmann 1974, S. 58 und Di Fabio 2012, S. 75 f. 356

403 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

1.

Elemente eines juristischen Systems

Bei der Zusammenstellung der in Betracht kommenden Elemente denkt man auf Anhieb als Erstes an die Rechts-Normen selbst. Um diese Normen dreht sich ja das Systemdenken der Juristen. Aber es sind nicht die Normen, die das System schaffen. Es ist der Betrachter des Normbestandes, der sie in ein System zu bringen sucht. Die Bildung von Systemen ist – wie in den erkenntnistheoretischen Überlegungen dargelegt – ein Grundvorgang der Interpretation, mit der wir eine Mannigfaltigkeit von Erkenntnissen zu einem mehr oder minder großen Rechtsbereich für uns in einen Zusammenhang bringen. Dabei stehen zunächst nicht die Normen (als Gegenstände des systematischen Erfassens) im Vordergrund, sondern die Denkformen und Elemente, mit denen wir im Recht Systeme konstruieren oder jedenfalls rekonstruieren. Zu nennen sind: Rechtsbegriffe, Rechtsfiguren und Rechtsformen, Interessen, Werte und Prinzipien. Diese Formen und Begriffe sind es, mit denen Juristen die Wirklichkeit (die Realität, das »Leben« oder wie wir es auch immer formulieren wollen) zu erfassen suchen und juristisch bewerten. Sie sind notwendiges Handwerkszeug eines rechtsstaatlichen Umgangs mit dem Recht. »Jede Jurisprudenz operiert mit Begriffen, juristisches und begriffliches Denken ist gleichbedeutend«, meinte 1884 Jhering in seiner Kritik der »Begriffsjurisprudenz«. 358 Sie geben dem Recht eine begriffliche Struktur und damit die Möglichkeit des Einordnens, der Differenzierung und des Ableitens, mit anderen Worten: sie machen das Recht systemfähig. Doch es bleibt zu bedenken: Diese Formen und Begriffe kommen nicht aus dem Nichts und sie sind auch weder durch eine »Natur der Sache«, »die« Vernunft oder »die« Rechtsidee vorgegeben. Hinter ihnen stehen Welt- und Menschenbilder, lange sozio-kulturelle Entwicklungen. Man braucht sich nur die Geschichte einiger rechtlicher Grundbegriffe wie Anspruch, Verwaltungsakt, Kausalität, Schuld, oder die Differenzierung von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft zu vergegenwärtigen, um sich klarzumachen, dass die Selbstverständlichkeit, mit der wir diese Begriffe heute gebrauchen, »nur« eine durch mehr oder minder lange rechtsdogmatische Tradition gefestigte Konvention ist.

358

R. v. Jhering 1899, S. 347.

404 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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a)

Rechtsbegriffe, Rechtsfiguren und Rechtsformen

Schon über die genauere Fixierung der Begriffe Rechtsbegriff, Rechtsfigur und Rechtsform wird man lange Diskussionen führen können. Für unsere Zwecke reichen indessen weitgehend Erläuterungen durch Beispiele. So seien als Rechtsformen genannt: Vertrag, Verwaltungsakt, Gesetz, Realakt, Weisung, Verein, Gesellschaft, Beweis, Klage. Bei den Rechtsbegriffen sind hier nicht all die Begriffe relevant, die Tatbestandsmerkmale definieren, sondern nur die Begriffe, denen eine strukturierende, systemrelevante Funktion zukommt. Es sind die Grundbegriffe des Rechts oder eines Rechtsgebietes, Termini wie Rechtsgeschäft, Kausalität, Verschulden, Abstraktionsprinzip, Frist, Irrtum, Fiktion etc. Systemische Bedeutung haben hier aber auch all die Begriffe, über die Abgrenzungen erfolgen (z. B. Öffentliches Recht – Privatrecht, der Begriff der »Wegnahme« zur Abgrenzung vom Betrug etc.). Besonders unscharf ist der Begriff der Rechtsfigur. Während Rechtsformen oft größere Normkomplexe auf einen dogmatischen Begriff bringen, geht es bei den Rechtsfiguren meist um das Etikett für eine – durch Rechtswissenschaft bzw. Richterrecht vielfach erst geschaffene – Rechtsregel. Der Begriff der »Rechtsfigur« ist ein nahezu selbstverständlicher Baustein in juristischen Argumentationen. Seine Wurzeln hat er (wenig überraschend) in der Konstruktionsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts. 359 Man kann ihn als Allerweltsbegriff ironisieren 360 und kann dies mit einer juris-Recherche belegen. 361 Um Beispiele zu nennen: die »Rechtsfigur des Wissenserklärungsvertreters« 362, die »haftungsbegrenzende Rechtsfigur des hypothetischen Kausalverlaufs bei rechtmäßigem Alternativverhalten« 363, die »Rechtsfigur der natürlichen Handlungseinheit« 364, der Rückgriff auf »die Rechtsfigur der actio libera in causa« 365 die »Rechtsfigur des Handelns auf eigene Ge-

Sehr anschaulich dargestellt von M. Bors 2003, S. 221 ff. Vgl. M. Bors 2003, S. 219 ff. 361 Sie ergab im Nov. 2013 zum Stichwort über 360 BGH-Entscheidungen und 125 Entscheidungen des BVerwG. 362 BGH, Urteil vom 16. Oktober 2013 – IV ZR 390/12 –, juris Rn. 20. 363 BGH, Urteil vom 07. Februar 2012 – VI ZR 63/11 –, BGHZ 192, 298–305 – LS. 364 BGH, Urteil vom 29. März 2012 – 3 StR 422/11 –, juris Rn. 9. 365 BGH, Urteil vom 07. Februar 2012 – VI ZR 63/11 –, BGHZ 192, 298–305 – juris Rn. 17 359 360

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fahr« 366, die »Rechtsfigur des intendierten Ermessens« 367 oder die »Rechtsfigur der planungsrechtlichen Abschnittsbildung« 368. Aber die Beispiele erweisen auch, wie unverzichtbar diese Figuren für die Praxis sind: Ein – oft sehr spezielles – Problem, für dessen Lösung man im Gesetz keine Regel findet, wird auf einen Begriff gebracht. So kann man das Problem ohne Missverständnisse kommunizieren und hat zugleich eine Entscheidungsregel. b)

Interessen, Werte und Prinzipien

Die Rede von Interessen, Werten und Prinzipien ist in der juristischen Argumentation allgegenwärtig. Es ist die prinzipielle Unbestimmtheit dieser Begriffe, die zu dieser hohen Beliebtheit führt. Denn näher bestimmbar sind diese Begriffe allenfalls aus den theoretischen Kontexten, aus denen heraus sie gebraucht werden. So ergibt sich die juristische Bedeutung für den Begriff der »Interessen« wesentlich aus den Zusammenhängen der »Interessentheorie«. Mit dem Übergang von der »Interessentheorie« zur »Wertungsjurisprudenz« hat der Interessenbegriff seine Funktion aber weitgehend an den »Wertbegriff« abgegeben. 369 – Gleichwohl tut der Richter gut daran, bei der Auslegung von Normen weiterhin nach den sehr konkreten, rhetorisch nicht durch Werte überhöhten und überhöhbaren Interessen zu fragen, die bei der Normsetzung eine Rolle gespielt haben. – Wenn Larenz der »Interessentheorie« eine »unklare Verwendung des Ausdrucks ›Interessen‹« ankreidet 370 und man dem folgt, kommt man allerdings vom Regen in die Traufe. Der »Wertbegriff« ist zwar ein (historisch später) Grundbegriff der Philosophie; es ist aber bis heute nicht gelungen, eine anerkannte Definition für ihn zu finden. 371 Wollte man in der Wertungsjurisprudenz nicht die je subjektive Einschätzung des Einzelnen über Wert oder Unwert BGH, Urteil vom 17. März 2009 – VI ZR 166/08 –, juris Rn. 8, 10. BVerwG, Urteil vom 20. Juni 2013 – 8 C 48/12 –, juris Rn. 46 368 BVerwG, Urteil vom 24. November 2010 – 9 A 13/09 –, BVerwGE 138, 226–243 – Rn. 69. 369 Vgl. zu diesem »Übergang« Larenz 1991, S. 119 ff. und A. Kaufmann 2004, S. 127 f. 370 Larenz 1991, S. 119. 371 Einen guten Überblick gibt der Art. »Wert« von A. G. Wildfeuer in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 3, hg. v. Petra Kolmer und Armin G. Wildfeuer, Freiburg/München, S. 2484 ff. mit umfangreichen Nachweisen. 366 367

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entscheiden lassen, brauchte man einen objektiven Maßstab und Bezugspunkt. 372 Ein solcher war der Ordo-Gedanke, wie er etwa von Viehweg aufgegriffen wurde, oder die (aus ähnlichen Ansätzen stammenden) Gedanken an »übergesetzliche« oder »vorpositive« Normen, die nach 1945 (bis ca. 1960) in der »vielgestaltigen Naturrechtsrenaissance« 373 diskutiert wurden. Durchgesetzt hat sich die juristisch-pragmatische Bezugnahme auf den Grundrechtskatalog: das Grundrecht als Wert und als »wertentscheidende Grundsatznorm«. 374 Auf grundrechtstheoretische Positionen bezogen ist auch ein bestimmtes Verständnis des Prinzipienbegriffs. Dieser spielt in der Grundrechtstheorie von R. Alexy eine zentrale Rolle und baut, ausgehend von der Rechtstheorie Ronald Dworkins, auf einer strikten analytischen Trennung von Prinzip und Regel auf. 375 Der normtheoretische Unterschied führt auch zu unterschiedlichen methodischen Ansätzen: »Die Anwendung von Regeln erfolgt durch die Subsumtion eines Sachverhaltes unter ihren Tatbestand und Deduktion der Rechtsfolge. […] Die Anwendung von Prinzipien erfordert demgegenüber […] eine Abwägung kollidierender Prinzipien.« 376 So sind die Grundrechte keine Normen, die via Subsumtion handhabbar sind; als Prinzipien können sie nur im Wege optimierender Abwägung angewandt werden. 377 Im herkömmlichen Verständnis ist den Begriffen »Prinzip« oder »Grundsatz« diese scharfe Konturierung dagegen fremd; hier bezeichnen sie Rechtsprinzipien wie das Prinzip der Rechtssicherheit, den Grundsatz von Treu und Glauben, das Schuldoder das Verschuldensprinzip, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder einerseits das Prinzip der Formfreiheit für den einen Rechtsbereich und im Gegenzug das Prinzip der Formenstrenge im anderen. Entwickelt haben sie sich zum Teil aus einer allgemeinen Rechtsidee. Andere sind induktiv abgeleitete Verallgemeinerungen, verstanden als Grundelemente einer gerechten Ordnung oder jedenfalls eines Zum Problem wieder beispielhaft K. Larenz 1991, S. 120 ff. R. Dreier 1995, S. 156. 374 Zu diesem Topos weist juris für die Zeit zwischen Mai 1970 und September 2013 insg. 83 Judikate des BVerfG aus. 375 Alexy 1986, S. 71 ff.; 77 ff. 376 J.-R. Sieckmann 1990, S. 18. 377 Vgl. Alexy 1986, S. 77 ff. Näher kann hier auf die immer noch sehr grundsätzlich geführte Diskussion nicht eingegangen werden. Zum Zusammenhang der Theorie mit der Grundrechtsdiskussion vgl. Überblick und Nachweise bei H. Dreier, in: Dreier, Bd. I, Vorb. vor Art. 1. Rn. 79 (3. Aufl. 2013); U. Neumann 2000, S. 138 ff.; grundsätzlich die Kritik von Poscher 2010; U. Volkmann 2013, S. 115 f. 372 373

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

bestimmten Rechtsbereichs. So sind sie einerseits Ergebnis, d. h. Folgerungen aus dem Systemdenken. In ihrer Anwendung wollen sie andererseits immer die Werte, die sie als Prinzip formulieren, zur Geltung bringen. c)

Erste Folgerungen für die Systemstruktur

Führt man die vorstehenden begrifflichen Unterscheidungen zusammen, ergeben sich für die weiteren Überlegungen zur Systembildung zunächst drei Thesen: 1. These: Rechtsbegriffe und Werte können zwar als isolierte Elemente beschrieben werden; in juristischen Zusammenhängen treten sie jedoch nicht als isolierte Elemente auf. Die Bildung juristischer Begriffe erfolgt immer auch über Wertungen und in Bezug auf Rechtsprinzipien. Da es somit den »reinen« Rechtsbegriff nicht gibt, gibt es im Recht auch das »reine« Begriffssystem nicht. – Zur Illustration nehme man das durch die Konstruktionsjurisprudenz im 19. Jahrhundert geschaffene Begriffsfeld Rechtsgeschäft, Vertrag, Willenserklärung. Im Ausgangspunkt bezeichnet die »Willenserklärung« dabei bekanntlich die Äußerung eines auf die Herbeiführung einer Rechtswirkung gerichteten Willens. 378 Wie die §§ 116 ff. BGB zeigen, »wirkt« die Erklärung aber auch dann, wenn kein Geschäftswillen vorliegt. Und auch trotz »fehlenden Erklärungsbewußtseins (Rechtsbindungswillens, Geschäftswillens) liegt eine Willenserklärung vor, wenn der Erklärende bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen und vermeiden können, daß seine Äußerung nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte als Willenserklärung aufgefaßt werden durfte, und wenn der Empfänger sie auch tatsächlich so verstanden hat.« 379 – Was diese Grundsätze beispielhaft zeigen, ist, wie stark selbst Begriffe, die durch die Konstruktionsjurisprudenz im 19. Jahrhundert als »reine« Rechtsbegriffe geschaffen wurden, von Wertungen, Grundsätzen wie dem von Treu und Glauben und Interessenabwägungen abhängig sind. 2. These: Auch wenn bei der Bildung von Rechtsbegriffen Wertungen und Prinzipien eine entscheidende Rolle spielen, behalten die ent378 379

Vgl. Palandt/Ellenberger Einf. V. § 116 Rn. 1. (74. Aufl. 2015). BGHZ 109, 171 (177) mit zahlreichen Nachweisen.

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sprechenden Begriffsfelder jedoch ihre begriffliche Struktur. Die Begriffe sind definierbar und das heißt auch: aus ihnen ergeben sich, wie die oben zitierten Grundsätze zeigen, Regeln, und unter diese Regeln gilt es, methodisch sauber zu subsumieren. Rechtsbindung und »begriffsorientierte Argumentation« 380 bedingen sich. 3. These: Werte und Prinzipien strukturieren nicht nur die Begriffsinhalte – Sinn und Bedeutung –, sondern auch die Systembildung insgesamt. Auf die allgemeine Funktion, die Rechtsprinzipien dabei zukommt, ist später noch näher einzugehen. Hier interessieren die unterschiedlichen Funktionen von Werten und Prinzipien einerseits und von Begriffen andererseits. Während durch Begriffe wesentlich die logisch-statischen Relationen im System hergestellt werden, verhindern Werte und Prinzipien, wenn sie in dem ihnen eigenen Aggregatzustand agieren, dagegen gleichsam das »Aushärten« dieser Relationen; sie halten Systeme flexibel. Der Grund liegt in einer unterschiedlichen Struktur von Begriffen und Werten. Rechtsbegriffe werden definiert; sie sind handhabbar, weil sie in ihrer Bedeutung eingrenzbar sind und man sie (möglichst genau) von anderen abgrenzen kann. Prinzipien sind dagegen wesensmäßig »unersättlich«. 381 Für ihren Bereich stellen sie den Anspruch auf maximale Durchsetzung. Für die Glaubens- und Gewissensfreiheit etwa gibt es keinen Lebensbereich, in dem diese mit ihrem Geltungsanspruch nicht in einen Konflikt mit anderen Werten und Prinzipien treten könnte. Einschränkbar sind solche Prinzipien dann nur auf zwei Wegen: entweder durch normative Regeln (Schranken) oder durch Abwägungsmechanismen. Schrankenziehung und Abwägung sind denn auch die Grundmodelle des juristischen Umgangs mit Prinzipien. Ein Schulbeispiel zur Erklärung ist die Interpretation des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG. Eine klare Lösung des Abgrenzungsproblems müsste Schutzbereich und Schranken des Grundrechts klar definieren. Im Wortlaut des Abs. 2 sind diese Schranken auch klar vorgegeben: »Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.« Man brauchte also nur zu subsumieren, um den Haverkate 1996, S. 24. So treffend U. Neumann 2000, S. 144 ff., der in der Überschrift von der »Unersättlichkeit« von Rechtsprinzipien spricht.

380 381

409 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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Bereich des Freiheitsrechts klar ab- und damit eingrenzen zu können. Es wäre »positivistisch« handhabbar, ohne dass sich der Richter über Wert, Bedeutung und Funktion der Meinungsfreiheit noch nähere Gedanken machen müsste. Den Charakter eines Prinzips hätte es verloren. Zuerst im Lüth-Urteil mit aller Deutlichkeit formuliert, hat das BVerfG demgegenüber sein Grundrechtsverständnis entscheidend auf dem Prinzipiencharakter der Grundrechte aufgebaut und es deshalb abgelehnt, die »gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht und ›allgemeinem Gesetz‹ […] als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die ›allgemeinen Gesetze‹ aufzufassen.« Stattdessen wird als methodische Vorgabe statuiert: »es findet vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die ›allgemeinen Gesetze‹ zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.« 382 Damit war die Wechselwirkungstheorie als zentraler Baustein der Grundrechtsrechtsprechung geboren, dem das BVerfG in ständiger Praxis folgt. 383 Die methodischen Konsequenzen sind erheblich. Gefordert werden eine Abwägung und die Orientierung dieser Abwägung am Einzelfall. Diese Einzelfallorientierung lässt den Gesetzesvorbehalt im Ergebnis oft zu einem Richtervorbehalt werden. 384 Die MephistoEntscheidung und der Fall Esra sind dafür höchst anschauliche Beispiele aus der Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 3 GG; die Sondervoten kann man in beiden Fällen für überzeugender halten. 385 Rechtstheoretisch ist dies das Gegenteil des Prinzips notwendiger Regelorientierung. Dieses Prinzip verlangt und sucht wenigstens eine Regelstruktur für die Abwägung. Die Dreistufentheorie zu Art. 12 GG ist eine solche Strukturierung. Für die Kommunikationsgrundrechte gibt es dagegen nicht mehr als »Leitlinien einer differenzierenden Verhältnismäßigkeitsprüfung« 386, die »angemessen nur nach Maßgabe bestimmter Fallgruppen erläutert werden« können. 387 Erst aus BVerfGE 7, 198 (210 f.). Zur Übersicht vgl. etwa H. Schulze-Fielitz, in: Dreier Bd. I, Art. 5 I, II Rn. 158 ff. (3. Aufl. 2013). 384 Mit weiteren Nachweisen dazu H. Schulze-Fielitz, aaO. Rn. 160. 385 BVerfGE 30, 200 ff. (Stein) u. 218 ff. (Rupp-v. Brünneck) sowie E 119, 1, (59 ff.). 386 H. Schulze-Fielitz, in: Dreier Bd. I, Art. 5 I, II Rn. 161 ff. (3. Aufl. 2013). 387 So H. Schulze-Fielitz, in: Dreier Bd. I, Art. 5 I, II Rn. 169 (3. Aufl. 2013). 382 383

410 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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solchen Fallgruppen mögen sich dann gewisse Abwägungsmuster und aus diesen dann Abwägungsregeln herausschälen. 388 d)

Präjudizien

In einem Systemdenken, das mit der Vorstellung arbeitet, Systeme seien vornehmlich durch logische Relationen zwischen ihren Elementen bestimmt, bleibt für die Rechtsprechung nur die Rolle des »Nutzers« eines solchen Systems. Urteile sind richtig oder falsch, je nachdem, ob die Ableitung aus dem System richtig oder falsch war. Eine Vorstellung, die heute allenfalls noch als Karikatur nachvollziehbar ist. Die Rolle der Rechtsprechung im Prozess der Systembildung ist evident. Und Urteile, insbesondere Präjudizien, werden so zwangsläufig selbst zu bestimmenden Elementen. Dies soll an zwei Aspekten verdeutlicht werden. 1. Das Justizsystem ist auf die »Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung« angelegt (Art. 95 Abs. 3 GG; Kap. 6 II.) und hat »die Einheit der Rechtsordnung institutionell zu sichern. Denn die Einheit der Rechtsordnung ist im Kern bedroht, wenn gleiches Recht ungleich gesprochen wird.« 389 Diese Aufgabe kann die Rechtsprechung nur erfüllen, wenn sie sich an die eigenen Leitentscheidungen hält und nur mit guten Gründen von ihnen abweicht. In der Praxis führt das zwangsläufig dazu, dass jedenfalls Gerichte mit den Funktionen der Rechtsfortbildung und der Wahrung der Einheitlichkeit in der Rechtsprechung ihre Entscheidungsbegründungen in einer ständigen Bezugnahme und Auseinandersetzung mit ihren eigenen Urteilen formulieren müssen. Das Ergebnis dieser stetigen Verweisungen auf frühere Rechtsprechung (natürlich auch auf die »übergeordneter« Gerichte) ist oft ein selbstreferentielles Geflecht von Präjudizien und Detailentscheidungen. Gelingt es dem Gericht/Spruchkörper darüber hinaus, dieses Geflecht in »ständiger Rechtsprechung« auch kohärent zu halten, wird es, je nach Umfang und Bedeutung, zum Systemelement oder selbst zum System. Im Einzelnen kann man eine solche Systembildung und Umbildung am Beispiel der Rechtsprechung von BGH und BVerfG zum Recht der öffentlich-recht-

388 389

Ausführlich zum Abwägungsproblem Kap. 26 IV. 3. c. BVerfGE 54, 277–300.

411 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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lichen Ersatzleistungen anhand der Frage studieren: System, Systematik oder vielfach doch nur Kasuistik? 390 2. Ein weiterer Aspekt liegt in der besonderen Funktion, die Leitentscheidungen bei der Systembildung oft zukommt und diese zum Element der Struktur machen. Gemeint sind die Entscheidungen, die nicht nur das System ergänzen, verfeinern und Fragen klären, sondern das System selbst oder seine Teile, etwa bestimmte Rechtsfiguren, in ihrer Struktur verändern oder neue schaffen. In diesem Sinne war vom Lüth-Urteil immer wieder die Rede. Die beiden Entscheidungen des BVerwG zum Abwägungsgebot im Planungsrecht sind ein weiteres Beispiel, 391 ebenso die Nassauskiesungsentscheidung des BVerfG für die Handhabung des Art. 14 GG und für die oben angesprochene Frage eines Systems der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen. – Was aber macht diese besondere Funktion aus? Wenn man Präjudizien durch ihre Leitbildfunktion für ähnliche künftige Rechtsfälle definiert, 392 dann liegt im »Bild« das Moment der Anschauung und diese hat für ein Systemdenken, das nicht nur mit Begriffen, sondern auch mit Werten und Prinzipien arbeitet, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung – für das Verstehen, die Erklärung und die Handhabung. »Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind«, ist das bekannte Diktum Kants, das sich hier assoziiert. 393 Das Präjudiz gibt Anschauung. Es veranschaulicht die Problemlage und lässt die neue Problemlösung und die dafür notwendigen neuen Kategorien und Wertungen plastisch werden. Zugleich gibt es ein Muster, wie zwischen den widerstreitenden Werten und Prinzipien praktische Konkordanz herzustellen ist. 394 Das Problem, wie das Kräfteparallelogramm aus Werten, Begriffen und Rechtsprinzipien von Fall zu Fall zu handhaben ist, bleibt damit freilich ungelöst. Es ist meist ein langer Prozess, bis sich aus Fallreihen eine oder mehrere hinreichend klare »Wenn-dann-Regeln« bilden lassen, aber nicht selten sind solche Versuche auch zum

Eine nähere Analyse gibt F. Ossenbühl, Die Rechtsprechung des BGH zu den öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen, Beilage zu NJW Heft 14/2002. 391 BVerwGE 34, 301 und BVerwGE 45, 309. 392 So etwa der Duden. 393 Zur Übertragbarkeit des Diktums auf Schemata und Muster H. Lenk 1991, S. 19. 394 Zur praktischen Konkordanz vgl. etwa BVerfGE 128, 1–90 – juris Rn. 147. 390

412 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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Scheitern verurteilt. 395 Als methodischer Weg bleiben dann nur »Annäherungsregeln«, Regeln nach dem Frageschema: Worin unterscheidet sich der vorliegende Fall A im Hinblick auf die vorzunehmende Wertung von den bisher entschiedenen Fällen? Und sodann: Ist der Unterschied geringfügig, unerheblich oder führt er zu den Einschätzungen »erst recht« – nicht übertragbar? Der methodischen Arbeit mit Fallgruppen liegen also Wertungsmuster zugrunde, Muster gelungener bzw. akzeptierter Abwägungen – seien es im Baurecht Baufreiheit/Nachbarschutz (Rücksichtnahmegebot), im Vertragsund Eherecht Privatautonomie/Schutz des Schwächeren oder bei der Grundrechtsabwägung etwa die zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht. Diese Muster sind konstituierende Elemente ihrer jeweiligen Rechtsbereiche – oft das dynamische Moment in deren Systemen.

2.

Zu den Funktionen juristischer Systeme

Wir haben uns bei unseren bisherigen Darlegungen mit Selbstverständlichkeit an Luhmanns »virtuos-pragmatisches« 396 Diktum gehalten: »Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt.« 397 Doch gehen wir zunächst einen Denkschritt zurück: Das Systemdenken, das Arbeiten mit »Systemata«, ist nicht nur pragmatische Setzung eines theoretischen Ausgangspunktes. Die menschliche Vernunft ist, so hat es Kant formuliert, ihrer Natur nach »architektonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System«. 398 Wir haben es – wie bei der Mustererkennung noch genauer zu zeigen sein wird (Kap. 23) – mit einem unhintergehbaren Mechanismus menschlicher Kognition zu tun. Wie anders könnten wir sonst aus der unendlichen Menge der auf uns einströmenden Umweltreize Informationen gewinnen und uns in dieser Flut Übersicht und Orientierung verschaffen? Ohne zu systematisieren und die Bildung von Systemen könnte sich auch im Recht niemand in der Vielfalt seiner Einzelheiten orientieren. Das Systemdenken ist Anschauungsmaterial für beide Varianten bietet die Auslegungsgeschichte des § 242 BGB. 396 P. Fuchs http://www.velbrueck-wissenschaft.de/pdf_ausfuehrlich/978-3-93880879-5.pdf. – abg. 2013–03–05. 397 N. Luhmann 1984, S. 30. 398 KrV A 474/B 502. 395

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mit anderen Worten mit dem juristischen Denken notwendig verbunden und es erfüllt dabei, je nach Perspektive, unterschiedliche Funktionen: 1. Die Ordnungs- bzw. Systematisierungsfunktion: Man systematisiert die Mannigfaltigkeit, indem man Kategorien (»Schubladen«) schafft, in die man sie einordnet. Einfachste Formen sind die Zusammenstellung von Material in Katalogen (etwa Topoikatalogen, das Linné’sche System in der Biologie) oder das Ordnen von Wissen in Enzyklopädien und Kommentaren. 2. Die Orientierungsfunktion: Kataloge, Enzyklopädien und Kommentare ermöglichen es dem Nutzer, seine Beobachtungen und Informationen, seine Fragen und Probleme in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Besteht zwischen den Elementen (jedenfalls partiell) entweder eine hierarchische Struktur (sei es durch Oberbegriff/Unterbegriff oder durch Vorrangregelungen) oder ein Verhältnis prinzipieller Gleichordnung, das durch Abwägungsregeln zu konkretisieren ist, dann hat es auch eine inhaltliche Ableitungsfunktion. 3. Die Ableitungs- oder theoretisch-konstruktive Funktion juristischer Systeme – Systeme hier verstanden als kohärentes (näher dazu im folgenden Kapitel) Gefüge von juristischen Begriffen, Sätzen, Regeln und Prinzipien. Bestehen sie, wird »Rechtserkenntnis« weitgehend durch das System vermittelt 399, d. h. über die theoretische bzw. dogmatische Gestalt, die das Recht durch sie angenommen hat und mit der der Rechtsanwender umgehen muss, wenn er es anwendet. Um dies wiederum am Beispiel der Grundrechtsdogmatik zu konkretisieren: Ein Jurist, der Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden hat, kann heute nicht mehr an den Anfang zurückkehren und unbefangen von Interpretationsansätzen aus der Zeit vor dem Elfes-Urteil von 1957 400 ausgehen und nach Wortlaut und Vorstellungen des Parlamentarischen Rates fragen. Man kann die Entwicklung, die die Grundrechtsdogmatik seit diesem Urteil genommen hat, für falsch halten. Aber man kann aus dem selbstreferentiellen Gefüge, das die Rechtsprechung seitdem geschaffen hat, keinen zentralen Baustein herausbrechen, ohne zugleich den systematischen Zusammenhang, in den Rechtsprechung und Literatur die Interpretation seit über Wenn hier von »vermitteln« die Rede ist, dann ist es, wie oben in Kap. 12 II. dargestellt, erkenntnistheoretisch gemeint. 400 BVerfGE 6, 32–45. 399

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50 Jahren gestellt haben, zu zerstören. Im Gegenzug müsste eine Entscheidung, die einen solchen Baustein herausbricht, das Gefüge vielmehr so »umbauen«, dass auch neue und passende Antworten auf die Fragen des Wesensgehaltes der Handlungsfreiheit, der verfassungsrechtlichen Kontrolle hinsichtlich Verfahren und Zuständigkeit des Gesetzgebers und zu den Problemen Gesetzesvorbehalt und Verhältnismäßigkeitskontrolle gegeben werden. Kann man das nicht, bleibt als methodisch akzeptabler Weg nur die Ableitung aus den durch Rechtsprechung und Grundrechtslehren vorgegebenen dogmatischen Strukturen. – Folgt man diesen Überlegungen, vollzieht sich über das juristische Systemgefüge aber nicht nur »Rechtserkenntnis« – in anderer Terminologie: die Herstellung gerichtlicher Entscheidungen durch Kohärenz –, sondern auch die »Verifizierung«: Für die »Darstellung« werden »kontrollierbare und einsehbare Maximen der Rechtsanwendung« 401 geliefert. Und gerade das genannte Beispiel macht schließlich eine weitere Funktion deutlich: die Stabilisierungsfunktion. 4. Die »Verifikationsfunktion« 402 oder das System als Maßstab für die »richtige« Entscheidung: Das System ist nicht nur Instrument der Rechtsfindung, sondern auch Maßstab zur rationalen Verifizierung der getroffenen Entscheidung. 403 Fügt sich eine Entscheidung in die im System vorgegebene begriffliche Struktur nicht ein oder führt sie zu Wertungswidersprüchen, stellt sich unausweichlich die »Richtigkeitsfrage«: Entweder ist die Entscheidung mit guten Gründen nicht vertretbar oder der Fehler steckt im angenommenen System. Will der Richter bei seiner Entscheidung bleiben, weil er sie für richtig hält, dann gibt es, wie immer wieder betont wurde, nur einen methodisch »sauberen« Weg: Er muss mit den besseren Gründen das System ändern – es insoweit »nachjustieren« oder es entsprechend umbauen, bis es »passt«. 5. Die Stabilisierungsfunktion: Sobald Normen, Rechtsbegriffe und dogmatische Sätze in einem systematischen Zusammenhang stehen, werden Bedeutung und Inhalte dieser Begriffe und SätSo F. Wieacker 1970, S. 322; dort für die Dogmatik – diese aber ist immer auch System. 402 »Verifizierung« ist auch an dieser Stelle nicht als Terminus i. S. der erkenntnistheoretischen Diskussion (Wiener Kreis, Popper) zu verstehen, sondern wie in Kap. 13 II. 2. schlicht als Überprüfung einer Aussage, Meinung etc. auf ihre »Richtigkeit«. 403 Im Anschluss an F. Wieacker 1970, S. 316. 401

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ze zwangsläufig auch durch ihre Stellung im System bestimmt. Das System ist der entscheidende Kontext. Besteht ein solcher Kontext, kann man über den »richtigen Gebrauch« eines Begriffs nur noch unter Berücksichtigung des systematischen Zusammenhangs, in dem er steht, entscheiden. Das System ist mit anderen Worten eine wesentliche Bedingung semantischer Stabilität. Auf die Grundrechtsdogmatik ist als Beispiel für die Funktionsweise einer solchen Stabilisierung bereits hingewiesen worden. Sehr anschaulich beschreibt Jakobs diesen Stabilisierungseffekt für die Begriffe des Strafrechts: »Nicht nur die Deliktstypen insgesamt, sondern nahezu alle Komponenten, aus denen sie aufgebaut sind, werden deshalb im System wie die Knoten eines Netzes mehrfach miteinander verbunden. Bei dieser Lage ist die Möglichkeit, der Bezeichnung eines Deliktsmerkmals eine Bedeutung zu geben, der vom strafrechtlichen Usus abweicht, nicht nur durch das Erfordernis beschränkt, das Ergebnis systematisch einzupassen (schon das schließt beliebige Vorannahmen des Interpreten aus), sondern auch die Begründung, mit der die Bedeutung festgelegt wird, darf nicht das System durcheinander bringen, wenn man sie auf die Lösung anderer Interpretationsprobleme überträgt. Die Begründung muß also ohne Schaden für das System generalisierbar sein.« 404

Das Bild, das Jakobs gebraucht, wenn er davon spricht, dass im System die Elemente »wie die Knoten eines Netzes mehrfach miteinander verbunden« werden, verweist auf nichts anderes als den »Hypertext Recht«. Im vorigen Kapitel 17 IV. 2 haben wir dessen Funktion im Prozess semantischer Stabilisierung ausführlich besprochen und bereits ausdrücklich auf die besondere Rolle hingewiesen, die hier dogmatische Sätze und Begriffssysteme mit dogmatischer Qualität für die semantische Stabilität von Rechtsbegriffen spielen.

III. Systemdenken – juristische Theorien, Kohärenz und Dogmatik In dem Wortfeld System – Theorie – Dogmatik – Kohärenz sind die Überschneidungen, d. h. die gemeinsamen Begriffselemente so zahlreich, dass es schwierig ist, die genauen Unterschiede zu markieren. Für unsere Überlegungen zum Systemdenken sind zunächst aber 404

G. Jakobs 1993, Rn. 38.

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auch die gemeinsamen Schnittmengen viel wichtiger als die Differenzen, die unterschiedlichen Annotationen, mit denen sie gebraucht werden. Das wesentlich Gemeinsame ist bereits mit der oben zitierten Feststellung H. J. Wolffs gesagt: »Rechtswissenschaft zumindest ist systematisch oder sie ist nicht!« 405 »Wissenschaft« steht hier einmal für die Dogmatik. Zutreffend qualifiziert F. Wieacker den »Systembegriff« als »das formale Konstituens der Dogmatik«. 406 Sie gilt aber auch für diejenige systematische Bearbeitung des Rechtsstoffs, die in der Rechtswissenschaft als Theorien bezeichnet und gehandhabt werden. 407 Wie die Dogmatik sind diese juristischen Theorien »Systemnutzung und Systembildung zugleich«. 408 Sie schaffen Systeme.

1.

Theorien

Wenn Juristen von Theorien sprechen, dann bezeichnet das oft (nur) eine von der Wissenschaft oder Rechtsprechung zu einem Rechtsproblem oder auch einem Komplex von solchen Problemen entwickelte Meinung, einen Vorschlag, wie ein Rechtsproblem am besten zu lösen ist. Diese Lösung muss de lege arte argumentativ aus dem einschlägigen Normstand und in Bezug auf einen bestehenden – oder durch die Theorie eben erst zu schaffenden – Systemzusammenhang entwickelt sein. Beispiele lernt der Student schon zu Beginn des Studiums in großer Zahl. Theorien zu Täterschaft und Teilnahme, zum untauglichen Versuch, zur Kausalität, die Willens- und Erklärungstheorie zur Willenserklärung und schließlich, wie oben angesprochen, auch die verschiedenen Grundrechtstheorien. Diese Theorien sind die nahezu alltäglichen Produkte systematischer Rechtswissenschaft. Sie sind die Anschauungsformen (griech. theorein = anschauen, betrachten), die »tools for handling«, mit denen Juristen Grundsätze, Normen und ihre Anwendungsprobleme handhabbar machen. Erarbeitet werden sie, um ein spezielles RechtsH.-J. Wolff 1952, S. 205. F. Wieacker 1970, S. 319, Fn. 22; vgl. zum begrifflichen Zusammenhang von Dogmatik und System: Alexy 1983, S. 310 ff. mit weiteren Nachweisen. 407 Ich knüpfe den Systembegriff allerdings nicht an die Bedingung axiomatischer Reduzierbarkeit – vgl. dazu Ch. Möllers 2012, S. 158 f. –, sondern an die Bedingung von Kohärenz, siehe unter 2. und Kap. 18. 408 E. Schmidt-Aßmann 2006, S. 5. 405 406

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problem (Auslegungs- oder Handhabungsproblem, fehlende oder unklare Rechtsgrundlage) zu lösen. Sie sind Mittel der Rechtserkenntnis, haben also eine epistemische Funktion. Es geht dabei immer um unterschiedliche Perspektiven, von denen aus die Probleme gelöst werden. Ist eine Norm unstreitig klar, braucht es keine Theorie. Ob man einer Theorie folgt, hängt davon ab, ob man deren Ausgangspunkt, deren Prämisse(n) teilt. Diese partiellen Systeme sind also hypothetisch. Und sie sind plural; bei unterschiedlichen Prämissen gibt es unterschiedliche Theorien. Wir haben es also mit einem Systembegriff zu tun, der nicht wie der des Deutschen Idealismus in der Vorstellung wurzelt, im System stecke die Wahrheit, sondern in dem uns heute viel näheren Verständnis, das »Systemata« als »Meinung«, als eine theoretische Ansicht unter anderen, verdeutschte und gebrauchte. Bezogen war es zunächst auf die kontrovers diskutierten Lehrgebäude vom Bau der Welt (systemata cosmologica), also die Systeme des Ptolemaios und von Tycho Brahe sowie das kopernikanische Weltbild. 409 Letzteres setzte sich bekanntlich erst im 19. Jahrhundert endgültig durch und ließ die anderen auch als Hypothesen obsolet werden. – Auch in der Rechtswissenschaft haben wir für eine solche Entwicklung eine Parallele, nämlich eine Entwicklung von der Konkurrenz mehrerer Theorien mit unterschiedlichen Lösungsansätzen zur Konzentration auf eine, allein noch akzeptierte Theorie. In der Rechtswissenschaft ist das der Vorgang der Dogmatisierung (siehe dazu 3.). Am Beispiel der Grundrechtstheorien ist dieser Zusammenhang bereits dargestellt worden (I. 3.).

2.

Kohärenz

Wenn wir von »Theorien«, »Systemdenken« und »Kohärenz« sprechen, ist meist ein weitgehend identischer Begriffskern gemeint. Entsprechend sind im Duden »Struktur« und »System« als Synonyme zu »Kohärenz« aufgeführt; Kohärenz als »Zusammenhang; der rote Faden, Folge[richtigkeit]«. Belegt sei diese Feststellung zunächst anhand herkömmlicher Strafrechtstheorien: Bezeichnet werden sie zumeist als »objektive«, »subjektive« oder »vermittelnde« Theorien. Der Unterschied ergibt sich dabei aus den unterschiedlichen Perspektiven, aus denen das 409

Im Zusammenhang dazu G. Zöller 2001, S. 58 ff.

418 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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Strafrecht gesehen wird – als »Tat«- oder »Täterstrafrecht« – und aus denen der Rechtsstoff dann geordnet und die Anwendungsprobleme gelöst werden. Ergänzend oder überlagernd können außerdem weitere Momente eine Rolle spielen, z. B. wie skeptisch man der richterlichen Fähigkeit gegenübersteht, die »wirklichen« Absichten und Vorstellungen eines Täters erkennen zu können. Rechtsstoff und Anwendungsprobleme werden also bei den alternativen Theorien unter einem bestimmten Prinzip systematisiert; bei den vermittelnden Theorien müssen darüber hinaus noch die Relationen und Gewichtungen der unterschiedlichen Prinzipien (evtl. je nach Falltyp) auf den Nenner einer Regel gebracht werden. In Bezug auf den Zusammenhang von System und Theorie ist mithin erstens nochmals zu konstatieren, dass es die Ausrichtung auf die Ausgangsprämisse(n) ist, über die der Rechtsstoff und die mit ihm verbundenen Anwendungsprobleme systematisiert werden. Das entspricht dem Befund, der sich bereits bei der Feststellung ergeben hat, dass es die zugrunde gelegten Grundrechtstheorien sind, die bestimmen, ob und inwieweit die Grundrechte als Wertsystem gesehen werden können. Ob und inwieweit eine Systematisierung gelungen ist, ist dann eine Frage der Schlüssigkeit der Systematisierung. Einer strafrechtlichen Theorie etwa, die zwar die These diskutiert, rechtsstaatlich relevant könne allein das objektiv feststellbare Tatgeschehen sein, dann aber auf das Problem der Schutzfunktion von Strafnormen keine überzeugende Antwort hat, fehlt diese Schlüssigkeit oder mit anderen Worten die Kohärenz. Versteht man »Kohärenz« als einen »Begriff zur Bezeichnung des mehr oder weniger engen Zusammenhangs eines aus Teilen bestehenden Ganzen«, 410 würde einer so formulierten subjektiven Theorie mit der inneren Schlüssigkeit auch die Kohärenz fehlen. Ein Zusammenhang von Elementen, der keine Kohärenz aufweist, ist kein System, sondern allenfalls eine Zusammenstellung von Elementen. Entsprechend waren wir oben davon ausgegangen, dass die Einheit eines Systems und deren Systemeigenschaft entscheidend durch die Art, Kontinuität und Intensität der Relationen geprägt wird, die der Komplex von Elementen zueinander aufweist. Zusammenfassend kann man also sagen: Das System ist das Konstituens einer Theorie und einer dogmatischen Aussage und Kohärenz eine notwendige Eigenschaft von Systemen – eine Eigenschaft, die als »mehr oder weniger enger Zusammenhang« ein 410

EPhWTh (2. Aufl.), Bd. 4., Art. »kohärent, Kohärenz«, S. 250.

419 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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System dann allerdings auch unterschiedlich prägen wird. Darauf wird insbesondere zurückzukommen sein, wenn im 19. Kapitel der Systemcharakter des Rechts zu erörtern ist.

3.

Dogmatik

Setzt man nicht mit Larenz von vornherein Dogmatik mit der Rechtswissenschaft gleich, 411 gibt es auf die Frage »Was ist Rechtsdogmatik?« vielfältige, sich freilich meist überschneidende Antworten. 412 Im Anschluss an A. Voßkuhle halte ich mit R. Alexy folgende Begriffselemente für wesentlich: Es muss sich 1. um eine Klasse von Sätzen (Definitionen, Formulierungen von Grundsätzen etc. 413) handeln, die 2. auf gesatzte Norm(en) und Rechtsprechung bezogen, aber nicht mit deren Beschreibung identisch sind, 3. untereinander in einem Zusammenhang stehen, 4. innerhalb des Rechtssystems von Rechtswissenschaftlern, Richtern, Anwälten, Verwaltungsbeamten aufgestellt und diskutiert werden und in der Rechtanwendung sowohl 5. eine methodische Funktion als auch 6. normativen Gehalt haben. 414 Mit der Ziffer 3. – untereinander in einem Zusammenhang stehen – ist auf die Bedingung der Kohärenz verwiesen, die eine Dogmatik wie jede Theorie und jedes System erfüllen muss. Ziffer 4 ist die Umschreibung für eine »Interpretationsgemeinschaft«. Das Spezifikum der Dogmatik gegenüber einer »Theorie«, auf das wir im Folgenden näher eingehen müssen, liegt dann aber in ihrem »normativen Gehalt«, Ziffer 6. Erörterungsbedürftig ist auch die unter Ziffer 5. von mir in das zitierte Schema eingefügte methodische Funktion (siehe dazu IV.). Zuvor ist aber noch das Verhältnis der Dogmatik zum Gesetz genauer zu beleuchten.

K. Larenz 1991, S. 189. Einen guten Überblick über die in der Literatur vertretenen Ansichten gibt Ch. Waldhoff 2012, S. 21 ff. 413 Näher R. Alexy 1983, S. 315 ff. 414 A. Voßkuhle 2012b, S. 111 mit Verweis auf R. Alexy 1983, S. 314. Die Ziff. 5. wurde von mir ergänzend hinzugefügt. 411 412

420 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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a)

Dogmatik und »gesatzte Normen«

Es entspricht einer wohl vorherrschenden Sicht, die Rechtsdogmatik »auf einer mittleren Höhe zwischen Gesetz und Fall« anzusiedeln. 415 Das leuchtet für das Strafrecht schon aus Gründen des Art. 103 Abs. 2 GG ein und es kann im Hinblick auf den Vorrang des Gesetzes auch im Übrigen nicht zweifelhaft sein, dass Rechtsdogmatik nur »rechtslagenabhängig« 416 entwickelt werden kann. Sie ist deshalb aber nicht »stets rechtsnormakzessorisch«. 417 J. Esser hat zu Recht auf die »Rolle der Dogmatik als Transformator topischen Denkens in Systemgesichtspunkte« hingewiesen. 418 Und es gehört zur Eigenart der Rechtsdogmatik, dass sie gerade dort Regeln schafft, wo sich Fälle mit dem »gesatzten Recht« nicht lösen lassen. Die Dogmatik hat ihren Wirkungskreis auch keineswegs nur auf der Abstraktionsebene unterhalb der Gesetzgebung. Und das macht ihre weitere Eigenheit aus: Sie »überformt« auch das »gesatzte Recht.« – Aus der Vielzahl möglicher Beispiele seien einige als Belege für diese besonderen Funktionen herausgegriffen: • Die von Staub (1904) entwickelte Rechtsfigur der »positiven Vertragsverletzung«, 419 mit der verschiedene Lücken im Leistungsstörungsrecht des BGB von 1900 geschlossen wurden. Sie wurde wie selbstverständlich nicht anders als eine gesetzliche Regel gehandhabt, bis man durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz 2001 (SchRG) mit § 280 BGB eine gesetzliche Regel geschaffen hatte. • Der aus einzelnen Vorschriften des BGB (vor dem SchRG) und des HGB entnommene Rechtsgedanke, »dass ein in die Lebensbetätigung der Beteiligten stark eingreifendes Rechtsverhältnis vorzeitig gelöst werden kann, wenn ein wichtiger Grund vorliegt«. 420 Auch der damit entwickelte Grundsatz, dass ein Dauerschuldverhältnis aus wichtigem Grund auch dann gekündigt werden kann, wenn dies im Gesetz nicht vorgesehen ist, galt bis

415 416 417 418 419 420

W. Hassemer, ZRP 2007, 217. W. Hassemer, ZRP 2007, 217. Ch. Waldhoff 2012, S. 27 m. w. N. J. Esser 1979, S. 15. Dazu etwa K. Larenz 1991, S. 373 ff. BGHZ 157, 161 ff.

421 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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zu seiner Kodifikation durch § 314 BGB (SchRG) nicht anders als geltendes Recht. 421 Das aus § 1 Abs. 4 und 5 BBauG entwickelte »Abwägungsgebot«, mit dem als Rechtsfigur zwischen Ermessen, Beurteilungsspielraum und unbestimmtem Rechtsbegriff ein Schema für die Rechtskontrolle nicht nur der Bauleitplanung, sondern auch aller anderen vergleichbaren Planungsbereiche geschaffen wurde. 422 Das Allgemeine Verwaltungsrecht, das bis zum Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) am 1. 1. 1977 nur in der Form dogmatisch anerkannter Regeln galt. 423 Die Grundrechtsdogmatik. In der Form, in der sie durch das BVerfG seit dem Elfes- und dem Lüth-Urteil systematisiert und ausgeprägt wurde, hat sie inzwischen eine dogmatische Stabilität und Eigenständigkeit gewonnen, die ihre normative Funktion, die einzelnen Grundrechtsbestimmungen und ihre speziellen Regelungen zu Schranken und Gesetzesvorbehalt mit allgemeinen Kategorien und Interpretationsmustern zu überformen, besonders deutlich werden lässt.

Systematisiert man diese Beispiele und lässt dabei mögliche Zwischenstufen der Einfachheit halber beiseite, sind zwei Grundtypen dogmatischer Rechtsfiguren zu unterscheiden: zum einen dogmatische Sätze, die unmittelbar als normative Entscheidungsregeln eingesetzt werden können und eingesetzt werden müssen (Beispiele: Kündigungsrecht und positive Forderungsverletzung). Sie sind das Recht. Zum anderen die dogmatischen Sätze, die Kriterien und Strukturen für Inhaltsbestimmungen, Wertungen und Prüfungsschemata von Normen oder Komplexe von Normen festlegen. Sie bestimmen nicht, was im konkreten Fall als das Recht gilt, sondern, viel allgemeiner, das Muster, nach dem die konkrete Entscheidung zu erarbeiten ist. Es ist die dogmatische Konstruktion, in die sich die Falllösung einfügen muss. Aus systemtheoretischer Sicht hat Luhmann diese Funktion Dazu und auch zur kontrovers diskutierten dogmatischen Ableitung näher K. Larenz 1991, S. 384 ff. 422 Entwickelt wurde das Abwägungsgebot durch das BVerwG in den Entscheidungen von 1969, BVerwGE 34, 301 ff., und 1974, BVerwGE 45, 309–331. Näher dazu Kap. 26 IV. 2. b. 423 Zur Systematisierung am Beispiel des Allgemeinen Verwaltungsrechts und anderer »Allgemeinen Teile« anschaulich G. Haverkate 1996, S. 24 ff. 421

422 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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auf den Nenner gebracht, dass die Rechtsdogmatik »die Bedingung des juristisch Möglichen« definiert. Auf einen Gesetzgeber ist sie dabei, wie etwa das Beispiel des Allgemeinen Verwaltungsrechts zeigt, nicht angewiesen. Zutreffend fügt Luhmann deshalb an: »›Bedingungen des Möglichen‹ werden auf der jeweils höchsten Systemebene festgelegt. Die Rechtsdogmatik bildet demnach die höchste und abstrakteste Ebene möglicher Sinnbestimmung des Rechts im Rechtssystem selbst.« 424 b)

Dogma – Dogmatik und das Münchhausen-Trilemma

Mit »Dogmatik« assoziieren sich schnell »Dogma« und »dogmatisch«. Schnell wird Dogma dann im Sinne der Katholischen Kirche verstanden, als ein »Satz, der Gegenstand der fides divina et catholica ist, den also die Kirche ausdrücklich als von Gott offenbart so verkündigt, daß seine Leugnung als Häresie verworfen und mit Anathema belegt wird«. 425 Entsprechend lag die Annahme nahe, die Juristen hätten ihre Vorstellungen zur Dogmatik von den Theologen übernommen. Inzwischen ist jedoch nachgewiesen, dass diese Ableitung auf einem wissenschaftshistorischen Missverständnis beruht. 426 Übernommen wurde das Dogmatikkonzept vielmehr aus der medizinischen Wissenschaftstheorie Galens. Für Galen war »Dogma« ein aus der Erfahrung durch Verallgemeinerung gewonnener Allsatz mit Wahrscheinlichkeitscharakter. Es war sowohl durch (neue) Erfahrungen zu überprüfen als auch auf Prinzipien zurückzuführen, »was dann umgekehrt einen Beweis für Dogmen durch Ableitung aus diesen Grundannahmen ermöglicht(e)«. 427 Dogmatik schreibt also keine Wahrheiten fest. Aber sie stellt fest, von was auszugehen ist. In der Rechtsdogmatik ist so die gesamte Bandbreite des griechischen Verbums »dokein« mitgedacht: meinen, aber auch eine Meinung annehmen, dafür halten und beschließen. Nicht mitgedacht ist die »episteme«, die sichere Erkenntnis und das unbezweifelbare Wissen. – Was ist dann aber der entscheidende Punkt? N. Luhmann 1974, S. 19. Die Grundrechtsdogmatik gibt ein anschauliches Beispiel für diese These. 425 K. Rahner, zitiert nach HWPh Bd. 2, S. 276 – Art. »Dogma«. 426 Hierzu und zum Folgenden M. Herberger 1981 und Ders. in: HWPh Bd. 8, Art. »Rechtsdogmatik«, S. 266 ff. 427 M. Herberger 1981; HWPh Bd. 8, S. 267. 424

423 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

Man wird ihn in der Grundsituation sehen müssen, in die die Praxis Mediziner und Juristen alltäglich stellt: Sie müssen handeln und aufgrund eines Wissens entscheiden, von dem sie nicht sicher wissen können, dass es auch sicher ist. Sie müssen davon ausgehen können, dass … Für den Richter wird dies im Begründungsdilemma evident, er muss seine Entscheidung begründen, d. h. er muss den Grund angeben, warum er so und nicht anders, konkret, nicht zugunsten der unterlegenen Partei entschieden hat. Idealerweise ist dies ein Grund, der außer Streit steht und nicht mehr in Zweifel gezogen werden kann, jedenfalls nicht mit vernünftigen Gründen. Damit führt die Begründungspflicht den Richter aber unweigerlich in das Münchhausen-Trilemma. Von H. Albert, einem der Hauptvertreter des Kritischen Rationalismus, wurde es so benannt nach dem Lügenbaron von Münchhausen, dem gelang, was sonst nie gelingen will: sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Bezogen auf die richterliche Begründungspflicht, beschreibt es näher folgendes Problem: Der Richter muss für das Urteil einen Grund legen, muss aber auch für diesen Grund eine Begründung geben können. Er steht damit unausweichlich vor der Wahl zwischen 1. einem infiniten Regress; jeder Grund löst die Notwendigkeit aus, auch diesen zu begründen (eine Situation, die jeder erleben kann, dessen Kinder nach jeder Antwort erneut »Warum?« fragen); 2. einer Flucht in einen logischen Zirkel oder 3. der Option, das Verfahren des Begründens an einem bestimmten Punkt abzubrechen. 428 Dem Problem einer »willkürlichen Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung« 429 entgeht nur, wer in dieser Situation entweder auf Evidenzen oder auf unanzweifelbares Basiswissen zurückgreifen kann. In der Diskussion um dieses Dilemma spricht man hier auch von »Fundamentalismus«. Typische Beispiele sind die Dogmen der katholischen Kirche oder die Philosophie Descartes’, mit ihrem nicht bezweifelbaren Grund-Satz »cogito ergo sum«. Aber auch das Systemdenken der Begriffsjurisprudenz war in diesem Sinne »fundamentalistisch«; das axiomatische System gab eine sichere Basis für eine zureichende Begründung. Auf eine derart sichere Grundlage einer eindeutig »subsumier428 429

H. Albert 1980, S. 11 ff. H. Albert 1980, S. 13.

424 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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baren Welt« (so sie wirklich je geglaubt wurde) kann sich heute niemand mehr stützen. Gleichwohl bleiben Entscheidungs- und damit Begründungszwang bestehen. Die Gerechtigkeit wartet nicht und sie muss sich so mit einer »dynamischen Dogmatik« 430 begnügen: Nur wenn eine solche überhaupt vorhanden ist, kann der Richter seine Argumentation auf wenigstens temporär stabile und kohärente Grundlagen stützen, nämlich entweder (1.) auf Normen, für deren Interpretation, mit der sie angewendet werden sollen, eine gesicherte und stabile Anwendungsroutine besteht, oder (2.) auf Sätze, die im Entscheidungszeitpunkt einem allgemein oder jedenfalls überwiegend als »richtig« akzeptierten Meinungsstand entsprechen. Kohärenztheoretisch gesehen, wird an dieser Stelle die Notwendigkeit, sich auf »anerkannte Sätze« zu stützen, auch für die konkreten Entscheidungsbegründungen praktisch; bei dem Satzsystem, in das sich eine Aussage »einfügen« muss, muss es sich um »anerkannte Sätze« handeln (Kap. 8 IV. 2 ff.; VII.). Als allgemeine wissenschaftstheoretische These formuliert: »Jede Disziplin«, so der Wissenschaftstheoretiker H. Poser, »hat Grundaussagen, die vorderhand nicht mehr problematisiert werden«. Es bleiben zwar die Unsicherheiten von Akzeptanz und Konvention, diese »konventionelle Komponente« ist für jede Wissenschaft aber »von grundlegender, nicht eliminierbarer Bedeutung«. 431 c)

Zur Unterscheidung von Theorien und Dogmatik

Die »dogmatische Dichte« solcher Grundlagen ist allerdings unterschiedlich, was sowohl für die Frage ihres »normativen Gehaltes« als auch für die Konsequenzen von Bedeutung ist, die sich für die Methode ergeben. Wann eine solche Grundlage »dogmatisch« genannt werden kann, ist eine Frage der Zuschreibung. Verdeutlichen lässt sich das an der in der juristischen Argumentation eingespielten Unterscheidung von Dogma und Theorie. Nach der hier zugrunde gelegten Differenzierung unterscheiden sich beide Begriffe weder im Hinblick auf die notwendige Eigenschaft der Kohärenz noch der des Systematischen. Ihr Unterschied liegt nur in dem Grad ihrer Akzeptanz und somit auch ihrer Verbindlichkeit. Der Jurist trifft die Unterscheidung mit den bekannten Zusätzen: h. M., st.Rspr., inzwischen 430 431

Ch. Waldhoff 2012, S. 28. H. Poser 2001, S. 129.

425 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

gefestigte Rspr., str., unstr., verfehlt o. ä. Wenn es zu einer Rechtsfrage mehrere konkurrierende Theorien gibt, von denen sich, jedenfalls in der Rechtsprechungspraxis, keine durchgesetzt hat, dann fehlt ihnen genau die entscheidende Funktion von Dogmatik – nämlich die, eine Absicherung »gegen ein ständiges und schließlich grenzenloses rechtspolitisches ›Hinterfragen‹« zu sein; Dogmatik also verstanden »als Stoppregel für Begründung suchendes Räsonnieren«. 432 Dogmatischen Charakter bekommt eine Theorie also dann, wenn und soweit ihre Sätze akzeptiert sind und sich als h. M. durchgesetzt haben. Dass sie dann oft auch noch weiterhin »Theorien« genannt werden (wie etwa die Dreistufentheorie zu Art. 12 GG), tut dabei nichts zur Sache. Für eine Begründung ist sie der hinreichende Grund, den man nicht mehr weiter zu begründen braucht, während bei alternativen Theorien noch eine Begründung notwendig ist, warum man als Gericht dieser und nicht jener Meinung folgt. Nicht von ungefähr lesen sich insbesondere Übungsklausuren oft wie Parodien auf juristische Argumentationen: Subsumtionen werden mit den gelernten dogmatischen Begriffen oder über ebenso gelernte dogmatische Konstruktionen vorgenommen; »Probleme« werden zunächst über die einschlägigen Theorien beschrieben und sodann »gelöst«, indem sie mit ebenso einschlägigen Topoi bewertet werden. d)

Das Problem des Geltungsgrundes

»Rechtsdogmatiken haben normativen Gehalt« – R. Alexy stützt diese These auf ihre eben beschriebene Funktion in der gerichtlichen Argumentation. 433 Über ihren Rechtssatzcharakter ist damit unmittelbar aber noch nichts gesagt. Die Varianten, in denen Rechtsdogmatik auftritt, sind auch zu unterschiedlich, als dass man etwa die Gleichung aufstellen könnte: Dogmatik = normativer Gehalt = Richterrecht = Rechtssatz = Gesetz. Zunächst gilt es, sich einen wesentlichen äußerlich-formalen Unterschied in der Textgestalt von Gesetzesrecht einerseits und Richterrecht in Gestalt dogmatischer Sätze andererseits klarzumachen. Die Textgestalt eines gesetzlichen Normtextes wird im formalisierten Gesetzgebungsverfahren exakt fixiert (Art. 82 GG). DogN. Luhmann 1995, S. 387 im Anschluss an J. Esser, 1979; siehe auch Luhmann 1974, S. 15 ff. Siehe auch Esser 1972, S. 85 ff., 91 f. 433 R. Alexy 1983, S. 314. 432

426 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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matischen Sätzen und Sätzen des Richterrechts fehlt diese klare Textgestalt. Dogmatische Sätze sind meist Sätze, in denen man den oder die Grundgedanken eines Textzusammenhanges formuliert sieht und die als solche hervorgehoben werden. Auch ein Leitsatz ist kein amtlicher Text. Diesem äußerlich-formalen Unterschied entspricht ein prozedural-inhaltlicher. Rechtsdogmatik, so Voßkuhle, »verkoppelt die Rechtspraxis mit der Rechtswissenschaft«. 434 Aber die Gewichte in dieser Zusammenarbeit haben sich erheblich verschoben. Während die Ausbildung dogmatischer Sätze im 19. Jahrhundert die Domäne der (vornehmlich positivistischen) Rechtswissenschaft war, ist die Dominanz spätesten seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auf die Rechtsprechung übergegangen. Das hat Folgen: (1.) Ausgangspunkte für die Entwicklung dogmatischer Sätze sind nicht mehr entscheidend rechtswissenschaftlich begründete Positionen, sondern die höchstrichterliche Rechtsprechung. Diese produziert gleichsam »fortlaufend Dogmatik« und Dogmatisierung bildet so »geradezu den zentralen Arbeitsmodus«. 435 (2.) Entsprechend verschwimmen die Grenzen zwischen Dogmatik und Richterrecht, Rechtsdogmatik und Präjudizien. Es sind die Leitsätze, die zu dogmatischen Sätzen werden. (3.) Diese Dogmatik erblickt jedoch meist nicht als fertige Regel, in der alle wesentlichen Momente von Anfang an schon mitbedacht sind, oder gar als fertiger Regelungszusammenhang die Welt, sondern entsteht in einem Prozess. Manchmal wird sie mehr oder minder bewusst von Entscheidung zu Entscheidung entwickelt, oft entsteht sie erst von Fall zu Fall, im Wechsel zwischen Verallgemeinerung, Korrektur und Verfeinerung – tastend, »gleichsam experimentierend«. 436 (4.) Hat sich aber eine hinreichend bestimmte Regel herausgebildet und fügt sich diese Regel in den größeren dogmatischen Zusammenhang ein, 437 aus dem heraus sie entwickelt wurde, dann wächst ihr in dem Maße, in dem die höchstrichterliche Rechtsprechung verbindlich das geltende Recht bestimmt, auch »normativer Gehalt« zu. Typisch sind hier folgende Gruppen dogmatischer Sätze:

434 435 436 437

A. Voßkuhle 2012b, S. 113. M. Eifert 2012, S. 83; dort auch zum Folgenden. So K. Larenz 1991, S. 431. In diesem Sinne ist wohl auch R. Alexy 1983, S. 318, zu verstehen.

427 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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1. Dogmatische Sätze, die Rechtsbegriffe definieren und Auslegungen festlegen. Wenn der Gebrauch die Bedeutung von Worten bestimmt, entscheidet die Rechtsprechung darüber, was richtiger Gebrauch ist und welche Bedeutung dem Gesetzeswortlaut zukommt (Hypertext Recht). Anders als in der Konkretisierung durch die Rechtsprechung ist also Recht nicht zu haben. 2. Dogmatische Sätze, die Normen formulieren, die dem Gesetz nicht zu entnehmen sind. 438 Ihren »normativen Gehalt« können sie also nicht aus dem Gesetz selbst beziehen. Meist sind solche Sätze zwar aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder verfassungsrechtlichen Vorgaben abgeleitet, aber soweit sie aus diesen nicht zwingend folgen, vermitteln diese Grundsätze der konkreten Regel allein noch keine normative Geltung. Die Ableitung muss als konkrete Regel auch als ständige Rechtsprechung akzeptiert sein. 3. Formulierungen von Prinzipien 439 und Vorgaben über den Umgang mit ihnen. Hier geht es um Regeln, mit denen der Vorrang und/oder das Verfahren sowie Vorgaben für die Abwägung von Prinzipien, Rechtsgrundsätzen und Wertungen erfasst werden und handhabbar gemacht werden sollen. Beispiele sind die Abwägungsregeln zu Art. 5 GG, die Dreistufentheorie zu Art. 12 GG, das Abwägungsgebot im Planungsrecht, aber auch etwa die Regeln zur notwendigen »Gesamtwürdigung«. Fragt man nach dem normativen Gehalt, so gilt auch hier: Die Regel muss als ständige Rechtsprechung akzeptiert sein. e)

Zur Rechtssatzqualität des Richterrechts (II)

Die Rechtssatzqualität von dogmatischen Sätzen 440, von Sätzen des Richterrechts ist heute immer noch umstritten. Einleuchtend ist das nur, solange man von der Gleichung Rechtssatz = Qualität einer gesetzlichen Norm ausgeht. Dass hier zu unterscheiden ist, ist aber bereits durch die Differenzierungen von »Gesetz« und »Recht« in Art. 20 Abs. 3; 97 Abs. 1; 103 Abs. 2 GG vorgegeben. Dass dem Richterrecht die Qualität einer besonderen Rechtsquelle zukommt, 441 Auch hierzu siehe R. Alexy 1983, S. 317 ff. R. Alexy 1983, S. 319. 440 Zum Aspekt »Richterrecht und Regelbindung« – Richterrecht I – siehe Kap. 16 III.; zur verfassungsrechtlichen Problematik – Richterrecht III – Kap. 20 II. 3. b. 441 Mit seiner pragmatischen Begründung immer noch überzeugend O. A. Germann 1967, S. 269 ff. 438 439

428 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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kann m. E. nur noch um den Preis eines dann in sich widersprüchlichen Rechts in Zweifel gezogen werden. Allein im Rahmen der althergebrachten Alternative: entweder Gewohnheitsrecht oder bloßer »Gerichtsgebrauch« 442 lassen sich die Wirkungsweisen des Richterrechts jedenfalls nicht erklären. In der Konsequenz wären etwa die Regeln des allgemeinen Verwaltungsrechts bis 1977 Regeln ohne Geltungskraft gewesen; die Verwaltung hätte sie ohne »Rechts«-Verstoß jederzeit auch missachten dürfen. Man kann dieses Beispiel um Beispiele aus anderen Rechtsbereichen, die weitgehend durch die Rechtsprechung geprägt sind, nahezu beliebig vermehren. Ist also grundsätzlich von einer Rechtssatzqualität des Richterrechts auszugehen, so setzt doch nicht jedes Urteil, auch nicht jedes höchstrichterliche Urteil, über den Fall hinaus verbindliches Recht; es hat auch nicht die gleiche Verbindlichkeit wie eine Gesetzesnorm. Bereits unter d) wurde auf das »Bestimmtheitsproblem« hingewiesen, das sich beim Richterrecht im Gegensatz zum Gesetzesrecht stellt und das zu der Bedingung führte: Die Regel muss als ständige Rechtsprechung akzeptiert sein. Das Problem wird plastisch in der Praxis der Nichtanwendungserlasse, 443 mit denen die Finanzverwaltung angewiesen wird, eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs über den entschiedenen Fall hinaus nicht anzuwenden. Zulässig kann ein solcher Nichtanwendungserlass aber nur mit dem Hinweis sein, es handele sich um eine Einzelfallentscheidung. Bestätigt der BFH in solchen Fällen dann aber seine Rechtsprechung – mit Formulierungen wie: nach »mittlerweile ständiger Rechtsprechung« 444 oder mit dem Leitsatz: »Es ist geklärt, dass … (gegen BMF-Schreiben – Nichtanwendungserlass – vom …)« 445 –, entspricht es der Praxis 446 und dem »normativen Gehalt« ständiger Rechtsprechung, einen Nichtanwendungserlass auch aufzuheben. Das ist dann nicht nur eine Frage des Stils oder des Respekts vor der Dritten Gewalt, sondern eine Konsequenz aus der Rechtsbindung der Verwaltung. Siehe auch dazu O. A. Germann 1967, S. 268 ff. Zur Praxis siehe BT-Drs. 15/4614. 444 BFH, Urteil vom 26. Juli 2012 – VI R 30/09 –, BStBl II 2013, 400 Fußnote des BMF zum Leitsatz: Hinweis auf BMF-Schreiben vom 16. Mai 2013 – IV C 5 – S 2334/07/ 0011 -/- 2013/0356883 –, BFHE 238, 371. 445 So BFH, Beschluss vom 18. März 2010 – IX B 227/09 –, BFHE 229, 177, BStBl II 2010, 627. 446 Als Beispiel etwa Bundesministerium der Finanzen, 16. 05. 2013, IV C 5-S 2334/ 07/0011, FMNR245000013 – BStBl I 2013, 729. 442 443

429 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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Dafür, dass es sich bei dem »Richterrecht« nur um eine faktische Bindungswirkung handelt, wird häufig darauf verwiesen, dass der Richter an dieses Recht ja selbst nicht gebunden ist. 447 Ein zwingendes Argument ist dies aber keineswegs. Es ist allein das Recht, das entscheidet, wer wie gebunden ist: Wenn es gemäß der »kontinentalen Rechtstradition […] – solange nicht eine ausdrückliche Regelung wie § 31 BVerfGG etwas anderes anordnet – innerhalb der Willkürgrenzen jedem Gericht jederzeit frei[steht], eine Vorschrift anders auszulegen, als andere Gerichte dies zuvor getan haben«, 448 und Gerichte also auch von einer gefestigten Rechtsprechung abweichen können, dann heißt das nicht, dass eine solche Rechtsprechung auch für alle anderen keine Verbindlichkeit haben kann. Es entspricht vielmehr einem allgemeinen Grundsatz: Jeder, der eine Norm setzen kann, hat in der Regel auch die Befugnis, sie in einem nämlichen Verfahren wieder abzuändern oder aufzuheben. 449 Im Übrigen ist hier nicht nur die Willkürgrenze die Grenze verfassungsrechtlicher Kontrollbefugnis. Das Willkürverbot steckt nicht allein den Bereich ab, in dem der Richter sonst frei mit »Präjudizien« umgehen könnte. So kann der Senat eines obersten Bundesgerichts zwar von seiner eigenen Rechtsprechung abweichen, will er aber von der Rechtsauffassung eines anderen Senats oder eines anderen Bundesgerichts abweichen, muss der Große Senat bzw. der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe (Art. 95 Abs. 3 GG) angerufen werden. Im Interesse der Wahrung der Einheit der Rechtsprechung (Kap. 6 II.) – oder wie es der frühere Art. 95 Abs. 1 GG formulierte: »Zur Wahrung der Einheit des Bundesrechts« und damit ausdrücklich auf die Einheit des Rechts abstellte – steht es also keineswegs »jedem Gericht jederzeit frei, eine Vorschrift anders auszulegen, als andere Gerichte dies zuvor getan haben.« Diese Freiheit gilt nur für Gerichte, für die auch vergleichbare Vorlagepflichten nicht bestehen. Hier ergeben sich Einschränkungen jedoch daraus, dass Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit eine spezifische methodische Begrenzung des freien Umgangs mit Präjudizien fordern. Die methodische Bedeutung erschöpft sich aber nicht in dieser Begrenzung.

Vgl. etwa W. Hassemer 2004, S. 263 f. BVerfGE 128, 326–409 mit Hinweis auf BVerfGE 78, 123 h126i; 84, 212 h227i; 87, 273 h278i; zur Lit.: Müller/Christensen 2004, Rn. 539 f.; Alexy 1983, S. 334; Röhl/ Röhl 2008, S. 565 ff. und G. Ress 2009, S. 289, 292 f. 449 Vgl. oben Kap. 16 IV. 1. 447 448

430 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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IV. Rechtsdogmatik und Methode Die Stabilisierungsfunktion, die sich ergibt, sobald Normen, Rechtsbegriffe und dogmatische Sätze in einen systematischen Zusammenhang gestellt sind, ist unter dem Gesichtspunkt der Bindung des Richters an Gesetz und Recht die wesentliche Funktion juristischer Systeme. Sprache und System sind Determinanten der Rechtserkenntnis. Sie verzahnen und vernetzen sich und dem Rechtssystem gelingt es so, im Fließgeschehen semantischer Kämpfe um den »richtigen« Wortgebrauch und des Meinungsstreites um Rechtsansichten stabile Relationen, »Gebrauchsregeln« und Positionen oder doch jedenfalls stabilisierende Strukturen zu schaffen. Daraus resultieren dann aber nicht nur die Bindungsfunktion von Dogmatik und dem »Hypertext Recht«, sondern auch deren besondere methodische Bedeutung. Rechtsdogmatik und Methode sind die konstitutiven Arbeitsmodi unseres Rechtssystems. 450 Dieser Zusammenhang wird zwar nicht bestritten und es besteht auch Übereinstimmung, dass Rechtsdogmatik rechtsmethodisch entwickelt werden muss. Die Methodenlehre selbst hat das »Rückkoppelungsgebot«, das auch für sie hinsichtlich der Dogmatik besteht, jedoch meist nur unzureichend gewürdigt. 451 Konzentriert auf die Gesetzesauslegung, hat die Dogmatik im Prüfungsschema der Auslegungsregeln keinen eigenständigen Ort. Der methodischen Funktion der Dogmatik kann die Methodik jedoch nur gerecht werden, wenn sie ihr einen solchen eigenen Ort einräumt und sich von der herkömmlichen Vorstellung verabschiedet, auch die Rechtsermittlung über dogmatische Figuren sei nichts anderes als Auslegung. Um es wiederum am Beispiel der Grundrechtsanwendung zu verdeutlichen: Heute eine Grundrechtsinterpretation auf dem gleichen Wege vorzunehmen, auf dem man auch die Interpretation eines neuen Gesetzes angehen würde – nämlich über das Durchdeklinieren der Auslegungsregeln –, wäre im Standardfall nichts anderes als unprofessionell. Standardfall meint hier die Situation, dass die bisherige Interpretation – oder allgemei-

Zu diesem Zusammenhang vgl. auch Ch. Waldhoff 2012, S. 19 ff. So sucht man etwa im Register der Juristischen Methodenlehre von Zippelius vergeblich das Stichwort »Dogmatik«. Expressis verbis thematisiert wird sie von Hassemer 2004, S. 364.

450 451

431 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

ner: dogmatische Sätze – nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden sollen (dazu 2.).

1.

»Stoppregel« – kein »Negationsverbot«

Luhmann hatte dogmatische Sätze im Anschluss an J. Esser als »Stoppregeln« charakterisiert. Methodisch bedeutet dies, wie gezeigt, dass diese Sätze für den Richter eine ausreichende Begründunggrundlage darstellen. Der Strafrichter etwa kann auf den dogmatisierten Begriff der Wegnahme zurückgreifen und muss dazu keine Auslegungsregeln mehr bemühen. Methodische Vorgaben ergeben sich aber nicht nur aus mehr oder minder stabilen Wortverwendungsregeln, sondern aus der Dogmatik allgemein; Dogmatik verstanden als Organisation eines Zusammenhanges gesetzlicher, dogmatischer und richterrechtlicher Regeln – oft mit Fallbezügen, aus denen sich Einordnungskriterien oder Wertungsvorgaben ergeben –, durch die ein Rechtsstoff verwendungsfähig aufbereitet wird. 452 Diese zentrale Funktion der Dogmatik, Handreichungen für die Praxis zu liefern, erfüllt sie, so Voßkuhle in einem Leitsatz, »indem sie aus überzeugenden Problemlösungen wiederholt handhabbare Begriffe, Institute und Regeln erzeugt und über möglichst stabile Auslegungsroutinen gegen grenzenloses Hinterfragen absichert«. 453 Kennzeichnend für die Dogmatik ist so ihre Entlastungsfunktion, die ihr hinsichtlich der richterlichen Begründungspflicht zukommt. Dagegen hat sie im Gegensatz zu einem wohl noch 1974 »gewohnten Verständnis« nicht die Funktion eines »Negationsverbotes«. 454 Der Richter muss einen dogmatischen Satz, so er keine besondere normative Qualität hat, wie etwa durch § 31 BVerfGG, nicht zum Ausgangs- und Endpunkt seiner Argumentationskette machen. Ein Dogma repräsentiert nur einen temporär kohärenten und akzeptierten Meinungsstand.

452 453 454

Im Anschluss an N. Luhmann 1974, S. 16, 18. A. Voßkuhle 2012b, S. 112. N. Luhmann 1974, S. 15.

432 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

18 · Recht – System – Kohärenz

2.

Das »Berücksichtigungsgebot« und seine methodischen Regeln

Wenn es auch kein »Negationsverbot« gibt, so gilt für Präjudizien und dogmatische Sätze doch ein methodisches Berücksichtigungsgebot. 455 Ein Gericht muss seiner Rechtsfindung nicht das Richterrecht und die Dogmatik zugrunde legen, die es vorfindet. Es darf diese aber auch nicht aus Ignoranz, Desinteresse oder richterlicher Omnipotenz unberücksichtigt lassen. Grundlage für dieses »Ignorierungsverbot« sind je nach Ableitungszusammenhängen, aus denen die jeweiligen dogmatischen Sätze entwickelt wurden: Art. 20 Abs. 3 GG, Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit sowie, ganz allgemein, die Regelbindung. Methodisch führt dieses Ignorierungsverbot zu folgenden Regeln: 1. Ihres normativen Gehaltes wegen muss der Richter die dogmatischen Vorgaben als wesentliche Elemente im Prozess der Rechtserkenntnis berücksichtigen. 2. Akzeptiert er die dogmatischen Vorgaben, müssen sich seine Entscheidung und Begründung stimmig in die dogmatische Struktur einfügen lassen, wenn sie »richtig« sein sollen. 3. Akzeptiert er die dogmatischen Vorgaben (Sätze, Konstruktionen oder Präjudizien) nicht, kann er sie insgesamt oder, soweit sie im Übrigen dann noch Bestand haben können, auch in Teilen unberücksichtigt lassen. Er muss dies aber mit Gründen tun. 4. Diese Gründe dürfen sich nicht darauf beschränken, darzutun, warum man im vorliegenden Fall der Dogmatik nicht folgt. Der Grund muss entweder verallgemeinerungsfähig sein (5.) oder eine Ausnahmeregel formulieren, die sich im Übrigen in die dogmatische Systematik einfügt. 5. Wird durch die eigene Auffassung der dogmatische Satz oder ein Komplex solcher Sätze insgesamt in Frage gestellt, muss der Richter auf die Anwendungs-, Interpretations- oder auch juristischen Konstruktionsprobleme, auf die die nicht akzeptierte Dogmatik eine Antwort gegeben hat, mit einer eigenen Lösung dieser Probleme antworten können. Die Regeln dieser Lösung müssen sich wiederum in den größeren dogmatischen Zusammenhang einfügen, aus dem heraus sie seinerseits entwickelt wurden und in den sie andererseits als »neue Dogmatik« implementiert werden sollen. 455

Siehe auch Kap. 20 II. 3. b.

433 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

Mit diesen Grundsätzen sind nicht nur die Regeln bestimmt, wie mit dogmatischen Sätzen umzugehen ist. Wie sich im Schlusskapitel 26 zeigen wird, haben wir es vielmehr in der Struktur mit den gleichen Regeln zu tun, die der Richter beachten muss, wenn es insgesamt darum geht, eine Falllösung kohärent in »das Recht« einzufügen. Es sind die Operationen, die methodisch notwendig sind, wenn Methode als Herstellung von Kohärenz gehandhabt wird. Zunächst ist im nächsten Kapitel jedoch die Frage zu klären, ob und inwieweit der »Hypertext Recht« und die dogmatischen Satzsysteme und Rechtsfiguren die Normtexte, die die Rechtsordnung bilden, überhaupt zu einem »System« zu strukturieren vermögen, oder genauer: Ist »das« Recht insgesamt so strukturiert, dass es auch als »Rechtsordnung« noch als kohärentes System gedacht werden kann?

434 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Kapitel 19 Kohärenz und die Einheit der Rechtsordnung

In einer Vielheit eine Einheit zu erkennen, ist der entscheidende Impetus des Systemdenkens und damit auch aller Versuche, das Recht als »Rechtssystem« zu denken. Man will Unübersichtliches ordnen. Etwas, was unübersichtlich ist, lässt sich nicht verstehen und nicht beherrschen. Hier »Ordnung zu schaffen«, darin liegt der epistemologische, aber auch der unverkennbar ästhetische Reiz des Systemdenkens. Diese beiden Momente schwingen mehr oder minder stark auch in der theoretischen Diskussion um die »Einheit der Rechtsordnung« mit. 456 Seine Hauptrolle spielt dieser Topos jedoch auf der praktischen Ebene der Rechtsanwendung, d. h. als juristische Argumentationsfigur, wenn es um die Regeln geht, wie in konkreten Fallkonstellationen mit Norm- oder Wertungswidersprüchen umzugehen ist (II.). Vorgreiflich ist jedoch auf der theoretischen Ebene die Frage nach dem Systemcharakter der Rechtsordnung 457 (I.), d. h. die Frage, ob und inwieweit der Rechtsordnung auch jenseits historischer Paradigmen und unter kohärenztheoretischen Aspekten noch ein Systemcharakter zugesprochen werden kann und welche Rolle diesen Denkfiguren – der Einheit der Rechtsordnung und »dem« Rechtssystem – dann bei der Herstellung von Kohärenz zukommt.

I.

Zum Systemcharakter des Rechts

Es ist üblich, von »dem« Rechtssystem zu sprechen, etwa in der Systemtheorie, wenn es darum geht, das Rechtssystem von anderen geKlassisch die Schrift K. Engisch 1935/1987. Grundlegend und zu den Nachweisen siehe D. Felix 1998, S. 5 ff.; dort auch zu dem Aspekt der Ästhetik, S. 11, 399. 457 Zur theoriehistorischen Seite siehe insbes. M. Baldus 1995; dort, S. 132 ff., 181 ff., 196 ff., auch zur Diskussion um die Einheit der Rechtsordnung aus der Perspektive der Reinen Rechtslehre Kelsens, die hier nicht aufgenommen werden kann. 456

435 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

sellschaftlichen Systemen zu unterscheiden. Doch gibt es selbst bei einem so verstandenen Systembegriff, wie wir gesehen haben, Phänomene, die auch anderen Systemen zugeordnet werden können (so wie Gesetz und Gesetzgebung auch dem politischen System) und sich jedenfalls nicht problemlos und ohne gewisse Unverträglichkeiten in das System einfügen (Kap. 16 IV.). Eine noch grundsätzlichere Veränderung in der Betrachtung ergibt sich aber spätestens dann, wenn das Rechtssystem nicht mehr von außen – aus einem nichtjuristischen Blickwinkel – betrachtet wird, sondern der Betrachter selbst Teil des Systems ist oder anders ausgedrückt, wenn die Interpretationsgemeinschaft der Juristen über ein System reflektiert, das sie in einer solchen Reflexion auch fortlaufend selbst konstituieren. Wer immer als Jurist ermittelt, was Recht ist, arbeitet mit einer Binnenperspektive im Recht. Das hindert jedoch nicht, die theoretische Position eines Betrachters einzunehmen, der das Recht von außen betrachtet. Aus diesem Blickwinkel ist es nicht mehr wesentlich, was das Recht von anderen Systemen unterscheidet, sondern ob es überhaupt Gesetzmäßigkeiten, Relationen oder Strukturen aufweist, die eine Systemeigenschaft begründen können. Der Positivismus sah »das« Rechtssystem noch, ohne damit grundsätzliche Probleme zu haben, als eine Einheit an; diese Einheit war die Prämisse. Doch C. F. v. Gerbers Hoffnung, man könne ein wissenschaftliches System aufstellen, »in welchem sich die einzelnen Gestaltungen als die Entwickelung eines einheitlichen Grundgedankens darstellen«, ein System, mit dem dann auch »die Grundlage sicherer juristischer Deduction gegeben« sei, hat sich nicht erfüllen können. Es gibt kein wissenschaftliches System, das eine eindeutige Systemstruktur des Rechts begründen könnte. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass es nicht stattdessen gleichwohl Zusammenhänge und Verknüpfungen in dem Gefüge aus Normtexten und Auslegungspraxis gibt, die es erlauben, diesem Gefüge insgesamt eine Kohärenz zuzuschreiben.

1.

Das Rechtssystem – ein kohärentes System?

In einem ersten Schritt ist nach den Bedingungen zu fragen, die das Rechtssystem erfüllen müsste, um es als kohärentes System ansprechen zu können. Wie in Kapitel 8 dargelegt, sind es drei Elemente, die die Kohärenz ausmachen, also als Bedingungen gegeben sein müssen: 436 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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Widerspruchsfreiheit, Umfassendheit und Stimmigkeit. Das bedeutet, dass zwischen den Elementen nicht nur keine Widersprüche auftreten dürfen, sondern darüber hinaus zwischen den Elementen Ableitungszusammenhänge bestehen (Stimmigkeit) oder jedenfalls hergestellt werden können. Das System selbst muss schließlich die Bedingung erfüllen, umfassend zu sein. D. h., das Rechtssystem müsste entweder ein geschlossenes System sein – was es sicherlich nicht ist – oder die Steuerungen und Einflussnahmen von außen dürften im System selbst jedenfalls zu keinen unauflösbaren Widersprüchen führen. Stellt man diesen Bedingungen in einem zweiten Schritt auch nur einige Befunde gegenüber, zeigen sich sehr schnell die Schwierigkeiten, der Gesamtrechtsordnung zu attestieren, dass sie diese Voraussetzungen erfüllt. Man braucht nur einen Blick auf einige typische Rechtsfiguren und Regelungszusammenhänge zu werfen: die Regeln zur Berechnung des nachehelichen Unterhalts etwa, die Bestimmung des Drittschutzes bei einem Bauvorhaben im unbeplanten Innenbereich und demgegenüber das private Nachbarrecht, 458 die Haftungsregeln bei privaten WLAN-Netzen, die Durchgriffshaftung bei der GmbH oder die Parteifähigkeit des nicht rechtsfähigen Vereins und der GbR. 459 Gemeinsame, verbindende Prinzipien wird man in den Beispielen und ihren jeweiligen, oft umstrittenen, Lösungsansätzen kaum ausmachen können. Und soweit es sich demgegenüber um dogmatische, also nicht mehr umstrittene Satzsysteme handelt, wird diesen dann zwar ein mehr oder minder großes Maß an Stimmigkeit, also Kohärenz, nicht abzusprechen sein. Es bleibt aber die Frage, ob sich diese partiellen dogmatischen Strukturen zu einer in sich stimmigen Gesamtstruktur, d. h. zu einem kohärenten System verknüpfen. a)

Das »grundrechtliche Wertsystem« als Matrix?

In dem Maße, in dem sich Dogmatik und Begriffssystematik als ungeeignet erwiesen, die Rechtsordnung als System zu konstituieren, lag es nahe, die Idee einer »Wertordnung« und das »grundrechtliche Wertsystem« als systemkonstituierende Matrix zu nutzen. 460 Spricht Näher dazu D. Felix 1998, S. 85 ff. Zu dieser Problematik etwa A. Bruns 2014, JZ 168 f. 460 Vgl. etwa K. Larenz 1991, S. 328; C.-W. Canaris 1969, S. 40 ff.; Rüthers/Fischer/ Birk 2015, Rn. 752 ff. 458 459

437 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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man von einer »Wertordnung« des Grundgesetzes oder, noch deutlicher, von dem »grundrechtlichen Wertsystem«, wie es das BVerfG anfänglich ausgiebig tat, suggerierte das eine hierarchisch strukturierte Ordnung der Werte. Wie eine Begriffspyramide eignet sich auch eine hierarchische Wertordnung ideal als theoretische Vorgabe für eine Systemkonzeption. Es zeigte sich jedoch sehr schnell und wurde bereits im Kapitel 18 dargelegt, dass diese Vorstellung nicht gemeint sein kann. Eine Grundrechtsinterpretation, die mit der Matrix einer »Wertepyramide« arbeitet, würde ein System schaffen, das mit Grundtatbeständen einer pluralistischen Gesellschaft im Prinzip unverträglich wäre. – Gleichwohl hat die Werterechtsprechung des BVerfG die Gesamtrechtsordnung grundlegend verändert. Auch hier formulierte das Lüth-Urteil programmatisch die Vorgaben: »Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse.« 461 b)

Die Systemstruktur und die Unverträglichkeit der Werte

Anders als ein Rechtssystem, das von einer Begriffshierarchie oder einer Wertehierarchie aus gedacht wird und damit auch die Relationen der Systemelemente (dogmatische Sätze, Rechtsbereiche) untereinander hierarchisch strukturiert, führt die Interpretation der Grundrechte als »wertentscheidende Grundsatznorm(en)« 462 zu einer grundsätzlich anderen Systemstruktur. Das System verliert mit seinem statischen Charakter an Stabilität und Kohärenz und demzufolge auch an rechtsstaatlicher Berechenbarkeit. Das Rechtssystem wird zu einem dynamischen Gefüge und zugleich wächst, wie die Entwicklung der letzten 50 Jahre gezeigt hat, seine Anpassungsfähigkeit. In Kapitel 18 sind im Abschnitt II. über die »Elemente des juristischen Systemdenkens« die Unterschiede in Strukturen und Funktionen von Rechtsbegriffen einerseits und Prinzipien und Werten

BVerfGE 7, 198 (205). Zu diesem Stichwort weist juris für die Zeit zwischen 1957 und Dez. 2014 durch das BVerfG 83 Judikate aus.

461 462

438 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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andererseits bereits grundsätzlich erörtert worden: Rechtsbegriffe werden definiert; sie sind handhabbar, weil sie in ihrer Bedeutung eingrenzbar sind und man sie (möglichst genau) von anderen abgrenzen kann. Prinzipien und Werte sind dagegen wesensmäßig »unersättlich«. 463 Für ihren Bereich stellen sie den Anspruch auf maximale Durchsetzung. Das führt zwangsläufig zu Konflikten mit konkurrierenden Werten und Prinzipien, die für den eigenen Geltungsbereich ebenfalls optimale Geltung beanspruchen. Dann stehen etwa die Kunstfreiheit gegen das Persönlichkeitsrecht, die Privatautonomie gegen den Schutz von wirtschaftlich Schwächeren und öffentlichen Interessen an diesem Schutz, Rechtssicherheit gegen materielle Gerechtigkeit usw. Der übliche Weg, auf dem der Gesetzgeber diese Konflikte löst, besteht darin, allgemeine Regeln zu formulieren, nach denen der Richter im konkreten Streitfall zu entscheiden hat. Das Mietrecht für Wohnraum, das Kündigungsschutzrecht für Arbeitnehmer, das öffentliche Baurecht oder das Unterhaltsrecht sind typische Beispiele für solche gesetzgeberischen Wertungsentscheidungen in der Form genereller, subsumtionsfähiger Normsetzungen. Vielfach kann der Gesetzgeber solche allgemeinen Regeln aber gar nicht vorgeben. Die Abwägung muss im Einzelfall erfolgen (Beispiel: Kunstfreiheit vs. Persönlichkeitsrecht). Oder die in der allgemeinen Regel getroffene Abwägungsentscheidung wird im Einzelfall nochmals einer Abwägung unterzogen. Den rechtstechnischen Mechanismus, nach dem die Rechtsordnung durch das »Wertesystem des Grundgesetzes« 464 zu strukturieren ist, hat das BVerfG im Lüth-Urteil vorgegeben: »keine bürgerlich-rechtliche (sc. oder sonstige) Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.« 465 Aus dieser Maxime, dass jede Vorschrift der Rechtsordnung im Lichte der jeweils einschlägigen Grundrechte ausgelegt werden muss, folgt dann auch, dass eine Werteabwägung nicht nur bei der Normsetzung durch den Gesetzgeber erfolgt, sondern auch bei der Normanwendung vorzunehmen ist. Diese Ausrichtung der Rechtsetzung und der Rechtsanwendung an Prinzipien und Werten macht den Abwägungsmechanismus zu U. Neumann 2008, S. 144 ff. BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 – 2 BvR 1436/02 –, BVerfGE 108, 282– 340 – juris Rn. 124. 465 BVerfGE 7, 198 (205). 463 464

439 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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dem zentralen Strukturmechanismus der Rechtsordnung. 466 Das bedeutet für die Teilbereiche der Rechtsordnung, die einzelnen Rechtsmaterien: Da Abwägungen in der Regel nur partiell und situativ sind, zielen sie schon ihrer Natur nach nicht auf gemeinsame inhaltliche Strukturen. Die Abwägungsentscheidungen müssen für den konkreten Regelungsbereich oder gar nur für die konkrete Entscheidungssituation ein hinreichend kohärentes Muster ergeben; ob dieses Muster auf andere Bereiche der Rechtsordnung übertragbar ist, muss sogar grundsätzlich ausgeklammert bleiben. Anders ist Kohärenz nicht herstellbar. – Greifen wir wiederum auf die Grundbedingungen von Kohärenz zurück – auf Umfassendheit, Widerspruchsfreiheit und Stimmigkeit – dann kann jedenfalls ein hoher Grad an Kohärenz nur für partielle Satzsysteme und für diese meist auch nur temporär erreicht werden. Der graduelle Charakter der Kohärenz (Kap. 8 VII. 2.) wird mit anderen Worten gerade im gegebenen Zusammenhang besonders deutlich. Um nicht mit der »Unersättlichkeit« jeweils einschlägiger Werte in jeweils unlösbare Widersprüche zu geraten, muss die Relevanz der in Betracht kommenden Grundrechte für die einzelnen konkreten Rechtsbereiche unterschiedlich bestimmt werden. So kann die – nach dem Wortlaut ja unbeschränkbare – Kunstfreiheit den schlichten Beschränkungen des Baurechts nicht entgegengehalten werden 467; sie legitimiert auch keine eigenmächtige Inanspruchnahme fremden Eigentums 468. Die Meinungsfreiheit kann dagegen Boykottaufrufe legitimieren. Im Arbeitsrecht führt die Menschenwürde zwar zum Verbot von Peep-Shows 469; für die Frage der arbeitsrechtlichen Zulässigkeit von Kündigungen bleibt der Aspekt, dass eine Kündigung den Betroffenen auch jenseits materieller Absicherungen zutiefst existenziell treffen kann, aber außen vor. 470 Die Wertungsmuster selbst sind Bezogen ist diese Feststellung auf die grundgesetzliche Perspektive. Sie gilt nicht anders auch für die Prinzipien und Werte, mit denen das EU-Recht und der EuGH arbeiten. Auf die Widersprüche, die sich daraus für das Mehrebenensystem ergeben, siehe unten d) u. II. 467 Pernice, in: Dreier, Art. 5 Abs. 3 Rn. 40 (2. Aufl. 2004). 468 Vgl. BVerwG, NJW 1995, 2648–2650; Stark, in: von Mangoldt/Klein/Ders. GG I, Art. 5 Abs. 3 Rn. 341, 348 ff.(6. Aufl. 2010). 469 BVerwGE 64, 274–280. 470 Vgl. BVerfGE 85, 360–385 – juris Rn. 76: »Die Beschwerdeführer werden durch die angegriffene Regelung auch nicht in ihrer Menschenwürde verletzt. Ihr wirtschaftliches Existenzminimum ist nicht bedroht.« (Auflösung der Akademie der Wissenschaften der DDR). – Anders hat dies früher das BAG gesehen, vgl. etwa BAGE 48, 466

440 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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auch nur temporär stabil. Sie können sich mit jeder Novellierung eines Gesetzes situativ verschieben oder aufgrund veränderter Wertungsperspektiven auch durch ein grundsätzlich anderes Muster ersetzt werden. So hat die Rechtsprechung des BVerfG in zahlreichen Fällen bisher insgesamt stabile dogmatische Subsysteme »umgebaut«. Beispiele sind etwa die Entscheidungen zum Mietrecht, mit denen dem Mieter nicht nur ein aus der Sozialbindung des Eigentums folgender Schutz gewährt wurde, sondern ein eigenständiger Grundrechtsschutz aus Art. 14 Abs. 1 GG. 471 Hierzu zählen auch die Bereiche, in denen das Gericht die Vertragsfreiheit durch Vorgaben für eine Inhaltskontrolle einschränkt und so neue Muster zur Herstellung von Konkordanz zwischen unterschiedlichen Interessen generierte. 472 c)

Die »wertgebundene Ordnung« und die Kohärenz des Rechtssystems

Auch die Grundrechte sind zunächst als partielle Gewährleistungen entstanden, aus unterschiedlichen historischen Wurzeln, oft mit spezifischen politischen Zielrichtungen und eigenständigen Wertungsmustern. Sie bilden zwar kein axiomatisch-deduktives System, wohl aber ein systemisches Gefüge mit mehr oder minder ausgeprägten kohärenten Strukturen. Gebildet werden sie aus den grundrechtstheoretischen Positionen, die das BVerfG spätestens seit dem Lüth-Urteil seinen Entscheidungen zugrunde legt, vor allem aber über das selbstreferentielle Geflecht von Präjudizien und Detailentscheidungen, mit dem das Gericht seine eigene Rechtsprechungspraxis kohärent zu halten sucht. Mit jeder Entscheidung, die auf an122–129 oder BAGE 2, 221 – juris Rn. 5: »Die Achtung und Anerkennung des Arbeitnehmers als Mensch beruht auch nicht nur auf dem wirtschaftlichen Wert seiner Leistung (die Höhe des Gehaltes), sondern weitgehend darin, wie er die ihm obliegenden Aufgaben erfüllt. […] Deshalb muss der Arbeitgeber […] vor allem auch auf Grund der jedermann aus Art. 1 und 2 GG obliegenden Verpflichtung […] alles unterlassen, was die Würde des Arbeitnehmers und die freie Entfaltung der Persönlichkeit beeinträchtigen kann. Eine solche Beeinträchtigung beider Grundrechtspositionen bedeutet es aber, wenn einem Arbeitnehmer zugemutet wird, nicht nur vorübergehend, sondern womöglich jahrelang sein Gehalt in Empfang zu nehmen, ohne sich in seinem bisherigen Beruf betätigen zu können.« 471 BVerfGE 89, 1: »Das Besitzrecht des Mieters an der gemieteten Wohnung ist Eigentum iS von Art. 14 I 1 GG«. 472 Vgl. Dreier, in Dreier, Art. 2 Abs. 1 Rn. 63 m. N. (3. Aufl. 2013).

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dere verweist, wird ja – um hier auf Neuraths »Richtigkeitskriterium« zurückzukommen – die Frage gestellt, ob sich die neue Entscheidung in die bestehenden Satzsysteme, d. h. die bisherige Rechtsprechung einfügt oder ob diese umgebaut werden müssen. 473 Entstanden sind auf diese Weise allgemeine Abwägungs-, Anwendungs- und Wertungsmuster, die für die Rechtsordnung insgesamt gelten. Durch die Grundrechte als »wertentscheidende Grundsatznormen« werden den einzelnen Rechtsgebieten wie auch der Rechtsordnung als solcher allgemeine Muster vorgegeben, die dann nicht nur zu partiellen, sondern auch zu übergreifenden kohärenten Strukturen führen. d)

Widersprüchliche Wertungsmuster – Inkohärenz der Rechtsordnung(en)

Im europäischen Mehrebenensystem 474 gilt aber nicht nur die grundgesetzliche »Wertordnung«. Entscheidungen darüber, welche Normen und Werte mit welcher Relevanz einen Rechtsbereich prägen, werden nicht nur von Parlamenten und Gerichten auf der Ebene der nationalen Rechtsordnung getroffen. Das Europarecht ist gegenüber dem deutschen Recht vorrangiges Recht oder setzt diesem – auch über die Richtlinien – entscheidende Vorgaben. Möglich werden damit – seit Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta – GRCh) in steigendem Maße – auch divergierende Interpretationen von Wertungsmustern. Auf der Ebene des »einfachen« Rechts ist dafür die Entwicklung des Urlaubsrechts paradigmatisch. Das BUrlG von 1963 und die Rechtsprechung des BAG hatten eine vergleichsweise klare dogmatische Systematisierung geschaffen. Beginnend mit der Schultz-HoffEntscheidung vom 20. 01. 2009 (C-350/06) hat der EuGH Grundannahmen dieser Dogmatik verworfen und aufgrund der Richtlinie EGRL 88/2003 Art. 7 Abs. 2. in einer Reihe von weiteren Entscheidungen jeweils punktuell durch eigene Wertungen ersetzt, 475 die auf Zu demonstrieren etwa am Beispiel der Abwägung Pressefreiheit – Persönlichkeitsrecht; vgl. dazu H. Schulze-Fielitz, in Dreier, Art. 5 Abs. I, II Rn. 278 ff. m. N. (3. Aufl. 2013). 474 Siehe dazu bereits oben Kap. 16 IV. 475 EuGH Entscheidung vom 15. 09. 2011 – C-155/10 (Williams); EuGH Entscheidung vom 08. 11. 2012 (Heimann); EuGH Entscheidung vom 13. 06. 2013 – C-415/12 (Brandes). 473

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einem grundsätzlich anderen Urlaubsverständnis beruhen als das deutsche Recht. 476 Diese Wertungsdifferenzen führen zwar dazu, dass ein Blick in das Urlaubsgesetz kaum noch eine Information über die Rechtslage ermöglicht; für die Rechtsordnung insgesamt bleiben solche Differenzen jedoch punktuell. Sehr viel grundsätzlicher sind dagegen die Auswirkungen auf das Gefüge der Gesamtrechtsordnung, wenn BVerfG, EuGH und EGMR in Grundpositionen des Grundrechtsverständnisses unvereinbare Auffassungen vertreten. Da es auch hier nicht um eine ausführlichere Erörterung dieser Unverträglichkeiten gehen kann, soll das Problem nur anhand von zwei Zitaten zur Menschwürde dargestellt werden: Für das BVerfG ist das GG eine »Verfassung, die die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihres Wertesystems stellt«. 477 Und für die Menschenwürde gilt, dass sie »jeder Abwägung von vornherein unzugänglich ist«. 478 »Die Menschenwürde als Fundament aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig.« 479 – Nimmt man den EuGH beim Wort, steht für ihn dagegen die Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs im Vordergrund. Entsprechend formuliert er im Anschluss an die Entscheidungen Schmidberger und Omega, dass »die Ausübung der dort betroffenen Grundrechte, nämlich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Menschenwürde, nicht außerhalb des Anwendungsbereichs der Bestimmungen des Vertrags liegt. Sie muss mit den Erfordernissen hinsichtlich der durch den Vertrag geschützten Rechte in Einklang gebracht werden und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen«. 480 Wie weit reichend die Konsequenzen sind, die diese Formulierungen nahelegen, kann beim derzeitigen Stand der EuGH-Rechtsprechung nicht genauer beurteilt werden. Einerseits passt sie sicher nicht in das nationale Grundrechtsverständnis, für das die MenschenVgl. etwa Clemens Latzel, EuZA 2014, 80–94; Stephan Pötters, Tom Stiebert, Fallstricke im Urlaubsrecht – Weiterhin keine Rechtssicherheit für die Praxis?, NJW 2012, 1034–1039. 477 BVerfG, Urteil vom 01. April 2008 – 1 BvR 1620/04 –, BVerfGE 121, 69–108) – juris Rn. 71 478 BVerfGE 129, 208–268 – juris Rn. 257 m. V. auf BVerfGE 109, 279 (318 f., 322). 479 BVerfGE 107, 275–286 – juris Rn. 26. 480 EuGH, Urteil vom 18. Dezember 2007, Rs. C-341/05, Laval, Slg. 2007, S. I-11767 Rn. 103 m. Hinweis auf Urteil vom 12. Juni 2003, Schmidberger, C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 74 und zur Dienstleistungsfreiheit. Urteil vom 14. Oktober 2004, Omega, C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 35. 476

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

würde »abwägungsresistent« ist 481, andererseits hat das BVerfG in der Lissabon-Entscheidung die Laval-Entscheidung ausdrücklich aufgegriffen, ohne in der Relativierung der Menschenwürde ein Problem zu sehen. 482 In anderen Fällen sind Wertungswidersprüche zwischen beiden Gerichten dagegen bereits offen zu Tage getreten. 483. Für die unter II. noch zu erörternde »Einheit der Rechtsordnung« zeigen diese vorhandenen oder möglichen Wertungsdifferenzen mit besonderer Deutlichkeit, welche Rolle der Organisation und den Institutionen des Rechtssystems bei diesem Thema zukommt.

2.

Das Rechtssystem – ein Gefüge partieller, temporär kohärenter Strukturen

Als Ergebnis festzuhalten ist also, dass es »das« klar strukturierte Wertesystem, das als Matrix für »die« Rechtsordnung fungieren könnte, nicht gibt, sondern nur unterschiedliche, partielle Wertungsmuster. Wie die Prinzipien, die ein Rechtsgebiet prägen, in bestimmten konkreten Regeln austariert werden, kann logischen Ableitungen oder juristischen Abwägungen folgen, ebenso aber auch reinem politischen Willen. Und von diesem kann man meist nicht eindeutig sagen, ob es ihm um einen fairen Ausgleich der Interessen oder um die einseitige Durchsetzung partieller Interessen ging. Auch Gerichte folgen bei ihren Wertungen auf unterschiedliche Weise der Perspektive ihrer speziellen Rechtsprechungsfunktion: als Fachgerichte, als Hüter der Verfassung und der Grundrechte, als »Hüter der Verträge« oder gar als »Motor der Integration«. Um die Struktur verallgemeinernd zu beschreiben: Ein Kriterium/Prinzip P 1 gilt in einem bestimmten Rechtsbereich (im Subsystem SS 1) mit prägender Wertigkeit, in einem anderen (SS 2) dagegen nur sehr eingeschränkt oder (in einem SS 3) gar nicht. Subsysteme können also partiell gleiche Strukturen haben. Doch nur weil sie – ihren unterschiedlichen Regelungsbereichen entsprechend – zugleich auch partiell ungleich sind, gewährleisten sie, dass Zur Diskussion vgl. etwa Höfling, in Sachs (Hg.), GG, 5. Aufl. 2008, Art. 1, Rn. 10 ff. 482 BVerfGE 123, 267–437 – juris Rn. 364, 398. 483 Einen Überblick gibt W. Kahl, in: Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 3 Rn. 44 ff. (Stand Okt. 2014). Zur grundsätzlichen Position des BVerfG zu Fällen eines solchen Kompetenzkonfliktes zuletzt BVerfGE 134, 366–438. 481

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Widersprüche »neutralisiert« werden und »subsystem-intern« bleiben. Die Bedingung der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung liegt also entscheidend in der relativen Eigenständigkeit ihrer Subsysteme. Wenn dem Rechtssystem mit seinen mannigfaltigen komplexen Strukturen als Ganzes – im Gegensatz zu seinen Subsystemen (a) – mithin keine durchgehend kohärente Struktur zugesprochen werden kann, so hindert dies nicht, in der Gesamtrechtsordnung jedenfalls ein systemisches Gefüge aus Normtexten und Auslegungsroutinen zu sehen (b). Ob dieses Gefüge insoweit über kohärente Strukturen verfügt, als übergeordnete Wertungsmuster solche schaffen können, hängt letztlich von der Prägekraft dieser Wertungsmuster ab. a. Kohärent sind solche Subsysteme dann, wenn in einem Rechtsbereich die Relationen zwischen seinen Systemelementen (Normen, richterrechtlichen Sätzen, Rechtsbegriffen, Werten und Prinzipien) durch Wertungsmuster und begriffliche Zuordnungen so stabilisiert und strukturiert sind, dass folgende Bedingungen erfüllt sind: Es muss möglich sein, eine zu beantwortende Rechtsfrage so in das Satzsystem einzuordnen, dass die Antwort jedenfalls daraufhin überprüft werden kann, ob sie sich in den Zusammenhang akzeptierter Sätze einfügt. Dabei müssen die Sätze des Satzsystems selbst untereinander »verträglich« sein, d. h. sich gegenseitig argumentativ stützen (Widerspruchsfreiheit und Stimmigkeit) und sie müssen in dem Sinne umfassend sein, dass kein Gesichtspunkt, der als Kriterium (Systemelement) hätte in den Blick genommen werden müssen, ausgeklammert wurde (Umfassendheit). Typische Systeme dieser Art sind die dogmatischen Satzsysteme, die sich nicht zuletzt dadurch auszeichnen, dass dogmatisch akzeptiert ist, welche Systemelemente mit welcher Relevanz zu berücksichtigen sind und welche Kriterien und Werte außen vor bleiben können oder gar müssen. b. Die Gesamtrechtsordnung verfügt demgegenüber augenscheinlich kaum über Relationen (durchgehende strukturelle Muster und gemeinsame Kategorien), durch die ihre Elemente (nationale sowie europäische Normen und deren richterrechtliche Anwendungsregeln) zu einer in sich stimmigen Einheit verbunden wären. Hat man nur die nationale Rechtsordnung im Blick, vermag zwar die grundgesetzliche Wertordnung über ihre Wertungsmuster solche kohärenten Strukturen zu vermitteln, nach denen sich auch die par445 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

tiellen Strukturen zu richten haben. Im europäischen Mehrebenensystem nimmt die Prägekraft dieser Wertungsmuster jedoch tendenziell ab. Bis sich hier neue stabile Muster etabliert haben, verliert auch die Gesamtrechtsordnung an Strukturen, die sichere Grundmuster kohärenter Ableitungszusammenhänge gewährleisten könnten. – Deutlich wird so auch der Mechanismus, der einer Kohärenzlehre des Rechts prinzipielle Grenzen setzt: Der Umgang mit dem Recht ist immer auch ein Umgang mit Widersprüchen. Dort, wo schon das Verhalten des Einzelnen selten folgerichtig ist, gesellschaftliche Rollen und Interessen, propagierte und gelebte Werte, Idee und Wirklichkeit fast immer voller Widersprüche sind und das Recht (bei dem stets auch Macht im Spiel ist) im Streitfall für die eine oder andere Seite Partei ergreifen muss, ist der Befund zunächst zwangsläufig: Die Sätze, die das Recht bilden, können untereinander keine vorgegebene widerspruchsfreie Ordnung bilden. Gleichwohl bezeichnet die »Rechtsordnung« nicht nur die Summe der in einem Gebiet geltenden Normen. Zwischen ihren Teilen und Subsystemen besteht durchaus ein Zusammenhang; es ist aber nur ein systemischer. Die Rechtsordnung verfügt zwar nicht über Strukturen, die eine Vorhersage ermöglichen, welche Folgen eine Veränderung im Bereich X auf den Bereich Y haben werden, die aber als Gefüge derart systemisch funktionieren, dass solche Folgen eintreten und dann auch festgestellt werden können. Konkreter: Wenn etwa in einem Teilsystem eine dogmatische Struktur verändert wird, kann es dabei sein Bewenden haben; es kann aber auch mehr oder minder starke Auswirkungen auf die Gesamtrechtsordnung haben, ohne dass das im Moment der partiellen Änderung schon erkennbar wäre. Man kann die Systemkonsequenzen eben nicht vorab erkennen. Die Strukturänderungen, die das Elfes-Urteil mit seiner Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG und vor allem das Lüth-Urteil oder die Errichtung des EuGH für die Gesamtrechtsordnung gebracht haben, waren in Vielfalt, Tiefe und Dynamik nicht voraussehbar. Es gibt in der Systemstruktur eben keine Gesetze des Inhaltes: Wenn im Punkt A ein dogmatischer Satz geändert wird, führt das auch in den Punkten C und H bis Z zu Änderungen, während B, D und F unverändert bleiben. Im Nachhinein kann man solche Änderungen jedoch in der Regel nachvollziehen und das verweist auf das entscheidende Charakteristikum: Die Rechtsordnung kann als systemischer Zusammenhang reagieren. Aber sie tut das dann als selbstreferentielles System, das den Strukturgesetzen der Evolution, nicht aber denen der 446 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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Berechenbarkeit folgt. 484 – Fassen wir zusammen, ergeben diese Überlegungen folgendes Ergebnis: Die Rechtsordnung ist ein systemisches Gefüge. Sie hat keine vorgegebene Ableitungsstruktur. Ob und inwieweit Wertungsmuster diesem Gefüge eine kohärente Struktur verleihen können, hängt von der Akzeptanz ab, die solche Muster in dem europäischen Mehrebenensystem gewinnen können. Die wesentlichen Elemente dieses Gefüges – seine Subsysteme – bestehen jedoch aus Sätzen und Satzsystemen mit – mehr oder minder dichten – kohärenten Strukturen.

II.

Die Einheit der Rechtsordnung

Der Richter, der für seinen Fall ermittelt, wie denn nach Gesetz und Recht zu entscheiden ist, arbeitet nicht mit, sondern in der Rechtsordnung – mit eben den Satzsystemen (»Subsystemen«), die für diesen Fall einschlägig sind oder sein können. Es ist diese Perspektive, unter der im Folgenden der Topos der Einheit der Rechtsordnung zu behandeln ist, nicht (mehr) die theoretische Frage nach der Systemeigenschaft. Es interessiert die Rolle, die dieser Topos, verstanden als »Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung« 485, auf der praktischen Ebene der Rechtsanwendung spielt, d. h., es geht darum, wie in konkreten Fallkonstellationen mit Norm- oder Wertungswidersprüchen umzugehen ist. 486 Wie zuvor gesagt: Die Sätze, die das Recht bilden, können untereinander keine vorgegebene widerspruchsfreie Ordnung bilden. Dogmatische Satzsysteme können andererseits jedoch nur insoweit kohärent sein, als sie widerspruchsfrei sind. Auch Urteilsgründe, die widersprüchlich sind, können nicht kohärent und damit nicht »richtig« sein. Versteht man juristische Methode als Herstellung von Kohärenz, ist also Rechtsherstellung nicht zuletzt die Kunst, Kohärenz im Umgang mit Widersprüchen herzustellen. 487 Das Stichwort der

Zum Recht als evolutionärer Prozess näher Kap. 26 V. 1. BVerfGE 125, 141–174 – juris Rn. 31; siehe auch BVerfGE 116, 164–202 – juris Rn. 84 m. w. N. 486 Grundlegend dazu K. Engisch 1935/1987 und die Monographie von D. Felix 1998. 487 Dazu konkret Kap. 26 IV. 3. 484 485

447 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

»Einheit der Rechtsordnung« formuliert unter diesem Gesichtspunkt nur das Postulat, mit der Vielzahl scheinbarer und wirklicher Widersprüche so »zu Recht« zu kommen, dass Kohärenz möglich wird. Über die zahlreichen Regeln, mit denen die Juristen dies tun, soll zunächst ein Überblick gegeben werden (1.). Doch die »Einheit der Rechtsordnung« ist nicht nur eine juristisch-technische Argumentationsfigur; zu betonen sind auch ihre kaum zu unterschätzenden institutionellen Bedingungen (2.).

1.

Widersprüche und Kollisionsregeln

Von außen betrachtet, fallen zunächst die terminologischen Widersprüche auf. Gleichlautende Begriffe haben in verschiedenen Gesetzen, oft sogar im gleichen Normtext unterschiedliche Bedeutungen (die »verfassungsmäßige Ordnung« in Art. 2 Abs. 1, in Art. 9 Abs. 2 und in Art. 28 Abs. 1 GG). Engisch nennt sie die »technischen« Widersprüche. 488 Solche Widersprüche tangieren das Ideal der Normenklarheit und den Bestimmtheitsgrundsatz. Aber es gibt keinen Verfassungsgrundsatz, der für die Rechtsordnung eine einheitliche Verwendung von Begriffen vorschreibt. 489 Semantische Unbestimmtheit und Unklarheiten liegen in der Natur der Sprache (Kap. 17) und sind durch Auslegung zu klären. Differenzierter und schwieriger sind die Probleme, die sich bei Normwidersprüchen oder besser: Normkollisionen 490 stellen. Hier ist zu unterscheiden: Zum einen ergeben sich Normwidersprüche bereits abstrakt und unabhängig von einem konkreten Verhalten daraus, dass die Rechtsordnung vielfach Normen enthält, die untereinander unverträglich sind. Meistens sind diese Widersprüche mittels Hierarchisierung, Temporalisierung oder Spezialisierung lösbar. 491 – Die klassischen Kollisionsregeln sind bekannt: »Lex superior derogat legi inferiori«, »Lex posterior derogat legi priori«, »Lex specialis derogat legi generali«. Daneben gibt es eigene Regelwerke, die jeweils solche Kollisionen regeln: Übergangsvorschriften, das IPR,

K. Engisch 1935/1987, S. 43 ff. Dazu näher D. Felix 1998, S. 189 ff. 490 D. Felix 1998, S. 245. Normen sind keine Aussagen, die wahr oder falsch sein können. 491 Näher D. Felix 1998, S. 154 ff. 488 489

448 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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Doppelbesteuerungsabkommen; im EU-Recht etwa die spezifischen Regeln, nach denen den EU-Richtlinien Verbindlichkeit für die innerstaatlichen Gerichte zukommt etc. Doch mit den genannten Regeln lassen sich nicht alle Normwidersprüche auflösen. 492 Es bleiben zum anderen Fälle, in denen eine Norm vom Normadressaten ein bestimmtes Verhalten verlangt und eine andere Norm genau dieses Verhalten als rechtswidrig qualifiziert oder jedenfalls missbilligt. Solche Kollisionen sind mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar. Entsprechend hatte das BVerfG eine kommunale Verpackungssteuer für verfassungswidrig erklärt und dazu ausgeführt: »Greift die steuerliche Lenkung auf eine Sachmaterie über, darf der Steuergesetzgeber nicht Regelungen herbeiführen, die den vom zuständigen Sachgesetzgeber getroffenen Regelungen widersprechen. Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet alle rechtsetzenden Organe des Bundes und der Länder, die Regelungen jeweils so aufeinander abzustimmen, daß den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen.« 493 Die Kollisionsregel selbst hat es der Kompetenzordnung des GG entnommen. 494 Ein anderer methodischer Weg liegt in einer Abwägung der konfligierenden Vorschriften und läuft dann über das rechtsstaatliche Gebot einer einschränkenden Auslegung. 495 So ist es mit »der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates, eine funktionsfähige Strafrechtspflege zu gewährleisten […] nicht vereinbar, wenn derjenige, der diese ihm gesetzlich auferlegten Pflichten erfüllt und nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben macht, dadurch zivilrechtliche Nachteile erleidet.« 496 Normwidersprüche muss der Richter auflösen – für Wertungswidersprüche gilt das nur eingeschränkt. 497 Wenn Gleiches ungleich behandelt wird, dann muss dieser Widerspruch zwar gelöst werden, wenn in ihm ein Verstoß gegen das Willkürverbot und den allgemeinen Gleichheitssatz liegt. 498 Aber das Problem des WertungswiderVgl. auch hier D. Felix 1998, S. 154 f. BVerfGE 98, 106–134 – juris Rn. 57 f. 494 AaO. Rn. 59. 495 Zu weiteren Fällen siehe D. Felix 1998, S. 247 ff. 496 BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 02. Juli 2001 – 1 BvR 2049/00 –, juris Rn. 11, d. h. das Verhalten darf z. B. nicht als wichtiger Grund zur Kündigung nach § 626 BGB gewertet werden. 497 Siehe hierzu bereits K. Engisch 1935/1987, S. 63. 498 Ein Beispiel gibt BVerfGE 117, 1–70 – juris Rn. 161 – zur Erbschaftssteuer: Ver492 493

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

spruchs betrifft nicht primär Art. 3 GG und den damit in Zusammenhang stehenden Grundsatz der Sachgerechtigkeit 499. Wird die Frage von Wertungswidersprüchen im Hinblick auf die Einheit der Rechtsordnung thematisiert, stehen im Hintergrund Fragen der inneren Ordnung, der Werteinheit des Rechts. Und die entscheidenden Antworten auf diese Fragen sind bereits gegeben worden. Der Hintergrund wurde in den vorhergehenden Überlegungen unter den Überschriften »Die Unverträglichkeit der Werte und Systemstruktur« und »Widersprüchliche Wertungsmuster – Inkohärenz der Rechtsordnung« weitgehend ausgeleuchtet. Man kann sie so zusammenfassen: In der Ausdifferenzierung der Rechtsordnung spiegelt sich die Ausdifferenzierung der pluralistischen Gesellschaft. Entsprechend differenzieren sich auch die Wertungsmuster und das besagt: Es gehört zur Struktur unserer Rechtsordnung, dass die Wertungsmuster in den Teilbereichen und Subsystemen dieser Rechtsordnung unterschiedlich sind – und sich damit auch widersprechen können. – Wie D. Felix überzeugend dargelegt hat, gibt es demgegenüber auch keine verfassungsrechtliche Grundlage für ein Postulat der Vermeidung von Wertungswidersprüchen. 500 Diese Überlegungen gelten jedoch nur für Wertungsdifferenzen, die sich ergeben, wenn der Gesetzgeber oder auch die Rechtsprechung dem einen Rechtsbereich dieses und dem anderen jenes Wertungsmuster zugrunde legen. Rechtlich relevant sind demgegenüber natürlich all die Wertungswidersprüche, die sich zwischen diesen Mustern und grundgesetzlichen Wertungsvorgaben auftun. Zu lösen sind sie über die Regeln des Verfassungsvorranges. Für die »Einheit der Rechtsordnung« ergeben sich insoweit keine prinzipiellen Probleme. Unter den Bedingungen des europäischen Mehrebenensystems lassen sich solche Wertungskonflikte jedoch sehr viel schwerer harletzung, wenn »strukturell Brüche und Wertungswidersprüche« zu mit dem Gleichheitssatz kollidierenden Verwerfungen führen. 499 Eine »vom Gesetz selbst statuierten Sachgesetzlichkeit […] kann zwar ein Indiz für eine objektiv willkürliche Regelung und einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz darstellen (vgl. BVerfGE 12, 151 h164i; 34, 103 h115i). Sie begründet aber für sich allein genommen noch keine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 59, 36 h49i). Aus einer solchen etwaigen Systemwidrigkeit lässt sich dann nichts für einen Gleichheitsverstoß herleiten, wenn sonst plausible Gründe für die abweichende Regelung sprechen (vgl. BVerfGE 68, 237 h253i) und die Ungleichbehandlung dadurch gerechtfertigt wird.« – BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 16. September 2009 – 1 BvR 2275/07 –, juris Rn.53. 500 D. Felix 1998, S. 233 ff.

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19 · Kohärenz und die Einheit der Rechtsordnung

monisieren und bekommen eine andere Dimension. Wertungswidersprüche ergeben sich nicht mehr nur im Hinblick auf grundgesetzliche Wertungsvorgaben, sondern auch aus den Vorgaben der Grundfreiheiten, der Unionsgrundrechte und der in das primäre Unionsrecht integrierten Charta der Grundrechte. Wertungswidersprüche können dann hier durchaus in dem Mehrbereichssystem eine Dynamik entwickeln, die auch für die »Einheit der Rechtsordnung« gravierende Folgen haben kann.

2.

Kohärenz und Kompetenzkonflikte – Gerichte und Rechtsordnungen im europäischen Mehrebenensystem

Die Einheit einer jeden Rechtsordnung erfordert nicht nur Regeln darüber, wie und in welchen Fällen Norm- und Wertungswidersprüche aufzulösen sind. Die Kohärenz einer Rechtsordnung ist auch abhängig von der Kohärenz in der Organisation des Justizsystems. Die wesentlichen Mechanismen zur Gewährleistung dieser Kohärenz sind ebenfalls bereits dargestellt worden 501 und müssen nicht mehr erörtert werden: das Rechtsmittelrecht, der Instanzenzug, die Vorlagepflichten an die Großen Senate und den Gemeinsamen Senat sowie an den EuGH; für den EuGH selbst der aufschlussreiche »Bericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften«. Grundlegend für diese Korrelationen ist der Zusammenhang von Kognition und den Prägungen unseres Denkens durch Institutionen, an deren Organisationsperspektive es oft ausgerichtet ist. Das gilt auch für Richter und Gerichte. Aus der Analyse »Wie Institutionen denken« wird die Frage, wie Menschen in Institutionen denken (Kap. 8, 1. These). Einschneidende Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung erklären sich so aus den Perspektivwechseln, die mit dem Wechsel von der Fachgerichtsbarkeit zum BVerfG oder zum EuGH, vom BVerfG zum EuGH oder zum EGMR verbunden sind. Wenn mit dem Lüth-Urteil, der Nassauskiesungsentscheidung oder der Entscheidung des EuGH zum Wehrdienst von Frauen bislang selbstverständliche Begründungs- und Akzeptanzrahmen grundlegend verändert und verschoben wurden, dann geschah dies unter diesen kohärenztheoretischen Gesichtspunkten nicht von ungefähr durch Gerichte mit spezifischer Rekrutierung der Richter, 501

Siehe Kap. 6.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

mit eigener Organisationsstruktur, Aufgabenstellung und entsprechend eigenen (kohärenten) Denkräumen. Die Fachgerichte, die Verfassungsgerichte, der EuGH, der Gerichtshof für Menschenrechte haben aber nicht nur ihre eigenen, ihnen speziell übertragenen Prüfungsperspektiven, die schon per se zu unterschiedlichen Wertungsmustern tendieren. Die Dynamik, die diese hoch differenzierte Organisationsstruktur mit sich bringt, trifft im europäischen Mehrebenensystem auf unterschiedliche Rechtsordnungen – die nationalen Rechtsordnungen und die Gemeinschaftsrechtsordnung – mit unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Grundlagen (Verfassungen und Verträge) und unterschiedlichen Wertordnungen, den Grundrechten des GG und der Charta sowie den Grundfreiheiten der EU. Wie diese Wertungssysteme dogmatisch und in praktischer Konkordanz aufeinander abzustimmen sind, ist noch vielfach ungeklärt. 502 Die Gerichte arbeiten im europäischen Mehrebenensystem mit anderen Worten mit inhaltlich unterschiedlichen »Prüfprogrammen«. Kompetenz- und Wertungskonflikte insbesondere auf der Ebene BVerfG – EuGH – EGMR sind mithin strukturbedingt und müssen durch Kollisionsregeln beherrschbar gemacht werden. Das BVerfG hat dazu folgende Grundregel formuliert: Das Bundesverfassungsgericht übt seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von Unionsrecht, das als Grundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, grundsätzlich nicht aus und überprüft dieses Recht nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes. 503 Es schränkt diese jedoch einmal durch die »Solange-Klausel« und zum anderen durch den Vorbehalt der »Ultra-vires-Kontrolle« grundsätzlich ein. Die Solange-Klausel besagt, dass das BVerfG seine Gerichtsbarkeit nur solange nicht ausübt, »solange die Europäische Union, auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, einen wirksamen Schutz der Grundrechte generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verZur Übersicht über die »sehr komplexe Rechtslage« aus der Perspektive der deutschen Grundrechtsdogmatik vgl. H. Dreier, in: Dreier Bd. I., Vorb. vor Art. 1, Rn. 31 ff. (3. Aufl. 2013). 503 BVerfGE 129, 78–107 – juris Rn. 53 502

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19 · Kohärenz und die Einheit der Rechtsordnung

bürgt.« 504 Auch die »Ultra-vires-Kontrolle« 505 verlangt zwar, dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen des Gerichtshofs grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu beachten hat und deshalb vor »der Annahme eines Ultra-vires-Akts der europäischen Organe und Einrichtungen […] dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte« geben muss. Das BVerfG behält sich mit diesem Vorbehalt aber seine Zuständigkeit für die Fälle vor, in denen »das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt.« Entsprechend gilt auch die Regel: »Verfassungsbeschwerden, die sich gegen die Anwendung unionsrechtlich vollständig determinierter Bestimmungen des nationalen Rechts richten, sind grundsätzlich unzulässig.« Sind dagegen die Vorschriften des nationalen Rechts unionsrechtlich nicht oder nicht vollständig determiniert, bleibt der Weg der Verfassungsbeschwerde offen und dabei unterliegt auch die Annahme eines Fachgerichts, dass die vollständige Bindung durch das Unionsrecht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH eindeutig sei, ohne Beschränkung auf eine bloße Willkürkontrolle der Überprüfung durch das BVerfG. 506 Zieht man ein Fazit, so hat sich das BVerfG zwar selbst Grenzen gesetzt, sich aber gleichwohl die Kompetenz vorbehalten, verbindlich darüber zu entscheiden, ob die Grenzen auch eingehalten sind. Konsequent wird dann auch die Kompetenz beansprucht, zu bestimmen, wie ein Urteil des EuGH nicht ausgelegt werden darf: »Im Sinne eines kooperativen Miteinanders zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof (vgl. BVerfGE 126, 286 h307i) darf dieser Entscheidung keine Lesart unterlegt werden, nach der diese offensichtlich als Ultra-vires-Akt zu beurteilen wäre oder Schutz und Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer Weise gefährdete (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG), dass dies die Identität der durch das GrundBVerfGE aaO, Rn. 53 m. N. Siehe im Anschluss an die Honeywell-Entscheidung – BVerfGE 126, 286,303 f. – BVerfG, Vorlagebeschluss vom 14. Januar 2014 – 2 BvE 13/13 u. a. – juris Rn. 24; dieser Rn. sind auch die nachfolgenden Zitate entnommen. 506 BVerfGE 129, 78–107 – juris Rn. 52. 504 505

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

gesetz errichteten Verfassungsordnung in Frage stellte (vgl. BVerfGE 89, 155 h188i; 123, 267 h353 f.i; 125, 260 h324i; 126, 286 h302 ff.i; 129, 78 h100i). Insofern darf die Entscheidung nicht in einer Weise verstanden und angewendet werden, nach der für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der Grundrechtecharta niedergelegten Grundrechte der Europäischen Union jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreiche.« 507

Dieses Zitat macht zugleich deutlich, wo das BVerfG den entscheidenden Schlüssel zur Lösung möglicher Kompetenzkonflikte sieht. Er kann nicht in klaren inhaltlichen Vorgaben oder im Ausreizen der eigenen Positionen liegen, sondern im »kooperativen Miteinander […] zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof« – gegebenenfalls auch dem EGMR. Wie sich eine Kohärenz im europäischen Mehrebenensystem strukturieren wird, wird mithin entscheidend davon abhängig sein, wie das Bundesverfassungsgericht, der Europäische Gerichtshof und der EGMR in einem kooperativen Miteinander ihre unterschiedlichen Auffassungen auf einen Nenner praktischer – und praktizierter – Konkordanz bringen können. Nur so ist es derzeit denkbar, auch inhaltliche Kohärenz im europäischen Mehrebenensystem herzustellen.

507

BVerfG, NJW 2013, 1499–1518 – juris Rn. 91.

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Kapitel 20 Grundfragen der Gesetzesauslegung – die verfassungsrechtliche Perspektive

Rechtsprechende Gewalt ist abgeleitete Staatsgewalt. Sie legitimiert sich nicht aus eigenem Recht (Art. 20 Abs. 2 GG); ihre verfassungsrechtliche Legitimationsgrundlage ist die Bindung an »Gesetz und Recht«. Diese gibt zugleich die Maßstäbe und Normen für die richterliche Tätigkeit vor (Art. 20 Abs. 3 GG). Damit ist auch die Art und Weise, in der der Richter »Gesetz und Recht« anwendet, notwendig ein Problem verfassungsrechtlicher Vorgaben. Methodenfragen sind deshalb stets auch Verfassungsfragen. 508 Sie sind es in vielfältiger Weise: Die wesentlichen Strukturen des gerichtlichen »Erkenntnisverfahrens« werden durch verfassungsrechtliche Vorgaben bestimmt: die Gebote des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens, das Neutralitätsgebot und das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit sowie die Prozessmaximen (abgeleitet aus der Gesetzesbindung einerseits – der Privatautonomie andererseits). Unmittelbare inhaltliche Maßstäbe für die Rechtsanwendung folgen etwa aus den Grundsätzen der verfassungskonformen Auslegung und der Vorgabe, jede Rechtsnorm auch inhaltlich im Geiste der Verfassung auszulegen und kollidierende Grundrechtspositionen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz in Ausgleich zu bringen. 509 – Gegenstand dieses Kapitels soll jedoch nicht die verfassungsrechtliche Analyse des richterlichen »Erkenntnisverfahrens« in allen seinen Aspekten sein, sondern nur die Frage nach den verfassungsrechtlichen Determinanten, die die Bindung an »Gesetz und Recht« prägen und inhaltlich bestimmen. Im Zentrum wird also die Gesetzesauslegung stehen und die Überlegungen werden sich auf die Fragen konzentrieren, welche verfassungsrechtlichen Vorgaben

Formulierung im Anschluss an B. Rüthers, vgl. etwa JZ 2006, 56. BVerfG, B. v. 23. Oktober 2013 – 1 BvR 1842/11, 1 BvR 1843/11 – juris Rn. 68 m. Hinweis auf BVerfGE 129, 78, 101 f.

508 509

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hier für Interpretation und Anwendung der Auslegungsregeln bestehen und beachtet werden müssen. Zu klären sind zunächst die Argumente, die für und wider die These eines verfassungsrechtlich vorgegebenen Rangverhältnisses zwischen den Kanones sprechen. Die Methodenlehre thematisiert dieses Problem als Kontroverse subjektive versus objektive Theorie (I.). Ausgehend von einer zunächst nur historischen Auslegung des GG (II.) sind in den folgenden Abschnitten dann die Grenzen richterlicher Auslegungsspielräume auszuloten (III. u. IV.) und dabei ist auch nach den erkenntnistheoretischen Bedingungen zu fragen, denen hier jede Auslegung unhintergehbar unterliegt. Ziel ist es die Regelstruktur zu bestimmen, die gilt, wenn der Richter mit Auslegungsregeln arbeitet (V.). Diese Überlegungen werden zu wichtigen Thesen für die Methodik der gerichtlichen Praxis führen. Man sollte sich allerdings nicht zu viel versprechen. Methodenfragen sind Verfassungsfragen. Aber das heißt nicht, dass das Grundgesetz auf sie auch immer klare Antworten gibt. Und das liegt nicht nur daran, dass eine Verfassung in aller Regel und mit guten Gründen zu methodischen Fragen keine Aussagen trifft, 510 sondern auch an einem erkenntnistheoretischen Grunddilemma: Wir suchen in den Normen der Verfassung eindeutige Maßstäbe und Kriterien, nach denen wir bewerten können, ob wir bei einer Gesetzesanwendung die richtigen Maßstäbe und Kriterien angelegt haben – dies sind aber keine anderen Maßstäbe und Kriterien als die, mit denen wir mit unserer Interpretation die Vorgaben des Grundgesetzes ermitteln. Das heißt, wir können die Bindung an »Gesetz und Recht« selbst nur in Gestalt unserer tradierten und vielfach dogmatisierten Interpretationstechniken greifen – also just nur mit einem Spielraum und Instrumentarium, dessen verfassungsrechtliche Grenzen wir »an sich« überprüfen wollen. Wird aber die »Bindung an Gesetz und Recht« so zwangläufig selbst zum Gegenstand richterlicher Interpretation 511, wird auch die Rechtsprechung des BVerfG entscheidend für die Vorgaben, die es in diesem Abschnitt zu untersuchen gilt.

510 511

Zu den Gründen siehe etwa Ch. Waldhoff 2013, S. 85 f. N. Luhmann 1995, S. 303.

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

I.

Das Ziel der Auslegung – der traditionelle Ausgangspunkt

Der Richter hat einen Normtext vor sich – mit welchem Vorverständnis kann oder muss er ihn auslegen? Muss er seine Auslegung an dem Willen des Gesetzgebers oder an dem Sinn des Gesetzes ausrichten oder hat er gar die freie Wahl zwischen der subjektiven und einer objektiven Auslegung? – Die Methodenlehre formuliert mit diesen Begriffen die traditionelle Frage nach dem Ziel der Auslegung. Aber schon die Begrifflichkeit ist bekanntlich strittig.

1.

Zur Begrifflichkeit

Zu analysieren sind Grundfragen der richterlichen Rechtsfeststellung: Wie und nach welchen Regeln hat der Richter aus der Gesetzesnorm oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen seine Entscheidungsnorm abzuleiten? Mit der Frage, wie diese Vorgänge zu verstehen und zu rekonstruieren sind, steht man zugleich mitten in einer rechtstheoretischen Auseinandersetzung: Handelt es sich um Auslegung, für die die Kanones die Regeln zur Verfügung stellen oder ist die Ableitung als Konkretisierung zu verstehen? Die Konkretisierung wird wiederum in zwei konträren Positionen diskutiert 512 – zum einen als Vorgang der Individualisierung, als Konkretisierung einer allgemeinen Norm auf den konkreten Fall, zum anderen und im Sinne der konkretisierenden Rechtslehre 513 als »Normkonstruktion«. 514 Nach dieser Auffassung ist nur ein Normtext, nicht aber die Rechtsnorm dem Richter vorgegeben; diese entsteht vielmehr erst im Rechtsanwendungsprozess. Statt von »Auslegung« oder »Konkretisierung« zu sprechen, spricht viel dafür, für die folgenden Grundüberlegungen den Begriff »Ableitungsoperationen« und damit einen neutraleren Terminus zu verwenden. Diesem Begriff fehlt allerdings die vertraute Anschaulichkeit und er soll deshalb auch nicht mit sturem Schematismus an die Stelle der üblichen Termini treten. Deutlich werden muss jedoch die Distanz zu dem angesprochenen Theorienstreit. Einen Überblick gibt A. Röthel 2004, S. 14 ff. Vgl. hier insbesondere die Schriften von F. Müller, etwa Müller/Christensen 2004, Rn. 314 ff. 514 Müller/Christensen 2004, Rn. 330 ff. 512 513

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

Gegenüber der konkretisierenden Rechtslehre und in der Konsequenz der im Kapitel 15 II. zur Regelbindung aus dem Toulmin-Schema vorgetragenen Überlegungen soll dieser Ausdruck den notwendigen Ableitungszusammenhang zwischen Gesetzesnorm und Entscheidungsnorm präsent halten. Und auch der Begriff der »Auslegung« gibt zu Missverständnissen Anlass. Das gilt jedenfalls dann, wenn sich eine Auslegungslehre – wie die von Rüthers – an der Vorstellung orientiert, es sei möglich, hinreichend genau zu bestimmen, was im buchstäblichen Sinne des Wortes »Auslegung« sei, und ihre Funktion wesentlich darin sieht, diejenigen Botschaften des Rechtssatzes zu ermitteln, die »die Normsetzer hineinlegen konnten und wollten«. 515 Man kann mit Rüthers die Gegenposition ironisieren und aus Goethes »Zahmen Xenien« zitieren: »Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.« 516 – Diese Ironie greift allerdings nur, wenn uns die Auslegungstheorie hinreichend taugliche Mittel der Auslegung zur Verfügung stellt, um zu unterscheiden, ob da etwas ausgelegt oder etwas untergelegt wurde und so eine eindeutige Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung auch wirklich garantieren kann. 517

2.

Zum Streitstand – die Grundpositionen

Die Auseinandersetzung um die richtige Interpretationsperspektive beherrscht seit Ende des 19. Jahrhunderts als zentrales Problem die juristische Auslegungstheorie 518. Ob sie für die Methodenlehre einen entscheidenden Erkenntnisgewinn bringen kann, ist freilich erst zu diskutieren, wenn wenigstens die Streitpunkte dieser Auseinandersetzung geklärt sind. K. Engisch hat sie in seiner Einführung in das juristische Denken sehr anschaulich als Frage formuliert: »Wird der Sachgehalt des Gesetzes und damit das letzte ›Auslegungsziel‹ durch den vormaligen und einmaligen ›Willen‹ des historischen Gesetzgebers derart bestimmt und festgelegt, daß der Rechtsdogmatiker in die Spuren des Rechtshistorikers treten muß – zwar nicht um der Historie, wohl aber um der Sache selbst willen –, oder aber ruht der sachliche Gehalt

515 516 517 518

Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 786. B. Rüthers, JuS 2011, 865, 866. Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 788. Zur Übersicht vgl. K. Larenz 1991, S. 316 ff.

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

des Gesetzes in ihm selbst und in seinen ›Worten‹, als ›Wille des Gesetzes‹, als objektiver Sinn, der unabhängig ist von dem ›subjektiven‹ Meinen und Willen des historischen Gesetzgebers, dafür aber auch notfalls frei beweglich, entwicklungsfähig wie alles, was am ›objektiven‹ Geist teilhat?«

Angefügt ist die Feststellung: »Um diese Problematik tobt der Streit der juristischen Auslegungstheorien – man nennt sie kurz: die subjektive und die objektive Theorie – bis auf den heutigen Tag.« Ob man allerdings wie 1956 den aktuellen Diskussionstand noch mit der Feststellung zusammenfassen kann: »Heute ist die objektive Theorie – wenngleich in vielen Spielarten – durchaus herrschend« 519, ist eher fraglich. 520 Die Rechtsprechung stellt in ihrer Interpretationspraxis weitgehend auf den in der Norm »zum Ausdruck kommenden objektivierten Willen des Gesetzgebers« ab, eine Formel, die ursprünglich eine Auslegung im Sinne der »objektiven« Theorie meinte 521, heute aber nicht mehr so verstanden werden kann, sondern gerade meint, dass die richterliche Rechtsfindung in keinem Fall das gesetzgeberische Ziel der Norm in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen darf. 522 Noch deutlicher werden in der Literatur inzwischen – pointiert etwa von Rüthers – mit Vehemenz und eher zunehmend »subjektive« Gegenpositionen vertreten. 523 Wenn ein Theorienstreit weit über ein Jahrhundert so ausführlich gepflegt wird, wie der zwischen »Subjektivisten« und »Objektivisten«, dann könnte es gute Gründe geben, ihn als unentscheidbar endlich beiseitezulegen. So fragt denn auch etwa Jan Schröder in seiner historischen Analyse der Interpretationstheorien: »Ist nun dieser Streit wirklich so wichtig oder lässt er sich irgendwie entschärfen?« – und meint, ausdrücklich mit Bezug auf Rüthers: »Manche Autoren stellen sich vor, sie könnten wissenschaftlich klären, welche Theorie die richtigere ist. Ich halte solche Bemühungen aber für hoffnungslos.« 524 Hoffnungslos, weil es sich um eine wissenschaftlich unlösbare weltanschauliche Streitfrage handele, eine Streitfrage, die in unterEngisch 1975, S. 89 m. N. auf S. 226 ff. Zum Überblick über den Meinungsstand aus der Sicht eher »subjektiver« Theorieansätze etwa F. J. Säcker, in MüKoBGB, Bd. 1, Einl. Rn. 79 (6. Aufl. 2012); M. Hensche 2001, S. 373 f.; Looschelders/Roth 1996, S. 45 ff. 521 Vgl. etwa BVerfGE 11, 126–136; E 105, 135; BFHE 243, 287; BGH JZ 1974, 421. 522 Den deutlichen Einschnitt markiert die Entscheidung BVerfGE 133, 168–241 – juris Rn. 66 st.Rspr. 523 Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 796 ff. m. N. 524 J. Schröder 2011, S. 29. 519 520

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

schiedlichen Grundvorstellungen zum Wesen des Rechts wurzele – Recht als empirisches, soziales Phänomen einerseits, als »Geistesprodukt, das auf ideale Werte ausgerichtet ist« 525 andererseits. Methodik ist und bleibt allerdings, wie in den bisherigen Darlegungen immer wieder betont, unhintergehbar theorieabhängig. Die Methodenlehre darf sich also mit einem theoretischen »non-liquet« nicht zufriedengeben, sondern muss sich ihrer Grundlagen auch dort zu vergewissern suchen, wo diese im theoretisch-weltanschaulichen Streit bleiben werden. In der Kontroverse um das »richtige« Auslegungsziel und die zur Erreichung dieses Zieles »richtigen« methodischen Instrumentarien verschränken sich rechtstheoretische, verfassungsrechtliche sowie erkenntnistheoretische Fragestellungen und unterschiedliche Modellvorstellungen über die Gesetzgebungsund Rechtsprechungspraxis. Diese Verschränkungen müssen geklärt werden. Das verlangt aber keine umfassende Auseinandersetzung mit der bisherigen Methodendiskussion um das »richtige« Auslegungsziel. Zwar vermittelt diese manchmal den Eindruck, der Theorienstreit sei eigentlich immer der gleiche geblieben. Doch Fragestellungen und Antworten sind es nicht. Sie sind heute andere als vor 200 Jahren die von Savigny, als vor 100 Jahren die der Vertreter der objektiven Theorie und ihres Gegenspielers P. Heck oder als die der Philosophischen Hermeneutik vor 50 Jahren. Es hat deshalb auch keinen Sinn, das Für und Wider aller Argumente nochmals durchzuspielen. Doch gerade wenn eine Diskussion scheinbar nicht zu Ende kommen will, stellt sich die Gefahr spezifischer Fehlschlüsse besonders leicht ein. Der Philosoph G. Patzig hat sie mit dem Bild vom Maulwurfshügel beschrieben: Man sieht einen Maulwurfshügel und vermutet dort auch den Maulwurf. Aber wie man den Maulwurf selten unter seinem so schön sichtbaren Hügel antrifft, sondern nur sagen kann, dass er dort einmal gewesen sein muss, so ist auch ein methodisch-theoretisches Problem oft nicht mehr dort, wo die Diskussion ihre Hügel aufgeworfen hat. Gleichwohl muss man aber den Hügeln nachgehen und sodann die Gänge aufgraben, um zu sehen, wo ein Problem wirklich ist. Die Diskussion um die Auslegungsziele, die von den einen als längst unfruchtbar abgetan wird, während andere sich von ihr die Rückkehr zur Bindung an Recht und Gesetz versprechen, bietet hier 525

J. Schröder aaO.

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

ein typisches Beispiel. Es kann also kaum ausbleiben, dass mancher Gedankengang verschlungener und theoretischer geraten ist, als es zunächst nötig erscheint, um zu den pragmatisch entscheidenden Ergebnissen zu kommen. Doch nur eine genauere Analyse kann hier zu einem veränderten Verständnis der unterschiedlichen Rollen der einzelnen Auslegungsregeln führen und es ermöglichen, immer wieder diskutierte Kriterien und Regeln möglichst konkret auf die Gegebenheiten und Probleme der Rechtsprechungspraxis hin zu fokussieren, theoretisch zu reflektieren und zu präzisieren. In diesem Sinn kommt es im Folgenden darauf an, die wesentlichen Grundpositionen der Kontroverse und deren Hintergrundvorstellungen und Denkfiguren herauszuarbeiten (III.), den Zusammenhang von Auslegungsmethode und den Methoden der Gesetzgebungspraxis näher zu analysieren (IV.) und schließlich nach einer Regelstruktur zu suchen, die einem topischen Umgang mit den Kanones Grenzen setzt (V.). – Zunächst ist aber zu klären, was es denn mit der von Rüthers immer wieder formulierten These: »Methodenfragen sind Machtfragen und damit Verfassungsfragen« 526, verfassungsrechtlich genauer betrachtet, wirklich auf sich hat. Welches Ziel gibt das GG den Ableitungsoperationen vor, die die Methodik als »Auslegung« thematisiert?

II.

Die Vorgaben des GG aus der Perspektive historischer Auslegung – welche Maßstäbe hat der Verfassungsgeber gesetzt?

Mit der zitierten These richtet sich Rüthers ganz unmittelbar gegen die objektive Theorie. Sein Urteil: »Diese Methode verstößt gegen die Verfassungsgrundsätze der parlamentarischen Demokratie und der rechtsstaatlichen Gewaltentrennung (Art. 20 GG). Sie unterläuft die Normsetzungsprärogative des Parlaments.« 527 Aus dieser – durchaus polemischen – Stoßrichtung sollte man das Problem, ob und inwieweit Methodenfragen Verfassungsfragen sind, aber herauslösen. Dann werden auch die zwei Ebenen deutlich, auf denen dieses Problem zu diskutieren ist. – Die erste Ebene gibt die Grundposition der historischen Auslegung selbst vor. In der Konsequenz müsste am Be526 527

B. Rüthers JZ 2006, 56, ausführlich Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 640 ff.; 944 ff. B. Rüthers, JZ 2006, 60.

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ginn der Nachweis stehen, dass der Regelungszweck der auszulegenden Verfassungsbestimmungen – insbesondere der Art. 20; 97 Abs. 1; 103 Abs. 2 GG – eindeutig feststellbar nur so zu verstehen ist, dass der Verfassungsgeber selbst allein in einem auf den Willen des Gesetzgebers gerichteten Interpretationsansatz einen verfassungskonformen Ansatz gesehen, jedenfalls die Gegenposition der objektiven Theorie als mit seinen Vorstellungen unvereinbar abgelehnt hat. Ist dem nicht so, wäre die von Rüthers u. a. vertretene These der Verfassungswidrigkeit der objektiven Theorie selbst also bereits keine »Auslegung« mehr, sondern »Rechtsfortbildung«. 528 Auf einer zweiten Ebene wäre dann aus einer »objektiven« Position heraus zu untersuchen, welche methodischen Ansätze ein größeres Maß an Bindung garantieren und deshalb sowohl dem Grundsatz der Gesetzesbindung als auch dem Rechtsstaatsprinzip besser entsprechen. Das setzt dann aber voraus, dass man auch die tatsächlichen Bedingungen untersucht, die im Gesetzgebungsverfahren gegeben sein müssen, um eine Absicht des Gesetzgebers auch hinreichend eindeutig ermitteln zu können (IV). Die zentralen Bezugspunkte für die verfassungsrechtliche Analyse von Methodenfragen sind – beide unmittelbarer Ausdruck des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips – zum einen der Vorrang des Gesetzes und zum anderen das Gewaltenteilungsprinzip. Beide sind, etwa im Gesetzesvorrang, untereinander verschränkt. Beide setzen eine Bindung des Richters voraus, stellen also die Frage nach den Grenzen seiner Rechtsprechungskompetenz.

1.

Erste Konsequenzen aus Art. 20 Abs. 3; 103 Abs. 2 GG

(1.) Der Verfassungsgeber hat die Bindung der Rechtsprechung an »Gesetz und Recht« in Art. 20 Abs. 3 GG ausdrücklich statuiert. Unstreitig ist damit zugleich gesagt, dass die Ableitungsoperationen, mit denen der Richter »Gesetz und Recht« auf den konkreten Fall anwendet, methodisch sein müssen. Nach welchen Regeln dies zu geschehen hat, sagt – kaum überraschend – Art. 20 GG allerdings nicht. Auch Art. 97 Abs. 1 GG, der den unabhängigen Richter nur dem Gesetz unterwirft, ergibt für unsere Fragestellung keine Anhaltspunkte. Er entspricht in seiner Formulierung Art. 102 Weimarer Reichsverfas528

Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 786.

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sung, der für die WRV sedes materiae war, das Bindungsproblem zu erörtern. 529 Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass der Richter nach der WRV stärker an das Parlamentsgesetz gebunden war, als er dies nach dem GG ist. Während ihm nach damals h. M. kein Prüfungsrecht zustand, ist er nach dem GG an die Verfassung und das Parlamentsgesetz gebunden. Auch wenn er für nachkonstitutionelles Recht keine Verwerfungskompetenz hat (Art. 100 GG), verfügt er über eine Prüfungskompetenz und ist damit gegebenenfalls mit Wertungswidersprüchen konfrontiert, die ihm gegenüber dem Gesetz Entscheidungsspielräume einräumen. Die immer stärkere Bindung an das EU-Recht bringt dann eine weitere Lockerung. Die methodischen Stichworte hierzu sind die »verfassungskonforme« und die »europarechtskonforme« Auslegung. Betrachtet man diese als nachgeordnete methodische Schritte, berühren sie die nach den herkömmlichen Regeln durchgeführte Auslegung zwar zunächst nicht. Im Verhältnis zur Gesetzesbindung sind die Bindungen an Verfassung und EU-Recht aber nicht nur komplementär, sondern auch »konkurrierende Bindungsformen«. (2.) Auch im Hinblick auf die herkömmlichen Regeln wird das Bild erst differenzierter, wenn Art. 103 Abs. 2 und 104 GG in die Betrachtung einbezogen werden. Die Verfassung begrenzt hier, wie schon näher dargelegt (Kap. 18 V. 2.), expressis verbis in mehreren Richtungen das richterliche Methodeninstrumentarium. Die richterliche Kompetenz zur Rechtsanpassung und zur Rechtsfortbildung wird rechtsgrundsätzlich eingeschränkt. Der Richter darf im Wege der Analogie keine neuen Straftatbestände schaffen und bestehende nicht erweitern. 530 Art. 103 Abs. 2 GG setzt also nicht nur der Tatbestandsergänzung, sondern auch der tatbestandsausweitenden Interpretation Grenzen 531. Wenn hier der »mögliche Wortsinn des Gesetzes […] die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation« Vgl. G. Anschütz 1960, S. 474 ff. Textliche Hinweise darauf, dass das GG diese Frage demgegenüber anders beantworten wollte, könnten sich allenfalls daraus ergeben, dass man die ursprüngliche Fassung des heutigen Abs. 3 – »Rechtsprechung und Verwaltung stehen unter der Herrschaft des für alle gleichen Gesetzes« – u. a. deshalb nicht übernahm, weil man das Wort »Herrschaft« als »zu scharf« vermeiden wollte (JöR n. F., Bd. 1, S. 195, 197). 530 So schon Anschütz 1960, Anm. 4. zu Art. 116. 531 BVerfGE 92, 1–25 – Sitzblockade III – juris Rn. 58. Konkretisierend zu den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen nach Art. 104 GG BVerfGE 134, 33–106. 529

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markiert, 532 heißt das zugleich: Für die Interpretation von Strafnormen darf der Absicht des Gesetzgebers gerade keine ausschlaggebende, sondern von vornherein nur eine beschränkte Bedeutung zugesprochen werden. Hat diese Absicht im Gesetzestext keinen Niederschlag gefunden, soll der Richter seine Auslegung auch nicht auf sie stützen dürfen. Relevant ist die Entstehungsgeschichte, wie gezeigt, nur, um aus ihrem Kontext den Sinn des Gesagten zu ermitteln. Es liegt im Schutzzweck des Art. 103 Abs. 2 GG, dass das »Gemeinte« nur dann »gesetzlich bestimmt war«, wenn es der Gesetzgeber auch gesagt hat. Denn mit der Formel, der »Zweck der Vorschrift gebietet es auch« 533, ist sehr leicht und schnell jeder Wortlaut überspielt – und das gilt im Hinblick auf die rechtsstaatliche Funktion des Gesetzesvorbehalts auch, wenn dieser Zweck unmittelbar aus der Entstehungsgeschichte abgeleitet werden kann. (3.) Ergibt sich so aus dem strengen Gesetzesvorbehalt des Art. 103 Abs. 2 GG eher eine prinzipielle Begrenzung teleologischer Interpretationsansätze, folgt bei einer systematischen Interpretation des Zusammenhangs von Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 2 GG im Umkehrschluss aber gleichzeitig, dass die Bindung an »Gesetz und Recht« die mit dem Grundsatz nulla poena sine lege statuierten prinzipiellen Begrenzungen richterlicher Interpretationskompetenz im Allgemeinen nicht umfasst. (4.) Ein negativer Befund erscheint damit zunächst eindeutig. – Freilich sind auch die Vorstellungen eines Gesetz- oder Verfassungsgebers, die im Normtext, weil selbstverständlich, keinen unmittelbaren textlichen Niederschlag gefunden haben, nicht von vornherein unbeachtlich. Doch gerade wenn man mit Rüthers die Funktion einer »Auslegung« wesentlich darin sieht, diejenigen Botschaften des Rechtssatzes zu ermitteln, die »die Normsetzer hineinlegen konnten und wollten«, 534 wird man für das GG vergeblich nach weiteren hinreichenden Anhaltspunkten für die Annahme suchen, der Verfassungsgeber habe dem GG eine eindeutige Präferenz für die subjektive Auslegungstheorie, zwar stillschweigend, aber doch als Selbstverständlichkeit, in die Wiege gelegt. Im Gegenteil: Aus der Sicht des AaO. Rn. 46. BGHSt 18, 114–123 – juris Rn. 18. Die Rspr. des BGH zu § 142 StGB a. F. – siehe die zitierte Entscheidung BGHSt 18, 114–123 m. w. N. – zeigt geradezu beispielhaft, wie man sich mit dieser Formel über den Wortlaut hinwegsetzen kann; näher hierzu Herzberg, JuS 2005, S. 3 f. 534 Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 786. 532 533

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

Parlamentarischen Rates konnte es 1948/49 keine solche Selbstverständlichkeit geben. Bis 1933 wurden überwiegend objektive Auslegungsansätze vertreten; nach 1933 wurden diese dann weitgehend durch subjektiv-telelogische Auslegungsmethoden verdrängt. Sie entsprachen, wie K. Engisch 1935 zutreffend feststellte, dem »Führerprinzip«. 535 Auch P. Heck passte in seinem Aufsatz »Rechtserneuerung und juristischen Methodenlehre« von 1936 seine Interessentheorie an und sah »in Führerwort und Parteiverlautbarungen neue und reiche Erkenntnismittel«. 536 (5.) Als Zwischenergebnis ist mithin festzuhalten, dass sich das Verdikt gegen die objektive Theorie jedenfalls auf eine historische Auslegung der Art. 20 Abs. 3; 97 Abs. 1 und 103 Abs. 2 GG nicht stützen lässt. – Und auch das Gewaltenteilungsprinzip führt hier zu keinen anderen Ergebnissen.

2.

Erste Konsequenzen aus dem Gewaltenteilungsprinzip

Die subjektive Theorie ist nicht nur Auslegungstheorie. Mit der Willenstheorie liegt ihr, bezogen auf den Willen des Souveräns 537, ein spezifisch hierarchisch ausgerichtetes Steuerungsmodell zugrunde, ein Modell, das einzig den Gesetzgeber als entscheidenden und legitimierten Gestalter der Rechtsordnung ansieht. »Das Gesetz«, so formulierte es Hillgruber in seiner Kommentierung zu Art. 97 GG, »ist der demokratisch legitimierte und vorgegebene, alleinige Entscheidungsmaßstab des Richters.« 538 Entsprechend wird eine Reservekompetenz der Rechtsprechung auch dann verneint, wenn der Gesetzgeber untätig bleibt. Gestützt auf das Gewaltenteilungsprinzip wird der Gesetzesvorbehalt als umfassender Gestaltungsauftrag verstanden. 539 – Doch dieses Verständnis von Gewaltenteilungsprinzip und Gesetzesvorbehalt überzeugt nicht. (1.) Zunächst kann sich auch diese Position nicht auf eine historische Auslegung des GG stützen. Der Gesetzesvorbehalt wurde in der Weimarer Zeit nie als umfassender Gestaltungsauftrag verstanK. Engisch 1935/1987, S. 87 m. w. N. P. Heck 1936, S. 13. 537 Zur Problematik des »Willensarguments« M. Hensche 2001. 538 C. Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Art. 97 Rn. 30 (Stand 2008); Hervorh. d. Verf. 539 C. Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Art. 97 Rn. 44 f. (Stand 2008). 535 536

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

den, sondern immer nur bereichsspezifisch, als notwendig für »Eingriffe in Freiheit und Eigentum« – so die damalige Formel 540 – und als »institutioneller Gesetzesvorbehalt«. 541 Für die Erweiterung dieses Vorbehaltsbereiches um die »Wesentlichkeitstheorie« gibt es in der Entstehungsgeschichte keinerlei Grundlage. Es handelt sich, wie das Gericht selbst sagt, um eine »vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Lehre«. 542 (2.) Das mithin nicht vom Verfassungsgeber vorgegebene, sondern via Richterrecht geschaffene Institut ist vom BVerfG auch nicht als umfassender Gesetzesvorbehalt gemeint und ausgestaltet, etwa des Inhaltes, dass alle wesentlichen Entscheidungen in der Demokratie durch Parlamentsgesetz getroffen werden müssen. Wenn als Beispiel für eine notwendige gesetzliche Regelung immer wieder das Arbeitskampfrecht genannt wird, 543 dann hat das BVerfG gerade dies stets abgelehnt. 544 In seiner Entscheidung über die Rechtschreibreform hat das Gericht denn auch deutlich gemacht, dass der Wesentlichkeitsgrundsatz keine wirklich eigenständige dogmatische Funktion zu erfüllen vermag: »Dieser Grundsatz verlangt, daß staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen durch förmliches Gesetz legitimiert wird. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, und darf sie nicht anderen Normgebern überlassen. Wann es danach einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, läßt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den darin verbürgten Grundrechten, zu entnehmen […] Danach bedeutet wesentlich im grundrechtsrelevanten Bereich in der Regel ›wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte‹ […]. Die Tatsache, daß eine Frage politisch umstritten ist, führt dagegen für sich genommen nicht dazu, daß diese als wesentlich verstanden werden müßte (vgl. BVerfGE 49, 89 h126i). Zu berücksichtigen ist im übrigen auch, daß die in Art. 20 Abs. 2 GG als Grundsatz normierte organisatorische und funktionelle Unterscheidung und Trennung der Gewalten auch darauf zielt, daß staatliche

Vgl. etwa F. Fleiner 1913, S. 125 f. Eine allgemeine Übersicht zur Problematik gibt Schmidt-Aßmann 2006, S. 187 ff. 542 BVerfGE 84, 212–232 – juris Rn. 40. 543 C. Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Art. 97 Rn. 44. (Stand 2008). 544 BVerfGE 84, 212–232; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26. März 2014 – 1 BvR 3185/09 –, juris. 540 541

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen. Dieses Ziel darf nicht durch einen Gewaltenmonismus in Form eines umfassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen werden (vgl. BVerfGE 68, 1 h86 f.i).« 545

Der Gewaltenteilungsgrundsatz monopolisiert die Rechtsetzung also keineswegs bei der Legislative. 546 Er statuiert kein reines Trennungsprinzip. 547 Die Prärogative des Parlaments steht deshalb nicht zur Disposition. Sie ergibt sich aus Gesetzesvorbehalt, Gesetzesvorrang und – als umfassender Titel – aus dem parlamentarischen Zugriffsrecht. 548 Diese setzen einer gerichtlichen Rechtserzeugung grundsätzliche Grenzen, schließen aber eine originäre Kompetenz der dritten Gewalt als »Reservegesetzgeber« nicht aus. Damit ist zugleich allerdings auch eine notwenige Differenzierung vorgenommen: Diese »Reservekompetenz« umfasst grundsätzlich auch eine Kompetenz zur (ergänzenden) Rechtsfortbildung, schließt keineswegs aber eine solche contra legem ein. Auf die Grenzen, die der Richter hier zu beachten hat und die für eine verfassungsadäquate Methodik entscheidend sind, ist erst im Abschnitt V. und nach der Auseinandersetzung mit dem Streitstand um das »richtige« Auslegungsziel einzugehen. Mit dieser Differenzierung ist es auch keine fragwürdige These 549, wenn das BVerfG feststellt: »Rechtsfortbildung war in der deutschen Rechtsgeschichte nicht nur seit jeher eine anerkannte Funktion der Rechtsprechung; sie ist im modernen Staat geradezu unentbehrlich. Gewichtige Regelungen des gegenwärtigen bürgerlichen wie öffentlichen Rechts beruhen auf ihr.« 550 Das BVerfG begründet die Reservekompetenz auch zu Recht mit dem Grundsatz, dass die Gerichte aufgrund des aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Justizgewährleistungsanspruchs verpflichtet

Dazu näher Schmidt-Aßmann 2006, S. 191. Auch und gerade rechtsvergleichend gibt es für diese These keine Stütze, vgl. A. Bruns 2014, JZ 2014, S. 167 f. 547 Schmidt-Aßmann 2006, S. 179 ff. m. w. N. 548 Dazu auch hier näher Schmidt-Aßmann aaO. S. 185 ff. 549 So aber Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Art. 97 Rn. 66 (Stand 2008); sein Hinweis auf die durch den Aufwertungsstreit (Vgl. RGZ 107, 78) ausgelöste Diskussion trägt seine generelle These nicht, da es sich hier eindeutig um das Problem einer Entscheidung contra legem handelte; vgl. dazu G. Anschütz 1960, Art. 102 Anm. 4. 550 BVerfGE 69, 188–209 – juris Rn. 51. 545 546

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

sind, wirkungsvollen Rechtsschutz zu bieten. 551 Soweit es sich um Maßnahmen der öffentlichen Gewalt handelt, für die es eines Gesetzes bedarf, verlangt die Entscheidung keine Rechtsschöpfung. Die Maßnahme ist aufzuheben. Dort, wo kein Gesetzesvorrang besteht, muss der Richter ohne ein solches entscheiden, d. h. selbst eine Entscheidungsregel entwickeln (Kap. 16). 552 Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG hat ein Gericht zwar das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn es ein Bundesgesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält – etwa weil das Gesetz den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht entspricht, die sich aus dem Bestimmtheitsgrundsatz ergeben. Ein Gesetzgebungserzwingungsverfahren hat das GG aus guten Gründen aber nicht vorgesehen.

3.

Konsequenzen aus der Bindung an »Gesetz und Recht«

Wenn aber »gewichtige Regelungen des gegenwärtigen bürgerlichen wie öffentlichen Rechts« auf richterlicher Rechtserzeugung beruhen, kann es dann sinnvoll sein, dem Richterrecht gleichwohl seine Qualität als »Recht« im Sinne der Formel »Gesetz und Recht« abzusprechen? Diese Frage kann nicht isoliert beantwortet werden, sondern nur im Zusammenhang mit der bisher ausgeklammerten begrifflichen Klärung dieser Formel. Bereits ein oberflächlicher Versuch, durch Lektüre der Kommentarliteratur 553 herauszufinden, was mit der Formel von »Gesetz und Recht« juristisch präzise gemeint ist, zeigt allerdings, wie problembehaftet eine klare Verankerung methodischer Vorgaben in dieser Norm ist. Man stößt auf einen reichlich dissonanten Chor von Meinungen. Es lassen sich – unter Verzicht auf durchaus wichtige Schattierungen – immerhin vier Grundpositionen ausmachen: 1. In der Formel wird ein Ausdruck der »ewigen Spannung zwischen Recht und Gesetz« gesehen – mit der Tendenz, dass bei

Vgl. BVerfGE 85, 337, 345; 107, 395, 406 f.; Nichtannahmebeschluss vom 26. März 2014 – 1 BvR 3185/09 –, juris Rn. 39. 552 Die Kritik etwa von C. Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Art. 97 Rn. 70 (Stand 2008), überzeugt also nicht. 553 Zur Übersicht vgl. P. Hilbert, JZ 2013, S. 130 ff. 551

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

Widerspruch das Gesetz dem überpositiven Recht und dem Rechtsempfinden weichen muss. 554 Es ist so eine Formel für ein »Recht-vor-Gesetz-Denken«. 555 2. Die Formel »Gesetz und Recht« sei eine rhetorische Paarformel. »Gesetz« sei jede Rechtsnorm im materiellen Sinn, die Bindung an »Recht« demgegenüber ein Pleonasmus. 556 3. Zwischen Gesetz und Recht wird differenziert. Die Zuordnungen und Begriffsbestimmungen fallen allerdings unterschiedlich aus. Dem Gesetz wird als »Recht« das »Gewohnheitsrecht« gegenübergestellt. Oder das »Gesetz« wird als Parlamentsgesetz verstanden; das »Recht« umfasst dann alle anderen Normen. 557 4. Die Diskussion über die Einordnung des Richterrechts verläuft unabhängig davon, ob man in der Formel »Gesetz und Recht« eine Paarformel sieht oder zwischen »Gesetz« und »Recht« differenziert. Nach der wohl überwiegenden Meinung wird das »Richterrecht« von der Bindung an »Gesetz und Recht« begrifflich nicht erfasst. 558 Das Fazit, das Huster/Rux ziehen – die von Anfang an umstrittene und unklare, rhetorisch motivierte Formulierung lasse ein eindeutiges Auslegungsergebnis kaum zu 559 –, ist also kaum von der Hand zu weisen. a)

»Gesetz und Recht«

Gleichwohl lassen sich aber für wesentliche Streitfragen hinreichend abgesicherte Feststellungen treffen, aus denen dann auch weitere Folgerungen gezogen werden können. v. Mangoldt 1953, Art. 20, Ziff. 6. Oder nur Verweis auf einen überpositiven Normenbestand BVerfGE 34, 26,286; 95, 96, 130. 556 So etwa W. G. Leisner, in H. Sodan GG, Art. 20 Rn. 44, 46 (2. Aufl. 2011). 557 So insbesondere K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck. GG II, Art. 20 Abs. 3 Rn. 265 f. (6. Aufl. 2010). 558 Vgl. etwa K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck. GG II, Art. 20 Abs. 3 Rn. 265 f. m. w. N. (6. Aufl. 2010), aber in dem Sinne, dass es Richterrecht als »eigenständige Rechtsquelle« nicht geben darf. Wie die Überlegungen zur Rechtsatzqualität dogmatischer Sätze (Kap. 18 III. 3. e) und die nachfolgenden Überlegungen zur Einordnung des Richterrechts zeigen, zielt ein solcher Einwand aber auf die unterschiedliche Bindungskraft von Gesetzesnorm und Richterrecht, die nicht zu bestreiten ist. 559 Huster/Rux, in Epping/Hillgruber GG, Art. 20 Rn. 169.1 (2. Aufl. 2013). 554 555

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

(1.) Eine erste Feststellung betrifft die unter 1. aufgeführte Position. Die Formel »Gesetz und Recht« eröffnet keine Möglichkeit, sich unter Bezug auf das »Recht« – sei es als überpositives Naturrecht, Gerechtigkeit oder ein wie auch immer gespeistes Rechtsempfinden – über das Gesetz hinwegzusetzen. 560 Der Richter hat zu prüfen, ob sich das Gesetz im Rahmen der »verfassungsmäßigen Ordnung« (Art. 20 Abs. 2 GG) hält; verneint er dies und sieht keine Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung 561, hat er die Norm dem BVerfG vorzulegen. Eine Auslegung im Sinne der Legitimation eines »Recht-vor-Gesetz-Denkens« bedeutete demgegenüber nichts anderes als eine Dekonstruktion des Rechtsstaates. Die These, nach der »die Formel auf die ewige Spannung zwischen Gesetz und Recht« hinweise und sie es dem Richter auch ermöglichen solle, sich gegen das Gesetz »für das allgemeine Rechtsempfinden zu entscheiden«, hatte v. Mangoldt in seiner Kommentierung von 1953 auf eine OLG-Entscheidung gestützt. 562 Verständlich ist sie »auf dem Hintergrund von Unrechtserfahrungen« 563 – verfassungsrechtlich begründet ist die These nicht. In den Materialien zu Art. 20 GG finden sich keine Hinweise auf ein solches Verständnis. 564 Wichtiger als dieses Schweigen ist aber der Umstand, dass es in den Beratungen zu Art. 97 GG ausdrücklich abgelehnt wurde, zur Formulierung des Herrenchiemseer Entwurfs zurückzukehren und hinter den Worten »dem Gesetz« die Worte »und ihrem Gewissen« einzufügen. 565 Das GG hat dem Richter zwar ausdrücklich das Recht zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen eingeräumt (Art. 100 GG); man kann aufgrund dieser ausdrücklichen Ablehnung einer Gewissensprüfung aber nicht davon ausgehen, dass es dem Richter, anders als die WRV, gleichwohl die Befugnis geben wollte, einem Gesetz den Gehorsam zu verweigern, weil es nach seiner Meinung gewissen Normen, die – wiederum nach seiner Meinung – über dem Heute wohl die überwiegende Meinung. Vgl. H. Maurer 2010, § 8 Rn. 16; K. Hesse 1967, S. 78; K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck. GG II, Art. 20 Abs. 3 Rn. 266 ff. (6. Aufl. 2010). 561 In diesem Sinne muss man wohl auch in BVerfGE 34, 269 – juris Rn. 38 – den Verweis auf das Recht verstehen, das seine »Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt«. 562 v. Mangoldt 1953, Art. 20 Ziff. 6. 563 F. Ossenbühl 2007, in: HStR V, § 100 Rn. 18. 564 JöR. n. F.1951, S. 195 ff. 565 JöR. n. F.1951, S. 716 f.; näher dazu Hillgruber, Art. 97 Rn. 32. 560

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

Gesetzgeber stehen (etwa: Sitte, Sittlichkeit, Treu und Glauben, »Naturrecht«) widerspricht oder gewissen Werturteilen (Gerechtigkeit, Billigkeit, Vernunft) nicht standhält. 566 Wenn es in der Soraya-Entscheidung heißt: »Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch«, dann wird damit auf das GG verwiesen und nicht auf Normen, die außerhalb der Verfassung liegen. Der folgende Satz macht dies auch deutlich: »Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag.« 567 (2.) Positiv umfasst die Formel »Gesetz und Recht« zunächst und unstreitig die Bindung an die klassischen Rechtsquellen, an Verfassungsrecht, förmliche Gesetze, Rechtsverordnungen, autonome Satzungen, das Gewohnheitsrecht 568 sowie das EU-Recht. 569 Umstritten ist die Zuordnung der vielfältigen Regeln, die auf »privater Rechtsetzung« beruhen. 570 Anerkannt ist der Tarifvertrag als autonome Rechtsetzung. 571 Zu differenzieren ist hinsichtlich der allgemeinen Verwaltungsvorschriften (a) und des Richterrechts (b). aa) Zur Einordnung allgemeiner Verwaltungsvorschriften Allgemeine Verwaltungsvorschriften sind grundsätzlich Gegenstand und nicht Maßstab gerichtlicher Kontrolle. Die Gerichte sind bei ihrer Kontrolltätigkeit gegenüber der Verwaltung an Verwaltungsvorschriften – etwa mit norminterpretierenden Vorgaben – grundsätzlich nicht gebunden. 572 Eine Ausnahme wird hier allerdings in ständiger Rechtsprechung bejaht, wenn den Verwaltungsvorschriften zum einen eine normkonkretisierende Wirkung zukommt 573 G. Anschütz 1960, Art. 102 Anm. 4. BVerfGE 34, 269, 286 f.; in diesem Sinn auch C. Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Art. 97 Rn. 38 (Stand 2008). 568 BVerfGE 78, 214, 227; F. Ossenbühl 2007, in: HStR V, § 100 Rn. 15 f. 569 Eine differenziertere Betrachtung erfordern nur die Richtlinien, Art. 288 Abs. 3 AEUV; vgl. dazu näher M. Ruffert, in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 47 ff. m. w. N. (4. Aufl. 2011). 570 Vgl. F. Ossenbühl 2007, in: HStR V, § 100 Rn. 16; P. Hilbert, JZ 2013, S. 130, 133. 571 BAG, Urteil vom 21. Februar 2012 – 9 AZR 461/10 –, juris Rn. 17; BAGE 133, 354–372. 572 BVerfGE 78, 214–232 – juris Rn. 37; BVerwGE 107, 338–344 –, juris Rn. 15; BVerwG, Beschluss vom 01. Dezember 2009 – 4 B 37/09 –, juris Rn. 5. 573 BVerwGE 129, 209–219 m. w. N. 566 567

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

und ihrem Erlass zum anderen »ein umfangreiches Beteiligungsverfahren vorangeht, dessen Zweck es ist, vorhandene Erfahrungen und den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis auszuschöpfen« und dieser Stand im Entscheidungszeitpunkt noch nicht überholt ist. 574 Besteht für Beschränkungen, etwa der Berufswahlfreiheit, ein Gesetzesvorbehalt, reichen normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften als Grundlage nicht aus. 575 ab) Zur Einordnung des Richterrechts (III) 576 Die Rechtsqualität des Richterrechts ist zwar immer noch prinzipiell im Streit, 577 heute aber wohl überwiegend anerkannt 578. Nach der hier vertretenen Auffassung lassen Regelbindung und Rechtspraxis auch kaum eine andere Qualifizierung zu. Damit wird freilich nicht die These vertreten, es seien »Legislative und Justiz […] letztlich mit prinzipiell gleichem Rang dazu berufen das Recht zu schaffen«. 579 Andererseits »macht« es keinen juristisch-dogmatischen Sinn und geht sowohl an der Rechtspraxis als auch an der revisionsrechtlichen Aufgabe, Rechtsfragen von »grundsätzlicher Bedeutung« zu klären, vorbei, wenn »man jeder und also auch der innovativen richterlichen Entscheidung jegliche Normwirkung abspricht«. 580 Das verkennt auch verfassungsrechtliche Vorgaben. Eine Verfassung, die »zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung« ausdrücklich einen »Gemeinsamen Senat« vorsieht (Art. 95 Abs. 3 GG), formuliert damit genau das Gegenteil einer »Absage an jede fallübergreifende normative Wirkung des Urteils«. 581 Soweit Prozessordnungen das Kriterium »zur Fortbildung des Rechts« verwenden, lässt sich daraus auch nicht sinnvoll folgern, aus dieser »einfachgesetzliche(n) BVerwGE 107, 338–344 – juris Rn. 17. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 09. März 2007 – 1 BvR 2887/06 –, juris. 576 Zur Thematik »Richterrecht und Regelbindung« – Richterrecht I – siehe Kap. 16 III.; zur Rechtsatzqualität dogmatischer Sätze – Richterrecht II – Kap18 III. 3. Einen Überblick über den neueren Diskussionsstand gibt der von C. Bumke herausgegebene Band »Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsprechung«, Tübingen 2012. 577 Pointiert etwa E. Picker 2012, S. 85 ff. 578 Vgl. die oben zitierte Entscheidung BVerfGE 78, 214,227 – juris Rn. 37; BVerfGE 54, 100, 112; Ossenbühl 2007, in: HStR V, § 100 Rn. 50 ff.; dort auch eine Übersicht über den Streitstand. 579 T. Raiser, Richterrecht heute, ZRP 1985, 111,116. 580 E. Picker 2012, S. 116. 581 E. Picker 2012, S. 117. 574 575

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

Ermächtigung zur richterlichen Fortbildung des Rechts« lasse sich nur der Schluss ziehen, »dass alle übrigen Richter und Spruchkörper eine solche Kompetenz nach dem Willen des Gesetzgebers gerade nicht besitzen sollen«. 582 Denn den Großen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes kann die Aufgabe der Rechtsfortbildung in der Regel nur zuwachsen, wenn zuvor eine Instanz eine entsprechende »rechtsfortbildende« Rechtsauffassung ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat. Da diese dann aber unter Verletzung der richterlichen Gesetzesbindung formuliert worden wäre, hätte sie die Revisionsinstanz deshalb bereits zuvor als rechtsfehlerhaft zurückweisen müssen. Inhaltlich wird man nach unterschiedlichen Erscheinungsformen differenzieren können, etwa zwischen gesetzeskonkretisierendem, gesetzesergänzendem, gesetzesvertretendem und gesetzeskorrigierendem Richterrecht. Die Kriterien, nach denen diese Unterscheidungen zu treffen sind, variieren dann allerdings je nach methodischen Ansätzen; die »Subjektivisten« werden mit einem anderen Auslegungsbegriff arbeiten als die »Objektivisten«. Ihre entscheidende Bedeutung gewinnen diese inhaltlichen Qualifizierungen jedoch erst bei der noch zu erörternden Frage der verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtserzeugung. An dieser Stelle zu klären ist aber die Einordnung des innerhalb der richterlichen Kompetenzgrenzen entwickelten Richterrechts in den Rahmen der Begrifflichkeit der Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG, also die Frage: Ist Richterrecht »Gesetz« oder »Recht« und welche Bindungsfunktion und Bindungskraft hat es? Dabei sollen Rechtswirkungen für den Einzelfall außer Betracht bleiben, auch wenn diese, wie die Feststellung der Nichtigkeit von Normen, eine unmittelbare normative Wirkung haben. Wesentlich für diese Einordnung sind immer noch die Kernsätze, die das BVerfG 1991 in dem Aussperrungsurteil formuliert hat; »Höchstrichterliche Urteile sind kein Gesetzesrecht und erzeugen keine damit vergleichbare Rechtsbindung […]. Von ihnen abzuweichen, verstößt grundsätzlich nicht gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Ihr Geltungsanspruch über den Einzelfall hinaus beruht allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Es bedarf deswegen nicht des Nachweises wesentlicher Änderungen der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen, damit ein Gericht ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG 582

Hillgruber, Art. 97 Rn. 71 gegen BVerfGE 54, 100, 112.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

von seiner früheren Rechtsprechung abweichen kann.« 583 Diese Feststellungen besagen, wie bereits in Kapitel 16 III. näher dargelegt, aber nichts gegen die Rechtsqualität des Richterrechts. Wie der Gesetzgeber sein von ihm gesetztes Recht grundsätzlich frei 584 ändern kann, ist auch die Rechtsprechung nicht an ihre Judikate gebunden. 585 Es gehört zur Offenheit unseres Rechtssystems und gewährleistet sie, dass der Richter seine Rechtsprechung (anders als nach den Regeln des case-law) nicht an Präjudizien ausrichten muss. Wie ebenfalls bereits ausgeführt, besagt dies aber nicht, dass die durch Art. 20 Abs. 3 GG ebenfalls gebundene vollziehende Gewalt gegenüber einer ständigen Rechtsprechung in gleicher Weise frei wäre. Die Bindung an »Gesetz und Recht« ist nicht allein für das Innenrecht nur relational. 586 Es verhält sich hier nicht anders als bei einer Rechtsverordnung, an die der Richter als Recht gebunden ist, die die vollziehende Gewalt aus abgeleiteter Rechtsetzungsbefugnis heraus aber frei ändern kann. Jenseits dieser Grundsätze ist aber noch zu differenzieren: hinsichtlich des BVerfG (1.), des EGMR (2.) und einer »methodischen Bindung« an die höchstrichterliche Rechtsprechung (3.): (1.) Urteile des BVerfG binden, soweit die Bindungswirkung des § 31 BVerfGG reicht, auch den Richter. Ob diese Bindungswirkung allein den in der Entscheidungsformel ausgedrückten konkreten Streitgegenstand oder auch die tragenden Gründe der Entscheidung umfasst, soweit diese Ausführungen zur Auslegung der Verfassung enthalten, ist allerdings bislang noch nicht eindeutig geklärt. Die den Tenor tragenden Entscheidungsgründe sind dann aber nur »jene Rechtssätze, die nicht hinweggedacht werden können, ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfällt. Nicht tragend sind dagegen bei Gelegenheit der Entscheidung gemachte Rechtsausführungen, die außerhalb des Begründungszusammenhangs stehen.« 587

BVerfGE 84, 212–232 – juris Rn. 42; vgl. auch BVerfGE 122, 248, 277: 126, 369– 400, st.Rspr. 584 Unterschiede zwischen Gesetzesänderungen und Änderungen der Rspr. ergeben sich allerdings hinsichtlich des Vertrauensschutzes, vgl. dazu BVerfGE 126, 369–400 – juris Rn. 79. 585 Die fallbezogene Bindung innerhalb von Instanzenzügen natürlich ausgenommen. 586 Vgl. P. Hilbert, JZ 2013, 130, 135. 587 BVerfGE 115, 97–118, – juris Rn. 29, 30. 583

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

(2.) Für Urteile des EGMR hat das BVerfG eine Bindungswirkung eigener Art entwickelt: Da der innerstaatliche Rang der Europäischen Menschenrechtskonvention dem eines Bundesgesetzes entspricht, kann eine Bindungswirkung von Entscheidungen des EGMR nicht mit einem unmittelbaren Vorrang des Rechts begründet werden, das der Gerichtshof anwendet und auslegt. Eine Auslegung der EMRK durch den EGMR ist aber »als Auslegungshilfe bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes heranzuziehen«. 588 Diese hat dann über den Einzelfall hinaus auch verfassungsrechtliche Bedeutung, denn – so das BVerfG – »das Grundgesetz will vor dem Hintergrund der zumindest faktischen Präzedenzwirkung der Entscheidungen internationaler Gerichte Konflikte zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und dem nationalen Recht nach Möglichkeit vermeiden«. 589 Grenzen einer solchen Auslegung ergeben sich aus dem Grundgesetz selbst. »Sie darf zunächst nicht dazu führen, dass der Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz eingeschränkt wird.« Zum anderen enden die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung dort, »wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint«. 590 (3.) Würden höchstrichterliche Urteile in gleicher Weise Rechtsbindung erzeugen wie Gesetzesrecht, wäre konsequent jede Abweichung als Verfassungsverstoß zu werten und könnte mit einer Verfassungsbeschwerde angefochten werden. Höchstrichterliche Urteile können auch nicht wie Urteile des EGMR als rechtlich zwingend zu beachtende »Auslegungshilfen« qualifiziert werden. Ihr Geltungsanspruch über den Einzelfall hinaus beruht in der Tat allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Da diese Urteile nach der hier vertretenen Auffassung jedoch zugleich integrale Bestandteile dessen sind, was »Gesetz und Recht« ausmacht, dürfen sie gleichwohl nicht ignoriert werden – d. h., es besteht methodisch ein Berücksichtigungsgebot. Methodisch gelten also die Regeln, die zur Konkretisierung dieses Gebots im Abschnitt »Rechtsdogmatik und Methode« bereits entwickelt und erörtert wurden (Kap. 18 IV.). – Unmittelbare recht588 589 590

BVerfGE 128, 326–409 – juris Rn. 86. BVerfGE aaO Rn. 89., Hervorh. Verf. BVerfGE 128, 326–409 – juris Rn. 93.

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liche Folgen können sich unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des Vertrauensschutzes aus der Missachtung solcher Regeln allerdings erst dann ergeben, wenn zusätzliche Umstände hinzutreten und eine Änderung einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht hinreichend begründet ist und sich nicht im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung hält. 591

4.

Konsequenzen aus der Konkurrenz unterschiedlicher »Gesetzgeber« – »konkurrierende Bindungsformen«

Die Bindung an »Gesetz und Recht« ist heute – anders als nach der WRV – nicht nur eine ausschließliche Bindung an das Parlamentsgesetz. Der viel zitierte »denkende Gehorsam« des Interpreten wird nicht nur vom Gesetzgeber, sondern jetzt auch, bleiben wir bei der Sichtweise der Subjektivisten, vom Verfassungsgeber und den jeweils zuständigen Organen der EU und dem EGMR verlangt – dies teils als unmittelbare Bindung, teils als Verpflichtung, eine der Regelung gegenüber entweder konforme oder doch jedenfalls freundliche Auslegung anzustreben. Das bedeutet im Ergebnis, dass die Auslegung heute nicht mehr eindimensional auf die Normvorgaben nur eines Normgebers ausgerichtet sein kann oder allgemeiner: Ein Auslegungsmodell, das die Methodik auf eine, einem Rechtsetzungssubjekt klar zurechenbare Normzwecksetzung ausrichten will, trifft die Auslegungssituation des Richters nicht mehr adäquat. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, die Rechtsquellenlehre gäbe hier doch klare Vorrangregeln. Wie im Kohärenzkapitel dargelegt (Kap. 19), gibt es die eben nicht. Die Rechtsprechung des EuGH und der nationalen Arbeitsgerichte zum Urlaubsrecht zeigen sehr plastisch, was in der Praxis »konkurrierende Bindungsformen« 592 bedeuten. Eine Rechtsprechung, die durch »konkurrierende Bindungsformen« gehalten ist, ihre Entscheidungen aus unterschiedlichen Kohärenzzusammenhängen mit jeweils divergierenden Wertungsperspektiven abzuleiten, kann diese Entscheidungen dann nur noch unter der Voraussetzung widerspruchsfrei begründen, dass sie ihre eigenen Kohärenzzusammenhänge schafft.

591 592

So im Umkehrschluss nach BVerfGE 122, 248–303 – juris Rn. 85. Schmidt-Aßmann 2006, S. 183.

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

5.

Zwischenbilanz

Ziehen wir aus der bisherigen Analyse verfassungsrechtlicher Vorgaben eine Zwischenbilanz, lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: • Der Verfassungsgeber wollte nicht nur die Bindung des Richters an das Parlamentsgesetz, sondern auch an die verfassungsmäßige Ordnung. Im Bereich des Strafrechts wollte er gegenüber der allgemeinen Gesetzesbindung eine engere Bindung und begrenzte deshalb das richterliche Rechtsfindungsinstrumentarium. Sicher belegbar ist schließlich auch sein Wille, dem Richter das Recht zu nehmen, sich gegen das Gesetz auf sein Gewissen berufen zu können. • Mehr lässt sich durch historische Auslegung mit hinreichender Eindeutigkeit nicht ermitteln. Insbesondere ergibt sich aus Wortlaut und Materialien nichts dafür, dass sich der Verfassungsgeber Grundpositionen einer subjektiven Auslegungstheorie zu eigen machen und den Richter auf einen bestimmten Methodenkanon festlegen wollte. • Die Frage nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine verfassungsadäquate Methodik wird damit zu einer Frage, auf die nur noch mit den Mitteln einer »objektiv-teleologischen Auslegung« eine Antwort gegeben werden kann – etwas ironisch könnte man hinzufügen: Auch der »Subjektivist« müsste einräumen, dass die Verfassung durchaus »klüger« sein kann, als es der Verfassungsgeber war. Der grundlegende Ansatz, der sich bei einer »objektiv-teleologischen Verfassungsauslegung« ergibt, ist die rechtliche Vorgabe, dass eine Methodik des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens der Zwecksetzungsprärogative des Gesetzgebers 593 gerecht werden muss. Verankert ist dieser Ansatz im Demokratieprinzip und im Gewaltenteilungsgrundsatz. Er ist gleichsam der »Probierstein«, an dem sich die Auslegungstheorien messen lassen müssen, bevor man auf ihrer Grundlage Methodenfragen weiter diskutiert.

593

Formulierung im Anschluss an BVerfGE 96, 375, 395.

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III. Recht – ein Steuerungsinstrument oder ein selbstreferentielles System? Wie schon festgestellt, verschränken sich im Streit zwischen subjektiven und objektiven Theorien ganz unterschiedliche rechtstheoretische und rechtspolitische Modelle mit z. T. ebenso unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Ausgangsannahmen. Konkreter formuliert, hängt die Suche nach dem »richtigen« Auslegungsziel von den Antworten auf folgenden vier Fragen ab: 1. Was ist Recht? – 2. Wie wird es erkannt? – 3. Wie wird es gewonnen? – 4. Welche Grenzen setzt das Gesetz der richterlichen Rechtserzeugung? Die entscheidenden Grundkontroversen des Methodenstreites liegen also in den unterschiedlichen Vorstellungen über die Steuerungsfunktion des Gesetzgebers einerseits und die Aussagekraft und Funktion des Gesetzestextes andererseits. Diese lassen sich vereinfachend auf folgende Grundmodelle zurückführen: 1. Recht als Schöpfung des »Volksgeistes« (Savigny) 2. Recht als »vernünftige« Ordnung (urspr. objektive Theorie) 3. Recht als eine vom Gesetzgeber geschaffene Ordnung 4. Recht als politisches Steuerungsinstrument und als »objektive« Ordnung Bereits diese Aufstellung legt aber auch die Vermutung nahe, dass man die Grundfrage nach dem »richtigen« Auslegungsziel nicht sinnvoll beantworten kann, wenn man die Problematik auf die Alternative subjektive oder objektive Auslegungstheorie verkürzt. Wie die überwiegende Zuordnung Savignys zu den »Subjektivisten« zeigt, verfehlen hier oft schon die im Meinungsstreit vorgenommenen Einordnungen den Kern der vereinnahmten theoretischen Aussage.

1.

Recht als Schöpfung des »Volksgeistes« (Savigny)

Recht war für Savigny nicht wesentlich das Ergebnis gesetzgeberischer Willensentscheidungen; »das Gesetz ist das Organ des Volksrechts«. 594 Es ist Schöpfung des »Volksgeistes«, sprich der Rechtswissenschaft. 595 Interpretation als »Reconstruktion des dem Gesetze

594 595

Savigny 1840, S. 39. Siehe Savigny aaO. S. 14 ff. u. 45 ff.

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innewohnenden Gedankens« 596 zielte deshalb nie auf die Absicht des Gesetzgebers, sondern auf Inhalt und Kontext des Textes. 597 »Wer ein Gesetz also interpretiert, muß den im Gesetz liegenden Gedanken nachdenken, den Inhalt des Gesetzes nachfinden«, heißt es schon in der Juristischen Methodenlehre von 1802/03. 598 Entsprechend wird die historische Auslegung auch nur als objektiver Vergleich der alten mit der neuen Rechtslage verstanden. 599 Auslegungsziel war für Savigny auch nie der »ursprüngliche Sinn« des Gesetzes. 600 Der »Grund des Gesetzes« liegt für ihn »streng genommen außer den Gränzen« der Aufgabe, »den Inhalt des Gesetzes zum Bewußtsein zu bringen«. 601 Der Gebrauch des allgemeinen objektiven Gesetzesgrundes »zur Auslegung des Gesetzes« sei »nur mit großer Vorsicht zulässig«. 602 Für Tatsachen, die »ein bloß subjektives Verhältnis zu dem Denken des Gesetzgebers haben«, heißt es dann aber mit aller Entschiedenheit: »müssen wir selbst den beschränkten Gebrauch gänzlich absprechen«. 603 Versucht man, die Position Savignys in den Theorienstreit zwischen Subjektivisten und Objektivisten einzuordnen, verkennt man Eigenständigkeit und Kern seiner theoretischen Aussagen und seines Rechtsverständnisses. 604 Beide Theorien stellen teleologische Auslegungselemente in den Mittelpunkt ihrer Interpretationstheorien. Für Savigny gehört aber die objektiv-teleologische Auslegung eindeutig nicht zu den »Grundregeln der Auslegung« 605 und noch eindeutiger verhält er sich zur subjektiv-teleologischen Auslegung; ihr spricht er, wie zitiert, »gänzlich« eine Gebrauchstauglichkeit ab. Gerade wenn Subjektivisten Savigny für ihre Position reklamieren, kann das also nur überraschen. Es macht m. E. aber auch bereits exemplarisch deutlich, wie unterschiedlich selbst bei eindeutig erscheinender Textlage die Meinungen darüber sein können, was ein Autor mit einem Text wirklich gemeint und gewollt hat. Savigny aaO. S. 213. Vgl. Savigny aaO, S. 216 f. 598 Savigny 1802/03, S. 18. 599 Savigny 1840, S. 214. 600 Dazu M. Frommel 1981, S. 32 f., gegen Gadamers Interpretation in »Wahrheit und Methode« 1990, I., S. 309. 601 Savigny 1840, S. 216 f. 602 Savigny 1840, S. 220. 603 Savigny 1840, S. 221. 604 Ausführlich und Nachweise bei S. Meder 2004, S. 135 ff. 605 Zum Kanon siehe Savigny 1840, S. 212 ff. 596 597

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

2.

Recht als »vernünftige« Ordnung (urspr. objektive Theorie)

Wird die objektive Theorie beschrieben und diskutiert, steht zu Recht auch deren schon 1851 von H. Thöl formulierte These zur Debatte, »dass das Gesetz einsichtiger sein kann, als der oder die Gesetzgeber«. 606 Wenn man in der aktuellen Diskussion diesen Gedanken als »auch kognitionswissenschaftlich drollige(n) These« charakterisiert, 607 scheint das witzig einleuchtend; man verbaut sich aber den Zugang zum Verständnis der theoretischen Hintergründe, aus denen die objektive Theorie erwachsen ist – und die dann auch die Ansatzpunkte für eine nicht nur ironisierende Kritik bilden. Eine Wurzel dieser Theorie ist die Formel vom »Besser-Verstehen«. Sie hat ihren Hintergrund in der Hermeneutik des deutschen Idealismus. 608 Es geht um den u. a. von Schleiermacher entwickelten Gedanken, dass jeder Text zwar als historisches Phänomen zu verstehen ist, ihm auf der anderen Seite aber auch ein objektiver Gehalt eigen ist. Ein Text ist also »nur zu verstehen aus der Totalität der Sprache« wie auch eine Rede nur »aus dem ganzen Leben, dem sie angehört«. 609 Diese Gedanken aufgreifend, hat dann H. Coing 610 von einer »Auslegung aus der Sachbedeutung« als viertem Kanon der Auslegung gesprochen. 611 Als Lehre der allgemeinen Hermeneutik hat er dieses Interpretationsprinzip zugleich verallgemeinert: »Wir werden hier zu der wichtigen Tatsache geführt, daß die Geisteswissenschaften es zwar zunächst mit Texten, mit Geisteswerken zu tun haben, die historisch entstanden sind und individuelle Schöpfungen individueller Geister darstellen, daß diese Texte aber zugleich überhistorisch sind, indem sie auf einen bestimmten Sachzusammenhang verweisen wollen. Ein philosophisches Werk will ja nicht nur die Gedanken eines philosophischen Autors ausdrücken; er will eine Wahrheit aussprechen«. 612

Aus heutiger Sicht kann dieser Text als Argument zu Gunsten der objektiven Theorie kaum mehr überzeugen: Gesetze werden nicht So bereits 1851 H. Thöl, zitiert nach S. Meder 2004, S. 121; siehe dort, S. 120 ff., auch zum Folgenden. 607 E. Picker 2012, S. 85 ff.; siehe auch Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 722, 796 ff. 608 Sie ist also nicht erst mit Radbruch üblich geworden, vgl. S. Meder 2004, S. 121. 609 F. Schleiermacher 1999, S. 78. 610 Siehe zu seiner Rezeption der Philosophischen Hermeneutik M. Frommel 1981, S. 41 ff. 611 H. Coing 1959, S. 15 f. 612 H. Coing 1959, S. 16. 606

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mehr um einer überhistorischen Wahrheit willen gemacht, sondern weil der Gesetzgeber konkrete politische Regelungsabsichten hat, es als Instrument seiner Zwecksetzungsprärogative einsetzt. Die Vorstellung der Theoretiker der objektiven Theorie – Binding, Wach und Kohler – von Recht und Gesetz war jedoch durchaus eine andere. 613 Recht wurde als »vernünftige« Ordnung angesehen, das Gesetz als der »vernünftige Wille« der Rechtsgemeinschaft. 614 Inwieweit Hegels Vorstellung des Rechts als »objektiver Geist« in dieser Theorie mitschwingt, kann hier auf sich beruhen, eindeutig sind aber die Anknüpfungen an Savignys »Volksgeist«. Er wird als entscheidendes Auslegungselement angesehen. 615 Gesetzesinhalt ist, was der »vernünftig auslegende Volksgeist« aus ihm entnimmt. 616

3.

Recht als eine vom Gesetzgeber geschaffene Ordnung

»Methodenfragen sind Machtfragen« – in zwei Varianten der subjektiven Theorie wird dieser Zusammenhang geradezu evident: in der Auslegungstheorie der NS-Zeit, die am Führerprinzip orientiert war (oben II. 1.), und im Absolutismus in der Bindung des Richters an den Monarchen (»suprema lex regis voluntas«). Auf Näheres kommt es für eine Analyse der Grundpositionen heute nicht mehr an. Festzuhalten ist aber das Scheitern eines Experiments im Übergang zu konstitutionellen Machtdifferenzierungen: Die im Frühkonstitutionalismus vielfach unternommenen Versuche, durch Kommentierungsverbote und Vorlagepflichten an Gesetzeskommissionen die Herrschaft des souveränen Gesetzgebers über das Gesetz und seine Interpretation als immerwährende Bindung an den Willen des Gesetzgebers aufrechtzuhalten, sind alle misslungen; in die Rechtsgeschichte sind sie als »Denkmäler gesetzgeberischer Naivität« eingegangen. 617 Von Bedeutung für die aktuelle Diskussion sind heute allein diejenigen theoretischen Ansätze der »subjektiven Theorie«, denen es um die Ausrichtung der Methodenlehre auf die Wertungsprärogative

613 614 615 616 617

Zur Übersicht vgl. K. Larenz 1991, S. 32 ff., S. Meder 2004, S. 124, 135 ff. K. Larenz 1991, S. 33. S. Meder 2004, S. 124, 135 ff. K. Binding 1885, S. 451. K. Engisch 1975, S. 93.

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des Gesetzgebers geht. Diese Ansätze haben sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts naturgemäß verschoben. P. Heck kämpfte mit seiner Interessentheorie zum einen gegen die Freirechtsschule und damit um die Bindung des Richters an das Gesetz und zum anderen gegen die Begriffsjurisprudenz und damit um eine Entbindung des Richters von den begriffsjuristischen Verengungen juristischer Beurteilungen auf das »rein Rechtliche«. Doch diese Schlachten sind längst geschlagen. Dass in Urteilen Werte- und Interessenkonflikte gelöst, entschieden oder vertagt werden, ist selbstverständliches Alltagsgeschehen der Rechtspraxis. Für die Rechtstheorie immer virulenter entwickelte sich dann aber die Frage, wer diese Wertungen vorzunehmen oder zu konkretisieren hat und wer die Maßstäbe setzt. Nicht, ob zu werten ist, ist das Problem, sondern die Kompetenzabgrenzung, die hier zwischen Rechtsprechung und Gesetzgeber vorzunehmen ist. Für die »subjektive Theorie«, wie sie etwa von Rüthers, Hillgruber u. a. 618 vertreten wird, hat hier die Methodenlehre eine klare und eindeutige Antwort zu geben, indem sie durch verbindliche methodische Regeln die richterliche Interpretation an die vom Gesetzgeber vorgegebenen Wertungen und intendierten Normzwecke bindet. Mit Rüthers’ Worten: »Wer wie die Obersten Bundesgerichte und die herrschende Lehre auf die Erforschung des historischen Normzwecks im Regelfall bewußt verzichtet, der will die Regelungsziele der Gesetzgebung entgegen den Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates gar nicht kennen lernen. Er weiß dann nicht einmal, wann er von den Regelungsabsichten der Gesetzgebung abweicht oder ihnen zuwiderhandelt (›Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.‹). Wer in diesem Sinne angeblich ›objektiv‹ auslegt, will betrügen oder betrügt sich selbst. Unter dem Etikett einer wissenschaftlichen Methode werden die Verfassungsgrundsätze der Gewaltentrennung und des Demokratieprinzips unterlaufen.« 619

4.

Recht als politisches Steuerungsinstrument und als »objektives« Ordnungssystem

Eine genauere Analyse der Rechtsprechungspraxis, die diese Feststellungen konkret belegen würde, gibt Rüthers nicht. Man kann diesen 618 619

U. a. Looschelders/Roth1996, S. 45 ff.; M. Hensche 2001, S. 373 ff. Rüthers JZ 2006, S. 58.

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Feststellungen auch leicht eine nahezu unübersehbare Zahl von Entscheidungen entgegenhalten, in denen sich die Obersten Bundesgerichte mit der Entstehungsgeschichte auseinandersetzen. 620 Positionen, die, der älteren, rein objektiven Theorie entsprechend, die Heranziehung von Gesetzesmaterialien grundsätzlich ablehnen, spielen heute auch keine Rolle mehr: Vertreten wird die objektive Theorie seit langem nur noch in Gestalt der »vermittelnden« Theorie. Formuliert wurde sie insbesondere von K. Larenz. Seine Ausgangsthese lautet: »Jeder der beiden Theorien liegt eine Teilwahrheit zugrunde; daher kann keine ohne Einschränkung akzeptiert werden.« 621 Maßgebend könne »nur die Ermittlung des heute rechtlich maßgeblichen, also eines normativen Sinnes des Gesetzes sein.« Dieser könne aber »keinesfalls« unabhängig von den Regelungsabsichten des Gesetzgebers festgestellt werden. 622 Das heißt, es wird prinzipiell eine doppelte Perspektive eingenommen: Recht als die heute »vernünftige« Bedeutung des normativen Gesetzessinnes und Recht als politisches Steuerungselement, das von der Zwecksetzungsprärogative des Parlaments her auszulegen ist.

5.

Zwischenergebnis

Weder die »vermittelnd objektive« Theorie noch der Befund, dass die Rechtsprechung nun keineswegs grundsätzlich »auf die Erforschung des historischen Normzwecks im Regelfall bewußt verzichtet«, ist für die »Subjektivisten« allerdings entscheidend. Wesentlich bleibt für sie, dass gerade auch die »vermittelnde Theorie« dem Richter eine »Freiheit der Methodenwahl« einräumt und somit einen demokratisch illegitimen Entscheidungsspielraum. Und in der Tat gilt für sie: »Die Rationalität der Methodenwahl ist ein ungelöstes Problem.« 623 – Eine Methodenlehre, deren unterschiedliche Operationen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können, nach der der Richter diese Operationen aber frei wählen kann, hebt sich schnell selbst auf. Entscheidend ist nicht mehr das methodische Verfahren, sondern das je-

Zur Information gebe man bei »juris« nur etwa die Suchbegriffe »Gesetzesbegründung« und »BGH«, »BVerwG« etc. ein. 621 K. Larenz 1991, S. 316. 622 K. Larenz 1991, S. 318. 623 G. Haverkate 1996, S. 20. 620

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weilige Sachargument. 624 Hält man den Gesetzessinn, der sich aus den Materialien ergibt, nicht mehr für angemessen, gibt die objektiv-teleologische Interpretation 625 dem Interpreten das Instrument an die Hand, stattdessen mit einer heute »vernünftigen« Bedeutung des normativen Gesetzessinnes zu arbeiten. Selbst eine eindeutige Regelungsabsicht des Gesetzgebers kann so überspielt werden. 626 Wenn demgegenüber eine »klare, in den Grundzügen verbindliche juristische Methodenlehre der Rechtsanwendung« – so Rüthers 627 – gefordert wird, entspricht dies einem Grundpostulat der Methodik. Doch nicht in der Zielsetzung, mit der Rüthers der historischen Auslegung die Funktion eines tragenden Interpretationsprinzips zuschreibt, liegt die Problematik dieses Ansatzes, sondern in der Frage, ob dieser Auslegungsaspekt diese Aufgabe auch leisten kann. Wenn die historische Auslegung, d. h. die Auslegung, die sich auf die Absicht des Gesetzgebers stützt, nicht nur als ein Element der Rechtsermittlung (unter anderen) missverstanden werden darf, sondern aus dieser Perspektive grundsätzlich der Inhalt einer Gesetzesnorm bestimmt werden muss, dann kann dieser Ansatz diese Funktion nur erfüllen, wenn man das »Recht« im Wesentlichen mit der vom Gesetzgeber geschaffenen Ordnung gleichsetzt. Die Phänomene des »Richterrechts« und die Praxis »konkurrierender Bindungsformen« haben jedoch gezeigt, dass Recht und seine Auslegung (d. h. die konkretisierenden »Ableitungsoperationen«) nicht mehr nur aus der Perspektive des Parlamentsgesetzes erfasst werden können. Aus heutiger Sicht fügen sich Begriffe wie der des »Volksgeistes« kaum noch in gegenwärtige Theoriezusammenhänge ein. Nichts anderes gilt für die Vorstellung, angesichts der dem Gesetz innewohnenden Vernünftigkeit sei auch die Vernünftigkeit seiner Auslegung kein grundsätzliches Problem. Andererseits ist die Rechtsordnung ein »systemisches Gefüge« (Kap. 19 I. 2.). »Recht« ist nicht nur ein Produkt des Gesetzgebers, sondern ein Produkt des Rechtssystems, das alle an Rechtsetzung, Rechtsprechung, Rechtsumsetzung und Auslegung beteiligten Subsysteme umfasst und das nur als Gefüge partieller, mehr oder minder kohärenter Strukturen erfasst werden kann. Insoweit führt zwar kein direkter Weg vom »Volksgeist« Savignys 624 625 626 627

Siehe auch hier Haverkate, aaO. Zu dieser ausführlicher unter V 2. b. Vgl. die oben, Kap. 17 V., besprochene BAG-Entscheidung BAGE 137, 275–291. JZ 2006, S. 53.

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zur aktuellen Diskussion. Über die (autonome!) Funktion, die er der Rechtswissenschaft zugewiesen hatte, 628 führt ein solcher Weg aber sehr wohl zu der Funktion, mit der in diesem Buch immer wieder die Bedeutung von »Interpretationsgemeinschaften« herausgestellt wird. Für die folgenden Erörterungen bedeutet dies: Die Methodik kann an dem Umstand nicht vorbeigehen, dass »Recht« auch als eine sich evolutionär entwickelnde Ordnung zu verstehen ist. 629 Sie darf deshalb aber die Zwecksetzungsprärogative des Gesetzgebers nicht zum Spielball freier Methodenwahl machen. Es bedarf also Regeln, die diese Freiheit begrenzen. Dabei kann es aber nicht darauf ankommen, diese Regeln am Ideal des für eine Methodenlehre Wünschbaren auszurichten. Entwickeln und bestimmen lassen sich solche Regeln deshalb am besten in einer kritischen Auseinandersetzung mit den Ansätzen der subjektiven Theorie. Denn Maßstab können die Absichten des Gesetzgebers nur insoweit sein, als sie in der Gesetzgebungs- und Rechtsprechungspraxis als solche auch erkennund feststellbar sind. Auch bei dem Problem, hier eine methodische Grenzlinie zu fixieren, werden wir also wiederum auf den in der Diskussion um subjektive oder objektive Auslegung oft übersehenen Umstand stoßen, dass Methodenfragen auch erkenntnistheoretische Fragen sind.

IV. Die Absicht des Gesetzgebers – zur Problematik und Tauglichkeit der historischen Auslegung Sicher hat es einen nahezu unwiderstehlichen Reiz, eine Methodenlehre aus der Idee eines klaren Systems von Grundprinzipien und Regeln heraus zu konstruieren und zu entwickeln. Diese Regeln müssen dann freilich in der Praxis als Handwerksregeln auch den Zugewinn an Berechenbarkeit erbringen, den sie versprechen; sie dürfen keine Methodensicherheit vorgeben, die es nicht gibt, und keine Auslegungsmaximen zugrunde legen, die nur allzu kurze theoretische Beine haben. – Skizzieren wir also zunächst die Ansätze der »historischen Auslegung«, auf denen Rüthers seine Methodenkonzeption aufbaut (1.) und fragen in zwei weiteren Schritten, ob und inwieweit

628 629

Savigny 1840, S. 14 ff.; 45 ff. Kap. 26 V.

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diese Ansätze auf hinreichend tragfähigen theoretischen Annahmen beruhen (2.) und inwieweit sie die Gesetzgebungspraxis adäquat zu erfassen vermögen (3. u. 4.). Das primäre Ziel liegt aber nicht in der kritischen Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen, sondern darin, möglichst konkret zu analysieren, auf welche Befunde sich die Methodenlehre überhaupt stützen kann, wenn sie mit dem Argument des Willens oder der Absicht des Gesetzgebers arbeitet. Die Grenzen einer genetischen Auslegung sind also generell zu thematisieren.

1.

Rüthers’ Methodenkonzeption

Die Kontroverse zwischen subjektiver und objektiver Theorie wird oft auch mit der Frage umschrieben, ob es für die Auslegung entscheidend auf das »entstehungszeitliche« oder nur auf das »entscheidungszeitliche« Verständnis des Gesetzes ankommt. Rüthers setzt an die Stelle eines solchen »Entweder-Oder« ein Stufenmodell der Rechtsanwendung. 630 Die erste Stufe umfasst das Auffinden der einschlägigen Normen und die Gesetzesauslegung im engeren Sinne. In der zweiten Stufe – im Anwendungszeitpunkt – ist dann zu prüfen, ob der Normzweck noch gültig ist oder ob, etwa wegen grundlegender Veränderungen der Sach- oder Rechtslage, eine richterliche Rechtsfortbildung (»Ersatzgesetzgebung«) geboten ist. 631 Von Bedeutung ist für unseren Gedankengang zunächst nur die erste Stufe: der Normzweck als Auslegungsziel. Was ist der Normzweck und wie hat der Richter ihn zu ermitteln? Für Rüthers steht hinter jeder Norm »ein rechtspolitischer Gestaltungswille des Normgebers, der auf bestimmte Zwecke und Ziele gerichtet ist«. Dieser Normzweck wird mit der Normsetzung verbindlich. 632 In der Konsequenz dieses Ansatzes kommt der Entstehungsgeschichte des Gesetzes und seiner Einzelnormen zentrale Bedeutung für die zutreffende Rechtsanwendung zu. »Wer einen Text zutreffend verstehen will, muß danach immer zuerst versuchen, dessen Entstehung zu verstehen, also zu ermitteln, was den Autor des Textes veranlaßt hat, seine Botschaft, beim Gesetz ein Gebot, zu formulieren. Jede Auslegung ist also in der ersten Stufe eine historische Forschungsauf630 631 632

B. Rüthers JuS 2011, 865, 867 f.; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 730 b ff. B. Rüthers JuS 2011, 865, 867 f.; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 730 c ff. Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 718.

486 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

gabe«. 633 Gerichtet ist diese Aufgabe darauf, »den vom Autor mit dem Normtext verbundenen Sinn und Zweck zu rekonstruieren«. Das kann zwar »oft nicht mit der erstrebten Genauigkeit gelingen. Wegen der vielfältigen Materialien, die mit Normsetzungsverfahren regelmäßig verbunden sind, sind aber in den meisten Fällen wichtige und verläßliche Informationen über den verfolgten Normzweck zu erlangen.« 634 Unverzichtbar sei die »historische Auslegung« – im sonst oft üblichen Sprachgebrauch: die genetische Auslegung 635 – aus drei Gründen 636: 1.

2.

3.

Oft gibt die Entstehungsgeschichte über den genauen Regelungszweck einer Norm die verlässlichere Auskunft als der Wortlaut oder die systematische Stellung. »Der zweite Grund liegt in der Funktion der historischen Auslegung als Abgrenzungsinstrument von Auslegung und Rechtsfortbildung. Durch Auslegung kann kein anderer Gebotsgehalt einer Norm ermittelt werden als der, den die Gesetzgebung hineingelegt hat.« »Die historische Auslegung erweist sich schließlich als ein entscheidendes Kriterium der Methodenehrlichkeit. Nur die versuchte Aufklärung der Entstehungsgeschichte und des historischen Normzwecks schafft die mögliche Klarheit über einen objektiv vorgegebenen Gebotsinhalt.«

Wenn es im Folgenden darum gehen wird, die Ansätze kritisch zu analysieren, dann stehen, wie gesagt, nicht die Zielsetzungen zur Diskussion: die Ziele der Methodenehrlichkeit und der Methodenklarheit und das noch näher zu begründende Gebot, dass der Richter dort, wo »die Entstehungsgeschichte über den genauen Regelungszweck einer Norm die verläßlichere Auskunft als der Wortlaut oder die systematische Stellung« gibt, dieses Auslegungsergebnis nicht unberücksichtigt lassen darf. Die Probleme, die wir zu erörtern haben, liegen auf der Ebene der Verlässlichkeit, Aussagekraft und Erkennbarkeit der Entstehungsgeschichte. Die Kontroverse subjektive ver-

B. Rüthers, JZ 2006, 53. 58; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 787. Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 788. 635 Unter der »historischen Auslegung« wird seit Savigny oft nur der Vergleich zwischen der jetzigen und der früheren Rechtslage verstanden. 636 Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 792 ff. 633 634

487 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

sus »vermittelnd objektive« Theorie muss sich zunächst einmal ihrer Tatsachengrundlagen vergewissern: Geben Gesetzgebungs- und Begründungspraxis wirklich »in den meisten Fällen wichtige und verläßliche Informationen über den verfolgten Normzweck« 637 oder ist die Entstehungsgeschichte im Gegenteil meist nur von begrenzter Aussagekraft? – Wird Auslegung entscheidend als »eine historische Forschungsaufgabe« 638 verstanden, führt das eben auch zum klassischen Problem aller Historiker: Können wir wirklich wissen, wie es wirklich gewesen ist? Inwiefern können wir uns denn sicher sein, dass die von Rüthers geforderte Rekonstruktion des vom Autor mit dem Normtext verbundenen Sinnes und Zweckes nicht doch nur wesentlich eine Konstruktion aus den Vorverständnissen des Interpreten ist? An Methodensicherheit und -ehrlichkeit wäre dann wenig gewonnen.

2.

Kritik der erkenntnistheoretischen Ausgangspositionen

Für Rüthers ergibt sich die theoretische Notwendigkeit seiner »historischen Auslegung« nicht nur – verfassungsrechtlich – aus dem Demokratiegebot und dem Gewaltenteilungsgrundsatz, sondern auch aus seiner erkenntnistheoretischen Position, durch die er sich der philosophischen Hermeneutik verpflichtet sieht. »Dort«, so sein Ansatz, »gilt ein fundamentaler Grundsatz, der in der Methodendiskussion der Juristen bisher kaum beachtet wird: »Einen Text verstehen, das setzt voraus, die Frage oder die Lage zu verstehen, auf die der Text eine Antwort war.« 639 Er zitiert mit diesem Satz den englischen Philosophen und Historiker R. G. Collingwood und nimmt zugleich ausdrücklich auf Gadamers Grundlagenwerk »Wahrheit und Methode« Bezug. 640 Rüthers erreicht über diesen Satz auch eine scheinbare innere Schlüssigkeit seiner Konzeption. Denn wenn dieser Satz als fundamentaler Grundsatz aller Auslegung gilt, fehlt es der bekämpften »objektiven Theorie« bereits an der Grundvoraussetzung dafür,

Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 788. B. Rüthers, JZ 2006, 53, 58; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 787. 639 Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 787.; vgl. auch Rüthers JZ 2006, 58. 640 AaO. Fn. 1059: »Vgl. R. G. Collingwood, Denken. Eine Autobiographie, Stuttgart 1955. S. 30 ff.; H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 6. Aufl., Tübingen 1990, S. 368 ff., 375 ff.« 637 638

488 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

einen Text zutreffend verstehen zu wollen und zu können. Die Frage ist nur: Ist dieser Ansatz stimmig? a. Ging es bei dem im vorigen Abschnitt bereits zitierten Text von Coing um die (durchaus nicht unproblematische) These des zugleich überhistorischen Gehaltes eines jeden Textes, so liegt doch in seiner Fortsetzung eine überzeugende Begründung für die Selbstverständlichkeit einer »objektiven Auslegung«: »Ein philosophisches Werk will ja nicht nur die Gedanken eines philosophischen Autors ausdrücken; er will eine Wahrheit aussprechen. Der einzelne Satz kann infolgedessen sowohl aus dem inneren Formzusammenhang heraus wie aus seiner sachlichen Bedeutung heraus, – aus dem, was er meint, interpretiert werden: die Tragödie z. B. als Kunstwert bestimmter Struktur, aber auch als Aussage über den Menschen, der wissenschaftliche Satz als Teil eines individuellen Systems, aber auch als Erkenntnisaussage. Es ist von vornherein deutlich, daß diese Interpretation auch dann möglich ist – ob ein solches Vorgehen sinnvoll ist, ist eine andere Frage –, wenn man von der Person des Autors ganz absieht, wenn man also die Frage der Genese, der historischen Entstehung dieses Satzes, ganz dahingestellt sein läßt. Die Möglichkeit dieser Auslegung aus dem Sachzusammenhang heraus zeigt uns jedenfalls, daß ein Geisteswerk, ein Satz, der einen Gedanken ausspricht, selbständig angeeignet werden kann, ohne daß man dabei auf die Person des Autors, die historischen Umstände, aus denen es erwachsen ist, zurückgreifen muß.« 641

Der Grundtatbestand ist eigentlich auch ganz einfach: Wir werden in eine Sprache hineingeboren und verstehen sie, auch ohne ihre Etymologie zu kennen. Die Interpretationen der Gesänge Homers, der Bücher der Bibel, der Digesten haben Jahrhunderte unserer Kultur geprägt, obwohl keiner der Interpreten jemals wirklich sicher wissen konnte, auf welche Fragen zu welchem tatsächlichen historischen Zeitpunkt welche Autoren oder Kompilatoren mit ihren Texten eine Antwort gegeben haben oder geben wollten. Jede Kultur hat ihre Texte, über deren Autoren meist nichts oder jedenfalls nichts Genaues überliefert ist, legt sie aus, entnimmt ihnen Antworten auf Fragen, die man für wichtig hält, und interpretiert sie auf diese Weise immer wieder neu oder doch etwas anders als zuvor. Entgegen einer allzu vordergründigen Ironie ist es so auch durchaus sinnvoll, einen Text für klüger zu halten als seinen Autor. Kein Geringerer als Kant hat das im Hinblick auf seine Platon-Lektüre mit der Anmerkung getan, 641

H. Coing 1959, S. 16.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

»daß es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn so gar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte.« 642 Zu den Texten gehören auch ihre Interpretationen. Juristische Texte losgelöst von ihren Interpretationstraditionen interpretieren zu wollen, macht nur unter sehr speziellen wissenschaftlichen Fragestellungen Sinn. Jedes neue Problem, das ein Rechtssystem mit einem Normtext löst, jede bislang noch nicht gestellte Frage, die es mit der Norm beantworten muss, bedeutet, dass dieser Norm eine größere Informationsdichte und eine größere Problemlösungskapazität zuwachsen. Vereinfacht: der § 242 BGB oder § 34 BauBG sind heute »klüger«, als sie der Gesetzgeber seinerzeit geschaffen hat. b. Es kann mithin nicht überraschen, dass der »fundamentale Grundsatz«, den Rüthers von Collingwood übernommen hat, gerade aus der Sicht der Philosophischen Hermeneutik auch fundamental kritisiert wurde. »Collingwoods Theorie des Re-enactment«, schreibt Gadamer, »vermeidet zwar die Partikularität der Psychologie, aber die Dimension der hermeneutischen Vermittlung, die in allem Verstehen durchschritten wird, entgeht ihm dennoch.« 643 Und es liest sich wie eine unmittelbare Kritik an Rüthers’ Theorie der historischen Auslegung, wenn Gadamer an anderer Stelle zu Collingwoods Denken ausführt: »Unser Verständnis schriftlicher Überlieferung als solches ist nicht von der Art, daß wir die Übereinstimmung zwischen dem Sinn, den wir in ihr erkennen, und dem Sinn, den ihr Urheber dabei im Auge hatte, einfach voraussetzen können. Wie das Geschehen der Geschichte im allgemeinen keine Übereinstimmung mit den subjektiven Vorstellungen dessen zeigt, der in der Geschichte steht und handelt, so reichen auch im allgemeinen die Sinntendenzen eines Textes weit über das hinaus, was der Urheber desselben im Sinne hatte. Die Aufgabe des Verstehens geht in erster Linie auf den Sinn des Textes selbst.« 644

Gadamer besteht gegenüber Collingwood darauf, »daß die Frage, um deren Rekonstruktion es geht, zunächst nicht die gedanklichen Erleb642 643 644

Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 314, B 370. Gadamer 1986, Bd. II, S. 397. Gadamer 1990, Bd. I, S. 378.

490 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

nisse des Verfassers, sondern durchaus nur den Sinn des Textes selbst betrifft.« »Es ist die Verführung des Historismus, in solcher Reduktion« – gemeint ist »die Rekonstruktion dessen, was der Verfasser tatsächlich im Sinne hatte« – »die Tugend der Wissenschaftlichkeit zu sehen und im Verstehen eine Art von Rekonstruktion zu erblicken, die die Entstehung des Textes gleichsam wiederholt.« 645 c. Im Juristischen wäre es die Tugend des »denkenden Gesetzesgehorsams« des Subjektivisten, der sich bemüht, »den vom Autor mit dem Normtext verbundenen Sinn und Zweck zu rekonstruieren«. 646 Doch was ist gemeint, wenn man von »Rekonstruktion« spricht? Mit der älteren Hermeneutik konnte man noch vereinfacht davon ausgehen, dass die Texte einen ursprünglichen Sinn haben, welchen der Richter durch kongeniale Anverwandlung auch herausarbeiten kann. Doch heute können wir unter dem Begriff wohl nur noch eine Bezeichnung für in sich hochkomplexe kognitive Vorgänge verstehen, deren Ergebnis – eben die Rekonstruktion – immer auch ein Produkt der Kontexte ist, mit denen der Rekonstruierende sie erarbeitet hat. – Das Problem ist bereits eingehender thematisiert worden und soll hier nur, stark vereinfachend, nochmals am Beispiel einer archäologischen Rekonstruktion veranschaulicht werden. Deren Güte wird natürlich weitgehend von den Erfahrungen und dem Wissen des Archäologen abhängen. Wie viel sie mit dem Apollotempel zu tun hat, der da vor ca. 2400 Jahren tatsächlich stand, wird aber entscheidend von dem Material und den Informationen abhängen, die der Archäologe an der Ausgrabungsstätte vorgefunden hat. Und nicht anders muss auch jede historische Auslegung unabdingbar die Frage beantworten, mit welchem Material und mit welcher substantiellen Informationsdichte der Richter rechnen kann, wenn er die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes oder einer Norm befragt, um die Absicht des Gesetzgebers zu rekonstruieren.

3.

Die Befunde – Gesetzgebungs- und Begründungspraxis

Über den Spielraum, den der Richter in der Auslegung eines Gesetzes hat – man kann auch sagen: über Spielraum und Pflicht zur ergän645 646

Gadamer aaO. Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 788.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

zenden Rechtserzeugung – entscheidet zunächst und primär der Gesetzgeber selbst. Zwar kann auch der klarste Gesetzestext nichts daran ändern, dass die Anwendung einer abstrakt-generellen Regelung auf den konkreten Einzellfall auch durch den klarsten Text nicht mit voller Sicherheit programmierbar ist. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ein klares Regelungskonzept und ein präziser Gesetzestext auch zu einer prinzipiell stärkeren Regelbindung führen. Mit den Worten Savignys: Der Erfolg einer Auslegung »kann in verschiedenen Graden erreicht werden, und es ist diese Verschiedenheit abhängig theils von der Kunst des Auslegers, theils aber auch von der Kunst des Gesetzgebers, in dem Gesetze viel von sicherer Rechtskenntnis niederzulegen, also von diesem Punkte aus das Recht so viel als möglich zu beherrschen. Es besteht also hierin eine Wechselwirkung zwischen trefflicher Gesetzgebung und trefflicher Auslegung, indem der Erfolg einer jeden durch die andere bedingt und gesichert ist«. 647 a)

Über die Gründe für unpräzise und unklare Gesetze

Lassen wir den radikalen Sprachskeptizismus, der eine Gesetzesbindung schon im Ansatz für eine Illusion hält, beiseite und gehen von dem Grundsatz aus: je genauer und präziser der Gesetzgeber, desto stärker die Gesetzesbindung, so stellt sich die Frage, warum der Gesetzgeber gleichwohl vielfach die Regelungstechniken wählt, durch die der Rechtsprechung dazu wechselwirkend eine Kompetenz zur ergänzenden Rechtserzeugung eingeräumt wird. aa) Gründe juristischer Systemrationalität Von den Interpretationsspielräumen abgesehen, die aus handwerklichen Fehlleistungen des Gesetzgebers folgen, sind hier die bekannten Regelungsmuster zu nennen: allgemeine Zielvorgaben, unbestimmte Rechtsbegriffe, offene Tatbestände und Generalklauseln. Und es sind vielfältige Gründe, die durchaus solche der juristischen Rationalität sind, die hier zur Erklärung angeführt werden können. Es ist ein unhintergehbares Faktum, dass auch gesetzestechnisch ausgefeilte Detailregelungen weder Auslegungsprobleme noch Lücken ausschließen können. Oft gilt das Gegenteil: Je detaillierter eine geSavigny 1840, Bd. I, S. 216 als Resümee seines Kapitels über die »Grundregeln der Auslegung«; Hervorh. d. Verf.

647

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setzliche Regelung ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf den konkret zu entscheidenden Fall nicht mehr passt, mithin zwangsläufig Interpretationsspielräume öffnet. (Savigny meinte mit »trefflicher Gesetzgebung« denn auch nicht die Detailversessenheit etwa des pr. ALR, sondern eine treffende juristische Begrifflichkeit.) Oft fehlt es für eine präzisere Regelung aber auch an der dazu nötigen Praxiserfahrung: Ein Problemkomplex ist bislang gesetzlich nicht geregelt; da man nicht wie die Autobauer erst einmal eine Testserie in die Lebenswelt schicken kann, bleiben zunächst nur offene und vage Regelungen. ab) Gründe politischer Systemrationalität Die Frage, warum ein Gesetz so und nicht anders ausfällt, ist jedoch nicht nur – und nicht einmal in erster Linie – eine Frage juristischer Rationalität. Der Gesetzgeber ist primär Teil des politischen Systems, Gesetzgebung also Teil des politischen Prozesses. Die Gesetzgebung folgt also wesentlich den Gründen politischer und nicht juristischer Rationalität. Analysiert man aus dieser Perspektive die Rolle, die der »Absicht des Gesetzgebers« für das Bindungsproblem zukommt, wird auch das prinzipielle Problem deutlich: Sinn und Zweck eines Gesetzes und die (immer auch politische) Absicht des Gesetzgebers werden auf unterschiedlichen Ebenen generiert. Nutzt man eine systemtheoretische Beschreibung, wird diese Differenz augenfällig: Ein Gesetz wird zwar im Code des Rechtssystems – Recht/Unrecht – geschrieben (Kap. 16 IV.), die mit ihm verbundenen Absichten werden aber nicht durch die Rationalität des Rechtssystem, sondern durch die des politischen Systems bestimmt. Und deren Rationalität ist an der Gewinnung und Sicherung von Chancen im politischen Machtkampf orientiert. Ob ein Gesetz gemacht oder novelliert wird und wieweit man dabei ins Detail geht, hängt nicht von der Einschätzung juristischer Notwendigkeit ab, sondern von der Einschätzung, ob ein gesetzgeberisches Tätigwerden politisch opportun ist. Ein konkretes Beispiel abstrakt geschildert: Ein Mitglied des Kabinetts besucht ein Oberstes Bundesgericht. In einer Diskussion mit Richtern weisen die Kollegen eines Senats darauf hin, dass für das Gesetz G ein dringender Novellierungsbedarf bestehe, da es in keiner Weise mehr die Rechtslage widerspiegele. Es kam aber nicht zu einer juristischen Diskussion. Das Kabinettsmitglied folgte der politischen Rationalität, zuckte mit den Achseln und verwies nur darauf, dass eine Änderung von Gesetz G im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen sei. Das muss nicht das letz493 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

te Wort gewesen sein, aber der Grund für eine Novellierung wird auch dann nicht die rechtliche Notwendigkeit sein, sondern ein Umstand X, der politisch ein Tätigwerden als ratsam oder gar als notwendig erscheinen lässt. Diese Beobachtung ist durchaus verallgemeinerungsfähig: Auch wenn juristische Rationalität ein Tätigwerden des Gesetzgebers gebietet, sind es in der Regel Gründe politischer Rationalität, die darüber entscheiden, ob eine Normierung auf die Agenda gesetzt wird oder nicht. Im Gegensatz zum Rechtssystem, das entscheiden muss und durch seine dezentrale Organisationsstruktur darauf angelegt ist, jederzeit – gegebenenfalls im Eilverfahren und durch einen Einzelrichter – selbst politisch brisante Fragen auch entscheiden zu können, hat das politische System nahezu immer auch die Option, nicht zu entscheiden. In dieser Option ist dann natürlich auch immer die Möglichkeit eingeschlossen, gesetzliche Regelungstechniken zu wählen, die nicht nur Details, sondern auch wesentliche Fragen offen lassen. Gerade wenn man mit der Interessentheorie die »Rechtsnorm als Resultante eines Interessenkonflikts« (s. u.) versteht, werden die Gründe augenfällig: Hat man sich auf eine Grundsatzreglung geeinigt, ergeben sich daraus die weiteren Detailregelungen keineswegs automatisch. Der Satz vom Teufel, der im Detail steckt, kommt nicht von ungefähr. Jede Konkretisierung bedeutet also meist auch die Notwendigkeit, nach neuen politischen Kompromissen zu suchen, bindet jedenfalls politische Entscheidungskapazitäten. In den Gesetzesbegründungen heißt es dann etwa: »Die Entscheidung darüber, in welchen Fällen […] kann weiterhin der Rechtsprechung überlassen werden.« 648 Oder: »Aufgrund der Vielgestaltigkeit möglicher Fallkonstellationen muss es aber letztlich der Rechtsprechung überlassen bleiben, weitere Einzelheiten im Rahmen der konkreten Rechtsanwendung zu entwickeln.« 649 Ob es für solche Delegationen an die Rechtsprechung gute juristische Gründe gibt, kann aus den Materialien meist nicht mit hinreichender Sicherheit entnommen werden. Man wird aber sicher nicht erwarten können, dass ein Regelungsverzicht damit begründet wird, dass man sich in der Koalition nicht habe einigen können oder den Streit mit bestimmten Interessengruppen gescheut habe. Für die richterliche Auslegungskompetenz bedeutet dies: 648 649

Als Beispiel: BT-Drs. 16/3945, S. 50. Als Beispiel: BT-Drs. 17/9695, S. 9.

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

Hat der Gesetzgeber selbst die Rechtsentwicklung an die Rechtsprechung delegiert, hat er insoweit auch einen Gestaltungsauftrag erteilt. Die richterliche Entscheidungsnorm ist dann die Resultante einer eigenen Interessenabwägung. Es gibt dafür keinen konkreten Normzweck, und wer zur Schließung dieser Lücke auf die Absicht des Gesetzgebers zurückgreift, wird dann oft allenfalls nur einen mehr oder minder allgemeinen Abwägungsrahmen ermitteln können. Wie die Regelung selbst, unterliegen auch die zur Begründung geäußerten Absichten und Überlegungen nicht primär juristischer, sondern politischer Rationalität. Neben öffentlich geäußerten Absichten steht ein kaum entwirrbares Geflecht von nur in einem inneren Kreis diskutierten, kurzfristig taktischen und langfristig strategischen Absichten. Oder Absichten, die man nur vermuten kann, wenn sich etwa ein Minister der Juristen aus den Konzernzentralen von Energieversorgern zur Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes bedient oder Großkanzleien zur Schaffung von Regelungen zur Finanzmarktregulierung. Absichten dieser Art sind gerade nicht dazu bestimmt, öffentlich zu werden. b)

Die Gesetzgebungsmaterialien in der Gesetzgebungspraxis

Bevor der zünftige Historiker mit der Auswertung seiner Quellen beginnt, verlangen die methodischen Regeln historischer Auslegung eine Vorphase: die Quellenkritik. Wie verlässlich sind die Quellen, welche Funktion hatten sie, mit welchen Absichten wurden sie verfasst? 650 Objektivisten haben hier ihre Position immer mit den Argumenten mangelnder Aussagekraft, Ehrlichkeit und Ergiebigkeit der Gesetzgebungsmaterialien begründet. Die Gegenthese, dass es eben doch möglich sei, »in den meisten Fällen wichtige und verläßliche Informationen über den verfolgten Normzweck zu erlangen«, 651 wäre also nicht nur zu behaupten, sondern auch zu begründen. 652 Konkret etwa: stand der Berichterstatter des zuständigen Ausschusses in einem wirtschaftlichen oder sonstigen Näheverhältnis zu Interessengruppen, die von dem Gesetz betroffen waren? 651 Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 788. 652 Das »Mysterium« Gesetzesmaterialien ist allerdings auch ein empirisch wenig bearbeitetes Feld. Von dem 2013 von H. Fleischer mit diesem Titel »›Mysterium‹ Gesetzesmaterialen« herausgegebenen Sammelband abgesehen, gibt es keine aktuellen Untersuchungen. Die folgenden Überlegungen stützen sich insbesondere auch auf den Beitrag von U. Seibert, der in diesem Band die »Gesetzgebungsmaterialien« in der 650

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

Der Gesetzgebungsprozess ist nach dem GG ein kompliziert gestuftes Verfahren der Abstimmung und Kommunikation zwischen den Verfassungsorganen und ihren Teilorganen sowie auch Außenstehenden, für die sich nähere Regelungen in den Geschäftsordnungen finden. Zu nennen sind hier etwa die Vorgaben der §§ 40 ff. der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien über die Unterrichtung des Bundeskanzleramtes, die »Interessenermittlung«, Beteiligungen u. a. von Verbänden und Fachkreisen sowie die Gestaltung der Gesetzesvorlagen der Bundesregierung. Gesetzesmaterialien sind insoweit zunächst also nichts anderes als Stellungnahmen der am Verfahren Beteiligten, mit denen sie ihre Interessen wahrnehmen. Authentizität hinsichtlich des späteren Gesetzesverständnisses können sie also nicht beanspruchen. 653 Sie sind genuin politische Mittel. (1.) Das gilt natürlich auch für den klassischen Bezugspunkt der subjektiven Theorie, die »amtliche« Begründung zum Gesetzentwurf. Pointiert, aber zutreffend und vor allem anschaulich beschreibt U. Seibert die »Begründung als politisches Marketinginstrument« und damit auch die Tatsache, dass die primäre Fokussierung dieser Quelle nicht die juristische ist: »Selbstverständlich sind Begründungen nicht neutral, sie grübeln nicht, zeigen keine Selbstzweifel, sie sprechen immer pro domo. Diese Texte stellen die vorgeschlagene Regelung stets positiv heraus, loben sich gewissermaßen selbst. Auch Gesetzgebungsvorhaben und die sie betreffenden Personen leben von Zuspruch und Anerkennung. Die Begründung dient der Werbung für das neue Produkt. Man wird die Bedeutung des Entwurfs mitunter auch werberisch übertreiben. Etwas ist z. B. tatsächlich schon lange herrschende Meinung auf der Basis des geltenden Rechts, das Gesetz möchte sich die ausdrückliche Regelung aber naturgemäß als Erfolg anheften und spielt den lediglich klarstellenden Charakter eher herunter. Die Begründung wird auch sehr sensibel auf unterschiedlichste Lesergruppen eingehen, insbesondere natürlich auf die Zielgruppen, die für die jeweilige politische Hausleitung oder Regierungsmehrheit von Bedeutung sind. Selbstverständlich werden ›Reizworte‹ für bestimmte politische Zielgruppen tunlichst vermieden, Befürchtungen, die im Zusammenhang mit einer Regelung bei einflussreichen Gruppen (z. B. Gewerkschaften) gehegt werden oder bereits von ihnen artikuliert worden sind, versucht man zu zerGesetzgebungspraxis aus seiner langjährigen Erfahrung als Leiter des Referats für Gesellschaftsrecht im Bundesministerium der Justiz thematisiert. 653 Näher Ch. Waldhoff 2013, S. 88 ff.

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

streuen. Die Begründung zu einer Entwurfsregelung wird womöglich mit etwas mehr sozialem Öl beträufelt bei einer sozialdemokratischen Regierung und mehr mit marktwirtschaftlichen Argumenten unterlegt sein bei einer eher liberalen Regierung, wobei die geplante Gesetzesänderung inhaltlich identisch ist. Dies sind aber für den unbefangenen Leser kaum merkliche, feine Nuancen und insofern stellt die Kunst des Verfassens von Gesetzesbegründungen mit ihrem multiplen Empfängerhorizont ganz andere Anforderungen als das Verfassen von Gerichtsurteilen oder anwaltlichen Schriftsätzen.« 654

(2.) Wer in einer Gesetzesbegründung eine Erkenntnisquelle sucht, muss sich beim Lesen also immer bewusst sein, dass ein Regierungsentwurf »primär die politische Durchsetzbarkeit des Entwurfs und die politische Gestaltungsabsicht und nicht eine rechtsdogmatische wissenschaftliche Klärung der Rechtsfrage im Auge hat«. Was dann dazu führen kann, »dass Begründungstexte kompromisshaft sind« und dass das »politisch Schwierige oder Widerstände Provozierende […] im Gesetzestext wie auch in der Begründung sorgfältig verwischt und mit glättenden Formulierungen unauffällig gemacht« wird. 655 In Koalitionsregierungen verhindert meist schon die notwendige Ressortabstimmung, dass politisch eindeutige Absichten auch eindeutig und im Klartext dokumentiert werden. Das soll aber nicht heißen, dass den Gesetzgebungsmaterialien keine juristische Bedeutung zukommt. Zu nennen ist zuerst der generelle Einfluss der Begründung auf die spätere Auslegungspraxis: »Je vernünftiger und nachvollziehbarer die von ihr verbreitete Erläuterung der Neuregelungen ist, desto eher wird sie auch von den Kommentatoren und Rechtsanwendern aufgegriffen und kolportiert. Diese sind ja am Anfang, wenn es noch keine Rechtsprechung gibt, dankbar, einen ersten Anhaltspunkt, eine erste zitierfähige Quelle zu haben. Die amtliche Begründung ist damit oft die erste Meinung in der Kette der zur herrschenden Meinung führenden Äußerungen.« 656 Sie regt aber auch zur Methode des Rosinenpickens an: »Jeder Gesetzesausleger, der ein Ergebnis herbeiargumentieren will und dem dafür die Begründung zupasskommt, wird diese begierig aufgreifen und als wichtiges,

U. Seibert 2013, S. 113 f. U. Seibert aaO. S. 119. 656 U. Seibert aaO. S. 117 mit der Anm.: »Konsequenterweise wird den Materialien deshalb auch oft eine größere Bedeutung bei jungen Gesetzen zugemessen, während sie bei alten Gesetzen verblasst; Sachs DVBI, 1984, 73.« 654 655

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

ja geradezu zwingendes Auslegungsmittel herausstellen.« 657 Es gilt ferner einige spezifische Absichten zu registrieren, für die eine Gesetzesbegründung eben auch genutzt wird. Sie kann etwa der »Ort für kühne Rechtsbehauptungen sein«, weil man »die Gerichte und die Wissenschaft auf einen bestimmten Weg und auf ganz neues Terrain lenken möchte«. 658 Eine »häufig anzutreffende Strategie« liegt für Seibert darin, »eine bestimmte gesetzliche Neuregelung in der Begründung als ›Klarstellung‹ zu bezeichnen. […] Die Neuregelung soll dadurch Rückwirkung erhalten, so dass man das alte Recht rückwirkend im Sinne der Neuregelung auslege oder es soll zumindest einer schon immer zum alten Recht bestehenden Auslegungsmeinung zum endgültigen Durchbruch verholfen werden«. Diese Technik erspare auch »umständliche Übergangsvorschriften, denn es gibt ja keinen Übergang von altem zu neuem Recht«. 659 Vorsicht kann wohl auch geboten sein, wenn in der amtlichen Begründung Dinge »klargestellt« werden, »die überhaupt nicht Gegenstand des Gesetzes sind«. – »Man will damit denen Futter geben, die sich in Aufsätzen, Schriftsätzen oder Urteilen genau auf diese Meinung berufen wollen. Sie werden diese Stelle freudig aufgreifen und zitieren. Genauso findet sich im Ausschussbericht mitunter eine Formulierung, die in etwa besagt, in den Beratungen sei die Frage xy erörtert worden, von einer Regelung des Komplexes habe man aber im Hinblick auf die geltende Rechtslage (die sodann affirmativ dargestellt wird) abgesehen. Auch so hofft man, Wissenschaft und Rechtsprechung auf die gewünschten Bahnen zu lenken.« 660 – Dieser quellenkritische Blick auf die Materialien mahnt: Den Gesetzgeber muss der Richter beim Wort nehmen, die Begründungen und Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren aber sollte er niemals unkritisch übernehmen.

4.

Über die Tauglichkeit der Gesetzgebungsmaterialien als Auslegungsgrundlage

Um keine Missverständnisse über die zentrale Fragestellung unserer bisherigen Auseinandersetzung mit dem »Mysterium« Gesetzes657 658 659 660

U. Seibert 2013, S. 117. U. Seibert 2013, S. 121. U. Seibert 2013, S. 122 m. N. U. Seibert 2013, S. 122.

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

materialien aufkommen zu lassen: Die Entstehungsgeschichte steht nicht als ein wesentliches Element der Auslegung zur Debatte, sondern als die Quelle, aus der der Richter die Regelungsabsicht des Gesetzgebers als das ihm vorgegebene Ziel seiner Gesetzesinterpretation zu entnehmen hat. Damit stehen auch die Bedingungen fest, die die Gesetzgebungsmaterialien prinzipiell erfüllen müssen: Die Ziele und Absichten des Gesetzgebers müssen in ihnen in aller Regel so klar und deutlich formuliert sein, dass sich aus ihnen auch hinreichend sichere Vorgaben für die Auslegung der konkreten Norm ableiten lassen. Nach den bisherigen Beobachtungen und Feststellungen kann man zwar schon im Grundsatz nicht erwarten, dass die Materialien Sinn und Zweck des Gesetzes prinzipiell gerade dann in einer größeren Klarheit zu Tage treten lassen, wenn der Gesetzestext selbst diese Klarheit vermissen lässt. Da hier die Tauglichkeit der Gesetzgebungsmaterialien als Auslegungsgrundlage jedoch sowohl als Grundsatzproblem der subjektiven Theorie als auch als Frage der Tauglichkeit als Auslegungselement erörtert werden soll, soll die Diskussion über die historische Auslegung und ihre Grenzen nicht nur über eine generelle These, sondern kann nur über eine Typologie inhaltlicher Befunde geführt werden. a)

Die gesetzliche Regelung als gesetzgeberischer Regelungszweck

Die subjektive Theorie bezieht ihre innere Schlüssigkeit aus einem Modell, das die Funktion von Gesetzen mit einem spezifischen Steuerungsmodell verbindet: Das Gesetz wird als Instrument verstanden, durch die Vorgabe von Entscheidungsmustern für typische Konfliktlagen die Entscheidung gesellschaftlicher Interessenkonflikte durch den Gesetzgeber auch inhaltlich zu steuern. In diesem Sinne hat Heck die immer wieder zitierte 661 Ausgangsthese der Interessentheorie formuliert: »Die Gesetze sind die Resultanten der in jeder Rechtsgemeinschaft einander gegenübertretenden und um Anerkennung ringenden Interessen materieller nationaler, religiöser und ethischer Richtung. In dieser Erkenntnis besteht der Kern der Interessenjurisprudenz«. 662

661 662

Vgl. Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 526. P. Heck 1914, AcP 112 (1914), S. 1 ff., 17.

499 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

Eine Auslegungstheorie, die ein Gesetz oder eine Rechtsnorm nur als Resultante eines Interessenkonflikts begreift, greift jedoch prinzipiell zu kurz. Ein Gesetz ist immer auch, wenn nicht zuerst, ein juristischer Text. Als solcher ist er eben vornehmlich als Resultante aus den Vorgaben des Rechtssystems zu verstehen: aus Rechtssprache, Gesetzgebungstechnik, vorhandenen Regelungsmustern, juristischer Dogmatik und dem Hypertext Recht. Normen transformieren keineswegs nur die Inhalte politischer Gestaltungsaufträge; der Gesetzeszweck besteht oft schlicht darin, für einen bestimmten Bereich oder ein bestimmtes Problem eine gesetzliche Regelung zu schaffen. Damit ist nicht primär das Phänomen der Alibi-Gesetzgebung angesprochen, sondern die Fälle, in denen in der Sache durchaus Interessenkonflikte geregelt werden, man diese im Gesetzgebungsverfahren aber nicht thematisiert. Man handelt nach dem Grundsatz: »Der Gesetzgeber schuldet – nichts als das Gesetz«. 663 Einem Gesetzgebungsreferenten geht es oft ähnlich wie dem Richter mit einem neuen Fall oder einem Kommentator: Er sucht ein Simile, das er mehr oder minder abschreiben kann. Zum Teil kompiliert man aus unterschiedlichen Vorlagen und hat das seit dem Mittelalter auch immer schon so getan. Auf der Ebene der Ländergesetzgebung werden Regelungen vielfach in gemeinsamen Kommissionen erarbeitet und mit dem Argument notwendiger Einheitlichkeit dann auch jeweiliges Landesgesetz. Eine andere Spielart zeigten die zahlreichen Fälle, in denen die neuen Bundesländer für ihre Gesetzgebung einfach Texte der in den alten Ländern geltenden Gesetze übernommen haben. Für die Wahl der Vorlage war dabei, so hatte man als Zeitzeuge den Eindruck, entscheidend, aus welchem »Partnerland« der zuständige Referatsleiter kam. Charakteristisch ist aber vor allem, dass die Quellen in den Gesetzgebungsmaterialien nicht genannt wurden. Um es am Beispiel des Thüringer Kommunalabgabengesetz vom 7. August 1991 (GVBl. S. 285) zu erläutern: Im Vorblatt zum Entwurf des ThürKAG (LT-Drs. 1/333) wird das »Problem« genannt: »In der geltenden Kommunalverfassung findet sich keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für das Erheben kommunaler Abgaben. Für die Kommunen, insbesondere für die Gemeinden, stellen Beitrags- und Gebühreneinnahmen jedoch einen

Vgl. zu diesem Grundsatz und zu seinen notwendigen Einschränkungen näher C. Waldhoff 2013, S. 78 ff.

663

500 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

wesentlichen Faktor der kommunalen Finanzwirtschaft dar. Es erscheint daher dringend geboten, den Gemeinden und Kreisen im Land Thüringen diese Einnahmequelle zu erschließen«. Unter der Überschrift »Lösung« wird dann nur ausgeführt: »Mit der Verabschiedung eines eigenen Thüringer Kommunalabgabengesetzes können den Gemeinden und Kreisen des Landes Thüringen in dem Umfang weitere Einnahmequellen erschlossen werden, wie es das Grundgesetz zuläßt.« 664 Es folgt als Entwurf der Text des ThürKAG. Einzelbegründungen werden nicht gegeben, wie gesagt, nicht einmal ein Hinweis darauf, dass es sich um einen – in diesem Fall aus Bayern – übernommenen Text handelt.

Anhaltspunkte für die inhaltlich »hinter der Normsetzung stehenden Motive« 665 gibt es also nicht. Allein äußerlich feststellbarer Zweck der Regelung ist der, eine Regelung zu schaffen. Hat man als Richter herausgefunden, bei wem der »Gesetzgeber« abgeschrieben hat, kann man zur Auslegung der Vorschriften des ThürKAG natürlich ergänzend die Begründung zum Bayerischen Kommunalabgabengesetz – BayKAG – heranziehen, wie es das OVG Thüringen auch getan hat. 666 Methodisch ist das aber keine subjektive, sondern eine (rechtsvergleichend) objektive Auslegung. b)

Gesetz als Resultante eines Interessenkonflikts – das Problem der Rekonstruierbarkeit des Normzwecks.

In der Regel steht hinter einem Gesetz freilich mehr als der Wille, mit einem Gesetz eine fehlende Regelung oder Eingriffsgrundlage zu schaffen, die, weil anderswo bewährt und vom Rechtssystem akzeptiert, schlicht übernommen wird. Gibt es also eine Begründung und kann man nach den inhaltlichen Absichten, nach dem »Regelungszweck« fragen, fällt der Blick dann als Erstes auf das im Vorblatt zum Gesetzentwurf zu nennende »Problem und Ziel« 667 und die Vorgabe, in der Begründung »die Zielsetzung und Notwendigkeit des Gesetzentwurfs und seiner Einzelvorschriften« darzustellen (§ 43 Abs. 1 Ziff. 1 GGO). Folgt man Rüthers’ These: »Maßgebend für die Feststellung des Regelungszwecks sind die hinter der Normsetzung stehenden Motive, die sich im Verfahren der Gesetzgebung durchLT-Drs. 1/333, S. 170. Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 789. 666 Vgl. Urteil vom 28. 10. 2013 – 4 KO 558/12 – juris, mit Bezug auf B. v. 08. 03. 2013 – 4 EO 369/11 – juris Rn. 46 ff. 667 Anlage 3 zu § 42 Absatz 1 GGO. 664 665

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gesetzt haben« 668, dann erscheint es auch nur folgerichtig, sich auf die Darstellung dieser mit dem Gesetz verbundenen Zielsetzungen zu konzentrieren. Eine solche Auslegung auf den Regelungszweck hin ist eine Argumentation aus dem Telos. Und darin liegt auch das entscheidende, zunächst zu erörternde Problem dieses Ansatzes. Werden die Zwecke als die »Wirkursachen hinter der Norm« 669 als »das eigentlich Entscheidende« betrachtet, werden »damit die Normen ›nur noch‹ als Mittel zum Zweck begriffen«. 670 Die Subjektivisten nehmen demgegenüber zwar in Anspruch, Sinn und Zweck des Gesetzes aus den Materialien präziser und »objektiver« bestimmen zu können als die Objektivisten. Aber ob es hier wirklich gravierende Unterschiede gibt, ist die eine Frage (1.). Die weitere Frage lautet dann, ob sich aus den gesetzgeberischen Zielsetzungen tatsächlich präzisere Auslegungsvorgaben gewinnen lassen als mittels einer objektiv-teleologischen Auslegung (2.). (1.) Man kann den Zweck eines Gesetzes zunächst sehr allgemein und im Singular bestimmen. Zum Beispiel, wie oben dargestellt, bei einem Kommunalabgabengesetz dahingehend, den Gemeinden und Kreisen Einnahmequellen zu erschließen. Ein paralleles Beispiel gab Heck: »Der Zweck eines jeden Steuergesetzes ist die Mittelbeschaffung für die Gemeinschaft.« Entscheidend ist freilich die Ergänzung: »Aber die Eigenart des einzelnen Gesetzes ergibt sich aus der Rücksicht auf die Steuerzahler.« 671 Wir müssten allerdings noch weitere Aspekte hinzufügen, die hier die konkrete Eigenart tatsächlich ausmachen: Rücksicht auf die Finanzmärkte, Nutzung der Steuergesetze als vielfältig einsetzbare Steuerungs- und Förderungsinstrumente, Steuergerechtigkeit, Praktikabilität der Steuererhebung, Harmonisierung innerhalb der EU etc. Wenn man die Rechtsnorm oder ein Gesetz als »Resultante eines Interessenkonflikts« bezeichnet, dann ist es diese Vielzahl von Interessen, Werten, Absichten und Zielsetzungen, die konkret die Eigenart des einzelnen Gesetzes ergeben. Will man eine Normsetzung vom Regelungszweck her erfassen, muss man sich also immer im Klaren sein, dass man es nicht nur mit 668 669 670 671

Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 789. G. Haverkate 1996, S. 35. G. Haverkate 1996, S. 36. P. Heck 1914, AcP 112 (1914), S. 13.

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

einer Vielzahl von Zwecken, Interessen, Prinzipien zu tun hat. Die Darstellung der Zielsetzungen wird in den Materialien auch kaum je vollständig sein; nicht allein, weil eine Gesetzesbegründung auch ein »politisches Marketinginstrument« 672 ist, sondern weil jeweils zunächst allgemein bezeichnete Interessen (der Arbeitnehmer, der Wirtschaft, der Vermieter, der Senioren usw.) sich bei jeweils genauerer Fokussierung in aller Regel wieder in unterschiedliche, oft gegenläufige Interessen aufspalten. Daraus ergibt sich ein erstes Fazit: Sinn und Zweck eines Gesetzes sind nie allein aus der Perspektive nur eines Normzweckes ableitbar. Zur Auslegung bedarf es aller Gesichtspunkte, die nach Lage der Dinge zu berücksichtigen sind, um Sinn und Zweck zu ermitteln. Die im »Vorblatt« formulierten Ziele sind im Übrigen meist so allgemein, dass sie auf der Hand liegen. Weil sie allgemein sind, kann man auch nicht davon ausgehen, dass sie bei der Interpretation von Einzelbestimmungen einen Vorrang beanspruchen können. Eine andere Wertung ist hier nur dann geboten, wenn ein Norminhalt konkret mit einem bestimmten oder mehreren Normzwecken begründet wird. Erst hier wird das subjektive Auslegungselement zum bestimmenden Argument, das nicht mehr ohne weiteres überspielt werden darf (s. u.). (2.) Für die zweite Frage ist der Zusammenhang zwischen Regelungszweck, Rechtsnorm und Auslegung dieser Norm zu klären, insbesondere ob hier der Rückgriff auf die gesetzgeberischen Zielsetzungen tatsächlich zu »gesetzestreueren« Auslegungsvorgaben führt. Von der Interessentheorie wird der Zusammenhang von Regelungszwecken und Norm anschaulich in dem Bild von der Norm als »Resultante eines Interessenkonflikts« beschrieben. Doch während die »Resultante« in der Mathematik, vereinfacht, die Summe zweier (nach dem Kräfteparallelogramm addierter) oder mehrerer Vektoren ist, also das Ergebnis einer Rechenoperation, haben wir es bei einer Rechtsnorm keineswegs mit einem Ergebnis zu tun, das sich auf im Einzelnen bestimmbare Operationen zurückführen ließe. Die Norm ist das Ergebnis eines politischen Prozesses. Dieser Prozess ist zum Zwecke der Interessenanalyse nicht umkehrbar; der »Resultante« jedenfalls können wir in der Regel nicht entnehmen, welche Interessen mit welchen Wertungen zu ihrem Ergebnis geführt haben. Auch nicht, ob und inwieweit konfligierende Interessen gegeneinan672

U. Seibert 2013, S. 113.

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der und untereinander abgewogen wurden oder ob schlicht politisch entschieden wurde. Gilt aber schon für die konkrete Norm, dass sie sich in ihrer konkreten Gestalt mittels logischer Ableitungen grundsätzlich nicht präzise auf genauer bestimmbare gesetzgeberische Zielsetzungen zurückführen lässt, lassen sich aus diesen auch keine hinreichend eindeutigen Vorgaben gewinnen, wie die Norm auszulegen ist, wenn sie unklar und strittig ist. Für die subjektive Theorie bedeutet das: Die in den Gesetzesmaterialien formulierten gesetzgeberischen Zielsetzungen sind in der Regel nicht als abschließende Aufzählungen zu verstehen und sie sind selbst wiederum so weit gefasst, dass sich aus ihnen keine hinreichend eindeutigen Auslegungsvorgaben gewinnen lassen. Der Interpret kann mithin grundsätzlich nicht von der Tauglichkeit des Regelungszwecks als Auslegungsziel ausgehen. Anderes könnte nur gelten, wenn die Materialien ein Zweckprogramm ausweisen, aus dem sich eindeutig ergibt, welche Zwecke und Interessen Relevanz haben sollen und welche nicht. Damit wäre als Absicht des Gesetzgebers jedenfalls ein handhabbarer Abwägungsrahmen gegeben. Die teleologische Auslegung wäre dann auf die Argumente beschränkt, die sich aus diesem Rahmen ergeben.

5.

Die Entstehungsgeschichte als relevanter Auslegungsgesichtspunkt – eine Typologie

Jede Auslegung aus dem gesetzgeberischen Regelungszweck ist mit der Problematik von Zweckprogrammen konfrontiert, die ja stets darin liegt, dem Adressaten Entscheidungsspielräume in eigener Verantwortung zu überlassen. Im Gegensatz dazu soll hier die Entstehungsgeschichte den richterlichen Entscheidungsspielraum jedoch durch Begrenzung des Auslegungsspielraumes einschränken; es sollen dem Richter Direktiven vorgegeben werden. Die Ermittlung gesetzgeberischer Absichten darf dann aber nicht in einem offenen hermeneutischen Prozess – nicht im Wege »kongenialer Anverwandlung« 673 – erfolgen, sondern diese Absichten müssen konkret belegt werden können. Voraussetzung ist mithin, dass die Materialien durch ein Mehr an Informationen die Klarheit erbringen können, die der

673

E. Betti 1988, S. 35.

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Gesetzestext selbst vermissen lässt. Als Regel formuliert: Aus den Gesetzgebungsmaterialien müssen sich zu der konkret zu beantwortenden Auslegungsfrage mehr eindeutigere und spezifischere Informationen entnehmen lassen, als sich aus Gesetzestext, Systematik und »objektiven« Überlegungen zu Sinn und Zweck ergeben. – Nimmt man diese Kriterien als Maßstab, sind es insbesondere die folgenden drei Informations- und Begründungzusammenhänge, denen in den Materialien eine wesentliche Bedeutung für die Gesetzesauslegung beigemessen werden muss: 1. Der Gesetzgeber novelliert einen Regelungszusammenhang, lässt aber einige Bestimmungen unverändert. Man kann dann darüber diskutieren, ob der neue systematische Zusammenhang nicht auch für die »stehen gebliebenen« Vorschriften eine veränderte Interpretation verlangt. Diese Interpretation verbietet sich, wenn sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, dass man die alten Regelungen bewusst beibehalten hat 674 und insoweit also keine Veränderung der Rechtslage wollte. 2. Die vom Richter ins Auge gefasste Interpretation ist in den Materialien bereits diskutiert und verworfen worden. Wurde etwa die zeitliche Befristung eines Verbotes oder einer sonstigen Regelung abgelehnt, darf sie nicht über eine freie Argumentation mit einem der auch diskutierten Gesetzeszwecke durch die Hintertür einer teleologischen Auslegung doch eingeführt werden. Oder eine Gesetzesbegründung setzt sich konkret mit der bisherigen Rechtsprechung auseinander. Auch hier dürfen Feststellungen, dass eine Neuregelung demgegenüber zu einer Änderung der bisherigen Rechtslage führen soll, nicht argumentativ überspielt werden. 3. Zu einer wesentlichen Argumentationsgrundlage werden die Gesetzesmaterialien nicht zuletzt dann, wenn und soweit sie dokumentieren, was mit einem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal gemeint oder jedenfalls nicht gemeint ist. Ein anschauliches Beispiel liefert hier die ausführlich besprochene Entscheidung des BAG zur sachgrundlosen Befristung. 675 Die Bedeutung der Materialien für die Wortinterpretation ist jedoch nicht nur auf die Fälle beschränkt, in denen das, was gemeint ist, konkret erläutert und begründet wird. Sie liegt sehr viel allgemeiner in ihrer Rolle als Prä- und Kontext des späteren Gesetzes. 674 675

Vgl. etwa BVerfGE 128, 193–224 – juris Rn. 61 ff. Kap. 17 V. 4.

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Die Gesetzesbegründungen und Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren sind, wie ausgeprägt die mit ihnen verfolgten politischen Absichten auch sein mögen, immer auch juristische Texte, Texte, die (in der Regel) von Juristen für Juristen geschrieben wurden. Das Gesetz wird mit anderen Worten in einem gemeinsamen Sprach-, Denk- und Argumentationsraum diskutiert. Man spielt, wie schon dargestellt, ein Sprachspiel innerhalb einer Interpretationsgemeinschaft. Die Materialien dokumentieren so den Sprachgebrauch und können so nach dem Sprachgebrauch befragt werden. Geben sie eine Antwort auf die an den Gesetzgeber gestellte Frage »Wie meinst du das?« 676, ist ein Griff oder gar Rückgriff auf den Duden, d. h. den allgemeinen Sprachgebrauch, im Zweifelsfall nur unter der Voraussetzung zulässig, dass auch eine richterliche Rechtsfortbildung zulässig wäre.

V.

Gesetzesauslegung und ihre verfassungsrechtlich vorgegebene Regelstruktur

Nach den Befunden, die wir in den vorangegangenen Analysen gewonnen haben, gilt es nun, die verfassungsrechtlichen Vorgaben der Gesetzesbindung zu bestimmen, d. h. die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Interpretationskompetenz abzustecken. Erst in diesem verfassungsrechtlichen Fokus lassen sich auch die in den Kapiteln 16 bis 19 erörterten Determinanten und Bausteine der Gesetzesbindung zu einem einheitlichen Konzept zusammenführen. Die bisherigen Ergebnisse zusammenfassend, seien als Wegmarken Ausgangsthesen vorangestellt: 1.

Ausgangsfeststellung: Das Gesetz ist ein Text. Der Text wird in einem formalisierten Verfahren beschlossen und gilt als Gesetz mit dem Wortlaut, mit dem es veröffentlicht wurde. Bindung des Richters an das Gesetz kann danach zunächst nichts anderes bedeuten als Bindung an den Wortlaut. Mit der Veröffentlichung hat das Parlament die Herrschaft über dieses Gesetz verloren. Man kann es von Rechts wegen nicht mehr befragen, was es mit dem Text gemeint hat. Es kann dies auch nicht durch Parlamentsbeschlüsse klarstellen. Einfluss auf

2. 3.

676

Wittgenstein PU § 353.

506 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

4.

5.

die Rechtsentwicklung kann es nur durch ein neues Gesetz nehmen. Das Gesetz gibt dem Richter die Entscheidungsregel (Kap. 16) vor. Wie er diese zu verstehen und anzuwenden hat, gibt ihm die Methodik vor. Gesetzesbindung definiert sich so als das Gebot, »den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen«. 677 Das Gesetz bindet als Entscheidungsregel, es programmiert aber die Entscheidung nicht, sondern räumt immer auch einen mehr oder minder großen Entscheidungsspielraum ein. Rechtsanwendung bedeutet so stets auch methodisch argumentativen Umgang mit Spielräumen.

In der Konsequenz einer subjektiven Auslegungstheorie müsste nun als nächste These eine Zielvorgabe formuliert werden, die die richterliche Methode auch inhaltlich auf die Steuerungsfunktion des demokratisch legitimierten Gesetzgebers bezieht. Doch wie die Kritik an der subjektiven Theorie gezeigt hat, sind die »hinter der Normsetzung stehenden Motive« 678 weder theoretisch noch faktisch geeignet, um auf ihnen eine allgemeine und auch hinreichend sichere Auslegungslehre aufzubauen. Im Übrigen hat der Richter, der Recht zu sprechen hat, mehr in den Blick zu nehmen als die Regelungsabsichten des Gesetzgebers. Recht ist nicht nur das Ergebnis bewusster politischer Steuerungsprozesse: 6.

Das Rechtssystem selbst schafft im Prozess regelgeleiteter Rechtsprechung ständig Recht. Wer Recht allein vom Steuerungsmodell Gesetzgeber – Gesetz her begreifen will, übersieht nicht nur das »Wechselspiel von Rechtsprechung und Rechtsetzung« 679, in dem Recht verändert und angepasst wird, sondern den prinzipiellen Charakter des Rechtssystems als Mehrebenensystem, auf das eine Vielzahl von Akteuren steuernd Einfluss nimmt. Recht entsteht bei evolutionären Differenzierungsprozessen ebenso wie in Prozessen »struktureller Koppelung« (Kap. 16) mit anderen Systemen, wie der Wirtschaft, der Wis-

BVerfGE 84, 212, 226; 96, 375, 395; 128, 193: das BVerfG gebraucht dabei allerdings z. T. unterschiedliche Formulierungen. 678 So die Formulierung von Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rd. 790. 679 BVerfGE 132, 99–133 – juris Rn. 74. 677

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senschaft (z. B. Dogmatik), der Technik (Stichwort etwa die juristischen Datenbanken) und, nicht zu vergessen, den Systemen medialer Erzeugung von Sinn und Akzeptanz. Gleichwohl kann das nicht bedeuten, dass für die Praxis der Gesetzesauslegung alles beim Alten bleiben kann. Für die herkömmliche Methodik hatte die Argumentation mit den Regeln der Auslegung immer wesentlich eine topische Struktur. Die Regeln stehen nebeneinander; sie dienen als »tools«, um ein angemessenes Verständnis von Normtexten zu bewerkstelligen. Dieser Sicht entsprechend haben wir diese Regeln als Determinanten der Rechtserkenntnis bisher auch jeweils in ihrer Eigenheit getrennt erörtert. Besprochen wurden: die Probleme der Wortauslegung (Kap. 17) die Probleme, mit denen sich eine systematische Interpretation auseinandersetzen muss (Kap. 18 u. 19) und jetzt die Grundfragen der historischen Auslegung und Schwierigkeiten, die es macht, Norminhalte teleologisch aus Werten, Ziel, Sinn und Zweck zu ermitteln. Offen blieb die Frage, ob die Freiheit der Methodenwahl wirklich mit dem Spielraum besteht, den die Lehre überwiegend annimmt und den die Rechtsprechung immer noch weitgehend und wie selbstverständlich praktiziert – oder ob nicht die besseren Gründe dafür sprechen, dass die Verfassung hier durchaus Vorrangregeln vorgibt und damit für den Auslegungskanon eine Struktur dichterer Kohärenz fordert. Die gegenüber der bisherigen Auslegungspraxis inzwischen deutlich akzentuiertere Rechtsprechung des BVerfG 680 bietet für eine solche kohärente Strukturierung entscheidende Ansätze und Bausteine. Es ist zwar nicht die Aufgabe der Rechtsprechung, eine Methodenlehre zu formulieren. Wenn das BVerfG jedoch zu prüfen hat, ob eine zulässige oder unzulässige verfassungskonforme Auslegung vorliegt oder sich eine Interpretation noch im Rahmen zulässiger Rechtsfortbildung bewegt, also die Grenzen des Art. 20 Abs. 3 GG eingehalten sind, muss es für diese Prüfung auch Kriterien und Maßstäbe entwickeln. Dies hat das Gericht in den zitierten Entscheidungen auch getan und damit im Umgang mit den Auslegungskanones eine deutliche Abkehr von dem bisherigen Verständnis vollzogen. Da sie als Konkretisierung des Art. 20 Abs. 3 GG und des Gewaltenteilungsgrundsatzes entwickelt wurden, sind sie zugleich auch als verfassungsrechtliche Vorgaben zu verstehen. 680

Vgl. insbes. die Entscheidungen BVerfGE 128, 193 ff. u. BVerfGE 132, 99 ff.

508 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

Das entscheidende Kriterium für diese Strukturierung ist, wie gesagt, aus der Zwecksetzungsprärogative des Parlaments abzuleiten; sie führt dort, wo sie im Kontext mit Wortlaut und Systematik eindeutige Aussagen ergibt, auch zu einem Vorrang der zugehörigen Auslegungselemente. Eng damit verbunden ist die Notwendigkeit, die Auslegung nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und System (2.) strikt von der objektiv-teleologischen Auslegung (3.) zu trennen.

1.

Auslegung und ihre pragmatische Ausrichtung (Subsumtion und Rechtsfortbildung – Dogmatik und der Hypertext Recht)

Zuvor ist jedoch zu klären, welche rechtspraktische Zielsetzung man eigentlich im Auge hat, wenn man die Auslegungsregeln diskutiert (a), wie das Verhältnis von Auslegung, Subsumtion und Rechtsfortbildung genauer zu bestimmen ist (b) und welche Rolle Dogmatik und der Hypertext Recht dabei spielen (c.). a)

Das Ziel der Auslegung aus pragmatischer Sicht

Das unmittelbare Ziel richterlicher Auslegung ist es nicht, den Willen des Gesetzes oder die Absicht des Gesetzgebers zu verstehen. Entscheidend ist für den Richter die Frage, nach welchen Kriterien er eine Handlung oder einen Umstand daraufhin beurteilen kann, ob sie einem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal entsprechen oder nicht entsprechen. Die Gesetzesauslegung – wie allgemein die Normkonkretisierung – hat also das Ziel, die Tatbestandsmerkmale einer Norm so auf Begriffe zu bringen, dass sie ihre Aufgabe der Differenzierung erfüllen können. Folgt man der Systemtheorie Luhmanns, ist dies die Differenzierung nach dem Code Recht/Unrecht; formulieren wir es rechtstechnisch, muss uns die Auslegung begriffliche Differenzierungen an die Hand geben, die es ermöglichen festzustellen, ob die Voraussetzungen eines Anspruchs, der Strafbarkeit, der Verjährung etc. gegeben oder nicht gegeben sind; »einen Begriff haben« heißt, ihn auch anwenden zu können. 681 Veranschaulicht sei dies an einem (nur auf den ersten Blick sehr speziellen) Beispiel:

Näher dazu – im Zusammenhang mit den Problemen der Kant’schen Urteilskraft – O. Höffe 2003, S. 151.

681

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

Zu entscheiden war, ob ein Anspruch auf Erstattung von Schülerbeförderungskosten zu einer Waldorfschule statt zur näher gelegenen Grundschule bestand. 682 Der Anspruch wäre nach § 4 Abs. 4 ThürSchFG a. F. zu bejahen gewesen, wenn man die Waldorfschule gegenüber der Grundschule als eigenständigen »Bildungsgang« hätte qualifizieren können. Im Unterschied zu den Begriffen »Schulart« und »Schulform« war der Begriff »Bildungsgang« gesetzlich nicht definiert. Die entscheidende Differenz musste also durch Auslegung ermittelt werden. Natürlich stellten die Kläger auf die besondere fachliche, methodische, didaktische und pädagogische Schwerpunktbildung als entscheidendes Differenzierungskriterium ab. Bereits ein allgemeines Wortverständnis legte es aber nahe, ein wesentliches Kriterium auch im Moment einer rein formal zu verstehenden Differenzierung zu sehen (»-gang« – etwa »Studiengang«). Der Vergleich mit den Regelungen, in dem der Begriff auch sonst im Schulrecht verwendet wird, führt dann eindeutig dazu, den »Begriff des ›Bildungsgangs‹ […] im Thüringer Schulrecht grundsätzlich in einem formalisierten, auf das Erreichen bestimmter Abschlüsse bezogenen Sinne zu verstehen.« 683 Soweit die Methodik in der Orientierung an Sinn und Zweck des Gesetzes ein entscheidendes Moment sieht – dazu näher unter 3. –, erhellt das zitierte Beispiel auch bereits eine allgemeine Regel zum Umgang mit der Argumentationsfigur der ratio legis: Der Sinn und Zweck einer Regelung lässt sich methodisch sauber nur aus einer konkreten Auslegung dieser Regelung gewinnen. Allgemein betrachtet konnte man das Ziel des § 4 Abs. 4 ThürSchFG a. F. sicher darin sehen, dass man mit der Übernahme der Schülerbeförderungskosten auch für entfernter liegende Schulen dem Recht auf freie Schulwahl Rechnung tragen wollte. Erst die konkrete Auslegung zeigte dann aber, dass für die rechtlich relevante Zielsetzung zu differenzieren ist: Nicht die freie Wahl zwischen pädagogisch oder sonst inhaltlich unterschiedlichen Konzeptionen wird geschützt; relevant sind unterschiedliche Bildungsangebote nur, soweit sie auch zu unterschiedlichen Abschlüssen führen.

682 683

VG Meiningen, ThürVBl. 2000, 258. ThürVBl 2002, 110–113, LS 1.

510 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

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b)

Auslegung, Subsumtion und Rechtsfortbildung

Der Auslegungs- und Subsumtionsvorgang ist mit der Feststellung bestehender oder nicht gegebener Tatbestandsmäßigkeit allerdings nur dann abgeschlossen, wenn die Regel (Norm) in der Auslegung, in der sie der Subsumtion zugrunde gelegt wurde, für den Richter »geklärt« ist – d. h. die Tatbestandsmerkmale durch die Auslegungstradition (Dogmatik und Hypertext Recht) in ihrer Bedeutung auf hinreichend stabile Begriffe gebracht sind oder (wie oben am Beispiel des »Bildungsganges« erläutert) durch ihre Verwendung in zugehörigen Kontexten bestimmt werden konnten. Doch in den Prozessen, die die Methodik mit den Vorgängen der Auslegung und Subsumtion beschreibt, verläuft die Vermittlung zwischen dem Allgemeinen (der Rechtsnorm) und dem Besonderen des Falles nicht nur in der einen Richtung: Subsumtion des Falles unter die Norm. Von den für den Richter in der Auslegung klaren Fällen sind die besonderen Fälle zu unterschieden, in denen das aufgrund der Subsumtion unter die allgemeine Regel gefundene Ergebnis »nicht überzeugt«, ja ungerecht und unbillig erscheint, weil es der konkreten Sachverhaltsproblematik »nicht gerecht« wird. Der Vorgang kehrt sich dann um. Das Problem wird in der Regel oder in deren Auslegung gesehen. Aus dem Besonderen heraus muss ein neues Allgemeineres gefunden werden. Das Besondere des Falles kann aus zwei Gründen zum Problem werden: zum einen weil genau in diesem besonderen Einzelfall die Regel nicht angemessen erscheint – unbillig ist. Für diese Probleme der Aequitas hat die Rechtsordnung je nach Rechtsgebiet die unterschiedlichsten Rechtsfiguren parat: Ermessen, Verhältnismäßigkeit, Einstellung wegen Geringfügigkeit, § 242 BGB etc. Von diesen Fällen, in denen die allgemeine Regel im Einzelfall durch eine eigenständige »Aequitas-Regel« modifiziert werden kann, aber selbst unangetastet bleibt, sind zum anderen die Fälle zu unterscheiden, in denen die allgemeine Regel als solche betroffen ist, weil die Problemlösung, die sie allgemein vorgibt, nicht nur im konkreten Einzelfall, sondern allgemein oder jedenfalls für besondere Konfliktfälle nicht mehr als angemessen angesehen wird. Zur Veranschaulichung solcher Auslegungs- und Rechtsfortbildungsprozesse findet man in der Auslegungsgeschichte gerade zentraler gesetzlicher Vorschriften eine unübersehbare Fülle von Beispielen: etwa die Erweiterung der »absoluten Rechte« in § 823 Abs.1 BGB um das Recht am eingerichteten 511 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

und ausgeübten Gewerbetrieb 684 oder die Erweiterung des Nachbarschutzes um Vorgaben des § 34 BauGB aus dem Gebot der Rücksichtnahme etc. Um die unterschiedlichen Strukturen beider Vorgänge auch theoretisch zu erfassen kann man mit guten Gründen auf eine Unterscheidung Kants zurückgreifen und für die Fälle der »einfachen« Subsumtion unter eine Norm von der subsumierenden Urteilskraft sprechen und dieser die reflektierende Urteilskraft gegenüberstellen, bei der es um das Auffinden des Allgemeinen im Besonderen geht. 685 Diese reflektierende Urteilskraft kommt immer ins Spiel, wenn wir uns mit der Rechtsfortbildung und der richterlichen Rechtsschöpfung auseinandersetzen müssen. Methode hört dann auf, im Wortsinn ein bloßes »Nach-gehen« zu sein, wenn über die Regel selbst reflektiert und gefragt wird, ob sie in ihrer bisherigen Auslegung noch angemessen ist – erweiternd oder einschränkend auszulegen ist, durch eine Zusatzregel zu ergänzen oder gar zu ersetzen ist. Mit den kognitiven Prozessen, die hier in der reflektierenden Urteilskraft wirksam sind, werden wir uns im Teil E über die Mustererkennung näher zu beschäftigen haben. Unter dem Aspekt der Auslegung, die uns in diesem Kapitel interessiert, sind es die verfassungsrechtlichen Grenzen, die der Auslegung gesetzt sind, wenn die Rechtsfindung zur Rechtsfortbildung wird. Die Rechtsprechung des BVerfG gibt hier zahlreiche Beispiele für Fälle, in denen die Fachgerichte die Grenzen, die ihrer Auslegungskompetenz gesetzt sind, überschritten haben. Wieweit sich daraus auch Strukturvorgaben für die Auslegungsregeln selbst ergeben, wird in den nächsten Abschnitten zu thematisieren sein. c)

Rechtsermittlung – Dogmatik und der Hypertext Recht

Doch zunächst ist noch ein weiterer grundlegender Zusammenhang festzuhalten: Auslegung ist nicht nur das schulmäßige Durchspielen der Auslegungsregeln. Meist laufen Konkretisierung und Präzisierung von Tatbestandsmerkmalen nicht auf diesem Wege und auch nicht über Begriffsbestimmungen, die über Wortgleichheiten in anderen Bestimmungen der gleichen Rechtsmaterien gewonnen wurZu den damit verbundenen Auslegungs- und Handhabungsproblemen vgl. etwa Wagner § 823 BGB, Rn. 205, 247 ff., (6. Aufl. 2013). 685 Näher Kap. 23 II. 684

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

den, sondern wesentlich über Dogmatik und den Hypertext Recht. Man greift auf Grunddifferenzierungen zurück, die jeder Jurist als dogmatisches Grundwissen lernen muss, etwa die Grunddifferenzierungen des Strafrechts zwischen Diebstahl, Raub, Betrug und Erpressung. Oder man nutzt den Hypertext Recht. Wer eine althergebrachte Strafrechtsnorm anzuwenden und etwa zu prüfen hat, ob die entscheidende Handlung ein Akt der Wegnahme oder eine Verfügung war, wird die begriffliche Differenzierung damit auf anderen methodischen Wegen vornehmen als der Richter, der z. B. eine neue gesetzliche Mietpreisregelung anzuwenden hat. Gibt es zu dieser Regelung noch keine Rechtsprechung, an der sich der Richter zustimmend oder im Widerspruch orientieren kann, wird er u. a. wenigstens die Begründung des Gesetzentwurfes zur Auslegung heranziehen müssen, ein Weg, der dem Strafrichter, der über einen trickreichen Ladendieb zu befinden hat, aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht in den Sinn kommen würde. Er greift für seine Rechtsermittlung in der Regel gar nicht mehr unmittelbar auf die Textauslegung zurück, sondern ermittelt die notwendigen begrifflichen Differenzierungen über die Dogmatik und den Hypertext Recht, konkret über einen Kommentar oder eine Datenbank. Rechtsermittlung und Auslegung dürfen deshalb aber nicht als unterschiedliche methodische Wege verstanden werden, die streng zu trennen wären. Konkretisierung und Präzisierung von Tatbestandsmerkmalen finden, um wiederum das Bild des juristischen Denk- und Argumentationsraumes zu gebrauchen, in Erkenntnisstrukturen statt, die sowohl durch Dogmatik, Rechtsbegriffe und Präjudizien als auch durch die Techniken der Rechtsermittlung (Datenbankrecherche und Kommentare) und der unmittelbaren Textauslegung (Methodik der Gesetzesauslegung) geprägt sind. Rechtsdogmatik und Methode sind die konstitutiven Arbeitsmodi unseres Rechtssystems. Dies wird auch nicht bestritten. Eine vereinheitlichende, in sich kohärente Theorie wird es aber wohl auch weiterhin nicht geben. Dogmatik und Normtext sind eben doch auf unterschiedliche Legitimationsebenen bezogen. Das ändert aber nichts daran, dass dogmatisches Systemdenken, dogmatische Begrifflichkeiten und dogmatisches Begriffsverstehen – mindestens im Hintergrund – als Folie immer mitzudenken sind, wenn Auslegungsprobleme, sei es theoretisch, sei es rechtspraktisch, zu lösen sind. Wenn eine Auslegung überzeugen soll, kann dies nicht ohne ausreichende Rückbindung an Dogmatik und den Hypertext Recht gelingen. 513 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

2.

Die Auslegungsregeln – Konzept einer kohärenten Regelstruktur

Savigny sprach mit guten Gründen von Elementen der Auslegung, nicht von Arten, »unter denen man nach Geschmack und Belieben wählen könnte«. 686 Zum anderen zählte er, wie mehrfach betont, die teleologische Auslegung nicht zu den regulären Auslegungselementen. Für ihn war dieser Topos ein Instrument der Rechtsschöpfung. Larenz sah in dieser Differenzierung den Grund für die mangelnde Anschlussfähigkeit von Savignys Lehre für die damalige Methodendiskussion. 687 Im Folgenden soll dagegen genau diese Differenzierung aufgegriffen werden, weil so der Raum, in dem der Richter sich das ihm passend erscheinende Auslegungselement nicht topisch wählen und gewichten darf, von dem Bereich unterschieden werden kann, in dem seine Interpretationskompetenz auch einen topischen Umgang mit den Kanones umfasst. a)

Auslegung nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht

Unser Ansatz, unter Auslegung zunächst nur die Auslegung nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht zu verstehen, geht von einem Interpretationsverständnis aus, das eigentlich selbstverständlich sein sollte: Das, was das Gesetz mit seinem Text (dem Wortlaut) anordnet, ist auch das, was der Gesetzgeber gemeint und gewollt hat, und wenn sich das Gesagte und Gemeinte widerspruchsfrei in den Zusammenhang der anderen Regelungen des Gesetzes einfügt, macht es im Gesamtzusammenhang des Gesetzes auch Sinn. Wir haben damit ein Interpretationsergebnis, an das der Richter gebunden ist. Mit den Worten des BVerfG: »Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar war«. 688 (1.) Ob der Gesetzgeber eine solche eindeutige Entscheidung geSavigny 1840, S. 215. K. Larenz 1991, S. 15 ff. 688 BVerfGE 82, 6, 12 – juris Rn. 20; vgl. auch BVerfGE 122, 248, 283 – juris Rn. 97, – abw. M. 686 687

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

troffen hat, ist unter Berücksichtigung aller Informationen zu ermitteln, die zu den einzelnen Elementen vorliegen. Ergeben sich hier Widersprüche – etwa zwischen Wortlaut und konkreten Begründungen – fehlt es an dieser Eindeutigkeit. Ist sie gegeben, werden sich umgekehrt die Feststellungen zu den einzelnen Elementen ergänzen und auch gegenseitig stützen. Jede Gesetzesinterpretation hat mit dem Gesetzestext, dem Wortlaut, zu beginnen. Aber nicht jede Auslegung ist bekanntlich mit dem Wortlaut vorgegeben. 689 Umgekehrt wird die »Eindeutigkeit der im Wege der Auslegung gewonnenen gesetzgeberischen Grundentscheidung […] nicht notwendig dadurch relativiert, dass der Wortlaut der einschlägigen Norm auch andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet, soweit diese Deutungen offensichtlich eher fern liegen. Anderenfalls wäre es für den Gesetzgeber angesichts der Schwierigkeit, textlich Eindeutigkeit herzustellen, nahezu unmöglich, sein Regelungsanliegen gegenüber der Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum durchzusetzen.« 690 Offensichtlich eher fern liegen solche Deutungen insbesondere dann, wenn nur ein auch sonst denkbarer Sprachgebrauch ins Spiel gebracht wird, dieser aber in den Kontexten, die für die Interpretationen heranzuziehen sind – der gesetzliche Kontext ebenso wie die Prä- und Kontexte der Entstehungsgeschichte –, keine Anhaltspunkte für sie erbringt. Die ausführlich besprochene Entscheidung des BAG zum befristeten Arbeitsverhältnis gibt ein anschauliches Beispiel für ein methodisch unzulässiges Spiel mit möglichen Deutungsvarianten. 691 Sie macht zum anderen auch die entscheidende Bedeutung anschaulich, die die Kontexte der Gesetzesmaterialien und die dort konkret formulierten gesetzgeberischen Absichten für die Auslegung haben können. Haben sie genügende Aussagekraft, erlauben sie nicht nur eine genauere Bestimmung einzelner Tatbestandsmerkmale, sondern lassen – vor allem im Zusammenhang mit der Systematik des Gesetzes – auch die vom Gesetzgeber verfolgte Regelungskonzeption deutlich werden. Die systematische Interpretation umfasst mehr als nur die Auslegung aus der »Stellung im Gesetz« oder, zur Ermittlung eines Begriffsinhaltes, die Berücksichtigung des gesamten gesetzlichen Kontextes. Entscheidend ist: eine gefundene Auslegung muss sich so 689 690 691

BVerfGE 133, 168–241 – juris Rn. 66. BVerfGE 133, 168–241 – juris Rn. 66. Kap. 17 V. 4.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

in die anderen gesetzlichen Regelungen einfügen, dass sie zu diesen nicht in Widerspruch gerät. 692 Letztlich ist mit der systematischen Interpretation ganz umfassend die Kohärenz angesprochen. Das gilt einmal hinsichtlich der Stimmigkeit der konkreten Auslegung und Rechtsermittlung, d. h., bei »der systematischen Auslegung ist darauf abzustellen, dass einzelne, kollidierende Rechtssätze, die der Gesetzgeber in einen sachlichen Zusammenhang gestellt hat, grundsätzlich so zu interpretieren sind, dass sie miteinander vereinbar sind. Denn es ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber sachlich Zusammenhängendes so geregelt hat, dass die gesamte Regelung einen durchgehenden, verständlichen Sinn ergibt«. 693 Aufgerufen ist aber, soweit durch die Interpretation unmittelbar berührt, auch die Wahrung der Kohärenz der Rechtsordnung insgesamt, hier verstanden als System, in dem Rechtsbegriffe und die Wertungen der Grundrechte systemisch miteinander korrelieren. 694 Entsprechend ist die systematische Auslegung z. B. auch der Ort für die verfassungskonforme Auslegung. (2.) Diese Bindung entfällt allerdings zwangsläufig dann, wenn sich zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten Widersprüche zeigen oder beide keinen Widerhall in der Systematik des Gesetzes finden. Denn ein Gericht greift nur dann und nur insoweit unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein, als es sich mit seiner Interpretation über dessen eindeutigen und »objektivierten Willen« 695 hinwegsetzt. Hat der Gesetzgeber in der Regelung, die Gegenstand der Interpretation ist, Raum für vernünftig begründbare Zweifel gelassen, was er mit dem Gesagten genau gewollt oder, noch deutlicher, nicht gewollt hat, bleibt nur die Feststellung, dass er insoweit von seiner Zwecksetzungsprärogative keinen Gebrauch gemacht hat; sie kann insoweit auch nicht verletzt sein. Die Zwecksetzungsprärogative des Parlaments fordert vom Richter keinen »dienenden Gehorsam« in dem Sinne, dass er versuchen muss, nachzuvollziehen, was der Gesetzgeber »eigentlich« oder wahrscheinlich gemeint hat, wenn man seine mutmaßliche Intention nur richtig deutet. – Was sie allein fordert, ist mit einem gemutmaßten »Willen des Gesetzes« in den Fällen keine eigene Auslegung zu be692 693 694 695

Wie hier R. D. Herzberg, JuS 2005,1, 5 f. mit Nachweisen und Beispielen. BVerfGE 124, 25–43 – juris Rn. 50 m. H. auf BVerfGE 48, 246, 257. Vgl. Kap. 18 I. 4. b. BVerfGE 133, 168–241 – juris Rn. 66 m. w. N. st.Rspr.

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

treiben, in denen der Wille des Gesetzgebers klar und eindeutig ist. Für die verfassungskonforme Auslegung hat das BVerfG das entscheidende Kriterium für diese Auslegungsgrenze dementsprechend auch nie in einer mangelnden Übereinstimmung mit dem Willen des Gesetzgebers gesehen, sondern die Grenze dort gezogen, wo die Auslegung »zum Wortlaut der Norm und zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde«. 696 (3.) Als Faustregel formuliert: Der Richter überschreitet seine Auslegungskompetenz, wenn er »sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt«. 697 Dieser kann sich aus den Materialien ergeben. Ein Widerspruch zu dem gesetzgeberischen Willen muss dann aber auch eindeutig sein, d. h., den Materialien müssen eindeutige Äußerungen zu entnehmen sein, welche Rechtslage man mit der Norm schaffen, festschreiben oder ändern wollte. Wie die zuvor beschriebene Typologie relevanter Auslegungsgesichtspunkt (IV.5.) gezeigt hat, sind derart eindeutige Festlegungen zu konkreten Auslegungsfragen aber eher selten, nicht die Regel. Zu prüfen ist eine solche Grenzüberschreitung aber nicht nur hinsichtlich konkret formulierter Absichten und Ziele, sondern vor allem auch hinsichtlich des Interpretationsrahmens. Der Richter darf sich mit seiner Interpretation nicht in Widerspruch zu der im Wege der Auslegung nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht gewonnenen »gesetzgeberischen Grundentscheidung« 698 setzen. Eine solche Grundentscheidung liegt etwa vor, wenn der Gesetzgeber eine Regelung schafft, die in ihrer Konzeption nur als eine abschließende Regelung verstanden werden kann. Dann besteht eben kein Raum, Regelungslücken anzunehmen, die durch den Richter geschlossen werden müssten. Klassisch geworden ist die Entscheidung, mit der das BVerfG die Einordnung der Abfindungsansprüche aus einem Sozialplan in den Rang vor § 61 Abs. 1 KO a. F. – gleichsam als »Nr. 0« – durch das BAG als mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar angesehen hat. Begründet ist sie damit, dass der Gesetzgeber dem Richter hier keinen Auslegungsspielraum gelassen hat: »Eine gesetzliche Regelungslücke, die

BVerfG, B. v. 11. Juli 2013 – 2 BvR 2302/11, 2 BvR 1279/12 –, juris Rn. 69 ff. m. Verweis auf BVerfGE 110, 226, 267, m. w. N.; Hervorh. d. Verf. 697 So die vom BVerfG benutzte Formulierung, BVerfGE 132, 99–133 – juris Rn. 75 m. Verweis auf BVerfGE 118, 212, 243; 128, 193, 210. 698 BVerfGE 133, 168–241 – juris Rn. 66. 696

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

es dem Richter erlaubte, für bestimmte Forderungen eine Privilegierung außerhalb des geschlossenen Systems der Konkursforderungen vor der Rangstelle der KO § 61 Abs. 1 Nr. 1 zu begründen, besteht nicht«, lautet die entscheidende Feststellung. 699 Der breite Raum, den die Lückenproblematik früher in der Methodendiskussion eingenommen hat, hatte seinen Grund in der Vorstellung der prinzipiellen Lückenlosigkeit der gesetzgeberischen Kodifikationen. In dem Maße, in dem diese Vorstellung keine Überzeugungskraft mehr hatte, hat dann auch die Regelungslücke ihren Ausnahmecharakter verloren. Die Frage ist heute allein, ob der Gesetzgeber ein Gesetz bzw. eine Norm als umfassende und abschließende Regelung formulieren wollte und im Gesetz auch formuliert hat und insoweit dem Richter eine Ergänzungskompetenz zur Rechtsfortbildung entzogen hat oder ob davon nicht ausgegangen werden kann. Soweit das Gesetz dazu nicht selbst ausdrückliche Feststellungen trifft, etwa durch eindeutig abschließende Aufzählungen und Statuierungen von Rangfolgen, die nicht geändert oder modifiziert werden können, ohne das System und die gesetzliche Interessenabwägung zu verändern, ist diese Frage allerdings meist nicht mit der notwendigen Eindeutigkeit zu beantworten. Insbesondere kann man nicht damit rechnen, dass die Materialien hier immer sichere Auskunft geben. Es gehört zum politischen Geschäft, einen Gesetzentwurf als durchdachtes Konzept zu präsentieren, in dem das angesprochene Problem umfassend geregelt ist; es gehört nicht zu diesem Geschäft, offen auf die Fragen hinzuweisen, auf die man noch keine Antwort hat. Eine verdeckte Regelungslücke wird deshalb auch eher verschwiegen denn als planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes thematisiert. 700 Gesetzgeberische Konzepte folgen, wie gesagt, oft nicht der juristischen, sondern einer politischen Rationalität. Selbst wenn eine in sich schlüssige Konzeption am Anfang stand, sind es oft Ausnahmen, Zugeständnisse an bestimmte Interessen oder Formelkompromisse 701, die es später in der Umsetzung schwierig machen, noch eine durchgehend kohärente Regelungsstruktur zu erkennen. Die Rechtsprechungspraxis muss dann eine solche Struktur »rekonstruieren«, d. h. bei Lichte besehen: ein eigenes InterpretatiBVerfGE 65, 182–195 – juris Rn. 36. Siehe dazu anschaulich U. Seibert 2013, S. 121 f. 701 Ein Beispiel zeigt BSGE 69, 25–66 – juris Rn. 95 – zum Kurzarbeitergeld an mittelbar von einem Arbeitskampf betroffene Arbeitnehmer. 699 700

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onskonzept entwickeln. Aber auch aus dieser Aufgabe erwächst ihr keine Kompetenz, sich über eindeutige gesetzgeberische Entscheidungen hinwegzusetzen. So erlaubt etwa eine Novellierung kein grundsätzlich neues Interpretationskonzept, wenn der Gesetzgeber bewusst eine bestimmte Norm und die in ihr enthaltene gesetzgeberische Grundentscheidung beibehalten hat, diese aber mit dem neuen Ansatz unvereinbar ist. Dass das judikative Modell demgegenüber ausgewogener, zweckmäßiger oder sachgerechter als das gesetzliche Modell erscheint, darf kein Argument gegen die Gestaltungsprärogative des Gesetzgebers sein. 702 b)

Der Nachrang der objektiv-telelogischen Interpretation – ein Gebot der Gesetzesbindung

Für die Auslegungspraxis und den methodischen Umgang mit den Auslegungsregeln folgen aus den Vorgaben, die aus den bisherigen Überlegungen gewonnen wurden, zwei entscheidende Konsequenzen: 1. Die Auslegung muss als ein gestuftes Verfahren verstanden werden. Ergibt die Auslegung nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht, dass alle diese Elemente für eine bestimmte Auslegung sprechen, jedenfalls keine gewichtigen Gründe gegen sie, ist von dieser Interpretation auszugehen. 2. Mit Argumenten aus Sinn und Zweck des Gesetzes, aus der ratio legis darf dieses Ergebnis dann nicht mehr in Frage gestellt werden. Für eine teleologische Auslegung ist nur Raum auf der zweiten Stufe, d. h. wenn der gesetzgeberische Normzweck hinsichtlich der strittigen Interpretationsfrage nicht hinreichend eindeutig feststellbar ist. – Ein Schwerpunkt der folgenden Überlegungen wird also darin liegen, die Grenzen der objektivteleologischen Interpretation genauer zu bestimmen.

3.

Der teleologische Ansatz – Funktion und Problematik

Werfen wir zunächst einen allgemeinen Blick auf die Rolle, die nach dem heute herrschenden Interpretationsverständnis dem »objektiven Gesetzeszweck«, der im Entscheidungszeitpunkt wirksamen ratio 702

Vgl. BVerfGE 122, 248–303 – juris Rn. 103, Minderheitsvotum.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

legis, beigemessen wird. – »Der Zweck im Recht« 703 hat seine Bedeutung als nahezu selbstverständlicher Angelpunkt aller Auslegungskunst 704 selbst erst als Ergebnis eines komplexen sozio-kulturellen Prozesses gewonnen. Älteren, auf ritualisierte Förmlichkeit ausgerichteten Rechtskulturen ist dieses Denken ebenso fremd wie einem Rechtsverständnis, das Recht als Spiegel einer vorgegebenen Ordnung oder als göttliches Gebot ansieht. Wesentlich verbunden ist die teleologische Ausrichtung der Auslegungslehre mit den theoretischen Ansätzen von v. Jhering und der Interessenjurisprudenz. 705 Entstanden ist sie als Antithese zu Begriffsjurisprudenz und zum Gesetzespositivismus. Zum entscheidenden Topos wurde die Auslegung nach Sinn und Zweck in dem Maße, in dem diese positivistischen Vorverständnisse ihre Überzeugungskraft verloren. Die Dominanz, die der teleologische Ansatz in der theoretischen Diskussion wie in der Praxis zeigt, verdankt er aber keineswegs nur einer Eigengesetzlichkeit rechtstheoretischer Meinungsbildung. Sie entspricht, sehr viel allgemeiner, in ihrer Grundeinstellung dem zeitgenössischen Selbstverständnis, mit dem wir das Recht gehandhabt sehen wollen. Unser Verständnis vom Recht ist ein weitgehend instrumentelles – wir wollen aber nicht nur Objekte dieses Instrumentes sein. Wir wollen von der Zweckhaftigkeit überzeugt sein, jedenfalls durch den Richter von ihr überzeugt werden. Richter und diejenigen, die vor ihm stehen (müssen), stellen also auch ganz selbstverständlich Fragen nach Sinn und Zweck gesetzlicher Regeln – warum sie zu einem bestimmten Tun oder Lassen zwingen oder Sanktionen auferlegen dürfen. Die Antwort könnte dann zwar ganz einfach lauten: »weil es so im Gesetz steht«. Doch selbst wenn es dort so klar steht, kann der Richter nicht damit rechnen, dass sich die Prozessbeteiligten mit einer solchen Antwort zufriedengeben. Man will wissen, aus welchen vernünftigen, nachvollziehbaren Gründen man verurteilt wurde. Der Richter braucht deshalb Gründe, warum er so und nicht anders entscheidet. So kommt es dann auch in den Fällen oft zu teleologischen Begründungen eines Urteils, in denen die Entscheidung eigentlich allein auf Wortlaut, Dogmatik und dem Hyper-

»Der Zweck im Recht« – so der Titel des Werkes von Rudolf von Jhering, Leipzig 1877, in dem er seine begriffsjuristische Perspektive zugunsten einer soziologischen Betrachtung aufgab. 704 Vgl. etwa E. A. Kramer 1998, S. 101 ff., 115. 705 Zur Übersicht E. A. Kramer aaO. S. 115 ff. 703

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

text Recht beruht, der Richter aber der größeren Akzeptanz wegen nach außen mit Sinn und Zweck argumentiert. Die teleologische Argumentation ermöglicht es an dieser Schnittstelle zwischen Rechtssystem und Lebenswelt, die richterliche Entscheidung als ein Urteil darzustellen, das nicht einfach auf »seelenlosen« formaljuristischen Folgerungen beruht – der Richter als »Subsumtionsautomat« –, sondern auf einer reflektierenden Schlussfolgerung aus vernünftigen Gründen, Gründen, die aus einsichtigen Zwecken, Wertungen und Prinzipien abgeleitet sind. So können in der Sache auch die hinter den juristisch-technischen Argumenten liegenden Fragen nach der adäquaten Beurteilung und der »richtigen«, letztlich »gerechten«, Entscheidung verhandelt werden. Die Argumentation aus dem Telos ist mithin das methodische Instrument, über das »die Ergebnisverantwortung des Rechtsanwenders in das methodische Programm verlagert« wird. 706 Von einer »Ergebnisverantwortung des Rechtsanwenders« zu sprechen, macht freilich nur insofern Sinn, als die Bindung an Gesetz und Recht dafür auch entsprechende Freiräume lässt. Wir haben also nichts anderes als den Grundkonflikt zu konstatieren, der – zumeist im Gewand der Auseinandersetzung um das »eigentliche« Ziel der Interpretation – seit Savigny den Streit um die Auslegungsregeln bestimmt. Man kann ihn als Konflikt zwischen der Zwecksetzungsprärogative des Gesetzgebers und der »Ergebnisverantwortung des Rechtsanwenders« beschreiben oder als Konflikt zwischen den Maßstäben, an denen der Gesetzgeber vor Zeiten seine Regelung ausgerichtet hatte, und den Wertungen, die aufgrund veränderter Umstände heute Geltung beanspruchen. Noch allgemeiner: Es geht einerseits um Bindung, Kontinuität und Rechtssicherheit, die der Richter zu gewährleisten hat, und andererseits um die Anpassungsfähigkeit des Rechts und seine Aufgabe, gegenwärtige Rechtskonflikte adäquat zu lösen. Wir haben es also bei diesem Streit mit einer Antinomie zu tun, von der wir – keineswegs nur wegen unterschiedlicher philosophischer Positionen 707 – nicht hoffen dürfen, sie eindeutig und endgültig auflösen zu können. Denn strukturelle Antinomien sind für theoretische Konstruktionen desaströs; die Aussagen, die aus einer solchen Theorie folgen, können nur beliebig sein. Juristisch zeigt sich

706 707

M. Morlok 2012, S. 201. Siehe oben I. 2. die Äußerung von J. Schröder.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

das sehr deutlich bei der Abwägung gegensätzlicher Werte und Interessen; sie führt zu Einzelfallentscheidungen ohne die Berechenbarkeit einer verallgemeinernden Regel. In der Methodenlehre ist das Ergebnis die Freiheit der Methodenwahl. Die Methode hebt sich in dieser Freiheit selbst auf, wenn es nicht gelingt, diese Freiheit einzuschränken. Damit kehren wir zu der Ausgangsfrage zurück: Durch welche verallgemeinernden Regeln lassen sich die Anwendungsbereiche der Interpretationstopoi so strukturieren, dass der Interpret zwischen ihnen jedenfalls nicht mehr beliebig wählen kann? a)

Der Topos unbegrenzter Auslegung

Die Auslegung nach Sinn und Zweck des Gesetzes steht nicht ohne Grund im Mittelpunkt des Streites um die Freiheit der Methodenwahl. Denn der Spielraum, den dieses Auslegungselement eröffnet, ist durch Regeln kaum einzugrenzen. Inhaltliche Bestimmungen und damit Grenzen setzt hier letztlich nur der Zeitgeist mit seinen jeweiligen Wertungsmustern und für überzeugend gehaltenen Überzeugungen. 708 Insofern ist die Beliebigkeit eingeschränkt; davon abgesehen, ist die teleologische Interpretation das entscheidende Instrument, um im Gewand der Auslegung richterliche Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung zu betreiben Für die weiteren Überlegungen sind allerdings die zwei grundverschiedenen Perspektiven zu unterscheiden, aus denen man nach Sinn und Zweck einer Norm fragen kann: zum einen aus der Perspektive der konkreten Norm selbst. Es ist der Zweck, der der konkreten Regelung zugrunde liegt und der durch Auslegung dieser Norm nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht zu ermitteln ist. Eine grundsätzlich andere Perspektive ergibt sich, wenn allgemein nach Sinn und Zweck des Gesetzes gefragt wird und dieser dann zur Auslegung der konkret zu interpretierenden Norm herangezogen wird. In einem ersten Schritt ist in diesem Fall der Gesetzeszweck festzustellen. Im zweiten Schritt werden dann die ratio legis und die konkret auszulegende Norm in eine Zweck-MittelRelation gebracht. Beide Schritte sind methodisch höchst problematisch, weil sie weitgehend durch subjektive Setzungen bestimmt werden. Nicht von ungefähr spricht man von dem Zweck. Den Rege708

Dazu näher Strauch 2005, S. 518 f.

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

lungszweck gibt es aber nicht. Man hat eine Rechtsnorm oder ein Gesetz mit guten Gründen als »Resultante eines Interessenkonflikts« bezeichnet; man kann so deutlich machen, dass es eine Vielzahl von Interessen, Werten, Absichten und Zielsetzungen ist, die konkret »die Eigenart des einzelnen Gesetzes ergibt«. Wir haben daraus bereits im IV. Abschnitt das Fazit gezogen: Sinn und Zweck eines Gesetzes sind nie allein aus der Perspektive nur eines Normzweckes ableitbar (IV. 4 a). Einer teleologischen Interpretation muss also immer die Entscheidung vorausgehen, welchen Regelungszweck aus der Vielfalt der Zwecke, Interessen und Wertungen der Interpret zum Maßstab nehmen will. Denn die Operationen mit dem Zweckargument setzen, wie im Sprachgebrauch ja auch vorgezeichnet, die Fokussierung auf einen Zweck voraus. Ein Bündel sich zum Teil überschneidender, zum Teil widersprechender Zwecke zwingt zu einer Abwägungsentscheidung, aber man kann mit ihm nicht teleologisch argumentieren. So ist die Feststellung des Gesetzeszwecks in der Regel nicht das Ergebnis einer in den wesentlichen Schritten nachvollziehbaren Interpretation, sondern meist eine subjektive Setzung 709, das Resultat einer Auswahlentscheidung, die durch das für richtig gehaltene Ergebnis bestimmt wird. Als Interpretationstopos kann der so gewonnene Zweck in zwei Richtungen eingesetzt werden: • mit dem Ziel einer extensiven Auslegung; der Zweck der Regelung gebietet es, die Regelung auch auf die Fälle y und z auszudehnen, heißt dann die Formel; oder • mit dem Ziel einer einschränkenden Auslegung (teleologische Reduktion); die Formel kann dann lauten: Sinn und Zweck entsprechend ist die Regelung auf die Fälle x zu beschränken; sie gebieten es nicht, sie auch auf die Fälle y und z anzuwenden. Auf diese Weise kann der Interpret sowohl den konkreten Interessenausgleich, den der Gesetzgeber – eben als Resultante eines Interessenkonflikts – mit der konkreten Norm geschaffen hat, als auch die Bedeutung der einzelnen Tatbestandsmerkmale in die eine oder andere Richtung verschieben. Der übergeordnete Zweck wird zum übergeordneten Auslegungsziel der untergeordneten Norm. Hugo Preuss hatte diese Problematik des teleologischen Ansatzes schon 1900 in einem Beitrag über Methodik auf den Nenner gebracht: »Die Frage

709

M. Morlok 2012, S. 203 ff.

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

nach dem Zweck löst jeden juristischen Begriff in flüssiges Wachs auf.« 710 b)

Der Bereich unzulässiger teleologischer Interpretation

Die im Hinblick auf die Zwecksetzungsprärogative des Parlaments verfassungsrechtlich gebotene Begrenzung der richterlichen Interpretationskompetenz verlangt also – so die Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen – eine Begrenzung der teleologischen Argumentation. Mit dem Bereich, der durch diese Zwecksetzungsprärogative ausgefüllt ist, ist auch der Bereich eindeutig vorgegeben, in dem eine Argumentation mit einem nicht unmittelbar aus der Norm abgeleiteten Gesetzeszweck unzulässig ist: Soweit die Auslegung nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht – wie oben unter 2. a) dargelegt – zu einem eindeutigen und schlüssigen Normverständnis führen, darf der Richter dieses Ergebnis nicht mit teleologischen Erwägungen und Argumenten überspielen. Im Grundverständnis nicht anders hat auch das BVerfG gegenüber der teleologischen Auslegung die prinzipielle Grenze gesetzt und ausgeführt: »Eine verfassungsrechtlich unzulässige richterliche Rechtsfortbildung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie, ausgehend von einer teleologischen Interpretation, den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird.« 711 c)

Die notwendige Funktion teleologischer Auslegung

Die Regel ist es aber bekanntlich nicht, dass der Gesetzgeber seine Absichten hinreichend unmissverständlich äußert und seinen Willen auch gesetzestechnisch entsprechend eindeutig formuliert. Er könnte so auch nur Normen mit beschränkter zeitlicher und sachlicher Regelungskraft schaffen. Fehlt einer Norm aber die Eindeutigkeit und führen die einzelnen unmittelbaren Auslegungselemente zu unterschiedlichen, ja widersprüchlichen Interpretationen, dann ist zum einen ganz selbstverständlich die richterliche InterpretationskomZitiert nach G. Haverkate 1996, S. 43. BVerfG, Beschluss vom 26. 09. 2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 –, juris Rn. 56 m. H. auf BVerfGE 118, 212, 243.

710 711

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20 · Grundfragen der Gesetzesauslegung

petenz – einschließlich der Kompetenz zur Rechtsanpassung und Rechtsfortbildung – aufgerufen und zum anderen stellt sich dann die Frage nach den nunmehr relevanten Maßstäben. Spätestens mit der Rechtsanpassung und Rechtsfortbildung wächst der Rechtsprechung dann auch die Ergebnisverantwortung zu und zugleich ist damit der bereits erörterte Zusammenhang von Ergebnisverantwortung und teleologischer Argumentation aufgerufen. Wenn die klassischen Auslegungselemente kein einheitliches Auslegungsergebnis erbringen, bedarf es Kriterien, nach denen der Richter den offenen Konflikt löst und die er auch zu benennen hat. Sollen diese nicht nach freier politischer Entscheidung bestimmt werden, muss eine Rückbindung an das Gesetz erfolgen. Das bedeutet zunächst, dass Sinn und Zweck eines Gesetzes zunächst möglichst unmittelbar und konkret aus der Auslegung der anzuwendenden Norm zu ermitteln sind. 712 Erst wenn diese nichts erbringt, ist allgemein auf Sinn und Zweck des Gesetzes zurückzugreifen. Besteht etwa im Steuerrecht einerseits eine detaillierte Regelung über Inhalt und Umfang eines Verlustausgleichs, enthält sich die Norm aber andererseits jeder (ausdrücklichen) Aussage zur Frage der Zulässigkeit eines solchen Verlustausgleichs, dann muss das Gericht mit teleologischen Argumenten arbeiten, um die streitige Rechtsfrage der Zulässigkeit zu klären; wenn es auf konkretere Zweckvorgaben nicht zurückgreifen kann, dann sind hierfür auch ganz allgemein »die Prinzipien und grundlegenden Wertungen des Einkommensteuerrechts heranzuziehen«. 713 Das ändert nichts an der Problematik der teleologischen Methode. Wie bereits gesagt, kann die Rückbindung an das Gesetz, die hier gefordert wird, nicht als Bindung an eine objektiv eindeutige und als solche auch erkennbare ratio legis verstanden werden. Je uneindeutiger der Primärzweck einer Norm ist, je weniger dieser auf der Hand liegt, umso stärker werden die Zwecksetzungen durch die richterlichen Wertungsmuster bestimmt. Gleichwohl ist die teleologische Argumentation nicht im Sinne des Willkürlichen subjektiv. Bindung vollzieht sich hier als Einbindung in den argumentativen und diskur-

Zur Veranschaulichung siehe den oben – 1. a). – zitierten Fall »Schülerbeförderungskosten«. Zu unterschiedlichen teleologischen Auslegungstechniken im Zivilund Verwaltungsrecht vgl. C. Möllers 2012, Rn. 25. 713 So – als Beispiel – BFH, Beschluss vom 17. Dezember 2007 – GrS 2/04 –, juris Rn. 64; BFHE 220, 129, BStBl II 2008, 608. 712

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D · Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

siven Prozess der Rechtsprechung. Der Richter muss zum einen angeben können, aus welchen, dem normativen Zusammenhang entnommenen Gründen er den Zweck x und nicht die Zwecke y oder z in den Vordergrund stellt. Zum anderen muss er sich – je nach Streitstand – mit den Konsequenzen auseinandersetzen, die die unterschiedlichen Interpretationsansätze haben (können), sich also der Ergebnisverantwortung stellen. 714 Es geht auch hier um die Herstellung von Kohärenz. Die Ableitungs- und Wertungsmuster, durch die die Inhalte und Ergebnisse der teleologischen Argumentation entscheidend bestimmt werden, müssen anschlussfähig sein, akzeptiert werden können. – Anders als bei den durch den Gesetzgeber festgeschriebenen gesetzlichen Wertungsmustern können »Richtigkeit« und Angemessenheit der gerichtlichen Wertungsmuster im Widerspiel neuer Fälle, anderer Sachverhaltsperspektiven und unterschiedlicher Entscheidungen auch immer wieder in Frage gestellt werden; die Zwecke werden dann anders gewichtet und das bisherige Wertungsmuster korrigiert. Das Rechtssystem sichert sich durch diesen Mechanismus also zugleich Anpassungsfähigkeit und Akzeptanz. Wie – ganz allgemein – solche Muster entstehen und wie Richter – jenseits aller Subsumtion – mit ihnen arbeiten, wird Thema des nächsten Teils E sein.

Vgl. hier die im Grundgedanken parallele Überlegungen von M. Morlok 2012, S. 203 ff.

714

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Teil E Das Erkenntnisverfahren – Mustererkennung und »Fallverstehen« – Entscheidungstheorien

Die Feststellungen von Sachverhalt und Rechtslage haben jeweils ihre eigenen Erkenntnisperspektiven und Themen. Im Laufe ihrer Analyse ergaben sich zugleich aber immer wieder Parallelen und Verschränkungen zwischen diesen Themen, die deutlich werden ließen, dass beide Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgänge nicht wirklich getrennt werden können, wenn ein »Fallverstehen« gelingen soll. In diesen Zusammenhängen war dann auch meistens von »Mustererkennung« die Rede, auf die nun genauer einzugehen ist. Dass beide Operationen zusammen gesehen werden müssen, ist der Methodenlehre auch keineswegs verborgen geblieben. Mit der berühmt gewordenen Formel Engischs von dem »Hin- und Herwandern des Blicks« ist das Problem aber kaum mehr als nur benannt worden. In diesem Teil wird es deshalb darum gehen, genauer zu untersuchen, welche gedanklichen Operationen denn bei genauerem Hinsehen am Werk sind, wenn der Richter im Wechselspiel von Tatsachenerfassung und rechtlicher Einordnung seine Falllösung erarbeitet. Nur als Prozesse der Auslegung und/oder der Subsumtion lassen sich die kognitiven Prozesse, die wir sowohl bei der Tatsachenerfassung als auch bei der rechtlichen Würdigung zu beobachten und zu analysieren haben, nicht hinreichend beschreiben. Das ist kein grundsätzlicher Einwand gegen diese traditionell selbstverständlichen Elemente der Methodik. Aber ein Verständnis der entscheidenden Prozesse richterlicher Kognition ist nur möglich, wenn deren Mechanismen im Zusammen- und auch Gegenspiel mit Prozessen der Mustererkennung gesehen und begriffen werden, als These formuliert: In der juristischen Methodik muss das Phänomen der »Mustererkennung« als eigenständiger und gegenüber der Subsumtion auch vorrangiger Mechanismus der Erkenntnisgewinnung erkannt und analysiert werden. Die Methodenlehre bekommt so auch ihren theoretischen Zugang zu den Denkformen und Prozessen richterlicher Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung. 527 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

E · Das Erkenntnisverfahren

Ausgehend von typischen Problemlagen, vor die sich die Methodik gestellt sieht, muss zunächst im Kapitel 21 die begriffliche Unterscheidung zwischen Subsumtion und Mustererkennung näher bestimmt werden. Rolle und Bedeutung von Mustererkennungen für das Fallverstehen sind in Kapitel 22 zu veranschaulichen und – nach einer ergänzenden Begründung, warum ich von »Mustern« spreche und nicht etwa von »Schemata« oder »Paradigmen« – die Befunde zu einer Typologie zusammenzufassen. Sodann werden im Kapitel 23 die Ansätze und Erklärungsmodelle diskutiert, mit denen sich die Mechanismen bei Mustererkennung und Musterbildung, d. h. auch die Prozesse kreativer Rechtsgewinnung, theoretisch genauer erfassen lassen. 1 Die Prozesse des Umgangs mit Mustern sind jedoch letztlich nur Zwischenschritte zu einer gerichtlichen Entscheidung. Den Abschluss bildet deshalb – im Kapitel 24 – der Versuch, unter methodischen Gesichtspunkten auch entscheidungstheoretische Ansätze in die Diskussion um die »richtige Entscheidung« einzubeziehen.

Diese Kapitel folgen weitgehend den bereits in meinem Beitrag »Mustererkennung und Subsumtion im Erkenntnisverfahren« von 2012, S. 335 ff. formulierten Gedanken, die ihrerseits auf einen Beitrag in der Festschrift für Gerhard Käfer, Saarbrücken 2009, S. 387–412, Bezug nehmen. Weiterführend sind die Strukturierungen, die sich aus Kants Unterscheidung zwischen subsumierender und reflektierender Urteilskraft ergeben, die theoretischen Ansätze zur Vermittlungsfunktion von Mustern sowie die Überlegungen zu den Grenzen der Analysierbarkeit des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens.

1

528 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Kapitel 21 Mustererkennung und Subsumtion

Die Grundstruktur der herkömmlichen Methodenlehre wurde durch das Subsumtionsmodell geprägt. Wie schon mehrfach betont, war dieses Modell in eine Vorstellung von Sprache eingebettet, die dieser die Fähigkeit zutraute, die Welt so abzubilden, dass sich auch unsere Erkenntnis auf eine Subsumierbarkeit der Welt verlassen konnte. Das (idealtypische) Modell der Rechtsanwendung als Subsumtion, und damit auch als logische Operation, war, aus der Perspektive einer »realistischen Semantik« gesehen, mithin in sich schlüssig. Doch dieses Verständnis von Sprache ist heute obsolet und wir können für die Subsumtion nicht mehr von vorgegebenen und sicheren Relationen und Bezügen zwischen dem Tatbestand (= Sachverhalt) und den Tatbestandsmerkmalen ausgehen. Unabhängig davon sind auch wesentliche Teile richterlicher Fallarbeit, nämlich die Sachverhaltskonstruktion, nicht mehr auf den Nenner einer richtigen Erfassung dessen, was »wirklich« gewesen ist, zu bringen. Weiterhin hat das mit dem Subsumtionsmodell eng verbundene Kodifikationsmodell seine prägende Kraft ebenfalls verloren und insoweit wurde auch die Vorstellung hinfällig, Rechtsanwendung sei Gesetzesanwendung und das Gesetz liefere – jedenfalls grundsätzlich – immer auch die auf den Fall passende Regel. Urteilen kann deshalb nicht mehr wesentlich als Sache der bestimmenden Urteilskraft und ihrer zwingenden Schlussfolgerungen aufgefasst werden. Man muss das weite Feld sehen, für das andere Erklärungsansätze und Regeln zu suchen sind, etwa Kants Gedanke der reflektierenden Urteilskraft oder eben eine Theorie der Mustererkennung. Denn aus den Phänomenen »schöpferischer Rechtsanwendungen« resultieren für die Methodik nicht nur die bereits erörterten Probleme der verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Interpretationskompetenz, sondern eben auch die nun zu beantwortende Frage, wie die kognitiven Prozesse eigentlich aussehen, über die Rechtsanpassung, Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung gesteuert werden. 529 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

E · Das Erkenntnisverfahren

Um eine Antwort geben zu können, brauchen wir zunächst Klarheit, welche Vorgänge mit den Begriffen Subsumtion und Mustererkennung bezeichnet werden, an welchen Punkten der Urteilsfindung der Mustersuche und Mustererkennung eine entscheidende Bedeutung zukommt und welche Rolle dabei die Subsumtion spielt (I. u. II.). Gut veranschaulichen lässt sich diese Rolle am Modell des semiotischen Dreiecks (III.).

I.

Mustererkennung – ein entscheidender Modus der Rechtserkenntnis

Die herkömmliche Methodenlehre beschreibt die kognitiven Prozesse der richterlichen Urteilsfindung wesentlich als Prozesse der Auslegung und der Subsumtion. Der Begriff der »Mustererkennung« ist demgegenüber kein Begriff des juristisch-methodischen Diskurses. Er stammt aus den Bereichen der Informatik und der Kognitionswissenschaften und meint die Fähigkeit, in einer Menge von Daten Regelmäßigkeiten, Wiederholungen, Ähnlichkeiten oder Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. 2 Ruft man das Stichwort bei Google auf, erhält man mit Schwerpunkt und Präferenz Verweise auf die Verwendung und Bedeutung in der Informatik: Mustererkennung als Suche nach Strukturen in Daten. Die Mustererkennung wird hier als ein Verfahren der künstlichen Intelligenz verstanden, um die Fähigkeiten der menschlichen Wahrnehmung nachzubilden. Beispiele sind die Spracherkennung, das maschinelle Lesen und Erkennen von Zahlen (etwa Postleitzahlen), Zeichen (Kontrolle von Autokennzeichen) und Bildern (etwa Gesichtern, Fingerabdrücken, Röntgenbildern). Ziel unserer Überlegungen ist allerdings nicht ein »Recht ex machina« 3, also ein unmittelbarer Einsatz von Verfahren der künstlichen Intelligenz im Rechtsprechungsprozess. Wichtig ist aber der Grundgedanke: Wenn sich Grundoperationen der menschlichen Erkenntnis maschinell und algorithmisch nachbilden lassen, gibt es auch entsprechende Erkenntnisstrukturen, die sich kognitionswissenschaftlich erfassen lassen. Von zentraler Bedeutung für die folgenden ÜberlegunVgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Mustererkennung – 2014–09–12 So der Titel von O. Raabe / R. Wacker / D. Oberle / Ch. Baumann / Ch. Funk: Recht ex machina. Formalisierung des Rechts im Internet der Dienste. Berlin/Heidelberg 2012; vgl. dazu Kyriakos N. Kotsoglou, Subsumtionsautomat 2.0, JZ 2014, 451–457.

2 3

530 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

21 · Mustererkennung und Subsumtion

gen wird deshalb der kognitionswissenschaftliche Ansatz sein. Es sind hier die alltäglichen Vorgänge unserer Wahrnehmungen, insbesondere die der Objekterkennung, die als Mustererkennungen zu beschreiben sind. Entsprechend alltäglich sind auch die »Muster«, über die der Richter im gerichtlichen Verfahren Sachverhalte und deren rechtliche Bedeutung erfasst. Durch diesen Ansatz wird auch der Grundgedanke bestimmt, von dem die folgenden Überlegungen ausgehen: Wenn wir uns vorzustellen haben, wie wir Wirklichkeit erfassen, dann ist die Vorstellung, wir erarbeiteten uns diese Wirklichkeit jeweils aus einer Vielzahl von Reizen und Informationen in einer Vielzahl von logischen Subsumtionsvorgängen, mit dem, was wir heute über Wahrnehmung wissen, kaum vereinbar. Das gilt auch für komplexe Wertungen. Der Ausgangspunkt für das Verstehen solcher Prozesse muss vielmehr in der Annahme gesehen werden, dass wir unsere Umwelt – und darunter auch juristische Sachverhalte – grundsätzlich ganzheitlich erfassen. Wir erfassen sie über Muster, die es uns ermöglichen, die unvorstellbar große Vielzahl von Sinnesreizen, über die wir wahrnehmen, zu bewerten und dann auf Begriffe zu bringen.

1.

Beispiel »Gesamtwürdigung«

Die Problematik wird zum einen besonders augenfällig, wenn komplexe Sachverhalte zu würdigen sind. Die »Gesamtwürdigung«, die dem Richter dann aufgegeben ist, kann, wie die bisherigen Analysen (Kap. 14 II.) bereits ergeben haben, nicht über deduktive Ableitungen bewerkstelligt werden, sondern läuft über Wertungs- und Wahrnehmungsmuster. Soweit ein richterliches Urteil eine »Gesamtwürdigung aller Umstände« erfordert – etwa für die Prüfung einer Zeugenaussage auf ihre Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit hin oder für ein wertendes Tatbestandsmerkmal (»sittenwidrig«, »unwürdig« etc.) –, kann dieses nicht Schritt für Schritt als rational nachvollziehbare Reihe von deduktiven Schlüssen rekonstruiert werden. Es handelt sich deshalb aber keineswegs um nichts anderes als aus dem Unbewussten gesteuerte Dezisionen, sondern, wie sich zeigen wird (Kap. 23 u. 24), um Umgang mit und Schlussfolgerungen aus durchaus rationalen Mustern.

531 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

E · Das Erkenntnisverfahren

2.

Beispiel »Einordnungsmuster«

Eine andere, aber ebenfalls ganz wesentliche Rolle spielen Muster bei der Hypothesenbildung. Gemeint sind die Muster, die als »Einordnungsmuster« am Beginn der Fallbearbeitung die Ausgangshypothesen und damit insgesamt das Verstehen des Falles entscheidend bestimmen und – wenn sie falsch gewählt werden – zu Fehlurteilen führen. Der Jurist, der mit einem neuen Sachverhalt konfrontiert wird, muss – bevor er es unternehmen kann, unter eine bestimmte Norm zu subsumieren – in der Geschichte, die ihm vorgetragen wird, eine bestimmte rechtliche Grundstruktur erkennen: Welcher Delikttypus könnte es sein, welche Art des Vertrages, welches Recht des Nachbarn könnte durch die erteilte Baugenehmigung verletzt sein, wie ist die Absprache, die zwischen den Beteiligten getroffen wurde, gesellschaftsrechtlich einzustufen usw. Entsprechend beginnt das juristische Gutachten oder das Votum mit Sätzen wie: »Der Anspruch könnte begründet sein aus …« oder: »Eine Strafbarkeit könnte sich ergeben aus …«. Die Ansätze, die als Normen oder Rechtsinstitute in diese Leerstellen einzusetzen sind, machen dabei meist keine Probleme. Anders als vielleicht zu Beginn des Studiums weiß man, welche juristische Schublade man öffnen muss. So wird dieser Vorgang in aller Regel nicht einmal als besonderer Schritt bewusst. Aber auch wenn der »Einstieg« selbstverständlich ist, müssen als notwendige Gedankenschritte – bevor man mit den konkreten Arbeitsschritten, Klärung der Rechtslage und Sachverhaltsermittlung, beginnen kann – die diesen Operationen vorgelagerten Phasen der Hypothesenbildung stehen. Zur ersten Einordnung in den juristischen »Denk- und Argumentationsraum« müssen Muster aufgerufen sein, mit denen der Richter das von den Parteien/Beteiligten Vorgetragene erfassen und beurteilen kann. Zur Illustration soll der schon erwähnte Fall »Sportgate./.Boris Becker« 4 die Funktion der »Einordnungsmuster« an einem Prozessbeispiel zeigen, in dem eine überzeugende Einordnung zunächst in charakteristischer Weise misslungen ist: Im Juli 2000, kurz nach Gründung der Sportgate AG, zu deren Gründern auch der frühere Tennisstar gehörte, unterschrieb dieser an 4

Vgl. Kap. 13 III. 2. a.

532 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

21 · Mustererkennung und Subsumtion

einer Bar in einem Washingtoner Hotel folgende Erklärung: »An diejenigen, die es angeht: Ich verpflichte mich hiermit gegenüber der S. AG i. G. sowohl unverzüglich jegliche Verluste, die während des Geschäftsganges eintreten, bis zu einer Summe von 1,5 Millionen Euro mittels geeigneter Maßnahmen auszugleichen, als auch die Versorgung der Gesellschaft in dieser Zeit mit flüssigen Mitteln sicher zu stellen, so daß die Gesellschaft jederzeit ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommen kann. Diese Erklärung soll dem Recht der Bundesrepublik Deutschland unterfallen.« (Übersetzung). – Aus dieser Erklärung klagte der Insolvenzverwalter über das Vermögen der Sportgate AG. Das OLG München wies die Klage mit der Begründung ab, bei der Erklärung handele es sich um eine mangels Gegenleistung schenkweise eingegangene, aber mangels notarieller Beurkundung (§ 518 BGB) formunwirksame Verpflichtung. 5 Der BGH hat das Berufungsurteil mit der Begründung aufgehoben, das Urteil beruhe auf einer grundlegenden Verkennung der Rechtsnatur von Finanzierungsvereinbarungen zwischen Gesellschaftern und ihrer Gesellschaft. Wörtlich: »Das Berufungsgericht verkennt schon im Ansatz, daß der Beklagte die – unterstellt – gegenüber der Gesellschaft abgegebene Erklärung in seiner Eigenschaft als (Gründungs-)Gesellschafter im Hinblick auf seine Mitgliedschaft (causa societatis) abgegeben hat«. 6 Fragt man nach den Gründen, warum das OLG die zitierte Erklärung in das Muster »Schenkung« eingeordnet hat, lässt sich das nur dadurch nachvollziehbar erklären, dass der sachlich-wirtschaftliche Zusammenhang zwischen der Verlustübernahmeerklärung und der Gesellschafterstellung nicht in den Blick geraten war. Es ist wie meist bei einer Verkennung des Einordnungsmusters: Weil verkannt wurde, was Sache ist, wurde die Rechtslage verkannt – oder umgekehrt. Die Subsumtion als logische Operation mag in solchen Fällen in Ordnung sein. Gleichwohl kann das Revisionsgericht dann oft nur zurückverweisen, »weil die bisher unterbliebene Klärung des streitigen Sachverhalts nachzuholen« ist.

Urt. vom 18. 01. 2006 – 18 U 1887/04. BGH Urt. vom 08. 05. 2006 – II ZR 94/05 = BB 2006, 1467–1468 = WM 2006, 1202– 1204.

5 6

533 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

E · Das Erkenntnisverfahren

II.

Subsumtion

Anders als die »Mustererkennung« hat der Begriff der »Subsumtion« in der Methodik einen festen Platz und scheint demgegenüber auch klar bestimmt zu sein, bezeichnet er doch das Kerngeschäft des Juristen. Gleichwohl weiß man oft nicht so ganz genau, was gemeint ist, wenn von »Subsumtion« gesprochen wird, denn mit dem Begriff der »Subsumtion« wurden und werden, sieht man genauer hin, zwei sehr unterschiedliche Vorgänge bezeichnet. Es geht einmal um den Vorgang der Unterordnung des Falles unter die einschlägige rechtliche Regelung (Subsumtion im weiteren Sinn) und zum anderen um die Frage, ob die einzelnen konkreten Sachverhaltsfeststellungen auch den einzelnen Tatbestandsmerkmalen unterfallen (Subsumtion i. e. S. = Subordination). Wird sie als Unterordnung eines Sachverhaltes unter eine Norm verstanden, kann es den wesentlichen Teil des Vorganges bezeichnen, der die Rechtsfindung ausmacht; er schließt dann auch die Gesetzesauslegung mit ein. – Hat man dagegen hauptsächlich den »Subsumtionsschluss« – den »Justizsyllogismus« nach dem Schlussschema des Modus Barbara 7 – im Auge, meint Subsumtion in einem engeren Sinn die Unterordnung eines Begriffs von engerem Umfang unter einen weiteren (Gattungs-)Begriff: Der sprachlich gefasste Sachverhalt wird über seine konkreten Begriffe unter die abstrakteren Begriffe der Regel »subordiniert«. Es wird die Unterordnung des konkreten Sachverhaltsumstandes unter ein Tatbestandsmerkmal beschrieben. 8 Wird »Subsumtion« in dem (zuerst genannten) weiteren Sinn definiert und verknüpft man sie mit einer kohärenztheoretisch verstandenen Methodenlehre, wäre im folgenden »Subsumtion« als Herstellung von Kohärenz darzustellen. Es macht jedoch gerade ein zentrales Problem der Methodenlehre aus, dass es sich bei dem Vorgang der »Rechtsfindung« um höchst komplexe kognitive Erkenntnisprozesse handelt. Es gilt mithin zu differenzieren, und deshalb soll, wenn Vgl. näher Klug 1966, S. 47 ff.; Neumann 2004, S. 299, 312 f. Von dem engeren Begriff gehen z. B. R. Zippelius 2012, S. 96 ff. und K. Larenz in der 1. Aufl. 1960, S. 210 aus, von dem weiteren etwa K. Engisch 1963, S. 13 ff. und Engisch 1975, S. 50 ff. und S. 202 f. Grundsätzlich zur Begrifflichkeit siehe G. Gabriel 2012, S. 1 ff. und R. Gröschner 2012, S. 422; vgl. auch den Art. »Subsumtion« von G. Otte 1998, S. 562 f. mit der wohl zutreffenden Feststellung, dass sich die terminologische Unterscheidung zwischen »Subsumtion« und »Subordination« nicht durchgesetzt hat.

7 8

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21 · Mustererkennung und Subsumtion

in diesem Abschnitt von »Subsumtion« die Rede ist, dieser Begriff in dem engeren Sinn der »Subordination« verstanden werden, also bezogen auf die Unterordnung eines Begriffes von geringem Umfang unter einen höheren Begriff. Nur so kann in dem Vorgang der Rechtsfindung zwischen »Subsumtion« und »Mustererkennung« differenziert und der Erkenntnisgewinn, der in dieser Differenzierung liegt, genutzt werden. Damit gibt diese Differenzierung den Weg frei, das Verhältnis von Subsumtion und Mustererkennung als Wechselspiel von »Begriffsarbeit« und Mustererkennung zu sehen. Diese Unterscheidung entspricht zugleich einer sehr viel grundlegenderen, die der Neurowissenschaftler G. Edelman als These so formulierte: »Meiner Ansicht nach gibt es zwei Hauptformen des Denkens: Logik und Selektionismus (oder Mustererkennung).« 9 Wie wir uns die Mustererkennung – als Auslese aus Varianten – vorzustellen haben, ist an den zwei folgenden Beispielen zu erläutern. Über diese Beispiele hinaus ist dann im nächsten Abschnitt (III) dieses Verhältnis am Modell des semiotischen Dreiecks als Wechselspiel zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft zu beschreiben. Ziel ist es, so den zentralen Vorgang richterlicher Kognition im Prozess der Rechtsermittlung zu analysieren und sichtbar zu machen.

1.

Von der »Begriffsarbeit« zur Mustererkennung

Das schulmäßige Ziel der Auslegung ist die Gewinnung subsumtionsfähiger Begriffe. Die Subsumtion (= Subordination) kann dann unmittelbar an den durch eine Wortinterpretation gewonnenen Oberbegriff ansetzen. Was aber, wenn man mit der herrschenden Auslegung zu Ergebnissen kommt, die der Normanwendung Grenzen setzen, die sinnwidrig erscheinen, weil die Regelung »an sich« – nach Normzweck und Interessenlage – doch eigentlich ganz gut und jedenfalls besser als andere auf den zu regelnden Fall passt? Der Blick geht dann vom Besonderen (dem Fall) zum Allgemeinen und sucht nach einem Muster, das sowohl wesentliche Elemente der konkreten Norm als auch des übergeordneten, abstrakteren Allgemeinen verbindet. Ins Spiel kommt das analogische Erkenntnisvermögen 10 – G. Edelman 2007, S. 145; dort S. 144 auch zur neurowissenschaftlichen Basis dieser Unterscheidung. Selektion meint hier allgemein die Auslese aus Varianten. 10 Dazu G. Gabriel 2012, S. 17 ff. 9

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E · Das Erkenntnisverfahren

hier insbesondere die Analogie aus dem Grunde, 11 die an die ratio legis anknüpft. – Dazu ein Beispiel: Das Reichsgericht hatte es bekanntlich abgelehnt, die Strafnorm des § 242 StGB auf den Energiediebstahl anzuwenden; eine Subsumtion unter den Begriff der Sache würde die Wortlautgrenze überschreiten. 12 Wenn »Strom«, weil kein körperlicher Gegenstand (§ 90 BGB), keine »Sache« ist, erscheint die Elektrizität auch als Gegenstand des Kaufrechts nicht subsumierbar. Gleichwohl besteht weitgehend Einigkeit, dass auf den Stromlieferungsvertrag die für das Kaufrecht geltenden Vorschriften Anwendung finden. 13 Zur Begründung heißt es zum Beispiel im Staudinger: »Wegen dieser Nähe zum Kaufvertrag und der Vergleichbarkeit mit Wasser- und Gaslieferungsverträgen (dazu § 433 Rn 9) wandte die hM auch unter Geltung alten Rechts auf Überlassungsverträge über Strom von jeher die kaufrechtlichen Vorschriften an«. 14 Analysiert man diese Argumentation, dann erfolgt keine Auslegung über die Wortinterpretation eines Tatbestandsmerkmales mit Oberbegriff und Begriffsdefinitionen, ja überhaupt keine semantische Erfassung des Problems. Die Überlegungen zur rechtlichen Einordnung der Stromlieferung und die dann gefundene Auslegungslösung gehen vielmehr vom Vorgang selbst aus. Gefragt wird nach dem »Muster«, danach, mit welchem der Vertragstypen, die das Schuldrecht als Regelungsmuster vorgibt, wir den Vorgang – ein Verbraucher bezieht von den Stadtwerken gegen Geld Strom – rechtlich am besten erfassen können. Aus diesem Blickwinkel einer »Sachverhaltsanalyse« auf das Allgemeine des Vorganges erscheint es dann als geradezu selbstverständlich, in dem Vorgang der Stromlieferung rechtlich das Muster des Austauschverhältnisses »Kaufvertrag« zu erkennen.

2.

Mustererkennung statt Subsumtion

Vielfach fällt die Entscheidung über die Anwendbarkeit einer Norm aber bereits im Ansatz nicht mehr via Begriffsanalyse und SubsumNäher und zu den unterschiedlichen Rekonstruktionen des Analogieschlusses M. Herberger u. D. Simon 1980, S. 170 ff. 12 RGSt 32, 165. 13 Palandt/Weidenkaff 2011, § 433 Rn. 8, § 453 Rn. 6. 14 R. M. Beckmann/Staudinger 2004, § 453 Rn. 39 mit Hinweisen u. a. auf BGHZ 23, 175. 11

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21 · Mustererkennung und Subsumtion

tion; sie wird über den Einsatz von Mustern, insbesondere über Interpretationsmuster vorgenommen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bietet dafür eine Fülle von Beispielen. Eindrücklich zeigt sich in dem schon vielfach zitierten Paradigma des Lüth-Urteils 15 der Funktionsunterschied von Subsumtion und Mustererkennung. Hätte das Bundesverfassungsgericht traditionell subsumiert, hätte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg haben können. Nach der aus der Weimarer Zeit überkommenen Grundrechtslehre war die Norm, gegen die der Theaterkritiker Erich Lüth mit seinem Boykottaufruf gegen einen Veit-Harlan-Film verstoßen hatte, als ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG und damit eindeutig als Schranke für die Meinungsfreiheit einzustufen, denn das aus § 826 BGB abgeleitete Boykottverbot richtete sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche. 16 Der Subsumtionsvorgang, der durch die Unterordnung eines Begriffes mit geringerem Umfang unter einen Oberbegriff gekennzeichnet ist, hätte bei der bisherigen Auslegung also zu einem eindeutigen Ergebnis geführt. Mit der Übernahme des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes veränderte sich demgegenüber der Umgang mit dem gesetzlichen Tatbestand grundsätzlich: Die logische Operation der Subsumtion wurde durch eine Rechtsanwendung nach einem Abwägungsmuster ersetzt. 17 Mustererkennung statt Subsumtion bedeutet mithin: Das Subsumtionsmodell, das wir traditionell als das Grundmuster der Normanwendung ansehen, ist nur ein Denkmodus neben anderen, die der Jurist bei der Handhabung von Normen verwendet.

III. Zum Wechselspiel von Subsumtion und Mustererkennung Wie bereits erörtert (Kap. 20), verläuft die Vermittlung zwischen dem Allgemeinen (der Rechtsnorm) und dem Besonderen des Falles im Rechtsfindungsprozess nicht nur in der einen Richtung: In der rechtlichen Beurteilung eines Falles treffen sich oft zwei gegenläufige

BVerfGE 7, 198–230; vgl. dazu auch unten IV.2.2 und IV.2.3. G. Anschütz 1960, S. 454. 17 LS 5: »Die ›allgemeinen Gesetze‹ müssen im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung für den freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt werden«, so die klassisch gewordene Formulierung. 15 16

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E · Das Erkenntnisverfahren

kognitive Vorgänge, die dann zum »Urteil« führen: Einmal die Subordination (»Subsumtion« im engeren Sinn) mit ihren Schlussformen vom Allgemeinen zum Besonderen, also vom allgemeinen Rechtsbegriff zum konkreten Sachverhaltsumstand, aber zum anderen auch die gegenläufige Beurteilung vom Besonderen zum Allgemeinen. Dieser gegenläufige Beurteilungsmodus – bei dem sich die Rechtslage gleichsam aus einem genauen Blick auf den Fall oder einzelne Fallumstände erhellt – lässt sich, wie ebenfalls schon betont, nicht mehr als »Subsumtion« beschreiben, jedenfalls nicht ohne den Begriff konturlos werden zu lassen. Es sind vielmehr kognitiv wesentlich anders strukturierte Vorgänge der »Mustererkennung«, mit denen wir in einzelnen Sachverhaltsumständen oder einer Fallkonstellation ein »Allgemeines« als Muster erkennen, die die Mechanismen dieses Beurteilungsmodus prägen.

1.

Das semantische Dreieck

Bei genauerem Hinsehen bewegt sich der Rechtsfindungsprozess aber nicht nur zwischen den beiden Polen Norm und Fall. Wir haben es nicht nur mit einer zweipoligen, sondern mit einer dreistelligen Relation zu tun, und zwar zwischen: • A – dem Normtext, dem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal, • B – dem Fall. Es sind die mit dem Sachverhalt festgestellte Handlung/Verhalten/Eigenschaft, die den Definitionselementen (C) subordinierbar sein müssen, um schlussfolgern zu können, dass der Fall der Norm/Regel unterfällt; und • C – den Bedeutungen, mit denen die Worte des Textes zu verstehen sind bzw. verstanden werden, d. h. die »Wortgebrauchsregel«, die Definition des Tatbestandsmerkmales, um den Normtext insofern »subordinationsfähig« zu machen. Allgemeiner gesagt haben wir es mit A – dem Terminus/Zeichen (Wort, Ausdruck), B – dem Gegenstand (Referenz) und C – dem Begriff (Bedeutung, Sinn), dem Interpretant, zu tun. Damit bewegen wir uns im Bereich der Semiotik – angesprochen bereits im Zusammenhang mit dem erkenntnistheoretischen Problem der Vermittlung 18 –, also der Lehre von den Zeichen, die diese dreistellige Rela-

18

Kap. 12 II.

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21 · Mustererkennung und Subsumtion

tion üblicherweise in der Form eines Dreiecks anordnet. 19 Nach C. S. Peirce (1839–1914), dem amerikanischen Mathematiker, Philosoph und einem der Begründer der modernen Semiotik, hat dieses Dreieck, vereinfacht – doch ergänzt um die Buchstaben A-B-C, um die Orientierung im Text zu erleichtern – folgende Gestalt 20: C Interpretant (Bezeichnetes, Bedeutung)

Repräsentamen (Bezeichnung, Mittel Der Repräsentation)

Objekt (gegenständliches Objekt oder Bewußtsinsobjekt)

A

B

Der semiotische Ansatz, Begriffe über eine dreistellige Relation zu bestimmen, basiert auf den zwei Grundeinschätzungen, die auch bisher unsere Überlegungen zu Recht und Sprache entscheidend bestimmt haben: Begriffe werden weder durch ihr (unveränderliches) Wesen (Wesen der Ehe, Wesen der Untreue etc.) noch durch eine klare Zuordnung zu den Objekten dieser Welt bestimmt, wie es die »realistische Semantik« annahm. Die Bedeutung eines Begriffes ist vielmehr »nichts anderes als die Praxis, die wir mit ihm verbinden«. 21 Bedeutung entsteht in der Praxis der »Lebenswelt«. Wir haben es also, strukturell gesehen, mit dem gleichen Grundverständnis von Sprache zu tun, das wir mit Wittgensteins Gebrauchstheorie der Sprache im 17. Kapitel erörtert hatten. 22 Im Schema des semiotischen Dreiecks zeigt sich allerdings deutlicher, wie sich juristische Begriffe im praktischen Gebrauch der Rechtsprechungspraxis formen, sich in Fällen der Rechtsfortbildung verändern und wieder stabilisieren. Dabei gilt im Zusammenhang dieses Kapitels unser InZu den Grundlagen (der sehr ausdifferenzierenden) Diskussion vgl. als wesentlichen Vertreter U. Eco 2002, S. 28 ff.; dort auch zur vielfach unterschiedlichen Terminologie. Zu Ecos Theorie vgl. D. Mersch 1993, S. 81 ff. 20 U. Volli 2002, S. 27 ff. Vgl. zu Peirce in diesem Zusammenhang näher die Untersuchungen von J. Lege 1999, hier insbesondere S. 225 ff. 21 So im Anschluss an Ch. S. Peirce die Formulierung von J. Lege 2012, S. 266. 22 Zu der Parallele zwischen Peirce und Wittgenstein siehe J. Lege 2006, S. 1, 8. 19

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E · Das Erkenntnisverfahren

teresse nicht mehr den verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung, sondern einer genaueren Beschreibung derjenigen Operationen, Denkformen und Mechanismen, die – gleichsam als Hintergrundprogramme – die Prozesse der Rechtsfortbildung steuern und bestimmen.

2.

Das semantische Dreieck und der Prozess der Rechtsfortbildung

Zunächst sollen diese Überlegungen aber nicht abstrakt weitergeführt werden, sondern die entscheidenden Schritte im Prozess der Rechtsfortbildung am konkreten Beispiel der Entscheidung GSBGHSt 9, 384 zur korrigierenden Auslegung des Begriffes der »Heimtücke« in § 211 StGB dargestellt und analysiert werden. Überträgt man das Rechtsproblem, um das es dem BGH bei dieser Entscheidung ging, in die dreistellige Relation des semiotischen Dreiecks, lässt sich dessen Grundstruktur – nämlich die Abhängigkeit der Interpretation, d. h. der Bestimmung des entscheidenden Tatbestandsmerkmales, also des »Interpretanten«, von der Fallkonstellation – gut in folgendem Bild schematisieren: 23 A /Heimtücke/

»Ausnutzung von Argund Wehrlosigkeit«

A, wie er F und T vergast B, wie sie X auflauert C, wie er Y vergiftet D, wie sie ... etc.

C

B

A: Der Große Senat hatte mit seiner Entscheidung auf folgende Vorlagefrage zu antworten: »Setzt das Merkmal der Heimtücke bei Mord mehr voraus als die bewußte Ausnutzung der Arg- und Wehrlosig-

Übernommen ist dieses Schema aus J. Lege 2012, S. 270 ff., dem ich auch in der Darstellung weitgehend folge.

23

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21 · Mustererkennung und Subsumtion

keit des Opfers, insbesondere eine verwerfliche Gesinnung des Täters?« 24 B: Zu entscheiden war über folgenden Fall: Der Angeklagte veruntreute als städtischer Vollziehungsbeamter in den Jahren 1953 und 1954 etwa 400,– DM, weil er meinte, ihm sei zu Unrecht eine Zulage gestrichen worden. Als dies entdeckt wurde, wurde ihm untersagt, seine Dienstgeschäfte fortzuführen. Hierdurch geriet der Angeklagte, der an krankhafter Überempfindlichkeit litt, in tiefe Verzweiflung. Er versuchte, sich zu töten, indem er 20 Morphiumtabletten einnahm und sich über den geöffneten Gashahn beugte. Dieser Versuch misslang, weil ihn die 11-jährige Tochter überraschte und ständiges Erbrechen einsetzte. Die große Menge Morphium steigerte seinen Zustand unbeherrschter Verzweiflung. So faßte er in schlafloser Nacht erneut den Entschluß, aus dem Leben zu scheiden und hierbei Ehefrau und Tochter, die er sehr liebte, mit in den Tod zu nehmen. Zu diesem Zweck öffnete er die Gashähne. Das ausströmende Gas führte seine völlige Unzurechnungsfähigkeit herbei. Als seine Tochter den Gasgeruch spürte und sich an ihn wandte, erwürgte er sie. Auch seine Ehefrau versuchte er zu erwürgen, als sie erwachte. Dies gelang ihm jedoch nicht. Darauf floh er zur Polizei. 25 C: Die damals von der Rechtsprechung verwandte Gebrauchsregel für das Mordmerkmal »heimtückisch« lautete: »Heimtückisch tötet, wer die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers zur Tat bewusst ausnutzt […] Arglos in diesem Sinne ist, wer sich – zumindest zu dieser Zeit – keines Angriffs des Täters auf sein Leben versieht.« – Diese Voraussetzungen waren im Fall des A gegeben: Er nutzte die »Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers« (Frau und Kind des A schlafen und versehen sich daher keines Angriffs) »bewusst« aus. Aus welchen Gründen genau der 5. Senat den Großen Senat angerufen hatte, ist in der Entscheidung nicht mitgeteilt. Eindeutig, wie die Vorlage zeigt, hielt er jedoch die Subsumtion (Subordination) mit der unkorrigierbaren Konsequenz: »Heimtücke«, also Mord mit lebenslanger Freiheitsstrafe, für fragwürdig. Diese schien ihm angesichts des Umstandes, dass A Frau und Tochter, »die er sehr liebt«, »Entehrung und die Not« ersparen wollte, offenbar unbillig. 26 24 25 26

BGHSt 9, 385 – juris Rn. 7. BGHSt 9, 385 – juris Rn. 4. So auch J. Lege 2006, S. 3.

541 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

E · Das Erkenntnisverfahren

3.

Rechtsfortbildung – Rechtsgefühl, »reflektierende Urteilskraft« und Mustererkennung

Will man eine solche Einschätzung, dass ein Ergebnis unbefriedigend, unbillig oder gar eindeutig ungerecht ist, fassen, erscheint diese zunächst nur als Einwand des »Rechtsgefühls«. Man kann auch von »Judiz« sprechen, ohne aber auch damit zunächst etwas Genaueres gesagt zu haben. Doch wenn sich dazu wirklich nichts Genaueres ausmachen ließe, dann wären mit »Rechtsgefühl« und »Judiz« auch die Endpunkte unseres Versuches bestimmt, die kognitiven Prozesse richterlicher Entscheidungsfindung im Rahmen einer juristischen Methodenlehre zu beschreiben. Es blieben dann allenfalls Analysen, wie sie die psychologischen Persönlichkeitstheorien 27 und neurowissenschaftliche Studien zur Steuerung von Werturteilen durch das limbische System liefern könnten 28 (hier etwa durch die Amygdala oder den Hypothalamus 29). Die Prozesse, die hinter der »reflektierenden Urteilskraft« wirksam sind, sind aber nicht nur solche des »Rechtsgefühls« und des »Judizes«. Gibt ein Fall Anlass, das bisherige Verständnis eines Tatbestandsmerkmales in Frage zu stellen, mag zwar der Anstoß dazu aus dem Rechtsgefühl kommen. Das ändert aber nichts daran, dass die Lösung dann in der Regel nicht rein subjektiv und zufällig ist und mehr oder minder beliebig auch anders ausfallen könnte. Man sucht vielmehr für das Besondere des Falles eine Lösung, indem man auf allgemeine Grundsätze und Denkfiguren oder auf parallele Lösungen zurückgreift, die im Kontext des Problems anerkannt sind, jedenfalls Aussicht haben, als Grundlage für eine solche Lösung Akzeptanz zu finden. Im Ergebnis geht es also wiederum um Stimmigkeit, d. h. Kohärenz. Der methodische Weg dorthin scheint bereits vielfach beschrieben: Er führt über die »Findekunst«, d. h. die ars inveniendi, die wir aus der Topik kennen, und wird von ihr als die Konzentriert auf im Wesentlichen feststehende Eigenschaften und Einstellungen von Personen; vgl. R. Vaas 2001, Persönlichkeit und Personalität, in: Lexikon der Neurowissenschaft, Heidelberg, Berlin, Bd. 3, S. 53 ff.; anschaulich G. Gigerenzer 2008, S. 58 ff. 28 Die Forschungen sind hier aber noch in den Anfängen; vgl. zum Überblick R. Vaas 2000, Emotionen, in: Lexikon der Neurowissenschaft, Heidelberg, Berlin, Bd. 1, S. 386 ff. 29 Zum Zusammenhang Amygdala und Angst M. F. Bear u. a. 2009, S. 643 ff., zum Zusammenhang Amygdala, Hypothalamus und Aggression M. F. Bear aaO. S. 646 ff. 27

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21 · Mustererkennung und Subsumtion

Kunst des Problemlösens auch thematisiert. Das Problem, wie wir uns das »Finden« von Lösungsansätzen und sodann vor allem deren Bewertung vorzustellen haben, wird jedoch nicht näher analysiert. 30 Genau für diese Leerstelle der Methodik gilt es jedoch, mit der Mustererkennung einen theoretischen Ansatz zu entwickeln, mit dem wir den Mechanismus, wie der Jurist für das Besondere ein Allgemeines findet, beschreiben und erklären können. Wir kommen damit zurück zum Ausgangsfall. Er gibt ein Beispiel für die Techniken, mit solchen Mustern umzugehen, soll zugleich aber auch aufzeigen, dass die dann gefundenen juristisch-konstruktiven Lösungen nicht immer überzeugend sein müssen. Rechtlich ging es um eine eingrenzende Interpretation des § 211 StGB. Der Große Senat zog zunächst die in der Literatur diskutierte Ergänzung des § 211 Abs. 2 StGB durch ein zusätzliches allgemeines Tatbestandsmerkmal (»besondere Verwerflichkeit«) in Betracht, lehnte diese jedoch ab, weil es »nicht von einer richterlichen Wertung des Gesamtbildes der Tat abhängen (soll), ob der Täter wegen Mordes oder wegen Totschlags verurteilt wird«. 31 Er meinte stattdessen, die »Gesinnung des Täters kann […] insofern bedeutsam sein, als sie dem Vorstellungsbilde entsprechen muß, das dem Begriff der Heimtücke selbst zu Grunde liegt«. Entsprechend sei »die bisherige Auslegung des Merkmals der Heimtücke in folgendem Sinne fortzuentwickeln: Der Begriff ›Heimtücke‹ hat nach allgemeinem Sprachgebrauch eine feindliche Willensrichtung des Täters gegen das Opfer zum Inhalt. Diese feindselige Haltung des Täters gegen das Opfer« sei nach »dem Gesamtbilde der Tat« nicht gegeben. 32 Die Schwäche dieser Lösung liegt auf der Hand: Ein eindeutig tatbezogenes Mordmerkmal wird täterbezogen gewertet. Die Würdigung des »Gesamtbildes der Tat« bleibt in ihrer Struktur unklar und wird auch dem zu lösenden Problem nicht gerecht. Dieses liegt, wie der 4. Strafsenat zutreffend in einem Vorlagebeschluss von 1981 hervorhebt, darin, dass die Entscheidung des GS von 1956 »in einem kaum lösbaren Widerspruch zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts« zur Zulässigkeit der lebenslänglichen Freiheitsstrafe steht. Diese fordert eine Auslegung, »die sicherstellt, daß auch in […] Grenzfällen keine unverhältnismäßig hohe Strafe verhängt wer30 31 32

Kritisch hierzu L. Bornscheuer 1976, S. 115 ff. BGHSt 9, 385 – juris Rn. 20. BGHSt 9, 385 – juris Rn. 22 f.

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E · Das Erkenntnisverfahren

den muß«. 33 – Mit welchen rechtstechnischen Mitteln in diesem Sinn konkret Verhältnismäßigkeit herzustellen ist, hatte das BVerfG jedoch offen gelassen. 34 Das ist hier eine Frage strafrechtlicher Dogmatik. 35 Entscheidend für die weiteren Überlegungen ist aber zum einen, den Ausgangspunkt, den Auslöser für die Operationen der »reflektierenden Urteilskraft« festzuhalten: Die Subsumtion eines Falles unter eine Norm lässt stutzig werden, weil dieser Fall offenbar nicht in die Fallreihe passt (siehe im obigen semiotischen Dreieck die Praxisbeispiele B); das Ergebnis der Subsumtion i. e. S. passt nicht, weil Wertungsmuster wirksam werden, die nahelegen, dass Ungleiches gleich behandelt wird, und die Rechtsfolge deshalb als ungerecht erscheinen lassen. Das ruft in weiteren Schritten Prozesse der Mustererkennung auf zwei Ebenen auf: Zunächst muss ein Muster gesucht und gefunden werden, das geeignet ist, Judiz und Rechtsgefühl hier auf ein juristisches Muster, auf einen juristischen Begriff zu bringen – dieses Muster ist hier der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der zweite Schritt ist dann die Suche nach Lösungsmustern – also die Diskussion der rechtstechnischen Mittel, die es dem Richter ermöglichen, wie hier im Falle des § 211 StGB, »bei der Subsumtion konkreter Fälle unter die abstrakte Norm zu einer schuldangemessenen Strafe zu kommen« 36 oder – generell formuliert – eine Lösung zu finden, die als angemessen akzeptiert werden kann. – Welche Muster das im Einzelnen sind, und die unterschiedlichen Rollen, die ihnen in diesen Prozessen zukommen, sind Themen des nächsten Kapitels. Erst anschließend kann dann im Kapitel 23 der Versuch unternommen werden, die kognitiven Prozesse, die die Mustererkennung und Musterbildung im Hintergrund steuern, näher zu erfassen.

BVerfGE 45, 187–271 – juris Rn. 246. BVerfGE aaO. – juris Rn. 264. 35 So hat sich der GS der Auffassung des 4. Senats nicht angeschlossen, sondern die Lösung in der Möglichkeit gesucht, auf der Rechtsfolgenseite an Stelle der lebenslangen Freiheitsstrafe den Strafrahmen des StGB § 49 Abs. 1 Nr. 1 zu nutzen, GS BGHSt 30, 105–122. Ein anschauliches Beispiel dafür, dass das Problem so nicht lösbar ist, gibt U. Neumann 2013, S. 253 ff. 36 BVerfGE 45, 187, 261 – juris Rn. 228. 33 34

544 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Kapitel 22 Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

Wenn wir von »Mustererkennung« und »Mustern« als Denkfiguren im juristischen Denkraum sprechen, stellen wir auf spezifische Erkenntnisvorgänge ab, die in allen Phasen des »Erkenntnisverfahrens« auftreten, jedenfalls auftreten können. Sie wurden zwar von der Methodenlehre bisher nicht speziell benannt, sondern eher allgemein und schlicht als Momente des Subsumtionsvorganges begriffen. Bereits in der Juristenausbildung war die Einübung von Mustererkennungen aber schon immer ein entscheidendes Element der juristischen Sozialisation. In der Praxis ist dieses Eingeübtsein dann Voraussetzung dafür, dass im Prozess ein »Fallverstehen« gelingt (I.). Doch es geht bei dem hier vertretenen Ansatz nicht nur um die Differenzierung zwischen Subsumtionsvorgang und Mustererkennung, sondern insbesondere auch um die Frage, mit welchen unterschiedlichen Mustern dabei gearbeitet wird. Nach einer Diskussion terminologischer Fragen (II.) liegt deshalb ein besonderer Schwerpunkt dieses Kapitels in dem Versuch, eine entsprechende Typologie zu entwickeln (III.).

I.

Phänomene der Mustererkennung und Musterbildung

Im vorigen Kapitel habe ich die Funktionen von Mustererkennungen an Hand von Fallbeispielen erläutert. In ihrer grundlegenden Bedeutung werden diese Funktionen aber erst deutlich, wenn sie auch im Zusammenhang der Ausbildung und der richterlichen Fallbearbeitung veranschaulicht werden.

1.

Einübungen in der Juristenausbildung

Ein wesentlicher – wenn nicht gar in praxi der zentrale – Bestandteil der Juristenausbildung besteht darin, in Übungen und Examenskur545 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

E · Das Erkenntnisverfahren

sen immer wieder Klausuren zu schreiben. Worum aber geht es bei diesem Klausurenschreiben? Es geht offenbar im Wesentlichen nicht um ein Einüben in das sichere logische Schließen, einen sicheren Umgang mit Ober-, Mittel- und Unterbegriffen im Modus Barbara und/ oder anderen logischen Schlussformen. Hört man nach den Klausuren den Studentinnen und Studenten beobachtend zu, ist von Problemen die Rede, die man gesehen oder dummerweise nicht gesehen hat, von Lösungen, die Zustimmung auslösen oder bedenkliche Gesichter. – Ein unbedarfter Beobachter könnte an das Spiel mit Vexierbildern denken: Kinder, die Tiere, Gesichter oder Hexen erkennen sollen, die in Zeichnungen von Wäldern, Wolken oder Gestrüpp verborgen sind, wie die juristischen Probleme im Sachverhalt. Zunächst gibt es ein »Hin- und Herwandern des Blicks«, dann hat sich das Kind die Konturen zusammengereimt und ein recht klares Bild des Tieres oder des Gesichts der Hexe gewonnen. Die Suchaufgabe ist gelöst und wenn das Kind wieder mit dem gleichen oder einem ähnlichen Bild konfrontiert wird, wird das Muster schnell (wieder-)erkannt sein. Um die Bedeutung von Mustererkennungen noch deutlicher zu betonen: Bei der Einübung in die Rechtsfindung – wie auch in der späteren Praxis – sind es nicht die Zuordnungsregeln, das heißt nicht die Regeln für die Zuordnung von Sachverhaltsmomenten und Tatbestandsvoraussetzungen, die als Probleme im Zentrum einer »Falllösung« stehen. Es sind, von Ausnahmen abgesehen, auch nicht die Auslegungsregeln. Was gelernt und geübt und in der Praxis beherrscht werden soll, sind vielmehr die juristischen Muster, mit denen Konfliktlagen, die Gegenstand des Rechtsstreites sind, rechtlich erfasst und gelöst werden sollen. Diese Mustererkennung – man sieht juristische Lösungsmöglichkeiten für Probleme, die man im Sachverhalt erkennen muss – geht logisch wie im tatsächlichen Kognitionsvorgang jenen Schritten voraus, in denen dann hinsichtlich der einzelnen Tatbestandsmerkmale analysiert und geprüft wird, ob die normativen Voraussetzungen eines bestimmten Rechtssatzes gegeben sind oder nicht. Anknüpfend an eine in der Informatik übliche Definition der Mustererkennung, lässt sich mithin festhalten: Mustererkennung ist die Suche nach der oder den rechtlich relevanten Strukturen in den konkreten Daten, die im Prozess zum Fall vorgetragen werden – Strukturen, die der Student und später der Richter nur »er-kennen« kann, wenn er sie als Muster schon »kennt«. Zur Veranschaulichung seien einige Beispiele angeführt: Der Gedanke, Fälle, bei denen es um die Rückabwicklung nichti546 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

22 · Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

ger Vertragsverhältnisse geht, über die GoA, §§ 677 ff. BGB, zu lösen, wird sich auch bei einem sehr begabten Jurastudenten kaum beim subsumierenden Lesen des Gesetzestextes einstellen. Er setzt das Wissen um diesen möglichen Lösungsweg, Kenntnis des Musters – und auch, dass dieses umstritten ist 37 –, voraus. Oder eine Erfahrung, die jeder Jurist während des Studiums gemacht haben dürfte: Nur mit »richtiger Subsumtion« und ohne eine Vorstellung über die Muster zu haben, zu denen Lehre und Rechtsprechung die Kategorien und Grundelemente ihre Theorien zur Teilnahme konfiguriert haben, wird es auch kaum gelingen, eine etwas komplizierter angelegte Teilnahmeproblematik im Strafrecht zu lösen. Oder ein Beispiel aus dem öffentlichen Bau-Nachbarrecht: Wo und an welchen normativen Stellen genauer zu subsumieren ist, erschließt sich nur dem, der die oft recht komplexen Muster präsent hat, die hier das Verhältnis von Prozessrecht, objektivem Baurecht und subjektiven Rechtspositionen bestimmen.

2.

Mustererkennungen im Prozess des »Fallverstehens«

Wie beginnt der Richter die Arbeit am Fall – womit beginnt sein »Erkenntnisprozess«? Sicher nicht mit der Subsumtion. Am Anfang steht nicht der Logos, die begrifflich-logische Deduktion. Die Arbeit am Fall beginnt in der Regel mit Fragen und Annahmen – mit Hypothesen über den Sachverhalt und möglichen rechtlichen Einordnungen. Wie gesagt, sind es diese Anfangshypothesen, an denen sich oft entscheidet, ob eine brauchbare Falllösung gelingt oder ob ein unbefangener Blick auf die Sach- und Rechtslage schon beim Einstieg verstellt wird – ein Fall etwa schlicht als Routinefall eingestuft wird und der Richter die entscheidenden Unterschiede zu diesen im konkreten Sachverhalt nicht mehr wahrnimmt. a)

Zugriff auf den Fall

Die Frage des »richtigen« Zugriffs stellt sich natürlich nicht nur beim Einstieg, sondern in allen Phasen der Fallbearbeitung. Wie dargelegt (Kap. 9 II.), geht es um drei Erkenntnisprozesse – wie »erkennt« das Gericht den Sachverhalt, wie »erkennt« es das Recht und wie sind die 37

Palandt/Sprau 2011, § 677 Anm. 4.

547 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

E · Das Erkenntnisverfahren

beiden Erkenntnisprozesse verzahnt? –, Prozesse, die aber insgesamt nur zu verstehen sind, wenn sie als ein dynamisches Gefüge begriffen werden. Die Muster, die man Konfliktmuster nennen kann, geben dafür ein gutes Beispiel. Gerade Routinefällen liegen oft solche typischen Konfliktmuster zugrunde, etwa bei einer betriebsbedingten Kündigung, dem öffentlich-rechtlichen Nachbarstreit wegen Verletzung des Rücksichtnahmegebotes im unbeplanten Innenbereich, einem Streit um Verwirkung des nachehelichen Unterhalts oder bei der Geltendmachung von Baumängeln. Über solche Konfliktmuster findet der Richter nicht nur den Einstieg für die Sachverhaltshypothese und eine erste rechtliche Einordnung. Diese Orientierung setzt sich meist auch in der »Arbeitsphase« fort. Es wird nach Varianten dieser Muster und typischen Fallgruppen differenziert und dann eine Einordnung in die entsprechenden Fallreihen gesucht. Das soziale Konfliktmuster gilt es aber auch dann adäquat zu erfassen, wenn der Richter die Möglichkeit einer vergleichsweisen Erledigung des Rechtsstreites abschätzen will. Macht etwa der Bauherr die Baumängel geltend, weil der Handwerker wohl gepfuscht hat oder will er nur den Preis drücken und weiß, dass sich sein Gegner schon aus finanziellen Gründen auf einen längeren Rechtsstreit nicht einlassen kann? Ein Richter, dem es nicht nur auf Erledigungen mit geringstmöglichem Aufwand ankommt, wird in solchen Konfliktsituationen auch seine Vergleichsbemühungen nicht nur nach dem Grundsatz ausrichten dürfen, jeder Vergleich sei besser als ein Urteil. b)

Die drei Phasen des Fallverstehens

Damit sind die Handlungsmuster angesprochen, denen Richter folgen. Es ist deshalb eine grundsätzliche Unterscheidung zu treffen zwischen: einerseits den Mustern, nach denen Richter arbeiten, und andererseits den juristischen Mustern, mit denen gearbeitet wird (Muster im engeren Sinne). Nur auf diese Muster werden sich die folgenden Ausführungen konzentrieren. 38 Um die Arbeit mit Mustern näher analysieren zu können, müssen wir diesen in seiner Dynamik meist ungegliederten Arbeitsprozess allerdings in Phasen aufspalten. Legt man, sehr vereinfachend, ein Drei-Phasenmodell zugrunde, ergeben sich folgende Differenzierungen:

38

Zu den Handlungsmustern vgl. Teil F Kap. 24 III.

548 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

22 · Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

1. Phase: Das Fallverstehen beginnt – in einem ersten Schritt – mit einer gedanklichen Primärstrukturierung. In diesem Stadium geht es darum, einen Einstieg zu finden, eine rechtliche und tatsächliche Vorstrukturierung des Streites, zum Beispiel Einordnung in Vertragstypen, mögliche Anspruchsgrundlagen oder Straftatbestände, Verwaltungsakt oder schlichtes Verwaltungshandeln etc. – eben in ein Muster, nach und mit dem der Fall strukturiert werden kann. Es kommt darauf an, in dem Vorgetragenen ein juristisches Muster, ein Einordnungsmuster zu erkennen. 2. Phase: Es ist die »Arbeitsphase«. Sie lässt sich so beschreiben: Der Fall entwickelt sich, indem er sowohl zum Sachverhalt als auch zur Rechtslage immer wieder Fragen erzeugt: Stimmen die Rechtsbehauptungen? War es so? Stimmen die Tatsachenbehauptungen? Ist die vorgetragene Geschichte rund, stimmig? Diese Trennung von Tatund Rechtsfragen ist, wie gesagt, analytisch notwendig; man muss sich jedoch bewusst bleiben, dass sie immer nur im Wechselspiel gestellt, beantwortet und durchdacht werden können; im Wechselspiel der Fragen: Welche Tatsachen sind relevant und welche rechtliche Relevanz haben die vorgebrachten Tatsachen, bestätigen sie das Muster – oder verlangen sie ein rechtliches Umdenken, das heißt Prüfung eines anderen oder ergänzenden Musters? So stellt sich das Problem des richtigen Zugriffs nicht nur am Beginn der Falllösung, sondern immer wieder, wenn der Richter über Bilder oder Stichworte für das noch nicht genau Gedachte Einordnungs- oder Deutungsmuster sucht. 3. Phase: Die Antworten werden zur Falllösung, zur Entscheidung vernetzt. Sachverhalt und Gründe müssen nicht nur jeweils in sich kohärent sein, das Urteil muss auch zwischen Gründen und Sachverhalt einen kohärenten Zusammenhang herstellen. – Was das im Einzelnen – auch hinsichtlich Begründungs- und Argumentationsmuster – bedeutet, wird im Schlusskapitel näher darzustellen sein; darauf muss verwiesen werden. Auch für die 2. Phase können an dieser Stelle Verweise genügen. Da sind zum einen die Muster, die ihre entscheidende Rolle bei der Sachverhaltskonstituierung spielen und die in ihren Funktionen im Teil C bereits beschrieben sind. Genannt seien hier die »Gesamtschau« oder die »Gesamtwürdigung«, Erfahrungsmuster oder die Alltagstheorien als Muster für typische Geschehensabläufe. Zum anderen sind es die speziellen Muster, über die die Rechtsfindung erfolgt. Deren Typolo549 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

E · Das Erkenntnisverfahren

gie soll im übernächsten Abschnitt im Zusammenhang entwickelt werden.

II.

Zur Terminologie

Bisher war eher allgemein von »Mustern« die Rede. Nun gilt es, eine mögliche Typologie derjenigen juristischen Muster aufzustellen, die in dem gerichtlichen Erkenntnisprozess eine besondere Relevanz haben. Diese Relevanz kann in den einzelnen der genannten Phasen unterschiedlich sein, wichtig ist aber, dass es keine klare Zuordnung der Muster zu bestimmten Phasen gibt. Eine Methodik der richterlichen Praxis wird wesentlich dadurch bestimmt, dass auch die richterliche Operationsebene »Erkenntnis des Sachverhalts« nur als dynamischer Prozess zu erfassen ist. Der Sachverhalt wandelt sich mit jedem neuen Vortrag, mit jeder Beweisaufnahme, ja mit jeder Erwiderung, die unterbleibt. Mit ihnen wandeln sich die rechtlichen Gesichtspunkte – oder können sich jedenfalls wandeln, wie der Sachverhalt selbst unter neuen rechtlichen Gesichtspunkten eine (vielleicht völlig) veränderte Perspektive erhalten kann. Das sind Vorgänge, die in ihren realen Vollzügen sinnvoll kaum trennbar sind. Denn ob der Richter einem bestimmten Vortrag oder – bei der Amtsermittlung – bestimmten eigenen Vermutungen darüber nachgeht, wie sich die Sache »wirklich« zugetragen hat oder was hinter ihr steht, hängt von der Relevanz ab, die er den Ansätzen beimisst, also von der rechtlichen Beurteilung. Umgekehrt kann die Konfrontation mit dem Lebenssachverhalt dazu führen, die rechtlichen Probleme in einem anderen Licht zu sehen, als dies die Rechtsprechung bisher getan hat. Das wiederum kann dann Anlass geben, nach anderen rechtlichen (Lösungs-)Mustern zu suchen. Diese Beschreibung lässt zugleich eine wesentliche Eigentümlichkeit von »Mustern« deutlich werden: Sie oszillieren. 39 Ein neuer Sachverhaltsaspekt kann ein »benachbartes« oder ein völlig anderes rechtliches Muster ins Blickfeld rücken; ein Beispiel ist der zitierte »Boris-Becker-Fall«. Umgekehrt kann das Muster M1 ein Muster M2 »aufrufen« oder die Suche nach einem Muster X auslösen. Im »Oszillieren« liegt auch der Grund für die gewählte Terminologie: Zum kognitionswissenschaftlichen Hintergrund dieser Feststellung vgl. unten Kap. 23 V. 1. c.

39

550 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

22 · Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

warum von »Muster« die Rede ist und nicht etwa von Schema und Schemata.

1.

»Schema« und »Paradigma«

Mit dem Wort Schema verbindet sich etwas fest Umrissenes, die Vorstellung von »schematisch«, »nach Schema« oder gar »Schema F«. Eine solch klare Kontur hat das »Muster« nicht. Um eine Parallele zur Medizin zu ziehen: Symptome werden zu Krankheitsbildern konfiguriert; sie bilden keine Schemata. Entsprechend werden Tatbestandsmerkmale etwa zu Vertragstypen oder Rechtsinstituten konfiguriert. Diese Konfigurationen haben ihre eigenen Kohärenzen 40 und oft keine genau begrifflich bestimmbaren Grenzen. Was eine »Sache« ist, ist jedenfalls bereichsspezifisch, um nochmals das Kaufrecht als Beispiel zu nehmen, in der Rechtssprache klar definiert, und die Lieferung elektrischer Energie lässt sich kaum unter diesen Begriff fassen – gleichwohl macht es für die Verkehrsauffassung keine Schwierigkeiten, auch in der Energielieferung so etwas wie eine Warenlieferung zu sehen und in dem Austauschverhältnis insoweit das »Muster« Kaufvertrag. Andererseits kann eine schriftliche Erklärung, in der die einen ein Schenkungsversprechen sehen, in eine Patronatserklärung »kippen«, wenn die wirtschaftlichen Interessen des »Schenkenden« genauer in den Blick geraten. Statt an »Muster« könnte man auch an das Wort »Paradigma« denken. Abgesehen davon, dass der Ausdruck im Gefolge der Theorie vom »Paradigmenwechsel« des Wissenschaftstheoretikers Thomas Kuhn leicht in den Sog der mit seiner Theorie verbundenen Diskussion geraten würde 41, wäre der Begriff auch in der Sache zu eng. Soweit ein Muster ganz eindeutig durch eine Leitentscheidung, etwa des Bundesverfassungsgerichts oder des Europäischen Gerichtshofs, geprägt ist und diese einen grundlegenden Wandel des Rechtsverständnisses bewirkt hat, beschreiben »Paradigma« und »Paradigmenwechsel« zwar recht gut die Musterqualität von Leitentscheidungen. 42 Der Begriff umfasst aber auch Rechtsinstitute und »Muster« sind keine »Wesenheiten«, es geht vielmehr auch bei ihnen um »temporär kohärente Strukturen«; näher dazu Strauch 2005, S. 499 u. Strauch 2003, S. 4. 41 Näher dargestellt bei Stegmüller 1987, S. 279 ff. 42 Nicht von ungefähr zieht Thomas Kuhn ausdrücklich die Parallele zu anerkannten 40

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E · Das Erkenntnisverfahren

Interpretationsmuster und ist, wie die Typologie zeigen wird, insgesamt weiter als der des Beispiels, das man sich zum Vorbild nimmt.

2.

Leitbilder

Die Argumentation mit Leitbildern, etwa dem »Leitbild der christlichen Dienstgemeinschaft« 43 oder dem »verfassungsrechtliche(n) Leitbild des Abgeordneten in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG« 44, ist insbesondere – aber keineswegs nur – in der Rechtsprechung des BVerfG zu einem selbstverständlichen Topos richterlicher Rechtsfindung bzw. Rechtsschöpfung geworden. 45 Leitbilder funktionieren in der Argumentation als »normativ verfestigte Hintergrundvorstellungen zu Grundbegriffen, Prinzipien und Sätzen der Verfassung, die eine bestimmte Vorstellung davon zum Ausdruck bringen, wie ihre einzelnen Institute richtiger- und vernünftigerweise beschaffen sein sollten.« 46 Volkmann beschreibt sie weiter als »Spiegel des Idealen, Guten und Besseren« 47, als »der Ort, an dem die Verschränkung mit den Gerechtigkeits- und Angemessenheitsüberzeugungen der Gesellschaft, den vorhandenen moralischen Intuitionen oder auch den großen Entwürfen der politischen Theorie stattfindet; zugleich fließen über sie – in milde idealisierter Form – die Vorgegebenheiten des Realbereichs, also des in den Blick genommenen Wirklichkeitsausschnitts und der vorgefundenen Sachstrukturen, in die Verfassungsanwendung ein. […] Von hier aus steuern sie diese Anwendung, deren Ergebnisse in vielen Fällen überhaupt nur von ihnen aus erklärt werden können.« 48 Aus dieser Beschreibung werden auch die grundlegenden funktionalen Unterschiede deutlich, die zwischen Leitbildern und juristischen Entscheidungen: Kuhn 1973, S. 44: »Es ist vielmehr, einer anerkannten juristischen Entscheidung im allgemeinen Recht ähnlich, ein Objekt für weitere Präzisierung und Spezifizierung unter neuen oder strengeren Voraussetzungen.« Vorstellbar ist, dass das Präjudiz für Kuhns Theorie sogar Pate stand. 43 BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 –, Rn. 10, juris. 44 BVerfGE 118, 277–401, juris Rn. 216. 45 Juris wies im Febr. 2015 zum »Leitbild« insgesamt über 17000, für das BVerfG über 220 Nachweise aus. Zur Begriffsverwendung in der juristischen Diskussion vgl. C. Franzius 2012, § 4 Rn. 23 ff. 46 U. Volkmann 2013, S. 148 47 U. Volkmann 2010, S. 86. 48 U. Volkmann 2013, S. 148.

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22 · Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

Mustern bestehen. Leitbilder geben inhaltliche Orientierungen, »Orientierungsraster« 49 vor; sie dienen als »Transfermedium zwischen Absichten und Akzeptanz« 50 und wirken so als »Schleusenbegriffe« (Böckenförde) 51. Methodische Regeln, Subsumtion und eben auch die Mustererkennung haben dagegen ihren Ort – und hier vergleichbar den Schemata – auf der Ebene der Denkformen und der formellen Denkoperationen. Es geht um die Fragen, wie der Richter einen Rechtsfall erfasst und löst – während es dann von den Leitbildern abhängt, mit welchen Werten und Ordnungsvorstellungen inhaltlich und in der Sache entschieden wird. Diese inhaltliche Orientierungsfunktion von Leitbildern – oder auch von Prinzipien 52 – kann grundsätzlich immer ins Spiel kommen, wenn der Jurist bewusst oder unbewusst mit Mustern und im Denkmodus der reflektierenden Urteilskraft arbeitet. Um die besondere Rolle, die den juristischen Mustern bei der Herstellung von Kohärenz zukommt, wirklich erfassen zu können, werden wir deshalb am Ende dieses Teiles zwangsläufig wiederum auf dieses Grunddilemma der juristischen Methode stoßen: der Abhängigkeit des Rechts von Wertungen, Prinzipien, Leitbildern oder, allgemeiner, von wirkmächtigen gesellschaftlichen Anschauungen. Es ist die Frage, was dieses Dilemma für das Verständnis von Methode als »Herstellung von Kohärenz« bedeutet, oder konkreter für die Voraussetzungen und Bedingungen einer kohärenten und damit einer »richtigen Entscheidung«. Eine Antwort darauf kann aber erst im Schlusskapitel versucht werden.

III. Typologie Juristen arbeiten mit Normen, Begriffen, Rechtsgrundsätzen und Rechtsprechung. Dies ist auch das Material, aus dem sich die juristischen Muster formen. Wenn nun im Folgenden der Versuch gemacht wird, eine Typologie dieser Muster zu entwickeln, dann kann diese keine nach Inhalten sein. Jede spezifische Form eines sozialen Kon-

S. Baer 2006, S. 85: dort, S. 85 ff., auch zu der Bedeutung von Leitbildern im Verwaltungsrecht – Neue Steuerungsmodelle – und aus dieser Sicht zur Begriffsabgrenzung zu »Paradigmen«, »Modellen« und »Typen«. 50 S. Baer aaO. S. 86. 51 E.-W. Böckenförde 1976a, S. 65 f. 52 Zur Abgrenzung von Leitbildern vgl. U. Volkmann 2010, S. 85. 49

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E · Das Erkenntnisverfahren

fliktes braucht zwar ebenfalls ihr rechtliches Lösungsmuster, und Juristen arbeiten deshalb ständig auch mit inhaltlich bestimmten Mustern. Aber eine Typologie solcher Muster ergäbe eine Art Handbuch über die Rechtsinstitute der in der Bundesrepublik geltenden Rechtsordnung. Zu leisten ist hier mithin nur eine Typologie formaler Art, die an den unterschiedlichen Funktionen ausgerichtet ist, mit denen juristische Muster in dem Vorgang eingesetzt werden, der in unspezifischer Weise oft schlicht als »Subsumtionsvorgang« bezeichnet wird. 53

1.

Einordnungsmuster

Die »Einordnungsmuster« sind schon eingangs ausführlich behandelt worden. So soll nur nochmals ihre Rolle hervorgehoben werden: Sie haben ihre Funktion dort, wo es darum geht, zum einen einen Zugriff auf das zu bekommen, »was Sache ist«, und zum anderen, die Muster aufzufinden, die es erlauben, soziales Handeln rechtlich zu qualifizieren. Anschaulicher noch als im gerichtlichen Verfahren wird diese Rolle in der Situation eines ersten Mandantengesprächs. Wenn der Klient etwa mit unübersehbar vielen Details die Schikanen erzählt, mit denen ihm sein Nachbar immer wieder das Leben schwer macht – einem Treiben, dem er nun mit anwaltlicher und gerichtlicher Hilfe ein Ende machen muss und für das der Nachbar auch büßen sollte. – Wie ist die Rechtslage? – Vor einer solchen Situation steht der Richter zunächst meist nicht. Bescheide, Klageschrift oder Anklage geben die Einstiegsmuster in der Regel vor, sodass er mit der »Begriffsarbeit«, der Prüfung der Tatbestandsmerkmale beginnen kann. Doch auch der Richter steht spätestens dann vor der Situation, nach Mustern suchen zu müssen, wenn mit den bisherigen Annahmen, d. h. den vorgegebenen Hypothesen, die Sach- und/oder Rechtslage nicht mehr zu erfassen ist – der Konflikt also anders gesehen und eingeordnet werden muss, als mit den bisherigen Mustern angenommen.

Gegenüber meinem Beitrag von 2012, S. 335 ff. sind die folgenden Ausführungen zur Typologie – auch in der Terminologie – deutlich modifiziert.

53

554 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

22 · Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

2.

Rechtsanwendungsmuster

Die Norm, die der Richter anzuwenden hat, kann je nach Konstruktion und Interpretation zwei unterschiedliche Anwendungsmuster intendieren: einmal mit (mehr oder weniger) strikten konditionalen Vorgaben eine (mehr oder minder) eindeutige Subsumtionsregel. Es ist das Muster einer Programmierung, die dem Richter klare Entscheidungsvorgaben setzt. Im Gegensatz zur schlussfolgernden Deduktion steht die »wägende Argumentation«. Wie ein sozialer Konflikt zu lösen ist, wird nicht durch die gesetzliche Lösung bestimmt, sondern die Lösung ist vom Richter im Weg der Abwägung zu finden. Hierfür steht paradigmatisch die Grundrechtsanwendung über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, eingeleitet durch das als Muster oben schon besprochene Lüth-Urteil. 54 Als Rechtsanwendungsmuster lassen sich auch die Vorrangregeln der Rechtsquellenlehre und im europäischen Mehrebenensystem verstehen. Auch der klassische Methodenstreit um Kanon und Rangordnung oder Stufenfolge der Auslegungsgrundsätze ist im Kern ein Streit um die Frage, inwieweit diese Regeln nach dem Muster topischer Argumentationen zu handhaben sind oder, wie oben dargelegt (Kap. 20 V.), auch Vorrangregeln unterliegen.

3.

Problemlösungsmuster

Unter diesen Typus lässt sich das Arbeiten mit Mustern fassen, die für eine Problemlage X entwickelt wurden, dann aber auf die Lösung anderer, vergleichbarer Problemlagen übertragen werden. Zugrunde liegen hier Analogieschlüsse. 55 Es ist das Muster, über das auf die Vergleichbarkeit geschlossen wird. Ein geradezu klassisches Beispiel für diese Kategorie sind die Grundsätze zum »Planungsermessen«. In der wegweisenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Dezember 1969 sind sie aus dem BBauG entwickelt worden. Im Orientierungssatz zu dieser Entscheidung ist so auch nur zu lesen: »Zur Bedeutung von § 1 Abs. 4 und 5 BBauG als Schranke des Planungsermessens«. 56 Gleich54 55 56

BVerfGE 7, 198; vgl. dazu auch oben Kap 21 II. 2. und Kap. 18 I. 4. Siehe dazu oben Kap. 20 II. 1. BVerwGE 34, 301; instruktiv dazu: J. Berkemann: Das »Abwägungsmodell« des

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E · Das Erkenntnisverfahren

wohl wurden die zentralen Sätze dieses Urteils zur allgemeinen Grundlage des heutigen Planungsrechtes und gaben das entscheidende Abwägungsmuster vor – völlig unabhängig von den unterschiedlichen Rechtsformen und meist gar nicht vorhandenen gesetzlichen Anknüpfungspunkten. Lag eine solche Musterübertragung beim Planungsrecht gleichsam auf der Hand, wird es schwierig, in ähnlichen Problemlagen gleiche Muster zu sehen und sie als solche anzuerkennen, wenn dogmatische Vorverständnisse zunächst nur Unterschiede erkennen lassen und den Blick auf das abstraktere Allgemeine und damit das gemeinsame Muster verstellen. Als Beispiel sei die Problematik genannt, die sich in den neuen Bundesländern bei der Frage ergab, wie mit Zweckverbänden umzugehen ist, bei denen etwaige Rechtsverstöße im Rahmen des vorangegangenen Gründungsvorgangs oder Mängel der Verbandssatzung festgestellt wurden. Nach dem Nichtigkeitsdogma konnten sie bei fehlerhaften Rechtssätzen – obwohl sie jahrelang uneingeschränkt tätig waren – gleichsam nie rechtlich existent werden und viele Verwaltungsgerichte zogen diese scheinbar logische Konsequenz. Der Gedanke, dass es sich um eine Problemlage handelt, für die im Zivilrecht mit der Figur der faktischen Gesellschaft oder des faktischen Vereins eigentlich schon der Lösungsweg vorgegeben war, brauchte offenbar erst seine Zeit, um als Lösungsmuster aufgegriffen zu werden. 57

4.

Regelungsmuster

Auch Regelungsmuster sind Problemlösungsmuster und auch sie sind Instrumente im Prozess analoger Rechtsfortbildung – nur führt hier der Weg nicht über dogmatische Problemlösungskonzepte, sondern über die Übernahme von Rechtsregeln aus einem oder mehreren anderen Regelungsbereichen. Regelungsmuster werden immer dann gesucht und aufgerufen, wenn eine bestehende Regelung als lückenhaft angesehen wird oder überhaupt fehlt. Für den Richter ist es dann

BVerwG (BVerwGE 34, 301 [1969]) – Entstehungsgeschichte und Legendenbildungen, DVBl 2013, 1280–1292; s. auch. Hoppe 2003, DVBl. 251–269. 57 Vgl. Thüringer OVG, Urt. v. 18. 12. 2000 – 4 N 472/00, ThürVBl. 2001, 131–135; LKV 2001, 415–425 mit ausführlichen Nachweisen und zuvor Beschluss vom 15. 7. 1999 – 4 ZEO 978/98, ThürVBl. 1999, 261; LKV 2000, 75.

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22 · Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

eine Frage der notwendigen Rückbindung an das Recht (Kap. 16 III. 1.), diese Lücke nicht durch eine frei gesetzte Norm zu schließen. Er wird deshalb über das »argumentum a simili« 58 eine Regelung suchen, die »passt«, weil das Regelungsmuster, nach dem das Problem in einem anderen Bereich – oder, noch allgemeiner: sonst – geregelt ist, dort akzeptiert ist. 59

5.

Muster und Sachverhaltskonstituierung

Die Muster, die für die Ermittlung und die Feststellungen eines Sachverhaltes Relevanz haben können, waren im Teil C bereits Thema und wesentliche sind oben nochmals benannt worden. An dieser Stelle ist nur nochmals der unlösbare Zusammenhang zu betonen, der zwischen rechtlichen Mustern und Mustern bei der Sachverhaltskonstituierung besteht. Gerade die primäre rechtliche Einordnung gelingt nur, wenn der Richter auch sieht, »was Sache ist«. Auch dies zu sehen, ist Mustererkennung. Der Boris-Becker-Fall sei hier nochmals als Beispiel genannt. Die Mustererkennung erfordert, anders gesagt, in aller Regel sowohl rechtliches Wissen als auch Sachkenntnis und Erfahrungswissen – und zwar »im Verbund«. 60 – Wenn oben die zentrale Rolle des »Fallverstehens« hervorgehoben wurde, dann entscheidet sich in diesem Zusammenspiel von »Tatsachen-Erkenntnis« und »Rechts-Erkenntnis«, ob dieses Verstehen auch gelingt. Insbesondere sind hier zwei Aspekte hervorzuheben, auf die es dabei für die »Tatsachen-Erkenntnis« insbesondere ankommt: Im gerichtlichen Erkenntnisprozess sind die »Sachmuster« institutionell viel weniger vorgeprägt und vorgegeben als die juristischen Wertungsmuster, die durch Lernen, Praxis, Dogmatik und Fallrecht eingeübt, geformt und insoweit bestimmt sind. Aber sie sind oft entscheidend. Ein Richter, der für das Arzthaftungsrecht zuständig ist, wird dieses kaum richtig anwenden können, wenn ihm die Grundmuster medizinischen Denkens fremd bleiben, und eine »richtige« Anwendung eines wirtschaftslenkenden Gesetzes wird dem Richter Vgl. H. Coing 1980, Rn. 156 Siehe dazu etwa J. Lege 1999, S. 457 ff. am Beispiel der nichtehelichen Lebensgemeinschaft oder Larenz/Canaris 1995, S. 202 ff., 204 f. mit dem Beispiel BGHZ 9,157, 161 ff. zur Kündigung aus wichtigem Grund bei Dauerschuldverhältnissen. 60 Zu den kohärenztheoretischen Zusammenhängen, die hier bestehen, habe ich mich an anderer Stelle geäußert: Strauch 2005, S. 504 ff. 58 59

557 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

E · Das Erkenntnisverfahren

kaum gelingen, der keinen Zugang zu dem volkswirtschaftlichen Theoriemuster hat, das das Gesetz umsetzen will. 61 Ein viel größeres Problem bei der Konstituierung des Sachverhaltes dürften allerdings die Muster sein, mit denen wir uns den Zugang zu dem verstellen, »was Sache ist« – also unsere Klischees, die Vorurteile und Vorverständnisse in der negativen Konnotation. 62 Positiv formuliert geht es um Offenheit und Unvoreingenommenheit bei der Entwicklung von Sachverhaltshypothesen, bei der Erkenntnis von Sachverhalts- und Handlungsmustern. Der Kriminalautor Arthur Conan Doyle hat seinen berühmten Helden Sherlock Holmes dazu sehr plastisch die wesentliche methodische Zugriffsregel so formulieren lassen: »Ich weiß noch keine Einzelheiten. Ein Kardinalfehler besteht darin, Theorien aufzustellen, bevor man noch über weitere Angaben verfügt. Unbedacht beginnt man die Tatsachen zu verdrehen, um sie den Theorien anzupassen, statt die Theorien den Tatsachen.« 63 Zahlreiche Beispiele, insbesondere aus dem Bereich der Beweiswürdigung illustrieren diese Regel. 64 Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der »Offenheit« wird am Ende unserer ÜberIn diesem Zusammenhang ist z. B. auch der »sachgesetzliche« Grund für die Einrichtung spezieller Spruchkörper oder, allgemeiner, der Fachgerichte zu sehen. 62 Das, was wir »Intuition« nennen, ist ja oft nichts anderes als »Schlussfolgerungen« aus unseren Vorurteilen. Vgl. dazu etwa Traufetter 2007, S. 142 ff., 194 ff. 63 »Skandal in Böhmen«. Noch deutlicher in der Geschichte »Der Junker von Reigate«: »Nun mache ich es mir aber zum Prinzip, niemals irgendwelche Vorurteile zu haben …«. 64 Zur Illustration eines solchen Kardinalfehlers sei hier kurz nochmals der oben (Kap. 13 III. 3.) bereits in anderem Zusammenhang herangezogene Pistazieneis-Fall (BGH-Entscheidung vom 19. 01. 1999 [1 StR 171/98] = NJW 1999, 1562–1564) zitiert, über den in der Presse unter dem Titel »Das falsche Bild von der teuflischen Tante« (so der Bericht der SZ vom 22. 01. 1999) berichtet wurde. Die Tante kam abends als Babysitterin und brachte Pistazieneis mit. Von diesem gab sie ihrer Nichte zwei Portionen mit Schokoladensoße, die im Haus war. Das Kind starb am nächsten Tag um 11.32 Uhr. Das Landgericht, das sich offenbar ein sicheres Bild von der Tante – in der Presse als »mondän« beschrieben – gemacht hatte, verurteilte sie, trotz einer ersten Zurückverweisung, auch im zweiten Anlauf wegen Mordes. Der BGH hob das Urteil auf und begründete den Freispruch u. a. wie folgt: »Das Tatgericht legt […] in einseitiger Weise verschiedene Maßstäbe an die Prüfung der Täterschaft der Eltern des Tatopfers einerseits und der Angeklagten andererseits an. Da Motive und tatnahe Indizien fehlen, zieht das Landgericht aus zahlreichen Verhaltensweisen und allgemeinen, aber nicht unmittelbar tatbezogenen Äußerungen der Angeklagten Folgerungen zu ihren Lasten. Demgegenüber wird Gleichartiges auf Seiten der Eltern als plausibel, nachvollziehbar u. ä. qualifiziert. Dabei handelt es sich jedoch nur um zahlreiche Spekulationen über innere Vorgänge oder Vermutungen zu allenfalls mögli61

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22 · Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

legungen (V. 2.2) nochmals auf diese Bedingung eines »richtigen« Umgangs mit Mustern einzugehen sein.

IV. Wechsel und Veränderung von Mustern So wie Muster manchmal ihre Zeit brauchen, um sich durchzusetzen, haben sie meist auch nur eine begrenzte Zeit ihrer »Geltung«. Rechtsfortbildungen und Rechtsänderungen, die auf veränderten Rechtsauffassungen und dogmatischen Strukturen beruhen – sei es, dass sie eine bisher als gegeben angenommene Wortlautgrenze »sprengen«, sei es, dass man eine grundlegende Neuinterpretation vornimmt oder einen neuen Rechtssatz schafft –, lassen sich immer als Wechsel oder Veränderung von Mustern beschreiben. Auch hier kann wieder auf das Beispiel des Lüth-Urteils verwiesen werden 65; oder als weiteres Beispiel für eine grundlegende Neuinterpretation auf die Nassauskiesungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts. 66 Bis zu dieser Entscheidung hatten sich für Ansprüche aus Art. 14 GG, insbesondere über die Figuren des »enteignungsgleichen Eingriffs« und des »Bestandsschutzes«, spezifische Muster für die rechtliche Erfassung und Prüfung solcher Ansprüche herausgebildet. 67 Nach dieser Entscheidung musste das System der Ersatzleistungen »umgebaut« werden. Die Neuinterpretation des Art. 14 GG verlangte ein neues Interpretations- und neue Lösungsmuster. 68

chen (oder auch näher liegenden) Sachverhalten, ohne daß dies durch (wesentlich) mehr als die ›Überzeugung‹ des Landgerichts gestützt wird.« 65 BVerfGE 7, 198; einer der entschiedensten Gegner des neuen Interpretationsmusters war Ernst Forsthoff (vgl. 1964, S. 147 ff.); plastisch formuliert mit der These »daß sich die verfassungspolitische Funktion des Art. 5 gerade dann – und nur dann – erfüllt, wenn man den Artikel so auslegt, wie man ihn von jeher verstanden hat«; VVDStRL 22/1965, S. 189 f. (Diskussionsbeitrag). 66 BVerfGE 58, 300–353. 67 Vgl. zu dem alten »System der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen nach der Rspr. des BGH« Wolff/Bachof 1974, §§ 60, 63. 68 Mit den Worten des BGH – BGHZ 133, 271–280: »Die Vorschrift […] kann, wenngleich sie auf dem früher vom Bundesgerichtshof vertretenen umfassenden Enteignungsbegriff (Abgrenzung BGH, 1973–01–25, III ZR 118/70, BGHZ 60, 145) beruht, seit der Entscheidung BVerfG, 1981–07–15, 1 BvL 77/78, BVerfGE 58, 300 wie alle vergleichbaren sog. salvatorischen Entschädigungsklauseln im Natur-, Landschafts-, Umwelt- und Denkmalschutzrecht nicht mehr als enteignungsentschädigungsrechtliche Regelung im Sinne des GG Art. 14 Abs. 3 angesehen werden, sondern ist nach

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E · Das Erkenntnisverfahren

Die beiden Beispiele müssen in diesem Rahmen genügen, um diesen wichtigen Aspekt einer Lehre von den juristischen Mustern anschaulich zu machen. Im Entstehen und in der Veränderung von Rechtsinstituten, rechtlichen Konstruktionen und Rechtsauffassungen die Entwicklung und den Wechsel von Mustern zu analysieren, ist nicht zuletzt Aufgabe der Rechtsgeschichte. Ein wesentlicher Mechanismus, der hinter dem Wechsel beziehungsweise der Veränderung von Mustern steht, ist jedoch hervorzuheben: Jede Norm ist in ihrer Funktion, soziale Konflikte zu regeln und zu lösen, auf die »Lebenswelt« bezogen. Hinter jeder Norm steht ein vom Gesetzgeber gewollter beziehungsweise vom Interpreten vorgestellter Wirkungszusammenhang, der als wertbezogenes Funktions-Modell zu begreifen ist 69, wie eben diese Norm die Wirklichkeit regulierend entweder ändern oder stabilisieren soll. Diese Zusammenhänge werden oft nicht sichtbar, das heißt, sie bleiben unbewusste Muster; in anderen Fällen müssen sie explizit gemacht werden, etwa wenn es um die Verhältnismäßigkeit geht 70 oder um gesetzliche Instrumente der Wirtschaftslenkung, die ohne das zugrunde liegende volkswirtschaftliche Modell nicht interpretierbar sind. 71 Es gilt jedoch allgemein: Die »Normarbeit« gewinnt an dieser Schnittstelle ihre Verankerung in den gesellschaftlichen Realitätsbezügen. Paradigmenwechsel und neue Leitentscheidungen – mithin neue Muster – haben so zumeist ihren Grund auch darin, dass bisherige Wirklichkeitsvorstellungen und Wirklichkeitsmodelle nicht mehr akzeptiert und durch zeitgemäßere ersetzt werden. – Damit ist zugleich auch die Sachverhaltsebene angesprochen.

der neueren Rechtsprechung des Senats als Ausgleichsregelung im Rahmen der Inhaltsbestimmung des Eigentums nach GG Art. 14 Abs. 1 S. 2 auszulegen.« 69 Typisches Beispiel ist die Funktionsbeschreibung der Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG (Rundfunkfreiheit) und ebenso der Pressefreiheit, der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit als »schlechthin konstituierend für die freiheitlich-demokratische Grundordnung« (BVerfGE 35, 202, 221 und E 7, 198, 208; 20, 56, 97 f.); in der Konsequenz ist deshalb auch zu untersuchen, ob Maßnahmen »geeignet sind, zu bewirken, was Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisten will«; E 57, 295, 320. 70 Vgl. hier die Materialsammlung von Philippi 1971, S. 28 ff., 56 ff. 71 Ein besonders anschauliches Beispiel war die Auseinandersetzung um das Tatbestandsmerkmal »volkswirtschaftlich besonders förderungswürdig« in § 1 Abs. 4 InvZulG 1969; vgl. dazu etwa einerseits VG Köln, BB 1972, 870, andererseits BVerwGE 48, 211.

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Kapitel 23 Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung

Prozesse der Mustererkennung sind Prozesse, die bei der »Herstellung« einer Entscheidung wirksam sind. In der »Darstellung«, d. h. in den Urteilsgründen, sehen wir nur die Ergebnisse und bei der Herstellung bleiben sie auf weiten Strecken verborgen, sie laufen unbewusst ab. – Aus dieser Sicht ergibt sich dann schnell die Folgerung, dass »in der großen Mehrzahl der Fälle die Entscheidung aus irrationalen Quellen entsteht.« 72 H. Isay hat sie 1929 in der These formuliert: »Die Entstehung der Entscheidung vollzieht sich auf irrationalem Wege, die Kontrolle und Begründung erfolgt rational.« 73 Die Vorgänge der Rechtsfindung wären dementsprechend weitgehend Vorgänge in einer »Black Box« – gemeint in dem Sinne, dass uns solche Prozesse, weil eben in einer »Black Box« verschlossen, wissenschaftlich unzugänglich sind. Eine Methodenlehre, die im Gegensatz zu dieser Auffassung den Prozess der richterlichen Rechtsfindung als »Erkenntnisverfahren« versteht, muss also im Gegenzug belegen können, dass die Quellen, aus denen Entscheidungen entstehen, keineswegs so irrational sind, wie behauptet, und dass wir die Entstehungszusammenhänge auch nicht mehr als naturgegeben undurchschaubar hinnehmen müssen. Konkret wird also der Nachweis zu führen sein, dass wir die Entstehung und den Gebrauch juristischer Muster als kognitive Prozesse analysieren können und dementsprechend nicht nur die Subsumtion, sondern auch die Mustererkennung als Denkform zu verstehen haben. Dabei kann ich mich auf wesentliche Positionen, die schon in den vorangegangenen Teilen dargestellt sind, beziehen: Die wissenschaftliche Entwicklung ist über die Erkenntnisgrenzen, die sich etwa der Behaviorismus gesetzt hatte 74, hinweg72 73 74

H. Isay 1929, S. 338 f. H. Isay 1929, S. 335; S. 332 ff. auch zum damaligen Diskussionsstand. Zum Behaviorismus vgl. J. R. Anderson 2001, S. 8 f.; F. Rösler 2011, S. 1 f.

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E · Das Erkenntnisverfahren

gegangen. 75 Die Kognitionswissenschaften hatten das Modell der »Black Box« ihren Grundvoraussetzungen entsprechend immer abgelehnt oder haben, um im Bild zu bleiben, die »Black Box« längst »aufgebrochen« und den Erkenntnisbegriff, den die Methodik zum Teil gleichsam behavioristisch eingegrenzt hatte, 76 entscheidend erweitert. Er erfasst mehr als nur die streng schlussfolgernde Deduktion. Grundsätzliches ist dazu bereits im Kapitel 5 II. gesagt worden. Wie schnell hier Grenzen verschwimmen und Emotion in Denken übergehen kann, macht schon das Wort »Rechtsgefühl« deutlich. Es scheint wie selbstverständlich für »Irrationalität« zu stehen 77; sprechen wir stattdessen von »Judiz« 78, ist bereits das »Urteilsvermögen« mitgedacht. Was heißt »urteilen« anders als schlussfolgern? Was Juristen »Judiz«, also »Urteilskraft« nennen, steigt ja nicht grundlos und nicht von ungefähr aus einem weitgehend unfassbaren Ungewissen hervor. Artikuliert man dieses Rechtsgefühl, erweist es sich auch meist als das, was es ist: das Ergebnis einer oft komplexen Kette von Schlussfolgerungen. Dass sie unbewusst ablaufen, verändert diese Qualität nicht. 79 Auch unsere Routinen laufen weitgehend ohne unser bewusstes Nachdenken ab – sind deshalb aber keine irrationalen Prozesse. Zu einer vergleichbaren Grundauffassung 80 führen die theoretischen Ansätze von C. S. Peirce, auf dessen Theorie zur Semiose (semiotisches Dreieck) wir uns bereits oben gestützt haben (Kap. 21 III.). Folgt man seiner semiotischen Grundthese – hier in der Interpretation durch J. Lege –, dass alles Denken »notwendigerweise in Zeichen verlaufen« 81 muss und im Zusammenhang des Zeichenstroms schlussfolgernd geschieht 82, geschieht die entscheidende Vermittlung in der »Abduktion«, Abduktion als »der Vorgang, in dem eine erkläDass diese Begrenzung nie Allgemeingut war, kann und soll hier nicht in Zweifel gezogen werden. Ein Beispiel, das unmittelbar die juristische Methodendiskussion betrifft, gibt J. Leges profunde Adaption des Pragmatismus, J. Lege 1999, S. 97 ff. 76 Charakteristisch ist der enge Begriff von Logik bei K. Larenz; näher dazu J. Lege 1999, S. 416 ff. 77 Isay 1929, S. 339, versteht das Rechtsgefühl ganz eindeutig und nur als eine der »irrationalen Quellen«. 78 Zu Begriff Bedeutung und Begriffsgeschichte R. Gröschner, JZ 1987, 903–908. 79 Erinnert sei an das Lichtenbergzitat: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt.« 80 J. Lege 1999, S. 425 ff. 81 Peirce 1986, S. 170; S. 160 ff. 82 Vgl. J. Lege 1999, S. 100 ff. 75

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23 · Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung

rende Hypothese gebildet wird«. 83 Hypothetisches Folgern, heißt es bei Peirce, »besteht darin, in das verworrene Durcheinander gegebener Tatsachen eine nicht gegebene Idee einzuführen, deren einzige Rechtfertigung darin besteht, dieses Durcheinander in Ordnung zu bringen«. 84 Wir können für »Idee« auch »Bild«, »Sachverhalts-/ Normhypothese« – oder »Muster« – einsetzen. Von diesen Ansätzen ausgehend, soll in den Abschnitten III. bis V. der Versuch unternommen werden, die kognitiven Prozesse und Denkformen, die die Mustererkennung und Musterbildung ausmachen, genauer zu erfassen. Zuvor ist jedoch auf die theoretischen Erklärungsmuster einzugehen, mit denen die Methodik bisher versucht hat, das Wechselspiel von Fall und gegebener Regel – gegebenem Fall und Suche nach passender Regel – zu lösen (I. u. II.).

I.

Vom »Hin- und Herwandern des Blicks« und dem hermeneutischen Zirkel

Mit Stichworten wie Hypothesenbildung, Mustererkennung, Musterfindung im Erkenntnisverfahren ist ein Problemfeld umschrieben, das von der Methodenlehre theoretisch bisher kaum genauer in den Blick genommen wurde. 85 Registriert wurde natürlich die Problematik des Vorganges als solcher und hier stößt man immer wieder auf die Formel von K. Engisch vom »Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt«. 86 Man kann allerdings in dieser Formel den »Obersatz« nicht einfach mit »Muster« gleichsetzen. Ein »Muster« mag sich bei der Fallbetrachtung einstellen, es ist selbst aber, anders als der »Obersatz«, kein wesentlich fallbezogenes Konstrukt. Es ist ein Drittes und wie dieses zu verstehen ist, erhellt am besten das von Engisch selbst zur Erläuterung verwendete Zitat: »Beim Aufsuchen der relevanten Tatsachen«, so zitiert er BePeirce 1991, S. 400. Peirce 1998, S. 333. 85 Nachweise finden sich bei Zippelius 2012, § 14 unter den Überschriften »Methode des ›Zugriffs‹« und »Die Funktion der Urteilskraft«. Die ausführlichste Darlegung ist wohl immer noch die von J. Hruschka 1965 (auf der Basis von Droysens Historik und hermeneutischen Ansätzen). Zur neueren Diskussion über die Bedeutung, die der »Urteilskraft« hier zukommt, vgl. u. II. 86 Engisch 1963, S. 15 sowie Engisch 1975, S. 206 Fn. 54. Ich werde am Schluss des Abschnittes V. auf diese Formel zurückkommen. 83 84

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E · Das Erkenntnisverfahren

ling, »ist stets die rechtliche Schablone zielweisend und umgekehrt ergibt nur das Tatsächliche, an welchen Rechtssatz zu denken ist«. 87 Die »rechtlich zielweisende Schablone« ist nicht der erst noch zu konstruierende Obersatz und nicht der erst zu strukturierende Sachverhalt, sondern das strukturierende Muster. In dieser Perspektive trifft das Bild dann auch sehr gut die Situation, die am Beginn der richterlichen Rechtsfindung steht: Das passende rechtliche Muster ist weder a priori vorgegeben, noch lässt es sich im Vollzug eines linearen Prüfprogramms ermitteln. Wenn das Muster nicht schon parat liegt, ist es vielmehr ein geradezu klassisches Vorgehen (also Teil der Methode), dieses im Hin- und Herwandern des Blicks zwischen den von den Beteiligten vorgetragenen Geschichten, vorliegenden Tatsachen und möglichen rechtlichen Einordnungen in den Blick zu bekommen und so zu gewinnen. Engisch hatte, so seine spätere Anmerkung, mit der von ihm »nicht sonderlich strapazierte[n], auch nicht näher analysierte[n] Wendung« nur »logische Probleme des Zirkels« im Auge. 88 Ihre entscheidende Bedeutung für die Methodik wuchs ihr erst zu, nachdem Vertreter der hermeneutischen Methodenlehre im Anschluss an Heidegger und Gadamer 89 die Formel vom »Hin- und Herwandern des Blicks« in einen unmittelbaren theoretischen Zusammenhang mit den hermeneutischen Verstehensmustern und -figuren des »Vorurteils«, des »Vorverständnisses« und des »hermeneutischen Zirkels« brachten. 90 Folgt man diesem Zusammenhang, liegt der Gedanke nahe, auch die Phänomene der Mustererkennung in diesem Rahmen theoretisch zu erfassen. Das hieße dann: als das, was man als Jurist immer schon verstanden haben muss, um eine Rechtslage zu verstehen, müssen die Muster in Formen eines Vorverständnisses oder Vorurteils immer schon vor-verstanden sein. So grundsätzlich diese Feststellung ist – als Ausgangspunkt für konkretere und nähere Erklärungen, wie Mustererkennungen entsteEngisch 1963, S. 15 Fn. 1. Engisch 1975, S. 206 Fn. 54. Engisch hatte dabei ein erkenntnistheoretisches und methodisches Problem im Auge, das sich zwangsläufig als logisches Problem ergibt, wenn gefragt ist, ob vom Sachverhalt oder vom Gesetz auszugehen ist. 89 Zur Rezeption durch die Rechtswissenschaft vgl. M. Frommel 1981; A. Kaufmann 2004, S. 100 ff. Zum Verhältnis Heidegger – Gadamer einführend M. Jung 2001, S. 113 ff. 90 Vgl. dazu die ausführliche Literaturzusammenstellung bei Engisch selbst (1975, S. 206 Fn. 54). 87 88

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23 · Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung

hen und funktionieren, das heißt, wie wir in Daten Strukturen suchen und finden, die ein Muster ergeben, führt sie kaum weiter. Theorien haben immer nur eine jeweils begrenzte Tiefenschärfe und einen begrenzten Kompetenzrahmen. Die Philosophische Hermeneutik ist hier, bildlich gesprochen, nicht auf den Nahbereich eines methodischen Vorgehens einstellbar und will so auch nicht verstanden werden; mit den klaren Worten Gadamers: »Die Hermeneutik […] ist […] nicht etwa eine Methodenlehre«. 91 Die Hermeneutik hat jedoch mit der zentralen Bedeutung, welche sie dem Vorverständnis beim Verstehen von Mustern einräumt, mit der kognitionswissenschaftlichen Erfassung der Mustererkennung den entscheidenden Bezugspunkt gemeinsam: die Schlüsselfunktion von »Vorwissen«. Gemeint ist dann aber nicht das Gedächtnis als allgemeines kulturelles Gedächtnis, das den hermeneutischen Verstehenshintergrund bildet, aber wegen seiner prinzipiellen Unbestimmtheit keinen Ansatz für eine hinreichend konkrete Analyse methodischer Probleme bieten kann. Der Schlüssel liegt vielmehr in den kognitionswissenschaftlich erfassbaren Funktionen und Leistungen unseres Gedächtnissystems; es wird zu zeigen sein, dass diese es sind, die die Prozesse der Musterbildung und Mustererkennung entscheidend bestimmen. 92

II.

Subsumierende und reflektierende Urteilskraft

Mit der Formel von K. Engisch war das Problem der Vermittlung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen, vor dem jede Rechtsanwendung steht, benannt und als ein »Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt« auch anschaulich beschrieben. Die Ansätze, die demgegenüber von Gabriel 93 und Meder 94 ausgearbeitet wurden, gehen über eine solche Deskription Gadamer 1990, in der Einleitung, S. 3. M. Heidegger hatte für sein Denken auf das Wort »Methode« ganz verzichtet, um einen Gleichklang mit dem modernen Methodenbegriff gar nicht erst aufkommen zu lassen; vgl. F.-W. v. Herrmann 1990, S. 14. 92 Auf die informationstheoretische Ebene eines jeden »Verstehenshintergrundes«, d. h. die Kontextgebundenheit von Information und unserer Informationsverarbeitung, kann ich hier nicht eingehen; vgl. dazu Strauch 2005, S. 491 ff. Es geht um das allgemeine Prinzip, »daß das Verstehen von Information selbst wieder Information voraussetzt«; B. O. Küppers 2008, S. 372. 93 G. Gabriel 2012, S. 1–23 m. w. N. 94 S. Meder 2012, S. 150–177 m. w. N. 91

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E · Das Erkenntnisverfahren

des Vermittlungsproblems deutlich hinaus. Entscheidend angeregt durch Hannah Arendts Fragment »Das Urteil« 95, greifen sie auf das theoretische Instrumentarium zurück, das Kant in seiner »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (1798) und seiner »Kritik der Urteilskraft« (1790) vorgegeben hat. Wichtig sind folgende Begriffsbestimmungen und Differenzierungen Kants: »Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert […] bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.« 96

Folgt man dieser Unterscheidung, sind die Fälle, die sich durch Subsumtion (i. e. S.) unter eine Norm entscheiden lassen, der subsumierenden Urteilskraft zuzuordnen, während die reflektierende Urteilskraft dann gefordert ist, wenn sich auf diesem Wege adäquate Ergebnisse nicht bestimmen lassen und es um das Auffinden einer allgemeinen Regel im Besonderen des Falles geht. Diese kommt also ins Spiel, wenn die »Rechtsfindung« nicht mehr bloß subsumiert, sondern zur Rechtsfortbildung und richterlichen Rechtsschöpfung wird. In den bisherigen Überlegungen zur Rechtsfortbildung hat sich diese Unterscheidung auch als durchaus tauglicher Ansatz erwiesen, um zwischen den Denkvorgängen zu differenzieren, mit denen Juristen bei Auslegung, Subsumtion und Rechtsfortbildung arbeiten. 97 Für eine nähere Analyse dieser Vorgänge müssen wir allerdings genauer wissen, was die reflektierende Urteilskraft eigentlich ausmacht und wie wir uns die kognitiven Prozesse vorzustellen haben, in denen in der Praxis der Rechtsfindung die Urteilsbildung vom Rechtsgefühl über die Urteilskraft zur Mustererkennung erfolgt. Weiterführend ist an dieser Stelle ein Rückgriff auf Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, denn über sie erschließt sich, was die reflektierende Urteilskraft eigentlich ausmacht – es ist für Kant der »Witz«. Aber in einem sehr spezifischen Sinn, in dem das Wort seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr gebraucht wird 98 und heute allenfalls noch in dem Wortgebrauch »Mutterwitz« oder »gewitzt« verstanden werden kann. »Gewitzt« etwa für eine Lösung, auf die 95 96 97 98

Vgl. S. Meder 2012, S. 164 ff. Kant, KrU, S. 179. Kap. 20 V. 1. G. Gabriel 2004: Art. »Witz«. In: HWPh Bd. 12, S. 985 f.

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man sonst nicht ohne Weiteres gekommen wäre. Und das trifft den entscheidenden Punkt, den auch Kant mit der reflektierenden Urteilskraft meint: »So wie das Vermögen zum Allgemeinen (der Regel) das Besondere auszufinden Urtheilskraft, so ist dasjenige zum Besondern das Allgemeine auszudenken der Witz (ingenium).« 99 Es ist der »productive Witz (ingenium strictus s. materialiter dictum)«, dessen Spezifika Kant in dem Abschnitt »Von den Talenten im Erkenntnißvermögen« auch genauer beschreibt: »Der Witz ist entweder der vergleichende (ingenium comparans), oder der vernünftelnde Witz (ingenium argutans). Der Witz paart (assimilirt) heterogene Vorstellungen, die oft nach dem Gesetze der Einbildungskraft (der Association) weit auseinander liegen, und ist ein eigenthümliches Verähnlichungsvermögen, welches dem Verstande (als dem Vermögen der Erkenntniß des Allgemeinen), so fern er die Gegenstände unter Gattungen bringt, angehört. Er bedarf nachher der Urtheilskraft, um das Besondere unter dem Allgemeinen zu bestimmen und das Denkungsvermögen zum Erkennen anzuwenden.« 100

Wesentlich definiert ist das Erkenntnisvermögen, das Kant hier »Witz« und in der »Kritik der Urteilskraft« »reflektierende Urteilskraft« genannt hat, also als »ein eigenthümliches Verähnlichungsvermögen«, als Vermögen »heterogene Vorstellungen«, auch wenn sie nur eine entfernte Ähnlichkeit haben, miteinander zu verknüpfen. Doch »Witz für sich allein ist der Quell der Einfälle« und es bedarf deshalb der Strenge der (bestimmenden) Urteilskraft (iudicium discretivum), »daß sie Unterschiede in ganz ähnlichen Dingen findet«. 101 Nimmt man hinzu, dass zu den Fähigkeiten, die den »Witz« ausmachen, in der rationalistischen Tradition der »Psychologia empirica« auch gehörte, Neues vorzustellen und im »Gedächtnis, viel zu ›behalten‹« und sich leicht darauf zu besinnen, 102 sind mit dieser Beschreibung zugleich bereits wesentliche Stichworte genannt, die auch für die kognitionswissenschaftliche Betrachtung des Umgangs mit Mustern entscheidend sind.

Kant, Anthropologie, S. 201. Kant, Anthropologie, S. 220. 101 Kant, Anthropologiekolleg, in: Sabina Laetitia Kowalewski / Werner Stark (Hg.), Königsberger Kantiana, Kant-Forschungen 12. 2000. VIII, S. 183–454; hier 230. 102 G. Gabriel 2004: Art. »Witz«. In: HWPh Bd. 12, S. 985 f.; hier mit Bezug auf Ch. Wolff. 99

100

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III. Die Vermittlungsfunktion von Mustern Kant hat mit der Differenzierung der Urteilskraft eine Struktur aufgezeigt, in die wir die Rolle von Mustern im informationsverarbeitenden Prozess der Rechtsprechung auch erkenntnistheoretisch einordnen können. Es geht um ihre »Vermittlerrolle«. Jedes Urteilen muss eine Verbindung zwischen den Daten der Sinnesrezeption einerseits und deren begrifflicher Erfassung andererseits zustande bringen. Diese Verbindung wird über einen Vermittlungsprozess geschaffen, dessen grundlegende Bedeutung für den Erkenntnisprozess im Teil C (Kap. 12 II.) bereits dargestellt wurde. Hier ist festzuhalten: Wir denken nicht mit dem jeweiligen Begriff an sich. Wir arbeiten mit den Vorstellungen, die wir mit ihm verbunden haben – der Vorstellung von einem »Stuhl«, einem Vertragstypus, etwa dem »Kaufvertrag«, von Rechtsfiguren oder von Handlungsabläufen. Diese Vorstellungen bilden jeweils ein Muster, in dem bestimmte Merkmale, Charakteristika, Eigenschaften in Abhängigkeitsrelationen verbunden sind. – Für Kant geht es bei der Funktion, die ich hier den »Mustern« zuschreibe, um das »Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen«. Er nennt es »das Schema zu diesem Begriffe« und erläutert dies durchaus in dem Sinne, wie ich die Muster als Mittel des Begreifens verstehe, mit der anschließenden Feststellung: »In der Tat liegen unseren reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemata zum Grunde.« 103 Dass es sich bei diesem Erklärungsmodell nicht nur um ein praxisfernes theoretisches Konstrukt handelt, sondern zugleich um einen Problemzugang mit praktischer Relevanz, zeigt sich darin, dass auch die Rechtsprechung dieses Modell nutzt, indem sie zur Definition und Begriffsklärung ausdrücklich auf »Vorstellungsbilder« zurückgreift. Dazu Beispiele: So hat das BVerwG seine Entscheidung, dass Beamte der Zollverwaltung, die als Zollverbindungsbeamte an einer deutschen Auslandsvertretung verwendet werden, keine vollzugspolizeilichen Aufgaben wahrnehmen, damit begründet, dass Bezugspunkt für die

Kant, KrV B 179 f. Wie H. Lenk 1995, S. 16 ff. und passim halte ich den Ansatz zur Erklärung des »Mechanismus der Verbindung zwischen Begriffen und Anschauung«, S. 20, auch unabhängig von seinem transzendentalphilosophischen Zusammenhang für fruchtbar. Näher zum Schema-Begriff siehe W. Stegmaier, Art. »Schema, Schematismus«. In: HWPh Bd. 8, S. 1246.

103

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herausgehobene Funktion vollzugspolizeilicher Aufgaben und den damit einhergehenden Belastungen »nach dem Vorstellungsbild des Gesetzgebers« die Eingriffsbefugnisse bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs seien. 104 Oder man rechtfertigt eine Nutzungsuntersagung damit, dass die Nutzung »dem typisierten Vorstellungsbild, welches das Städtebaurecht von einer Vergnügungsstätte hat«, entspricht. 105 In einer Entscheidung des OLG Hamm zur Gewährleistung beim Wohnungskauf wird zur Auslegung eines in Anführungszeichen gesetzten Textes ausgeführt: »Die Verwendung von Anführungszeichen bei einem Begriff ist ein sprachliches Anzeichen dafür, dass der Begriff in einem im Kern treffenden, aber von dem üblichen Vorstellungsbild vielleicht etwas abweichenden Sinn gebraucht wird.« 106 Im Baurecht wird diese Argumentationsfigur oft benutzt, um die juristische Begriffsbildung von einer »natürlichen« abzugrenzen. Zitat aus einer Entscheidung des VGH München: »Die Wertung als Außenbereich hat mit Vorstellungsbildern wie ›freier Natur‹ oder ›Stadtferne‹ nichts zu tun. Außenbereich im Sinne des Baugesetzbuches ist die Gesamtheit aller nicht von §§ 30 und 34 BauGB erfaßten Flächen.« 107 Ein besonders anschauliches Beispiel hatte ich bereits zur Illustration des semiotischen Dreiecks zitiert – die Entscheidung des GS BGHSt von 1956 zur korrigierenden Auslegung des Heimtückebegriffs: Der Große Senat sah sich vor das Problem gestellt, »zu prüfen, ob die bisherige Rechtsprechung das Merkmal der Heimtücke selbst richtig auslegt«. Die entscheidende Begründung, mit der er »die bisherige Auslegung des Merkmals der Heimtücke« fortentwickelte, erfolgte dann über die für uns hier zentrale Argumentation, dass »sie dem Vorstellungsbilde entsprechen muß, das dem Begriff der Heimtücke selbst zu Grunde liegt«. 108 Es sind derartige Vorstellungsbilder – seien es solche des Gesetzgebers, des Gesetzes, der Sprach- oder der Interpretationsgemeinschaft – mit denen der Interpret arbeitet und die als Muster genutzt werden, um über Identität, Ähnlichkeit oder Nicht-Identität zu urtei-

BVerwG, Urteil vom 25. April 2013 – 2 C 39/11 –, juris Rn. 15. VG Köln, Beschluss vom 04. April 2012 – 2 L 401/12 –, juris Rn. 28. 106 OLG Hamm, Urteil vom 18. Juni 2009 – I-22 U 136/08, 22 U 136/08 –, juris Rn. 29. 107 Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30. Juli 1998 – 1 B 96.1428 –, juris Rn.34. 108 BGHSt 9, 385 – juris Rn. 22. 104 105

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len. Die Rollen, die Muster in diesen Urteilsprozessen spielen, können wie folgt schematisiert werden: • Ein Vorstellungsbild braucht der Richter primär schon für den zu bewertenden Geschehensablauf (die Sachverhaltshypothese); er braucht es aber auch, um sich die subjektiven Tatbestände und Absichten (des Täters oder sonstiger Beteiligter) vergegenwärtigen zu können. Nur so kann er sie zum Gegenstand rechtlicher Wertungen machen. In diesem Sinn ist es auch meistens gemeint, wenn in strafrechtlichen Entscheidungen von dem »Vorstellungsbild des Täters« die Rede ist. • Für dieses Vorstellungsbild muss dann ein rechtliches (Einordnungs-) Muster gefunden werden, d. h. eine Regel, nach der der Fall zu beurteilen ist. Ob er ein Fall dieser Regel ist, ist eine Sache der bestimmenden Urteilskraft, also der Subsumtion im Sinne der Subordination, was im Anschluss an Kant heißt: In aller Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff muss die Vorstellung des ersteren mit dem letzteren »gleichartig sein, d. i. der Begriff muß dasjenige enthalten, was in dem darunter zu subsumierenden Gegenstande vorgestellt wird; denn das bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand sei unter einem Begriffe enthalten«. 109 • Ist das Ergebnis dieser Subsumtion Identität oder Nicht-Identität, ist das Geschäft der bestimmenden Urteilskraft zunächst beendet und der Fall damit entschieden – es sei denn, es kommen in Gestalt von Vorstellungsbildern gegenstehende Wertungsmuster ins Spiel und es melden sich so Zweifel an diesem Ergebnis an. • Diese können sich zum einen auf die Identität beziehen. Man bemerkt Unterschiede; der zu entscheidende Fall ist »irgendwie« anders als die sonstigen Fälle. So unterschied sich die »Heimtücke«, die der GS in der zitierten Entscheidung zu beurteilen hatte, durch die besondere Motivationslage des Täters im Wertungsmuster so deutlich von »üblichen« Heimtückemorden, dass die Richter sich veranlasst sahen, »die bisherige Auslegung des Merkmals der Heimtücke […] fortzuentwickeln«. • Zum anderen sind es wiederum Muster, die im Ergebnis umgekehrt eine zunächst festgestellte Nicht-Identität in Frage stellen. Es sind die Muster, über die sich die Ähnlichkeit vermittelt. Sie 109

In dieser Zusammenfassung zitiert nach R. Eisler 1930/1964, S. 519.

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können entweder dazu führen, die bisherige Auslegung zu erweitern: Auch X ist ein Fall der Regel (auch Strom kann »Gegenstand« eines Kaufvertrages sein). – Oder man geht den Weg der Analogie (die Regeln des Kaufrechts sind auf Stromlieferungsverträge entsprechend anzuwenden). Schließlich bleiben die Konstellationen, in denen ein gegebener Fall auch über Analogien nicht mehr als ein Fall der Regel X beurteilt werden kann. Will sich das Judiz mit diesem Ergebnis nicht zufriedengeben, ist es auch hier der »Witz« als »ein eigenthümliches Verähnlichungsvermögen«, der eine Lösung sucht – die aber ebenfalls nur über Muster gefunden werden kann. Es geht hier dann um das Vermögen, für das Problem einer nicht vorhandenen oder defizitären Regelung 110 ein Muster zu finden, das für vergleichbare Problemsituationen bereits als Problemlösungs- oder Regelungsmuster bestimmt und anerkannt ist.

IV. Gründe für den gewählten kognitionswissenschaftlichen Ansatz und zu den Grenzen der Analysierbarkeit kognitiver Prozesse Mit der Beschreibung der Rollen, die Muster im Erkenntnisverfahren spielen, wissen wir noch nichts darüber, wie Muster entstehen, wie sie Juristen in den Sinn kommen und wie sie mit ihnen arbeiten. Der transzendental-philosophische, der hermeneutische, der semiotische und der kognitionswissenschaftliche Ansatz nutzen zur Erfassung der Vermittlungsprobleme, die uns auf diese Frage nach dem »wie« eine Antwort geben könnten, Theorien und Beschreibungssysteme, die auf unterschiedlichen Ebenen liegen. 111 Wenn für die folgende AnaFrüher die »Scheidungsprobleme« bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Ein inzwischen klassisches Beispiel ist das mit der Entscheidung BVerfGE 65, 1–71 geschaffene Recht auf »informationelle Selbstbestimmung«. 111 Je genauer man die Unterschiede analysiert, desto schneller wird man auf den erkenntnistheoretischen Grundsatzstreit zwischen Transzendentalphilosophie und empirischer Erkenntnistheorie stoßen und sich Gedanken machen müssen, inwieweit dieser Streit heute überhaupt noch fruchtbar ist. Es wäre aus dieser Sicht zwar ein interessantes Unterfangen, hier die Diskussion über »Kant und die moderne Kognitionsforschung« aufzunehmen. Vgl. dazu Th. Leiber 1996, Kant-Studien Bd. 87, S. 1 ff. Leiber bezieht sich dort auch ausführlich auf die Schema-Theorie der kogniti110

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lyse der kognitionswissenschaftliche Ansatz zugrunde gelegt wird, dann, weil der Vorzug dieses Ansatzes darin liegt, dass er nicht nur eine theoretische Einordnung ermöglicht, sondern mit größerer, auch empirischer Tiefenschärfe die kognitiven Bedingungen und Voraussetzungen für die Praxis der Mustergenerierung und Mustererkennung zu beschreiben vermag.

1.

Der Richter – seine Vorurteile und Befindlichkeiten

Auch dieser Ansatz hat freilich seine Grenzen. Unsere derzeitigen, empirisch abgesicherten Erkenntnisse ermöglichen es zwar, die »Black Box« in Teilen »aufzubrechen«, lassen aber weiterhin wesentliche Momente der Rechtsfindung, wenn nicht im Dunkeln, so doch im Halbdunkel. Wir erfassen das Denken nicht, wenn wir meinen, wir könnten Gefühle und deren Abhängigkeit vom limbischen System außen vor lassen. Ein Versuch, den Urteilsprozess als durchgehend rationalen Prozess abzubilden, muss also selbst ins Irrationale umkippen, wenn er nicht einräumt, dass die Richter ihn mit allen ihren Vorverständnissen, Vorurteilen, unbewältigten Vergangenheiten, situativen Befindlichkeiten und Schwankungen des Hormonhaushaltes und Voreingenommenheiten, die nicht zu Tage treten, betreiben. Die Einzeluntersuchungen, die zu diesen Themen vorliegen, 112 lassen sich derzeit sicher noch nicht in einem einheitlichen theoretischen Konzept zusammenfassen (sollte dies überhaupt möglich sein). Ein erstes Desiderat wäre hier eine Art Reader, in dem die zu den aufgezählten Einzelaspekten gefundenen Ergebnisse zusammengeführt werden und der dann als »Richterspiegel« richterlicher Selbstreflexion dienen könnte. Ein weiteres Desiderat betrifft die Frage, inwieweit die Befunde über typische individualpsychologiven Psychologie. Die Ansätze vergleichend zu erörtern, würde jedoch den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. 112 Die Diskussion kann hier nicht dokumentiert werden. Zur ersten Übersicht vgl. die Beiträge im Handbuch der Rechtspsychologie, Handbuch der Psychologie: Band 9, Hrsg. M. Steller u. R. Volbert. Göttingen 2008: J. Hupfeld-Heinemann, Margit E. Oswald, Richterliche Urteilsbildung: Strafentscheid und Strafzumessung, S. 477 ff. – Birte Englich, Urteilseinflüsse vor Gericht, S. 486 ff.- Susanna Niehaus, Glaubwürdigkeitsattribution, S. 497 ff. – Günter Bierbrauer, Edgar Klinger, Verfahrensgerechtigkeit, S. 507 ff. Siehe ferner: Birte Englich 2005, Rechtsfindung und deren Auswirkung im Spannungsfeld zwischen Gesetzestexten und psychologischen Einflüssen. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 36, 157–159.

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sche Verhaltensmechanismen und -muster durch institutionelle Einbindung und professionelle Vorgaben korrigiert werden können. Untersuchungen zum so genannten Ankereffekt – der Richter orientiert sich an einem mehr oder minder willkürlich vorgegebenen Zahlenwert, etwa an dem vom Staatsanwalt beantragten Strafmaß, wie er sich an einer anderen, niederen oder höheren Vorgabe auch orientiert hätte – lassen allerdings an der Wahrscheinlichkeit, solche Mechanismen korrigieren zu können, erheblich zweifeln. 113

2.

Unhintergehbare Subjektivität – rationale Struktur des analogischen Erkenntnisvermögens

Für die Ebene der konkreten Entscheidung müssen wir also von einem Faktum unhintergehbarer Subjektivität jedenfalls insoweit ausgehen, als das Urteil in der Sachverhaltswertung, der rechtlichen Einzelfallbewertung, dem konkreten Strafmaß etc. Einzelfallentscheidung ist. Nichts anderes gilt dann zunächst auch für die Wahrnehmungen, Gedanken und Einfälle, durch die die Urteilskraft gesteuert wird. Um noch ein weiteres Mal mit Lichtenberg zu argumentieren: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt.« Wie ein Blitz ist auch der »Geistesblitz« nicht berechenbar, kommt aber nicht von ungefähr und ist als solcher, wenn der Gedanke, den er hervorbringt, als Rechtsgedanke taugt, auch nicht nur ein bloßer individueller Einfall. Fügt sich dieser Gedanke als Kategorie, Denkfigur oder brauchbare Problemlösung in den institutionellen juristischen Denkraum ein, wird sein zunächst scheinbar rein subjektiver Ursprung unwesentlich; er bekommt einen inter-subjektiven Charakter. So wie die Qualität eines naturwissenschaftlichen Gedankens nicht davon abhängt, wie er entstanden ist – ob beim Rasieren oder unter einem Apfelbaum –, sondern nur davon, ob er sich in den naturwissenschaftlichen Wissenszusammenhang kohärent einfügt, so hängt auch die Rationalität einer juristische Schlussfolgerung nicht von der Rationalität ihrer subjektiven Entstehung ab. Ein Rechtsgedanke wird für den (institutionellen) Rechtsprechungsprozess ja auch nur relevant, wenn er sich in dessen Denk- und Argumentationsraum einfügt. Entsprechend geht es bei der Suche nach einer kognitiven Er113

Vgl. B. Englich 2008, Interview in: Betrifft JUSTIZ Nr. 93, S. 210, 214 f.

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klärung für die Entstehung und den Gebrauch juristischer Muster auch nicht um die Suche nach unergründlichen Quellen, sondern nach der rationalen Struktur »der Aktivierung des analogischen Erkenntnisvermögens, nämlich des Witzes der reflektierenden Urteilskraft«. 114

V.

Juristische Muster – Versuch einer kognitionswissenschaftlichen Erklärung

Wenn der Richter bei einem neuen Verfahren stutzt und ihm in den Sinn kommt: »Ich hatte doch schon einmal einen vergleichbaren Fall«, und seine Aufmerksamkeit dabei auf die im alten und neuen Fall rechtlich gleich gelagerte Struktur gerichtet ist, ist dies ein typischer Fall von Mustererkennung. Der Vergleichsfall wurde im Gedächtnis offenbar als rechtliches Muster abgespeichert und mit diesem Muster wieder aufgerufen, nachdem die Beschäftigung mit dem neuen Fall das Gedächtnis entsprechend aktiviert hatte. Im Arbeiten nach der »Methode Simile« (Kap. 25 III.) tritt diese Funktion der Mustererkennung als Muster-Wiedererkennung ganz deutlich hervor. Für die Mechanismen der Mustererkennung, die es nun näher zu beschreiben gilt, ergibt sich daraus eine erste wesentliche Beobachtung: Mustererkennung und Musterbildung sind analoge Vorgänge, Vorgänge, bei denen Wahrnehmungsleistungen und Gedächtnisleistungen offenbar unmittelbar zusammenspielen. Wie verhält es sich aber, wenn der Richter/Jurist in seinem Gedächtnis kein sofort passendes Einordnungs- oder Lösungsmuster findet und auch eine Datenbankrecherche nicht weiterhilft? Mit der Erklärung einer Muster-Wiedererkennung scheint es dann offenbar kaum getan. Es liegen Situationen mit Problemen vor, deren Lösungen kreative kognitive Leistungen verlangen – eben ein Vorgehen, das »Witz«, will sagen: reflektierende Urteilskraft, erfordert, eine Methode, die man auch als »Methode Sherlock-Holmes« beschreiben kann. 115 Gleichwohl beruhen auch die kognitiven Vorgänge, die bei der Bewertung neuer Situationen und Probleme zu einer Generierung bisher nicht gewusster Muster führen, nicht auf grundsätzlich anders zu bewertenden Denkvorgängen. Sowohl die »üblichen«, rou114 115

G. Gabriel 2012, S. 18. Näher zur »Methode Sherlock Holmes« unten Kap. 25 III.

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tinemäßigen Phänomene der Musterbildung und Mustererkennung als auch die Phänomene der »Mustergenerierung« sind kreativ-assoziative Prozesse. Sie unterscheiden sich nur durch ihre mehr oder minder stark ausgesteuerten assoziativen oder analytisch-logischen Anteile. – Um die Vorgänge verstehbar zu machen, die als Mustererkennungen bei einer »Gesamtschau« wirksam sind, sind die kognitiven Bedingungen dieses Prozesses bereits in Kapitel 14 II. c) – Exkurs II – dargestellt worden. Daran knüpfen die folgenden Überlegungen zu den kognitionswissenschaftlichen Grundlagen der Mustererkennung an, stellen nun aber entscheidend auf Prozesse der Rechtsermittlung ab.

1.

Kognitive Mechanismen (Exkurs III) 116

Um die Mechanismen der zu analysierenden kreativ-assoziativen Prozesse zu beschreiben, können wir nicht auf ausgearbeitete kognitionswissenschaftliche Modelle zurückgreifen. Auf der Grundlage verallgemeinerbarer Erkenntnisse und Beobachtungen der Kognitionswissenschaften lassen sich aber Erklärungsmodelle ableiten, um mit hinreichender Tiefenschärfe auf die Fragen, wie arbeiten wir mit Mustern, wie erkennen wir sie und wie entstehen sie, erste Antworten geben zu können. Als Einstieg kann die nachfolgende Abbildung dienen:

Ergänzt wird dieser Exkurs III durch den neurowissenschaftlichen Exkurs I im Kapitel 13 III 1 über Zeugenaussagen, den Exkurs II im Kap. 14 II. 3. – »Gesamtwürdigung« – und den Exkurs IV im Kapitel 24 IV. über Entscheidungstheorien.

116

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Wer das Bild zum ersten Mal betrachtet, sieht zunächst wahrscheinlich nur kleinere oder größere schwarze und weiße Flächen, vielleicht nur Tintenkleckse (was bereits eine Mustererkennung wäre). Es dauert eine Weile, bis wir aus diesen zweidimensionalen Helligkeitsverteilungen Figuren extrahieren, in ihnen Muster, Objekte erkennen können. Wenn es gelungen ist, sehen wir – fast in der Mitte – einen Hund, genauer einen auf dem Boden (auf einem Weg?) schnüffelnden Dalmatiner. Und schauen wir noch genauer hin, können wir in der Rückpartie des Dalmatiners noch ein weiteres Muster erkennen: den Kopf einer Hyäne. Was hier an einem Bildbeispiel dargestellt werden sollte, hat der Neurowissenschaftler W. Singer in seiner allgemeinen Struktur wie folgt skizziert: »Ein erster und wichtiger Schritt bei der Mustererkennung ist die Szenenanalyse, die Zuordnung von Konturen zu bestimmten Objekten einerseits und zum Hintergrund andererseits. Objekte lassen sich nur als solche erkennen, weil ihre Eigenschaften es erlauben, sie als Einheit von anderen abzugrenzen. Eine Basisoperation aller Mustererkennungsprozesse besteht somit darin, das zu identifizierende Objekt von den umgebenden, nicht zu ihm gehörenden Konturen abzugrenzen.« 117

Diese Basisoperation der Mustererkennung ist insbesondere für das visuelle System des Gehirns erforscht und beschrieben worden. 118 Diese Mustererkennungsprozesse gelten im Prinzip aber für alle Bereiche des kognitiven Erfassens. In einem Beitrag »Synergetik der Gehirnfunktionen« hat H. Haken dies so formuliert: »Ein Großteil menschlicher Wahrnehmung besteht in der Erkennung von Mustern. Es kann sich hierbei um die Erkennung von Gesichtern, von Gegenständen oder von Tieren handeln, also von mehr oder weniger statisch erscheinenden Objekten. Wir können aber auch Bewegungsmuster oder Verhaltensmuster in unserer sozialen Umgebung erkennen«. 119

Ob es sich nun um die Wahrnehmung unserer Umwelt handelt oder um Erkenntnisse im »Geistigen« – stets haben wir es mit Prozessen der Mustererkennung zu tun. Oft sind es assoziierende Übergänge: Singer 2002, S. 129. – Eine vertiefende Analyse der neuronalen Resonanz- und Kohärenzbildungen, die hier die Wahrnehmung des Dalmatiners ausmachen – ohne dass sich dazu im Gehirn ein »Zentrum« für diese Erkenntnis ausmachen ließe –, findet sich bei T. Fuchs 2010, S. 164–170. 118 Singer 2002, S. 87 ff. 119 Haken 2004, S. 92 f. 117

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Bewegungsmuster werden als Verhaltensmuster verstanden und diese wiederum mit (im weitesten Sinn) normativen Mustern eingeordnet und bewertet (mit ästhetischen etwa die Drehung eines Tänzers, mit juristischen das Heben der Hand bei einer Versteigerung). – Immer wenn wir Daten, welch unterschiedlicher Qualität sie auch sein mögen, in einen Zusammenhang bringen – also Kohärenzen schaffen –, ordnen wir sie nach einem Muster. Analysieren wir diese Prozesse auf ihre Bedingungen, so liegt eine notwendige Bedingung offensichtlich darin, dass entweder ein angeborenes 120 oder ein erworbenes Wissen darüber vorhanden sein muss, welche Differenzen, Elemente oder Merkmale das wahrgenommene Objekt, das erkannte Muster kennzeichnen. Wir können nur erkennen, was wir – wenigstens irgendwie – kennen. Ohne ein Wissen darüber, wie eine Hyäne aussieht, hätten wir sie in der Abbildung nicht sehen können. Mustererkennung basiert mithin notwendig auf »Prozessen assoziativer Gedächtnisse« (H. Haken). 121 Wesentlich für die bei der Mustererkennung entscheidenden Prozesse ist das Zusammenspiel von Wissen – Gedächtnis – Assoziation – Wahrnehmung. a. Zunächst zur Wahrnehmung 122: Um irreführende Vorverständnisse erst gar nicht aufkommen zu lassen, ist es sinnvoll, sich zu Beginn aller Überlegungen klarzumachen, wie unsere Mustererkennung, etwa beim optischen Erkennen, nicht abläuft. Es ist eben nicht so, dass unser Gehirn das auf der Netzhaut abgebildete Bild mit einem genauso scharfen, identischen Bild aus dem Gedächtnis abgleicht, um dann dem Bewusstsein zu melden: identisch oder nicht gleich. Nach dem, was wir heute über den Sehvorgang wissen, kommt vielmehr nur ein minimaler Teil der Informationen, die auf das Auge treffen, überhaupt in den eigentlichen Erkenntnisprozess. In Zahlen: Kann man die Informationsmenge, die auf die Netzhaut gelangt, mit 10 Milliarden Bits pro Sekunde veranschlagen, reicht die Weiterleitungskapazität des Sehnervs nur für 6 Millionen Bits pro Sekunde und von dieser Informationsmenge gelangen nicht einmal 100 Bits Singer 2002, S. 88 verweist hier auf die Gestaltpsychologie der dreißiger Jahre. Zu den Gestaltgesetzen der Wahrnehmungsorganisation vgl. Anderson 2001, S. 41 ff. und zu der damit zusammenhängenden visuellen Mustererkennung S. 49 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen S. 74. Wichtig für die Forschungen nach 1945: Metzger 1986. 121 Haken 2004, S. 93. 122 Fortgesetzt wird hier der Exkurs I – Kap. 13 III. 1. 120

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zu den Gehirnregionen, die sich mit bewusster Wahrnehmung befassen! 123 Wir haben es bei diesem Prozess also stets mit Ergänzungen unvollständiger Datensätze durch unser – sehr komplexes – Gedächtnissystem zu tun. 124 Wahrnehmen ist mit anderen Worten Informationsverarbeitung, bei der entscheidend immer auch Vorstellungen, Bilder, Worte und Gedanken beteiligt sind, die unser Gehirn schon gespeichert hatte und mit denen die neuen Informationen abgeglichen, be-, er- und verarbeitet werden. Wahrnehmen ist also immer auch ein Sich-Erinnern – aber mit einem Gedächtnissystem, das, um ein Bild zu gebrauchen, nicht wie der digitale Speicher einer Kamera oder eines Computers funktioniert, sondern assoziativ. Dass es sich bei den Mustern, mit denen wir arbeiten, nicht um starre Schablonen, um präzise fixierte Gedächtnisinhalte handeln kann, mag schon ein einfaches Zahlenbeispiel zeigen. Wir können die Zahl »1« in nahezu unzähligen Varianten schreiben und gleichwohl diese Zahl in nahezu allen Varianten »wieder-erkennen«. Oder das Beispiel eines kleinen Kindes, das gelernt hat, was ein Stuhl ist. Es wird auch in dem größten Stuhlmuseum der Welt wahrscheinlich alle Exponate als Stühle erkennen. b. Die These, dass unsere »Mustererkennung auf Prozessen assoziativer Gedächtnisse beruht« 125 und »sich als Ergänzung eines Satzes unvollständiger Daten zu einem vollständigen Satz« 126 vollzieht, wird noch klarer, wenn wir dazu den neurowissenschaftlichen Hintergrund einen Schritt weiter ausleuchten: Das, was wir Gedächtnis nennen, ist (wie die Beispiele plausibel machen sollten) keinem festen Speicher, etwa einem Neuron oder einem stabilen Verbund von Neuronen, klar inhaltlich zugeordnet, sondern kann als »Gedächtnisspur« über sehr viele Verbindungen in einem ausgedehnten Neuronenverbund verteilt sein. Dieselben Neuronen, die Träger eines so gespeicherten Gedächtnisinhaltes sind, sind aber auch an dem Prozess der Wahrnehmung beteiligt. 127 Wir unterscheiden zwar wie selbstverständlich zwischen Wahrnehmung und Vorstellung – wenn wir etwas Raichle 2010, S. 63. Haken 2004, S. 93, 97. 125 Haken 2004, S. 93. 126 Haken 2004, S. 97. 127 Bear u. a. 2009, S. 831; dort, S. 829 ff., auch zum »Modell für ein verteiltes Gedächtnis« und zur Frage, wie man sich die physische Repräsentation eines »Engramms« oder einer »Gedächtnisspur« als cell assembly vorzustellen hat. 123 124

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wahrnehmen oder uns etwas vorstellen, dann beruht das aber auf denselben Hirnfunktionen. Dem entspricht es, »daß sich die Aktivitätsmuster, die auftreten, wenn sich Menschen etwas vorstellen oder das Vorgestellte tatsächlich vor Augen haben, kaum unterscheiden« (W. Singer). 128 c. Solche Aktivitäts- oder Erregungsmuster, an denen sich jeweils eine große Zahl von Nervenzellen in wechselnden Konstellationen beteiligen und die sowohl durch Wahrnehmungen als auch bloß durch unsere Vorstellungen hervorgebracht werden – sie aktivieren auch unsere Erkenntnis- und Denkmuster, und Muster assoziieren andere Muster. 129 Wie an den Beispielen der Typologie gezeigt, fallen uns etwa Lösungsmuster, die für bestimmte Fallgruppen gespeichert sind, für scheinbar völlig andere Problemsituationen ein. Einem Bild, einer Vorstellung oder einer Szene, die Gegenstand unseres Bewusstseins sind, können viele unterschiedliche neuronale Zustände und kontextabhängige Signale zugrunde liegen. Der Zusammenhang zwischen neuronalen Zuständen und unseren Vorstellungen kann nicht im Sinne einer »Punkt-für-Punkt-Wiedergabe« verstanden werden. 130 Wie bereits gesagt: Muster oszillieren. 131 Diese Art freier Assoziation ist als wichtiger Teil des menschlichen Denkens die Grundvoraussetzung für das, was wir Kreativität oder auch Intuition nennen. Am Werk ist unser »eigenthümliches Verähnlichungsvermögen«, eben Kants »Witz«. Notwendig ist dann aber immer noch ein weiterer Schritt: Nachdem in freier Assoziation über Analogien Verknüpfungen hergestellt wurden, gilt es, diese Verknüpfungen auch analytisch zu prüfen. Sie müssen auf ihre logische Stimmigkeit und Belastbarkeit hin bewertet werden, ein Vorgang, für den es, was auch nicht überraschend ist, offenbar ebenfalls eine neurowissenschaftlich feststellbare Entsprechung gibt. 132 Auf der Ebene Singer 2005, S. 716. Hat man den kohärenztheoretischen Zusammenhang im Blick, liegt auch dem Muster eine »temporär kohärente Struktur« zugrunde: Strauch 2005, S. 499 u. Strauch 2003, S. 4. 130 G. M. Edelman 2007, S. 108; es entspricht auch der in diesem Buch vertretenen theoretischen Perspektive, wenn Edelman an dieser Stelle einen Bezug zu Wittgensteins »Spielen« herstellt, die ebenfalls weder durch einzig notwendige noch durch gemeinsam hinreichende Bedingungen definiert sind. 131 Kap. 22 II. 132 In einer Studie, die sich mit dem juristischen Entscheidungsfindungsprozess beschäftigte, legten die Forscher Anwälte und andere Akademiker in den Hirnscanner 128 129

579 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

E · Das Erkenntnisverfahren

der Methodik geben die bekannten Regeln, mit denen Juristen Analogieschlüsse abzuschätzen haben, dafür ein typisches Beispiel.

2.

Wir alle lernen Muster – aber nicht alle gleich gut

Nachdem die These, dass unsere »Mustererkennung auf Prozessen assoziativer Gedächtnisse beruht«, näher erläutert und konkretisiert worden ist, ist es jetzt nur noch ein überraschend kleiner Schritt zur Beantwortung der Frage, wie die Muster denn eigentlich in unseren Kopf kommen, oder was, anders formuliert, bei näherer Beobachtung auf das Gleiche hinausläuft, worauf »Intuition« oder, wie Intuition bei Juristen meistens heißt, worauf »Judiz« eigentlich beruht: Sie beruht auf einem Mehr an Wissen, das man gespeichert hat 133 und zu dem das Denken freien und assoziativen Zugang hat. Der zentrale Ansatz der Expertenforschung – heute »ein blüund zeichneten mittels funktioneller Magnetresonanztomographie deren Hirnaktivität beim Beurteilen folgenden Falles auf: Darf ein Arzt dem Wunsch eines 15-jährigen Mädchens nach einer Abtreibung auch ohne Kenntnis und Einwilligung der streng religiösen Eltern nachkommen? Die Probanden sollten eine Bewertung aus moralischer wie rechtlicher Perspektive treffen und angeben, wie sehr sie die Fälle emotional berührten. Dabei zeigte sich, dass moralische und juristische Urteile zunächst ähnliche Hirnregionen aktivieren. Nach kurzer Zeit jedoch setzt bei juristischen Urteilen eine stärkere Aktivierung des dorsolateralen präfrontalen Cortex (DLPFC) ein. Das legt nahe, dass auch juristische Entscheidungen zuerst von intuitiven und emotionalen Prozessen vorbereitet, dann aber von logischem Denken begleitet werden. Nur bei Juristen trat ein für die Forscher unerwarteter und deshalb nicht sicher interpretierbarer Effekt auf: eine verstärkte Aktivierung im mit kognitiven Aufgaben betrauten dorsalen anterioren cingulären Cortex (dACC). In der veröffentlichten Notiz heißt es hierzu: »vielleicht die neuronalen Korrelate des Subsumierens?« Schleim u. a. 2010/11. 133 Die natürlich bestehenden und wesentlichen Unterschiede zwischen »Intuition«, »Judiz« und »Mustern« müssen hier ebenso auf sich beruhen wie die möglichen Verbindungen zu dem semiotischen Erklärungsansatz von C. S. Peirce. Zum »Judiz« siehe grundlegend Gröschner 1987; von »Judiz« kann man nicht sprechen, ohne von »Rechtsgefühl« und »Gerechtigkeit« zu sprechen (S. 906 f.). Für die »Muster« ist dieser Zusammenhang, wenigstens zunächst, nicht wesensbestimmend. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Basis: Wissen und Erfahrung. »Judiz und Präjudiz« gehören in der Tat zusammen wie »Judiz und Erfahrung« (S. 904, 907). Für die »Intuition« kam der Sachbuchautor Traufetter entsprechend zu dem Fazit: »Intuition ist demnach das Ergebnis von Lernprozessen« (2007, S. 311). – Auf den Erklärungsansatz von Peirce kann ich nur verweisen – Strauch 2009, S. 404 f. –, ihn an dieser Stelle aber nicht weiter vertiefen.

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23 · Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung

hendes Forschungsfeld« 134 – kreist um die Fragen, woran es liegt, dass »Experten« Probleme besser lösen können als »Nichtexperten«. Die naheliegende und in Experimenten immer wieder bestätigte Antwort ist die, dass Experten mehr Wissen über ein Gebiet besitzen als Nichtexperten. Anders gesagt, die aktualisierbare Problemlösungskompetenz steigert sich durch Erfahrung, wobei das angeeignete Wissen eine zentrale Rolle spielt. Schon Beobachtungen des Alltags lassen aber sicher keinen Zweifel daran, dass die schlichte Anhäufung von Wissen nicht das allein Entscheidende sein kann. Vielmehr zeigen sich die Unterschiede vornehmlich in der Art und Weise, wie dieses Wissen organisiert ist. Während »Novizen« mit deklarativen Wissensstrukturen arbeiten, nutzen Experten ihr Wissen in prozeduraler Form. 135 Wesentlich sind hier Mustererkennungs- und Lernprozesse und Lernen meint dabei kein bloßes Abspeichern von Wissen, von Erfahrungen, Fakten und Fällen. Diese werden vielmehr aufgenommen, um etwas zu lernen, das heißt, es kommt auf die »elaborative Verarbeitung des zu lernenden Materials« an. 136 Die kognitive Psychologie hat dies anhand vieler Belege näher konkretisiert: So arbeiten das Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis von Schachgroßmeistern mit Figurenkonstellationen sowohl schneller als auch mit größeren Datenmengen als die nur guten Schachspieler 137; in der Röntgendiagnostik etwa zeigte sich Expertenschaft darin, wie differenziert Röntgenbilder decodiert und Probleme erkannt wurden. 138 Mit zunehmender Erfahrung auf einem Gebiet entwickelt man, allgemeiner gesagt, eine bessere Fähigkeit, problembezogene Informationen im Langzeitgedächtnis zu speichern und wieder abzurufen 139 – also mit Mustern umzugehen, gegebenenfalls diese auch in Simulationen zu erwerben. In seinem Buch »Intuition« beschreibt G. Traufetter im Kapitel »Intuition erlernen«, dass und warum Piloten viele Stunden im Flugsimulator zugebracht haben müssen, bevor sie ein Passagierflugzeug fliegen dürfen. 140 Wenn auch nicht im Flugsimulator, sondern in Klausurenkursen betreiben auch Juristen seit alters her solche SimuP. Reimann 1996, Art. »Expertise«, S. 180. K. Opwis 1996 in dem Art. »Problemlösen«, S. 521. Zu den Begriffen siehe Kap. 5 II. 3. 136 Anderson 2001, S. 305, allgemeiner zur elaborativen Verarbeitung dort S. 192 ff. 137 Anderson aaO. S. 302. 138 Anderson aaO. S. 300. 139 Anderson aaO. S. 304. 140 Traufetter 2007, S. 282. 134 135

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lationen. Die Klausurenkurse dienen dem Juristen dazu, »möglichst im Zeitraffer seine Intuition zu schulen«. 141 – Zugleich »sozialisieren« sie den individuellen »Denk- und Argumentationsraum« zu einem juristischen. Entscheidend ist die »Einspielung« und »Stabilisierung« 142 derjenigen (juristischen) Wahrnehmungs- und Denkmuster, mit denen die Juristen als »Interpretationsgemeinschaft« 143 arbeiten und auf denen diese Gemeinschaft auch gründet. – Damit aber wieder zurück zu dem, was den individuellen Umgang mit Mustern ausmacht: Diese Befunde beschreiben notwendige allgemeine Bedingungen von Expertentum. Sie lassen aber auch die Momente hervortreten, die man als Bedingungen von »Intuition« kennzeichnen kann. Damit sind freilich Prozesse angesprochen, in denen Phänomene des Expertentums, der »Kreativität« und der »Intuition« ineinander übergehen. Zu diskutieren wäre eine Vielzahl von Momenten – etwa die Fähigkeit zum Wechseln-können der Bezugssysteme, zur Umund Neuinterpretation gewohnter Dinge und Wege oder die Fähigkeit zum Querdenken. Eine solche Diskussion kann hier nicht geführt werden. Der für die Mustererkennung entscheidende Punkt tritt aus meiner Sicht aber in einem Streitgespräch klar zu Tage, das der Philosoph Karl Popper und der Biologe Konrad Lorenz 1983 über die Frage geführt hatten, auf welchem Wege wir Erkenntnis gewinnen. Während Popper ein deduktives, von Hypothesen ausgehendes, Erkenntnismodell vertrat, insistierte Lorenz darauf, dass »wir neue Erkenntnisse durch die Verallgemeinerung von Einzelbeobachtungen gewinnen, neue Erkenntnisse gleichsam schlagartig durch das Zusammenschalten unabhängig gewonnener Einzelerkenntnisse ins Bewusstsein treten«. 144 Genau dieser kognitive Vorgang, aus Einzelbeobachtungen, also Fällen, durch die Verallgemeinerung neue juristische Lösungen zu finden, ist es auch, der dem Konzept der Traufetter aaO. Lenk 1995, S. 238, hier bezogen auf Schemainterpretationen. Auf Lenks Ansatz selbst kann im Rahmen dieses Beitrages nicht eingegangen werden. 143 Lenk 1995, S. 122. 144 B.-O. Küppers 2008, S. 483. – Zu dem Phänomen der »schlagartigen« Erkenntnis müssen die Gründe, warum die »abduktive Vermutung […] wie ein Blitz« kommt (Peirce 1991, S. 404), unerörtert bleiben. Zum »Aha-Effekt« sowie zum »Inkubationseffekt« siehe Anderson 2001, S. 273 ff. Auf welche Weise das Gehirn, für das Bewusstsein vielfach nicht fassbar, unbewusst neue Kohärenzen schafft, ist noch weitgehend offen. Zu den möglichen neuronalen Grundlagen der Kreativität vgl. Roth 2001, S. 181 ff. 141 142

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Mustererkennung zugrunde liegt. Und aus diesem Grundgedanken ergeben sich dann auch die zwei wesentlichen Bedingungen, die für Musterbildung und die Mustererkennung konstitutiv sind. (1.) Der eine Schlüssel liegt in der »elaborativen Verarbeitung« des gelernten Materials. Ein Jurist, der nicht nur nach der Methode Simile arbeiten will, darf die Fälle also nicht wie in einer Aktenablage ins Gedächtnis aufnehmen und nicht wie ein Sachbearbeiter, der für einen gleichgelagerten Fall ein Muster haben will. Er muss sie so abspeichern, dass sie gleichsam zu einem »fluiden Wissen« werden. Nur wenn in dem vielen Verschiedenen das Gleiche erfasst ist, kann das Denken mit dem gespeicherten Material auch kombinatorisch arbeiten. Das Wissen muss mit anderen Worten in dogmatischen Kategorien aufgearbeitet und auf diese Weise analogiefähig sein. (2.) Den zweiten Gesichtspunkt habe ich oben bereits mit »Offenheit« und »Unvoreingenommenheit« umschrieben. Dabei geht es nicht darum, der Illusion einer theoriefreien Beobachtung das Wort zu reden. Doch die Unmöglichkeit theoriefreier Beobachtung bedeutet nicht, dass die Brille mit begrenztem Gesichtsfeld, fester Brennweite und mit theoretisch satt eingefärbten Gläsern unhintergehbar ist. Nur eine Aufmerksamkeit, die so »gleichschwebend« ist (um einen Ausdruck Freuds zu gebrauchen) 145, dass sie sich von Fixierungen lösen und Perspektiven und Bezugssysteme wechseln kann, taugt als Organ einer unvoreingenommenen Mustererkennung. Man könnte diese Art der Aufmerksamkeit »Vigilanz der Wahrnehmung« nennen. Sie beschreibt eine idealtypische Wahrnehmungshaltung des Richters bei dem, was er als Information im Prozess wahr- und aufnimmt. Diese Haltung impliziert zugleich auch eine »Offenheit durch Verfahren« – das heißt, die »Dialogik des Verfahrens« 146 als notwendiges Postulat zu akzeptieren. Die schon viel zitierte Wendung vom »Hin- und Herwandern des Blicks« ist so gesehen nur ein wesentlicher Aspekt und offenbar nicht zu Unrecht »strapaziert« 147 worden – erfasst sie doch den Mechanismus der Mustererkennung in dem entscheidenden Punkt: Wer seinen Blick hin und her wandern lässt, ist in einem Zustand, in dem er noch nicht fixiert ist, weder auf eine klare Vorstellung vom Sach145

Freud 1975, S. 171 f.; näher zur »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« Kap. 13 III.

2. 146 147

Gröschner 1982, insbes. S. 235 ff. Engisch 1975, S. 206 Fn. 56.

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E · Das Erkenntnisverfahren

verhalt noch auf eine eindeutige Rechtsansicht, noch auf einen analytisch-logischen Subsumtionsvorgang. Die Wahrnehmung ist noch im Zustand der Vigilanz und das Wissen für die juristische Hypothesenbildung arbeitet noch im Zustand eines fluiden Materials. In ebendiesem Zustand gelingt dann vielleicht auch der eigentlich entscheidende Blick: Wir sehen einen rechtlichen Gesichtspunkt oder einen Sachzusammenhang, der bisher außerhalb des Blickfeldes lag, aber nunmehr den Blick auf die »richtige« Lösung freigibt.

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Kapitel 24 Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

Akzeptiert man die These, dass unsere »Mustererkennung auf Prozessen assoziativer Gedächtnisse beruht« 148, löst das natürlich die Frage nach den Mechanismen aus, die die Richtung und damit letztlich das Ergebnis bestimmen, auf die diese Assoziationen hinauslaufen. Das Denken soll ja nicht zu einer unendlichen Assoziationskette führen. Der Richter muss entscheiden und das heißt in unserem Zusammenhang, das »richtige« Muster auswählen. Welcher Weg führt also von der Mustererkennung zum Urteil? Was führt den Richter dazu, diesem und nicht jenem Muster zu folgen und damit die letztlich getroffene Entscheidung anderen Entscheidungsmöglichkeiten vorzuziehen? Dafür kommt es auch nicht nur auf die Kausalität an, die dazu geführt hat, dass wir einen rechtlichen Gesichtspunkt oder einen Sachzusammenhang sehen, der bisher außerhalb des Blickfeldes lag, aber nunmehr den Blick auf die »richtige« Lösung freigibt. Es muss auch eine Verständigung – oder doch wenigstens eine Diskussion – darüber geben, wie und mit welchen Maßstäben wir eine Lösung oder die Entscheidung als »richtig« einstufen können.

I.

Entscheidungstheorien

Stellt man diese Frage, muss man sich darüber im Klaren sein, dass man sie nicht mit einer eindeutigen, exakten, wissenschaftlich abgesicherten Beschreibung der wesentlichen Mechanismen beantworten kann. Mehr als möglichst plausible Modelle zur Erklärung dieser Prozesse dürfen wir nicht erwarten. Die Suche nach tragfähigen kognitiven Modellen des Entscheidens beschäftigt mit besonderem Gewicht die Psychologie und die Neurowissenschaften ebenso wie die Organisationssoziologie, die Wirtschaftswissenschaften und die Konsumfor148

H. Haken 2004, S. 93.

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schung. Deren erkenntnisleitendes Interesse liegt dann mit Schwerpunkt auf Untersuchungen über die Entscheidungsstrategien (erfolgreicher) Manager und die Entscheidungen von Marktteilnehmern etc. Ausgearbeitete Modelle über die Mechanismen des richterlichen Entscheidens gibt es nicht. 149 So bleibt nur, auf allgemeine Modelle 150 zurückzugreifen, die auch für die richterliche Arbeit Relevanz haben können. In Betracht kommen hier insbesondere drei Grundmuster: 1. die Theorien der »rationalen Wahl«; sie nehmen an, dass es immer eine korrekte bzw. beste Lösung des Entscheidungsproblems gibt und dass sich diese Lösung auch durch eine konsequent rationale Vorgehensweise finden lässt 151; 2. reduktionistische Entscheidungsstrategien; reduktionistisch deshalb, weil man sich auf einige Heuristiken (Faustregeln) stützt und alle anderen Informationen dann beiseitelässt. Zu nennen ist hier vor allem das von G. Gigerenzer geprägte Konzept des heuristischen Werkzeugkastens (adaptive toolbox) 152, nach dem Menschen über eine Reihe von Heuristiken verfügen, die ihnen die Anpassung an verschiedene Urteils-, Entscheidungs- und Problemlösesituationen erlauben. Eines der typischen Werkzeuge ist die Take-the-BestHeuristik. Sie besteht aus den folgenden drei Bausteinen: »Suchregel: Prüfe die Gründe in der Reihenfolge ihrer Bedeutung. Stoppregel: Beende die Suche, sobald sich die Alternativen hinsichtlich eines Grunds unterscheiden. Entscheidungsregel: Wähle diejenige Alternative, die dieser Grund nahelegt.« 153 Bislang lässt sich nur auf Einzelstudien zurückgreifen, etwa über den Ankereffekt; siehe oben Kap. 23 IV. 1. und u. V. Da es die institutionelle Einbindung ist, die die jeweiligen kognitiven Prozesse wesentlich prägen, lassen sich empirische Untersuchungen, die im Kontext anderer Justizsysteme gemacht wurden, auch nicht ohne Weiteres unmittelbar übernehmen. Zu den Untersuchungen, die auf unser Justizsystem bezogen sind, gehören der Forschungsbericht »Entscheidungsverhalten von Schöffen« von Andreas Glöckner u. a. o. J. – »Schöffenbericht« – Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern – https://www.coll.mpg.de/Download/ IntuitiveExperts/Schoeffenbericht.pdf – und A. Glöckner 2008 m. w. N. Im »Schöffenbericht« S. 6, 17 ff. auch näher zum Ankereffekt. 150 Zur Einführung in die »Psychologie der Entscheidung« vgl. allgemein H. Jungermann u. a. 2010. 151 Eine typische Denkfigur dieses Ansatzes ist in der Ökonomie der »Homo oeconomicus«. 152 Vgl. G. Gigerenzer 2008, S. 71 ff. und passim; Ders. 2013, S. 46, 157 ff. passim. 153 G. Gigerenzer 2008, S. 158, 92 ff.; siehe auch Ders. 2013, S. 146, 164 f. 149

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24 · Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

Ein weiteres Tool ist die auf dem Wiedererkennungsgedächtnis beruhende Rekognitionsheuristik, die besagt: »Wenn eines von zwei Objekten wiedererkannt wird, das andere aber nicht, dann schließe daraus, dass das wiedererkannte Objekt den höheren Wert hat.« 154 Eine Implikation dieser Heuristik ist der Weniger-ist-mehr-Effekt (LessIs-More-Effekt), was heißt, dass unter bestimmten Umständen weniger Wissen – im Sinne von weniger erkannten Objekten – zu besseren Ergebnissen führen kann. 155 Im Gegensatz dazu stehen 3. die intuitiv-automatischen Strategien. 156 Grundannahme ist hier, dass auch bei komplexen Sachverhalten und Wertungen die Entscheidungsfindung nicht dadurch bestimmt wird, dass die Zahl der berücksichtigten Informationen radikal reduziert wird, sondern im Gegenteil eine Vielzahl von Informationen aufgenommen und verarbeitet wird – die Prozesse dann aber weitgehend unbewusst ablaufen. Es kommen, so A. Glöckner, ein führender Vertreter dieser Position, »komplexe Denkprozesse zum Einsatz, die zum Teil auf bewussten Prozessen basieren, denen zu einem anderen Teil aber auch automatisch (unbewusst) ablaufende Prozesse zugrunde liegen. Diese Prozesse helfen dabei, die vorliegenden Informationen zu einem Fall in einer konsistenten Gesamtinterpretation zusammenzufügen und die Stimmigkeit dieser Interpretation sehr schnell einschätzen zu können […] Diese Prozesse erklären zum Beispiel das Vorhandensein respektive die Entstehung eines Rechtsgefühls bzw. Judizes.« 157

II.

Entscheidungsstrategie und richterliche Praxis

Eine Vertiefung dieser Diskussion würde den Rahmen unserer methodischen Überlegungen sprengen. Wir können eine Auseinandersetzung mit diesen heute relevanten Entscheidungstheorien deshalb aber nicht übergehen. Sie betreffen ja – wenn auch zunächst aus einer allgemeineren Perspektive – das gleiche Grundproblem: Wie lassen sich komplexe Entscheidungssituationen theoretisch modellieren? G. Gigerenzer 2008, S. 119 ff., 123; siehe auch Ders. 2013, S. 146, 164 f. G. Gigerenzer 2013, S. 29 ff., 130 ff. und passim. 156 Siehe die Kritik bei A. Glöckner 2006, S. 63 ff., 68 ff., 231 f.; vgl. auch T. Ostermann 2010, S. 58 ff. 157 A. Glöckner u. a. Schöffenbericht, S. 6 mit ausführlichen Nachweisen. Vgl. ferner A. Glöckner 2006, S. 71 ff. 154 155

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E · Das Erkenntnisverfahren

Und hier zeigen sich dann nicht nur Parallelen in den Nutzanwendungen, sondern auch in den theoretischen Wurzeln. Sowohl die intuitiv-automatische Strategie als auch die eigene Grundkonzeption richterlicher Entscheidungsfindung haben ihre Grundlagen in den gleichen kohärenztheoretischen Ansätzen. Zunächst aber zu den unmittelbar auf die Praxis übertragbaren Strategien:

1.

Theorien der »rationalen Wahl« und reduktionistische Entscheidungsstrategien

Wenn sie auch nicht unter diesen Überschriften diskutiert werden, so wendet die Praxis doch beide Strategien wie selbstverständlich an. Lässt sich ein Problem mit einer Wahrscheinlichkeitsrechnung sicher entscheiden, muss die Wahrscheinlichkeit auch berechnet werden. Liegt zu einer umstrittenen Tatsache ein wissenschaftlich begründetes Gutachten vor, wird mit einer Entscheidung, die diesem folgt, eine rationale Wahl getroffen. Übernimmt der Richter eine h. M. oder eine obergerichtliche Entscheidung, ohne sich über Alternativen Gedanken zu machen, folgt er einer reduktionistischen Heuristik. Wie groß deren praktische Relevanz ist, wird in dem Abschnitt »Methoden der Praxis« (Kap. 25 III.) ausführlicher zu thematisieren sein.

2.

Intuitiv-automatische Strategien

Ein Versuch, alle wesentlichen Prozesse richterlicher Entscheidungsfindung mit den beiden genannten Strategien erklären zu wollen, kann jedoch augenscheinlich nur scheitern. Wenn etwa in einem Senat aufgrund divergierender Voten intensiv darüber diskutiert wird, ob man die bisherige Rechtsprechung aufrechterhält, modifiziert oder ändert, dann sind das keine Vorgänge, die sich unter der Perspektive der Verwendung einer »Take-the-Best-Heuristik« und dem »Less-IsMore-Effekt« erfassen lassen. Auch und insbesondere die ihrer Natur nach komplexen »Gesamtwürdigungen«, bei denen Informationen und ihre Relationen zueinander nicht quantifizierbar sind, sind mit »Faustregeln« nicht beschreibbar. Man muss deshalb auf Modelle zurückgreifen, die komplexere kognitive Prozesse wenigstens annähernd adäquat erfassen können. A. Glöckner nutzt dafür Modelle, die »strukturell in Analogie zu neuronalen Verschaltungen aufgebaut 588 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

24 · Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

sind« und die es erlauben, den »Prozess der automatischen Integration von Informationen in einem neuronalen Netzwerk konkret zu simulieren«. Konzepte werden so »zu einer konsistenten Gesamtrepräsentation zusammengefügt, in der die Widersprüchlichkeit zwischen den Konzepten minimiert wird«. 158 Mit der »konsistenten Gesamtrepräsentation« sind das »Prinzip der Konsistenzmaximierung« und dessen Konsistenzmechanismen angesprochen und Glöckner stellt damit auf »ein zentrales psychologisches Prinzip« ab, »das sowohl den klassischen Arbeiten der Wahrnehmungspsychologie (Gestaltpsychologie, Koffka 1936; Köhler 1947) als auch klassischen Ansätzen der Sozialpsychologie […] zugrunde liegt.« 159

III. Gemeinsame Bausteine eines kohärenztheoretischen Modells Nun geht es hier um juristische Methodik und nicht darum, Simulationsmodelle zu generieren, die für empirische Untersuchungen von Entscheidungsprozessen geeignet sind, indem sie die Vorgänge, die diese Prozesse ausmachen, hinreichend realistisch nachbilden. Doch auch die Methodik braucht zum Verstehen der Prozesse richterlicher Entscheidungsfindung adäquate Analyse- und Beschreibungsmodelle und für diese Zwecke hat sich das hier vertretene kohärenztheoretische Modell im Laufe der bisherigen Analysen durchaus bewährt. Lässt man die unterschiedlichen Zielrichtungen und Aufgaben beider Modelle beiseite, bestehen zwischen ihnen auch keine Widersprüche. Da beide Modelle im Grundsätzlichen die gleichen Prozesse erfassen wollen, müssen sie hier in ihren Grundstrukturen auch auf den gleichen Grundüberlegungen aufbauen. Ein Abgleich mit dem skizzierten und in der theoretischen Anlage sehr viel umfassenderen Modell der intuitiv-automatischen Strategien zeigt dann in der Tat auch eine weitgehende Übereinstimmung in den theoretischen Grundannahmen beider Konzepte: 1. »Konsistenz« ist weitgehend gleichbedeutend mit dem von mir durchgehend verwendeten Kohärenzbegriff. Das psychologische Prinzip der Kohärenz ist auch ein zentraler Baustein des ko158 159

A. Glöckner 2006, S. 71 mit ausführlichen Nachweisen. A. Glöckner 2006, S. 74 ebenfalls mit ausführlichen Nachweisen.

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E · Das Erkenntnisverfahren

härenztheoretischen Modells, das ich in dem Beitrag »Rechtsprechungstheorie – Richterliche Rechtsanwendung und Kohärenz« entwickelt und dargestellt habe. 160 Ausgeklammert bleibt in diesem Zusammengang zwar die philosophisch-theoretische Dimension dieses Kohärenzmodells; auf deren grundlegende Bedeutung wird jedoch am Schluss zurückzukommen sein (VI.). 2. Beiden Modellen ist weiterhin gemeinsam, dass sie sich unmittelbar auf die Neurowissenschaften beziehen und vom neuronalen Netz ausgehen. Die Konzeption, die diesem Buch zugrunde liegt, geht dabei – zusammengefasst – von folgenden Überlegungen und Annahmen aus: Wenn wir die Elementarvorgänge unseres Denkens, Erkennens und – übrigens untrennbar verwoben – auch unseres Fühlens beschreiben wollen, müssen wir die Frage beantworten, wie denn eigentlich aus der Flut von Reizen und den eigenen Kontexten kohärente Bilder, Gedanken, Vorstellungen, Wertungen und Handlungsentscheidungen entstehen. Und hier kommt dem Kohärenzbegriff in den Neurowissenschaften insofern eine ganz zentrale Bedeutung zu, als es um die gleiche Frage geht, nämlich wie aus der Flut von Reizen und den eigenen Kontexten kohärente Bilder, Gedanken, Vorstellungen und Handlungsanweisungen entstehen. Der Kohärenzbegriff beschreibt also einen Elementarvorgang. 161 Dem entspricht das Modell, den entscheidenden Mechanismus darin zu sehen, dass die Neuronen im Ensemble nicht nur gleichzeitig feuern, sondern in dieser Aktivität auch eine temporal kohärente Struktur 162 bilden. In dieser »temporal kohärenten Struktur« liegt dann zugleich ein zentraler Schlüssel zum Verständnis unseres Denkens und unseres Erkennens. 163

Strauch 2005, S. 490 ff., 494 f.; zur Gestaltpsychologie in diesem Zusammenhang die Hinweise Strauch 2005, S. 498 und Strauch 2009, S. 408. Näher jetzt T. Fuchs 2010, S. 43 f.; 131 f.; 204. 161 Grundlegend dazu G. M. Edelman 2007, u. a. S. 47 ff.; 58 f.; 111. 162 T. Metzinger 1996, 595 ff., 609, unter Hinweis auf W. Singer. Hier insbesondere W. Singer, Hirnentwicklung oder die Suche nach Kohärenz, in: Sybille Krämer (Hrsg.) Geist – Gehirn – künstliche Intelligenz, Zeitgenössische Modelle des Denkens, Berlin 1994, 165 ff. = Ders. 2002.; ferner W. Singer: Binding by synchrony. Scholarpedia, 2(12):1657, 2007; – grundlegend: C. Gray, W. Singer: Stimulus-specific neuronal oscillations in the cat visual cortex: A cortical functional unit. In: Society of Neuroscience Abstracts, 1987. 163 Ausführlich dazu Strauch 2005, S. 485 ff., 489. 160

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24 · Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

IV. Gesicherte neurowissenschaftliche Grundlagen (Exkurs IV) 164 Der kohärenztheoretische Ansatz kann sich für seine Grundlagen auf allgemein als gesichert geltende Erkenntnisse stützen: Als gesichert können wir heute davon ausgehen, dass das »Nervensystem […] mit grundlegenden Eigenschaften ausgestattet sein [muss,] die es ermöglichen, Kosten, Nutzen und Erfolgswahrscheinlichkeiten zu ›verrechnen‹«. 165 Ferner kann als gesichert angenommen werden, »dass beim Menschen Gebiete des frontalen Kortex systematisch bei der Optimierung von Entscheidungen aktiviert werden und dass bestimmte Areale (orbitofrontaler Kortex, dorsolateraler präfrontaler Kortex) an der Codierung entscheidungsrelevanter Variablen sowie an der Hemmung inadäquater Verhaltensweisen, die negative Konsequenzen zur Folge haben, beteiligt sind.« 166 Vereinfacht gesagt, es »blitzt« nicht nur (Lichtenberg), sondern es wird auch rational abgewogen, es finden Prozesse des Schlussfolgerns statt – es wird »gedacht«. Für unseren theoretischen Ansatz bedeutet das: »Optimales Entscheidungsverhalten lässt sich mithilfe neuronaler Netze modellieren. Entsprechende Modelle sind semirealistisch aus unterschiedlichen Funktionsmodulen aufgebaut, die Eigenschaften bekannter Strukturen, z. B. der Basalganglien, des orbitofrontalen Kortex und der Amygdala, repräsentieren. Die Module sind aus künstlichen Neuronen aufgebaut, die wechselseitig erregend und hemmend miteinander verschaltet sind und die aufgrund von qualitativem bzw. quantitativ abgestuftem Feedback lernen, d. h. deren synaptische Konnektivitäten sich aufgrund der Erfahrung ändern.« 167 Auf dieser Grundlage lässt sich dann auch der »Prozess der automatischen Integration von Informationen in einem neuronalen Netzwerk konkret […] simulieren«, d. h. ein entsprechendes Modell erstellen. Man spricht hier von sogenannten Parallel Constraint Satisfaction (PCS)-Netzwerken, bzw. PCS-Modellen. 168 Auch die in-

Ergänzend wird auf den neurowissenschaftlichen Exkurs I, im Kapitel 13 III. 1. über Zeugenaussagen, den Exkurs II in Kapitel 14 II. 3. – »Gesamtschau« – und den Exkurs III im Kap 22 V. über die Mustererkennung hingewiesen. 165 F. Rösler 2011, S. 225. 166 F. Rösler aaO. S. 277. 167 F. Rösler aaO. 168 Zusammenfassend dazu T. Ostermann 2010, S. 32 ff. 164

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E · Das Erkenntnisverfahren

tuitiv-automatische Strategie Glöckners ist eine Entscheidungstheorie nach diesem PCS-Modell. 169

V.

Die Entscheidungsfindung im Modell

Die Prozesse, die erst beim »Fallverstehen« und dann bei der Falllösung ablaufen, können in aller Regel nicht als das Abarbeiten linearer Prüfprogramme verstanden werden. Es sind Rückkoppelungsprozesse, Prozesse im Wechselspiel des Hin- und Herwanderns des Blicks von rechtlichen Wertungen zu Tatsachen, von sehr konkreten Informationen zu sehr allgemeinen Argumenten, zwischen unterschiedlichen Mustern. In diesem Prozess bleiben auch Gewicht und Stellenwert von Informationen, Wertungen, Argumenten und Mustern nicht gleich, sondern verändern sich. Bei jeder auch nur etwas kontroversen Senatsberatung wird man dieses Phänomen beobachten können: Informationen und Gesichtspunkte, die am Anfang im Vordergrund standen, spielen im Verlauf keine Rolle mehr, werden verdrängt – oder tauchen am Schluss wieder auf und bestimmen die Entscheidung. Es sind diese Grundsituationen richterlicher Entscheidungsfindung, die man versucht, mit dem PCS-Modell abzubilden. In der Studie »›Neurorecht‹ ohne Psychologie?« beschreibt Glöckner den Grundgedanken des Modells wie folgt: »Nach dem PCS-Modell beginnt jede Entscheidung mit der Wahrnehmung eines Entscheidungsproblems. Dies führt zur automatischen Aktivierung einer Vielzahl assoziierter Informationen, die ein temporär aktiviertes Netzwerk bilden. Umgehend nach Konstruktion dieses Netzwerks setzen automatische Prozesse der Konsistenzmaximierung ein, die eine möglichst widerspruchsfreie Interpretation der aktivierten Informationen herstellen. Diese Konsistenzmaximierungsprozesse sind fundamentaler Bestandteil unseres Wahrnehmungssystems und werden auch bei Entscheidungen genutzt. Mittels dieser Konsistenzmaximierungsprozesse werden unbewusst die verschiedenen möglichen Interpretationen einer Entscheidungssituation gegeneinander abgewogen und die wahrscheinlichste Interpretation wird hervorgehoben. Dies wird realisiert durch die Abwertung von Informationen, die gegen diese Interpretationen sprechen, und die gleichzeitige Aufwertung von Informationen, die diese Interpretation stützen. Das Ergebnis ist eine mentale Repräsentation, welche die Entscheidung leitet. In vielen 169

T. Ostermann 2010, S. 54 ff.

592 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

24 · Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

Alltagssituationen läuft dieser Prozess vollständig automatisch ab: Eine Situation wird wahrgenommen, eine komplett unbewusste mentale Repräsentation (primäres Netzwerk) gebildet und das bevorzugte Objekt gewählt.« 170

Im Zusammenspiel mit diesen automatischen Prozessen kommen aber auch Denkprozesse zum Einsatz, die auf bewussten Prozessen basieren. Sie greifen ein, »wenn keine, der Wichtigkeit der Situation angemessene, gute Interpretation gefunden werden kann.« 171 Ausdrücklich auf das Rechtssystem bezogen, konkretisiert Glöckner diesen Bereich mit folgenden Feststellungen: »Der Einsatz deliberater [= bewusster] Prozesse führt zur Prüfung und Abwägung verschiedener Interpretationen sowie zu einer Anreicherung des Netzwerks mit Informationen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass einerseits spontane Fehlinterpretationen vermieden und andererseits persönliche Werte und Einstellungen in der mentalen Repräsentation (adäquat) berücksichtigt werden.« 172 Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung bedeutet in diesem Zusammenhang dann, dass der Richter verpflichtet wird, »alle plausiblen alternativen Interpretationen der Sachlage zu berücksichtigen. Die freie Beweiswürdigung nutzt die menschlichen Fähigkeiten, viele Informationen zu integrieren und die Stimmigkeit der resultierenden Interpretationen (Konsistenz) gegen ein Kriterium (Schwellenwert) zu prüfen. Die Vorgabe zur Berücksichtigung alternativer Interpretationen verpflichtet Richter zum Einsatz bewusster Prozesse (deliberate Rekursion / freier Wille im weiteren Sinne), um global und nicht nur lokal optimale Lösungen zu identifizieren. Außerdem wird bewusst geprüft, ob alle Informationen in der Interpretation (mentale Repräsentation) enthalten sind und die reale Situation adäquat abbilden.« 173

Die von Glöckner u. a. durchgeführte experimentelle Untersuchung des Entscheidungsverhaltens von Schöffen zeigt dann auch, wie notwendig eine Reflexion der intuitiv gefundenen Ergebnisse – für unsere Fragestellung: wie notwendig eine rationale Kontrolle der Musterfindung – ist. Die Untersuchungen ergaben hier folgende, auch konkret untersuchten, Urteilsverzerrungen: Informationsverzerrungen mit dem Fazit »Schöffen verzerren die Interpretation von A. Glöckner 2008, S. 19 f. »Neurorecht« ohne Psychologie? Die Rolle verhaltenswissenschaftlicher Betrachtungsebenen bei der Ableitung rechtspolitischer Empfehlungen, Von der Neuroethik zum Neurorecht?, issue 2008/18, Bonn, Max Planck Institute for Research on Collective Goods, PDF. 171 A. Glöckner 2008, S. 20 f. 172 A. Glöckner 2008, S. 23. 173 A. Glöckner 2008, S. 24. 170

593 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

E · Das Erkenntnisverfahren

Informationen, so dass diese das bevorzugte Urteil stärker unterstützen. Diese Verzerrungen sind besonders stark bei Verurteilungen und sie steigen mit einer steigenden Präferenz für Konsistenz.« 174 Falscher Umgang mit Wahrscheinlichkeiten: »Fazit: Schöffen berücksichtigen Basiswahrscheinlichkeiten nicht ausreichend in ihren Entscheidungen. Ihre Leistungen sind vergleichbar mit denen der Studierenden.« 175 Ankereffekte: Um es nochmals in Erinnerung zu rufen, hier besteht die Urteilsverzerrung darin, dass Menschen ihre Urteile an vorgegebenen Werten »ankern«, d. h. dass sich Menschen an diesem vorgegebenen »Ankerwert« orientieren und somit ihr eigenes Urteil davon beeinflussen bzw. verzerren lassen. Hier zeigen die Befunde, »dass auch Schöffen bei der Festlegung des Strafmaßes auf relevante und irrelevante Anker reagieren«. 176

VI. Konsistenzmaximierungsprozesse vs. »richtige Entscheidung« Gewinn und Nutzen, die die entscheidungstheoretischen Ansätze erbracht haben, führen zunächst zu zwei Schlussfolgerungen: 1. Zur Analyse und Erklärung des richterlichen Fallverstehens und der methodischen Falllösung können wir nicht von Entscheidungsstrukturen ausgehen, die mit linearen Prüfprogrammen abgebildet werden könnten. Von konkreten Problemen abgesehen, die sich über reduktionistische Entscheidungsstrategien und solche der »rationalen Wahl« entscheiden lassen, werden Informationen und Argumente vielmehr in einer Gesamtinterpretation zusammengefügt. Das heißt, rivalisierende Argumente und Informationen werden im Entscheidungsprozess selbst verändert und nicht erst danach zur Reduktion von Dissonanz eingesetzt. 177 Dies gilt ebenso für das Suchen und Finden von Mustern wie für das Argumentieren mit Mustern und die Entscheidungsfindung über Muster. 2. Dieser Befund der Gesamtinterpretation führt zu der These, dass »Entscheidungen auf konstruktiven Prozessen basieren, in denen Informationen aktiv verändert und zu einem stimmigen Gesamt174 175 176 177

A. Glöckner u. a. Schöffenbericht, S. 15. A. Glöckner u. a. Schöffenbericht, S. 17. A. Glöckner u. a. Schöffenbericht, S. 17 – vgl. dazu Kap. 23 IV. 1. A. Glöckner 2006, S. 76.

594 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

24 · Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

bild zusammengefügt werden«. 178 Dem Entscheidungsprozess liegen mit anderen Worten »Mechanismen zur Herstellung von Konsistenz« 179 zugrunde. – Diese Formulierung kann jedoch eine falsche Assoziationskette auslösen und deshalb ist an dieser Stelle eine weitere Differenzierung geboten:

1.

Die notwendige Unterscheidung von »Konsistenz« im Sinne intuitiv-automatischer Entscheidungstheorien und »Kohärenz«

Den »Mechanismen zur Herstellung von Konsistenz« kommt in dem intuitiv-automatischen Modell die zentrale, struktur-bestimmende Bedeutung zu. Dieser Feststellung liegt jedoch nicht das gleiche Verständnis von »Konsistenz«/ »Kohärenz« zugrunde, das gemeint ist, wenn in dieser Methodenlehre Methode als Herstellung von Kohärenz verstanden wird. Die intuitiv-automatische Entscheidungstheorie hat vornehmlich die Funktion, Messverfahren für empirische Untersuchungen zu liefern. Der »Konsistenz-« bzw. »Kohärenzbegriff« dient der Theorie dazu, die dafür entscheidenden kognitiven, psychologischen Mechanismen zu erfassen. Entsprechend können beide Begriffe auch in der Methodenlehre als gleichbedeutend verwandt werden, soweit es um kognitive Prozesse psychologischer Natur geht. Prozesse der richterlichen Tatsachen- und Rechtsgewinnung laufen jedoch nicht allein auf dieser Ebene, auf der »Konsistenzmechanismen« als »enge Anbindung an das eigene Wertesystem« und als »Aktivation des persönlichen Wertesystems« 180 funktionieren. Eine Methode des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens muss diese Ebene intuitiv-autonom ablaufender Prozesse zwar beschreiben und reflektieren, ihre ureigene Funktion ist es jedoch, diese Prozesse dann auch normativ zu steuern. Wesentlich auf dieser Ebene sind nicht nur die Vermeidung von Urteilsverzerrungen, sondern primär die Maßstäbe für das »richtige« Urteil. Im Mittelpunkt steht so zunächst die bewusste Entscheidung nach methodischen Regeln. Ent-

178 179 180

A. Glöckner 2006, S. 221 mit Nachweisen. A. Glöckner 2006, S. 75.; Hervorh. d. Verf. A. Glöckner 2006, S. 236.

595 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

E · Das Erkenntnisverfahren

scheidend für die »Kohärenz«, die auf dieser Ebene herzustellen ist, kann also nur die Anbindung an das Recht sein und nicht die »enge Anbindung an das eigene Wertesystem« des Richters. Anbindung an das Recht bedeutet aber, wie im Laufe der bisherigen Untersuchungen immer wieder betont, auch Anbindung an dessen Determinanten mit deren Elementen: dem Hypertext Recht, dogmatischen Sätzen, Prinzipien, Wertungen, Leitbilder etc. Das gilt für die Interpretation von Informationen und Tatsachen wie für die Auslegung und Handhabung von Normen und Rechtsgrundsätzen. Aber nichts anderes gilt auch für den Umgang mit Mustern und die Entscheidungen über Muster.

2.

Von der Mustererkennung zum Urteil – zwei grundlegende Einsichten

Was führt den Richter dazu, diesem Muster und nicht jenem Muster zu folgen und damit die letztlich getroffene Entscheidung anderen Entscheidungsmöglichkeiten vorzuziehen? – Dies war die Ausgangsfrage dieses Kapitels. Dass uns die Entscheidungstheorien auf diese Frage mit einer klaren Beschreibung der wesentlichen Denkschritte oder doch wenigstens mit einem eindeutigen Modell antworten könnten, war nicht zu erwarten. Im Ergebnis brachte die Diskussion der Entscheidungstheorien jedoch einen klareren Blick auf die Struktur richterlicher Entscheidungsprozesse und damit zugleich zwei grundlegende Einsichten in diese Prozesse. • Auch die Vorgänge, in denen Muster gebildet, wahrgenommen und präferiert werden, laufen nicht durchgehend bewusst, sondern weitgehend intuitiv-autonom ab. • Eine »richtige Entscheidung« kann jedoch letztlich nicht über automatische Prozesse der Konsistenzmaximierung gewonnen werden, sondern nur über die Herstellung von Kohärenz. Es gilt deshalb, die besondere Rolle zu verstehen, die die juristischen Muster bei der Herstellung von Kohärenz spielen. Sie spielen diese Rolle in den kreativen Phasen des Rechtsermittlungsprozesses – sie sind wesentliche Strukturelemente des juristischen Denk- und Argumentationsraumes, d. h., sie stellen juristische Denkfiguren zur Verfügung, mit denen ein Zugang zu den Rechtsfragen gesucht und die Antworten auf sie gefunden werden sollen. Doch wie der »Witz« als »der Quell der Einfälle« der »Strenge der (bestimmenden) Urteils596 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

24 · Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

kraft (iudicium discretivum)« bedarf 181, ist das Muster daraufhin zu überprüfen, ob sich die rechtliche Position, die es vermittelt, auch in einen akzeptierten Norm- und Prämissenrahmen »einfügt« – oder man diesen mit dem gewählten juristischen Muster so »umbauen« kann, dass sich dieses seinerseits wieder in einen solchen Rahmen einfügt. Diese Prüfung muss in zwei Schritten erfolgen: • Zunächst ist zu fragen, ob die ins Auge gefassten Muster für das zu lösende Problem überhaupt einen brauchbaren Schlüssel bieten können (Geeignetheit, d. h. Verträglichkeit gegenüber dem Normen- und Prämissenrahmen; Vergleichbarkeit mit anderen Anwendungsfällen). • Stehen nach dieser Prüfung mehrere Muster zur Auswahl, kommt es dann entscheidend auf die Inhalte und Präferenzen an, die sie rechtlich vermitteln (transferieren), d. h. auf die Zwecke, für die sie einsetzbar sind und die mit ihnen erreicht werden sollen und können. Die Prüfung auf »Stimmigkeit« muss auf dieser Ebene nach den »guten« und den »besseren Gründen« fragen. »Richtig« ist dann das Muster, das sich unter Abwägung aller Umstände (Umfassendheit) als ein »Schluß auf die beste Erklärung« 182 darstellt. Kohärenz kann in Fällen nicht zwingender Schlüsse nur graduell sein. Voraussetzungen und Bedingungen einer kohärenten Entscheidung fordern dann von dem Richter, abstrakt formuliert, eine schlüssige Antwort auf die Frage, ob p allein oder zusammen mit p1, p2 usw. gute Gründe für (das Muster) q liefern oder nicht die besseren Gründe für non-q bzw. für q2 sprechen. Konkret ist auf diese Formel im Schlusskapitel zurückzukommen.

Kant, Anthropologiekolleg, S. 230, in: Sabina Laetitia Kowalewski / Werner Stark (Hg.), Königsberger Kantiana, Kant-Forschungen 12. 2000. VIII, S. 183–454. Vgl. Kap. 23 II. 182 Aus einer allgemeinen kohärenztheoretischen Perspektive in diesem Sinn vor allem Th. Bartelborth 1996, S. 10; näher Kap. 8 VII. 2. 181

597 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Teil F Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

Bereits in der Einleitung war der Gedanke der »richtigen Entscheidung« als »regulative Idee« der juristischen Methodik postuliert worden – als Idee, die der Methode ein Ziel gibt, das zu erreichen man sich zwar nie sicher sein kann –, ohne das sie jedoch nur ein Spiel mit Regeln ohne einen regulierenden Sinn und Zweck bleibt. Fassbar wird ein solches Ziel freilich erst in Bezug auf eine Praxis, in der es sich bewähren kann. Es gilt also, für das Gelingen in der Praxis Kriterien und Maßstäbe zu gewinnen, die sich ihrerseits auf einen hinreichend gesicherten und überzeugenden theoretischen Zusammenhang stützen können. Es kann nicht Inhalt dieser Schlusskapitel sein, rekapitulierend die Ergebnisse der Teile C bis E zusammenzufassen, bestand doch die Aufgabe dieser Erörterungen auf weiten Strecken darin, die Rechtsprechungspraxis zu reflektieren, und nicht darin, den vergeblichen Versuch zu machen, diese Praxis auf ausgefeilte Regeln festzulegen. Was aussteht ist jedoch, die Grundgedanken und Kriterien, die sich aus dem Konzept und Verständnis von »Methode als Herstellung von Kohärenz« ergeben, in einem Schlusskapitel zusammenfassend für Mustererkennung, Sachverhalts- und Rechtserkenntnis fruchtbar zu machen (Kap. 26). Auf die im Teil C bereits abschließend behandelten Probleme der Sachverhaltsermittlung wird dabei allerdings nur noch unter dem übergreifenden Thema Kohärenz von Sachverhalt und Gründen einzugehen sein (II.). Der Schwerpunkt wird in den systematisch noch nicht behandelten Kohärenzfragen liegen, denen sich der Richter bei der Rechtsfeststellung gegenübergestellt sieht. Zunächst ist im Kapitel 25 jedoch der Frage nachzugehen, in Bezug auf welche Praxis denn mit dem Grundgedanken der »richtigen Entscheidung« zu operieren ist. Die Methoden der Praxis, die Methoden, die »man hat«, sind, wie im nächsten Kapitel nochmals zu veranschaulichen ist, vielfältig – und nicht nur eine führt zum »rich599 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

tigen Ergebnis«. Aber die Methodik kann nicht daran vorbeigehen, dass die Methoden, die »man hat«, heute entscheidend durch eine Integration von Datenbanknutzung und Textproduktion bestimmt sind.

600 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Kapitel 25 Methoden der Praxis im Wandel

Versteht man unter Methode nicht nur einen Kanon feststehender Regeln – herkömmlich die Auslegungs- und Subsumtionsregeln –, sondern bestimmt sie von der Praxis her, haben wir es nicht mehr mit der juristischen Methode zu tun, sondern mit deren Pluralität, also den »Methoden der Praxis«. Diese Pluralität ist in einem ersten Abschnitt zu skizzieren (I.). Für eine Typisierung ergibt sich dann zunächst eine kaum übersehbare Vielfalt von Kriterien und sie kann deshalb mit Erkenntnisgewinn nur unter ausgewählten Perspektiven vorgenommen werden. Angesichts der prägenden Kraft, die heute der Informationstechnik und der Datenbanknutzung für den »Richterarbeitsplatz« zukommt, ist dies auch der zentrale Gesichtspunkt, unter dem im Abschnitt II. die Methoden der Praxis konkreter diskutiert werden sollen.

I.

Zur Typik methodischer Regeln

Ein erster Schritt, die methodischen Regeln und den Umgang mit ihnen zu typisieren, wird nach dem hier immer zugrunde gelegten weiten Methodenbegriff von folgender Differenzierung ausgehen müssen: Zu unterscheiden ist einmal zwischen den Grundregeln selbst – nämlich zwischen Such- und Begründungsregeln – und zum anderen zwischen diesen und den Handlungsmustern 1, nach denen sie konkret angewandt werden – den Arbeits- und Anwendungsregeln.

1

Vgl. Kap. 22 I. 2.

601 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

1.

Such- und Begründungsregeln

Zu den Suchregeln gehören insbesondere die Auslegungsregeln und die Regeln, nach denen der Sachverhalt zu ermitteln ist. An die Auslegungsregeln schließen sich die Rechercheregeln an, also die Regeln über die Nutzung von Rechtsprechung, Literatur und weiteren Erkenntnisquellen. Zugleich gibt es sowohl für die Rechts- als auch für Tatsachenermittlung Stoppregeln, Regeln, die bestimmen, dass der Richter nicht weiter ermitteln darf oder jedenfalls nicht weiter zu ermitteln braucht. Stoppregeln bestehen auch für die Begründungsregeln. »Klassische« Begründungsregeln sind die Subsumtionsregeln oder, allgemeiner, die Regeln, die sich daraus ergeben, dass der Richter seiner Entscheidung eine Rechtsregel zugrunde legen und sie aus dieser ableiten muss (Regelbindung – Kap. 16). Diese Begründung muss auch in sich und im Hinblick auf die Gegenargumente der Prozessbeteiligten nachvollziehbar sein; d. h., der Richter muss sich in der Entscheidungsbegründung mit ihnen auseinandersetzen. Hinzu kommt die Gruppe der Regeln, die einzuhalten sind, wenn eine Entscheidung Kohärenzkriterien genügen soll (Kap. 26).

2.

Arbeits- und Anwendungsregeln

Soweit hinter diesen Grundregeln nicht konkrete Rechtsnormen stehen (z. B. Folgerungen aus dem Gebot des rechtlichen Gehörs), sind sie offene Regeln. Die Anwendung methodischer Regeln lässt sich, wie immer wieder betont, selbst nicht lückenlos in Regeln fassen und das heißt, darüber, wie diese gehandhabt werden, lassen sich keine allgemeinen Regeln aufstellen. Nutzt man das Bild einer linearen Skala, dann kann man die möglichen Handhabungsmuster auf ihr auftragen, indem man mit der rein situativ bestimmten Anwendung beginnt und auf der anderen Seite bei höchst stabilen Mustern endet. So sind etwa die Begründungstiefe und Intensität der Tatsachenund Rechtsermittlung jeweils ganz individuell fall- und situationsabhängig. Andererseits gibt es Standards, die durch den »Stil« des Gerichts (»des Hauses«), des Gerichtszweiges und der Instanz bestimmt werden und sich oft in einem entsprechenden Habitus, in einem »Das-macht-man-so« niederschlagen. Sie wollen beachtet werden und bei Nichtbeachtung drohen Akzeptanz- und Reputationsverlust. Der Richter am AG und der Richter am BGH wissen, dass sie 602 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

25 · Methoden der Praxis im Wandel

insoweit unterschiedlichen Arbeits- und Anwendungsregeln unterliegen. Wie sich an der Informationstechnik deutlich zeigt, werden solche Standards – deren Vorgaben naturgemäß an sich schon innerhalb einer großen Bandbreite variieren – auch unmittelbar durch die jeweils gegebenen Arbeitsmittel und Arbeitsbedingungen geprägt. Während ein Amtsrichter früher ohne erheblichen Zeitaufwand oft nicht einmal auf einen aktuellen Standardkommentar zurückgreifen konnte, hat er über Datenbanken heute leichten und schnellen Zugriff auf nahezu den gesamten »Hypertext Recht«, in immer stärkerem Ausmaß auch auf wenigstens die Kommentarliteratur. Entsprechend verändern sich auch die Suchregeln. Um es klar zu sagen: Weil vermeidbar, wird das Übersehen einer noch nicht überholten einschlägigen höchstrichterlichen Entscheidung als Verletzung einer Suchregel zum methodischen Fehler.

II.

Wandel durch moderne Informationstechnologien

Diese Veränderungen der Arbeitsregeln und richterlichen Handlungsmuster gehen aber wesentlich tiefer, als die Beispiele des schnelleren und besseren Zugriffs auf Literatur und Rechtsprechung erkennen lassen, und sind nicht nur quantitativer, sondern auch qualitativer Art. Praxisnah von »Methoden der Praxis« zu sprechen, muss deshalb heute zu dem Versuch führen, verschiedene Grundtypen des methodischen Umganges mit Datenbanken und Informationstechnik zu unterscheiden, zu beschreiben und sie sodann auf ihre Auswirkungen auf methodische Standards hin zu analysieren. Mit vier Typen – nennen wir sie die »Methode Simile«, die »Methode Stachelschwein«, die »Methode Collage« und die »Methode Sherlock Holmes« – soll ein solcher Erklärungs- und Analyseansatz gesucht werden. Ein idealtypisches Prüfprogramm – »Methode Akademicus« – soll im Kontrast dazu die Vorteile der Informationstechnik, aber auch die Gefährdungen bis zur Verdrängung methodischer Standards deutlich machen. Zuvor sind jedoch zusammenfassend die entscheidenden Veränderungen zu skizzieren: Der »Wandel des Rechts durch juristische Datenbanken« 2 ist ein Strauch, Referat auf dem 15. Deutschen Verwaltungsrichtertag, Weimar 2007, DVBl 2007, 1000 (hinter dem Originaltitel stand ein Fragezeichen); veröffentlicht auch in: Dokumentation des Verwaltungsrichtertages 2007, Stuttgart 2008. Ferner

2

603 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

Wandel des richterlichen Arbeitsplatzes und des Arbeitsumfeldes insgesamt durch die modernen Informationstechnologien. Wesentlich sind dabei nicht nur die grundlegenden Veränderungen durch die Datenbankrecherche, 3 sondern mehr noch: die Integration von Datenbanknutzung und Textproduktion (die Erstellung von Tatbestand und Gründen) am juristischen Arbeitsplatz. Dieser Wechsel vom Papier, Diktat und Buch zum Bildschirm ist weit mehr als (nur) ein Wechsel im Medium. Einerseits verbessert der in Datenbanken digitalisierte juristische Datenbestand in einer bisher nicht vorstellbaren Qualität den Zugriff auf die für die Entscheidung notwendigen juristischen Informationen: Man bekommt die Informationen schneller und bequemer; sie sind in der Regel aktueller und man bekommt mehr Informationen – was sowohl für die Zahl der Quellen/Judikate als auch für die Erschließungstiefe gilt. Schließlich lassen sich die Informationen wesentlich schneller, sicherer und vor allem bequemer verarbeiten. Stichworte: markieren, kopieren, einfügen. Diese grundlegende Verbesserung führt aber auch zu einem Sprung von der Quantität in eine andere (keineswegs immer bessere) Qualität. Es kommt zu einer Veränderung der juristischen Techniken der Problem- und Falllösung. Es ändert sich die Art der Rechtsfindung – und damit auch das Recht selbst. Zum einen prägt sich die Hypertextstruktur des Rechts (Kap. 17 II. 2.) immer stärker aus. Die Fülle der Informationen, die relevant sein können, nimmt zu, während sich Regeln zum rationalen Umgang mit solchen Datenmengen erst noch herausbilden müssen (bei der Google-Recherche nennt man das »Mülltrennung«). Ein unmittelbarer Blick vom Fall auf den Regelungsgehalt der Norm wird so leicht verstellt. Zum anderen gehen im Arbeitsprozess des »copy and paste« Herstellung und Darstellung von Entscheidungen – traditionell eher abgeschichtete Vorgänge – immer mehr ineinander über. Die generelle Einführung der elektronischen Akte wird diese Integration richterlicher Arbeit in Architektur und Strukturen der eingesetzten Informationstechnik demnächst noch deutlich verstärken. Noch fehlen empirische Untersuchungen darüber, welche Auswirkungen dieser Wandel genau und im Einzelnen auf das Recht und die Rechtsprechungspraxis hat. Es bleibt, wie gesagt, zur Aufhellung Strauch 2009, S. 387 ff.; die folgende Darstellung folgt in den Grundgedanken diesem Beitrag. 3 Vgl. dazu ausführlicher Strauch 2007, S. 1001 f.

604 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

25 · Methoden der Praxis im Wandel

und Konkretisierung des Phänomens nur der Versuch, die Probleme mit Blick auf die Praxis anhand von Typen des methodischen Umgangs mit Datenbanken zu beschreiben.

III. Informationstechnik und die Methoden der Praxis Herkömmlich haben Richter ihre Fälle wohl schon immer auf zwei sehr unterschiedliche Weisen gelöst: einmal über das Votieren, d. h. die gutachterliche Prüfung der Rechtslage, oder nach der »Methode Simile«, also durch die Übernahme einer Entscheidung zu einem gleich gelagerten Fall. Die Falllösungsstrategien »Methode Stachelschwein« und die »Methode Collage« haben dagegen ihre besondere Bedeutung erst durch die Informationstechnik bekommen. Bei der »Methode Sherlock Holmes« schließlich geht es, vereinfachend gesagt, um schöpferische Rechtsfindung und Judiz, ein altes Problem der Methodik, das aber durch die Informationstechnik neue Akzente bekommt. – Beginnen wir mit der klassischen Methode juristische Praxis, der

1.

»Methode Simile«

Diese Methode bedient sich ganz pragmatisch der Analogie. Es werden konkrete Fälle »früherer, ähnlicher Probleme gesucht und deren Lösung übernommen oder, falls erforderlich, manipuliert«, wie es unter dem Stichwort »fallbasiertes Schließen« im Wörterbuch der Kognitionswissenschaft treffend formuliert ist. 4 Juristisch werden die Lösungen mithin auf der Ebene der Einordnung in konkrete Vergleichsfälle gesucht, d. h. indem man per Volltextrecherche in Datenbanken Fälle mit gleichen oder vergleichbaren Sachverhaltselementen ermittelt. – Weniger allgemein: Der Richter ist eingearbeitet, er kennt sich in seinem Dezernat und in seiner Rechtsmaterie aus. Der Fachjurist hat die Rechtsprechung »im Griff«. Das kann auch durchaus bildlich verstanden werden: Der neue Fall wird mit einem Griff ins Regal zum Ordner mit den schon entschiedenen und vergleichbaren Fällen bearbeitet und gelöst. »Wiedervorlage mit Simile« lauG. Weber, Art. »Schließen, fallbasiertes«, in: Strube u. a., Wörterbuch der Kognitionswissenschaft, Stuttgart 1996, S. 604 f.

4

605 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

tete nach einem alten Amtsrichterwitz die entsprechende Verfügung an die Geschäftsstelle. In diesem Bild ergeben sich dann aber wesentliche Veränderungen, wenn an die Stelle des Akten-Ordners die Nutzung elektronischer Datenbanken tritt. Mit der bei Google eingeübten Suchtechnik ermöglicht sie nämlich auch, in nicht bekannten Rechtsmaterien das Auffinden von Entscheidungen mit möglichst nahe verwandten, vergleichbaren Sachverhalten. – Gibt es dagegen etwas zu erinnern? Im juristischen Alltag nicht. Denn wenn sich die Lösung eines Falles kohärent in die vorhandene Rechtsprechung einpasst, geht das in Ordnung.

2.

»Methode Stachelschwein«

Unter dieser Überschrift berichtete das Rechtshistorische Journal 5 von einer Redensart der Jurastudenten der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts, die da lautete: »Er arbeitet nach der Methode Stachelschwein« und den Juristen meinte, der »mangels geringer abstrahierender Denkkraft und fehlender Beherrschung der juristischen Systematik nicht in der Lage sein wird, die für einen Fall einschlägigen Normen zu finden. So würde er bei einem Streit zwischen zwei Personen über das Eigentum an einem Stachelschwein nicht nach dem Herausgabeanspruch fahnden oder bei einer Zusammenrottung von Stachelschweinen auf den städtischen Straßen nicht über öffentliche Sicherheit nachdenken, sondern in jedem Fall im Index seiner Gesetzessammlung unter dem Stichwort ›Stachelschwein‹ nachsehen. – Vergebens natürlich.« Nun, dank digitaler Technik der Volltextrecherche im Hypertext ist eine solche Methode heute keineswegs mehr grundsätzlich vergeblich. Wenn nicht über das Stichwort »Stachelschwein«, so vielleicht unter dem Suchwort »Igel«. Das Problem ist heute oft nur noch eines der Fülle der ausgewiesenen Informationen. Der Jurist muss unter diesen Bedingungen die Falllösung nicht mehr über dogmatische Strukturen und Kategorien erarbeiten, sondern kann es viel einfacher und schneller, indem er auf der konkreten Sachverhaltsebene die Stichworte sucht, mit denen sich der Konflikt auf der Sachebene beschreiben lässt. Die Datenbank führt ihn dann, so die meist nicht 5

D. Simon; Bd. 20, 2001, S. 525.

606 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

25 · Methoden der Praxis im Wandel

unbegründete Hoffnung, – ohne jede juristische Einordnung 6 – zu einem »Simile«. 7 Effizient im Sinne eines geringeren Arbeitsaufwandes pro Fall ist diese Strategie sicher. Als heuristische Strategie verwandt, um den Fall möglichst schnell und konkret in juristische Problemfelder einordnen zu können, ist sie auch keinen methodischen Einwänden ausgesetzt. Je weniger man in einem Sachgebiet »zu Hause ist«, desto größer ist jedoch die Gefahr, einen falschen Fall zu entscheiden. Eine Kontrolle der juristischen Einschätzungen (im Prüfschema die Ebene 2.1. – Einordnung in Strukturen) ist also ebenso unumgänglich wie ein genauer Vergleich auf der Sachverhaltsebene, ob wirklich alle relevanten Sachverhaltsumstände vergleichbar sind. Unser »eigenthümliches Verähnlichungsvermögen«, von dem Kant sprach, 8 produziert sonst schnell eine Falllösung, die keine ist, weil Sachverhalt und Entscheidungsgründe nicht zusammenpassen oder die Gründe in sich nicht kohärent sind.

3.

»Methode Collage« – »copy and paste«

Wie die »Methode Simile« gehört auch die »Methode Collage« zu den Techniken der Entscheidungsfindung und -begründung, die auch ohne elektronische Datenbanken immer schon praktiziert wurden. Sie durfte sich nur als solche nicht allzu deutlich zu erkennen geben und machte sich das Halbdunkel zu Nutze – den Umstand, dass die Übergänge zwischen beiden oft fließend erscheinen. Ist der Fall »gleich« oder nur »ähnlich«, wo genau liegt die Vergleichbarkeit, wo geht die Analogie in Assoziation über? Das praktische und effiziente Zusammenspiel von Recherche und Textverarbeitung scheint diese Grenzen immer stärker zum VerNicht untypisch ist die Änderung der Suchmaske bei juris. War früher die Recherche über Suchbegriffe – also über juristische Einordnungen – vorgegeben, läuft die Suche jetzt – nach Google-Vorbild – über frei einzugebende Wörter, von denen man hofft, dass sie zu einem möglichst konkreten Link führen. 7 Ein Beispiel aus der Praxis: Eine Mandantin unterschrieb ein (bewusst) mehrdeutig gestaltetes Formular für einen Insertionsauftrag und erhielt prompt eine Rechnung über 980 Euro. Die Eingabe der Stichworte: »Arzt«, »Verzeichnis«, »zugesandt«, »unaufgefordert« führte – ohne Verwendung irgendeiner juristischen Kategorie – zu Fundstellen, die mit der Funktion »copy and paste« einen Schriftsatz mit einem brauchbaren juristischen Argumentationsgang ergaben. 8 Vgl. Kap. 23 II. 6

607 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

schwimmen zu bringen. Die im Hypertextkonzept »angelegten modularen und assoziativen Strukturen« 9 schaffen auf einfachste Art die vielfältigsten Möglichkeiten, die Datenbank in den verschiedenen Stufen des Prüfungsschemas nach Begriffen, Definitionen, Argumenten und Fallbeispielen abzufragen, die »passen« könnten, und sie mit der Funktion »copy and paste« in den Argumentationsgang einzufügen. Auf den wesentlichen Schritt – »Passt es wirklich?«, »Ergeben die gefundenen Informationen wirklich einen linear strukturierten, durchdachten Begründungszusammenhang?« – wird verzichtet. Was auf den ersten Blick assoziativ einleuchtet, wird auf Stringenz nicht mehr weiter geprüft. Problematisch ist das in zwei Richtungen: Zum einen wird auf diese Weise die Relevanz der übernommenen Argumente – insbesondere aus Leitsätzen – nicht hinreichend reflektiert und überprüft. Für Gesetzesanalogie und Rechtsanalogie hat die Methodenlehre wohldefinierte Ähnlichkeitsbedingungen entwickelt. 10 Ein Einstieg in solche Analogieschlüsse beginnt zwar, wie im Teil E gezeigt, oft mit assoziierenden Überlegungen, diese sind dann aber auf die notwendigen Ähnlichkeitsbedingungen hin zu überprüfen. Für den Vergleichsfall, das Präjudiz, fehlen – anders als im anglo-amerikanischen Recht – entsprechend ausgefeilte Kriterien und Anwendungsregeln. Wir übernehmen in unserer Rechts- und Methodentradition Leitsätze oder gar später redaktionell hinzugefügte »Orientierungssätze« weitgehend mit methodischer Skrupellosigkeit. Nach unserer methodischen Schulweisheit scheint das kein Problem zu sein. Es ist aber ein Problem. Das leuchtet unmittelbar ein, wenn der Präzedenzfall die Qualität einer Rechtsquelle hat oder doch als solche behandelt wird. Denn ein nur ungefähr passender Rechtssatz passt eben nicht genau und mit einem nur ungefähr passenden Gesetz würde sich ein Gericht methodisch sicher nicht ohne Weiteres zufriedengeben. Aber gerade auch dann, wenn Feststellungen einer zitierten Entscheidung nur als Argumente verwandt werden, kommt es entscheidend darauf an, wie die Argumentationskette aus den Zitaten aufgebaut wird. Werden sie zu Argumenten in einem eigenständig durchdachten Gedanken- und Ableitungszusammenhang, wird so im gleichen Zuge auch dokumentiert, dass und wie sich die Gründe in 9 10

Strauch 2009, S. 395. Vgl. etwa U. Klug 1966, S. 97 ff.; R. Zippelius 2012, § 11 II.

608 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

25 · Methoden der Praxis im Wandel

einen umfassenderen juristischen Argumentationszusammenhang einfügen. Das heißt meist aber auch, dass der Gedanken- und Ableitungszusammenhang, soll er eigenständig durchdacht sein, auch eigenständig formuliert sein muss. Darin, dieses nicht zu tun, liegt die Gefahr der Integration von Recherche und Textverarbeitung. Werden die Gründe in Collagetechnik aus Versatzstücken, die nach dem Motto »könnte passen« – »copy and paste« assoziiert werden, kompiliert, ist das Ergebnis dann meist ein Musterbeispiel für eine inkohärente Entscheidung. 11

4.

»Methode Sherlock Holmes«

Das Feld der üblichen Routinen mag mit den eben geschilderten Methoden im Wesentlichen typisiert sein. Doch es gibt methodische Situationen, die mit den üblichen Schemata und Techniken einer strukturierenden Problemlösung nicht erfasst werden: Der Jurist wird mit einem Lebenssachverhalt konfrontiert, für den er zunächst keinen oder jedenfalls keinen ihm brauchbar erscheinenden rechtlichen Einstieg findet. Wo also mit der Subsumtion und Recherche beginnen? Wenn über einen solchen Lebenssachverhalt noch nicht entschieden ist, helfen auch die Methoden »Simile« und »Stachelschwein« nicht weiter. Und selbst wenn die Datenbanken Material liefern, greift auch dann das traditionelle Prüfungsschema zunächst nicht recht, wenn der zu lösende Fall nicht in die gefundene Fallreihe passen will – entweder weil die Sachverhalte »irgendwie« nicht vergleichbar sind oder das »Judiz« meint, dass das gefundene Lösungsschema dem Fall »irgendwie« nicht gerecht wird. Worum geht es bei diesem »Irgendwie« methodisch? Worum es bei diesem »Irgendwie« methodisch geht, ist im Teil E ausführlich erörtert worden. Es sollen Hypothesen oder Regeln generiert werden, die gleichzeitig ein Fallverständnis ermöglichen. Wir bewegen uns also in dem Bereich der von Peirce entwickelten Schlussweise der Abduktion. 12 Wenn ich auch in diesem Zusammenhang nochmals auf das Thema Mustererkennung, Musterund Hypothesenbildung zurückkomme, dann, weil sich im Bild Zur Illustration vgl. die in Strauch 2009, S. 399 ff. besprochene Entscheidung des VG Meiningen, ThürVBl. 2000, 258. 12 Siehe dazu auch unten Kap. 26 IV. 2. b. 11

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F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

der literarischen Figur des »Meisterdetektivs« Sherlock Holmes methodische Grundregeln der richterlichen Praxis anschaulich machen lassen, die zu den vorgenannten Methoden geradezu im Kontrast stehen. Es geht um die Situation, in der dem Richter zunächst weder Datenbanken noch unmittelbar anwendbare methodische Regeln weiterhelfen. Es ist auch die Situation, die den Reiz von Kriminalromanen ausmacht, nämlich den Detektiv zu beobachten, wie er seine Arbeit am Anfang mit keiner eindeutigen Spur beginnt und dann doch den Täter findet. Das Besondere der Romanfigur von Doyle ist nun, dass Sherlock Holmes seine Arbeitsweise – »Du kennst meine Methode« – mit seiner literarischen Kontrastfigur, Dr. Watson, nicht nur diskutiert, sondern dies auch auf einem theoretisch sehr reflektierten Hintergrund tut. 13 Im Einzelnen habe ich das an anderer Stelle ausführlich dargestellt. 14 Hier sollen nur die zwei Regeln zitiert und herausgestellt werden, die für die Mustererkennung entscheidend sind. (1.) Die erste Regel betrifft das Gebot der Offenheit: Sherlock Holmes formulierte dazu die folgende, oben in Kapitel 22 III. 5 schon zitierte, methodische Zugriffsregel: »Ich weiß noch keine Einzelheiten. Ein Kardinalfehler besteht darin, Theorien aufzustellen, bevor man noch über weitere Angaben verfügt. Unbedacht beginnt man die Tatsachen zu verdrehen, um sie den Theorien anzupassen, statt die Theorien den Tatsachen.« 15 (2.) Eine zweite Regel folgt aus einer Bemerkung Watsons, in der nicht von Beobachtung und Deduktion die Rede ist, sondern in der zu lesen ist: »seine brillante Verstandesschärfe steigerte sich bis zur Intuition« 16. Das ist, wie im Kapitel 23 dargelegt, auch keine bloße lite-

Vgl. T. Sebeok, Umiker-Sebeok 1982: Der Autor Doyle war Arzt und hat für die Figur des Sherlock Holmes seinen Lehrer, einen als hervorragenden Diagnostiker bekannten Mediziner, zum Vorbild genommen, a. a. O. S. 93, 97 ff. Auf den Zusammenhang: Diagnose – medizinische und juristische Hypothesenbildung kann hier leider nicht eingegangen werden. Über den Zusammenhang mit der Psychoanalyse vgl. R. A. Adler 2007, S. 137 ff.; ferner M. Shepherd, Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud, Rheda-Wiedenbrück 1986. 14 Strauch 2009, S. 401 ff. 15 Doyle 1989/2007, »Skandal in Böhmen«. Noch deutlicher in der Geschichte »Der Junker von Reigate« aus: Doyle 2007: »Nun mache ich es mir aber zum Prinzip, niemals irgendwelche Vorurteile zu haben«. 16 »Die Liga der Rothaarigen«, Doyle 1989/2007. 13

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25 · Methoden der Praxis im Wandel

rarische Leerformel. Ihr Sinn wird klar, wenn man sie auf den folgenden Dialog bezieht: Holmes erklärt dem, wie meist, verwunderten Watson seine Erkenntnis mit der Bemerkung: »Ich besitze Notizen von mehreren ähnlichen Fällen …«, und auf den Einwand Dr. Watsons: »Aber ich hörte dasselbe wie Sie«, kontert er: »Ohne jedoch über das Wissen aus den vorausgegangenen Fällen zu verfügen, das mir so gute Dienste leistet.« 17 Nicht anders als in solchen Rückgriffen auf Erfahrungen und in dem professionellen Umgang mit gespeicherten Fällen und Beispielen vollzieht sich in der juristischen Praxis auch Wesentliches dessen, was man Intuition oder Judiz nennen kann und was die Fähigkeit der reflektierenden Urteilskraft zur Mustererkennung ausmacht. Für den Juristen setzt ein solches Expertenwissen aber einen Umgang mit juristischen Texten, insbesondere Entscheidungen voraus, der konträr zu einer Datenbanknutzung steht, die auf punktuelle, konkret verwertbare Feststellungen und Belege gerichtet ist – eben auf die Verwertung im Verfahren »copy and paste«. Um über »Wissen aus den vorausgegangenen Fällen zu verfügen, das mir so gute Dienste leistet«, müssen solche Entscheidungen im eigenen Wissen als Lösungsmuster gespeichert und verfügbar sein. Das nötigt zur Regel, Entscheidungen nicht punktuell, sondern in der Weise zu lesen, dass sich Wissen in systematischen und dogmatischen Strukturen so in Mustern aufbauen kann, dass es dem »eigenthümlichen Verähnlichungsvermögen« (Kant) auch zur Lösung bislang unbekannter Probleme verhelfen kann. Unter der Voraussetzung einer solchen Wissensstruktur eröffnet sich schließlich eine wichtige und sehr fruchtbare Funktion für die Datenbanknutzung. Denn auch wenn Nachdenken und Intuition zu einem Lösungs- oder Interpretationsmuster geführt haben, bleiben zwei Fragen zu beantworten, bevor diese Muster für die Entscheidung übernommen werden können: »Passen sie?« und »Haben sie sich in ihrem Rechtsbereich bewährt?« Es ist das »Wissen aus den vorausgegangenen Fällen«, mit dem die Antworten darauf zu begründen und zu belegen sind.

17

Fall des »adligen Junggesellen«, Doyle 1989/ 2007.

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F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

IV. Der Referenzmaßstab – das idealtypische Prüfprogramm Ob mit dieser – natürlich nicht ganz ernst gemeinten – Typologie alle typischen Handhabungsmuster der richterlichen »Gebrauchsmethodik« – »Methode hat man, über Methode spricht man nicht!« 18 – erfasst sind, ist nicht weiter von Bedeutung. Darzustellen ist aber – als notwendiger Referenzmaßstab – ein allgemeines, idealtypisches Prüfprogramm, das bewusst an das Ideal der Stringenz der traditionellen akademischen Methodenlehre anknüpft. Diese soll hier nicht im Einzelnen dargestellt werden; das gilt auch für die Regeln und Techniken des Votierens. Es kommt an dieser Stelle nur auf die grundsätzlich andere Struktur an, die die methodische Rechtsermittlung gegenüber den eben beschriebenen Formen der »Gebrauchsmethodik« aufweist. Ausgehend von den Ergebnissen der Überlegungen in den Teilen D und E sind es hier vier Ebenen, die eine strukturierte, nicht nur mehr oder minder assoziativ und analogisch arbeitende Rechtsermittlung durchlaufen muss. Die notwendigen methodischen Schritte lassen sich, mit Zwischenstufen, wie folgt schematisieren 19: 1. Ebene: Suchen und Finden der relevanten Norm(en), Mustererkennung und Bildung einer Normtexthypothese; dann im Übergang zur 2. Ebene: Bildung des Obersatzes bzw. der »Entscheidungsnorm« (vgl. Toulmin-Schema, Regelbindung, Kap. 16 II.). 3. Ebene: Konkretisierung der Rechtsnorm – Auslegung/ Rechtsermittlung 3.1. Einordnung in begriffliche und dogmatische Strukturen Hier geht es um Konkretisierung durch Auslegung und Rechtsermittlung. Stichworte sind u. a.: Gesetzesauslegung (Auslegungsregeln), Hypertext Recht, begriffliche Fassung der Tatbestandsmerkmale oder Paraphrasierung von Wertbegriffen; Einordnung in dogmatische Strukturen und Falltypen. A. Voßkuhle, 2002, S. 175; vgl. Einl. Auf die Differenzierungen und die Differenzen, die die Methodendiskussion hier nicht nur in terminologischen Unterschieden, sondern auch aus divergierenden Theorieansätzen im Einzelnen zu bieten hat, kommt es dabei nicht an. Um dem Schema die Übersichtlichkeit nicht zu nehmen, wurde auch weitgehend darauf verzichtet, auf die Referenzstellen in den jeweiligen Kapiteln zu verweisen.

18 19

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25 · Methoden der Praxis im Wandel

4.

3.2. Einordnung in konkrete Vergleichsfälle Hier geht es um Konkretisierung durch Fallvergleich – etwa bei Wertungsfragen; gesucht wird nach konkreten Sachverhaltselementen, die vergleichbar sind oder Unterschiede deutlich machen. Ebene: Anwendung auf den konkret zu entscheidenden Fall, Subsumtion/Zuordnungen, Schlussfolgerungen. Nicht dargestellt sind in diesem Schema das Wechselspiel zwischen Normhypothesen und Sachverhaltshypothesen sowie die Vorgänge, die ausgelöst werden, wenn sich bei Zwischenergebnissen oder der Schlussfolgerung Zweifel an deren Richtigkeit durchsetzen. Der »Erkenntnisprozess« muss dann jeweils wieder um die entsprechenden Stufen zurückgesetzt werden. Ziel des Schemas ist es jedoch nicht, möglichst alle Rückkoppelungsprozesse darzustellen, sondern für die Analyse der unterschiedlichen IT-Arbeitsmuster einen Referenzmaßstab zur Hand zu haben. Es weist zugleich die Ebenen – nämlich 3.2. und 3.1. – auf, für die die Datenbanknutzung heute fast unverzichtbar sind.

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Kapitel 26 Methode als Herstellung von Kohärenz

Aus soziologischer Perspektive ist Methode eine soziale Praxis – man kann auch sagen, ein robustes Geflecht sozialer Praktiken, das als integraler Bestandteil des Rechtssystems auf dessen Kontinuität und Systemstabilität ausgerichtet ist und nicht auf Veränderungen. Eine Methodenlehre muss diese »Methode, die man hat« nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern darf vor allem die normative Kraft des Faktischen, die von ihr ausgeht, nicht unterschätzen. Trotzdem muss sie auf ihrem Anspruch auf Beachtung methodischer Regeln und Richtigkeitskriterien beharren. Das heißt aber nicht, dass sie damit rechnen kann, dass methodische Konzepte von der Praxis übernommen werden, weil sie etwa eine größere Berechenbarkeit ermöglichen oder theoretisch eindeutig besser begründet sind. Wenn es zu Veränderungen kommt, dann liegt der Grund – wie im vorigen Kapitel gezeigt – in einer Veränderung der tatsächlichen Arbeitsbedingungen, etwa durch die Informationstechnik, oder ein Paradigmenwechsel wird durch die Rechtsprechung selbst herbeigeführt. 20 Interessant werden deshalb die Entwicklungen sein, die sich aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG zu den »Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung« ergeben können. Der Richter »hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen«, 21 wie das BVerfG ausdrücklich feststellt. Jedenfalls in den Fällen, in denen der Richter diese methodischen Regeln eindeutig missachtet, ist das Urteil wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aufzuheben. Was insgesamt zu Tage tritt, ist eine Art strukturelle Immunität der methodischen Praxis 22 gegenüber theoretischen Ansprüchen der Den meisten der in Kap. 21 III. in der Typologie aufgeführten Mustern liegen entsprechende Präjudizien zugrunde. 21 BVerfGE 128, 193, 209 ff. – juris Rn. 53. 22 Auf die wir bereits eingangs (Kap. 2 I.) hingewiesen haben, dort aber noch nicht 20

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26 · Methode als Herstellung von Kohärenz

Methodenlehre. Dieser Befund muss auch davor warnen, sich einen schnellen Fortschritt in der Methodik davon zu versprechen, die »anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung« durch weitere Regeln zu erweitern oder insgesamt durch qualifiziertere und bessere Prüfprogramme zu ersetzen. Ein Beispiel dafür ist etwa der Versuch, den Friedrich Müller ganz konsequent mit seiner »strukturierenden Rechtslehre« unternommen hat. Sie ist von der Praxis kaum rezipiert worden. Dies wird bereits durch einen Vergleich der Zitierhäufigkeit deutlich. Gibt man bei juris »Methode«, »Lehre« und »Larenz« ein, werden für den BGH 87, für das BVerwG 15 und für das BVerfG immerhin noch acht Zitate ausgewiesen 23. Im Vergleich zur Methodenlehre von Larenz, mit der sich die Praxis stets leicht in Übereinstimmung sehen konnte, wird Fr. Müller kaum rezipiert; es ist nur eine Zitation durch das BVerfG zu finden 24. Dieser »Rezeptionsbefund« ist m. E. nicht nur als Feststellung eines Oberflächenphänomens zu verstehen. 25 Er stellt vielmehr zugleich nochmals klar, dass es auch bei der Rezeption einer Methodenlehre um nichts anderes als um Kohärenzprobleme geht. Eine Methodenlehre, die Einfluss auf die Praxis nehmen will, muss sich in deren Struktur »einfügen« können. Wesentliches Ziel dieses Schlusskapitels ist es deshalb, möglichst konkret zu machen, was Methode als Herstellung von Kohärenz praktisch bedeutet, d. h. die kohärenztheoretischen Grundgedanken so zu schematisieren, dass sie für den praktischen Gebrauch verwendbar sind (II.–IV.). Dafür müssen dann aber auch die Grenzen des methodisch nicht mehr Vertretbaren aufgezeigt werden – Grenzen, die sich auch bei einer evolutionären Struktur des Rechts aus der Grenzbedingung ergeben, dass sich ein Umbau des Normen- und Prämissenrahmens dann nicht mehr kohärent in das Recht einfügt, wenn er mit den für dieses Recht basalen Aussagen nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen ist (V.).

weiter ausführen konnten. Zur Rolle des »Habitus« in diesem Zusammenhang Kap. 5 I.1. 23 Stand 2015–08–25; Zahlen sind um die Doppelnennungen »bereinigt«. 24 BVerfGE 128, 326–409 – juris Rn. 93. 25 Zu den theoretischen und praktischen Gründen für die begrenzte Resonanz der »strukturierenden Rechtslehre« siehe U. Volkmann 2013, S. 159 f.

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F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

I.

Das Postulat der »richtigen Entscheidung«

Zuvor ist jedoch, noch genauer als bisher geschehen, der Frage nachzugehen, warum es sinnvoll und notwendig ist, mit der Vorstellung der »richtigen Entscheidung« zu arbeiten; zugleich ist aufzuzeigen, dass die Antworten darauf wiederum unmittelbar durch die jeweiligen Methoden-Konzeptionen bestimmt werden.

1.

Die »richtige Entscheidung« – eine Frage im Kontext der Methodendiskussion

Wenn man die Frage nach der »richtigen Entscheidung« stellt, 26 stößt man schnell auf sehr unterschiedliche Vorstellungen über das, was damit gemeint ist oder gemeint sein kann. Versteht man die Frage nach der »richtigen Entscheidung« als Frage nach der objektiven Richtigkeit, kommt es darauf an, ob man einem außenstehenden Beobachter einen »Probierstein«, einen objektiven Maßstab zur Hand geben kann, mit dem er feststellen kann, ob die Entscheidung richtig oder falsch ist. Anführungszeichen bedarf es dann nicht. Einen ganz anderen Charakter hat die »richtige Entscheidung« dagegen dann, wenn sie nicht für die im konkreten Fall materiell unzweifelhaft richtige Entscheidung steht, sondern »nur«, wie in der Einleitung bereits qualifiziert, als »regulative Idee« gemeint ist. a. Nun wird man sich für die Methodendiskussion heute schnell darauf einigen können, dass wir hinreichende Maßstäbe für die materiell unzweifelhaft richtige Entscheidung nicht haben und, wie es scheint, auch nicht entwickeln können. Aber der entscheidende Bezugspunkt, auf den die Methodik abstellen muss, ist nicht der des außenstehenden Beobachters und seiner inhaltlichen Maßstäbe. 27 Für die Methode ist die Frage der »richtigen Entscheidung« zuvörderst eine Frage der richtigen Anwendung methodischer Regeln. Hier entsprach es den Grundkonzeptionen von Begriffsjurisprudenz und

Näher zur Figur der »richtigen Entscheidung« siehe L. Schulz 2008, S. 298 ff. m. N. Anders etwa bei naturrechtlichen Positionen; Beispiel sind etwa die Positionen von H. Coing und G. Böhmer zur rechtlichen Bedeutung naturrechtlicher Grundsätze; vgl. I. Kauhausen 2007, S. 61 f.

26 27

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26 · Methode als Herstellung von Kohärenz

Positivismus, die »richtige Entscheidung« wesentlich als eine Frage der richtigen Ableitung anzusehen. 28 Die Analysen der Determinanten der Rechtserkenntnis haben demgegenüber aber gezeigt, dass eine zeitgenössische Methodenlehre eine objektiv »richtige« Auslegung und eine objektiv »richtige« Subsumtion und damit grundsätzlich auch eine objektive Richtigkeit des Urteils nicht mehr gewährleisten kann. b. Folgt man demgegenüber kohärenztheoretischen Ansätzen, hängt die Antwort entscheidend von der Vorstellung ab, die man von der Struktur der Rechtsordnung hat. Versteht man die Gesamtrechtsordnung in diesem Zusammenhang als eine vorgegebene, in sich kohärente Struktur, wäre Rechtserkenntnis wiederum als folgerichtige (= richtige) Ableitung konstruierbar. Dass die Rechtsordnung eine solche Struktur nicht hat, ist in Kapitel 19 ausführlich dargelegt worden. Sie kann auch nicht als »kohärente Prinzipienmenge« 29 konstruiert werden, auf die ein allwissender, mit außerordentlichen Fähigkeiten ausgestatteter »Richter Herkules« zurückgreifen könnte, der so – wenigstens als Idealtypus eines Richters – ein sowohl gerechtes als auch unzweifelhaft richtiges Urteil sprechen könnte. 30 Doch: Kohärenz findet der Richter nicht vor. Er muss sie herstellen und kann sie nicht aus einer vorgegebenen Struktur ableiten.

2.

Die »richtige Entscheidung« als »regulative Idee«

a. Versteht man Methode als Herstellung von Kohärenz, kann sich die Frage nach der »richtigen Entscheidung« – so die Konsequenz aus den vorangegangenen Überlegungen – sinnvoll nicht mehr auf die objektive Richtigkeit einer konkreten Entscheidung beziehen. Wiederum Sinn bekommt die Idee der »richtigen Entscheidung« allerdings dann, wenn man sie im Anschluss an Kant als »transzendentale Idee« 31 versteht. Als solche hätte »sie einen vortrefflichen und unentbehrlich

Kap. 18 I. R. Dworkin 1984, S. 204; zur prinzipiellen Unbegrenztheit von Prinzipien demgegenüber Kap. 18 II. 30 Zur Kritik an dieser Position etwa U. Neumann 2008, S. 271 ff.; K. I. Lee 2010, S. 295 ff. 31 Kant KrV B 672. 28 29

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F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten«. 32 Wir dürfen sie in diesem Sinne allerdings nicht als Instrument zur »Bestimmung der Dinge« 33 auffassen, also etwa als Begriff, aus dem wir eine richtige Entscheidung ableiten könnten. Als »regulative Idee« hätte die »richtige Entscheidung« aber im »regulativen Gebrauch« die Aufgabe, Methode so auf diese Idee auszurichten, »als ob« dieses Ziel auch erreichbar wäre. 34 Die Funktion des regulativen Prinzips liegt also darin, einem Ideal, das nur in Gedanken existiert, die Regel seiner stets nur unvollkommenen Verwirklichung an die Hand zu geben. 35 Mit dieser Funktion des »als ob« – also Methode so verstehen, »als ob« die »richtige Entscheidung« möglich wäre – ist dieser Begriff ein wesentliches Moment, um eine Methodenlehre, die nicht dem Motto »anything goes« folgt, überhaupt konstruieren zu können. Als »transzendentale Idee« zum »regulativen Gebrauch« ist sie die Bedingung der Möglichkeit juristischer Erkenntnis 36 – und somit auch ihrer Methode. Denn Methode ist die Art und Weise, wie man etwas tut, um ein Ziel zu erreichen. Das heißt, die Methode muss sich vom Ziel her bestimmen. Natürlich ist ein Ziel unzweifelhaft auch die Erledigung des Falles. Aber das gerichtliche Verfahren ist seiner – auch hier: regulativen – Idee nach nicht nur darauf angelegt, das Verfahren »irgendwie« zu einem Ende zu bringen. Sinn und Zweck des Verfahrens kann anders als über die Idee eines auch »richtigen« Urteils nicht gedacht werden. b. Die skeptischen Einwände gegen diesen Gedankengang liegen allerdings auf der Hand. Jedes richterliche Urteilen ist von einer Unzahl höchst subjektiver Momente beeinflusst, die meist unbewusst und nicht quantifizierbar und nicht genauer analysierbar sind: Vorurteile, Vorverständnisse, Falschverstehen, Aggressionen, Zuneigungen und nicht bewältigte Probleme, die den Blick verstellen. Welchen Sinn macht es da, von der Idee einer »richtigen Entscheidung« auszugehen? Ist es da nicht Flucht in eine idealistische Methodenvorstellung, so die naheliegende Schlussfolgerung, mit einer »regulativen

32 33 34 35 36

Kant KrV B 672. Kant KrV B 606, 608. Kant formuliert dieses »als ob« für die Naturwissenschaften, Kant KrV B 728. K. Lorenz, EPhWTh (1. Aufl.): Art. »regulativ«, Bd. 3, S. 539. J. Lege 1999, S. 525 f.

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26 · Methode als Herstellung von Kohärenz

Idee« zu operieren und die empirischen Befunde überspielen zu wollen? Scheinbar ja. Aber die Einwände, die wir aus der Subjektivität richterlicher Kognition ableiten, sind keine anderen, als die, mit denen wir auch ganz allgemein die Möglichkeit gelingender (= richtiger) menschlicher Kommunikation in Frage stellen müssten. Die Fehlerquellen sind prinzipiell keine anderen – sogar »ungebremster«, weil die professionellen Rationalisierungen fehlen. Und so zeigt sich schon bei einem ersten genaueren Nachdenken über die alltäglichen Phänomene der Kommunikation, dass es sich um eine Schlussfolgerung handelt, die mit der Realität menschlicher Kommunikation und der sie begleitenden Vorstellungen kaum etwas zu tun hat. Mit dem »regulativen Prinzip« bewegen wir uns nicht nur auf der hochtheoretischen Ebene einer »transzendentalen Idee«, sondern zugleich auf einer ganz alltäglichen, pragmatischen Ebene. Wir haben es auch mit einem pragmatischen Prinzip zu tun, ohne das menschliche Kommunikation gar keine realistische Chance hätte, überhaupt zu funktionieren. Neurowissenschaften, Psychologie und Linguistik können mit einer unübersehbaren Zahl wohlerwiesener Gründe aufwarten, warum Kommunikation zu Missverständnissen, Fehlwahrnehmungen und immer wieder zum Scheitern führen kann. Gleichwohl gehen wir beim Lesen eines Textes in der Regel davon aus, dass wir ihn – wie selbstverständlich und nicht nur wahrscheinlich oder gar zufällig – richtig erfassen. Wie wir auch in einem Gespräch von der »regulativen Idee« ausgehen, dass unsere Informationen mit dem richtigen Verständnis aufgenommen werden und wir den anderen auch prinzipiell richtig verstehen können. In der Regel ist »das« Urteil nicht das Ergebnis eines einzelnen – gar blitzartigen – Erkenntnisaktes, in dem das Urteil hergestellt wird, das dann nur noch einer einigermaßen plausiblen Begründung bedarf. Sondern es sind meist einzelne, eher punktuelle Prozesse, in denen Kohärenzen hergestellt werden. Es sind Erkenntnisschritte, die auf die Suche nach Kohärenzen ausgerichtet sind. Man sucht, wie sich die Information oder das Problem in Bekanntes einfügen kann, um es dort einzuordnen. Im »Hin- und Herwandern des Blicks« werden Informationen zu jeweils (vielleicht auch nur vorläufig) konsistenten Interpretationen verknüpft; in Zwischenschritten ergeben sich so: Sachverhaltsfeststellungen, Tatbestandselemente, normative oder dogmatische Anknüpfungen, einstweilige Festlegungen im Hypertext Recht. 619 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

Diese Prozesse laufen, wie modellhaft dargestellt 37, vielfach intuitiv-automatisch ab, indem rivalisierende Informationen und Argumente zu jeweils konsistenten Interpretationen generiert werden. Im Zusammenspiel mit diesen automatischen Prozessen schalten sich aber immer wieder bewusste Denkprozesse ein. Sie greifen ein, wie es A. Glöckner formulierte, »wenn keine, der Wichtigkeit der Situation angemessene, gute Interpretation gefunden werden kann.« 38 Entscheidend sind dann nicht mehr die »automatischen Prozesse der Konsistenzmaximierung«. An dieser Stelle kommen Mechanismen ins Spiel, die auf bewussten Prozessen basieren. 39 Sie betreffen aber nicht nur Zwischenschritte und Zwischenergebnisse der Rechts- und Tatsachenarbeit, sondern wesentlich auch das Urteil, das aus ihnen generiert wird. Es sind die Prozesse, die im nächsten Abschnitt als »Herstellung von Kohärenz« zu beschreiben sind.

II.

Sachverhalt, Rechtsfeststellung, Urteil – Drei Aspekte der Kohärenz

Um es nochmals klarzustellen: Wenn in diesem Kapitel über die »Herstellung von Kohärenz« diskutiert wird, dann steht die stimmige Rechtsfeststellung hier zwar im Fokus der Überlegungen, »Kohärenz« meint aber keineswegs nur den rechtlichen Begründungszusammenhang. Das Kriterium gilt vielmehr für alle drei Ebenen, auf denen sich entscheidet, ob die Urteilsfindung insgesamt – also auch in ihrer Herstellung – methodisch »stimmig« ist. 1. Der Sachverhalt muss zunächst in dem Sinne kohärent sein, dass die festgestellten Tatsachen, die rechtlich zu beurteilen sind, »richtig« sind und einen in sich stimmigen Geschehensablauf ergeben. Der Sachverhalt muss sich mit seinen Feststellungen aber auch in die »Wirklichkeit« stimmig »eingliedern« lassen. Ob das gelingt, ist abhängig von der Frage, wie überzeugend die Vermittlungsprozesse sind, über die dieses »Einfügen« vollzogen wird. Stichworte sind: Alltagstheorie, wissenschaftlich gesichertes Wissen, Interpretationsmuster etc. – Dabei stehen die in Anführungszeichen gesetzten Begriffe »Einfügen« und »Wirklichkeit« hier nur als Chiffren für je37 38 39

Kap. 24 V. A. Glöckner 2008, S. 20 f. Kap. 24 VI.

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26 · Methode als Herstellung von Kohärenz

weils sehr komplexe Abläufe und komplex generierte Resultate. Wie diese Prozesse zu verstehen sind, ist im Teil C ausführlich erörtert worden 40 und die Probleme der Herstellung eines »kohärenten Sachverhalts« brauchen uns in diesem Kapitel deshalb nicht nochmals zu beschäftigen. 2. Auch die rechtliche Beurteilung verlangt sowohl für die einzelnen Zwischenergebnisse, die der juristischen Rekonstruktion des Falles in der Regel zugrunde liegen, als auch für das »End-Urteil« jeweils kohärente rechtliche Feststellungen. Das heißt, eine rechtlichen Feststellung muss so abgeleitet werden, dass sie sich entweder in den für das entscheidungserhebliche Rechtsgebiet als hinreichend akzeptierten Norm- und Prämissenrahmen »einfügt« – oder diesen so »umbaut«, dass sich dieser seinerseits wieder in einen solchen Rahmen einfügt. Was im Sinne dieser These die Begriffe »einfügen« und »umbauen« konkret für die Arbeit am Fall bedeuten, wird in den beiden folgenden Abschnitten zu erörtern sein. Vorab ist nur festzuhalten, dass »einfügen« nicht bedeuten kann: »passend machen«. Um dies an einer durchaus nicht untypischen Beratungssituation zu verdeutlichen: In der Beratung zeigte sich, dass der Fall schriftlich nicht präzise genug »durchvotiert« wurde. Man merkte nach Schluss der mündlichen Verhandlung, dass man einen wichtigen Punkt übersehen hatte. Das Urteil mag dann »rechtlich nicht zu beanstanden« sein, weil man doch noch einen Begründungsdreh gefunden hat, mit dem es sich in einen rechtlichen Rahmen »einfügt«. Es ist deshalb aber keine methodisch kohärent hergestellte Entscheidung. – So wie es methodisch fehlerhafte Sachverhaltsfeststellungen gibt, die gleichwohl »revisionsrechtlich nicht zu beanstanden« sind. 3. Im Urteil muss der Richter »Sachverhalt« und »Recht« zu einer Einheit zusammenfügen, die nicht nur konsistent im Sinne von widerspruchsfrei ist; »Sachverhalt« und »Recht« müssen auch kohärent sein, d. h. sich argumentativ gegenseitig stützen. Veranschaulichen lässt sich das auch hier mit dem Bild, dass Sachverhalt und rechtliche Beurteilung im selben, einheitlichen Denk- und Argumentationsraum generiert werden müssen. Auch wenn wir es insofern mit keiner dritten, selbständigen Ebene zu tun haben, verdient es dieser Aspekt trotzdem, besonders hervorgehoben zu werden. Denn in dieser »Zwischenschicht« zwi40

Kap. 12 III. 2. b; Kap. 14.

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F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

schen Tatsachenfeststellung und rechtlicher Einordnung finden die Prozesse statt, in denen sich die Urteilsfindung nicht im subsumierenden Einfügen des Falles in das Recht erschöpft. Es sind die Prozesse der Rechtsgewinnung, der Anpassung und Fortbildung des Rechts, die ausgelöst werden, wenn sich der Sachverhalt eben nicht mehr kohärent ins Recht einfügt. Ausführlicher haben wir einen solchen Vorgang am Beispiel des Mordmerkmales der »Heimtücke« beschrieben; angesichts der konkreten Tatumstände erschien eine Qualifizierung als Mord unangemessen. Die Rechtsprechung veränderte deshalb im semantischen Dreieck die »Wortgebrauchsregel«, um zu einer »angemessenen« Definition des Tatbestandsmerkmales zu kommen und den Normtext so wieder »subordinationsfähig« zu machen. 41 Im Einzelnen sind diese Mechanismen bereits beschrieben worden. 42 Wenn das Thema jetzt gleichwohl nochmals aufgegriffen werden muss, dann weil das rechtstheoretische Dilemma, das in diesen Mechanismen steckt, zugleich im kohärenztheoretischen Ansatz selbst deutlich zu Tage tritt. Denn in dem Maße, in dem Kohärenz über einen »als hinreichend akzeptierten Norm- und Prämissenrahmen« hergestellt wird, kommt es zu einer Koppelung zwischen dem Recht und gesellschaftlicher Akzeptanz, gesellschaftlichen Wertungen und Realitätsvorstellungen. Zu diskutieren ist (im Abschnitt V.) also nichts Geringeres als die Eigenständigkeit des Rechts; was zugleich das Problem aufwirft, welche Rolle der Methode dann überhaupt noch zukommen kann. Wenden wir uns zunächst aber den für die Alltagspraxis viel entscheidenderen Kriterien zu, auf die eine Methodik abstellen muss, die sich als Herstellung von Kohärenz versteht.

III. Die Kohärenzkriterien Bestimmt wird der Begriff der Kohärenz auch im folgenden Zusammenhang durch die drei bekannten Kriterien: Widerspruchsfreiheit, Umfassendheit und Stimmigkeit. 43 Als Kriterien für eine Kap. 21 III. 1. Vgl. insbes. in Kap. 23 II. und III. 43 Die kohärenztheoretische Diskussion um diese Elemente ist ausführlich dargestellt bei S. Bracker 2000, S. 170 ff. 41 42

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26 · Methode als Herstellung von Kohärenz

»richtige« Sachverhaltsermittlung haben sie sich auch bereits bewährt (Kap. 13). Selbst kohärent wird aber auch die eigene These, Methode sei Herstellung von Kohärenz, erst, wenn sie sich nicht nur als Maßstab für die Richtigkeit einzelner Feststellungen oder von Zwischenergebnissen erweist, sondern auch für die Frage der »richtigen Entscheidung«. Erinnert sei an die in der Einleitung für eine solche Entscheidung vorgeschlagene Formel: »Richtig« ist eine Entscheidung, für die es nach den Umständen, die dem Richter bekannt sind und die von ihm zu ermitteln waren, keine Alternative gab, die im Entscheidungszeitpunkt in sich stimmiger und damit »richtiger« gewesen wäre. Mehr als eine abstrakte Formel konnte einleitend nicht gegeben werden. Im Schlussteil ist sie nun auf die alltägliche Praxis hin zu konkretisieren.

1.

Widerspruchsfreiheit

Der Begriff der Kohärenz schließt den der Konsistenz im Sinne von Widerspruchsfreiheit ein. Sie ist ein selbstverständlicher Maßstab für die »Richtigkeitsbewertung« nicht nur des Sachverhaltes, sondern auch für das Urteil insgesamt. Weder Sachverhalts- noch Rechtsfeststellungen dürfen sich widersprechen. Gewonnen ist damit aber nur ein negatives Kriterium. Ist ein Urteil widersprüchlich, kann es methodisch nicht richtig sein; mit einer Widerspruchsfreiheit ist aber noch keine »Richtigkeit« gegeben. Die Praxis hat im Übrigen ihre einfachen Wege, eine Widerspruchsfreiheit zu erreichen. Tatsachen, Indizien, (abgelegenere) Normen, rechtlich möglicherweise relevante Entscheidungen oder Argumente, die nicht ins Bild passen und zu Widersprüchen führen würden, werden nicht wahrgenommen, übersehen oder schlicht unterdrückt. Es dürften in der Rechtspraxis nicht nur Ausnahmefälle sein, in denen die Relevanz von Gesichtspunkten – die Frage, ob man sie zur Sprache bringt oder nicht – danach beurteilt wird, ob sie sich widerspruchsfrei in eine Begründung einfügen lassen oder nicht. Das Kriterium der Widerspruchsfreiheit ist also als Richtigkeitskriterium nur sinnvoll, wenn es durch das der Umfassendheit ergänzt wird.

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F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

2.

Umfassendheit

Das Kriterium der Umfassendheit oder Vollständigkeit lässt sich zunächst uneingeschränkt wörtlich als all-umfassend begreifen und umschließt so jeden denkbaren Gesichtspunkt und auch jeden denkbaren Gegeneinwand, der im Zusammenhang der Entscheidungsfindung und Begründung nicht ausgeschlossen werden kann. 44 Mit dieser Definition wäre der Begriff freilich praktisch völlig unbrauchbar. Der Richter hat oft schon Schwierigkeiten genug, den Beteiligten klarzumachen, dass es für die Entscheidung nicht auf alle ihnen persönlich wichtigen Gesichtspunkte ankommt – geschweige denn, dass eine theoretische Totalität aller Gesichtspunkte »handlebar« wäre. 45 Mit einem solchen Inhalt führt der Begriff auch theoretisch nicht weiter. Wirklichkeit und Theorien als tools for handling werden aus der jeweiligen geistigen, sozialen und kulturellen Situation perspektivisch konstruiert. »Gesichtspunkte« sind schon nach schlichtem Sprachverständnis immer nur selektiv. Entsprechend begrenzt sind unsere Argumentations- und Denkräume. 46 Das Kriterium der Umfassendheit oder Vollständigkeit des Interpretationsmaterials kann in unserem Zusammenhang mithin nur auf die Untermenge derjenigen Normen und Interpretationsgesichtspunkte bezogen sein, die als die relevanten, »in Betracht zu ziehenden Gesichtspunkte« einzuschätzen sind. 47 a)

Formel und Katalog

Für die Sachverhaltsfeststellungen haben wir uns mit dem Problem, Kriterien für die Unterscheidung relevanter und nicht relevanter Gesichtspunkte zu bestimmen, bereits auseinandergesetzt. 48 Allgemein lässt sich der Grundsatz der Umfassendheit entsprechend der im PlaZu diesem Verständnis von Umfassendheit als umfassende Satzmenge näher bei S. Bracker 2010, S. 167 ff. 45 Zur idealistischen Kohärenztheorie mit ihrem Ansatz eines ganzheitlichen Absolutismus vgl. Kap. 8 V. 46 Das Gebot der Widerspruchsfreiheit ist deshalb auch nur innerhalb dieser Denkräume relevant. Von einem Begründungszusammenhang zu sagen, er sei kohärent, kann nur bedeuten, dass er in sich und in dem Denkraum, in dem er generiert wird, widerspruchsfrei ist. 47 Hier BVerwGE 48, 56–70, – juris Rn. 21. 48 Kap. 14. 44

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nungsrecht üblichen Formel so fassen: Es sind die Gesichtspunkte in die Argumentation einzustellen, die nach Lage des Falles in sie eingestellt werden müssen. 49 Um auf die Frage, welche rechtlichen Gesichtspunkte eingestellt werden müssen und welche nach Lage des Falles nicht, eine Antwort zu geben, bedarf diese Formel allerdings noch einer Konkretisierung. Sie lässt sich auch genauer bestimmen: Da es darum geht, den konkreten Fall in das zunächst vorgegebene systemische Gefüge von Rechtssätzen und rechtlichen Aussagen kohärent »einzugliedern«, ergeben sich aus dieser Zweck-Mittel-Relation auch die Relevanzkriterien. Einzustellen sind all die rechtlichen Gesichtspunkte, die nach dem Diskussionsstand für die zu entscheidenden Rechtsfragen und die Fragen des Sich-Einfügens eine Rolle spielen können. Das werden je nach dem, ob die Frage umstritten oder geklärt ist, andere sein; wird das zunächst vorgegebene systemische Gefüge nicht akzeptiert und ist ein neuer Kohärenzzusammenhang zu schaffen, werden wieder andere, zum Teil ganz andere Gesichtspunkte relevant. Die einzelnen Gesichtspunkte, die diese Prozesse des Einfügens bestimmen können und deshalb gegebenenfalls ins Auge gefasst werden müssen, sind natürlich keine anderen als die, die üblicherweise als methodisches Instrumentarium diskutiert werden. In der einfachsten, gleichsam reduziertesten Form sind es die Auslegungsregeln. Fr. Müller hat demgegenüber in seinem »Entwurf einer juristischen Methodik« den Versuch unternommen, eine umfassende Systematik möglicher Gesichtspunkte, d. h. der einzelnen Elemente der Normkonkretisierung, zu schaffen und diese auch in eine Rangfolge zu bringen. 50 Nicht in einem solchen systematischen Sinn, wohl aber der Funktion nach geht es auch der Topik bei den »Topikkatalogen« um Umfassendheit. Mit der »Techne des Problemdenkens« (Viehweg) ist im Sinne der rhetorischen Tradition genau die Phase des möglichst umfassenden Auffindens aller relevanten Argumente angesprochen, die die »ars inveniendi« 51 ausmacht. Vgl. die Grundsatzentscheidung BVerwGE 34, 301. Fr. Müller/Christensen 2004, S. 163 ff. – Gl.Nr. 3 – 32: Elemente der Normkonkretisierung; GlNr. 33: Rangordnung der Konkretisierungselemente. – Ein eindeutiges Vorrangverhältnis der einzelnen Elemente zu formulieren, um so ein entscheidendes Mehr an methodischer Berechenbarkeit zu erreichen, ist aber auch der strukturierenden Rechtslehre nicht gelungen. Überzeugend dazu U. Volkmann 2013, S. 158 f. 51 Vgl. Th. Viehweg 1974, § 8 I. Es ist vielfach kritisiert worden, dass zwischen der Phase des Auffindens von Argumenten, der »ars inveniendi«, und der Phase des Be49 50

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Als wesentliche Gesichtspunkte, die der Richter bei seiner »Rechtsfindung« nicht übergehen darf, seien hier – in abgestufter Reihung – aufgezählt: • Gesetzes- oder Normtext, • Auslegungsnormen (z. B. Art. 103 Abs. 2 GG), • die Auslegungsregeln, • der Hypertext Recht, • sonstige (normative) Auslegungsvorgaben (z. B. aus dem Gebot der Rechtssicherheit), • die den konkreten Rechtsbereich betreffenden Dogmatiken und die übergreifende Dogmatik, • Präjudizien und Vergleichsfälle, • Lehrmeinungen. Dieser »Gesichtspunktekatalog« kann nicht abschließend sein. Er wäre z. B. um die bereichsspezifischen Abwägungsmodelle zu ergänzen. Wichtig sind vor allem die Sachgesichtspunkte, die in die Argumentation einzustellen sind, wenn es bei der Auslegung und Anwendung einer Norm um die hinter ihr stehenden Wirklichkeitsvorstellungen und Wirklichkeitsmodelle geht. Darauf ist noch näher und grundsätzlicher einzugehen (V.). Hier bereits festzuhalten ist jedoch: Diese Vorstellungen und Modelle zu kennen – und einzuschätzen, wie realistisch sie denn (noch) sind –, ist oft zwingende Voraussetzung, um teleologische Argumentationen, die mit Sachgesichtspunkten arbeiten, rational zu führen. Der Richter muss sie aus seiner Sachkenntnis gewinnen – und gleichgültig, ob er diese hat oder im Verfahren erwirbt: Er wird sie zum Gegenstand des Verfahrens machen müssen. b)

Umfassendheit und Verfahren

Wird eine Entscheidung nicht im Wege der logisch-deduktiven Operation getroffen – und welche Entscheidung kann wirklich allein so getroffen werden? –, bedeutet diese topische Struktur eines offenen »Gesichtspunktekatalogs« auch, dass die Gesichtspunkte »verwertens, der »ars judicandi« (Ciceros Topica, § 6), zu differenzieren ist; vgl. hierzu insbesondere L. Bornscheuer 1976, 115 ff.; ferner J. Lege 1999, 432 ff. m. w. N. – Nach der hier vertretenen Konzeption hat die Phase des Bewertens, der »ars judicandi«, ihren Ort in der Phase, in der die Topoi auf ihre Tragfähigkeit als »Gründe« hin zu überprüfen sind, d. h. in der sie stimmig – kohärent – in die Argumentation eingepasst werden müssen.

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handelt« werden müssen. Hier ist die Methodik unmittelbar mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens, des rechtlichen Gehörs, verklammert. Da es eben keinen numerus clausus der relevanten Gesichtspunkte gibt, muss auch und zumeist vor allem darüber verhandelt werden, was nach Lage des Falles als Gesichtspunkt in die Argumentation einzustellen ist und was nicht. Die »Umfassendheit« beantwortet sich mithin nicht nur materiell (nach Lage der Dinge), sondern auch prozedural: als Erkenntnis durch Verfahren.

3.

Stimmigkeit

Die Formel Neuraths: »Richtig ist eine Aussage dann, wenn man sie eingliedern kann«, stellt auf das »Eingliedern« ab. Abgestellt wird damit zunächst auf das Ergebnis. Die rechtlichen Aussagen des Urteils müssen sich mit allen Gesichtspunkten, die für die Entscheidung relevant sind, in das Rechtssystem eingliedern lassen. Wir beurteilen so (von außen) das Gelungensein der »Eingliederung« – es ist der Blickpunkt der Rechtsmittelinstanz oder der der rechtswissenschaftlichen Urteilsanmerkung. Herstellung von Kohärenz ist aus dieser Sicht eine Frage gelungener Begründung, gehört also gleichsam von Hause aus in den »Zuständigkeitsbereich« der Argumentationstheorie. 52 – Methode meint jedoch zuerst und vornehmlich – eben meta hodos – ein Nachdenken über den Weg. 53 Für die Methodik entscheidend muss also der Vorgang des »Eingliederns« sein, die Frage, wie Stimmigkeit hergestellt wird.

IV. Herstellung von Kohärenz – Regeln und Operationen Dieser Vorgang der Herstellung von Kohärenz im engeren Sinne ist ein Prozess, in dem die Informationen, die ja »umfassend« sein sollen, verarbeitet werden: juristisches Wissen, das aus dem Gedächtnis oder aus Datenbanken und Literatur abgerufen wird, Argumente, die im Verfahren ausgetauscht werden, etc. Wie gezeigt, laufen solche Informationsverarbeitungsprozesse, in denen divergierende wie auch sich In meinem Beitrag, Strauch 2005, S. 513 ff. ist das Kriterium der »Stimmigkeit« auch weitgehend nur in diesem Sinne erörtert worden. 53 G. Schäfer, Zeugnis von Scheitern und Verlust, in: Merkur 2000/08, S. 734. 52

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unterstützende Informationen und Argumente jeweils zu kohärenten (Zwischen-) »Erkenntnissen« zusammengeführt werden, zu großen Teilen intuitiv-automatisch ab. Für sie gilt Lichtenbergs Beschreibung: »es denkt«. Doch diese Prozesse stehen immer auch im Wechselspiel mit Prozessen, in denen Kohärenz bewusst hergestellt wird. Genau beschreiben können wir diese Prozesse, wie gesagt, nicht. Es lassen sich aber typische Situationen skizzieren, um neben den intuitiv-automatischen Phasen auch die Phasen der bewussten Denkoperationen analysierbar zu machen:

1.

Zum Vorgang des »Eingliederns« – Prozesse des Abgleichens

Wird ein Zeuge vernommen, wird sich der Richter zugleich auch ein Bild über die Glaubwürdigkeit des Zeugen machen. Dieses Bild wird weitgehend intuitiv entstehen, wie es auch entscheidend von Reflexionsprozessen bestimmt sein kann: Der Richter prüft sehr bewusst Glaubwürdigkeitskriterien durch oder muss sich mit Argumenten von Beteiligten zur Glaubwürdigkeit auseinandersetzen. Oder: ein erster Lösungsgedanke wird auf ein Präjudiz gestützt, das bei genauerem Lesen diesen Gedanken gerade nicht stützt. Oder: für eine Lösungsidee, die richtig erscheint, werden Argumente gesucht, wie man umgekehrt für ein Problem über eine mehr oder minder systematische Recherche versucht, stimmige Lösungen zu finden. Verallgemeinernd wird man sagen können: Wir haben es mit Prozessen des Scannens und des Abgleichens zu tun. Vorgetragene Positionen oder Gedanken, die sich einstellen, werden mit den Prüf- und Argumentationsgesichtspunkten, die nach Lage des Falles zu beachten sind, abgeglichen. Dieser Abgleich ist auch zentrale methodische Regel. Dabei kann zwar nicht zweifelhaft sein, dass die Intensität und Präzision, mit der ein Richter Informationen und eigene erste Wertungen und Gedanken auf ihre »Stimmigkeit« hin scannt und reflektiert, immer auch eine Frage seiner Erfahrung und seiner professionellen Routinen sowie seiner Fähigkeiten und seiner Persönlichkeit sein wird. Dass ein Ideal – und im Hintergrund ist es die Idee der »richtigen Entscheidung« – real nicht erreichbar ist, macht die Regel jedoch nicht unrichtig.

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26 · Methode als Herstellung von Kohärenz

2.

Kohärenz und ihre logischen Operationen

Es sind vielfältige Denkoperationen und Denkformen, mit denen der Richter – auch bei den Prozessen des Scannens und des Abgleichens – arbeitet. Es ist die deduzierende Subsumtion in Gestalt der bestimmenden Urteilskraft; immer wieder ins Spiel kommt aber auch die reflektierende Urteilskraft, die sich (im Sinne Kants) auf »Witz« und unser »eigenthümliches Verähnlichungsvermögen« stützt. 54 Zur Ableitung der Entscheidungsnorm – der »Zurichtung« des Obersatzes – greift der Richter auf den Hypertext Recht, dogmatische Konstruktionen und Vorstellungsbilder zurück. 55 Zugriff zu Ableitungen und das Auffinden von Prämissen werden vielfach durch Prozesse der Mustererkennung vermittelt. Wie meist auch Muster wirksam sind, wenn man beim »Scannen« stutzig wird und sich fragen muss, ob denn die bisherigen Annahmen richtig sind. Wie die Gesichtspunkte, die »umfassend« zu berücksichtigen sind, wenn ihre Kohärenz ein taugliches Kriterium für »Richtigkeit« sein soll, stehen auch die genannten Operationen und Denkformen nicht per se in einer hierarchischen Ordnung, die vorgegeben wäre oder auch nur den Weg zu einer kohärenten Entscheidung vorzeichnen würde. Vorgegeben ist nur das systemische Gefüge von Rechtssätzen und rechtlichen Aussagen, in das die konkrete Entscheidung »eingegliedert« werden muss. Es ist dieses »Eingliedern-Müssen«, in dem der Richter die Bindung an Recht und Gesetz zu realisieren hat. Und deshalb muss die juristische Methodik hier das Postulat setzen, dass der Weg, auf dem diese »Eingliederung« vorgenommen wird, nicht beliebig sein darf, sondern »methodisch«, d. h. nachvollziehbar sein muss. Nachvollziehbar ist dieser aber nur, wenn der Zusammenhang jenseits assoziativer Koppelungen auch über logisch nachvollziehbare Verknüpfungen hergestellt wird. a)

Die Schlussformen

Ist man den bisherigen Überlegungen zur Herstellung von Kohärenz gefolgt, kann nicht zweifelhaft sein, dass mit logisch nachvollziehbaren Verknüpfungen nicht nur logisch zwingende Schlussfolgerun-

54 55

Kap. 23 II. Kap. 23 III.

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gen gemeint sein können. Wie oben 56 schon näher begründet: Kohärenz = Stimmigkeit ist nicht nur dann gegeben, wenn q aus p folgt. Die Bedingungen der »Stimmigkeit« sind vielmehr deutlich allgemeiner zu bestimmen: »Wenn ›p‹ ›q‹ unterstützt, kann man behaupten, ›p‹ und ›q‹ seien miteinander kohärent«. 57 Neben der Deduktion können also auch andere Formen des rationalen Schließens Kohärenz vermitteln: • die »Induktion«, bei der es sich um den Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine handelt, um die Verallgemeinerung eines Falles zu einer Regel; • die »Abduktion«, also der Schluss von einer angenommenen Regel auf den Fall. 58 Gearbeitet wird mit einer Als-ob-Annahme: Wenn man die angenommene Regel A als gegeben unterstellt, dann wäre das Ereignis erklärbar oder das offene juristische Problem mit dieser Regel lösbar; • die Analogie als Schluss von einem Gegenstand auf andere, ihm ähnliche Gegenstände. Die bedeutende Rolle, die das Denken über Analogien bei der Bildung und Erkennung juristischer Muster spielt, ist im Teil E erörtert worden. Analoges Denken wie dialektische Prozesse aus Deduktion und Induktion 59 wirken auch zusammen, wenn Juristen aus »Referenzgebieten« Normen eines Allgemeinen Teils entwickeln – typisches Beispiel ist die Entwicklung des Allgemeinen Verwaltungsrechts aus dem Fallmaterial und den Grundsätzen des Polizei- und Ordnungsrechts. Als Induktionsschluss kann die so genannte Gesamtanalogie beschrieben werden: Von mehreren ähnlichen Einzelregelungen wird auf ein Prinzip geschlossen. 60 Doch auch hier sind die Abgrenzungsprobleme zur Analogie deutlich. 61 – Über die Abduktion schließlich sollen Hypothesen oder Regeln generiert werden, die gleichzeitig ein Fallverständnis ermöglichen. Sie »sucht angesichts überraschender Kap. 8 I. 2; VII. 2.; Kap. 11 III. 2.; Kap. 18 VI. 2. A. Peczenik 1983, S. 176 und im Zusammenhang dazu S. 170 ff. 58 Beispiel für die Induktion: Diese Bohnen sind aus diesem Sack – diese Bohnen sind weiß – alle Bohnen in diesem Sack sind weiß. – Für die Hypothese: Alle Bohnen aus diesem Sack sind weiß – diese Bohnen sind weiß – diese Bohnen sind aus diesem Sack. Vgl. dazu Lege 1999, S. 32 f., 438; siehe auch S. 87, 128. 59 A. Voßkuhle 2012a, § 1 Rn. 44. 60 Beispiel: die Ableitung eines Rechts zur Kündigung eines Dauerschuldverhältnisses aus wichtigem Grunde vor der Einführung des neuen § 314 BGB. 61 Vgl. dazu ausführlich K. Larenz 1991, S. 381 ff. 56 57

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Fakten nach einer sinnstiftenden Regel, nach einer möglicherweise gültigen Erklärung, welche das Überraschende an den Fakten beseitigt«. 62 Mit der Beschreibung der »Methode Sherlock Holmes« ist im Übrigen schon deutlich gemacht, worin die Bedeutung der Abduktion für die Praxis liegt. Dafür, wie man sich die Abduktion konkret vorzustellen hat, gibt das vom BVerwG entwickelte »Abwägungsmodell« ein anschauliches Beispiel; wir haben es bereits als typisches »Problemlösungsmuster« erörtert 63 und an ihm lässt sich auch demonstrieren, was »gute Gründe« sind. b)

»Gute Gründe«

Induktion, Analogie und Abduktion führen, wie gesagt, nicht zu zwingenden Schlussfolgerungen. Ob die Fälle, Regeln, Interessen – also A, B, C, D, … – gleich sind, ist immer eine Frage, hinsichtlich welcher Vorstellungen, welcher Relationen sie gleich sind. Gegen die Annahme der Verallgemeinerbarkeit gibt es deshalb ebenso wie gegen die der Vergleichbarkeit immer ein argumentum e contrario. Die Abduktion will schon per se nicht mehr besagen, als dass etwas darauf hindeutet, dass etwas sein kann. 64 Die Formel: Wenn »p« »q« unterstützt, sind »p« und »q« miteinander kohärent, bedeutet also »nur«, dass die Aussage »p« ein guter Grund für »q« ist. 65 Mit dieser Bedeutung erfasst sie aber auch die meisten Operationen, auf die es in der juristischen Praxis der Herstellung von Kohärenz ankommt, nämlich die Differenzierung, ob p allein oder zusammen mit p1, p2 usw. gute Gründe für q liefert oder nicht die besseren Gründe für non-q bzw. für q2 sprechen. In diesen Operationen ist Kohärenz also immer auch graduell. 66 Damit stehen wir für die weiteren Überlegungen zwangsläufig vor der Frage: Was sind gute Gründe? Zu sagen, gute Gründe sind die, die zunächst den Richter und dann die Rechtsmittelinstanz überzeugen, greift als Antwort sicher zu kurz; sie wäre aber nicht nur ironisch zu verstehen. Denn die Gründe müssen natürlich auch in der Sache J. Reichertz 2003, S. 43. Kap. 22 III. 3. 64 Mit den Worten von Peirce 1991, S. 400: »Deduktion beweist, dass etwas sein muss; Induktion zeigt, dass etwas tatsächlich wirksam ist; Abduktion deutet lediglich daraufhin, dass etwas sein kann.« – CP. 5.171. 65 A. Peczenik 1983, S. 170. 66 So bereits der LS 3 Kap. 8 VII. 2. 62 63

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überzeugen können, das heißt: auf Akzeptanz stoßen. Da eine Ableitung über jeweils »anerkannte Sätze« als eine notwendige Bedingung von Kohärenz verstanden werden muss, 67 ergeben sich aus diesem Zusammenhang auch wesentliche Ansätze, um näher zu bestimmen, was mit »guten Gründen« gemeint ist (2.). Ein erster Ansatz (1.) folgt aus dem Zusammenhang von Kohärenz und »Umfassendheit«: (1.) Wie zur »Umfassendheit« ausgeführt, ist Kohärenz durch das »Eingliedern« des konkreten Falles in das ihm zunächst vorgegebene systemische Gefüge von Rechtssätzen und rechtlichen Aussagen herzustellen. Dieses Gefüge aus Normtexten und Anwendungspraxis 68 ist zugleich auch ein Gefüge aus Argumenten, methodischen Gesichtspunkten, dogmatischen Kategorien und Begriffen. Es stellt aber nicht nur einen Katalog von Topoi zur Verfügung, die zu diskutieren sind. Durch Dogmatik und den »Hypertext Recht« ist dieses Gefüge immer schon mehr oder minder strukturiert. Die Gründe, die in Erwägung zu ziehen sind, haben deshalb nie alle den gleichen Stellenwert, sondern sind in diesem Gefüge meist schon »bewertet« und haben in dessen Struktur ihren Stellenwert als mehr oder minder gute Gründe. Ob ein bestimmter Grund p allein oder zusammen mit p1, p2 usw. gute Gründe für q liefert oder nicht die besseren Gründe für non-q bzw. für q2 sprechen, ist dem Richter also meist weitgehend vorgegeben. Es ist kein Feld freier Gewichtung und Gestaltung. Das heißt nicht, dass es nicht die besseren Gründe für non-q bzw. für q2 geben kann. Die abweichende Gewichtung darf dann aber nicht im Widerspruch zu den Strukturen des Gefüges geraten, mit anderen Worten dem bisherigen Aussagesystem widersprechen. – Es sei denn, es gibt gute Gründe, den bisher als hinreichend akzeptierten Normen- und Prämissenrahmen nicht mehr als solchen zu akzeptieren. (2.) Da in den »anerkannten Sätzen« eine notwendige Bedingung von Kohärenz liegt, ist es nur folgerichtig, dass es auch für die Frage des guten oder besseren Grundes letztlich auf den Bezug dieses Grundes auf den jeweils zu berücksichtigenden Normen- und Prämissenrahmen ankommt. Nur in Bezug auf diesen Rahmen kann Kohärenz hergestellt werden. Betrachten wir den Prozess jedoch zunächst nicht aus der Perspektive der Herstellung, sondern, wie eher üblich, aus der der Be67 68

Ausführlich dazu Kap. 8 VII. Kap. 18 II. 2.; Kap. 19 I. 2.

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gründung: Der Richter muss in den »Gründen« den Grund angeben können, warum er so und nicht anders, konkret, nicht zugunsten der unterlegenen Partei entschieden hat. Idealerweise ist dies ein Grund, der außer Streit steht und nicht mehr in Zweifel gezogen werden kann, jedenfalls nicht mit vernünftigen Gründen. Der Richter muss jedoch auch dann entscheiden, wenn er auf unstreitige Gründe nicht zurückgreifen kann. In der gerichtlichen Praxis ist es dann eben der als hinreichend akzeptierte Normen- und Prämissenrahmen, von dem man ausgeht und ausgehen muss. Anders käme man, wie gezeigt, am Münchhausen-Trilemma 69 nicht vorbei. Der Weg, den der Richter bei der Herstellung der Entscheidung geht, hat demgegenüber zwar nicht die Folgerichtigkeit einer durchdachten Begründung, setzt aber gleichfalls ein Arbeiten mit genau den Gesichtspunkten voraus, die die Entscheidung be-gründen. Der Prozess des »Eingliederns« eines Falles in das zu berücksichtigende Gefüge aus Normtexten und Anwendungspraxis ist, wie analysiert, ein Prozess des Scannens und Abgleichens, der stets auch immer wieder Schritt für Schritt erfolgt. Und wenn sich in diesen Prozessen die Frage stellt, inwieweit ein Gesichtspunkt ein »guter Grund« ist, kann auch hier nur die Relation dieses Gesichtspunktes zu dem konkreten Normen- und Prämissenrahmen den Maßstab abgeben, nach dem sich »gut«, »besser« oder »irrelevant« beurteilen lässt. Je unverträglicher ein Gesichtspunkt, auf den eine rechtliche Feststellung gestützt wird, etwa mit dogmatischen Grundlehren eines Rechtsgebietes oder einer einschlägigen Entscheidung des BVerfG ist, desto eher wird er zu einer inkohärenten Entscheidung führen – jedenfalls dann, wenn nicht auch hier der Prämissenrahmen zugleich so »umgebaut« wird, dass sich dieser seinerseits wieder in einen hinreichend kohärenten Rahmen einfügt, der auch Aussicht hat, akzeptiert zu werden (dazu näher V.). Anschauungsmaterial für diese doch eher abstrakten Überlegungen bietet das vom BVerwG entwickelte »Abwägungsmodell« zum Planungsrecht. Die Leitentscheidung von 1969 70 macht einmal deutlich, wie durch Abduktion ein Problemlösungsmuster geschaffen wird. § 1 BBauG vom 23. 06. 1960 war für die Rechtsprechung Kap. 18 III. 3. BVerwGE 34, 301; instruktiv dazu: J. Berkemann: Das »Abwägungsmodell« des BVerwG (BVerwGE 34, 301 [1969]) – Entstehungsgeschichte und Legendenbildungen, DVBl 2013, 1280–1292; s. auch. Hoppe 2003, DVBl, 251–269.

69 70

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Neuland und die Fragen tauglicher Maßstäbe für die verwaltungsgerichtliche Kontrolle waren umstritten. 71 Zu erörtern waren die bekannten Prüfprogramme: zum »Ermessen«, zum »Beurteilungsspielraum« und zum unbestimmten Rechtsbegriff. Das Planungsermessen ist offenbar anders strukturiert als das Ermessen bei polizeilichem Einschreiten. Hinsichtlich der Grundregeln der Bauleitplanung verfügt die Gemeinde über keine »ausschließliche oder doch wenigstens hervorragende und deshalb bevorzugungswürdige Sachkunde« 72 – also schied die Annahme eines Beurteilungsspielraumes aus. Die Übereinstimmung eines Bebauungsplans mit dem in BBauG § 1 Abs. 4 S. 2 enthaltenen Abwägungsgebot andererseits in vollem Umfang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zu unterstellen, 73 wäre mit der planerischen Gestaltungsfreiheit unvereinbar. 74 – Es musste also eine neue Regel generiert werden, die gleichzeitig auch ein angemessenes Fallverständnis ermöglichte. Und die Entscheidung findet für die neuen Regeln auch »gute Gründe« 75: Das vom BVerwG geschaffene juristische Konstrukt hat drei Bezugspunkte: 1. den Normenrahmen, § 1 BBauGB, 76 der ja ein Gebot, die »öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen«, schon enthält; 2. das Abwägungsgebot, als »ein dem Wesen rechtsstaatlicher Planung innewohnender Grundsatz, dem deshalb die Bauleitplanung auch dann Rechnung tragen müßte, wenn § 1 BBauG das nicht ausdrücklich bestimmte« 77, und 3. die Analyse und Strukturierung des Planungsprozesses selbst. So wird der Vorgang, den es rechtlich zu beurteilen gilt, derart strukturiert, dass man aus ihm auch ein Prüfprogramm entwickeln kann. 78 Das Grundmodell selbst baut dann weJ. Berkemann aaO. S. 1285 f. BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 28. 73 So VGH Mannheim, Beschluss vom 22. Juli 1966 – I 131/65 –, juris; dazu Berkemann aaO. S. 1285, 1289. 74 BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 20. 75 Was aber nicht heißen soll, dass die Entscheidung zugleich auch ein Schulbeispiel für ein methodisch vorbildliches Urteil wäre; vgl. auch dazu die Analyse von J. Berkemann aaO. S. 1280 ff. 76 Mit dem die Entscheidung allerdings sehr kritisch umgeht – BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 26; auch dazu J. Berkemann aaO. S. 1288 ff. 77 BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 26. 78 Im Grundmodell lautet das Prüfprogramm: »Das Gebot gerechter Abwägung ist verletzt, wenn eine (sachgerechte) Abwägung überhaupt nicht stattfindet. Es ist verletzt, wenn in die Abwägung an Belangen nicht eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muß. Es ist ferner verletzt, wenn die Bedeutung der 71 72

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26 · Methode als Herstellung von Kohärenz

sentlich auf folgenden zwei Prämissen auf: Eine »Planung ohne Gestaltungsfreiheit [wäre] ein Widerspruch in sich« 79 – »dem Wesen einer rechtsstaatlichen Planung entsprechend« 80, muss aber überprüft werden können, »ob im Einzelfall die gesetzlichen Grenzen der Gestaltungsfreiheit überschritten sind oder von der Gestaltungsfreiheit in einer der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht [worden] ist« 81. Beide Prämissen können sich also auf »anerkannte Sätze« stützen, und da das Grundmodell auch offen genug war, um es durch »Nachjustierungen […] flexibel zu halten« 82, bietet es für das Planungsrecht auch heute noch den als hinreichend akzeptierten Prämissenrahmen. Das Beispiel veranschaulicht so paradigmatisch den Zusammenhang von dem Finden einer neuen Regel zu ihrer Dogmatisierung über gute Gründe.

3.

Subsumtion und Abwägung

Die Subsumtion ist die eine Operation, um Kohärenz herzustellen; die andere ist die der »Einpassung durch Abwägung«. Das eben besprochene planungsrechtliche Abwägungsmodell ist hier nur ein markantes Beispiel für die Aufgabe des Rechts, widerstreitende Interessen, konfligierende Zielsetzungen, widerstreitende Belange und Prinzipien »gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen«. Der Prozess ist dann das Verfahren zur Lösung dieser sozialen Konflikte. Die Rechtsprechung hat es mithin in ihrer Grundfunktion mit dem Umgang mit Widersprüchen zu tun.

betroffenen privaten Belange verkannt oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen wird, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht.« – BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 29. 79 BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 26. 80 BVerwG, Urteil vom 30. April 1969 – IV C 6.68 –, juris Rn. 17; zitiert von BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 26. 81 BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 20. 82 J. Berkemann aaO. S. 1291.

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a)

Hierarchisierung und Abwägung

Das eine Verfahren, solche Widersprüche aufzulösen, liegt in der Hierarchisierung der Entscheidungskriterien. Hier hat die Subsumtion ihre zentrale Aufgabe, vollzieht sich doch über sie die Unterordnung des konkreten Konflikts unter die Norm, die ihn abstrakt schon gelöst hat. Der Richter muss den Widerspruch nicht selbst lösen, sondern ordnet den Fall im Wege der Subordination der konkreten Fakten unter die Tatbestandsmerkmale nur in das einschlägige Gefüge rechtlicher Aussagen ein. Auch dieses Gefüge selbst hat eine hierarchische Struktur. Geschaffen wird sie durch die Rechtsquellenlehre und Kollisionsnormen – insbesondere die Grundsätze, dass die neue der alten, die spezielle der allgemeinen Norm vorgeht. 83 Der andere Weg ist der, den Widerspruch gleichsam in die Norm selbst hineinzunehmen und ihn als Abwägungsproblem zu handhaben. Hierfür steht paradigmatisch die Grundrechtsanwendung über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Doch weil im Recht stets konfligierende Interessen und Wertungen im Spiel sind, die situativ oder jedenfalls fallspezifisch entschieden werden müssen, ist die Abwägung nicht anders als die Subsumtion selbstverständlicher Teil der methodischen Praxis. Mit den Worten H.-J. Kochs: »Abwägung ist ein im Recht ubiquitärer Entscheidungsmodus.« 84 Normanwendung ist deshalb meist ein Prozess, in dem sich Subsumtion und Abwägung verzahnen. Typische Beispiele sind etwa die Prüfungsschemata für den Aufbau einer Grundrechtsprüfung: sachlicher und persönlicher Schutzbereich – Eingriff – Rechtfertigung oder für die Ermessensprüfung: tatbestandliche Voraussetzungen und sodann fehlerfreie Ermessensausübung. Aber nicht nur die Subsumtionsprozesse i. e. S., sondern auch die Auslegungsprozesse selbst sind mit Abwägungsprozessen verzahnt. 85 (1.) Das Ermessen ist daran gebunden, dass von ihm in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch geDie unterschiedlichen Lösungen des bekannten Schweinemäster-Falls (OVG Münster, OVGE 11, 250, DVBl 1957, 867) mögen das am Beispiel illustrieren – sehr gut nachvollziehbar etwa in der Abfolge der verschiedenen Auflagen des Lehrbuches zum Polizeirecht von Volkmar Götz, Allgemeines Polizei und Ordnungsrecht, vgl. 7. Aufl., Göttingen 1982, 108 ff., 8. Aufl. 1985, Rn. 218 ff., 10. Aufl. 1991, Rn. 218 ff.; sie kamen mit jeweils geänderten Kollisionsnormen und Wertungen zu anderen Ergebnissen. 84 H.-J. Koch 2003, S. 236. 85 H.-J. Koch aaO. S. 237 ff. 83

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macht wird (§ 114 VwGO). Die Rede ist dabei zwar nur von »dem« Zweck; eingeräumt wird ein Ermessenspielraum jedoch nur, weil eine eindeutige Zielstellung durch eine eindeutige Wenn-dann-Regelung der zu regelnden Situation nicht angemessen wäre. Es geht also, wie immer wenn im Recht ein teleologisches Verstehen gefragt ist, nicht um nur einen Zweck, sondern um einen Plural konfligierender Zwecke, Interessen und Werte, die zum Ausgleich gebracht werden müssen. 86 Nichts anderes gilt auch für die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, soweit ihre Unbestimmtheit darauf angelegt ist, dass sie in einer dem Zweck entsprechenden Weise angewandt werden. Auch hier müssen unterschiedliche Zwecke abgewogen werden. Ein Beispiel aus dem Baurecht mag das verdeutlichen: So gehört etwa eine Jagdhütte zu den Gebäuden, die im Außenbereich privilegiert zulässig sind (§ 35 BauGB). Ob auch die konkrete Jagdhütte als ein solches Gebäude zulässig ist – als Ausnahme von der Regel, dass der Außenbereich von Gebäuden freizuhalten ist –, ist dann aber »nicht nur nach seiner Lage und Größe, sondern auch nach anderen Merkmalen wie Zuschnitt, Raumaufteilung, Raumausstattung zu beurteilen, die Aufschluß darüber geben, ob es allein der ordnungsgemäßen Jagdausübung dient«. 87 (2.) Die Frage nach Hierarchisierung oder Abwägung macht auch den Kern des klassischen Methodenstreites um Kanon und Rangordnung der Auslegungsregeln aus. Versuchen, die Auslegung durch Prioritätsregeln berechenbarer zu machen, stehen die Positionen gegenüber, für die die Auslegungsgrundsätze nichts anderes als ein Katalog sinnvoller Interpretationstopoi darstellen. Das ist ausführlich diskutiert worden, 88 und es hat sich gezeigt, dass es bei genauerem Hinsehen nur sehr wenige normativ-hierarchische Strukturen gibt, die dem Richter vorgeben, wie er auszulegen hat. Neben der speziellen Vorgabe des Art. 103 Abs. 2 GG sind es nur die – alles andere als zahlreichen – Fälle, in denen Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systematik so eindeutig sind, dass sich eine Korrektur durch eine teleologische Interpretation verbietet. 89 Die Auslegung ist deshalb im Übrigen aber kein freies Spiel mit jeweils vernünftig er-

Konkret zum Ermessen Koch aaO. S. 238; zu Ermessen und Regelbindung allgemein Kap. 16 I. 3. 87 BVerwG, BauR 1996, 828–830 – juris LS. 88 Kap. 20. 89 Kap. 20 V. 2. 86

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F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

scheinenden Auslegungsgrundsätzen. Wie der Richter bei seiner Abwägung Fallgruppen, die sich in der Rechtsprechung herausgebildet haben, nicht einfach übergehen darf, darf er im Hinblick auf den Gleichheitssatz auch die vorangegangenen Interpretationen, d. h. den Hypertext Recht nicht außer Acht lassen, ohne dafür die besseren Gründe zu haben. b)

Abwägung und Kohärenz

Die »Abwägung« als rechtliches und methodisches Problem war bereits vielfältig Gegenstand der bisherigen Analysen: als Problem der Regelbindung und des Gleichheitssatzes, als Problem des Umganges mit Prinzipien und Wertesystemen, als Problem der Methodenlehre – dort als Alternative: Regelwerk oder Topoikatalog? Die Aufgabe ist es nun, zu bestimmen, wann und wie wir bei Abwägungsprozessen von Herstellung von Kohärenz sprechen können. Zu fragen ist auch, wie diese Abwägungsprozesse zu strukturieren und welche Kohärenzkriterien so zu gewinnen sind. Ein erster Schritt ist schon damit gemacht, sich der gegenläufigen Positionen zu vergewissern, die den Entscheidungsmodus der Abwägung selbst begründen: Da sind auf der einen Seite die Regelbindung, der Gleichheitssatz und die Rechtssicherheit; auf der anderen Seite bestehen keine ernsthaften Zweifel, dass sich komplexe Interessen- und Wertungskonflikte ohne konkretere Fallbezüge nicht gerecht lösen lassen. Will man den Gesichtspunkt der Einzelfallgerechtigkeit gegenüber Rechtssicherheit und Klarheit nicht prinzipiell als untergeordnet einstufen, wird man also von einer prinzipiellen Gleichheit beider Positionen ausgehen müssen. Sie müssen beide zu ihrem Recht kommen können. Und für unsere methodischen Überlegungen ist damit auch klargestellt, dass es keine übergeordnete, subsumierbare Regel wird geben können, aus der wir jeweils sicher ableiten könnten, wie man zu einer »gelungenen« Abwägung kommt. (1.) Ein lineares Prüfprogramm wird sich für die Abwägung also nicht finden lassen. Es kann nur um die Entwicklung von Abwägungsprogrammen 90 gehen, Programmen, die ein Verfahren vorgeben, nach denen die Ermittlung und Gewichtung der AbwägungsÜblich ist dieser Terminus etwa bei der Prüfung von Akteneinsichtsrechten, z. B. dem Abwägungsprogramm des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO.

90

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gesichtspunkte sowie die Bewertung der Abwägungsergebnisse vorzunehmen sind. Solche Abwägungsprogramme haben idealerweise die Aufgabe, den Abwägungsvorgang so zu strukturieren, dass überprüfbar wird, welche Gesichtspunkte gegebenenfalls mit welchen Vorrangrelationen in die Abwägung eingestellt werden müssen, ob sie auch eingestellt wurden und mit welchen Gewichtungen dies gegebenenfalls geschah. Zu gewinnen sind diese Gesichtspunkte und, falls möglich auch die Vorrangrelationen, im Wege der Auslegung. Da die Abwägung darauf zielt, eine der Situation angemessene Entscheidung zu ermöglichen, kann das Programm und das »nach Lage der Dinge einzustellende« Abwägungsmaterial nicht losgelöst von typischen Fallsituationen und den ihnen innewohnenden Sachproblemen bestimmt werden. Es ist also auch die Sachstruktur in den Blick zu nehmen und zu analysieren. Das für das Planungsrecht entwickelte Abwägungsmodell ist dafür zum klassischen Beispiel geworden. Es ist auch ein typisches Beispiel für die Genese solcher Abwägungsprogramme: Eine Norm statuiert einen Abwägungsauftrag, gibt aber keine, kaum oder nur unzureichend strukturierte Vorgaben für diese Abwägung. Es ist dann Sache der Rechtsprechung, oft über Fallgruppen, für den jeweiligen Abwägungsbereich handhabbare Abwägungsmodelle zu entwickeln, die gegebenenfalls von Fall zu Fall verfeinert oder vom Gesetzgeber übernommen oder auch modifiziert werden. Wie verschieden solche Modelle ausfallen (müssen), zeigt dann schon ein kurzer Blick auf die unterschiedlichsten gesetzlichen Regelungen. Genannt seien die Auslegungsgeschichte des § 242 BGB, der rechtfertigende Notstand, § 34 StGB, die Strafzumessungsregeln, u. a. §§ 46 ff. StGB, das Prüfprogramm für die Rücknahme von Verwaltungsakten, § 48 VwVfG, 91 im Prozessrecht etwa die im einstweiligen Rechtsschutz notwendige Abwägung, die Abwägungsprogramme für Vorlage- und Auskunftspflichten, § 99 VwGO, 92 § 138 TKG, § 47i KWG. (2.) Bestimmt wird die Diskussion um die »Abwägung im Recht« 93 aber nicht durch Auseinandersetzungen um die bereichsspezifischen Abwägungsmodelle, sondern durch das Problem, für die

Als »ein für den Betroffenen berechenbares rechtsstaatliches Abwägungsprogramm«, BVerwG, Urteil vom 30. 06. 2008 – 5 C 32/07 – juris Rn. 13. 92 Anschaulich hier der Vergleich der Fassung vom 22. 03. 2005 mit § 99 VwGO in der Fassung vom 01. 01. 1964. 93 So der Titel eines Symposions für W. Hoppe, hg. von W. Erbguth u. a., Köln 1996. 91

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Konflikte zwischen Grundrechtsträgern, d. h. in den Fällen von Grundrechtskollisionen, Maßstäbe für die »praktische Konkordanz« zu finden. Es geht »um einen Ausgleich, bei dem die Freiheit der einen mit der Freiheit der anderen in Einklang zu bringen ist. Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und […] nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden.« 94 Zu erfolgen hat das nach der st.Rspr. des BVerfG durch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Zu überprüfen ist mithin, ob • ein legitimer Zweck mit legitimen Mitteln verfolgt wird, • die Maßnahme geeignet ist, diesen Zweck zu erreichen, • sie auch erforderlich ist, und schließlich, ob • das »Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn« gewahrt ist. 95 Während die Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit auf die Tatsachenebene bezogen sind, kommt es auf diese letzte Stufe – die Wertungsebene – entscheidend an 96, wenn »keine Lösung ersichtlich ist, die hinsichtlich Eignung und Erforderlichkeit für jedes der kollidierenden Rechtsgüter zu einem positiven Ergebnis kommt«. 97 Notwendig ist es dann, die verfassungsrechtliche Hinnehmbarkeit zu prüfen. Dies hat im Wege einer Abwägung zu geschehen, die die jeweiligen Vor- und Nachteile bei der Verwirklichung der verschiedenen betroffenen Rechtsgüter in ihrer Gesamtheit einbezieht. Dabei ist zu klären, ob (a) Abstriche in der Eignung und Erforderlichkeit hinsichtlich des einen kollidierenden Rechtsguts angesichts der dadurch bewirkten Möglichkeit zum Schutz des anderen Guts in einem angemessenen Verhältnis stehen, insbesondere zumutbar sind, oder ob (b) die Angemessenheit eher erreicht wird, wenn Minderungen der Eignung und Erforderlichkeit hinsichtlich des anderen Rechtsguts in Kauf genommen werden. »Gegebenenfalls sind unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten darauf zu überprüfen, welche aus beiden

BVerfGE 134, 204–239, – juris Rn. 68 m. w. N. So z. B. die Entscheidung zum Gentechnikgesetz – BVerfGE 128, 1–90 – juris Rn. 172–186. 96 Grundlegend zum Zusammenhang von Prinzipientheorie und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz R. Alexy 1986, S. 100 ff. 97 BVerfGE 115, 205–259 – juris Rn. 97. 94 95

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Sichtwinkeln zur größtmöglichen Sicherung des Schutzes der kollidierenden Rechtsgüter führt.« 98 Praktische Konkordanz, so hatte es K. Hesse formuliert, bedeutet, »beiden Gütern müssen Grenzen gezogen werden, damit beide zur optimalen Wirksamkeit gelangen können«. 99 Die Frage ist nur: Erfolgt diese Grenzziehung von Fall zu Fall oder bedarf es für sie auch normativer Fixpunkte? – Hier wird man unterscheiden müssen: Soweit Normen auf der Ebene des einfachen Rechts Abwägungen voraussetzen oder gar Abwägungsprogramme vorgeben, lassen sich aus dem Normenbestand und übergeordneten Prinzipien oft Gewichtungen und somit auch Vorgaben für die Abwägungen ableiten. Wenn es um Grundrechtskollisionen geht, stößt dieses Verfahren dagegen auf prinzipielle Schwierigkeiten. Grundrechte sind gleichrangig und lassen sich deshalb nicht abstrakt in ein Vorrangverhältnis bringen. 100 Unterhalb dieser abstrakten Ebene ist es dann meist die Aufgabe der Rechtsprechung, die durch die Grundrechte vorgegebenen Wertungen »mit dem Blick auf den zur Regelung stehenden jeweiligen Lebensbereich und unter Herausbildung von Fallgruppen« zu konkretisieren. 101 Das wird erleichtert, wenn das Grundrecht selbst Differenzierungen vorgibt, wie Art. 12 GG für die Berufswahl und die Berufsausübung. Die »Stufentheorie« ist so zum Musterbeispiel für die Güterabwägung geworden. Für andere Grundrechte hat sich dagegen die Forderung, »praktische Konkordanz« müsse durch »fallgruppenspezifische Vorrangbedingungen hergestellt werden«, 102 nicht als einlösbar erwiesen. Typisches Beispiel sind hierfür die Kollisionen des Persönlichkeitsrechts mit der Meinungs- und Kunstfreiheit. Die geforderte Abwägung führt dann in der Tat dazu, dass »die Grenze zwischen erlaubter Ausübung der künstlerischen Freiheit und einem verbotenen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht […] regelmäßig nur schwer zu bestimmen ist«, wie es der BGH in dem nachgehenden Zivilrechtsstreit zur Esra-Entscheidung 103 formuliert hat. 104 Oder noch deutlicher: Die Einzelfall-

BVerfGE 115, 205–259 – juris Rn. 97. K. Hesse 1967, S. 29. 100 H.-J. Koch 2003, S. 244, 246. 101 BVerfGE 109, 279–391, – juris Rn. 119 zu Art. 13 Abs. 3 GG. 102 H.-J. Koch 2003, S. 246. 103 BVerfGE 119, 1, 59 ff. 104 BGHZ 183, 227–235. 98 99

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abwägung lässt den Gesetzesvorbehalt im Ergebnis zu einem Richtervorbehalt werden. 105 (3.) Die Probleme im Umgang mit Grundrechtskollisionen zeigen auch, dass es sich bei der Herstellung »praktischer Konkordanz« und der Herstellung von Kohärenz um Vorgänge auf unterschiedlichen Ebenen handelt. Die Aufgabe, »praktische Konkordanz« herzustellen, wird dem Richter durch die Grundrechtsdogmatik gestellt. Da die Grundrechte nicht in einer hierarchischen Relation zueinander stehen, 106 müssen die Grenzen der Autonomiesphären, die sie schaffen, konfliktspezifisch ausgehandelt werden. Methode als Herstellung von Kohärenz hat demgegenüber nicht die Aufgabe, eine »bessere« Grundrechtsdogmatik – eine, die die Abwägung berechenbarer macht – auf den Weg zu bringen. Methode kann hier zunächst nichts anderes bedeuten, als den Grundrechtskonflikt im konkreten Fall so zu lösen, wie es die Grundrechtsdogmatik vorgibt. Wie es allgemein darum geht, den konkreten Fall in das zunächst vorgegebene systemische Gefüge von Rechtssätzen und rechtlichen Aussagen kohärent »einzugliedern«, geht es auch bei der Abwägung um eine solche »Eingliederung«. Aus dem als hinreichend akzeptierten Gefüge der einschlägigen Normen und ihrer Anwendungspraxis hat der Richter das Abwägungsprogramm zu entnehmen oder gegebenenfalls zu entwickeln, um es anschließend »abzuarbeiten«. Die Frage, ob die Lösung des konkreten Falles, d. h. der zu ermittelnde Ausgleich zwischen den konfligierenden Prinzipien und Interessen, dann auch kohärent ist, beantwortet sich so auch folgerichtig (nur) danach, ob die Kriterien und Maßstäbe des Abwägungsprogramms beachtet worden sind. Doch diese Feststellungen und Regeln sollen den Richter nicht auf die vorgefundene Grundrechtsdogmatik oder, allgemeiner, auf den genannten Normen- und Prämissenrahmen festlegen. Sieht der Richter keinen gangbaren Weg, das von ihm für richtig gehaltene Abwägungsergebnis – oder generell seine Falllösung – in das bisherige Aussagesystem einzufügen, muss er allerdings die Hürde nehmen, die der amerikanische Philosoph N. Goodmans so beschrieben hat: »Wir können Versionen nach Wunsch erzeugen« – schreibt er und meint damit das, was wir »Weltbilder« nennen würden –, »aber richtige Versionen (also Welten) zu erzeugen, erfordert wie das Erzeugen 105 106

Kap. 18 II. 1. c; U. Volkmann 2013, S. 230. Zum Grundsätzlichen dieses Problems siehe U. Volkmann 2013, S. 230.

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von Sofas und Soufflés Geschick und Sorgfalt. Denn eine Version wird nicht dadurch richtig, dass wir sie zu einer solchen erklären.« 107 Der Richter darf mit seiner Entscheidung also das bisherige Aussagesystem nicht schlicht auf sich beruhen lassen, wenn er sie in das System nicht einordnen kann. Er kann es auch nicht beliebig ändern. Kohärenz kann er nur dadurch herstellen, dass er das Aussagesystem selbst so »umbaut«, dass sich dieses seinerseits wieder in einen solchen Rahmen einfügt. – Wie frei oder wie gebunden die Rechtsprechung dann letztlich bei solchen »Umbauarbeiten« ist, wird im folgenden Schlussabschnitt zu erörtern sein.

V.

Methodik und ihre Grenzen – Offenheit und Kontingenz

Mit der Frage nach Freiheit und Bindung ist das Problem der Grenzbedingungen angesprochen, die immer mitgedacht werden müssen, wenn Methodenfragen zu reflektieren sind. Thematisiert haben wir diese Bedingungen bisher unter folgenden Stichworten: • Methodenfragen sind erkenntnistheoretische Fragen – nach den Grenzen, die das menschliche Erkenntnisvermögen der richterlichen Sachverhalts- und Rechtserkenntnis setzt; • Methodenfragen sind Fragen der Sprachtheorie – nach dem Grad der Bestimm- und Verstehbarkeit von Normen, die die Sprache leisten oder nicht leisten kann; • Methodenfragen sind Verfassungsfragen – nach den Vorgaben, die sich aus den Normen des GG für den Inhalt und die Handhabung methodischer Regeln ergeben. Bisher nicht genauer analysiert sind demgegenüber die Grenzbedingungen, die zum einen dem Verständnis von Methode als Herstellung von Kohärenz selbst immanent sind und die sich zum anderen aus dem inneren theoretischen Zusammenhang von Methode und Recht ergeben. Dazu vorab drei Thesen, die anschließend zu begründen sind: 1. Konstitutiv für die Grundkonzeption einer jeden Methodenlehre ist das jeweilige Grundverständnis von Recht, das ihr zugrunde gelegt wird. Hier ist es ein evolutionäres Verständnis von »Recht«. N. Goodman, C. Elgin 1989, S. 74; näher zu Goodman siehe M. Plümacher, in: Enzyklopädie Philosophie, Hg. Sandkühler, 1999, Stichwort: Symbol/Symbolische Form, S. 1574.

107

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2.

Diesem Verständnis entspricht der kohärenztheoretische Ansatz. Die entscheidende Grenzbedingung, die mit diesem Ansatz dem methodischen Vorgehen gesetzt ist, ist die Notwendigkeit einer Anbindung an »anerkannte Sätze«. 3. Die Grenze des methodisch Vertretbaren ist deshalb dann erreicht, wenn der neu zu schaffende Normen- und Prämissenrahmen so »umgebaut« wird, dass er sich mit den für das Recht bisher basalen Aussagen nicht mehr in Übereinstimmung bringen lässt. Die Notwendigkeit einer Anbindung an »anerkannte Sätze« ist dabei nicht nur eine Notwendigkeit des kohärenztheoretischen Ansatzes, sondern auch eine notwendige Bedingung für die regulative Idee einer »richtigen Entscheidung«. Sinnvoll ist diese nur unter der Voraussetzung, dass es zwischen dem methodisch Vertretbaren und dem methodisch nicht mehr Vertretbaren bestimmbare Grenzüberschreitungen gibt.

1.

Die evolutionäre Struktur des Rechts

Wenn Methode mehr sein will als eine Umschreibung für ein »Machwas-Du-für-richtig-hältst«, muss sie auch Kriterien für das methodisch nicht mehr Vertretbare angeben können. Konkret bestimmen lassen sich solche Kriterien aber nicht als Grenzen, die jeder Methode »an sich« eigen sind. Insbesondere am Beispiel der Auslegungsregeln hat sich erwiesen, dass man eine Methodenlehre theoriefrei weder formulieren noch reflektieren kann. Das gilt nicht nur für die jeweils unterschiedlichen sprachphilosophischen und erkenntnistheoretischen Hintergründe, mit denen sie verstanden und angewandt werden. Das gilt vor allem auch für die rechtstheoretischen Grundvorstellungen über den Erkenntnisgegenstand selbst – über das, was »Recht« ist. Erst wenn diese Frage beantwortet ist, lassen sich auch die weiteren Fragen beantworten: Auf was kommt es bei seiner Anwendung im Kern an? Auf das, was der Gesetzgeber gewollt hat? Auf die den Normtexten vorausliegenden Werte? Oder auf das hinter den konkreten Regelungen stehende »innere und bleibende Wesen der Rechtsbegriffe« (Savigny 108)?

108

Savigny 1840–49, Bd. 5, S. 184.

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Die Grundsatzdiskussionen hierzu sind bereits geführt. 109 Weder über begriffsjuristische noch über naturrechtliche und auch nicht über die Rechtsvorstellungen der so genannten subjektiven Auslegungstheorie lässt sich heute ein Rechtsbegriff entwickeln, der als Basis einer zeitgenössischen juristischen Methodenlehre geeignet wäre – und so auch dazu dienen könnte, Kriterien für das methodisch nicht mehr Vertretbare zu bestimmen. Auszugehen ist vielmehr von einem dynamischen Rechtsbegriff, einer evolutionären Struktur des Rechts. Bestimmend für diese Struktur ist wesentlich das »Wechselspiel von Rechtsprechung und Rechtsetzung« 110, in dem Recht verändert und angepasst wird. 111 Das, was als Recht gilt, ist das momentane Ergebnis eines Prozesses, das man zwar »dem« Rechtssystem zuordnen kann, von dem man aber kaum mehr genau sagen kann, wem damit eigentlich etwas zugeordnet wird. Es ist oft eine Vielzahl von Akteuren auf nationaler, supranationaler, auch internationaler Ebene, die auf »das« Recht Einfluss nehmen – sei es aufgrund ihrer Rechtsetzungs- oder Rechtsprechungskompetenz, sei es (in der Terminologie Luhmanns) in Prozessen »struktureller Koppelung« mit anderen Systemen, wie der Wirtschaft, der Wissenschaft (z. B. Dogmatik) und der Technik (Stichwort etwa die juristischen Datenbanken) und, nicht zu vergessen, den Systemen medialer Erzeugung von Sinn und Akzeptanz. Recht kann deshalb heute kaum mehr auf eine zentrale Steuerungsinstanz (und deren Gestaltungswillen), geschweige denn auf eine vorausliegende Ordnungs- oder Gerechtigkeitsvorstellung zurückgeführt werden. In dieser Vielfalt von Differenzierungs- und Rückkoppelungsprozessen sind eine zielgerichtete Entwicklung oder gar ein steuerndes Subjekt nicht mehr auszumachen. 112 Festzustellen sind allenfalls Co-Evolutionen mit parallelen gesellschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen. Ohne hier die Diskussion aufnehmen zu können, inwieweit sich die »Evolution des Rechts« deshalb auch theoretisch in die biologische Evolutionstheorie einVgl. Kap. 15 I.; Kap. 18 I.; Kap. 20 III. BVerfGE 132, 99–133 – juris Rn. 74 111 Kap. 20 V. LS 6. 112 Der Gedanke einer evolutionären Entwicklung des Rechts (evolutionär i. S. Darwins) ist deshalb auch nicht zufällig aus einer systemtheoretischen Perspektive heraus entwickelt worden – siehe M. T. Fögen 2002; M. Amstutz 2002 sowie die Beiträge in dem von Rüdiger Voigt hg. Band »Evolution des Rechts«. Baden-Baden 1998. Zu den evolutionären Elementen in Luhmanns Theorie vgl. hier R. Stichweh 2000, S. 222. 109 110

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fügen lässt, 113 haben wir es auch im Recht mit charakteristischen Eigenschaften eines evolutionären Prozesses zu tun: Er ist nicht beliebig, aber auch nicht determiniert. Man kann ihn nicht im Voraus bestimmen; Rechtsänderungen beruhen nicht auf zwingenden Ableitungen, sind aber im Nachhinein nachvollziehbar. Wir haben also das gemeinsame Moment der Zufälligkeit: die Zufälligkeit der Mutationen und die Kontingenz von Entscheidungen, die sich in das bisherige Gefüge rechtlicher Aussagen nicht mehr einfügen, sondern – durchdacht oder ins Blaue hinein – neue Prämissen setzen. Ob sich eine solche Entscheidung – worauf sie auch immer beruhen mag – durchsetzt, ist dann ein Vorgang, der durchaus mit der Selektion vergleichbar ist. Sie wird sich in dem Maße durchsetzen, in dem die neue Einschätzung, die geänderte Prämisse oder gar ein neuer Prämissenrahmen von anderen Akteuren im Rechtssystem als »Recht« akzeptiert wird. Und wie sich eine Mutation in den Bauplan des Organismus einfügen muss, gibt es auch für den neuen Prämissenrahmen eine Vorbedingung: Er muss sich in die relevanten »anerkannten Sätze« des Rechtsgebietes eingliedern lassen, sich mindestens mit ihnen als »verträglich« erweisen. Wird Methode als Herstellung von Kohärenz verstanden, ist damit also ein evolutionärer Prozess immer mitgedacht: Die zu treffende Entscheidung muss sich in das bestehende Recht einfügen, aber sofern sie vorangegangene Entscheidungen nicht exakt übernimmt (= kopiert), verändert sie – mehr oder minder – zugleich den bisherigen Prämissenrahmen (= das Recht), den sie den folgenden Entscheidungen vorgibt. – Natürlich ist das auch eine Frage der Autorität der »Rechtsquelle«, also der Kohärenz, die durch die Organisationsstruktur des Rechtsprechungssystems hergestellt wird. Doch auch nicht alle Rechtsfeststellungen Oberster Bundesgerichte oder selbst des BVerfG erweisen sich als überlebensfähig.

2.

Rechtsfindung und ihre gesellschaftlichen Realitätskoordinaten

Herstellung von Kohärenz bedeutet damit in der letzten – und für das Methodenverständnis auch problematischsten – Stufe die Notwendigkeit, gesellschaftliche Akzeptanz herzustellen. Die grundsätzliVgl. K. Röhl: http://www.rsozblog.de/evolution-des-rechts-mehr-als-eine-metapher-oder-nicht-einmal-das/ – Mai 2015.

113

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chen Probleme, mit denen sich die Methodik auf der Stufe dieses Verhältnisses von Kohärenz und gesellschaftlicher Akzeptanz auseinandersetzen muss, sind bereits erörtert (Kap. 8 VIII.). Noch offen ist aber, über welche Mechanismen Akzeptanz im Prozess der Urteilsfindung konkret hergestellt wird. Zunächst ist davon auszugehen, dass Recht im Regelfall als akzeptiertes Recht gehandhabt wird. Die Rechtsprechung könnte ihre Aufgaben nicht erfüllen, wenn sie das Gefüge rechtlicher Aussagen, in das sie ihre Fälle jeweils einzuordnen hat, nicht in aller Regel als Basis für eine angemessene, juristisch richtige Konfliktlösung hinnehmen würde. Der Rahmen für die juristische Ableitung und Begründung des Urteils ist durch den Hypertext Recht, Dogmatik und Präjudizien hinreichend abgesteckt; Kohärenz wird immanent hergestellt. – Das ändert sich, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen oder Einschätzungen, die den bisherigen Prämissenrahmen geprägt oder getragen haben, durch veränderte Umstände weggefallen oder doch brüchig geworden sind, sie jedenfalls nicht mehr akzeptiert werden; damit wird auch das rechtliche Gefüge in Frage gestellt. Mit solchen Situationen sind in dem Prozess der evolutionären Rechtsentwicklung die entscheidenden Bedingungen für einen partiellen oder auch grundlegenden »Umbau« des bisherigen Prämissenrahmens gegeben. Wie und ob das Recht dann auf diese veränderten Umstände reagiert, ist zunächst auch von den Rechtstechniken abhängig, mit denen es bisher soziale Konflikte gelöst hat: hierarchisch oder durch »Abwägungsaufträge«. Über Generalklauseln, Ermessen oder unbestimmte Rechtsbegriffe lassen sich konfligierende Zielstellungen und Interessen leichter an veränderte Verhältnisse anpassen als bei eindeutigen Normvorgaben. Verändert werden die Wertungen, gegebenenfalls auch die fallgruppenspezifischen Differenzierungen, mit denen bislang die Ermessens- und Abwägungsspielräume strukturiert wurden. Besonders gut zu beobachten sind solche Werteverschiebungen etwa im Bereich der Grundrechte: Bei gleicher Textgestalt ist unterhalb der Textebene »kaum etwas so geblieben, wie es ursprünglich einmal gedacht sein mag«. 114 – Gibt die Norm dagegen die »richtige« Lösung des Konfliktes durch eine klare Wenn-dannRegelung selbst vor, kommt es zu den bekannten Problemen, die unter den Stichworten Rechtsfortbildung praeter oder contra legem diskutiert werden. 114

U. Volkmann 2013, S. 220; dort und S. 229 f. auch zahlreiche Beispiele m. w. N.

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Es zeigen sich an dieser Stelle alle drei Aspekte, unter denen das Problem evolutionärer Rechtsentwicklung zu sehen ist. Einmal die verfassungsrechtliche Zulässigkeit solcher Rechtsfortbildungen; diese ist bereits erörtert worden. Zum anderen die Bedingungen für die Realisierungschancen solcher Rechtsfortbildungen; doch diese sind eher Gegenstand rechtssoziologischer als methodischer Überlegungen. Der dritte und hier allein interessierende Aspekt liegt dann in dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem zu regelnden sozialen Konflikt, den Normen, die ihn lösen sollen, und den Vorstellungen über Ursachen, Sachstruktur und Wertmaßstäbe, die seiner Bewertung zugrunde zu legen sind. Dieser Zusammenhang fordert entsprechend der dritten Grundthese zur Kohärenz 115 die Herstellung von Kohärenz auch für die »Zwischenschicht« zwischen Tatsachenfeststellung und rechtlicher Einordnung. Kann auf dieser Zwischenebene immanent keine Stimmigkeit mehr hergestellt werden, ist die dann gegebene Inkohärenz auf der generellen Ebene von Norm und Wirklichkeit zu diskutieren. Oft wird sich das Recht, so wie es ist, durchsetzen. Ob und mit welchem Ergebnis eine bestimmte rechtliche Auffassung problematisiert und dann gegebenenfalls geändert wird, ist sicher auch eine Frage des Zeitgeistes, der hier den Selektionsprozess steuert – im Übrigen aber wohl im Einzelnen so wenig berechenbar wie es Evolutionsprozesse per se sind. Wird sie problematisiert, ist der Weg dazu durch den genannten Zusammenhang vorgegeben. Wie bereits zum Thema »Wechsel und Veränderung von Mustern« (Kap. 22 IV.) ausgeführt: Die Norm ist in ihrer Funktion, soziale Konflikte zu regeln und zu lösen, auf die »Lebenswelt«, nicht auf den Rechtsfall bezogen. Hinter jeder Norm steht ein vom Gesetzgeber gewollter bzw. vom Interpreten vorgestellter Wirkungszusammenhang, der als wertbezogenes Funktions-Modell zu begreifen ist, wie ebendiese Norm die Wirklichkeit regulierend entweder ändern oder stabilisieren soll. Man kann hier von Realitätskoordinaten des juristischen Argumentations- und Denkraumes sprechen. Sie werden oft nicht sichtbar, in anderen Fällen müssen sie explizit gemacht werden, etwa wenn es um die Verhältnismäßigkeit 116 geht oder um gesetzliche Instrumente der Wirtschaftslenkung, die ohne das zugrunde liegende volkswirtschaftliche

115 116

Kap 8 II. 3. Vgl. hier die Materialsammlung von K. Philippi 1971, 28 ff., 56 ff.

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Modell nicht interpretierbar sind. 117 Es gilt jedoch allgemein: Die »Normarbeit« gewinnt an dieser Schnittstelle ihre Verankerung in den gesellschaftlichen Realitätsbezügen. Paradigmenwechsel und neue Leitentscheidungen haben so zumeist ihren Grund auch darin, dass bisherige Wirklichkeitsvorstellungen und Wirklichkeitsmodelle nicht mehr akzeptiert und durch zeitgemäßere ersetzt werden. Diese gesellschaftlichen Realitätsbezüge dürfen umgekehrt aber nicht als »Rechtsquelle« missverstanden werden. Auch wenn ihr Veränderungsdruck groß sein kann, muss er auch vom Recht her akzeptiert werden können. Von einer juristischen Methode sollte man nur sprechen, soweit sie auf ein Recht mit einer autonomen Systemstruktur bezogen wird. Entfällt diese, bleiben nur noch Dienstanweisungen für Vollzugsbeamte.

3.

Die Grenze des methodisch nicht mehr Vertretbaren

Paradigmatisches Beispiel für den grundlegenden Umbau eines Prämissensystems ist auch hier das Lüth-Urteil, weil sowohl die Begründung und die prägende Bedeutung als auch die grundsätzliche Kritik an dieser Entscheidung charakteristisch sind. Auf der Ebene der Wertung von Sachzusammenhängen wird Kohärenz dadurch hergestellt, dass das BVerfG sowohl die »grundlegende Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit« demokratietheoretisch begründet als auch die Umformung der Grundrechtsdogmatik von einem formalen Schrankensystem zu einem Abwägungssystem demokratietheoretisch absichert. »Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung«, so der entscheidende Satz zum Grundrecht, »ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist (BVerfGE 5, 85 ff., 205).« 118 Die Basis dieser Argumentation liegt in der Grunderfahrung der Machtergreifung durch das NS-Regime und der Erkenntnis, dass Rechtsstaat und Demokratie strukturell unlösbar miteinander verbunden sind. Die Positionen in dem dogmatisch-methodischen Streit um die Grundrechtsinterpretation hingen insoweit nicht zuletzt entscheidend davon ab, ob man diese Erfahrung teilte Vgl. zu dem Auslegungsstreit um das Tatbestandsmerkmal »volkswirtschaftlich besonders förderungswürdig« in § 1 Abs. 4 InvZulG 1969 Kap. 17 IV. 2. b. 118 BVerfGE 7, 198 ff., 208. 117

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F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

oder im Sinne des 19. Jahrhunderts an der Vorstellung einer Trennbarkeit, wenn nicht gar eines prinzipiellen Widerspruches von Demokratie und Rechtsstaat festhielt. 119 Um nochmals die Kritik Böckenfördes aufzugreifen: 120 »Dem Einströmen zeitgebundener und gegebenenfalls rasch wechselnder Wertauffassungen und Werturteile in die Grundrechtsinterpretation ist damit – bewusst – die Tür geöffnet«. 121 Der Einwand scheint auf der Hand zu liegen; berechtigt ist er nicht. 122 Er verkennt, dass Recht und mit ihm die Grundrechte stets und nicht nur als Ergebnis der Rechtsprechung des BVerfG »dem Zugriff des jeweils vorherrschenden […] gesellschaftlichen Wertebewusstseins ausgesetzt« sind. 123 Zu konstatieren ist allerdings, dass Methode zwar ein Instrument ist, um einem Wertewandel Rechnung zu tragen, zugleich aber selbst einem solchen Wandel unterliegt. Der Wandel, den das BVerfG mit dem Lüth-Urteil von der »liberalen (bürgerlich-rechtsstaatlichen) Grundrechtstheorie« (Böckenförde 124) zur Werttheorie vollzogen hat, war entscheidend auch ein Wechsel in der Methode. Wenn die Methode aber selbst nur Teil des Prozesses evolutionärer Rechtsentwicklung ist, dem sie die Regeln vorgeben soll, hebt sie sich dann nicht auf, wenn sie selbst in diesen Prozess »eingeordnet« ist? Doch die Differenz, die zwischen unserem Methodenbegriff und dem besteht, was als »Wandel«, gesellschaftliche Wertungen, Zeitgeist und Realitätsbezüge unmittelbar Einfluss auf unser Methodenverständnis hat, ist damit nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Wie oben schon gesagt, ist diese Differenz solange gegeben, als die juristische Methode auf ein Recht mit einer autonomen Systemstruktur bezogen werden kann. Ist die Rede von »Einfluss« oder »Wertewandel«, setzt das immer eine Identität, d. h. Eigenständigkeit dessen voraus, was sich ändert. Anders als bei einer »Umwertung aller Werte«, die mit der Machtergreifung durch das NS-Regime umgesetzt wurde. Und Juristen wie C. Schmitt, K. Larenz, E. Forsthoff und Th. Maunz Repräsentativ Ernst Forsthoff mit seiner These, »daß sich die verfassungspolitische Funktion des Art. 5 gerade dann – und nur dann – erfüllt, wenn man den Artikel so auslegt, wie man ihn von jeher verstanden hat«, in: VVDStRL 22 (1965) 189 f. (Diskussionsbeitrag). Vgl. auch Ders. 1964, S. 147 ff. 120 Kap. 8 VII. 3. b. 121 E.-W. Böckenförde 1976b, S. 221, 233. 122 Vgl. auch hier die ausführliche Kritik von H. Dreier 1993, S. 54 ff. 123 Böckenförde aaO. S. 234. 124 AaO. S. 224. 119

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war der damit verbundene Bruch mit dem zuvor geltenden Rechtsund Methodenbegriff nicht nur bewusst; er war auch gewollt. 125 Entsprechend konsequent haben sie Methodenfragen auch als Verfassungsfragen beantwortet; berühmt-berüchtigt wurde der Aufsatztitel, mit dem C. Schmitt die von Hitler im Juni 1934 gegebenen Mordbefehle legitimierte: »Der Führer schützt das Recht«. 126 Was das historische Beispiel nochmals veranschaulichen sollte: Methodenfragen sind Verfassungsfragen. Wie sich eine Methodenlehre nicht theoriefrei konstituieren lässt, kann sie auch nicht unabhängig von dem Rechts- und Verfassungssystem formuliert werden, dessen fallbezogene Konkretisierung sie gewährleisten soll. Es gibt, anders gesagt, einen basalen Zusammenhang von Recht und Methode, der nicht hintergehbar ist, ohne beide von Grund auf zu verändern. Das Grundgesetz hat sein »Grundsätze« und Grundnormen, die den »Identitätskern der Verfassung« 127 bestimmen, in Art. 79 Abs. 3 ausdrücklich markiert. 128 Dieser »Kernbestand des Grundgesetzes« bildet eine »absolute Grenze« und die ihm »zugrunde gelegten Prinzipien [sind] einer Abwägung nicht zugänglich«. 129 Sie sind nicht verhandelbar – außer nach einer Revolution, die zunächst mit allem bisherigen Recht bricht. Die Grenze des methodisch nicht mehr Vertretbaren ist also so eng gezogen, dass es – so es nicht zu extremen Ausnahmesituationen kommt – nur schwer vorstellbar ist, dass in der Rechtsprechung Prämissen als »anerkannte Sätze« akzeptiert werden, die mit dem »unantastbaren und nicht abwägungsfähigen Kernbestands des Grundgesetzes« 130 nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen sind und auch vom BVerfG nicht mehr korrigiert werden. – Allerdings und um keine Missverständnisse aufkommen zulassen: Auch wenn die Grenze des methodisch nicht mehr Vertretbaren eingehalten wird, Schon die Titel – etwa C. Schmitt: »Staat, Bewegung, Volk«, Hamburg 1933; K. Larenz: »Über Gegenstand und Methode des völkischen Rechtsdenkens«, Berlin 1938; E. Forsthoff: »Der totale Staat«, Hamburg 1933; Th. Maunz: »Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts«, Hamburg 1934 – machen die bewusste Abkehr von der Weimarer Verfassung und ihren rechtsstaatlichen und demokratischen Grundlagen deutlich. Näher dazu M. Stolleis 1994, S. 126 ff.; B. Rüthers 1968. 126 DJZ 1934, 945–950; Anlass war die Ermordung von Röhm, anderen SA-Führern und auch konservativen Widersachern. 127 BVerfGE 134, 366–438, juris Rn. 28. 128 Zu dem Verständnis als »Kernverfassung« siehe U. Volkmann 2013, S. 94 ff. 129 BVerfGE 134, 366–438, juris Rn. 29 130 Wiederum BVerfGE 134, 366–438, juris Rn. 29. 125

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F · Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

heißt das nicht, dass wir uns deshalb um eine Rechtsentwicklung zum Guten keine Gedanken machen müssten. Erinnern wir uns an Befunde, was Akzeptanz auch bedeuten kann: Sie hilft auch Werten und Normen zur Durchsetzung, die inhuman sind. 131 Eine akzeptierte Rechtsentwicklung lässt nicht den Schluss zu, dass das neue Recht auch ein Mehr an Gerechtigkeit bringt.

131

Kap. 8 VII. 3.

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Abgekürzt zitierte Nachschlagewerke Eisler (1910): Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Berlin; (1930/1964) Band 1–3. 3. Aufl., Berlin. EPhWTh (1. Aufl.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hrsg. von Jürgen Mittelstraß, 4 Bände. Mannheim u. a. 1980–1996. EPhWTh (2. Aufl.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hrsg. von Jürgen Mittelstraß. Stuttgart, Weimar 2010 ff. Enzyklopädie (1. Aufl.): Enzyklopädie Philosophie. Hrsg. von Hans Jörg Sandkühler. 2 Bände. Hamburg 1999. Enzyklopädie (2. Aufl.): Enzyklopädie Philosophie. In drei Bänden. Hrsg. von Hans Jörg Sandkühler. Hamburg 2010. HdbwthB: Josef Speck (Hg.): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, 3 Bände. Göttingen 1980. HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel, Bände 1–13. Basel 1971–2007. Lexikon der Neurowissenschaft: 4 Bände. Heidelberg 2000–2001. LdR: Ergänzbares Lexikon des Rechts. Neuwied 1981 ff. PhWB: Schmidt, Heinrich: Philosophisches Wörterbuch. Neu bearbeitet von Georgi Schischkoff. 22. Aufl., Stuttgart 1991.

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Literatur StLex: Staatslexikon. Hrsg. von der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., 5 Bände. Freiburg i. Br. 1985–1989. WBphB 1955: Wörterbuch philosophischer Begriffe. Hrsg. von Johannes Hoffmeister. 2. Aufl., Hamburg. WBphB 1998: Wörterbuch philosophischer Begriffe. Neu hrsg. von Arnim Regenbogen u. Uwe Meyer. Hamburg 1998. Wörterbuch der Kognitionswissenschaft (1996). Hrsg. von G. Strube, B. Becker, C. Freksa, U. Hahn, K. Opwis u. G. Palm. Stuttgart.

670 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Abkürzungsverzeichnis

a. A. AaO/aaO AcP AEUV a. F. AG AK-ZPO ArbGG AuR

andere(r) Ansicht am angegebenen Ort Archiv für die civilistische Praxis Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Amtsgericht Alternativkommentar zur Zivilprozessordnung Arbeitsgerichtsgesetz Arbeit und Recht – Zeitschrift

BAG BauGB BauR BayKAG BB BBauG BFH BGB BGH BGHSt BGHZ BMF BSG BStBl BT BT-Drs. BUrlG B. v. BVerfG BVerfGG BVerfGK BVerwG

Bundesarbeitsgericht Baugesetzbuch Baurecht – Zeitschrift Kommunalabgabengesetz Bayern Betriebs-Berater – Zeitschrift Bundesbaugesetz Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Bundesgerichtshof – Strafsachen Bundesgerichtshof – Zivilsachen Bundesministerium der Finanzen Bundessozialgericht Bundessteuerblatt Bundestag Bundestagsdrucksache Bundesurlaubsgesetz Beschluss vom Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht

DJZ DRiZ DVBl

Deutsche Juristen-Zeitung Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt

671 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Abkürzungsverzeichnis EG EGMR EGRL EGV EMRK EuGH EUV/AEUV

EuZA

Europäische Gemeinschaft(en) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EG-Richtlinie Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Europäische Menschenrechtskonvention Europäischer Gerichtshof Vertrag über die Europäische Union (EUV) und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht

FGO Fn.

EG-Richtlinie Fußnote

GewO GG GGO GlNr. GoA GRCh GrS GS GVBl GVG

Gewerbeordnung Grundgesetz Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien Gliederungsnummer Geschäftsführung ohne Auftrag Grundrechtecharta der EU Großer Senat Großer Senat Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz

Hdb HGB h. L. h. M HStR

Handbuch Handelsgesetzbuch herrschende Lehre herrschende Meinung. Handbuch des Staatsrechts

InvZulG iVm

Investitionszulagengesetz in Verbindung mit

JöR. n.F. juris

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge Juristisches Informationssystem für die Bundesrepublik Deutschland Juristische Schulung – Zeitschrift für Studium und Referendariat Juristenzeitung

JuS JZ KO KritV KrU KrV KWG

Konkursordnung Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Kritik der Urteilskraft – Kant Kritik der reinen Vernunft – Kant Kreditwesengesetz

672 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Abkürzungsverzeichnis LAG LG LKV LS LT-Drs.

Landesarbeitsgericht Landgericht Landes- und Kommunalverwaltung – Zeitschrift Leitsatz Landtagsdrucksache

MDR m. N./m. w. N. MüKoBGB

Monatsschrift für Deutsches Recht mit/weiteren/Nachweisen Münchner Kommentar zum BGB

NJW NStZ NStZ-RR NVwZ NZA

Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Strafrecht – Rechtsprechungsreport Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht

o.J. OLG OVG OWiG

ohne Jahrgang Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Ordnungswidrigkeitengesetz

pr. ALR PU

Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten Philosophische Untersuchungen – Wittgenstein

RG RGSt RGZ Rn. Rs RSprEinhG.

Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Randnummer Rechtssache – Bezeichnung der Entscheidungen des EuGH Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes

SchRG SG SGB SGG Slg. StGB StPO str. st. Rspr.

Schuldrechtsmodernisierungsgesetz Sozialgericht Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz Sammlung – die Slg. der Rspr. des EuGH Strafgesetzbuch Strafprozessordnung strittig ständige Rechtsprechung

ThürKAG ThürVBI TKG TzBfG

Kommunalabgabengesetz – Thüringen Gesetz- und Verordnungsblatt für den Freistaat Thüringen Telekommunikationsgesetz Teilzeit- und Befristungsgesetz

673 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Abkürzungsverzeichnis unstr.

unstrittig

VermG

VwGO VwVfG

Vermögensgesetz (Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen) Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Verordnung(en) Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz

WM WRV

Wertpapier-Mitteilungen – Zeitschrift Weimarer Reichsverfassung

ZGB ZPO ZRP

Zivilgesetzbuch – Schweiz Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik

VG VGH VO VVDStRL

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Stichwortverzeichnis

Abwägung 136, 152 f., 284, 322, 400, 407, 409, 428, 439 f., 442, 444, 522, 631, 635–642, 647 –, Abwägungsgebot 364, 412, 422, 428, 634 –, Abwägungsmuster, Abwägungsprogramm 411, 537, 556, 633, 638– 643 –, Interessenabwägung 250, 408, 495, 518 Akzeptanz 34, 122, 135, 137–139, 140–154, 196, 199 f., 201, 237, 293, 324, 425 f., 445, 447, 521, 622, 646 f. Alltagstheorien 189, 196, 199–206, 218, 220, 222, 237–243, 249, 251, 258, 279, 324, 620 Amtsermittlung s. Prozessmaximen Analogie, analog 81, 295, 369 f., 375, 463, 535 f., 555 f., 567, 571, 573, 579, 608, 630 Ankereffekt 573, 586, 594 Argumentationstheorie 24, 68, 83, 170, 300, 304, 627 Auslegung, Auslegungstheorien, Regeln 21, 24–26, 33, 39, 45–50, 53 f., 62, 105, 110, 119, 151 f., 328 f., 340 f., 354–356, 361, 375, 406, 428, 431 f., 448, 455–526, 527, 530, 555, 612, 625, 636 f., 639, 645 –, historische, »subjektive«, Vor-Text s. a. Gesetzgebungsmaterialien 25, 347, 361, 376, 378, 380, 456, 461, 464, 479, 481, 484, 485–499, 505, 515 –, systematische 515 f. –, teleologische, »objektive« 47, 379,

479 f., 483, 502–504, 510, 519–526, 637 –, Wortauslegung s. a. Wortlautgrenze 341, 365–379, 505 f., 535, 515 –, Rangverhältnis 456 –, Textverstehen 348–351, 505, 619, 488–491 –, verfassungsrechtliche Vorgaben s. Methode – Verfassungsrecht –, Ziele 42, 48, 457–467, 478 f., 486, 504, 509, 521 Begriffshof/-kern s. Vagheit Begriffsjurisprudenz 40, 80 f., 382 f., 385, 520, 616 Beweis, Beweismaß 165, 176–179, 182, 203, 244 f. Beweiswürdigung s. a. Gesamtschau, Gesamtwürdigung 156, 164, 180– 182, 198 f., 219, 222 f., 235, 245– 285, 593 Black Box 79, 253 f., 270, 561 f., 572 Bourdieu, Pierre s. Habitus Canones s. Auslegung Datenbanken 20, 508, 574, 601 –, »Methoden der Praxis« 574, 603– 613 Demokratie, demokratisch 42, 49, 147, 152, 170, 292, 323, 330, 371, 373, 395, 400–402, 410, 466, 477, 488, 507, 516, 649, 650 Denk- und Argumentationsraum« 88, 99, 126 f., 195 f., 201, 266, 346, 452, 506, 513, 532, 596, 624

675 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Stichwortverzeichnis Dezision 26, 61, 68, 81–84, 531 Dogmatik 127, 142, 153 f., 392, 403, 416–434, 437, 446, 508, 511–513, 544, 596, 612, 632, 635, 647 EGMR 146, 292, 452, 475 Entscheidung 23, 300 f., 353, 424, 425, 521, 621, 647 –, Herstellung, Darstellung 68, 83, 415, 561, 604, 633 –, »richtige Entscheidung« 23 f., 33, 35, 39, 42, 120, 131, 168, 415, 553, 585, 599, 616–619, 623, 644 Entscheidungsnorm 272, 296, 309, 313, 356, 457, 495, 612, 629 Entscheidungstheorien 579, 585–597 Erfahrungssätze s. Alltagstheorien Erkenntnis s. Kognition Erkenntnistheorie 28 f., 32, 46, 49, 102, 104–106, 108–112, 115, 123, 156 f., 163, 176, 185–206, 237, 265, 346, 456, 488–491, 537, 561–584, 643 Erkenntnisverfahren, gerichtliches s. a. Kognition und Methode 27 f., 30, 60 f., 104, 116, 119, 157, 165, 189, 455, 477, 527, 595 Ethik s. Richter EuGH 146, 292, 313, 327, 328, 443, 451, 452 f., 476 EU-Recht s. a. Mehrebenensystem 123, 326, 328, 442, 449, 452 f., 463 Evolution s. a. Recht 131, 485, 507, 615, 643–650 »Fall und Fallverstehen« 59 f., 157, 159, 267, 527 f., 532, 545, 547–549, 592, 594, 634 Freirechtsschule 296, 386, 482, 630 Gadamer, Hans-Georg s. a. Hermeneutik 53, 82, 488, 490, 564 f. Gedächtnis 30, 85, 108, 120, 127, 191, 211–219, 228, 259 f., 266, 565, 567, 574, 577–583, 585 Generalklauseln 149, 292, 310 f., 315– 317, 319, 321, 339, 492, 647

Gerechtigkeit 98, 108,144–151, 167 f., 272, 302, 323, 337, 393–395, 402 f., 470, 552, 638, 645, 652 Gesamtschau, Gesamtwürdigung 32, 128, 169, 182 f., 222 f., 245 f., 250–271, 322, 355, 428, 531, 575, 588 Gesetzesbindung, »Gesetz und Recht« 24, 31, 42 f., 104, 295, 303, 325–333, 375, 401, 428, 431, 455 f., 462–464, 468–471, 473 f., 476 f., 506–525, 629 Gesetzespositivismus 80 f., 291, 294, 325, 362, 382, 384 f. Gesetzesvorbehalt 41, 367, 370 f., 375, 464, 465, 466 f. Gesetzesvorrang, Steuerungsfunktion 331, 462, 467, 468, 477, 478, 482 f., 499, 507, 519, 645 Gesetzgebungsmaterialien s. a. Auslegung, historische 483, 487, 494, 495–506, 515, 517, 518 Gewaltenteilungsprinzip 147, 152, 292, 429, 462, 465, 467, 477, 488, 508 Gewissheit s. Beweiswürdigung Grundrechte, Grundrechtsdogmatik 41, 148 f., 322, 395 f., 398–403, 409 f., 414–416, 419, 422, 431, 441, 443, 451–453, 455, 475, 636, 640– 642, 647, 649, 650 Güterabwägung s. Abwägung Habitus 58, 74–79, 81, 84, 88 f., 90, 92, 99, 107, 113 f., 190, 193, 201, 224, 258, 351 Hermeneutik s. a. Gadamer 24, 51, 53, 84, 114, 191, 291, 388, 394, 460, 480, 488, 490 f., 565, 571 –, »hermeneutischer Zirkel« 563–565 »Hin- und Herwandern des Blicks« 527, 546, 563–565, 583, 592, 619 Hypertext Recht s. Recht Indizien 164, 198, 235, 239, 245, 249, 251, 252–254, 256, 258 f., 261, 263, 267, 279, 284, 309

676 https://doi.org/10.5771/9783495813317 .

Stichwortverzeichnis Informationstechnologie 20, 35, 55, 359, 508, 601, 603–606 Informationsverarbeitungsprozess s. a. Rechtsprechung 26, 29, 54, 69, 83–85, 156, 209, 235, 249, 260, 162, 335, 568, 578, 627 Interessenjurisprudenz, Interessentheorie 296, 386 f., 406, 460, 482, 494, 499 f., 503, 520 Interpretation s. Auslegung, Hermeneutik Interpretationsgemeinschaft 110 f., 115, 127, 131, 150, 194, 202, 347, 350 f., 361 f., 420, 436, 485, 582 Intertextualität 360–363 Intuition 41, 263, 552, 558, 579–582, 611 Judiz 41, 542–544, 562, 580, 587, 611 Justizgewährleistungsanspruch 311, 313, 467 Kanones s. Auslegung Kant, Immanuel 62 f., 71, 158, 187 f., 192–194, 265, 413, 489, 512, 529, 566–568, 611, 617 Kodifikationsmodell 20, 293 f., 384, 529 Kognition, Kognitionswissenschaften 26–28, 30, 33, 50, 53, 61, 79, 80–86, 89 f., 101, 106, 115 f., 126, 162, 180, 193, 195 f., 204 f., 212, 237, 250, 282, 298, 331, 413, 491, 535, 561–584 –, richterliche Kognition 77, 79, 85, 88, 93, 102–105, 107–112, 119, 213–218, 220 f., 224–228, 246, 250– 270, 283–285, 527–597 –, Expertenwissen 260 f., 268, 270, 350, 580 Kohärenz 100, 104, 108, 119–154, 156, 181, 186, 196–198, 207, 247 f., 255, 267, 331, 349, 364, 414, 484, 508, 549, 551, 596 f., 620–630 –, Begriff 122–125, 142 f., 416, 435– 454, 476

–, Drei Elemente 122, 124 f., 140 164, 198, 246, 436 f., 440, 553, 622–627 –, Widerspruchsfreiheit 446 f., 635 f. –, Umfassendheit 224, 253, 445 –, Stimmigkeit 142 f., 198 f., 223, 236, 279, 425, 516, 542, 593, 597, 620–622, 648 –, Herstellung von Kohärenz s. a. »richtige« Entscheidung 26 f., 33, 35, 43, 95, 122, 125–129, 132, 153, 155, 327, 351, 433–435, 447, 526, 534, 553, 595, 615, 622, 627–664 –, Prämissenrahmen 140, 144, 151, 250, 293, 294, 325, 597, 615, 621 f., 632 f., 635, 642, 644, 646 f., 649 –, »temporär kohärente Struktur« 213, 216, 444, 551, 579 –, Theorie 27, 31, 34, 108–112, 129– 131, 133–139, 158, 589–591 Kollisionsregeln 448–452, 636 Konstrukt, Konstruktivität 22, 138, 156, 183, 185–206, 208, 236, 266, 279, 384 Konstruktivismus 30, 197 Leitbilder 412, 552 f., 596 Linguistik s. Sprache Logik. Schlussfolgerungen, s. a. Subsumtion 29, 84, 115, 142, 235–238, 248 f., 253, 296, 534, 546, 562, 609, 629–632 Lücke, Lückenproblem 48, 62, 69, 81, 294 f., 297, 312, 384, 517 f., 557 Luhmann, Niklas s. a. Systemtheorie 74 f., 337, 413, 422 f., 432, 645 Mehrebenensystem 21, 327, 331, 442, 446, 447, 450, 454, 507 Methode, Methodik, Methodenlehre s. a. Herstellung von Kohärenz u. »richtige« Entscheidung 19, 28 f., 41 f., 44, 47, 51, 55 f., 58, 67, 79, 83, 90–92, 95, 98, 113, 119, 125–129, 133, 150, 158 f., 186, 194 f., 280, 285, 289–291, 322, 329, 331, 334, 352, 365 f., 381, 387 f., 410, 413,

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Stichwortverzeichnis 431–433, 475, 478, 482, 484–486, 487 f., 501, 508, 511–514, 529, 599– 613, 638, 650 –, Begriffliches 31, 33, 39, 71, 88, 113–116, 120, 302, 391, 618 –, Gebrauchsmethodik, Handwerksregeln 19 f., 32, 37, 44–46, 54, 72 f., 77, 87, 287, 485, 612, 614 f. –, Grenzbedingungen 61, 113–117, 125 f., 194–196, 287–292, 615– 620, 643–652 –, der Rechtswissenschaft 57 f., 93, 99 –, des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens 31, 37, 57, 101 f. –, (freie) Methodenwahl 29, 39 f., 86, 329, 457, 483, 485, 508, 514–526, 555, 637 –, regelgeleitetes Verfahren 24, 26, 37, 68, 80, 207–245, 601–603, 612 f., 628 –, Verfassungsrecht 151 f., 274, 302– 304, 369–380, 399, 455–477, 506– 526, 643, 651 Münchhausen-Trilemma 423–425, 633 Muster, Mustererkennung 29, 31, 35, 41, 55, 60, 84, 113, 128, 157, 159, 191, 195, 201, 208, 217, 263, 266, 268 f., 287, 349, 411–413, 422, 440, 442, 445, 512, 527–597, 612, 648 –, Begriff 546, 548, 550–553 –, Arten, Typologie 532 f., 553–559 –, »hermeneutischer Zirkel« 191, 563–565 –, Informatik 85, 530 f., 546 –, Lernen von Mustern 88–90, 271, 545–547, 557 –, »Vorstellungsbilder« 568–570 Neurath, Otto 127, 129 f., 133–135, 137, 442, 627 Neurowissenschaften s. Kognition Normen- und Prämissenrahmen s. Kohärenz NS-System 144, 148–151, 465, 650 Nulla poena sine lege 312, 339–342, 369–372, 393, 462–465

Nullhypothese 181, 186, 218, 221, 261 Positivismus 80 f.,130, 291, 294 f. , 381–398, 427, 436, 520 Präjudizien 19, 23, 132, 332, 364, 411 f., 430, 441, 474, 513, 608, 628, 647 Präklusion 167 Prinzipien 309, 312, 404, 406–410, 412, 428, 438 f., 552, 638 Prozedurales Wissen« 85 f., 260 Prozessmaximen 155 f., 165, 176, 209, 230–233, 247, 276, 455 Recherche s. a. Datenbanken 73, 77, 513, 574, 602, 604, 607, 609, 628 Recht 41, 57, 78, 131, 135, 144–147, 151, 153, 159, 172, 289–293, 299– 301, 322, 334, 336, 340, 343, 351, 354, 359, 364 f., 381, 384, 391, 394, 403 f., 421, 427 f., 435 f., 446, 460, 468–476, 478–485, 507, 520 f., 553, 603 f., 643–652 –, Hypertext 153, 356, 359–364, 416, 428, 431, 500, 511–513, 596, 603 f., 632, 647 –, Rechtsgewinnung, -ermittlung, -erkenntnis, -anwendung 28, 34, 56, 61, 77, 116, 128, 287–526, 528, 552, 575, 612, 617, 620, 622, 646 –, Rechtsfiguren, Theorien 154, 364, 404 f., 412, 421, 511 –, Rechtsfortbildung 147 f., 300, 375, 512, 522, 525, 527, 529 –, Rechtsordnung, Einheit der 295, 401, 411, 430, 435–452, 511, 516, 617 –, Richterrecht 48, 153, 296, 298, 300, 311–314, 317, 320, 330, 352, 426– 433, 466, 468 f., 472–474, 485 Rechtsbegriffe 315–321, 324, 326, 339, 351, 352, 356–358, 360, 365, 399, 404 f., 408, 428, 438 f., 492, 513, 538, 637, 645, 647 Rechtsfortbildung 26, 48, 97 f., 129, 152, 329, 369, 376, 458, 463, 467,

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Stichwortverzeichnis 472 f., 486, 511, 539 f., 542, 566, 647 f. Rechtsprechung 67, 69, 75, 93, 99, 106, 116, 145, 147, 290, 292, 299 f., 334, 347, 395, 411, 427, 429, 444, 455, 462, 474, 507, 525 f., 530, 568, 645 –, Einheitlichkeit der 42, 93, 94, 96– 100, 103, 113, 327 f., 364, 411, 472 –, Rechtsprechungstheorie 58, 106, 110 f., 125–129, 145, 590 Rechtsquelle 136, 311, 328, 364, 428, 471, 476, 555, 636, 646, 649 Rechtsstaat, rechtsstaatlich 25, 170, 247, 272, 319, 322, 329, 334, 338 f., 370 f., 395, 400, 402, 449, 462, 649 f. Rechtssystem 74 f., 95, 145, 327, 340, 358, 397–399, 402, 431, 435–445, 474, 485, 493 f., 500, 507, 521, 526, 593, 645 Regelbindung 293, 298, 299–333, 334, 343, 348, 351 f., 433, 458, 472, 492, 638 regulative Idee s. Entscheidung Rekonstruktion 50, 52 f., 478, 490 f. Rhetorik 24, 72, 291, 326, 386, 388 Richter 21–23, 233, 271, 276, 279– 285, 295, 574, 596 –, erkennendes Gericht 93, 95, 101, 104 f., 115, 165 –, Richtertypen 77 f., 233–235, 270 –, Richterethik 32, 87 f., 113, 281, 285, 572 f., 652

heit 50–53, 64–67, 153, 189, 191, 194, 237, 296–298, 332 f., 334–380, 492, 529, 619, 643 –, semantisches Dreieck 538–544, 562 –, Semantik, semantischer Kampf, semantische Stabilität 295, 340 f., 348, 352–355, 357, 360, 365–367, 374, 381, 416, 448, 529 Stimmigkeit s. Kohärenz Subsumtion, Subordination s. a Toulmin-Schema 26, 119, 296, 298, 356, 407, 511, 527–530, 533, 534– 538, 541, 544 f., 554, 566, 570, 580, 584, 613, 635–638 System, Systemdenken 46, 80, 99 f., 108, 110, 124, 136, 140, 294 f., 297, 360, 381–434, 435–438, 440–442, 445–447 Systemtheorie 74, 145, 291, 300, 325–333, 347, 435, 493

Sachverhalt 21, 28, 30, 34, 55, 59 f., 72 f., 128, 138, 155–285, 309, 527, 529, 550, 557, 624 Savigny, Friedrich Carl von 46–50, 52, 82, 105, 382 f., 460, 478 f., 481, 492, 514, 521, 644 Schleusenbegriff 149, 322, 388, 553 Schlüsselqualfikationen 72 Semiotik 189, 580 Sprache, Sprachphilosophie s. a. Hypertext, Wortlautgrenze, Vag-

Vagheit, vage Begriffe 67, 69, 317– 321, 333, 343–345 Verhältnismäßigkeit 41, 262, 310, 315, 322, 410, 511, 537, 560, 636, 640 Verhandlungsmaxime s. Prozessmaximen Vorverständnis 29, 54, 114 f., 192, 195, 287, 294, 395, 558, 564 f., 572, 618

Theorien, »tools for handling« 30, 124, 128, 297, 401, 403, 416–420, 425, 558, 571, 624 Topik, Topos 49, 80, 115, 291, 325– 327, 381, 385, 387–395, 402, 447, 542, 552, 625 Toulmin-Schema 304–313, 458 Umfassendheit s. Kohärenz Urteil s. Entscheidung Urteilskraft 62 f., 68, 129, 512, 529, 535, 542, 544, 553, 565, 566 f., 570, 574, 596, 611, 629

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Stichwortverzeichnis Wahrheit 278 –, prozessuale 157 f., 162–168, 175– 178, 230 –, Wahrheitstheorien 31, 51, 112, 123, 128, 133 f., 137 f., 156–160, 162–175, 253 –, »Verifizierung« 133, 210, 217, 257, 267, 346, 415 Wahrnehmung s. Kognition Wahrscheinlichkeit 203 f., 209, 239 f., 243 f., 253–257, 261, 268, 272, 274, 276–280, 588, 594 Werte, Wertungen 144–146, 148, 150, 152, 163, 322–324, 355, 388, 406, 408 f., 412, 439–445, 449, 450, 452, 522, 647, 650

Wertesystem, Werteordnung 42, 147–149, 324, 395–403, 419, 437 f., 638 Widerspruch, Widerspruchsfreiheit s. a. Kohärenz, 246, 448–452, 515, 623, 635 f. Wittgenstein, Ludwig 51 f., 62–66, 66 f., 69–72, 82, 190, 298, 341–346, 379, 539, 579 Wortlautgrenze 298, 342, 365–379, 463, 559 Zeuge, Zeugenbeweis 163 f., 176, 178, 181, 209, 211–250, 628

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