Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens: Prozesse richterlicher Kognition 9783495999424, 9783495999431


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Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
I.
II.
III.
IV.
V.
Teil A Methodik der gerichtlichen Praxis – der notwendige Wandel des Methodenbegriffs
Kapitel 1: Methode – ein Begriff mit vielfältigen Deutungen
I. Zwingende Regeln oder freie Methodenwahl?
II. Methode – ein Instrument für unterschiedliche Zielsetzungen
Kapitel 2: Methode und Methodenlehre
I. Methode als Handwerk
II. Schematismus im Vordergrund – Theorie im Hintergrund
1. Teleologische Auslegung und Richterbild
2. Topische oder normative Struktur der Kanones
3. Rekonstruktion oder Interpretation – Exkurse zur Sprachphilosophie und Hermeneutik
a) Exkurs I zu Wittgenstein
b) Exkurs »Philosophische Hermeneutik«
III. Schlussfolgerungen
Kapitel 3: Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens
I. Methodenlehre der Rechtswissenschaft – Methodik der Praxis
II. Die Praxis der akademischen Methodenlehre und die Methode der gerichtlichen Praxis
Kapitel 4: Die »Vagheit in den Regeln« und der Methodenskeptizismus
I. Das Dilemma der Urteilskraft
II. Was heißt es, »einer Regel zu folgen«?
III. Wider den Methodenskeptizismus
Kapitel 5: Methode und Handhabungsroutinen – Erkenntnis, Habitus und Kognition
I. Habitus und Richtertypen
1. Habitus
a) Grundpositionen der Sozialtheorie Bourdieus – Parallelen und Unterschiede zur Systemtheorie Luhmanns
b) Der Habitus und seine Routinen
2. »Richtertypen«
II. Kognition und Erkenntnisverfahren
1. Erkenntnis oder Dezision
2. Kognition und Kognitionswissenschaft
3. »Prozedurales Wissen« und juristische Methode
III. Kognitive Strukturen des Habitus – Schlussfolgerungen
1. Habitus und Lernen
2. Zum »Fließcharakter« von Habitus und normativen Regeln
Kapitel 6: Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode – »Wahrung der Kohärenz«
I. Die Problemstellung
II. Rechtsmittelrecht – die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung
1. Die Wahrung der Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung als Funktion des Rechtsbehelfssystems
2. Der Perspektivwechsel – von der Methodenlehre der Rechtswissenschaft zur Methodik der gerichtlichen Praxis
III. Das »erkennende Gericht«
1. Institutionelles Denken als Befund
2. Zuordnungssubjekt – Subjekt des Erkenntnisverfahrens?
IV. »Wie Institutionen denken« – Kohärenz und Bindung
1. Erklärungsmuster
a) Soziologische Ansätze
b) Sozialpsychologische Ansätze – Gruppenkohärenz
2. Kohärenz
Kapitel 7: Schlussfolgerungen für die Methodik des gerichtlichen Verfahrens
I. Schlussfolgerungen für den Methodenbegriff
II. Erste Thesen zu den Rahmenbedingungen des methodischen Arbeitens
III. Die Perspektive des »erkennenden Richters«
Teil B Kohärenz und juristische Methode
Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz
I. Zum Begriff »Kohärenz«
1. Unterschiedliche Kohärenzphänomene – gemeinsame Struktur
2. Kohärenz als Kriterium juristischer Methodik
II. Die Kohärenz des Rechtsprechungsprozesses in drei Thesen
1. Zur ersten These
2. Zur zweiten These
3. Zur dritten These
III. Die Kohärenzformel Otto Neuraths
IV. Der Kohärenzgedanke – seine zentrale Rolle für die Methode
V. Kohärenz – zum theoriehistorischen Zusammenhang
VI. Die Kohärenzlehre – Grundannahmen und Implikationen
VII. Kohärenz und Akzeptanz als ihre notwendige Bedingung
1. Akzeptanz
2. Der graduelle Charakter der Kohärenz
3. Juristisch-dogmatische Fundierung und gesellschaftliche Akzeptanz
a) Unterschiedliche Wertvorstellungen – Konstellationen der Unverträglichkeit
b) Recht vs. gesellschaftliche Wertvorstellungen
VIII. Akzeptanz, Konsens, Institutionen – die verfassungsrechtliche Perspektive
Teil C Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt
Kapitel 9: Der »Fall« als Gegenstand des »Erkenntnisprozesses«
I. »Wahrheitstheorien« und »Wahrheitsfindung«
II. Die Perspektive des Falls
Kapitel 10: Philosophische Wahrheitstheorien und prozessuale Wahrheit
I. Wahrheitsfindung – Verfahrensrecht – Kohärenz
II. Die »Wahrheit« – ein prozessrechtlicher Begriff
1. Verhandlungsmaxime – Amtsermittlung
2. Präklusion – oder »die Gerechtigkeit wartet nicht«
III. Korrespondenz- und Konsenstheorie – untaugliche »tools for handling«
1. Korrespondenz- oder Abbildtheorie
2. Konsenstheorie der Wahrheit
Kapitel 11: Der Sachverhalt als Konstrukt
I. »Der Ball war rot« – war der Ball auch tatsächlich rot? – die prozessrechtliche Perspektive
II. Kohärenz einer Aussage und Nullhypothese
III. Der »richtige« Sachverhalt – die revisionsrechtliche und die erkenntnistheoretische Perspektive
Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion
I. Die erkenntnistheoretische Perspektive
1. Ausgangskriterien
2. Notwendige Reduktion des Diskussionsstandes
II. Die entscheidenden Ansätze: Subjektivität, Vermittlung und Intersubjektivität
1. Zur Phänomenologie der Vermittlung
2. Zur Phänomenologie des erkennenden Subjekts
3. Intersubjektivität
III. Die entscheidenden Folgerungen: Konstruktivität, Kohärenz und Akzeptanz
1. Konstruktivität
2. Kohärenz
a) Kohärenz und die »Wahrheitsfrage«
3. Akzeptanz der Prämissen – Wissenschaft und Alltagstheorien
a) Allgemeine Erfahrungssätze, Alltagstheorien und individuelle Erfahrungssätze
b) Akzeptanz zwischen Alltagstheorien und wissenschaftlichem Sachverstand
c) Orientierungssätze zur Akzeptanzproblematik
Kapitel 13: Regeln der Sachverhaltsermittlung
I. Grundregel
II. Die Sachverhaltskonstruktion – als Prozess
1. Parteivorbringen, Informationen und Hypothesenbildung
2. Problemfelder der »Verifizierung«
III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung
1. Der Zeugenbeweis
a) Exkurs in die kognitive Neurowissenschaft (I.)
b) Die »Nullhypothese« – Wege der »Verifizierung«
c) Zeugenbeweis – ein Zwischenergebnis
2. Sachverhaltsermittlung: Kommunikation zwischen Zielgerichtetheit und Offenheit
a) Die ideale Kommunikationshaltung – geteilte Aufmerksamkeit
b) Verhandlungsführung
3. Der Sachverhalt – eine Verknüpfung von Indizien
a) Die Verknüpfung und ihre Denkgesetze
b) Eine Typologie der Verknüpfungen und ihre typischer Fehlerquellen
c) »Gesamtschau«, Beweismaß und Kohärenz
Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz
I. Der Sachverhalt – die drei Elemente der Kohärenz
1. Widerspruchsfreiheit
2. Umfassendheit
3. Stimmigkeit
II. »Gesamtschau«, »Gesamtwürdigung«
1. Die revisionsrechtliche Sicht
2. Die Wahrscheinlichkeitstheorie – eine allgemeine Lehre vom Indizienbeweis?
3. »Gesamtschau« – kognitive Mechanismen (Exkurs II)
a) Die prinzipiellen Schwierigkeiten
b) Strategie der Strukturierung und Abschichtung
c) »Gesamtschau« – Mustererkennung
d) Zwischenergebnisse und noch offene Fragen
III. Die Stimmigkeit des Sachverhaltes – das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung
1. Die prozessrechtliche Seite und ihre praktischen Probleme
a) Die Sachverhaltsermittlung – ein Kampf um die richterliche Gewissheit
b) Der »Normalbeweis«
c) Beweismaß und Wahrscheinlichkeit – pragmatisch flexibler Maßstab?
2. Wahrheit – Wahrscheinlichkeit – Gewissheit
a) Wahrheit – Wahrscheinlichkeit
b) Wahrscheinlichkeit und Gewissheit
c) »Richterpersönlichkeit« vs. Methodenlehre?
d) Überzeugungsbildung – Persönlichkeit und Professionalität
3. Die höchstpersönliche Verantwortung des Richters für seine »Gewissheit«
Teil D Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis
Kapitel 15: Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses
I. »Das Recht« und die divergierenden Vorstellungen vom Recht
II. Methodenlehre im Netz ihrer Abhängigkeiten
III. Determinanten der Rechtserkenntnis – ein grundlegend verändertes methodisches Vorverständnis
1. Der Justizsyllogismus und seine theoretischen Vorverständnisse
2. Der veränderte Rahmen – neue theoretische Ansätze
Kapitel 16: Rechtsprechung und Regelbindung
I. Notwendige Regelbindung
1. Der argumentationstheoretische Ansatz
2. Gebot des Gleichheitssatzes
3. Bindung an »Gesetz und Recht«
II. Zur Struktur der Regel – das Toulmin-Schema
1. Die Begründung der Prämisse
2. Allsätze – Regel und Ausnahme
3. Struktur der Regelbindung
III. Regelbindung und Richterrecht
1. Justizgewährleistungsanspruch
2. Rechtserzeugung und Urteilsgründe
a) Gesetzesnorm und Entscheidungsnorm
b) Ausnahmeregeln und Regelungen durch unbestimmte Rechtsbegriffe
3. Offene Regelungen – gesetzgeberische Gründe und die Mechanismen der Konkretisierung
a) Gesetzgeberische Gründe
b) Probleme der Konkretisierung
ba) Der Umgang mit vagen Begriffen
bb) Konkretisierung durch ergänzende Regeln
bc) Regelbindung und Einzelfallentscheidung
4. Wertbegriffe und Wertewandel als Problem der Regelbindung
IV. Vertikale Struktur der Regelbindung – Gesetzesbindung und Systemtheorie
1. Das Gesetz – nur ein Topos?
2. Das Mehrebenensystem – das Regelwerk der Regelbindung
3. Der systemtheoretische Ansatz: Gesetz und strukturelle Koppelung
Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache
I. Der Gerichtssaal als Kommunikationsraum
1. Alltagssprache – Fachsprache
2. Die Janusköpfigkeit der Rechtssprache
II. Recht und Semantik
1. Die Gebrauchstheorie der Bedeutung
2. Die Gebrauchstheorie – das Gebot des korrekten Gebrauchs (Exkurs III zu Wittgenstein)
3. Sprachspiel, Intersubjektivität und Interpretationsgemeinschaft
III. Juristische Semantik
1. Textverstehen – ein Gedankenexperiment
2. Das Spezifische juristischer Semantik
3. Vom »invisible-hand Phänomen« zur gerichtlichen »Definitionskompetenz«
a) Die Perspektive des »semantischen Kampfes«
b) Gerichtliche Definitionskompetenz
4. Semantische Stabilität und semantische Spielräume
IV. Wortbedeutung – Rechtsbegriff, Hypertext und Rechtsermittlung
1. Der Rechtsbegriff – zur juristischen Begriffsbildung
2. Recht als Hypertext
a) Intertextualität
b) Der »Hypertext Recht«
V. Die »Wortlautgrenze«
1. Notwendige Differenzierungen
2. Art. 103 Abs. 2 GG
a) »Wortlautgrenze« – Sprachwandel und Sprachebenen
b) Bestimmungskriterien
3. Art. 20 Abs. 3 GG und die »Wortlautgrenze«
4. Zur Veranschaulichung: BAGE 137, 275–291 (sachgrundlose Befristung)
Kapitel 18: Recht – System – Kohärenz
I. Paradigmen des Systemdenkens: Positivismus – Topik – Wertsystem
1. Die Begriffsjurisprudenz – Paradigma 1
2. Der Gesetzespositivismus – Paradigma 2
3. Die Topik – Paradigma 3
a) Antipositivistische Positionen
b) »Topik und Jurisprudenz« – Theodor Viehweg
c) Axiomatisches System vs. Topik – eine schiefe Alternative
d) Topoikataloge und System
e) System – Topik – Gerechtigkeit
4. Wertsysteme – Paradigma 4
a) Zum Systembegriff
b) Zum Sinngehalt des »grundrechtlichen Wertsystems«
c) Das »Wertsystem« – die Schöpfung einer Grundrechtstheorie
5. System und Gerechtigkeit – ein Fazit
II. Juristisches Systemdenken – Elemente und Funktionen
1. Elemente eines juristischen Systems
a) Rechtsbegriffe, Rechtsfiguren und Rechtsformen
b) Interessen, Werte und Prinzipien
c) Erste Folgerungen für die Systemstruktur
d) Präjudizien
2. Zu den Funktionen juristischer Systeme
III. Systemdenken – juristische Theorien, Kohärenz und Dogmatik
1. Theorien
2. Kohärenz
3. Dogmatik
a) Dogmatik und »gesatzte Normen«
b) Dogma – Dogmatik und das Münchhausen-Trilemma
c) Zur Unterscheidung von Theorien und Dogmatik
d) Das Problem des Geltungsgrundes
e) Zur Rechtssatzqualität des Richterrechts (II)
IV. Rechtsdogmatik und Methode
1. »Stoppregel« – kein »Negationsverbot«
2. Das »Berücksichtigungsgebot« und seine methodischen Regeln
Kapitel 19: Kohärenz und die Einheit der Rechtsordnung
I. Zum Systemcharakter des Rechts
1. Das Rechtssystem – ein kohärentes System?
a) Das »grundrechtliche Wertsystem« als Matrix?
b) Die Systemstruktur und die Unverträglichkeit der Werte
c) Die »wertgebundene Ordnung« und die Kohärenz des Rechtssystems
d) Widersprüchliche Wertungsmuster – Inkohärenz der Rechtsordnung(en)
2. Das Rechtssystem – ein Gefüge partieller, temporär kohärenter Strukturen
II. Die Einheit der Rechtsordnung
1. Widersprüche und Kollisionsregeln
2. Kohärenz und Kompetenzkonflikte – Gerichte und Rechtsordnungen im europäischen Mehrebenensystem
Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung – die verfassungsrechtliche Perspektive
I. Das Ziel der Auslegung – der traditionelle Ausgangspunkt
1. Zur Begrifflichkeit
2. Zum Streitstand – die Grundpositionen
II. Die Vorgaben des GG aus der Perspektive historischer Auslegung – welche Maßstäbe hat der Verfassungsgeber gesetzt?
1. Erste Konsequenzen aus Art. 20 Abs. 3; 103 Abs. 2 GG
2. Erste Konsequenzen aus dem Gewaltenteilungsprinzip
3. Konsequenzen aus der Bindung an »Gesetz und Recht«
a) »Gesetz und Recht«
aa) Zur Einordnung allgemeiner Verwaltungsvorschriften
ab) Zur Einordnung des Richterrechts (III)
4. Konsequenzen aus der Konkurrenz unterschiedlicher »Gesetzgeber« – »konkurrierende Bindungsformen«
5. Zwischenbilanz
III. Recht – ein Steuerungsinstrument oder ein selbstreferentielles System?
1. Recht als Schöpfung des »Volksgeistes« (Savigny)
2. Recht als »vernünftige« Ordnung (urspr. objektive Theorie)
3. Recht als eine vom Gesetzgeber geschaffene Ordnung
4. Recht als politisches Steuerungsinstrument und als »objektives« Ordnungssystem
5. Zwischenergebnis
IV. Die Absicht des Gesetzgebers – zur Problematik und Tauglichkeit der historischen Auslegung
1. Rüthersʼ Methodenkonzeption
2. Kritik der erkenntnistheoretischen Ausgangspositionen
3. Die Befunde – Gesetzgebungs- und Begründungspraxis
a) Über die Gründe für unpräzise und unklare Gesetze
aa) Gründe juristischer Systemrationalität
ab) Gründe politischer Systemrationalität
b) Die Gesetzgebungsmaterialien in der Gesetzgebungspraxis
4. Über die Tauglichkeit der Gesetzgebungsmaterialien als Auslegungsgrundlage
a) Die gesetzliche Regelung als gesetzgeberischer Regelungszweck
b) Gesetz als Resultante eines Interessenkonflikts – das Problem der Rekonstruierbarkeit des Normzwecks.
5. Die Entstehungsgeschichte als relevanter Auslegungsgesichtspunkt – eine Typologie
V. Gesetzesauslegung und ihre verfassungsrechtlich vorgegebene Regelstruktur
1. Auslegung und ihre pragmatische Ausrichtung (Subsumtion und Rechtsfortbildung – Dogmatik und der Hypertext Recht)
a) Das Ziel der Auslegung aus pragmatischer Sicht
b) Auslegung, Subsumtion und Rechtsfortbildung
c) Rechtsermittlung – Dogmatik und der Hypertext Recht
2. Die Auslegungsregeln – Konzept einer kohärenten Regelstruktur
a) Auslegung nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht
b) Der Nachrang der objektiv-telelogischen Interpretation – ein Gebot der Gesetzesbindung
3. Der teleologische Ansatz – Funktion und Problematik
a) Der Topos unbegrenzter Auslegung
b) Der Bereich unzulässiger teleologischer Interpretation
c) Die notwendige Funktion teleologischer Auslegung
Teil E Das Erkenntnisverfahren – Mustererkennung und »Fallverstehen« – Entscheidungstheorien
Kapitel 21: Mustererkennung und Subsumtion
I. Mustererkennung – ein entscheidender Modus der Rechtserkenntnis
1. Beispiel »Gesamtwürdigung«
2. Beispiel »Einordnungsmuster«
II. Subsumtion
1. Von der »Begriffsarbeit« zur Mustererkennung
2. Mustererkennung statt Subsumtion
III. Zum Wechselspiel von Subsumtion und Mustererkennung
1. Das semiotische Dreieck
2. Das semiotische Dreieck und der Prozess der Rechtsfortbildung
3. Rechtsfortbildung – Rechtsgefühl, »reflektierende Urteilskraft« und Mustererkennung
Kapitel 22: Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster
I. Phänomene der Mustererkennung und Musterbildung
1. Einübungen in der Juristenausbildung
2. Mustererkennungen im Prozess des »Fallverstehens«
a) Zugriff auf den Fall
b) Die drei Phasen des Fallverstehens
II. Zur Terminologie
1. »Schema« und »Paradigma«
2. Leitbilder
III. Typologie
1. Einordnungsmuster
2. Rechtsanwendungsmuster
3. Problemlösungsmuster
4. Regelungsmuster
5. Muster und Sachverhaltskonstituierung
IV. Wechsel und Veränderung von Mustern
Kapitel 23: Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung
I. Vom »Hin- und Herwandern des Blicks« und dem hermeneutischen Zirkel
II. Subsumierende und reflektierende Urteilskraft
III. Die Vermittlungsfunktion von Mustern
IV. Gründe für den gewählten kognitionswissenschaftlichen Ansatz und zu den Grenzen der Analysierbarkeit kognitiver Prozesse
1. Der Richter – seine Vorurteile und Befindlichkeiten
2. Unhintergehbare Subjektivität – rationale Struktur des analogischen Erkenntnisvermögens
V. Juristische Muster – Versuch einer kognitionswissenschaftlichen Erklärung
1. Kognitive Mechanismen (Exkurs III)
2. Wir alle lernen Muster – aber nicht alle gleich gut
Kapitel 24: Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien
I. Entscheidungstheorien
II. Entscheidungsstrategie und richterliche Praxis
1. Theorien der »rationalen Wahl« und reduktionistische Entscheidungsstrategien
2. Intuitiv-automatische Strategien
III. Gemeinsame Bausteine eines kohärenztheoretischen Modells
IV. Gesicherte neurowissenschaftliche Grundlagen (Exkurs IV)
V. Die Entscheidungsfindung im Modell
VI. Konsistenzmaximierungsprozesse vs. »richtige Entscheidung«
1. Die notwendige Unterscheidung von »Konsistenz« im Sinne intuitiv-automatischer Entscheidungstheorien und »Kohärenz«
2. Von der Mustererkennung zum Urteil – zwei grundlegende Einsichten
Teil F Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz
Kapitel 25: Methoden der Praxis im Wandel
I. Zur Typik methodischer Regeln
1. Such- und Begründungsregeln
2. Arbeits- und Anwendungsregeln
II. Wandel durch moderne Informationstechnologien
III. Informationstechnik und die Methoden der Praxis
1. »Methode Simile«
2. »Methode Stachelschwein«
3. »Methode Collage« – »copy and paste«
4. »Methode Sherlock Holmes«
IV. Der Referenzmaßstab – das idealtypische Prüfprogramm
Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz
I. Der theoretische Rahmen
II. Das Postulat der »richtigen Entscheidung«
1. Die »richtige Entscheidung« – eine Frage im Kontext der Methodendiskussion
2. Die »richtige Entscheidung« als »regulative Idee«
III. Sachverhalt, Rechtsfeststellung, Urteil – Drei Aspekte der Kohärenz
IV. Die Kohärenzkriterien
1. Widerspruchsfreiheit
2. Umfassendheit
a) Formel und Katalog
b) Umfassendheit und Verfahren
3. Stimmigkeit
V. Herstellung von Kohärenz – Regeln und Operationen
1. Zum Vorgang des »Eingliederns« – Prozesse des Abgleichens
2. Kohärenz und ihre logischen Operationen
a) Die Schlussformen
b) »Gute Gründe«
3. Subsumtion und Abwägung
a) Hierarchisierung und Abwägung
b) Abwägung und Kohärenz
VI. Methodik und ihre Grenzen – Offenheit und Kontingenz
1. Die evolutionäre Struktur des Rechts
2. Rechtsfindung und ihre gesellschaftlichen Realitätskoordinaten
3. Die Grenze des methodisch nicht mehr Vertretbaren
Literatur
Abgekürzt zitierte Nachschlagewerke
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Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens: Prozesse richterlicher Kognition
 9783495999424, 9783495999431

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Hans-Joachim Strauch

Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens Prozesse richterlicher Kognition

2. Auflage

https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Hans-Joachim Strauch

Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens Prozesse richterlicher Kognition

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99943-1 (Print) ISBN 978-3-495-99942-4 (ePDF)

2., aktualisierte und erweiterte Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Für Clara, Vincent, Kasimir, und Laurenz

5 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

III. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

IV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

Teil A Methodik der gerichtlichen Praxis – der notwendige Wandel des Methodenbegriffs . . .

47

Kapitel 1: Methode – ein Begriff mit vielfältigen Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

I.

Zwingende Regeln oder freie Methodenwahl? . . . . . .

49

II. Methode – ein Instrument für unterschiedliche Zielsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Kapitel 2: Methode und Methodenlehre . . . . . . . .

55

I.

Methode als Handwerk . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

II. Schematismus im Vordergrund – Theorie im Hintergrund 1. Teleologische Auslegung und Richterbild . . . . . . 2. Topische oder normative Struktur der Kanones . . . 3. Rekonstruktion oder Interpretation – Exkurse zur Sprachphilosophie und Hermeneutik . . . . . . . . a) Exkurs I zu Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . b) Exkurs »Philosophische Hermeneutik« . . . . . .

56 58 59 61 62 64

III. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

7 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 3: Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens . . . . . . . . . . . . . I.

67

Methodenlehre der Rechtswissenschaft – Methodik der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

II. Die Praxis der akademischen Methodenlehre und die Methode der gerichtlichen Praxis . . . . . . . . . . . .

70

Kapitel 4: Die »Vagheit in den Regeln« und der Methodenskeptizismus . . . . . . . . . . .

73

I. Das Dilemma der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . .

74

II. Was heißt es, »einer Regel zu folgen«? . . . . . . . . .

75

III. Wider den Methodenskeptizismus . . . . . . . . . . .

80

Kapitel 5: Methode und Handhabungsroutinen – Erkenntnis, Habitus und Kognition . . . . .

83

I.

Habitus und Richtertypen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundpositionen der Sozialtheorie Bourdieus – Parallelen und Unterschiede zur Systemtheorie Luhmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Habitus und seine Routinen . . . . . . . . 2. »Richtertypen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Kognition und Erkenntnisverfahren . . . . . . . . 1. Erkenntnis oder Dezision . . . . . . . . . . . 2. Kognition und Kognitionswissenschaft . . . . 3. »Prozedurales Wissen« und juristische Methode

. . . .

. . . .

. .

83 86

. . .

86 88 90

. . . .

91 93 96 98

III. Kognitive Strukturen des Habitus – Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Habitus und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum »Fließcharakter« von Habitus und normativen Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

100 101 102

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 6: Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode – »Wahrung der Kohärenz« . . . . . . . . . .

107

I.

108

Die Problemstellung

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Rechtsmittelrecht – die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Wahrung der Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung als Funktion des Rechtsbehelfssystems . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Perspektivwechsel – von der Methodenlehre der Rechtswissenschaft zur Methodik der gerichtlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . .

109

111 113

III. Das »erkennende Gericht« . . . . . . . . . . . . . . . 1. Institutionelles Denken als Befund . . . . . . . . . 2. Zuordnungssubjekt – Subjekt des Erkenntnisverfahrens? . . . . . . . . . . . . . . . .

115 116

IV. »Wie Institutionen denken« – Kohärenz und Bindung . 1. Erklärungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Soziologische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . b) Sozialpsychologische Ansätze – Gruppenkohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118 120 121 122 125

Kapitel 7: Schlussfolgerungen für die Methodik des gerichtlichen Verfahrens . . . . . . . . . . .

127

I.

Schlussfolgerungen für den Methodenbegriff . . . . . .

127

II. Erste Thesen zu den Rahmenbedingungen des methodischen Arbeitens . . . . . . . . . . . . . . . .

128

III. Die Perspektive des »erkennenden Richters« . . . . . .

130

Teil B Kohärenz und juristische Methode . . . . . . . .

133

Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz . . . . . . . . . . .

135

I.

136

Zum Begriff »Kohärenz« . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterschiedliche Kohärenzphänomene – gemeinsame Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118

137

9 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Inhaltsverzeichnis

2. Kohärenz als Kriterium juristischer Methodik . . . . II. Die Kohärenz des Rechtsprechungsprozesses in drei Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur ersten These . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur zweiten These . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur dritten These . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

138

. . . .

139 140 141 142

III. Die Kohärenzformel Otto Neuraths . . . . . . . . . . .

143

IV. Der Kohärenzgedanke – seine zentrale Rolle für die Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145

V.

.

146

VI. Die Kohärenzlehre – Grundannahmen und Implikationen

149

Kohärenz – zum theoriehistorischen Zusammenhang

VII. Kohärenz und Akzeptanz als ihre notwendige Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der graduelle Charakter der Kohärenz . . . . . . . . 3. Juristisch-dogmatische Fundierung und gesellschaftliche Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . a) Unterschiedliche Wertvorstellungen – Konstellationen der Unverträglichkeit . . . . . . b) Recht vs. gesellschaftliche Wertvorstellungen . .

159 161

VIII Akzeptanz, Konsens, Institutionen – die . verfassungsrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . .

165

Teil C Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt . . .

169

Kapitel 9: Der »Fall« als Gegenstand des »Erkenntnisprozesses« . . . . . . . . . . . .

171

I.

171

»Wahrheitstheorien« und »Wahrheitsfindung« . . . . .

II. Die Perspektive des Falls

154 154 155 157

. . . . . . . . . . . . . . . .

173

Kapitel 10: Philosophische Wahrheitstheorien und prozessuale Wahrheit . . . . . . . . . . . .

177

I.

Wahrheitsfindung – Verfahrensrecht – Kohärenz . . . .

178

II. Die »Wahrheit« – ein prozessrechtlicher Begriff . . . . 1. Verhandlungsmaxime – Amtsermittlung . . . . . .

180 180

10 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Inhaltsverzeichnis

2. Präklusion – oder »die Gerechtigkeit wartet nicht«

.

182

III. Korrespondenz- und Konsenstheorie – untaugliche »tools for handling« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Korrespondenz- oder Abbildtheorie . . . . . . . . . 2. Konsenstheorie der Wahrheit . . . . . . . . . . . .

183 184 185

Kapitel 11: Der Sachverhalt als Konstrukt . . . . . . . .

191

I.

»Der Ball war rot« – war der Ball auch tatsächlich rot? – die prozessrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . .

II. Kohärenz einer Aussage und Nullhypothese

191

. . . . . .

196

III. Der »richtige« Sachverhalt – die revisionsrechtliche und die erkenntnistheoretische Perspektive . . . . . . . . .

198

Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

I.

Die erkenntnistheoretische Perspektive . . . . . . . . . 1. Ausgangskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Notwendige Reduktion des Diskussionsstandes . . .

201 202 203

II. Die entscheidenden Ansätze: Subjektivität, Vermittlung und Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Phänomenologie der Vermittlung . . . . . . . . 2. Zur Phänomenologie des erkennenden Subjekts . . . 3. Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203 204 208 210

III. Die entscheidenden Folgerungen: Konstruktivität, Kohärenz und Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konstruktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kohärenz und die »Wahrheitsfrage« . . . . . . . 3. Akzeptanz der Prämissen – Wissenschaft und Alltagstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Erfahrungssätze, Alltagstheorien und individuelle Erfahrungssätze . . . . . . . . . . . b) Akzeptanz zwischen Alltagstheorien und wissenschaftlichem Sachverstand . . . . . . . . . c) Orientierungssätze zur Akzeptanzproblematik . .

212 212 213 214 215 216 219 220

11 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 13: Regeln der Sachverhaltsermittlung . . . . .

225

I.

Grundregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

225

II. Die Sachverhaltskonstruktion – als Prozess . . . . . . . 1. Parteivorbringen, Informationen und Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Problemfelder der »Verifizierung« . . . . . . . . . .

226

III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung . 1. Der Zeugenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Exkurs in die kognitive Neurowissenschaft (I.) . b) Die »Nullhypothese« – Wege der »Verifizierung« c) Zeugenbeweis – ein Zwischenergebnis . . . . . 2. Sachverhaltsermittlung: Kommunikation zwischen Zielgerichtetheit und Offenheit . . . . . . . . . . a) Die ideale Kommunikationshaltung – geteilte Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhandlungsführung . . . . . . . . . . . . . 3. Der Sachverhalt – eine Verknüpfung von Indizien . a) Die Verknüpfung und ihre Denkgesetze . . . . b) Eine Typologie der Verknüpfungen und ihre typischer Fehlerquellen . . . . . . . . . . . . . c) »Gesamtschau«, Beweismaß und Kohärenz . . .

.

229 229 231 235 240

.

241

. . . .

244 247 253 255

. .

255 263

Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

I.

Der Sachverhalt – die drei Elemente der Kohärenz 1. Widerspruchsfreiheit . . . . . . . . . . . . . 2. Umfassendheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stimmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

II. »Gesamtschau«, »Gesamtwürdigung« . . . . . . . 1. Die revisionsrechtliche Sicht . . . . . . . . . . . 2. Die Wahrscheinlichkeitstheorie – eine allgemeine Lehre vom Indizienbeweis? . . . . . . . . . . . 3. »Gesamtschau« – kognitive Mechanismen (Exkurs II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die prinzipiellen Schwierigkeiten . . . . . . . b) Strategie der Strukturierung und Abschichtung c) »Gesamtschau« – Mustererkennung . . . . .

12 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

. . .

226 228

. . . .

265 265 266 267

. . . .

269 270

. .

272

. . . .

276 277 280 282

. . . .

Inhaltsverzeichnis

d) Zwischenergebnisse und noch offene Fragen . . . III. Die Stimmigkeit des Sachverhaltes – das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung . . . . . . . . . . 1. Die prozessrechtliche Seite und ihre praktischen Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Sachverhaltsermittlung – ein Kampf um die richterliche Gewissheit . . . . . . . . . . . . . . b) Der »Normalbeweis« . . . . . . . . . . . . . . . c) Beweismaß und Wahrscheinlichkeit – pragmatisch flexibler Maßstab? . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wahrheit – Wahrscheinlichkeit – Gewissheit . . . . a) Wahrheit – Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . b) Wahrscheinlichkeit und Gewissheit . . . . . . . . c) »Richterpersönlichkeit« vs. Methodenlehre? . . . d) Überzeugungsbildung – Persönlichkeit und Professionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die höchstpersönliche Verantwortung des Richters für seine »Gewissheit« . . . . . . . . . . . . . . . . .

289 291 291 292 293 295 297 297 298 300 301 304

Teil D Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . .

307

Kapitel 15: Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses . . . . . . . . . . . . . .

309

I.

»Das Recht« und die divergierenden Vorstellungen vom Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Methodenlehre im Netz ihrer Abhängigkeiten

. . . . .

III. Determinanten der Rechtserkenntnis – ein grundlegend verändertes methodisches Vorverständnis . . . . . . . . 1. Der Justizsyllogismus und seine theoretischen Vorverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der veränderte Rahmen – neue theoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309 310 313 314 316

Kapitel 16: Rechtsprechung und Regelbindung . . . . .

319

I.

320 320

Notwendige Regelbindung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der argumentationstheoretische Ansatz . . . . . . .

13 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Inhaltsverzeichnis

2. Gebot des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . 3. Bindung an »Gesetz und Recht« . . . . . . . . . . . II. Zur Struktur der Regel – das Toulmin-Schema 1. Die Begründung der Prämisse . . . . . . . 2. Allsätze – Regel und Ausnahme . . . . . . 3. Struktur der Regelbindung . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

322 323

. . . .

324 325 326 329

III. Regelbindung und Richterrecht . . . . . . . . . . . . . 1. Justizgewährleistungsanspruch . . . . . . . . . . . 2. Rechtserzeugung und Urteilsgründe . . . . . . . . . a) Gesetzesnorm und Entscheidungsnorm . . . . . b) Ausnahmeregeln und Regelungen durch unbestimmte Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . 3. Offene Regelungen – gesetzgeberische Gründe und die Mechanismen der Konkretisierung . . . . . . . . . . a) Gesetzgeberische Gründe . . . . . . . . . . . . . b) Probleme der Konkretisierung . . . . . . . . . . ba) Der Umgang mit vagen Begriffen . . . . . . . bb) Konkretisierung durch ergänzende Regeln . . bc) Regelbindung und Einzelfallentscheidung . . 4. Wertbegriffe und Wertewandel als Problem der Regelbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331 331 333 333

IV. Vertikale Struktur der Regelbindung – Gesetzesbindung und Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Gesetz – nur ein Topos? . . . . . . . . . . . . . 2. Das Mehrebenensystem – das Regelwerk der Regelbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der systemtheoretische Ansatz: Gesetz und strukturelle Koppelung . . . . . . . . . . . . . . .

335 336 336 337 337 339 342 342 345 345 347 350

Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache . . . . . . . .

355

I.

Der Gerichtssaal als Kommunikationsraum . . . . . . . 1. Alltagssprache – Fachsprache . . . . . . . . . . . . 2. Die Janusköpfigkeit der Rechtssprache . . . . . . . .

356 357 358

II. Recht und Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Gebrauchstheorie der Bedeutung . . . . . . . . 2. Die Gebrauchstheorie – das Gebot des korrekten Gebrauchs (Exkurs III zu Wittgenstein) . . . . . . .

361 362

14 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

364

Inhaltsverzeichnis

3. Sprachspiel, Intersubjektivität und Interpretationsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . III. Juristische Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textverstehen – ein Gedankenexperiment . . . . . 2. Das Spezifische juristischer Semantik . . . . . . . 3. Vom »invisible-hand Phänomen« zur gerichtlichen »Definitionskompetenz« . . . . . . . . . . . . . . a) Die Perspektive des »semantischen Kampfes« . b) Gerichtliche Definitionskompetenz . . . . . . . 4. Semantische Stabilität und semantische Spielräume

. . .

369 370 372

. . .

373 373 374 375

. . . .

377 378 380 381 383

. . . . . . . . . . . .

386 388 390

. . . . . . . . . . . .

391 394 396

. . . .

398

. . . . . . . . .

403

IV. Wortbedeutung – Rechtsbegriff, Hypertext und Rechtsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Rechtsbegriff – zur juristischen Begriffsbildung 2. Recht als Hypertext . . . . . . . . . . . . . . . . a) Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der »Hypertext Recht« . . . . . . . . . . . . . V.

Die »Wortlautgrenze« . . . . . . . . . . . . . . 1. Notwendige Differenzierungen . . . . . . . 2. Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . a) »Wortlautgrenze« – Sprachwandel und Sprachebenen . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestimmungskriterien . . . . . . . . . . 3. Art. 20 Abs. 3 GG und die »Wortlautgrenze« 4. Zur Veranschaulichung: BAGE 137, 275–291 (sachgrundlose Befristung) . . . . . . . . .

Kapitel 18: Recht – System – Kohärenz I.

367

Paradigmen des Systemdenkens: Positivismus – Topik – Wertsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Begriffsjurisprudenz – Paradigma 1 . . . . . . . 2. Der Gesetzespositivismus – Paradigma 2 . . . . . . 3. Die Topik – Paradigma 3 . . . . . . . . . . . . . . . a) Antipositivistische Positionen . . . . . . . . . . b) »Topik und Jurisprudenz« – Theodor Viehweg . . c) Axiomatisches System vs. Topik – eine schiefe Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Topoikataloge und System . . . . . . . . . . . .

403 404 406 407 408 410 412 414

15 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Inhaltsverzeichnis

e) System – Topik – Gerechtigkeit . . . . 4. Wertsysteme – Paradigma 4 . . . . . . . . a) Zum Systembegriff . . . . . . . . . . . b) Zum Sinngehalt des »grundrechtlichen Wertsystems« . . . . . . . . . . . . . c) Das »Wertsystem« – die Schöpfung einer Grundrechtstheorie . . . . . . . . . . . 5. System und Gerechtigkeit – ein Fazit . . .

. . . . . . . . . . . . . . .

415 417 419

. . . . .

420

. . . . . . . . . .

422 424

II. Juristisches Systemdenken – Elemente und Funktionen 1. Elemente eines juristischen Systems . . . . . . . . a) Rechtsbegriffe, Rechtsfiguren und Rechtsformen b) Interessen, Werte und Prinzipien . . . . . . . . c) Erste Folgerungen für die Systemstruktur . . . d) Präjudizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zu den Funktionen juristischer Systeme . . . . . . III. Systemdenken – juristische Theorien, Kohärenz und Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Dogmatik und »gesatzte Normen« . . . . . . . b) Dogma – Dogmatik und das MünchhausenTrilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zur Unterscheidung von Theorien und Dogmatik d) Das Problem des Geltungsgrundes . . . . . . . . . e) Zur Rechtssatzqualität des Richterrechts (II) . . . .

. . . .

425 425 426 428 430 432 435

. . . . .

438 439 440 441 442

.

445 447 448 450

.

. .

IV. Rechtsdogmatik und Methode . . . . . . . . . . . . . 1. »Stoppregel« – kein »Negationsverbot« . . . . . . . 2. Das »Berücksichtigungsgebot« und seine methodischen Regeln . . . . . . . . . . . . . . . .

453 454

Kapitel 19: Kohärenz und die Einheit der Rechtsordnung

457

I.

457 458 459

Zum Systemcharakter des Rechts . . . . . . . . . . . . 1. Das Rechtssystem – ein kohärentes System? . . . . . a) Das »grundrechtliche Wertsystem« als Matrix? . . b) Die Systemstruktur und die Unverträglichkeit der Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

454

460

Inhaltsverzeichnis

c) Die »wertgebundene Ordnung« und die Kohärenz des Rechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . d) Widersprüchliche Wertungsmuster – Inkohärenz der Rechtsordnung(en) . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Rechtssystem – ein Gefüge partieller, temporär kohärenter Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Einheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . 1. Widersprüche und Kollisionsregeln . . . . . . . . . 2. Kohärenz und Kompetenzkonflikte – Gerichte und Rechtsordnungen im europäischen Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung – die verfassungsrechtliche Perspektive . . . . . I.

Das Ziel der Auslegung – der traditionelle Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Streitstand – die Grundpositionen . . . . . . .

II. Die Vorgaben des GG aus der Perspektive historischer Auslegung – welche Maßstäbe hat der Verfassungsgeber gesetzt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erste Konsequenzen aus Art. 20 Abs. 3; 103 Abs. 2 GG 2. Erste Konsequenzen aus dem Gewaltenteilungsprinzip 3. Konsequenzen aus der Bindung an »Gesetz und Recht« a) »Gesetz und Recht« . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zur Einordnung allgemeiner Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . ab) Zur Einordnung des Richterrechts (III) . . . . 4. Konsequenzen aus der Konkurrenz unterschiedlicher »Gesetzgeber« – »konkurrierende Bindungsformen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Recht – ein Steuerungsinstrument oder ein selbstreferentielles System? . . . . . . . . . . . . . . . 1. Recht als Schöpfung des »Volksgeistes« (Savigny) . . 2. Recht als »vernünftige« Ordnung (urspr. objektive Theorie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

463 464 466 469 470 473 477 479 479 480

483 484 487 490 492 494 494 498 499 500 501 502

17 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Inhaltsverzeichnis

3. Recht als eine vom Gesetzgeber geschaffene Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Recht als politisches Steuerungsinstrument und als »objektives« Ordnungssystem . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Absicht des Gesetzgebers – zur Problematik und Tauglichkeit der historischen Auslegung . . . . . . . . 1. Rüthersʼ Methodenkonzeption . . . . . . . . . . . 2. Kritik der erkenntnistheoretischen Ausgangspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Befunde – Gesetzgebungs- und Begründungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Über die Gründe für unpräzise und unklare Gesetze aa) Gründe juristischer Systemrationalität . . . . ab) Gründe politischer Systemrationalität . . . . b) Die Gesetzgebungsmaterialien in der Gesetzgebungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . 4. Über die Tauglichkeit der Gesetzgebungsmaterialien als Auslegungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . a) Die gesetzliche Regelung als gesetzgeberischer Regelungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetz als Resultante eines Interessenkonflikts – das Problem der Rekonstruierbarkeit des Normzwecks. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Entstehungsgeschichte als relevanter Auslegungsgesichtspunkt – eine Typologie . . . . . V.

Gesetzesauslegung und ihre verfassungsrechtlich vorgegebene Regelstruktur . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegung und ihre pragmatische Ausrichtung (Subsumtion und Rechtsfortbildung – Dogmatik und der Hypertext Recht) . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Ziel der Auslegung aus pragmatischer Sicht b) Auslegung, Subsumtion und Rechtsfortbildung . c) Rechtsermittlung – Dogmatik und der Hypertext Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

504 505 506 508 508 510 514 514 515 515 517 521 522 524 527 528

531 531 533 535

Inhaltsverzeichnis

2. Die Auslegungsregeln – Konzept einer kohärenten Regelstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegung nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Nachrang der objektiv-telelogischen Interpretation – ein Gebot der Gesetzesbindung 3. Der teleologische Ansatz – Funktion und Problematik a) Der Topos unbegrenzter Auslegung . . . . . . . b) Der Bereich unzulässiger teleologischer Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die notwendige Funktion teleologischer Auslegung

536 536 541 542 544 546 547

Teil E Das Erkenntnisverfahren – Mustererkennung und »Fallverstehen« – Entscheidungstheorien

549

Kapitel 21: Mustererkennung und Subsumtion . . . . .

551

I.

Mustererkennung – ein entscheidender Modus der Rechtserkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beispiel »Gesamtwürdigung« . . . . . . . . . . . . 2. Beispiel »Einordnungsmuster« . . . . . . . . . . . .

552 553 554

II. Subsumtion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von der »Begriffsarbeit« zur Mustererkennung . . . 2. Mustererkennung statt Subsumtion . . . . . . . . .

556 557 558

III. Zum Wechselspiel von Subsumtion und Mustererkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das semiotische Dreieck . . . . . . . . . . . . . 2. Das semiotische Dreieck und der Prozess der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfortbildung – Rechtsgefühl, »reflektierende Urteilskraft« und Mustererkennung . . . . . . .

. . . .

559 560

. .

562

. .

564

Kapitel 22: Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster . . . . . . .

567

I.

Phänomene der Mustererkennung und Musterbildung 1. Einübungen in der Juristenausbildung . . . . . . . .

567 567

19 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Inhaltsverzeichnis

2. Mustererkennungen im Prozess des »Fallverstehens« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zugriff auf den Fall . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die drei Phasen des Fallverstehens . . . . . . . .

569 569 570

II. Zur Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. »Schema« und »Paradigma« . . . . . . . . . . . . . 2. Leitbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

572 573 574

III. Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einordnungsmuster . . . . . . . . . . 2. Rechtsanwendungsmuster . . . . . . . 3. Problemlösungsmuster . . . . . . . . 4. Regelungsmuster . . . . . . . . . . . 5. Muster und Sachverhaltskonstituierung

. . . . . .

575 576 577 577 578 579

. . . . . . . .

581

Kapitel 23: Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung . . .

585

IV. Wechsel und Veränderung von Mustern

I.

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

Vom »Hin- und Herwandern des Blicks« und dem hermeneutischen Zirkel . . . . . . . . . . . . . . . . .

587

II. Subsumierende und reflektierende Urteilskraft . . . . .

589

III. Die Vermittlungsfunktion von Mustern . . . . . . . . .

592

IV. Gründe für den gewählten kognitionswissenschaftlichen Ansatz und zu den Grenzen der Analysierbarkeit kognitiver Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Richter – seine Vorurteile und Befindlichkeiten 2. Unhintergehbare Subjektivität – rationale Struktur des analogischen Erkenntnisvermögens . . . . . . . . .

595 596

V.

597

Juristische Muster – Versuch einer kognitionswissenschaftlichen Erklärung . . . . . . . . 1. Kognitive Mechanismen (Exkurs III) . . . . . . . . . 2. Wir alle lernen Muster – aber nicht alle gleich gut . .

598 599 605

Kapitel 24: Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien . . . . . . . . . . . .

609

I.

609

Entscheidungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . .

20 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Inhaltsverzeichnis

II. Entscheidungsstrategie und richterliche Praxis . . . . . 1. Theorien der »rationalen Wahl« und reduktionistische Entscheidungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . 2. Intuitiv-automatische Strategien . . . . . . . . . . .

611 612 612

III. Gemeinsame Bausteine eines kohärenztheoretischen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

613

IV. Gesicherte neurowissenschaftliche Grundlagen (Exkurs IV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

615

V.

616

Die Entscheidungsfindung im Modell . . . . . . . . . .

VI. Konsistenzmaximierungsprozesse vs. »richtige Entscheidung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die notwendige Unterscheidung von »Konsistenz« im Sinne intuitiv-automatischer Entscheidungstheorien und »Kohärenz« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Von der Mustererkennung zum Urteil – zwei grundlegende Einsichten . . . . . . . . . . . . . . .

618

619 620

Teil F Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

623

Kapitel 25: Methoden der Praxis im Wandel

. . . . . .

625

Zur Typik methodischer Regeln . . . . . . . . . . . . . 1. Such- und Begründungsregeln . . . . . . . . . . . . 2. Arbeits- und Anwendungsregeln . . . . . . . . . .

625 625 626

II. Wandel durch moderne Informationstechnologien . . .

627

III. Informationstechnik und die Methoden der Praxis 1. »Methode Simile« . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Methode Stachelschwein« . . . . . . . . . . 3. »Methode Collage« – »copy and paste« . . . . 4. »Methode Sherlock Holmes« . . . . . . . . .

. . . . .

629 629 630 631 633

IV. Der Referenzmaßstab – das idealtypische Prüfprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

635

Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz . . .

639

I.

641

I.

. . . . .

. . . . .

Der theoretische Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . .

21 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Inhaltsverzeichnis

II. Das Postulat der »richtigen Entscheidung« . . . . . . . 1. Die »richtige Entscheidung« – eine Frage im Kontext der Methodendiskussion . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die »richtige Entscheidung« als »regulative Idee« . .

642 643 644

III. Sachverhalt, Rechtsfeststellung, Urteil – Drei Aspekte der Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

647

IV. Die Kohärenzkriterien . . . . . . . 1. Widerspruchsfreiheit . . . . . . 2. Umfassendheit . . . . . . . . . . a) Formel und Katalog . . . . . . b) Umfassendheit und Verfahren 3. Stimmigkeit . . . . . . . . . . . V.

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

649 650 650 651 653 654

Herstellung von Kohärenz – Regeln und Operationen 1. Zum Vorgang des »Eingliederns« – Prozesse des Abgleichens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kohärenz und ihre logischen Operationen . . . . . a) Die Schlussformen . . . . . . . . . . . . . . . b) »Gute Gründe« . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Subsumtion und Abwägung . . . . . . . . . . . . a) Hierarchisierung und Abwägung . . . . . . . . b) Abwägung und Kohärenz . . . . . . . . . . . .

.

654

. . . . . . .

655 655 656 658 662 662 665

VI. Methodik und ihre Grenzen – Offenheit und Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die evolutionäre Struktur des Rechts . . . . . . . . 2. Rechtsfindung und ihre gesellschaftlichen Realitätskoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Grenze des methodisch nicht mehr Vertretbaren

670 671 673 676

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

679

Abgekürzt zitierte Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . .

695

22 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Abkürzungsverzeichnis

a. A.

andere(r) Ansicht

AaO/aaO

am angegebenen Ort

AcP

Archiv für die civilistische Praxis

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

a. F.

alte Fassung

AG

Amtsgericht

AK-ZPO

Alternativkommentar zur Zivilpro­ zessordnung

ArbGG

Arbeitsgerichtsgesetz

AuR

Arbeit und Recht – Zeitschrift

BAG

Bundesarbeitsgericht

BauGB

Baugesetzbuch

BauR

Baurecht – Zeitschrift

BayKAG

Kommunalabgabengesetz Bayern

BB

Betriebs-Berater – Zeitschrift

BbauG

Bundesbaugesetz

BFH

Bundesfinanzhof

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGH

Bundesgerichtshof

BGHSt

Bundesgerichtshof – Strafsachen

BGHZ

Bundesgerichtshof – Zivilsachen

BMF

Bundesministerium der Finanzen

BSG

Bundessozialgericht

BStBl

Bundessteuerblatt

BT

Bundestag

23 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Abkürzungsverzeichnis

BT-Drs.

Bundestagsdrucksache

BurlG

Bundesurlaubsgesetz

B. v.

Beschluss vom

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGG

Bundesverfassungsgerichtsgesetz

BVerfGK

Kammerentscheidungen des Bun­ desverfassungsgerichts

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

DJZ

Deutsche Juristen-Zeitung

DRiZ

Deutsche Richterzeitung

DVBl

Deutsches Verwaltungsblatt

EG

Europäische Gemeinschaft(en)

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Men­ schenrechte

EGRL

EG-Richtlinie

EGV

Vertrag zur Gründung der Europä­ ischen Gemeinschaft

EMRK

Europäische Menschenrechtskon­ vention

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EUV/AEUV

Vertrag über die Europäische Union (EUV) und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)

EuZA

Europäische Zeitschrift für Arbeits­ recht

FGO

EG-Richtlinie

Fn.

Fußnote

GewO

Gewerbeordnung

GG

Grundgesetz

GGO

Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien

GlNr.

Gliederungsnummer

GoA

Geschäftsführung ohne Auftrag

24 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Abkürzungsverzeichnis

GRCh

Grundrechtecharta der EU

GrS

Großer Senat

GS

Großer Senat

GVBl

Gesetz- und Verordnungsblatt

GVG

Gerichtsverfassungsgesetz

Hdb

Handbuch

HGB

Handelsgesetzbuch

h. L.

herrschende Lehre

h. M

herrschende Meinung.

HStR

Handbuch des Staatsrechts

InvZulG

Investitionszulagengesetz

iVm

in Verbindung mit

JöR. n.F.

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge

Juris

Juristisches Informationssystem für die Bundesrepublik Deutschland

JuS

Juristische Schulung – Zeitschrift für Studium und Referendariat

JZ

Juristenzeitung

KO

Konkursordnung

KritV

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissen­ schaft

KrU

Kritik der Urteilskraft – Kant

KrV

Kritik der reinen Vernunft – Kant

KWG

Kreditwesengesetz

LAG

Landesarbeitsgericht

LG

Landgericht

LKV

Landes- und Kommunalverwaltung – Zeitschrift

LS

Leitsatz

LT-Drs.

Landtagsdrucksache

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht

25 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Abkürzungsverzeichnis

m. N./m. w. N.

mit/weiteren/Nachweisen

MüKoBGB

Münchner Kommentar zum BGB

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

NStZ-RR

Neue Zeitschrift für Strafrecht – Rechtsprechungsreport

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungs­ recht

NZA

Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht

o.J.

ohne Jahrgang

OLG

Oberlandesgericht

OVG

Oberverwaltungsgericht

OWiG

Ordnungswidrigkeitengesetz

pr. ALR

Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten

PU

Philosophische Untersuchungen – Wittgenstein

RG

Reichsgericht

RGSt

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen

RGZ

Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen

Rn.

Randnummer

Rs

Rechtssache – Bezeichnung der Ent­ scheidungen des EuGH

RSprEinhG.

Gesetz zur Wahrung der Einheitlich­ keit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes

SchRG

Schuldrechtsmodernisierungsgesetz

SG

Sozialgericht

SGB

Sozialgesetzbuch

SGG

Sozialgerichtsgesetz

Slg.

Sammlung – die Slg. der Rspr. des EuGH

26 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Abkürzungsverzeichnis

StGB

Strafgesetzbuch

stopp

Strafprozessordnung

str.

strittig

st. Rspr.

ständige Rechtsprechung

ThürKAG

Kommunalabgabengesetz – Thürin­ gen

ThürVBI

Gesetz- und Verordnungsblatt für den Freistaat Thüringen

TKG

Telekommunikationsgesetz

TzBfG

Teilzeit- und Befristungsgesetz

unstr.

unstrittig

VermG

Vermögensgesetz (Gesetz zur Rege­ lung offener Vermögensfragen)

VG

Verwaltungsgericht

VGH

Verwaltungsgerichtshof

VO

Verordnung(en)

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

VwGO

Verwaltungsgerichtsordnung

VwVfG

Verwaltungsverfahrensgesetz

WM

Wertpapier-Mitteilungen – Zeit­ schrift

WRV

Weimarer Reichsverfassung

ZGB

Zivilgesetzbuch – Schweiz

ZPO

Zivilprozessordnung

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

27 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Einleitung

Juristen haben ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrer Methode. – Da ist einerseits ihr Selbstverständnis. Die Fähigkeit, auch einen unbekannten Fall methodisch so zu lösen, dass andere, Juristen wie auch Laien, seine Einschätzung als professionelle Lösung akzeptieren können, macht die Professionalität des Juristen aus. Doch: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie«, sagte der Teufel (alias Mephisto) zum Scholaren und dieser stimmte freudig zu: Zum Selbstverständnis des Juristen gehört es keineswegs – und das ist die andere Seite –, dass man sich auch entsprechend ausgiebig der Methodenlehre als theo­ retischem Fach gewidmet hat und sich in der Methodendiskussion auskennt, wie man sich in der Rechtsprechung seines Fachgebietes auskennen muss. Man lernt die juristische Methode zumeist nicht aus Lehrbüchern und in Vorlesungen zur Methodenlehre, man lernt sie in Übungen und Klausurenkursen, aus Fallsammlungen und »Kochbüchern«. Für die methodischen Regeln schließlich, die der Richter braucht – etwa für die »Tatsachenarbeit«, den Umgang mit Präjudizien oder juristischen Datenbanken –, ist eine theorieferne Einübung in die Praxis dann nahezu Prinzip. Erlernt werden sie im Verfahren »learning by doing« und/oder, je nach Situation, die die Proberichterin oder der Proberichter in einer Kammer antrifft, auch über »Meister-Schüler-Beziehungen«. – Das Ergebnis ist eine »Gebrauchsmethodik«. Methodik wird nach dem Motto gehand­ habt: »Methode hat man, über Methode spricht man nicht!«1

I. »Methode hat man« – man hat ein Wissen um die für die tägliche Pra­ xis notwendigen Handwerksregeln und Routinen. Wer in der Routine steckt, denkt über sie nicht nach. Der Vorteil von Handwerksregeln liegt ja nicht zuletzt darin, dass sie auch ohne weiteres Nachdenken 1

A. Voßkuhle 202, S. 175.

29 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Einleitung

gehandhabt werden können und funktionieren. Funktionieren kann diese Gebrauchsmethodik freilich nur so lange, als die Methode, »die man hat«, die Praxis (noch) hinreichend erfasst und es der Metho­ denlehre, die hinter den Routinen steht, auch zugetraut wird, ihre Aufgabe zu erfüllen und die Praxis zu steuern. Beide Voraussetzungen können heute aber nicht mehr als gegeben unterstellt werden. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Zunächst zu denjenigen, die in der Praxis selbst liegen. 1. Ein erster Grund ergibt sich aus dem Befund, dass sich sowohl die praktischen als auch die theoretischen Bedingungen richterlicher Arbeit in den letzten Jahrzehnten z. T. so grundlegend verändert haben und noch stärker verändern werden, dass die hergebrachten methodischen Regeln – Auslegungsregeln und Subsumtion – die Praxis nicht mehr adäquat erfassen können. Seit der Zeit, als die Juristen begannen, in nennenswertem Umfang mit gedruckten Büchern zu arbeiten, hat es keinen so einschneiden­ den Wandel in ihren Arbeitstechniken gegeben. Um ein konkretes Beispiel herauszugreifen: Hatte ein erstinstanzlicher Richter noch in den 1980er Jahren oft nicht mehr als einen, meist schon älteren, Standardkommentar auf seinem Schreibtisch, steht ihm heute über Datenbanken nahezu die gesamte relevante Rechtsprechung zur Ver­ fügung. Datentechnik und Informationstechnologie bestimmen so zunehmend Techniken, Muster und Stil, mit denen der Richter Informationen aufnimmt und verarbeitet – also die Methode, die »man hat«. Auch die Integration von Datenbanknutzung und Textpro­ duktion ist am juristischen Arbeitsplatz weitgehend zur Selbstver­ ständlichkeit geworden. Und die generelle Einführung der elektroni­ schen Akte wird diese Integration richterlicher Arbeit in Architektur und Strukturen der eingesetzten Informationstechnik demnächst noch um entscheidende Schritte verstärken.2 2. Zu analysieren ist aber nicht nur eine »Rechtsfindung«, die sich immer stärker von der Auslegung zur Rechtsermittlung über Datenbanken verschiebt. Die am Kodifikationsmodell entwickelte Auslegungstheorie3 kann sich auch immer weniger an diesem Ideal­ typ eines Gesetzes bewähren. Wesentliche Entwicklungen in Rechts­ gebieten wie z. B. dem Arbeits- oder Gesellschaftsrecht lassen sich Zu diesem Zusammenhang von Informationstechnik und Methode meine Beiträge Strauch 2007 und Strauch 2009. 3 Nachweise bei Hassemer 2004, S. 252 ff.; Strauch 2002, S. 312 ff. 2

30 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

II.

mit dem herkömmlichen Instrumentarium der juristischen Methode kaum noch als methodisch abgeleitete Rechtsfindung rekonstruie­ ren. Da eine juristische Methode immer von dem Wechselspiel zwischen Gesetzgebungs- und Rechtsprechungspraxis abhängig ist, ergeben sich auch aus dem europäischen Mehrebenensystem – nationaler Gesetzgeber, EU-Richtlinien, EuGH-Rechtsprechung – neue Anforderungen an das methodische Instrumentarium; Diskus­ sionen über die klassischen Streitfragen um die so genannte objektive oder subjektive Auslegungstheorie gehen dann oft schon an den Gegebenheiten vorbei. 3. Ein weiterer und entscheidender Grund, über Methode zu sprechen, liegt schließlich in dem Umstand, dass die Erkenntnis- und Handlungsprozesse, die die Sachverhaltsfeststellungen bestim­ men, für die herkömmliche Methodenlehre weitgehend außerhalb des Blickfeldes liegen. Für eine Methodik der gerichtlichen Praxis ist die Feststellung dessen, »was Sache ist«, aber von zentraler Bedeutung, und für diese Prozesse gilt es, systematisch Strukturen und Regeln zu beschreiben. »Rechtens« kann eine Entscheidung nur sein, wenn auch ihre Tatsachengrundlage »richtig« ist.

II. Über Methode zu sprechen, kann aber nicht nur heißen, über die genannten Gründe zu diskutieren und über Abhilfen und Mängelbe­ seitigungen nachzudenken. Die Gründe für das Unbehagen an der Methodik liegen tiefer. Zu reden ist zunächst über das Selbstver­ ständnis, mit dem Richterinnen und Richter – die im Folgenden nur noch unter der Funktionsbezeichnung »Richter« firmieren – das gerichtliche Erkenntnisverfahren eigentlich betreiben – und betreiben sollten. Aber zu fragen ist nicht nur nach dem wünschbaren Ethos und nach der richterlichen Methodenbefindlichkeit. Noch wichtiger sind die Antworten, die wir erwarten können, wenn wir die Methodenlehre auf dieses Selbstverständnis hin befragen. 1. Einen anschaulichen Einblick in das richterliche Selbstver­ ständnis gibt die 1988 von J. Schmid u. a. durchgeführte und 1997 publizierte empirische Studie »Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt«. Bereits einleitend möchte ich auf sie näher eingehen, weil sie nicht nur dieses Selbstverständnis, sondern auch die unter­

31 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Einleitung

schiedlichen Perspektiven der »Methodentheoretiker« und der rich­ terlichen Praktiker hervortreten lässt. Zum anderen ist sie eine der wenigen empirischen Studien über methodisches Verhalten von Richtern. Zugrunde lag ihr ein Arzthaftungsfall mit drei Klageanträ­ gen (Schmerzensgeld, monatliche Rente und Feststellungsantrag hin­ sichtlich der materiellen und immateriellen Schäden). Beteiligt waren 52 Richterinnen und Richter (AG, LG, OLG). Sie konnten auf ein chir­ urgisches und ein neurologisches Gutachten zurückgreifen sowie auch auf Krankenunterlagen und vier Zeugen. Mündliche Verhandlungen und Beweisaufnahmen wurden als Simulationen durchgeführt. Auffallend waren zum einen die erheblichen Varianzen, die sich sowohl im richterlichen Entscheidungsverhalten als auch bei der Entscheidungsfindung zeigten. Die vorgelegten 51 Entscheidungen kamen zu 13 unterschiedlichen Urteilen – wobei weder die Diver­ genzen in den Beträgen, die bei teilweiser Stattgabe zugesprochen wurden, noch die in den herangezogenen Anspruchsgrundlagen und Begründungen berücksichtigt sind. Die Befunde, so J. Schmid in ihrem Resümee, legten »die Vermutung nahe, daß der Zufall bei der Konsti­ tution des Rechtsfalles eine größere Rolle spielen könnte, als ihm in der Literatur bislang zugestanden wird«.4 Aber nicht nur dieses Fazit über die Rolle des Zufalls fordert zum Nachdenken über Methode heraus, sondern vor allem auch die kollegialen Reaktionen auf die unterschiedlichen Ergebnisse. Sie werden wie folgt beschrieben »Regelmäßig wurde in den sich an die Verhandlungssimulation anschließenden Nachbefragungen nicht nur die Vermutung geäußert, wie die Mehrheit geurteilt zu haben, sondern die meisten Richter waren der Ansicht, daß der von ihnen eingeschlagene Weg die einzig ›richtige‹ Lösung sei. Viele Richter artikulierten ihre Verwunderung darüber, daß von Kollegen eine andere Begründung vorgezogen wor­ den sei, und sprachen in diesem Zusammenhang von der ›Eindeutig­ keit‹ des Falles. Auffällig war auch, daß viele Richter, unabhängig davon, ob sie sich der Mehrheitsmeinung oder der Minderheitsmei­ nung zuordneten, nach den anderen Lösungen und deren Häufigkeit fragten und diese Lösungen mit zum Teil zynischen Bemerkungen versahen: ›absurd‹, ›Quatsch‹, ›eigentlich überhaupt nicht zu beurtei­ len‹, ›dazu konnte man nicht kommen‹, ›unglaublich‹, ›spitzfindig‹, ›Unschlüssigkeit wäre eine glatte Fehlentscheidung – bei so etwas werde ich giftig‹, ›abwegig‹, ›weltfremd – das sind die, die die Hose 4

J. Schmid 1997a, S. 114.

32 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

II.

mit der Beißzange anziehen‹, ›nicht richtig, dies so zu behandeln‹, ›seltsam‹! …«5 Hier werden offenbar nicht nüchtern unterschiedliche Ergebnisse registriert; diese Unterschiede lösen vielmehr massive Emotionen aus. Das richterliche Selbstverständnis – eingangs nur als professio­ nelle Perspektive genutzt – scheint hier im Nerv getroffen. Völlig anders dagegen die Sicht des »Methodentheoretikers«: Er zeigt sich verwundert, dass die Richter mit den unterschiedlichen Ergebnissen Probleme haben. Sein Kommentar im unmittelbaren Anschluss an die Zitate: »Es scheint – bei vorsichtiger Bewertung dieses Phäno­ mens – offensichtlich immer noch die Meinung vorzuherrschen, dass richterliche Entscheidungstätigkeit keine interpretative, sondern eine subsumtive Tätigkeit mit Richtigkeitsgewähr ist, eine Vorstellung, die ganz offensichtlich aus der der antizipierten Vereinheitlichung und Typisierung durch Präjudizien und dogmatische Konstruktionen erzielt wird.«6 2. Über diese unterschiedlichen Perspektiven wird in diesem Buch zu reden sein, wenn es darum geht, über Aufgabe und Zustand der juristischen Methode nachzudenken. Da ist die typische Beobach­ terposition des Theoretikers, der als Befunde eine bisher so noch nicht gesehene Rolle des »Zufalls« und auf Seiten der richterlichen Akteure theoretische Naivität und unreflektierte Vorverständnisse konstatiert. Was er nicht sieht, weil es wahrscheinlich außerhalb seiner Perspek­ tive liegt, ist die zentrale Rolle, die das »richtige Ergebnis« für den Richter spielen muss. Wir werden also der Frage nicht ausweichen können, die jeder Methodenskeptiker schnell als Zeichen unreflek­ tierten Methodendenkens verspotten würde: Gibt es die »richtige Entscheidung«? Sie gibt es sicher nicht als die objektiv einzig richtige Entscheidung, die heute mit Dworkins Bild vom allwissenden »Richter Herkules« beschrieben wird. Notwendig ist die Perspektive der »richtigen Entscheidung« aber als »regulative Idee«.7 Zu verste­ hen ist diese nicht als Ideal, das auch faktisch erreichbar wäre. Zu verstehen ist sie als konstruktionsbedingter Fixpunkt, ohne den wir juristische Methode – so wir diese nicht nur als Beschreibung rheto­ rischer Figuren verstehen – weder entwickeln noch verstehen, noch sinnvoll handhaben können. Sie ist ihr konstituierendes Prinzip. 5 6 7

Th. Drosdeck 1997, S. 24. Th. Drosdeck 1997, S. 24 f. Im Anschluss an Kant, KrV A 644/B 672; näher Kap. 26 I.

33 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

Einleitung

Sie ist auch das Prinzip, an dem sich der Richter letztlich allein der Sinnhaftigkeit seiner Praxis vergewissern kann. Insoweit gibt es auch den elementaren Zusammenhang zwischen dem Postulat der »richti­ gen Entscheidung« und dem richterlichen Selbstverständnis. Sinnvoll zu diskutieren ist der Gedanke der »richtigen Entscheidung« aber selbst als »regulative Idee« nur, wenn davon auszugehen ist, dass die juristische Methode ihre Aufgabe, die Urteilsfindung durch Regeln zu steuern, prinzipiell auch erfüllen kann – und sie diese Funktion auch erfüllen muss, weil die Einhaltung dieser Regeln eine notwendige Bedingung für die »Richtigkeit« ist. Konkreter werden wir das Postulat der »richtigen Entscheidung« als »regulative Idee« also erst im Schlusskapitel bestimmen können (Kap. 26 I.). 3. Genau diese Voraussetzung wird jedoch in der Methodenlehre vielfach in Zweifel gezogen. Und es ist in der Tat nicht zu bestreiten, dass sich der theoretische Anspruch der Methodenlehre, Rechtsan­ wendung und Rechtsfindung voraussehbar und nachvollziehbar zu machen, allzu oft nicht bestätigt. Nicht die Rechtsbindung des Rich­ ters erscheint als das richtige Bild, sondern der desillusionierende Vergleich des Gerichts mit den Unberechenbarkeiten der hohen See. Angesichts dieses Befundes sind drei grundsätzliche Reaktionen zu verzeichnen: Da sind die Methoden-Skeptiker, die nur sagen können: Anderes kann man auch nicht erwarten, denn das, was man »Rechts­ wissenschaft« nennt, sei bei Lichte betrachtet eigentlich nichts ande­ res als ein Zweig der Rhetorik, die Hoffnung auf wissenschaftlichmethodisch abgesicherte Ergebnisse sei also gleichsam a limine zum Scheitern verurteilt. Methodenlehre solle diesen rhetorischen Cha­ rakter nur verschleiern.8 Ein ähnliches Ergebnis intendieren Ansätze, die der philosophischen Hermeneutik folgen. Die Argumentation ließe sich hier so beschreiben: Gesetzesauslegung vollziehe sich in einem hermeneutischen Prozess und diesem Prozess sei eine prinzi­ pielle Unbestimmtheit eigen – die Unendlichkeit der Interpretation.9 8 Charakteristisch Ballweg 1970; näher zur »Mainzer Schule« Lege 1999, S. 434 f. Methode wird weitgehend auf Argumentationstheorie reduziert und diese wesentlich auf die Analyse der rhetorischen Figuren in den Urteilsgründen; repräsentativ die Arbeiten von K. v. Schlieffen; vgl etwa dies. 2011, JZ 2011, S. 109–116. Kritisch U. Neumann 2008, S. 239 f.; H. Wohlrapp 2008, S. 148. 9 Im philosophischen Zusammenhang gut dargestellt bei D. Mersch 1993, S. 105 ff., 132 f.; aus juristischer Sicht M. Frommel 1981; D. Simon 1975, S. 74 ff.; 94 ff. Die neuere juristische Hermeneutik beruft sich zwar auf Gadamer; übergeht dabei aber, dass Heidegger und auf ihm fußend Gadamer ihre Hermeneutik ausdrücklich nicht

34 https://doi.org/10.5771/9783495999424 .

II.

Die dritte Reaktion, die Gegenposition, sieht demgegenüber prinzipi­ ell Möglichkeiten, den genannten, ernüchternd negativen Befunden zum Positiven abzuhelfen; man kann diesen Weg als den Versuch beschreiben, das vorhandene Instrumentarium, das die Auslegungs­ regeln bieten, zu optimieren, zu schärfen und zu präzisieren. Um zur Veranschaulichung Namen und Beispiele zu nennen, seien insbeson­ dere B. Rüthers genannt mit seiner Forderung: zurück zur subjekti­ ven, d. h. historischen Auslegung10 oder Koch/Rüßmann mit ihrem analytisch-linguistischen Ansatz.11 Dafür, dass es mit diesen Ansät­ zen wirklich gelungen wäre, die Rechtsanwendung berechenbarer zu machen, sind überzeugende Nachweise freilich nicht gelungen.12 Auch die Empirie ist, wie eben gezeigt, über diese Feststellungen nicht hinausgekommen. Ausgehend von dem Zentralelement der herkömmlichen Methoden­ lehre, der Gesetzesauslegung, hatte H.-J. Koch in den 90er Jahren konstatiert: »Die Diskussion um die Gesetzesauslegung pendelt seit Jahrzehnten zwischen einem vermeintlich rechtsstaatlichen, in Wahrheit nur realitätsblindem Gesetzbindungsdogmatismus einer­ seits und einer Bindungsskepsis.«13 Im Kern trifft diese Feststellung die entscheidende Diskussionslinie der 60er Jahre genauso wie die gegenwärtige.14 – Aber ist mit ihr auch bereits alles Wesentli­ che gesagt? Sicher ist: Das Ideal einer Methode, die den Rechtsfindungsprozess präzise steuert, wird uns aus prinzipiellen Gründen verschlossen bleiben. Selbst bei gleichen Sachverhalten wird es immer eine Streu­ breite juristischer Lösungen, richterlicher Entscheidungen geben, die unaufhebbar ist. Menschliche Kognition ist nicht programmierbar. Dieser Punkt scheint heute keiner Diskussion mehr zu bedürfen. Doch Kognition ist eben auch nicht nur ein Prozess unergründlicher Will­ als Methodik (miss-)verstanden wissen wollten; mit den klaren Worten Gadamers 1990, S. 3: »Die Hermeneutik […] ist […] nicht etwa eine Methodenlehre«. 10 Siehe u. a. Rüthers 2006, S. 56 ff.; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 778 ff. 11 Koch/Rüßmann 1982. 12 Zum Ansatz von Rüthers ausführlich Kap. 20. Die analytischen Ansätze sind im Zusammenhang der jeweiligen Problemlagen zu erörtern – etwa der Anwendung von Wahrscheinlichkeitsberechnungen im Bereich von Indizienbeweisen. 13 H.-J. Koch 2003, S. 248; gehalten wurde der Vortrag 1995. 14 Die bibliographischen Kommentare von D. Simon, 1975, geben deshalb über die Grundpositionen immer noch einen guten Überblick. Aktueller der eher beschrei­ bende Überblick über die »Haupt- und Gegenströmungen in der juristischen Metho­ dik« von W. Krawietz 2011.

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Einleitung

kür; es sind Prozesse, die analysierbar sind und Regeln folgen. Allein auf den dezisionistischen Charakter richterlicher Entscheidungsfin­ dung15 lassen sich die grundlegenden theoretischen Einwände gegen die Möglichkeiten juristischer Methodik also nicht stützen. Viel eher bedarf die Annahme, dass für die juristische Methode nur diejenigen kognitiven Prozesse von Bedeutung sind, die man in Auslegungs- und Subsumtionsregeln greifen und begreifen kann, einer grundsätzlichen Diskussion. Und damit steht auch die theoretische Grundausrichtung der herrschenden Methodenlehre zur Diskussion: ihre hermeneuti­ sche Fixierung auf das Verstehen von Gesetzestexten. Mit der Eröffnung einer solchen Diskussion ist aber schon ein ent­ scheidender Wechsel in der theoretischen Perspektive vollzogen, durch die das methodische Denken bestimmt wird. Nicht, dass Gesetzestexte unwesentlich wären, aber Thema dieses Buches ist das methodische Vorgehen des Richters und dieses erschöpft sich nicht in der Gesetzesauslegung. Methodisch sollen nicht nur Rechtsanwen­ dung (Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung eingeschlossen) und Sachverhaltsfeststellung sein; Gegenstand einer Methodenlehre der richterlichen Praxis sind prinzipiell alle Prozesse richterlicher Kogni­ tion, die zu einer richterlichen Entscheidung führen. – Notwendig ist also nichts weniger als eine grundlegende Neuorientierung der Methodenlehre. Diese muss mehr sein, als ein weiterer Versuch, die Konstruktionsprinzipien und Annahmen, mit denen die Methoden­ lehre bisher gearbeitet hat, mehr oder minder zu verbessern. Für eine Neu-Konzeption bedarf es vor allem eines Paradigmenwechsels in den theoretischen Grundlagen. Es wird deshalb ein wesentliches Ziel dieses Buches sein, zu zeigen, dass mit dem Verständnis von juristischer Methode als Herstellung von Kohärenz (auf allen Stu­ fen richterlicher Informationsverarbeitung) für ein solches Konzept auch eine tragfähige theoretische Grundlage zur Verfügung steht. Der kohärenztheoretische Ansatz gibt so das Modell für eine theoreti­ sche Struktur vor, die es ermöglicht, die richterliche »Tatsachen- und Rechtserkenntnis« nicht nur punktuell, sondern in ihrer Komplexität zu erfassen.

15

So dezidiert C. Schmitt 1912.

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III.

III. Die Grundgedanken, die dieser Neu-Konzeption der richterlichen Methodik zugrunde liegen, lassen sich in drei Thesen zusammenfas­ sen: Erste These: Methode ist immer auf die Praxis, das praktische Feld bezogen, in der sie ihren Gegenstand findet. Die Praxis der »Rechtspre­ chung« ist eine andere als etwa die der »Rechtswissenschaft« oder die des Klausurenschreibens. Dem hat die Methodik durch eine konsequente Ausrichtung auf die richterliche Praxis Rechnung zu tragen.16 Zweite These: Gegenstand einer Methode des »gerichtlichen Erkennt­ nisverfahrens« sind all die Operationen, die der Richter auf dem Weg zu einer Entscheidung in diesem Verfahren vornimmt. Dritte These: Methode wird als Herstellung von Kohärenz verstanden, die alle Prozesse richterlicher Kognition umfasst – und nicht mehr nur als Beachtung explizierter Regeln, die aus dem Gesetz die richtige Ableitung dessen gewährleisten sollen, was konkret rechtens ist.

Das Methodenverständnis, das mit diesen Thesen skizziert ist, hat auch den gewählten Titel dieser Methodenlehre bestimmt: 1. Man kann den Titel zunächst durchaus konservativ verste­ hen: Üblicherweise und ganz selbstverständlich wird das Urteils-, Klage- oder Entscheidungsverfahren in der Prozessrechtslehre als »Erkenntnisverfahren« bezeichnet.17 In diesem Sinne dient der Begriff schlicht dazu, den Handlungszusammenhang abzustecken, den die Methodenlehre erfassen will, und ihn von dem der Rechtswis­ senschaft oder dem des Rechtsanwaltes abzugrenzen. Entsprechend erfolgen auch in der Prozessrechtsliteratur keine näheren Reflexionen über die Bedeutung des Wortes »Erkenntnis« in dem Begriff des »Erkenntnisverfahrens«; man behandelt ihn mit Selbstverständlich­ keit ausschließlich im Begriffsfeld der Prozessrechtsterminologie,18 d. h. zur Abgrenzung vom Vollstreckungs- und Arrestverfahren. – Im Gegensatz dazu soll der Begriff hier aber schon im Titel klarstellen,

16 Es geht mir also nicht um das hergebrachte »Theorie-Praxisproblem« als Problem der Integration von Theorie und Praxis, etwa in der Juristenausbildung. 17 Vgl. etwa Rosenberg/Schwab/Gottwald Rosenberg/Schwab 2010, § 1 Rn 17; Jauernig, Zivilprozessrecht, 29. Aufl., 2007, § 2 I; A. Blomeyer 1985, § 3, 1. 18 Eine wesentliche Ausnahme macht die Schrift von J. Rödig 1973, dem es um die Untersuchung des Rechtsanwendungsprozesses »in seinen logischen Struktu­ ren« geht.

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Einleitung

dass sich für eine Methodik des »Erkenntnisprozesses«19 immer und unhintergehbar auch die Frage nach den erkenntnistheoretischen Bedingungen und Voraussetzungen von Sachverhaltsermittlung und Rechtserkenntnis stellt. 2. Außerhalb des Begriffsfeldes der Prozessrechtsterminologie liegt dagegen der Untertitel: »Prozesse richterlicher Kognition«. Schon im Titel soll damit deutlich gemacht werden, dass »Erkenntnis« nicht nur auf die »Erkenntnisse« beschränkt werden darf, die sich auf deduktive, logisch zwingende Schlüsse zurückführen lassen. Nur ein weiter Begriff des »Erkennens«, der grundsätzlich alle kognitiven Pro­ zesse erfasst, die zur »Entscheidung« oder, wie es in Österreich heißt, zu einem »Erkenntnis« führen, ermöglicht es auch, für Beschreibung, Analyse und das Verstehen solcher Prozesse und ihrer Mechanis­ men auf die Kognitionswissenschaften zurückzugreifen. Diese hat die Fokussierung auf die Logik längst aufgegeben. – »Vor hundert Jahren hätte«, schreibt etwa Anderson einleitend in dem Kapitel »Logisches Denken und Entscheidungsfindung« seines Standardlehr­ buches der Kognitiven Psychologie, »ein psychologischer Text, der sich auf ›kognitive Prozesse‹ bezieht, ausschließlich das ›logische Denken‹ behandelt. Die Tatsache, daß im vorliegenden Buch nur ein Kapitel vom logischen Denken handelt, spiegelt die derzeitige Auffas­ sung wider, derzufolge sich ein Großteil des menschlichen Denkens nicht sinnvoll unter dem Gesichtspunkt des logischen Schlußfolgerns betrachten läßt.«20 Nun hat sich auch die juristische Diskussion von der Gleichung Erkenntnis gleich logische Schlussfolgerung befreit; dem ist an die­ ser Stelle aber nicht nachzugehen.21 Hervorzuheben ist jedoch die spezielle Funktion, die dem kognitionswissenschaftlichen Ansatz für ein Zentralproblem der Methodik zukommt: die Rolle des »Vorver­ ständnisses«.22 J. Esser behandelte in seiner überaus einflussreichen Schrift »Vorverständnis und Methodenwahl«23 die Grenzen der her­ kömmlichen Methodenlehre und des sogenannten Justizsyllogismus. Auf den Erkenntnisbegriff bezogen, wird mit der hermeneutischen Schwab/Rosenberg/Gottwald 2010, a.a.O. J. R. Anderson 2001, S. 315. 21 Etwa durch Rückgriff auf die Arbeiten von Ch. S. Peirce und die Figur der Abduktion – vgl. dazu J. Lege 1999 u. L. Schulz 2008, S. 286, 305 ff. sowie Kap. 26 IV. 2. a. 22 Vgl. hierzu die insbesondere auf K. Larenz und J. Esser bezogene Analyse von M. Frommel 1981, S. 83 ff. 23 J. Esser 1972. 19

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Figur des Vorverständnisses also der Bereich abgegrenzt, der jen­ seits des logischen Denkens, der klaren und zwingenden Ableitung liegt. Was aber dieses Vorverständnis nun genau ist, welche Inhalte und Mechanismen hier konkret wirksam sind, blieben weitgehend ungeklärte Fragen.24 Instrumente, um auf diese Fragen Antworten geben zu können, vermochte die Hermeneutik auch nicht zu entwi­ ckeln.25 Mit erkenntnistheoretischen und kognitionswissenschaftli­ chen Ansätzen stehen solche Instrumentarien aber zur Verfügung: Prozesse der Mustererkennung, die Prägung und Steuerung von Vor­ verständnissen durch Interpretationsgemeinschaften, die Bedeutung von Kontexten für die Informationsverarbeitung etc. sind Stichworte zu den Prozessen, die auf ihre methodische Bedeutung hin zu analy­ sieren sind.

IV. Einer Methodik der richterlichen Praxis, der es entscheidend darauf ankommen muss, alle für die Urteilsfindung relevanten kognitiven Prozesse in den Blick zu nehmen, kann dies nur als multiperspekti­ vische Reflexion gelingen. 1. Warum »multiperspektivisch«? Weil die vielfältigen Prozesse, die das »Erkenntnisverfahren« ausmachen, zu einer Komplexität führen, die aus einer theoretischen Perspektive nicht zu erfassen ist. Theorien repräsentieren wohl nicht »die Welt« und liefern keine ausschließlichen Kriterien für »Wahrheit« und »Richtigkeit«, sie müs­ sen aber in ihrer Funktion als »tools for handling«26 verstanden und gehandhabt werden können. So sind konstruktivistische Theorieansätze sehr viel besser als andere geeignet, Grundstrukturen der richterlichen Sachverhaltsfest­ stellung zu beschreiben: Der Sachverhalt ist ein Konstrukt. Das ist einleuchtend, wenn er auf Indizien beruht, die Tat etwa aufgrund von Zeugenaussagen dem Angeklagten zugeordnet wird. Wird diese Zuordnung dagegen auf eine DNA-Analyse gestützt, ist diese Fest­ Zum Begriffsverständnis bei Esser: M. Frommel 1981, S. 90, 93. Mit den Worten D. Simons 1975, S. 96: »Angaben, wie das Vorverständnis in den Griff der Rationalität zu bringen sei, konnten von den Hermeneutikern allerdings auch billigerweise nicht erwartet werden.« 26 Nach einer Formulierung Richard Rortys, vgl. M. Frank 1992, S. 25. 24 25

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stellung auf eine völlig andere Weise »konstruiert« und auch in anderer Weise inter-subjektiv verbindlich. Die Argumentation mit konstruktivistischen Ansätzen soll also nicht bedeuten, dass in die­ ser Methodik der »Radikale Konstruktivismus« als alles erklärende »Großtheorie« übernommen wird.27 Menschliche Erkenntnis ist nicht mit stets gleichem Realitätsbezug konstruiert: Wenn wir einen Voo­ doo-Priester beim Regenzauber und eine Sonde nach zehnjährigem Flug bei ihrer nahezu punktgenauen Landung auf einem Kometen analysieren, liegt beiden Vorgängen eine »Konstruktion von Wirk­ lichkeit« zugrunde – beide haben jedoch einen völlig anderen Zugang zur Realität. Das gilt jedenfalls aus unserer kulturellen Erkenntnis­ perspektive, und anders als aus dieser Perspektive kann auch die juristische Methodik nicht reflektiert werden. Auch die Neurowis­ senschaften sind als Grundlage für eine »Großtheorie« ungeeignet. Sie haben für unsere Thematik etwa einen unverzichtbaren Erklä­ rungswert, wenn es um die Einschätzung des Zusammenhanges von Zeugenaussagen und Gedächtnisleistungen geht, überschätzen ihren Erklärungshorizont aber augenscheinlich, wenn sie beim derzeitigen Wissensstand meinen, endgültige Antworten auf die Fragen der Willensfreiheit geben zu können.28 Die zentrale Rolle, die in dieser Methodenlehre die Kohärenztheo­ rie einnimmt, steht zu der Forderung nach multiperspektivischer Reflexion nicht im Widerspruch. Denn anders als Konstruktivismus, Korrespondenz- und Diskurstheorie der Wahrheit macht die Kohä­ renztheorie keine Vorgaben über die Perspektive, aus der Fragen nach »Wahrheit« und »Richtigkeit« zu beantworten sind, indem sie bereits ein bestimmtes Wahrheitsverständnis voraussetzt. Wir haben es vielmehr mit einer ihrer Struktur nach offenen Theorie zu tun, die deshalb auch das strukturell adäquate Instrument ist, um komplexe Zusammenhänge und Prozesse aus unterschiedlichen Perspektiven erfassen und beschreiben zu können. 2. Wenn wir von einer Bindung des Richters an Gesetz und Recht durchaus auch als Faktum und nicht nur als kontraf­ aktische Idee reden können, dann beruht das mithin auf einem 27 Zu Grundüberlegungen des Radikalen Konstruktivismus Strauch, JZ 2000, 1020 m. N. Zur juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht ausführlich K. I. Lee 2010. 28 Zur ersten Übersicht über die inzwischen fast unübersehbare Diskussion mit grundsätzlicher Kritik an den Positionen von G. Roth und dem Neurowissenschaftler W. Singer vgl. Th. Fuchs 2010, S. 77 ff.

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IV.

komplexen Geflecht sehr unterschiedlicher Mechanismen. Stark ver­ einfachend kann man aber zwei Ebenen unterscheiden, auf denen diese Mechanismen zu beschreiben sind: Zum einen die Ebene, auf der die theoretische Grundstruktur einer Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens zu entwickeln ist (insbes. Kohä­ renztheorie, Mustererkennung), und zum anderen die Ebene, auf der die einzelnen, sehr unterschiedlichen methodischen Prozesse zu analysieren und gegebenenfalls auch die dazugehörenden Regeln zu erarbeiten sind. Beide Ebenen werden bei den Lesern auf unterschiedliche Erwar­ tungs- und auch Verständnishorizonte treffen. Auf beiden Ebenen sind jedoch Ableitungen nötig, die auf Wissen, Denkformen und Theorien zugreifen, die außerhalb der Felder liegen, auf denen Juristen sich auskennen und die ihnen vertraut sind. Aber gerade dort, wo es für die theoretische und praktische Neuausrichtung der Methodik darum geht, neue Ansätze zu gewinnen und diese auch zu entwickeln und gegebenenfalls für die Praxis handhabbar zu machen, müssen die entsprechenden Ableitungen auch Schritt für Schritt nachvollziehbar sein. Das verlangt, dass sie aus beiden Perspektiven diskutiert werden können – aus der juristischen und aus der des philosophischen oder jeweiligen wissenschaftlichen Ansatzes. Nur so kann die juristische Methodik auch wieder Anschluss an neue wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Entwicklungen finden. – Aus dieser Not­ wendigkeit folgt aber nicht, dass der Leser dem Autor in allen theoreti­ schen Auseinandersetzungen zwingend bis in die Einzelheiten folgen muss, sondern für ihn unwegsame Passagen auch überfliegen oder überblättern kann, ohne Gefahr zu laufen, den Anschluss an die für die Anwendungspraxis – und das Nachdenken über sie – entscheidenden Überlegungen und Ergebnisse zu verlieren. 3. Neben den genannten zwei Ebenen hat eine Methodenlehre der gerichtlichen Praxis immer noch eine dritte Ebene in die »multi­ perspektivische Reflexion« einzubeziehen: die Richterethik. – Im Ansatz ist die hier vertretene Methoden-Konzeption »szientistisch« oder, passender, »wissenschaftsorientiert«, denn sie versucht, die kognitiven Prozesse, die zur richterlichen Entscheidung führen, mit Hilfe unterschiedlicher wissenschaftlicher Ansätze so zu erfassen, dass man sie in ihrer Regelhaftigkeit beschreiben und analysieren kann. Dieser Ansatz hat jedoch nicht zum Ziel, die Grenzen zu verwischen, die gerade hier jeder Verallgemeinerung, allen überindi­ viduellen Regeln und Routinen gesetzt sind. Richterliche Wertungen,

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Gesamtwürdigungen und Feststellungen, die auf einer »Gesamtschau aller Beweisanzeichen« beruhen, haben ihren »blinden Fleck«; in der Aktion des »Erkennens« ist man nicht zugleich »objektiver Beobach­ ter« dieser Aktion. Entsprechend werden wir bei unseren Analysen immer wieder auf Prozesse stoßen, bei denen eine Schlussfolgerung auch nur noch als »höchstpersönlich« charakterisiert werden kann. Auch diese Prozesse lassen sich freilich objektivieren und als Sach­ verhalte reflektieren.29 Methodisches Arbeiten heißt nicht nur Beherr­ schung von Handwerksregeln, sondern auch, über die Richtigkeit und Angemessenheit der Methoden, »die man hat«, nachzudenken; Methodik ist reflektierter Gebrauch. Über Problemfelder, die beson­ ders kritisch sind und auf denen auch unangemessenes richterliches Agieren besonders häufig zu beobachten ist, wird deshalb in den Prozessanalysen jeweils konkret zu sprechen sein. Gleichwohl ist zu konstatieren: Es ist der Richter, der hier »höchstpersönlich« für sein Urteil einzustehen hat. – Methode der richterlichen Praxis und Rich­ terethik sind keine getrennten Welten. Sie gehen – oft unmerklich – ineinander über.

V. Einen Überblick über den Gedankengang und die zentralen Themen­ stellungen gibt die folgende Gliederung: 1. Als Ausgangspunkt für die nachfolgenden Erörterungen geht es im Teil A vornehmlich darum, den Methodenbegriff so zu bestimmen, dass mit ihm auch grundsätzlich alle für die richterli­ chen Urteils- und Entscheidungsfindung relevanten kognitiven Pro­ zesse erfasst werden können. Am Beispiel der Auslegungsregeln ist zugleich deutlich zu machen, wie stark die methodischen Regeln theo­ rieabhängig sind. Da eine regelgeleitete Anwendung wiederum selbst nicht hinreichend durch Regeln definiert werden kann, muss eine richterliche Methodenlehre mit einem weiten Begriff des Erkennens (Kognition) arbeiten. Zu erfassen sind nicht nur die (oft nicht expli­ ziten) Anwendungsroutinen, die letztlich dafür maßgeblich sind, ob und wie in der Praxis die methodischen Regeln angewandt werden. Ins Bewusstsein zu rücken ist in diesem Zusammenhang insbesondere Ein Versuch, dies methodisch zu tun, findet sich in verschiedenen Formen der »Supervision«.

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die Erkenntnis, dass richterliches Denken nicht nur als individuelles Denken des individuellen Richters verstanden werden darf, sondern entscheidend auch institutionell geprägtes und eingebundenes Den­ ken ist. Ohne die Perspektive der institutionellen Einbindung ist richterliche Methode weder theoretisch noch in der Praxis fassbar. 2. Die zentrale theoretische Perspektive dieses Buches wird durch den Gedanken bestimmt, dass Methode als Herstellung von Kohärenz zu verstehen ist. Ins Auge zu fassen ist unter diesem kohärenztheoretischen Ansatz das gesamte Erkenntnisverfahren – sowohl dessen einzelne Schritte als auch dessen Ergebnis: die »rich­ tige Entscheidung«. In der philosophischen Diskussion spielt »Kohä­ renz« eine entscheidende Rolle als »Wahrheits«- bzw. Richtigkeits­ kriterium. Nutzt man diesen theoretischen Ansatz, lässt sich daraus auch eine Antwort auf die Frage nach der »richtigen Entscheidung« ableiten. Vereinfachend auf eine Faustformel gebracht, lautet sie: »Richtig« ist eine Entscheidung, für die es nach den Umständen, die dem Richter bekannt sind und die von ihm zu ermitteln waren, keine Alternative gab, die im Entscheidungszeitpunkt in sich stimmiger und damit »richtiger« gewesen wäre. – Im Schlusskapitel werden wir Tauglichkeit und praktische Relevanz dieser Formel genauer unter­ suchen. Vorab sind aber im Teil B, gleichsam in einem allgemeinen Teil, die philosophisch-theoretischen Hintergründe der Kohärenz­ theorie, ihre Grundelemente – Widerspruchsfreiheit, Umfassendheit und Stimmigkeit – und ihre Bedeutung für die juristische Methoden­ lehre darzulegen. Zu diskutieren sind auch die Bedingungen, auf denen diese theore­ tische Rolle kohärenztheoretischer Ansätze beruht. Sie liegt in der Grundstruktur pluralistischer Gesellschaften, die für ihre Antworten auf die Frage, was rechtens ist, weder mit dem Verweis auf eindeutige oder allgemein anerkannte Grundlagen noch auf zwingende und im Ergebnis nicht bestreitbare Ableitungszusammenhänge zurückgrei­ fen können. Und alles, was wir über Sprache wissen, lässt keinen Zweifel daran, dass auch das Gesetz solche Ableitungen nicht garan­ tieren kann. Im Ergebnis wächst deshalb anderen Mechanismen, insbesondere der »Akzeptanz«, eine entscheidende Vermittlerrolle zu – so problematisch diese Rolle auch sein mag. 3. Im Teil C geht es darum, systematisch Struktur und Regeln der Sachverhaltsfeststellung zu beschreiben. Die Regeln, die hier zu beachten sind, sind natürlich solche des Prozessrechts (Amtser­ mittlung, Beibringungsgrundsatz, Beweisrecht etc.). Doch die »Tatsa­

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chenarbeit« wird nicht nur durch Rechtsregeln bestimmt, sondern entscheidend auch durch die Art, wie der Mensch/Richter Tatsachen wahrnimmt, Zusammenhänge konstruiert und komplexe Informatio­ nen verarbeitet. Für diese Erkenntnis- und Handlungsprozesse gilt es, Regeln und Richtigkeitskriterien zu ermitteln. 4. Im Gegensatz dazu wird man im Teil D – Determinanten der Rechtserkenntnis – auf bekannte Thematiken stoßen: Recht­ sprechung und Regelbindung, Recht und Sprache, Recht, System und Kohärenz und schließlich: Methode und Verfassung. Bei diesen Instrumentarien der Rechtsermittlung liegt die Aufgabe auch nicht so sehr darin, bisher noch nicht formulierte Regeln aufzudecken, sondern die bekannten, oft aber nur scheinbar vertrauten Regeln den Veränderungen, etwa durch die Informationstechnik, und neuen Befunden anzupassen und sie auch neu zu überdenken. Das Recht hat seine Realität nicht in den Gesetzestexten. 5. Rechtsermittlung und »Tatsachenarbeit« getrennt zu erörtern, entspricht dem methodischen Herkommen. Methodisch erfassbar wird das gerichtliche Erkenntnisverfahren aber nur als ein Prozess, in dem Tatsachen- und Rechtserkenntnis zusammengeführt und verzahnt werden. Anknüpfen lässt sich an die berühmte Wendung Engischs vom »Hin- und Herwandern des Blicks«; zu entwickeln ist – im Teil E – mit dem Gedanken der Mustererkennung aber ein eigenständiges theoretisches Konzept. Ausgehend von der Unter­ scheidung Subsumtion / Mustererkennung, erfolgt die Analyse der kognitiven Prozesse, die das »Fallverstehen«, den ersten Zugriff auf den Fall ausmachen und die dem Richter zugleich die Denk- und Argumentationsfiguren vorgeben, die die kreativen Momente der Rechtsfindung im Wechselspiel von Tatsachenerfassung und richter­ licher Wertung steuern und prägen und am Ende die gerichtliche Entscheidung bestimmen. Da Datentechnik und Informationstechnologie zuneh­ mend Techniken, Muster und Stil bestimmen, mit denen der Richter seine Fälle bearbeitet, kann eine Methodik der Praxis an diesem Befund nicht vorbeigehen. Er gibt deshalb die pragmatische Perspek­ tive vor, unter der im Schlussteil F – Kapitel 25 – die »Methoden der Praxis« zu beschreiben sind. Maßstäbe für eine »richtige Ent­ scheidung« sind auf diesem Wege allerdings nicht zu gewinnen. Im Kontrast zu diesen »Methoden der Praxis« sind deshalb im Kapitel 26 die Regeln und Richtigkeitskriterien, die der Richter im Prozess der Urteilsfindung zu beachten hat, im systematischen Zusammenhang

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darzustellen. Das Schlusskapitel hat mithin Antwort darauf zu geben, wie sich die Ergebnisse der Erörterungen zur Sachverhaltsund Rechterkenntnis sowie zur Mustererkennung mit den Grundge­ danken und Kriterien, die sich aus dem Verständnis von »Methode als Herstellung von Kohärenz« ergeben, zu einem Gesamtkonzept eines »richtigen« methodischen Vorgehens zusammenführen lassen.

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Teil A Methodik der gerichtlichen Praxis – der notwendige Wandel des Methodenbegriffs

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Kapitel 1: Methode – ein Begriff mit vielfältigen Deutungen

Fragen wir, was der Begriff »Methode« besagt, scheint eine brauch­ bare Definition schnell gefunden zu sein: Methode ist ein »auf einem Regelsystem aufbauendes Verfahren, das zur Erlangung von [wis­ senschaftlichen] Erkenntnissen od. praktischen Ergebnissen dient«, heißt es z. B. im Fremdwörter-Duden.30 Die Brockhaus Enzyklopä­ die beschreibt sie als »ein nach Gegenstand und Ziel planmäßiges (methodisches) Verfahren«31 und die »Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie« als »ein nach Mittel und Zweck planmäßiges (=methodisches) Verfahren, das zu technischer Fertigkeit bei der Lösung theoretischer und praktischer Aufgaben führt«.32 Die Metho­ denlehre bestimmt sich dann als die Lehre von diesem Verfahren.

I. Zwingende Regeln oder freie Methodenwahl? Doch in diese Definition fügt sich die juristische Methodendiskussion nur dann nahtlos ein, wenn man sie allein von ihren gängigen Regeln aus – hier den Auslegungs- und Subsumtionsregeln – bestimmt. Aber, und das ist das für Juristen entscheidende Problem, ist mit der Anwendung der Regeln zugleich auch die »richtige«, fachlich nicht mehr angreifbare Lösung garantiert? Hier wird ein Zwiespalt deutlich, den A. Podlech auf folgenden Nenner gebracht hat: Im Allgemeinen gilt: »Die Methodenlehre beschreibt die Kriterien, die die Frage zu entscheiden gestatten, wann ein hinreichend genau umschriebenes Problem als gelöst anzusehen ist«. Da aber »unter Juristen selten feststeht, wann ein Problem als gelöst anzusehen ist, wann also z. B. eine Entscheidung richtig […] ist, gehen sie meist den umgekehrten 30 31 32

Ausgabe 1997. 21. Aufl. 2006. K. Lorenz, EPhWTh (1. Aufl.): Art. »Methode«, Bd. 2, S. 876.

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Kapitel 1: Methode – ein Begriff mit vielfältigen Deutungen

Weg. Sie versuchen nachzuweisen oder gehen davon aus, daß es eine richtige Methode gibt, deren richtige Anwendung das richtige Ergebnis liefert.«33 Beispiele bieten hier die Begriffsjurisprudenz und Vertreter der subjektiven Auslegungstheorie. Diese letztgenannte Position, die das richtige Ergebnis durch klare und eindeutige methodische Regeln – durch Methodensicher­ heit – erreichen will, kommt exemplarisch in der Kritik zum Aus­ druck, die Rüthers an vielen Stellen gegen die in der Praxis der Rechtsprechung geübte »freie Methodenwahl« geäußert hat. So zitiert er etwa den früheren Präsidenten des Bundesverfassungsge­ richts, W. Zeidler, mit dem lakonischen Satz: »Ach, wissen Sie, bei uns hat jeder Fall seine eigene Methode« und nimmt dies als Beleg für sein Verdikt, hier würde »methodische Grundsatzlosigkeit zum theoretischen Prinzip« erhoben.34 Unreflektiert bleibt dabei, dass die Lösung eines wirklich neuen Problems in der Regel auch ein metho­ disch innovatives Vorgehen verlangt – in den Naturwissenschaften eine Selbstverständlichkeit. »Methode« meint – und dies deutet sich bereits in seiner Etymologie an – nicht nur das Beschreiten bekannter Wege. Gebildet ist das Wort aus den griechischen Wörtern »hodos« in der Bedeutung: Weg, Gang, Wegstrecke, Art und Weise der Erklärung und der Präposition »meta« u. a. in der Bedeutung von nach, mitten, hinter, gemäß. Die naheliegenste Bedeutung ist also »im Nach-Gang« (meta-hodos). Methode weist den Weg, den man gehen muss, um zum Ziel zu kommen. Wie aber, wenn Neuland erschlossen werden muss, wenn eine Entscheidung nicht im »Nachgehen« eines bereits vorbegangenen Weges, sondern nur im Voranschreiten in noch unwegsamem Gelände getroffen werden kann? – Auch hier bleibt das Bild des »Weges« entscheidend: Der Weg muss dann so gebahnt sein, dass andere ihn, bequem Regeln folgend, nachgehen können. Er muss »nachvollziehbar« sein, es muss ein Verfahren nach neuen Grundsätzen35 sein. Zur Illustration stelle man sich Examenskandidaten und den gleichen Klausurfall in den Jahren 1956 und 2011 vor, Thema: Berufs­ zulassungsschranken. Seit dem Apothekenurteil des Bundesverfas­ sungsgerichts kann man von jedem Kandidaten verlangen, dass er die in der Entscheidung zur Konkretisierung des Verhältnismäßig­ A. Podlech 1972, S. 492/Fn 5. B. Rüthers 2006, S. 54; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 704. 35 In Abwandlung der Definition Kants: »Wenn man etwas Methode nennen soll, so muss es ein Verfahren nach G r u n d s ä t z e n sein«, KrV B 883. 33

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II. Methode – ein Instrument für unterschiedliche Zielsetzungen

keitsprinzips entwickelte Dreistufentheorie kennt und den Fall »im Nachgang« zur Schrankensystematik dieses Urteils löst. Vor diesem Urteil hätte man den heute üblichen Lösungsweg von keinem der Kandidaten erwarten können und dürfen. Es spricht sogar vieles dafür, dass man einer Klausur, die diese Lösung gewählt hätte, in der Sache »methodische Grundsatzlosigkeit« vorgeworfen hätte. Der Weg, der Problematik des »einfachen« Gesetzesvorbehalts und der »leerlaufenden« Grundrechte statt über eine Wortlautinterpretation, d. h. über den Versuch einer subsumtionsfähigen Begriffsdifferenzie­ rung zwischen »Berufswahl« und »Berufsausübung«, über das Muster des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beizukommen, gehörte noch nicht zum methodischen Repertoire. Methode muss offen sein, sich zu einem neuen Problem über­ haupt einen Weg zu bahnen oder ein altes Problem auf neuen Wegen zu lösen. Wie dies methodisch geschehen kann – ohne sich mit dem Hinweis zu begnügen, hier handele es sich eben um Intuition oder (juristisch) Judiz –, ist eines der Hauptprobleme juristischer Metho­ dik. Einen wesentlichen Ansatz, in diesem noch wenig strukturierten Bereich das methodische Repertoire zu erweitern, sehe ich in einer Lehre der (juristischen) »Mustererkennung« (Teil E). Vorausset­ zung einer solchen Erweiterung des methodischen Repertoires ist aber, dass sowohl die »Wege«, die zu gehen sind, als auch die Instru­ mente und Denkformen von der Methodik nicht starr vorgegeben sind – auch nicht durch dogmatische Vorgabe des Zieles.

II. Methode – ein Instrument für unterschiedliche Zielsetzungen Die Ziele juristischer Methoden, nach denen sich die »Wegführung«, d. h. die Methodenlehre, richten muss, sind – so wird sich im weiteren Verlauf unserer Untersuchungen zeigen – entscheidend von unserem Verständnis von dem abhängig, was »Recht« ist, wie es erkannt werden kann und was ein Urteil gewährleisten soll. Im Spiel sind mit anderen Worten grundsätzliche rechtsphilosophisch-theoretische Positionen. Nicht, um die diversen Zielkonflikte schon zu Beginn zu lösen, sondern um bei der Bestimmung dessen, was unter Methode zu verstehen ist, klarzumachen, wie unterschiedlich deren Ziele sein können, gilt es deshalb, sich diese Ziele wenigstens in einem Tableau zu vergegenwärtigen. Nur so ist es möglich, eine Zweck-Mittel-Rela­

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Kapitel 1: Methode – ein Begriff mit vielfältigen Deutungen

tion aufzustellen (welches Methodenverständnis passt zu welcher methodischen Regel?) und die Tauglichkeit konkreter methodischer Instrumentarien zu prüfen (sind sie den Zwecken adäquat?), um eine Methodenlehre theoretisch überhaupt (re)-konstruieren zu können. Allein auf eine Methodik der gerichtlichen Praxis bezogen, ergibt sich bereits hier eine Vielzahl von z. T. parallelen, z. T. konfligierenden Zielsetzungen. Methode soll: – – –

– – – – –

eine »gerechte« Entscheidung gewährleisten; soll eine »willkürliche« Entscheidung verhindern – eine Ent­ scheidung nach den persönlichen Maßstäben des Richters; soll die Nachprüfbarkeit der Entscheidung gewährleisten – für die Parteien und Beteiligte – für die Rechtsmittelinstanz – für die Öffentlichkeit im Sinne einer grundsätzlichen Transparenz staatlichen Han­ delns; soll die Gesetzesbindung des Richters gewährleisten; soll die Einordnung in das Recht gewährleisten; soll die »Einheitlichkeit der Rechtsprechung« wahren; soll zu einer »richtigen Entscheidung« führen.

Während die unter 2. genannte Zielvorgabe mit allen anderen aufge­ führten harmoniert, können dagegen die Ergebnisse von Entschei­ dungen mit den Zielen 3, 4 und 5 zwar durchaus übereinstimmen – müssen es aber keineswegs. Und darüber, ob etwa die Ziele 5 und 6 grundsätzlich identisch oder grundsätzlich zu unterscheiden sind, wird man lange streiten können. Man muss sich mit anderen Worten nur kurz in das Tableau hineindenken, um wesentliche Streitfragen der Methodendiskussion gleichsam systematisch entwickeln und auf­ zeichnen zu können. Die Diskussion über Maßstäbe und die ent­ scheidenden inhaltlichen Gesichtspunkte, die als Prinzipien hinter ihnen stehen und nach denen diese Streitfragen dann konkret zu beurteilen sind, kann aber erst in den Sachkapiteln (Teile C, D, F) erfolgen. In der Sache sind dies etwa der Zusammenhang von Ausle­ gungszielen und Demokratieprinzip (Nr. 4) und der Zusammenhang von Methode und Fragen der Werteordnung (Nr. 1) sowie die insti­ tutionelle Seite der Rechtssicherheit (Nr. 3, 5, 6). Das Postulat der »richtigen Entscheidung« (Nr. 7) ist dagegen, wie bereits in der Ein­ leitung betont, nicht inhaltlich, etwa auf Kriterien objektiver Richtig­

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II. Methode – ein Instrument für unterschiedliche Zielsetzungen

keit, ausgerichtet; es gibt der Methodik als Herstellung von Kohärenz vielmehr ihr formales Konstitutionsprinzip vor (Kap. 26 I.).

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Kapitel 2: Methode und Methodenlehre

Es divergieren aber nicht nur die Zielvorgaben, nach denen sich eine Methodenlehre der gerichtlichen Praxis ausrichten soll. Als Metho­ denlehre hat sie nicht nur ihre eigenen theoretischen Grundlagen und ihre rechtswissenschaftlichen Vorgaben (z. B. aus der Dogmatik und dem Verfassungsrecht) zu reflektieren und gegebenenfalls in Regeln zu transformieren. Als Gegenstand hat sie es vornehmlich mit der Methode zu tun, die als soziale Praxis auch gehandhabt wird. Hier hat sie nicht nur die Aufgabe, dieser sozialen Praxis – der Methode als praktiziertem Handwerk – Kriterien für ein »richtiges« methodisches Vorgehen an die Hand zu geben. Sie muss diese Praxis auch reflektieren und braucht dazu Instrumente zur Analyse. Erst über eine theoretische Reflexion so gewonnener Befunde, die die kritische Analyse eigener theoretischer Positionen einschließt, kann sie dann auch auf die expliziten und impliziten Regeln der Praxis zurückwirken und auf die oft changierenden Vorstellungen, die letztlich die Handha­ bungen prägen, Einfluss nehmen.

I. Methode als Handwerk »Methode hat man, über Methode spricht man nicht!« – Das zwie­ spältige Verhältnis, das Juristen gemeinhin zur theoretischen Refle­ xion ihrer Methode, d. h. zur Methodenlehre haben, scheint sich als Problem zunächst einfach aufzulösen. Methode verstehen sie als »Gebrauchsmethodik«, als Handhabung von handwerklichen Regeln und Anwendung von Schemata, die bei der Rechtsfindung und Rechtsanwendung systematisch abzuarbeiten sind – jedenfalls bei dieser Arbeit im Hintergrund zur Kontrolle immer mitlaufen müssen, wenn die Rechts- und Tatsachenermittlung professionellen Anforderungen genügen soll. Diese Einstellung ist auch nicht nur im oberflächlichen Sinne »pragmatisch«, sie entlastet die Praxis von theo­ retischen Diskussionen und Reflexionen, die sie im Alltagsgeschäft kaum leisten könnte.

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Kapitel 2: Methode und Methodenlehre

Diese Regeln – z. B. die »Auslegungsregeln«, für die herkömm­ liche Methodenlehre ihr Kernstück – wollen, systematisch angewen­ det, wissenschaftlich abgesicherte und nachprüfbare Interpretationen der entscheidungsrelevanten Gesetzesnorm sicherstellen. Sie sind dem Juristen seit seinen Anfangssemestern vertraut. Eine Argumen­ tation, die sie in üblicher Weise befolgt, sei es in einer Klausur, sei es in einem Urteil oder Aufsatz, kann deshalb meist an Vertrautes anschließen. Sie schafft so Vertrauen. Vergleichbar gilt das auch für die Regeln und Schemata, die wir im materiellen Recht und im Prozessrecht anwenden. Sie bilden nicht von ungefähr das Kern­ stück in Grundrissen und Repetitorien. Das Prüfungsschema für die »Teilnahme«, den Betrugstatbestand, die GoA, das Kondiktionsrecht und die Zulässigkeitsvoraussetzungen der verwaltungsgerichtlichen Klage sind Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen. Als »Handwerkszeug« für die Praxis sind diese Regeln und Schemata sogar geradezu davon abhängig, dass sie losgelöst von theoretischen Hintergründen angewandt werden können. Nur so sind sie praktikabel. Sie sind Routinen und es gilt für sie auch das Lob der Routine: Ihre Essenz liegt in dem »Nicht-Nachdenken-Müssen«. Eingebettet in die Übungen und Üblichkeiten der Praxis – gleichsam als geronnene Erfahrungen – überdauern und überspielen sie auch die unterschiedlichsten theoretischen Positionen derer, die sie anwenden. Als Konsequenz ergibt sich deshalb auch eine Art strukturelle Immu­ nität der methodischen Praxis gegenüber Forderungen, diese zu ver­ ändern.36 Brüche wird es nur geben, wenn diese Regeln wesentliche Bereiche des Handwerks nicht mehr erfassen und sich das Handwerk selbst wesentlich verändert. Wenn da Zweifel aufkommen, muss man eben doch nachdenken. Über gute Gründe für solche Zweifel wird unten zu reden sein (III.). Aber in der Regel funktioniert es. Wer als Jurist sein Handwerk gelernt hat und versteht, weiß, wie er als »Praktiker« einen Fall juristisch angeht.

II. Schematismus im Vordergrund – Theorie im Hintergrund Methode ist Handwerk, war eben die gleichsam beruhigende These. Methodenlehre ist aber auch Philosophie und Theorie – und dies 36

Näher dazu Kap. 26, Vorb.

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II. Schematismus im Vordergrund – Theorie im Hintergrund

nicht mit dem Ziel einer schönen Theorie, sondern einer auch theo­ retisch reflektierenden Handhabung von Regeln und Routinen. Die Notwendigkeit, uns diesen Zusammenhang von geübter Praxis und theoretischer Reflexion genauer anzusehen, zeigt sich am klarsten an den Schnittstellen, in denen theoretische, modellhafte Vorstellung von Praxis und die konkreten praktischen Erfahrungen in der Metho­ denlehre aufeinandertreffen, aber nicht mehr zusammenpassen. Wie gesagt, als »Handwerkszeug« für die Praxis sind methodische Regeln auch geradezu davon abhängig, dass sie losgelöst von theoretischen Hintergründen angewandt werden und praktikabel sind. Aber das ändert nichts daran, dass solche Regeln auf bestimmten Vorstellungen von Recht und wie Recht »gefunden« und angewandt wird oder werden soll »aufsitzen« – und so auch in der Luft hängen, wenn diese Modellvorstellungen falsch sind oder von den Erfahrungen der Rechtswirklichkeit – und auch vom Zeitgeist – nicht mehr getragen werden. Theoriefrei kann man eine Methodenlehre weder formulieren noch reflektieren. Gutes Anschauungsmaterial für den Zwiespalt und das Zusam­ menspiel von dem auf der Bühne gespielten Stück »Praxis« und der im Hintergrund wirksamen theoretischen Bühnentechnik bieten auch hier die Auslegungsregeln – das Kernstück der herkömmlichen Methodenlehre. In einer Beschreibung der Auslegungsregeln gibt W. Hassemer sehr anschaulich wieder, was Juristen gemeinhin unter Methode verstehen und was etwa auch das Maximum dessen ist, was man als Prüfer in den juristischen Examen oder als Vortragender in Fortbildungsveranstaltungen für Richter im Wissenshorizont des Gegenüber erwarten kann: »Den Kern einer juristischen Methodenlehre im kodifikatori­ schen System verdanken wir Friedrich Carl von Savigny. Er hat – gültig bis heute – vier Wege beschrieben, auf denen Gesetze sich dem Verständnis erschließen können, auf denen sich aber auch Rechtferti­ gung und Kritik dieses Verständnisses finden lassen. Das gibt diesen Wegen nicht nur Stabilität, sondern verschafft ihnen eine zwingende Vernünftigkeit; sie erklären sich gleichsam von selbst, wenn sie den Richter auffordern: Triff deine Entscheidung nach dem Wortlaut des Gesetzes; achte auf den systematischen Zusammenhang, in dem das Gesetz steht; verfolge das Regelungsziel, das der Gesetzgeber im Auge hatte, und richte dich nach dem Sinn, den das Gesetz heute hat.

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Kapitel 2: Methode und Methodenlehre

Das nenne ich: das Gesetz ernst nehmen und daraus eine Lehre für den Umgang mit dem Gesetz erschließen, die dem Gesetz gerecht wird.«37 Auf die Unterschiede in den Bezeichnungen und Formulierungen der Auslegungsregeln im Einzelnen kommt es mir an dieser Stelle nicht an. Es gilt aber zum einen festzuhalten, was L. Geldsetzer in seiner Einleitung zum Neudruck von Thibauts »Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts« von 1806 resümierte: »Die Namen der Kanones haben sich ein wenig geändert, der Schematismus ist aber geblieben.«38 Das Lob der Routine muss den Schematismus einschließen. Es gilt aber vor allem auch, sich vor Augen zu führen, dass dieser Schematismus zugleich täuscht. Denn mit den theoreti­ schen Hintergründen ändern sich auch die Vorstellungen, mit denen die Kanones interpretiert und angewandt werden. Das erweist schon ein kurzer Blick auf drei klassische Streitfragen der Methodenlehre; die Stichworte dazu sind: 1. der Zusammenhang von teleologischer Auslegung und Richterbild, 2. die Frage nach der topischen oder normativen Struktur der Kanones und 3. die Fragestellung Rekon­ struktion oder Interpretation.

1. Teleologische Auslegung und Richterbild Es ist zwar auch heute immer noch üblich, die Methodik der Aus­ legung auf Savigny zurückzuführen; Hassemers Skizze ist da nur ein Beispiel. Und auch bei ihm fällt dabei, wie meist, ein ganz wesentlicher Unterschied unter den Tisch: Savigny klammerte ein zentrales Element der heutigen Auslegung aus – das teleologische. Die »Einsicht in den G r u n d des Gesetzes (ratio legis)« liegt für 37 W. Hassemer, ZRP 2007, 215; weiter heißt es: »Das alles kommt kreuzvernünftig daher, und man kann verstehen, dass diese Regeln der Auslegung Jahrhunderte über­ dauert haben. Die Kraft und Verlässlichkeit der Auslegungsregeln darf man aber nicht überschätzen. Ihre Wirkung auf die Bindung des Richters hat drei schmerzliche Gren­ zen, an denen die Hoffnung auf vollständig kontrollierbare und streng regelgerechte richterliche Auslegung zerschellt: Die Zahl der Regeln ist nicht vollständig beschrie­ ben, und die Kriterien der Zugehörigkeit zum Regelkreis sind nicht eindeutig; sie sind untereinander heterogen, und sie verfügen nicht über ein eindeutiges Regelwerk ihrer Anwendung. Die juristische Methode ist und bleibt ein aporetisches Instrument.« 38 Geldsetzer, S. XLIII in der Einleitung zum Nachdruck der 2. Aufl. von Thibaut, Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts, Düsseldorf 1966.

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II. Schematismus im Vordergrund – Theorie im Hintergrund

ihn »streng genommen außer den Gränzen jener Aufgabe« – der Auf­ gabe der Gesetzes-Auslegung.39 Wer der »logischen« Auslegung folgt, wie nach dem damaligen Sprachgebrauch die »teleologische« genannt wurde, »stellt sich über den Gesetzgeber und verkennt also die Grän­ zen des eigenen Berufs; es ist nicht mehr Auslegung die er übt, son­ dern wirkliche Fortbildung des Rechts.«40 Die teleologische Auslegung ist mithin »ein dem reinen Richter­ amt nicht zukommendes Verfahren«, das »aus dem Gebiete wahrer Auslegung verwiesen werden musste.«41 Wie Savigny in seinem Streit mit Thibaut den Beruf der Zeit für die Gesetzgebung ver­ neinte,42 verneinte er auch – und wiederum gegen Thibaut – den Beruf des Richters zur Rechtsfortbildung. Bekanntlich konnte sich Savigny mit beiden Positionen nicht durchsetzen. Unbezweifel­ bar bleibt jedoch zum einen seine Erkenntnis, dass »im Einzelnen die Gränze zwischen reiner Auslegung und eigentlicher Fortbildung des Rechts oft sehr zweifelhaft sein kann«.43 Zur Konstante der Metho­ dendiskussion wurde zum anderen auch der untrennbare Zusammen­ hang von Richterbild – Beruf des Richters zur Rechtsfortbildung – und Grundpositionen zum Verständnis der Auslegungsregeln. Dis­ kussionsgegenstand sind diese Probleme heute in Gestalt der nach wie vor ungelösten Fragen um die rechtstheoretische und methodische Einordnung des »Richterrechts« und im Streit um eine Abkehr von den Irrtümern »der vermeintlich ›objektiven‹ Methode«.44

2. Topische oder normative Struktur der Kanones Auch wenn das teleologische Element heute ein fester Bestandteil der Auslegungsregeln ist – und der Schematismus der Kanones so gleichsam lückenlos abgesichert erscheint – sind die Anwendungsre­ geln, nach denen diese Regeln zu handhaben sind, immer noch hoch umstritten. Für Savigny waren das grammatische, das logische, das historische und das systematische Element in der Tat nur Elemente 39 40 41 42 43 44

Savigny 1840, Bd. 1, S. 216 f. Savigny 1840, Bd. 1, S. 322. Savigny 1840, Bd. 1, S. 330. Savigny 1814. Savigny 1840, Bd. 1, S. 329 f. B. Rüthers 2006, S. 57. Ausführlich dazu Kap. 20.

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Kapitel 2: Methode und Methodenlehre

der Auslegung und »nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geschmack und Belieben wählen könnte«.45 Demgegenüber werden die Auslegungsregeln heute (wie übrigens schon zu Savignys Zeiten46) überwiegend im Sinne eines »Kataloges« von Argumenta­ tionsgesichtspunkten, also eines Topoi-Kataloges, verstanden und gehandhabt. Zur Ermittlung normativer Inhalte werden also – um es bildlich zu formulieren – Werkzeuge eingesetzt, deren Handhabung weder hinsichtlich ihrer Einsatzbedingungen noch ihrer Rangfolge und Priorität, noch schließlich ihrer Anwendungsintensitäten nähe­ ren normativen Vorgaben unterliegen. Anders formuliert heißt das: Die Rechtsfindung ist in ihrem Kerngeschäft von normativen Bindun­ gen freigestellt. Unter dem Gesichtspunkt der Normbindung fordert diese Position es geradezu heraus, Theorieansätze zu entwickeln, mit denen es gelingen könnte, auch die Auslegung selbst normativ zu steuern. Daher der Streit über Rangfolge und normative Struktur der Auslegungsgrundsätze. Wenn also z. B. über eine notwendige Abkehr von den Irrtümern der vermeintlich »objektiven« Methode und im Gegenzug dazu um die Anerkennung der zentralen Bedeu­ tung der Entstehungsgeschichte für die Auslegung einer Rechtsnorm gestritten wird,47 geht es genau darum, Rangfolgen normativ – etwa über das Demokratieprinzip – zu begründen. Man kann einer solchen Position aus der langen Erfahrung der Methodendiskussion entgegenhalten, sie überschätze »sowohl die Verbindlichkeit als auch die Leistungskraft der juristischen Metho­ denlehre gewaltig«.48 – Die entscheidenden Argumente für eine so formulierte Skepsis ergeben sich aber nicht nur aus einem Erfahrungs­ wissen, sondern aus einem – auch normativ nicht überspielbaren – theoretischen Zusammenhang zwischen juristischer Methode und den erkenntnistheoretischen Bedingungen und Mechanismen, denen wir bei der Auslegung unterliegen. Wie man es auch immer nennen mag – ob Rechtserkenntnis, Rechtsfindung, Rechtsgewin­ nung –, es geht bei der Auslegung um die Frage, wie und unter welchen Voraussetzungen wir einen Normtext »verstehen«, seinen Savigny 1840, Bd. 1, S. 215. Vgl. bei Savigny das Kap. § 50 – Ansichten der Neueren von der Auslegung, 1840, Bd. 1, S. 318 ff. 47 B. Rüthers, JZ 2006, 53, 57 f.; näher dazu Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 717 ff., 778 ff., 796 ff. 48 W. Hassemer, ZRP 2007, 213, 214 gegen die zuvor geschilderte Position von Rüthers. 45

46

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II. Schematismus im Vordergrund – Theorie im Hintergrund

Sinn erfassen, was wir ihm im Hinblick auf einen konkreten Fall als Vorgabe entnehmen können etc.49 Eine Methodenfrage ist es, wie dieser »Verstehensprozess« theoretisch zu erfassen und zu formu­ lieren ist. Es ist aber müßig, die Art und Weise, wie wir verstehen, also den »Verstehensprozess« selbst, in normative Regeln fassen zu wollen. Kognitive Prozesse lassen sich erkennen, aber nicht normie­ ren. Zu den Phänomenen der Auslegungsregeln im Kaleidoskop der Methodenlehren gehören mithin nicht nur der Schematismus, mit dem die Kanones gelehrt und gehandhabt werden, sondern auch die mit ihnen untrennbar verbundenen – im Einzelnen sehr unterschied­ lichen – theoretischen Positionen, die man als die dazugehörigen »Verstehenstheorien« bezeichnen kann.

3. Rekonstruktion oder Interpretation – Exkurse zur Sprachphilosophie und Hermeneutik Betreiben wir »Auslegung«, sind wir unweigerlich Mitspieler in Sprachspielen und damit den Spielregeln unterworfen, die Gegen­ stand der Interpretationstheorie und somit auch der Sprachphiloso­ phie sind. Sehr anschaulich lässt sich dieser Zusammenhang am Beispiel der unterschiedlichen Vorstellungen belegen, die wir mit dem Begriff der Rekonstruktion verbinden können. Folgen wir zunächst nochmals Savigny: Wenn er »das Geschäft der Auslegung [...] als die Reconstruction des dem Gesetze innewoh­ nenden Gedankens« bestimmt50, gebraucht er einen Terminus, der zu seiner Zeit – d. h. in der Zeit des deutschen Idealismus – ein Modewort war.51 Zum Verständnis des damaligen Begriffsgebrauches sei aus dem Lessing-Aufsatz F. Schlegels von 1804 zitiert: »Es ist nichts schwerer, als das Denken eines andern bis in die feinere Eigentümlichkeit seines Ganzen nachkonstruieren, wahrnehmen und charakterisieren zu können [...]. Und doch kann man nur dann sagen, daß man ein Werk, einen Geist verstehe, wenn man den Gang

49 50 51

Näher dazu für das Sprachverstehen Kap. 17, für die Auslegungsregeln Kap. 20. Savigny 1840, Bd. 1, S. 213. Vgl. den Artikel »Rekonstruktion«, G. Scholtz, HWPh Bd. 8, S. 570 ff.

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Kapitel 2: Methode und Methodenlehre

und Gliederbau nachkonstruieren kann«.52 »Reconstruction« ist als »Wiederherstellung« zu verstehen und diesen Vorgang muss man sich mit F. Schleiermacher als Rekonstruktion aus dem Allgemeinen der Sprache und der Individualität des Sprechers oder Autors denken.53 Dem Interpreten mag das gut oder schlecht gelingen; es ist aber nicht mitgedacht, dass es unhintergehbar der Interpret selbst ist, der mit seiner Individualität die Rekonstruktion inhaltlich prägt. Die Aufgabe der Hermeneutik (im damaligen Verständnis!) sieht Schleiermacher denn auch darin, »die Rede zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber«.54 Es ist diese Sicht, in der auch noch die heutige Vorstellung wurzelt, das Gesetz sei klüger als der Gesetzge­ ber. Die Frage ist freilich, ob wir das Interpretieren von Texten heute noch in dieser Form der »Reconstruktion« verstehen können. Man wird sie verneinen müssen. Sprachphilosophie und der Wandel der klassischen hermeneutischen Auslegungstheorien zur »Philosophi­ schen Hermeneutik« haben spätestens in der Mitte des letzten Jahrhunderts zu entscheidenden Paradigmenwechseln geführt. Diese sind auch für nahezu alle Diskussionen um die »Juristische Methode« so grundlegend, dass man die neuen Ansätze wenigstens in den Grundthesen verstanden haben muss, wenn man diesen Diskussio­ nen folgen will.

a) Exkurs I zu Wittgenstein In der, wie man sie genannt hat, »klassischen Referenzsemantik«55 hatte die Sprache Abbildfunktion. Dem Wort entsprach ein Gegen­ stand oder eine Idee, und das ergab seine Bedeutung. Wörter als Zei­ chen für Sachen.56 Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bau­ ten einflussreiche Philosophen ihr erkenntnistheoretisches Denken auf Korrespondenzvorstellungen auf und waren »fixiert auf ein Bild der Sprache als Abbildfunktion, durch die wahre Aussagen adäquat 52 Dieses Zitat fügt G. Scholtz in seinem Artikel »Rekonstruktion« zur Erläuterung der Savigny-Stelle unmittelbar an, aaO. S. 570 f. 53 G. Scholtz aaO. S. 571. 54 F. D. E. Schleiermacher 1999, S. 94. 55 E. Braun 1996, S. 40. 56 Siehe dazu J. Simon 1981, S. 107.

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II. Schematismus im Vordergrund – Theorie im Hintergrund

mit der Wirklichkeit verkoppelt werden«.57 Doch das Ziel einer tragfähigen »Referenztheorie der Bedeutung« wurde nie erreicht58 und ist aufgegeben. Spätestens die 1953 (posthum) veröffentlichten »Philosophischen Untersuchungen« Wittgensteins brachten die ent­ scheidende, sprachpragmatische Wende (pragmatic turn). Sie liegt in dem Grundverständnis der »Bedeutung« als »Gebrauch«. In einer Grundaussage dazu heißt es: »Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ›Bedeutung‹ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.«59 Wie dies genauer zu verstehen ist, wurde von Wittgenstein aller­ dings nie systematisch entwickelt, sondern stets nur in kurzen Gedan­ kenexperimenten, Feststellungen, Metaphern und dialogischen Über­ legungen paraphrasiert. Zentral ist die oben schon benutzte Metapher des »Sprachspiels«. Sie diente ihm dazu, die vielfältigen Ähnlichkei­ ten zwischen Sprache und Spiel deutlich werden zu lassen.60 Es ist die doppelte Abhängigkeit des Gebrauchs – von den konventionellen Regeln der Sprache und von den Sprachsituationen, in welchen das Wort verwendet wird –, die verstanden werden muss. Die »Analogie der Sprache mit dem Spiel« soll uns da ein Licht aufstecken61, wie Sprache und Spiel durch Regeln bestimmt und andererseits doch wieder »nicht überall von Regeln begrenzt« sind.62 Diese Analogie wird sich im weiteren Verlauf auch für unsere eigenen Überlegungen als durchaus fruchtbar erweisen; das gilt sowohl für die juristische Auslegungsproblematik63 als auch für das Problem der prinzipiellen Unvollständigkeit von Spielregeln, das die Regeln der Sprache mit der Methodik teilen (Kap. 4). Zunächst bedeutet sie aber, dass ein Text, dessen Worte ihre Bedeutungen nicht mehr unmittelbar aus einem Gegenstandsbezug gewinnen, sondern aus Gebrauch und Sprachsi­ tuation heraus erhalten, kein Gegenstand einer »Reconstruction des dem Gesetze innewohnenden Gedankens« (Savigny) mehr sein kann.

57 58 59 60 61 62 63

M. Geier 1989, S. 101, vgl. dort auch S. 23 f. J. Simon 1981, S. 75. L. Wittgenstein PU § 43. H.-J. Glock 2000, S. 325. PU § 83. PU § 84 – mit Beispielen §§ 66, 71, 83. Kap. 4 II.; Kap. 17 II. 2. »Exkurs III« zu Wittgenstein.

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Kapitel 2: Methode und Methodenlehre

b) Exkurs »Philosophische Hermeneutik« Für die Diskussion in der Bundesrepublik noch einflussreicher als Wittgenstein wurde die Philosophische Hermeneutik, verbunden mit den Namen Heidegger und Gadamer. Dieser philosophische Ansatz war es, der nach 1960 die juristische Methodendiskussion ent­ scheidend prägte. Als Namen seien hier etwa genannt: A. Kaufmann, J. Esser, K. Larenz, W. Hassemer, B. Rüthers. Zwar wird die Herme­ neutik von diesen Autoren in so unterschiedlichen Spielarten als theoretischer Ansatz genutzt, dass man bei näherem Hinsehen eher die Divergenzen findet als das Verbindende. Das mag an dieser Stelle allerdings auf sich beruhen.64 – Entscheidend ist in unserem Zusam­ menhang die Abkehr der Philosophischen Hermeneutik von einem »objektivistischen Erkenntnisbegriff«, wie es A. Kaufmann formuliert hat.65 Auslegung wird nicht mehr vornehmlich als Reproduktion eines vorhandenen Sinnes begriffen, sondern als kreativer Vorgang verstanden.66 Gadamer spricht so ausdrücklich von der »hermeneuti­ schen Notwendigkeit, stets über die bloße Rekonstruktion hinaus zu sein«.67 »Eine richtige Auslegung ›an sich‹ wäre« deshalb für ihn »ein gedankenloses Ideal, das das Wesen der Überlieferung verkennte«.68 Das Verstehen eines Textes läuft somit immer nur im Kontext der Überlieferung – über »Vor-Urteile«. Auf die übliche erkenntnistheo­ retische Vorstellung von einem erkennenden Subjekt bezogen, das frei und unvoreingenommen einem Objekt seiner Erkenntnis gegenüber­ steht, heißt das, dass es diesen objektiven, an der »Rekonstruktion« eines Textes unbeteiligten »Beobachter« nicht (mehr) gibt. Wir stehen also vor einem grundsätzlichen Problem: Rechtsnor­ men müssen sich der Sprache bedienen. Die Sprache liefert uns aber eher höchst labile als sichere Verknüpfungen von Worten und Bedeutungen (d. h. auch Zugriff auf die »Realität«). Legen wir Texte aus, haben wir es eben nicht nur mit dem »Allgemeinen der Sprache und der Individualität des Sprechers oder Autors« (Schleiermacher) zu tun, sondern immer auch mit dem Subjekt, das einen Text immer nur nach seinen Bedingungen verstehen kann. Verstehen ist immer 64 Zur Analyse vgl. etwa M. Frommel 1981; zur grundsätzlichen Kritik an der Her­ meneutik als wissenschaftliche Methode B. O. Küppers 2008, S. 200 ff. 65 A. Kaufmann 2004, S. 101. 66 Vgl. M. Jung 2001, S. 71. 67 Gadamer 1990, S. 380. 68 Gadamer 1990, S. 401.

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III. Schlussfolgerungen

ein »Einbauen« einer Information in den eigenen Kontext. Anders kann das Ich Informationen gar nicht decodieren. Wenn wir heute über die Auslegung von Normen sprechen, wissen wir also, dass wir damit keine alle Subjekte verbindende Bedeutungsfeststellung treffen können, sondern das Verstehen von Texten, vereinfacht gesagt, zunächst immer subjekt- und zeitgeistabhängig ist. Selbst die Wort­ lautinterpretation steckt mithin voller theoretischer Implikationen und wir werden im Kapitel 17 (III. u. IV.) genau analysieren müssen, inwieweit hier intersubjektive Verbindlichkeit möglich sein kann.

III. Schlussfolgerungen Aus den Überlegungen dieses Abschnittes sind es hauptsächlich drei Schlussfolgerungen, die wir für das weitere Nachdenken über eine Methodik der Praxis im Auge haben müssen: 1. Da ist zunächst die Grundthese, die sich aus der Analyse der theoretischen Implikationen um die Auslegungsregeln ergab: Theo­ riefrei kann man eine Methodenlehre weder formulieren noch reflektie­ ren. Nur wenn das erkenntnistheoretische Vorverständnis als die Grundlage deutlich wird, auf der die eigenen methodischen Überle­ gungen aufbauen, kann der Leser sie auch reflektieren. 2. Zur Dynamik von Theorie und Handwerksregeln: Die – scheinbare – Konstanz im Schematismus der Auslegungsregeln bie­ tet einen weiteren Grund zum Weiterdenken. – Spricht man von »theoretischen Implikationen« und »Vorverständnissen«, legt das die Annahme nahe, dass die Methode als Handwerk, als Routine oder als Schemaanwendung von alldem eigentlich unberührt bleibt. Aber so verhält es sich gerade nicht – weder für die Regeln noch für ihre Handhabung: 2.1 Methodische Regeln sind »Handwerkszeuge« für die Praxis und als Routinen geradezu davon abhängig, dass sie losgelöst von theo­ retischen Hintergründen angewandt werden können. Und damit ist auch das grundsätzliche Problem ihrer praktischen und theoreti­ schen Bewährung angesprochen: Diese Regeln funktionieren nur so lange, soweit – –

sie im Bewusstsein der Beteiligten wesentliche Bereiche des Handwerks auch erfassen, solange sich das Handwerk nicht selbst wesentlich verändert und

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Kapitel 2: Methode und Methodenlehre



solange die Regeln auch mit dem theoretischen Bewusstsein der Beteiligten noch zusammenpassen.

Wenn da Zweifel aufkommen, muss man eben doch nachdenken. Und Gründe für diese Zweifel gibt es in mehrfacher Hinsicht: Zum einen werden wesentliche Routinen der Praxis von der klassischen Methodenlehre gar nicht erfasst. Das gilt namentlich für den Bereich der Sachverhaltsermittlung und der Mustererkennung. Zum anderen haben sich die richterlichen Arbeitsweisen durch Informationstech­ nik (elektronische Akte) und die Routinen der Rechtsermittlung durch Datenbanken grundlegend verändert. Auch diese Routinen müssen in methodische Regeln gefasst werden, wenn Methode dem Anspruch gerecht werden soll, den Rechtsermittlungsprozess metho­ disch zu steuern.69 2.2 Die »Janusköpfigkeit« der Methode – nämlich sowohl eine theore­ tische als auch eine praktische handwerkliche Seite zu haben – führt zu der generellen Feststellung eines unmittelbaren Zusammenhanges zwischen den theoretischen Vorverständnissen und der Handhabung der methodischen Regeln, Routinen und Schemata. Diese nicht im Blindflug zu handhaben, sondern sich der Abhängigkeit von Vor­ verständnissen immer wieder zu vergewissern, ist es, zu welchem »Berufe« wir Methodenlehre betreiben. Es ist die Selbstreflexion der Handhabung, die ein wesentliches Ziel dieses Buches ist.70 Doch zunächst müssen wir uns mit der Konsequenz beschäftigen, die sich aus der »Janusköpfigkeit« der Methode für die praktische Begrifflichkeit ergibt. Hier fordert der Praxis-Theorie-Zusammen­ hang eine spezifische Begrenzung der jeweiligen Methodenlehre auf einen bestimmten Handlungsbereich von juristischer Praxis, hier der gerichtlichen Praxis. Er schließt eine allgemeine Juristische Methode als Gegenstand einer substantiellen Methodenlehre aus. Das ist im nächsten Abschnitt näher darzulegen.

69 70

Konkret thematisiert in den Beiträgen Strauch 2007 und Ders. 2009. Siehe F. K. v. Savigny 1814.

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Kapitel 3: Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens

Die richterliche Methode ist nur eine Methode im Feld der juristischen Methoden. Ein Tableau, das diese Weite deutlich macht und zugleich ordnet, findet sich etwa in der »Juristischen Methodenlehre« von E. A. Kramer mit folgendem Schema.71

Als entscheidendes Gliederungskriterium dienen hier die Funktions­ bereiche. Der Nachteil liegt darin, dass auf diese Weise typische Handlungszusammenhänge getrennt werden. Uns interessiert aber vornehmlich das richterliche Handeln, das hier doppelt, nämlich als Normsetzung und Normanwendung aufscheint. Aber wir sind heute weiter denn je davon entfernt, zwischen Rechtsgewinnung und Rechtsanwendung eine begrifflich saubere Trennung vornehmen zu können. Schon ein kurzer Blick auf ein schematisierendes Tableau 71

E. A. Kramer 1998, S. 38.

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Kapitel 3: Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens

bestätigt also die Unmöglichkeit, sich theoriefrei über Methodik auch nur terminologisch zu verständigen. Ich will deshalb auch nicht die einzelnen Spielarten der »Juristischen Methodenlehre« durchde­ klinieren, sondern im Folgenden nur Abgrenzungen zu einer »Methode der Rechtswissenschaft« (I.) und einer akademischen Methodenlehre (II.) vornehmen und in den folgenden Kapiteln den daraus folgenden Perspektivwechsel hin zu einer Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens aufzeigen.

I. Methodenlehre der Rechtswissenschaft – Methodik der Praxis Veränderte Vorstellungen über das, was Recht ist und wie wir es erkennen sowie die immer wieder zu betonende »Janusköpfigkeit« der Methode geben auch hier die Notwendigkeit terminologischer Differenzierungen vor. Ist Rechtsfindung wesentlich eine Sache der logischen Deduktion, die Subsumtion eine Frage richtig angewand­ ter logischer Schlussformen und wird die Gesetzesauslegung durch die Kanones präzise vorgegeben, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Juristen von einer Allgemeinen Methodenlehre ausgehen – einer Methodenlehre, die für die Rechtswissenschaft genauso gilt wie für die Praxis –, auch theoretisch durchaus konsequent. Rechtstheoreti­ sche Grundpositionen, wie sie mit dem Bild des Rechtsanwenders als Subsumtionsautomaten beschrieben werden, sind heute jedoch obsolet. Gleichwohl blieb die Idee einer Allgemeinen Methodenlehre bestimmend, sei es als »Juristische Methodenlehre«72, sei es als »Methodenlehre der Rechtswissenschaft«. Nicht von ungefähr trägt das Lehrbuch von K. Larenz, das wie kein anderes die Metho­ dendiskussion der früheren Bundesrepublik geprägt hat, den Titel »Methodenlehre der Rechtswissenschaft«. Der Anspruch, der sich mit dieser Methodik verband, war umfassend gemeint. Ihr »Gegenstand« war dem Vorwort zufolge »die ›dogmatische‹ Rechtswissenschaft mit Einschluß der richterlichen Fallbeurteilung«.73 R. Zippelius 2012; E. A. Kramer 1998. K. Larenz 1960, S. V; übernommen auch in späteren Auflagen, in denen er aber auch von der »Jurisprudenz« spricht, so Larenz 1991, S. 243: »Methodenlehre als her­ meneutische Selbstreflexion der Jurisprudenz«. 72

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I. Methodenlehre der Rechtswissenschaft – Methodik der Praxis

Überspielt wird so ein kategorialer Unterschied: Das »spezielle Erkenntnisziel« einer „›dogmatische[n]‹ Rechtswissenschaft«74 ist ein anderes als das des gerichtlichen Verfahrens. Die Rechtswissenschaft hat eine andere Zielstellung als die im Rahmen des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens zu treffende Einzelfallbeurteilung. Und sie hat auch andere handwerkliche Regeln. Wie gesagt: Methodisches Den­ ken und methodische Regeln sind immer auf eine Praxis, und damit auf spezifische Handlungszusammenhänge, bezogen und müssen sich an deren spezifischen Problemen bewähren.75 Es macht deshalb einen wesentlichen Unterschied, ob das »Material«, mit dem es ein Jurist zu tun hat, also Gesetze, Literatur und gerichtliche Entschei­ dungen, wissenschaftlich und in den Handlungszusammenhängen der Rechtswissenschaft oder im Rahmen eines konkreten Entschei­ dungsprozesses von einem Gericht für eine konkret zu treffende Entscheidung verarbeitet wird. Ob ein wissenschaftlicher Beitrag oder ein Urteil in der Rechtswissenschaft oder in der Rechtsprechung Akzeptanz findet, richtet sich nach den je eigenen Beurteilungsmaß­ stäben – sie überschneiden sich zwar, decken sich aber nicht. Sie sind, um mit dem Soziologen P. Bourdieu zu sprechen, in Form und Inhalt an ihre jeweilig spezifischen Felder gebunden.76 Dies lässt die herkömmlichen methodischen Regeln nicht obsolet werden. Die gegenüber der herkömmlichen Methodenlehre veränderte theoreti­ sche Perspektive verlangt aber, dass die Erkenntnisbedingungen, die sich aus dem Rechtsprechungsprozess selbst ergeben – seiner Organisation, seinen Traditionen, seinen prägenden Denkweisen –, nicht anders als die Muster, Techniken und Stile, mit denen der Richter Informationen aufnimmt und verarbeitet, in ihrer Eigenheit nicht nur reflektiert, sondern in eine Methodenlehre der Praxis auch theoretisch integriert werden müssen. Eine Methodenlehre der Praxis ist in ihrer Eigenheit allerdings nicht nur über den Unterschied zwischen rechtswissenschaftlichem System- und Dogmatikdenken und der richterlichen Fallentscheidung zu bestimmen. Sie kann in ihrem spezifischen Handlungs- und Theo­ rie-Praxis-Zusammenhang auch nur erfasst werden, wenn man sie in den entscheidenden Punkten vom akademischen Modell abgrenzt – was keine Abgrenzung von dem Modell der rechtswissenschaftlichen 74 75 76

K. Larenz 1991, S. 244 f. Strauch 2001, S. 197 ff. Ausführlicher zu Bourdieu unten Kap 5 I. 1.

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Kapitel 3: Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens

Methode meint, sondern von der Methode, die auf die Juristenausbil­ dung ausgerichtet ist, also die, die der Jurastudent für das Klausuren­ schreiben einübt und durch die das Methodenbild für viele Juristen entscheidend geprägt wird.

II. Die Praxis der akademischen Methodenlehre und die Methode der gerichtlichen Praxis Am Anfang aller juristischen Praxis steht immer ein Fall. Aber es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen dem »Fall« in der Praxis der Übungen und Examen und dem Fall in der richterlichen Praxis. Und entsprechend unterschiedlich müssen die methodischen Ansätze sein. 1. Wenn sich die akademische Methodenlehre mit dem »Fall« beschäftigt, dann ist das ein vorgegebener Sachverhalt. Dieser ist um ein oder mehrere juristische Probleme herumgebaut, die es zu lösen gilt – das ist dann die Falllösung. Wenn der Fall richtig gestellt, und das heißt: richtig konstruiert ist, dann sollten alle Angaben im Sachverhalt für die juristische Bearbeitung auch eine Rolle spielen. Insofern ist es – wie im Urteil – die Aufgabe, Kohärenz zwischen Sachverhalt und rechtlicher Würdigung herzustellen. Aber der Sach­ verhalt bleibt statisch, der Student muss ihn nur genau lesen. Er kann sich nicht nur, sondern muss sich auf ihn verlassen können; das ist gleichsam Teil der Spielregel. Es ist ein wenig so wie beim Ostereier­ suchen. Man weiß, wo man suchen muss und dass dort – im Fall – die juristischen Probleme auch versteckt sind. »Rechtsanwendung« ist so im Wesentlichen Auslegung und Subsumtion – entsprechend sind es auch die zentralen Themen der akademischen Methodenlehre. 2. Der Sinn und Zweck eines Prozesses liegt dagegen in der Regel nicht darin, eine Rechtserkenntnis zu gewinnen, sondern darin, einen sozialen Konflikt zu lösen, eine Straftat zu sühnen. »Der Richter soll es richten.« Bevor der Richter aber einen »Fall« lösen kann, muss er den Fall erst generieren. Der Richter muss den sozialen Konflikt, die »Tat« erkennen, sie jedenfalls aufnehmen, d. h., er muss die Geschichten verstehen, die ihm den Konflikt, die »Tat«, meist aus unterschiedlichen Per­ spektiven, erzählen und erklären sollen. Wenn er sich lege artis verhält, muss er dies auch auf dem Hintergrund »des Rechts«, d. h. im juristischen Denk- und Handlungsraum tun. Im Vordergrund steht

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II. Die Praxis der akademischen Methodenlehre und die Methode der gerichtli­ chen Praxis

freilich zunächst die Operationsebene »Erkenntnis des Sachverhalts«. Diese Operation ist nur als dynamischer Prozess zu erfassen. Der »Sachverhalt« kann sich mit jedem neuen Vortrag ändern, mit jeder Beweisaufnahme, ja mit jeder Erwiderung, die unterbleibt. Mit diesen unterschiedlichen Situationen wandeln sich die rechtlichen Gesichts­ punkte – oder können sich jedenfalls wandeln, wie der Sachverhalt selbst unter neuen rechtlichen Gesichtspunkten eine (vielleicht völlig) veränderte Perspektive bekommen kann. Dieses Erfassen des »Sachverhaltes«, das Erkennen, was eigent­ lich »Sache« ist, ist denn auch das »Kerngeschäft«, von dem aus wir eine Methode der richterlichen Praxis zu formulieren haben. Nicht von ungefähr bedeutet das Wort »Sache« in seiner ursprüngli­ chen Verwendung »Streit« im Sinne von »Rechtsstreit«. Es ist der Streit, der Streitgegenstand, der den Informationsprozess um das »Recht« und die »Tatsachen« des Erkenntnisverfahrens strukturiert, ja erst schafft – ein Fall entwickelt sich so im »Fallverstehen«. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die »Mustererkennung« (Teil E). Gibt es hier Fehl- und Missverständnisse, erkennt der Richter nicht, was Sache ist, bekommen die Parteien vielleicht eine »richtige« Falllösung – aber zum falschen Fall.

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Kapitel 4: Die »Vagheit in den Regeln« und der Methodenskeptizismus

Bislang war immer wie selbstverständlich von »Methode« die Rede. Nicht in Frage stand dabei eine Grundannahme: Sinnvoll kann man von Methode, einem methodischen Vorgehen, nur sprechen, wenn die richterliche Entscheidung mehr ist als nur Dezision, nur ein Wil­ lensakt, der vielleicht auf (unbewusste) Vorverständnisse, nicht aber auf rationale Gründe zurückzuführen ist.77 Methode setzt mit anderen Worten voraus, dass zwischen den Wahrnehmungsreizen, aus denen unsere Informationen werden, und dem Urteil eine Wegstrecke des rationalen Überprüfens, Nachdenkens und Schlussfolgerns bleibt – ein Weg für methodische Reflexion und Regeln. Nur weil diese Methode der Praxis davon ausgeht, dass es diese »Wegstrecke« gibt, kann sie sich auch als Methode eines »Erkenntnisverfahrens« verste­ hen. Die Skepsis, die in dem Einwand zum Ausdruck kommt, die richterliche Entscheidung beruhe vielleicht doch entscheidender auf Dezision als auf Methodik, hat allerdings auch durchaus nachden­ kenswerte Gründe für sich. Menschliche Kognition ist nur begrenzt programmierbar – anders könnte sie die oft verblüffenden Anpas­ sungsleistungen nicht erbringen, die sie ausmacht. Rechtsanwen­ dung – insbesondere Rechtsprechung – soll zwar eine regelgeleitete Anwendung von Regeln sein. Mit dieser Aufgabe stößt die Methode aber an prinzipielle Grenzen. In der Einleitung hatte ich die empirische Studie »Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt« mit ihrem für das richterliche Selbst­ verständnis nicht sehr schmeichelhaften Ergebnis bereits zitiert: 51 Richter kamen in ihren Entscheidungen über ein und denselben Fall (Arzthaftung) zu 13 unterschiedlichen Urteilen (die Unterschiede in den zugesprochenen Beträgen nicht einmal mitgerechnet). Sicher sind diese Divergenzen zum Teil auch auf handwerkliche und intel­ 77 Zu nennen ist hier vor allen C. Schmitt 1912; zum Gegensatz von Dezisionismus und Dialogik R. Gröschner 1982, S. 224 ff.

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Kapitel 4: Die »Vagheit in den Regeln« und der Methodenskeptizismus

lektuelle Fehler und Mängel zurückzuführen: ungenaues Lesen der Schriftsätze, nicht ausgeschöpfte Beweismittel, mangelnde Sorgfalt in der Ermittlung und Differenzierung der Anspruchsnormen etc. Aber auch ohne derartige Mängel wären die Entscheidungen mit aller Wahrscheinlichkeit nicht gleichlautend ausgefallen. Auch wenn es bei der Normanwendung um die durch methodische Regeln gesteuerte Auslegung und Anwendung von normativen Regeln geht, bleibt zwangsläufig ein mehr oder minder großer Rest an offenen Entschei­ dungsspielräumen, der nicht in Regeln auflösbar, der nicht »pro­ grammierbar« ist. Die »Programmierbarkeit« von Rechtsprechung ist deshalb bislang immer an prinzipielle Grenzen gestoßen. Was damit am Beispiel anschaulich werden sollte, ist die Erkenntnis, dass sich eine regelgeleitete Anwendung von Regeln nicht lückenlos durch Regeln steuern lässt. Näher zu erläutern ist sie mit den Überlegungen, mit denen sie – aus ganz unterschiedlichen Perspektiven – in der philosophischen Diskussion von Kant und Wittgenstein begründet wurde. Insbesondere die Untersuchungen L. Wittgensteins (II.) führen dann auch zu der Folgerung, dass Vagheit, Unbestimmtheit und Spielräume die steuernde Rolle von Regeln nicht aufheben. Überzeugende Gründe für einen Methodenskepti­ zismus sind sie nicht (III.).

I. Das Dilemma der Urteilskraft Für Kant liegt das Problem, das uns zu beschäftigen hat, in der Eigenart unserer Urteilskraft.78 Das Phänomen beschreibt er sehr anschaulich so: »Ein Arzt … ein Richter, oder ein Staatskundiger kann viel schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, daß er selbst darin gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu Auf Kant und die »reflektierende Urteilskraft« wird im Kap. 23 II. ausführlich einzugehen sein.

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II. Was heißt es, »einer Regel zu folgen«?

diesem Urteile abgerichtet worden. Dieses ist auch der einige und große Nutzen der Beispiele: daß sie die Urteilskraft schärfen«.79

Dass Kant die Urteilskraft auch für eine Frage subjektiver Disposition hält, macht er in diesem Zusammenhang mit einer Fußnote klar: »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.«80 Unabhängig von jedem individuellen Urteilsvermögen ist für jede Methodik jedoch folgendes Dilemma der Urteilskraft entscheidend: »Wollte sie nun allgemein zeigen, wie man unter diese Regeln subsu­ mieren, d. i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders, als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urteilskraft«.81 Urteilen ist also zunächst eine regelgeleitete Anwendung von Regeln. Nach welchen Regeln dann wieder die Anwendung sich zu richten hat – dafür können aber »nicht immer wiederum Regeln gegeben werden«.82 Eine regelgelei­ tete Anwendung kann folglich selbst nicht hinreichend durch Regeln definiert werden, »weil das ins Unendliche gehen würde«.83

II. Was heißt es, »einer Regel zu folgen«? Während es Kant um die Analyse der Urteilskraft als das »Vermö­ gen, unter Regeln zu subsumieren«84 ging, hat sich Wittgenstein immer wieder in unterschiedlichsten Aspekten sehr allgemein mit der Frage auseinandergesetzt, was es eigentlich bedeutet, »einer Regel zu folgen«.85 Gleichwohl werden wir in seinem Werk eine Definition oder gar den Versuch einer logischen Rekonstruktion der Regeln, die einen Handlungszusammenhang ausmachen, vergeblich suchen. Der Kern der Aussage ist denn auch, dass man den Gebrauch solcher Regeln in ihren Strukturen überhaupt nicht begrifflich fassen oder Kant KrV B 173. Kant KrV B 173 – Fn. 81 Kant KrV B 172. 82 Kant, Vorbemerkung zu seiner Schrift: Über den Gemeinspruch: »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«, S. 275 (Akademieausgabe). 83 AaO. S. 275. 84 Kant KrV B 171. 85 Immer noch grundlegend W. Stegmüller 1969, S. 524 ff. und zu Wittgenstein S. 562 ff. 79

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abbilden kann. So bleiben – nicht anders als aus dem ersten Exkurs zur Sprachphilosophie Wittgensteins schon vertraut (Kap. 2 II. 2.) – nur Bilder und Metaphern. Bevor ich wiederum aus den »Philosophischen Untersuchungen« zitiere, muss ich aber wohl einer durchaus naheliegenden Frage des juristischen Lesers zuvorkommen: Warum an dieser Stelle nochmals so theoretisch und warum ein Text, der zwar zu den wichtigsten philosophischen Texten des 20. Jahrhunderts gehören mag, aber nicht von ungefähr auch zu den schwierigsten?86 Denn die »Philoso­ phischen Untersuchungen« sind gleichsam das Gegenbild zu einem guten Lehrbuch, einem klaren juristischen Text. Statt systematischer Erörterungen und klarer Definitionen findet der Leser nur »eine fast verwirrende Vielzahl von Hinweisen und Beispielen« (Alexy87). Ver­ suche, diese Gedanken zu systematisieren, sind natürlich zahlreich gemacht worden.88 – Aber man verdeckt dann genau den Denkstil, auf den sich der Jurist auch einlassen muss, wenn er reflektiert metho­ disch arbeiten will. Und dieser Denkstil ist es, der auch den Kern von Wittgensteins Theorie ausmacht. Dazu zunächst fünf Textstellen89: „§ 66. Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir ›Spiele‹ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ›Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ›Spiele‹‘ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlich­ keiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! – Schau z.B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren. – Sind sie alle ›unterhaltend‹? Ver­ gleiche Schach mit dem Mühlfahren. Oder gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz der Spielenden? Denk an die Pati­ encen. In den Ballspielen gibt es Gewinnen und Verlieren; aber wenn ein Kind den Ball an die Wand wirft und wieder auffängt, so ist dieser Zug verschwunden. Schau, welche Rolle Geschick und Glück spielen. 86 87 88 89

W. Stegmüller 1969, S. 563. R. Alexy 1983, S. 72. R. Alexy 1983, S. 72. Fn. 78. L. Wittgenstein PU § 66 ff.

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II. Was heißt es, »einer Regel zu folgen«?

Und wie verschieden ist Geschick im Schachspiel und Geschick im Tennisspiel. Denk nun an die Reigenspiele: Hier ist das Element der Unterhaltung, aber wie viele der anderen Charakterzüge sind ver­ schwunden! Und so können wir durch die vielen, vielen anderen Grup­ pen von Spielen gehen, Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen. Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompli­ ziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.« „§ 68. […] aber ich kann es [das Wort ›Zahl‹] auch so gebrauchen, daß der Umfang des Begriffs nicht durch eine Grenze abgeschlossen ist. Und so verwenden wir ja das Wort ›Spiel‹. Wie ist denn der Begriff des Spiels abgeschlossen? Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein. Du kannst welche ziehen: denn es sind noch keine gezogen. (Aber das hat dich noch nie gestört, wenn du das Wort ›Spiel‹ angewendet hast.) ›Aber dann ist ja die Anwendung des Wortes nicht geregelt; das ›Spiel‹, welches wir mit ihm spielen, ist nicht geregelt.’ – Es ist nicht überall von Regeln begrenzt; aber es gibt ja auch keine Regel dafür z.B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf, oder wie stark, aber Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln.« „§ 71Man kann sagen, der Begriff ›Spiel‹ ist ein Begriff mit verschwom­ menen Rändern. – ›Aber ist ein verschwommener Begriff überhaupt ein Begriff?‹ – Ist eine unscharfe Photographie überhaupt ein Bild eines Menschen? Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen? Frege vergleicht den Begriff mit einem Bezirk und sagt: einen unklar begrenzten Bezirk könne man überhaupt keinen Bezirk nennen. Das heißt wohl, wir können mit ihm nichts anfangen. – Aber ist es sinnlos zu sagen: ›Halte dich ungefähr hier auf!‹? Denk dir, ich stünde mit einem Andern auf einem Platz und sagte dies. Dabei werde ich nicht einmal irgend eine Grenze ziehen, sondern etwa mit der Hand eine zeigende Bewegung machen – als zeigte ich ihm einen bestimmten Punkt. Und gerade so erklärt man etwa, was ein Spiel ist. Man gibt Beispiele und will, daß sie in einem gewissen Sinn verstanden werden. – Aber mit diesem Ausdruck meine ich nicht: er solle nun in diesen Beispielen das Gemeinsame sehen, welches ich – aus irgend einem Grunde – nicht aussprechen konnte. Sondern: er solle diese Beispiele nun in bestimmter Weise verwenden. Das Exemplifizieren ist hier nicht ein indirektes Mittel der Erklärung, – in Ermanglung eines Bessern.

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Kapitel 4: Die »Vagheit in den Regeln« und der Methodenskeptizismus

Denn, mißverstanden kann auch jede allgemeine Erklärung werden. So spielen wir eben das Spiel (Ich meine das Sprachspiel mit dem Wort ›Spiel‹.)« „§ 84. Ich sagte von der Anwendung eines Wortes: sie sei nicht überall von Regeln begrenzt. Aber wie schaut denn ein Spiel aus, das überall von Regeln begrenzt ist? dessen Regeln keinen Zweifel eindringen las­ sen; ihm alle Löcher verstopfen. – Können wir uns nicht eine Regel denken, die die Anwendung der Regel regelt? Und einen Zweifel, den jene Regel behebt – und so fort? Aber das sagt nicht, daß wir zweifeln, weil wir uns einen Zweifel denken können. Ich kann mir sehr wohl denken, daß jemand jedesmal vor dem Öffnen seiner Haustür zweifelt, ob sich hinter ihr nicht ein Abgrund aufgetan hat, und daß er sich darüber vergewissert, eh' er durch die Tür tritt (und es kann sich einmal erweisen, daß er recht hatte) – aber deswegen zweifle ich im gleichen Falle doch nicht.« „§ 100 ›Es ist doch kein Spiel, wenn es eine Vagheit in den Regeln gibt.‹ – Aber ist es dann kein Spiel? – ›Ja, vielleicht wirst du es Spiel nennen, aber es ist doch jedenfalls kein vollkommenes Spiel.‹ D.h.: es ist doch dann verunreinigt, und ich interessiere mich nun für dasjenige, was hier verunreinigt wurde. – Aber ich will sagen: Wir mißverstehen die Rolle, die das Ideal in unsrer Ausdrucksweise spielt. D.h.: auch wir würden es ein Spiel nennen, nur sind wir vom Ideal geblendet und sehen daher nicht deutlich die wirkliche Anwendung des Wortes ›Spiel‹.«

Ungeübt muss man diese Texte vielleicht zwei Mal lesen. Aber wenn wir »Spiel« auf »Normen« beziehen, dann wird das zeitgenössische Methodenbewusstsein Wittgenstein darin folgen, dass es bei der Gesetzesauslegung nahezu stets um Begriffe »mit verschwommenen Rändern« (§ 71) und um »Vagheit in den Regeln« (§ 100) geht. Mehr­ heitlich haben die Juristen heute wohl das Ideal des klar abgegrenzten Begriffs, der eindeutigen, allgemein geltenden Regel aufgegeben. Wittgenstein diagnostiziert es als Missverständnis: »Wir missverste­ hen die Rolle, die das Ideal in unsrer Ausdrucksweise spielt«, heißt es in dem zitierten § 100. Aber – und das ist entscheidend – preisgege­ ben wird nur das »Exaktheitsideal«90, nicht der für unseren Gedan­ kengang entscheidende Kern der Metapher um »Regel« und »Spiel«. Auch wenn z. B. das Tennisspiel »nicht überall von Regeln begrenzt« ist, so gilt gleichwohl: »Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch 90

W. Stegmüller 1969, S. 564 ff.

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II. Was heißt es, »einer Regel zu folgen«?

Regeln« (§ 68). Die dialogisch gestellte Frage: »Aber ist ein ver­ schwommener Begriff überhaupt ein Begriff?« beantwortet er mit einem Hinweis auf eine unscharfe Photographie und fragt in § 71 rhe­ torisch zurück: »Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brau­ chen?« Anders gesagt: Wittgensteins »Untersuchungen« umkreisen exakt die Probleme, die ein zentrales Dilemma ausmachen, das wir in der juristischen Methode zu bewältigen haben. Es gehört zur täglichen Praxis des Juristen, mit prinzipieller Ungenauigkeit, Vagheit, nicht genau definierten Begriffen und Regeln, zu Recht (!) zu kommen; Regeln mit verschwommenen Rändern, die weder normativ noch auch nur immer bewusst sind, das Urteil aber wesentlich bestimmen. Wittgenstein formuliert aber auch Regeln, wie mit dem Dilemma umzugehen ist. Seine Aufforderung, »denk nicht, sondern schau!« (§ 66) heißt ja nicht, dass man das Nachdenken unterlassen soll, son­ dern dass die Lösung nicht im Nachdenken über das Ideal, das Wesen eines Begriffes liegt, sondern darin, genau hinzuschauen – schau, wie es sich mit der Sache, dem »Spiel« verhält. Was wir zunächst aus den »Philosophischen Untersuchungen« lernen können, ist also eine Anschauung darüber, wie situationsbezogene, möglichst genaue Arbeit am Begriff, an der Differenz und an der Regel zu leisten ist. Auch das sind methodische Regeln – Regeln, wie z. B. das her­ kömmliche juristische Methodeninstrumentarium – Auslegungsund Subsumtionsregeln – zu handhaben ist. Versuchen wir aber ein allgemeineres Fazit: Betrachten wir ein Spiel – das Tennisspiel oder das Sprachspiel91 –, können wir zunächst festhalten, dass es durch seine Regeln definiert ist. Als »eingespielte Praxis«92 funktioniert es dann auch durch die Beachtung dieser Regeln – obwohl die Regeln vage sind und nicht exakt sein können (Witt­ genstein) –, weil es prinzipiell nicht möglich ist, die Anwendung dieser Regeln durch jeweils weitere Regeln zu reglementieren (Kant). Wenn der Methodiker also nun zu fragen hat, was heißt es, einer methodischen oder Rechtsregel zu folgen, muss er vor allem nach den Mechanismen fragen, die dem Funktionieren von Rechtsprechung

91 Zur Parallelität – »Familienähnlichkeit« – von Spielen und Sprachspielen W. Stegmüller 1989, S. 86 ff. 92 M. Geier 1989, S. 174.

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Kapitel 4: Die »Vagheit in den Regeln« und der Methodenskeptizismus

als »eingespielter Praxis« zugrunde liegen (Kap. 5 u. 6).93 Zuvor gibt die Frage jedoch Anlass, sich mit der Position des Methodenskepti­ zismus auseinanderzusetzen.

III. Wider den Methodenskeptizismus Methode als regelgeleitete Anwendung von Regeln wird mit der »Vagheit in den Regeln« (§ 100) in doppelter Weise in Frage gestellt: als regelgeleitete Anwendung, weil diese selbst nicht hinreichend durch klare Regeln gesteuert werden kann, und hinsichtlich ihres Gegenstandes, weil auch die Norm nur ein Phänomen mit unklaren Grenzen, verschwommenen Begriffen und entsprechend vagen Regeln ist. Die methodische Theorie löst dieses Dilemma nur allzu oft durch eine besondere Art der Reduktion von Komplexität: Entweder blendet sie diese Unschärfen aus und konzentriert sich nur auf den herkömmlichen Schematismus der Regeln oder sie stellt die Methodik als regelgeleitete Anwendung des Rechts grundsätzlich in Frage. Eine übliche Lösung ergibt sich auch aus der betont scharfen Trennung zwischen »Herstellung« und »Darstellung« der richterlichen Ent­ scheidung.94 Während die Darstellung, d. h. die Begründung, einer rationalen Analyse zugänglich sei und deshalb zum Gegenstand einer »Argumentationstheorie« gemacht werden könne, sei diese Möglichkeit wegen ihres letztlich dezisionistischen Charakters auf der Ebene der Entscheidungsfindung nicht gegeben. »Methode« gilt dann tendenziell nur noch für die Begründung, nicht mehr für das Erkenntnisverfahren selbst. Für eine differenzierte Analyse richterlichen Entscheidens ist diese Unterscheidung unverzichtbar;95 und in der Sache findet diese Position nicht nur im Dilemma der Urteilskraft, sondern auch in der Beobachtung der Gerichtspraxis viele gute Gründe. Trotzdem greift sie zu kurz. Auch hier gilt wohl: »Der Regelskeptiker ist im Grunde ein enttäuschter Regelplatonist«.96 Denn wie soll man sich die Ableitung einer regelorientierten Begründung aus einer »regelresis­ Die inhaltlichen Bedingungen – die Determinanten der Rechtserkenntnis – werden im Teil D zu erörtern sein. 94 Zur Übersicht K. Röhl 1987, S. 610 f. 95 Vgl. etwa W. Hassemer 2004, S. 268. 96 U. Neumann 2001, S. 253. 93

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III. Wider den Methodenskeptizismus

tenten« Dezision vorstellen? Welche Basis und welchen Nutzen hätte eine allein auf die Darstellung konzentrierte Argumentationstheorie, die nur noch eine eigentlich nicht nachvollziehbare Entscheidung sekundär rationalisieren könnte? Der Methoden-Idealist mag den Rechtsfindungsprozess als eine Kette regelorientierter Schlussfolge­ rungen ohne entscheidende Lücken beschreiben. Mit dieser Ansicht würde er heute kaum noch jemand überzeugen können. Aber das Verfahren der Rechtsprechung wird auch nicht zureichend erfasst, wenn es nur als eine Kette von Dezisionen beschrieben wird. Es gehört zum Grundcharakteristikum des gerichtlichen Verfahrens, dass es als regelgeleiteter Prozess abläuft. Formal-inhaltlich ist das Verfahren ein Informationsverarbeitungsprozess. Dieser mag zwar, um es bildlich zu überspitzen, hier und da bzw. mehr oder minder auch als »Psychodrama« geführt werden. »In der Regel« bleibt er jedoch auf die »Rechtsfindung« ausgerichtet. Das bedeutet, das Verfahren ist auf mindestens drei parallelen Ebenen durch Regeln gesteuert: a) b) c)

das Sammeln von Informationen und der Umgang mit ihnen sind regelgesteuert, d. h., sie müssen nach Maßgabe des Prozess­ rechts erfolgen; es geht um »regelrelevante« Informationen, was nach materiel­ lem Recht zu beurteilen ist; auch diese Informationsverarbeitungen sind insofern wieder regelorientiert, als sie durch methodische Regeln und Vorstell­ ungen strukturiert sind.

Alle diese regelgeleiteten Prozesse lassen sich, wie gesagt, nicht als eine Kette regelorientierter Schlussfolgerungen ohne entscheidende Lücken beschreiben. Die Lücken und die Zweifel, die aus der »Vagheit in den Regeln« (§ 100) und Begriffen »mit verschwommenen Rän­ dern« (§ 71) folgen, zerstören jedes Ideal einer regeldeterminierten Rechtsfindung. Aber – und das war die Quintessenz der oben (unter II.) dargestellten Gedanken Wittgensteins – sie nehmen dem Verfah­ ren deshalb nicht den Charakter eines Spiels »nach Regeln«. »Eine Regel steht da, wie ein Wegweiser«, heißt es an einer zen­ tralen Stelle in den »Philosophischen Untersuchungen«97 und Witt­ genstein spielt das Bild vom Wegweiser als sicheres Zeichen durch, das bei genauerem Hinsehen dann doch nicht immer eindeutig ist. »Also kann ich sagen, der Wegweiser läßt doch keinen Zweifel offen. 97

PU § 85.

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Kapitel 4: Die »Vagheit in den Regeln« und der Methodenskeptizismus

Oder vielmehr: er läßt manchmal einen Zweifel offen, manchmal nicht. Und dies ist nun kein philosophischer Satz mehr, sondern ein Erfahrungssatz.«98 Dieses Zwischenergebnis ist für ihn Anlass, grundsätzlich nach dem theoretischen Umgang mit Zweifeln zu fragen, und die darauf in der Philosophie seit Descartes’ Rationalismus gege­ bene typische Antwort ist die, so lange zu bohren, bis man einen sicheren Grund findet. Mit Wittgensteins Worten: »Es kann leicht so scheinen, als zeigte jeder Zweifel nur eine vorhandene Lücke im Fun­ dament; so daß ein sicheres Verständnis nur dann möglich ist, wenn wir zuerst an allem zweifeln, woran gezweifelt werden kann, und dann alle diese Zweifel beheben« (§ 87). So wäre denn das Postulat des Regelplatonikers der Aufweis einer Methode, die auf einer Grundlage ruht, an der mit sinnvollen Argumenten nicht mehr gezweifelt werden kann. Diesem Ideal einer unbezweifelbaren sicheren Grundlage begegnet Wittgenstein dann im nächsten Satz mit der verblüffenden pragmatischen Wendung: »Der Wegweiser ist in Ordnung, – wenn er, unter normalen Verhältnissen, seinen Zweck erfüllt«(§ 87). So ist „›der Regel folgen‹ eine Praxis« (§ 202). Den Methodenskeptiker wird diese Wendung freilich kaum überzeugen und er wird zurückfragen: Halten Sie denn die juristische Methodik wirklich für einen Wegweiser, der in Ordnung ist und seinen Zweck erfüllt? Doch jeder, der viel unterwegs ist, weiß, dass es gute und schlechte Wegweiser gibt: Sie dürfen nur nicht in die Irre führen. Die Frage muss also lauten: Ist ein Wegweiser, der »unter normalen Verhältnissen« »seinen Zweck erfüllt«, nicht immer noch besser als gar kein Wegweiser? – Was könnte auch an die Stelle der Methodik treten? Der salomonische Richter, der göttlicher Eingebung folgt? Die Anerkennung des Zufalls? Oder Feyerabends Grundsatz: »anything goes« – »mach’, was du willst«?

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PU § 85 am Ende.

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Kapitel 5: Methode und Handhabungsroutinen – Erkenntnis, Habitus und Kognition

Der Umweg über eine oft sperrige Philosophie hat also unversehens wieder in die bekannten Gefilde der Praxis geführt. Für diese bedeutet Methode, wie bereits betont, nach Regeln vorzugehen. Von Kant und Wittgenstein aber ist – wenn auch in sehr unterschiedlicher Art – zu lernen, dass sich eine Methodenlehre nicht auf die Entwicklung und Darstellung solch expliziter Regeln beschränken darf. Will sie wirklich eine Lehre sein, muss sie auch die nicht explizierten Regeln und Mechanismen der Handhabung zu ihrem Gegenstand machen. Noch ist die Methodenlehre jedoch weit davon entfernt, hierfür auf eta­ blierte und tragfähige Konzepte zurückgreifen zu können. Wohl aber gibt es Ansätze und aus der Rechtssoziologie Beschreibungen sol­ cher Mechanismen99. Mit Beschreibungsmodellen will ich deshalb auch beginnen (I.), um sodann über einen kognitionswissenschaft­ lichen Ansatz (II.) eine Einordnung der Handhabungsroutinen zu versuchen. Das führt zu dem Leitgedanken dieser Methodenlehre: das gerichtliche Erkenntnisverfahren als Prozesse richterlicher Kogni­ tion zu verstehen. Daraus folgen zugleich auch die Gründe, warum »Erkenntnis« in dem Terminus »Erkenntnisverfahren« als »Kogni­ tion« zu verstehen ist und warum deshalb (III.) auch die Notwendig­ keit eines weiten Methodenbegriffs gegeben ist.

I. Habitus und Richtertypen Wenn es im Folgenden darum geht, nicht nur den Umgang mit expli­ ziten methodischen Regeln zu erfassen, sondern auch die richterlichen Handhabungsroutinen, d. h. die Spielräume, die Regeln der Praxis prinzipiell lassen, können wir dafür nicht auf allgemeine und in der Methodenlehre gesicherte Grundlagen zurückgreifen, sondern müs­ 99

Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen W. Hassemer 2004, S. 266 f.

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sen dafür eine Basis erst entwickeln. Die Praxis methodischer Hand­ habungen wurde bisher theoretisch kaum thematisiert.100 Um zu sehen, auf welche Problemlagen es dabei ankommt, beginnen wir zunächst mit Beobachtungen und Befunden: Der Richter transferiert die Methodik, die er im Studium gelernt hat und soweit er sie noch parat hat, in die Praxis. Aber sie betrifft ja von vornherein nur die »Normarbeit« und hier die Gesetzesauslegung. Der für die Alltags­ praxis der meisten Richter sehr viel wichtigere Bereich der »Tatsa­ chenarbeit«101, der Arbeit am Tatbestand, war in der Regel im Studium nie Gegenstand theoretisch-praktischer Reflexionen. Für Sachver­ haltsermittlung, Beweiserhebung und -würdigung, Glaubwürdigkeit von Zeugen, Verhandlungsführung, Kommunikation zwischen Gericht und Beteiligten usw. gibt es keine hinreichende theoretische Ausbildung102; sie werden erlernt im Verfahren »learning by doing« und/oder über »Meister-Schüler-Beziehungen«. – Gleichwohl kann man sagen: Es funktioniert, wenigstens »irgendwie«. Warum es funk­ tioniert, wie das »der Regel folgen« zur Praxis wird, darauf gibt die Beschreibung schon eine erste Antwort. Wittgenstein selbst formu­ lierte sie so: »Einer Regel folgen, das ist analog dem: einen Befehl befolgen. Man wird dazu abgerichtet und man reagiert auf ihn in bestimmter Weise« (PU § 206). Heute würden wir allerdings nicht mehr von »Abrichten« sprechen, sondern, den zeitgenössischen Lern­ theorien entsprechend, von »Nachahmung« und »Imitationsler­ nen«.103 Was zu analysieren ist, sind aber nicht nur die Lernphasen beim Berufseinstieg. Zur Anschauung: Man kennt die »Methoden« seiner Kollegen. Welcher Rechtsmittelrichter ist dann etwa nicht davor gefeit, diese 100 Zur Übersicht über aktuellere Ansätze P. Stegmaier 2008; Morlok/Kölbel 2001 sowie die Hinweise unten 2. 101 Siehe hierzu und zum Folgenden: H. A. Hesse, AnwBl 2000, 325, 327. 102 Auch wenn es in § 5a Abs. 2 DRiG heißt: »Die Inhalte des Studiums berücksich­ tigen die rechtsprechende, verwaltende und rechtsberatende Praxis einschließlich der hierfür erforderlichen Schlüsselqualifikationen wie Verhandlungsmanagement, Gesprächsführung, Rhetorik, Streitschlichtung, Mediation, Vernehmungslehre, Kommunikationsfähigkeit«, sind diese Schlüsselqualifikationen doch kaum zu einem integralen Bestandteil des Studiums geworden. Zur Zulassung reicht i. d. R. der Besuch »einer Lehrveranstaltung zur Vermittlung interdisziplinärer Schlüsselqualifi­ kationen«. 103 Obwohl der Gedanke an den Behaviorismus damit nahegelegt ist, liegt hier keine Anknüpfung an eine der beherrschenden Lerntheorien des 20. Jahrhunderts vor; vgl. dazu Geier 1989, 174.

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Einschätzung – positiv oder negativ – auch in seine Überprüfung einfließen zu lassen? Die Anwälte vor Ort kennen die »Methoden« »ihrer« Richter, und sie stellen sich darauf ein, wenn sie gut sind. Nach herkömmlicher Methodenlehre haben der Richter am Amtsge­ richt und der Richter am BGH die gleiche Methode. Aber wenn sich der Amtsrichter mit dem Palandt begnügt, genügt das in der Regel dem Standard, beim BGH in der Regel nicht. Wo aber ste­ hen diese (methodischen) Regeln geschrieben und wie sähen sie genau aus? Es sind offenbar institutionelle Standards, die u. a. für Prüfungstiefe und Rechercheintensität Vorgaben machen – und die sich verschieben, wenn der Amtsrichter sich nicht mehr nur mit einem »Standardkommentar« begnügen muss (oder darf), weil ihm Daten­ banken zur Verfügung stehen. Vergleichbare Unterschiede in den Standards gibt es bei der Intensität von Sachverhaltsermittlungen. Wieder in anderem Gewand taucht das Problem der Prüfungstiefe bei der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle von kommunalen Satzungen auf. Wie weit reicht hier die Amtsermittlungspflicht und wann greift der (immer rechtlich nachprüfbare?) Grundsatz ein, dass sich die Richter der Tatsachengerichte nicht »gleichsam ungefragt« auf Fehlersuche begeben sollten104? Diesen »Beschreibungen aus der Praxis« ließen sich unschwer weitere hinzufügen: die unterschiedliche Arbeits- und Denkweise etwa von Arbeits-, Straf- und Verwaltungsrichtern, die Unterschiede in Verhandlungsstil und Methode zwischen Großstadtgerichten und Gerichten in idyllischen Provinzlagen, die Schwierigkeiten, die Rich­ ter im Nebenamt haben können, wenn es um die eigene Aktenbear­ beitung statt einer solchen durch Assistenten geht, die erheblichen Differenzen in der Entscheidungsfindung, die man feststellen kann, wenn man die Gruppendynamik von Spruchkörpern mit drei, fünf oder mehr berufsrichterlichen Mitgliedern vergleicht. – All diesen Beobachtungen liegen jeweils typische Handhabungen juristischer Regeln oder eingespielter Routinen zugrunde. Methode funktio­ niert als eingespielte Praxis und eine Methodenlehre, die nicht wesentliche Mechanismen der Rechtsfindung ausklammern will, muss nach theoretischen Modellen Ausschau halten, um diese Phäno­ mene auch erfassen zu können. Da es sich sowohl um soziale als auch

104 Zum Grundsatz der sog. »ungefragten Fehlersuche« vgl. BVerwGE 116, 188–197, sowie H. Sendler, DVBl 2002, 1412–1414, S. Gatz, jurisPR-BVerwG 1/2007 Anm. 6.

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um kognitive Vorgänge handelt, sind hier zunächst die Soziologie und die Kognitionswissenschaften gefragt.

1. Habitus Ein wichtiger Versuch, Phänomene einer eingespielten Praxis, wie oben aus dem Gerichtsalltag beschrieben, zu erfassen und zu klassifi­ zieren, geht von der Beobachtung aus, dass Mitglieder einer Gruppe im Denken, Fühlen und Handeln oft typische Gemeinsamkeiten aufweisen. Hinter dem, was zunächst als individuelles Handeln erscheint, werden Muster deutlich, die dieses bestimmen – ein »Habi­ tus«. Wesentlich geprägt wurde dieser Begriff von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930–2002).105 In dessen Theorie der Praxis, mit der er zwischen objektivistischen und subjektivistischen Sozialtheorien vermitteln wollte,106 nimmt er eine Schlüsselstellung ein, wie er auch für unsere Überlegungen ein Schlüssel zum Ver­ ständnis des Zusammenhanges von Rechtssystem und richterlicher Kognition ist. Eine nur punktuelle Auseinandersetzung mit dem in der Philosophie und Soziologie schon lange geläufigen HabitusBegriff107 würde die Erklärungsperspektive allerdings zu sehr verkür­ zen. Voranzustellen ist deshalb eine erste allgemeine Einordnung in Grundpositionen der allgemeinen Gesellschaftstheorie.

a) Grundpositionen der Sozialtheorie Bourdieus – Parallelen und Unterschiede zur Systemtheorie Luhmanns Wie die Systemtheorie Luhmanns gehört auch die Sozialtheorie Bourdieus zu den soziologischen »Großtheorien«, denen es darum zu tun ist, sowohl »die« Gesellschaft insgesamt zu erfassen als auch die Probleme ihrer Differenzierungen und ihrer Differenzie­ rungsprozesse.108 Luhmann differenziert dabei zwischen den unter­ schiedlichen »Systemen«, Bourdieu zwischen den unterschiedlichen Zu Bourdieu und seinem Habituskonzept vgl. G. Fröhlich/B. Rehbein 2014; C. Bohn/A. Hahn 2000; M. Schwingel 2003. 106 Etwa gegen den Strukturalismus einerseits und die Phänomenologie Husserls andererseits; vgl. C. Bohn/A. Hahn 2000, S. 254 ff. 107 Nachweise bei G. Fröhlich/B. Rehbein 2014, S. 110 f. 108 Zur Parallele Luhmann – Bourdieu vgl. etwa C. Bohn/A. Hahn 2000, S. 261 ff. 105

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gesellschaftlichen »Feldern« – dem Feld der Universitäten, dem phi­ losophischen Feld, dem Feld der Kunst, des Rechts etc. Doch während Luhmann – von Hause aus Jurist – sehr intensiv gerade das »Rechts­ system« analysiert hat, hat Bourdieu das »rechtliche Feld« als solches unbearbeitet gelassen. Wenn im Verlauf unserer Überlegungen das Spezifische des »Rechtssystems« und seine Differenzen zu anderen Systemen der Gesellschaft zur Debatte stehen, werden wir deshalb auch immer wieder auf Luhmann zurückkommen. – Andererseits: Zwar lässt sich die Frage nach den Mechanismen, durch die Individuen als »Akteure« in das System »integriert«109 werden, systemtheore­ tisch beantworten: Statt von »Integration« müsste man dann von »struktureller Koppelung« sprechen.110 Aber diesen Mechanismen hat Luhmann keine größere Aufmerksamkeit gewidmet, während sie für Bourdieu im Mittelpunkt stehen. Das Habituskonzept wurde von ihm nicht abstrakt-theoretisch, sondern aus empirischen Forschungs­ fragen heraus entwickelt.111 Da die Strukturen der Phänomene ver­ gleichbar sind, ist es auch für uns relevant. Rechtsprechung ist in ihren Funktionsweisen nicht zu erfassen, wenn man nur den individuellen Richter vor Augen hat, der nur die ihm explizit vorgegebenen Regeln befolgt. Notwendig ist es, auch das zu verstehen, was an Individuen (den Richtern) in ihrer Eigenschaft als soziale Akteure im Rechtsprechungsprozess nicht individuell, sondern soziologisch relevant ist.112 Hier greift das Habituskonzept ein – Habitus als System von Dispositionen, die für die Regelmäßigkeit und Angemessenheit des Handelns verantwortlich sind.113 Dabei gibt es nicht den Habitus. Der Habitus entsteht im sozialen »Feld« und ist immer von diesen Feldern abhängig. Man kann deshalb von einer »Pluralität von Habitus«114 ausgehen. Diese Pluralität begrün­ det zugleich auch ein Veränderungs- und Differenzierungspotential: 109 Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang allerdings nicht von »Integration«, sondern von »Einverleibung«, »incorporation«, vgl. G. Fröhlich/B. Rehbein 2014, S. 81 ff. 110 Die »Akteure« wären dann »psychische Systeme« und das Rechtssystem oder andere gesellschaftliche »Subsysteme« dazu »Umwelt«; näher dazu R. Stichweh 2000, S. 210 f. Auf Probleme der »strukturellen Koppelung« wird in Kap. 16 IV. aus­ führlicher einzugehen sein. 111 M. Schwingel 2003, S. 59. 112 Siehe hierzu M. Schwingel 2003, S. 59. 113 Vgl. G. Fröhlich/B. Rehbein 2014, S. 113 f. 114 C. Bohn/A. Hahn 2000, S. 261.

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Innerhalb der Grenzen habitusbedingter Dispositionen verbleiben dem Einzelnen durchaus Spielräume für individuelles Handeln und damit zu Veränderungen in den sozialen »Feldern«.115 Hier liegt denn auch der entscheidende Ansatz für die so genannte »revidierte Pro­ fessionssoziologie«.116

b) Der Habitus und seine Routinen Doch was uns im jetzigen Zusammenhang interessiert, sind nicht die Veränderungspotentiale, sondern die Vermittlungsmechanismen. Bourdieu beschreibt sie ganz allgemein als Schemata: »Der Habi­ tus bewirkt, daß die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer (oder wechsel­ seitig austauschbarer) Schemata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils«.117 Wenn wir professionelle Routinen analysieren wollen, müssen wir uns also den Habitus ansehen. Er leistet die Vermittlung zwischen »dem System objektiver Regelmäßigkeiten und dem System der direkt wahrnehmbaren Verhaltensformen«.118 Er wirkt als »Hand­ lungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix«119, die typische Muster der Problembewältigung generieren. Und so taugt dieser Ansatz auch zur Erklärung richterlicher Handhabungsroutinen. Die Art und Weise etwa, wie ein Richter eine Rechtsfrage bearbeitet, vollzieht sich sozusagen im Vollzug eines Habitus.120 C. Bohn/A. Hahn 2000, S. 259 ff. Das Habituskonzept ist hier der Ausgangsgedanke für empirische Untersuchun­ gen, die typische Formen der individuellen Bewältigung des Theorie-Praxis-Problems zu erfassen suchen; siehe dazu Morlok/Kölbel 2001. Konkret wird dieser Ansatz in den Untersuchungen zu »Richterbildern«, eine Frage, auf die unter 2. eingegan­ gen wird. 117 P. Bourdieu 1987, S. 278. 118 P. Bourdieu 1970, S. 40. 119 P. Bourdieu 1979, S. 169; Strukturalismus und soziologische Wissenschaftstheo­ rie, in Ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M. 1970, 7–41, hier 40. 120 Zu den Mechanismen siehe K. I. Lee 2010, S. 263 ff: »Exkurs: Juristisches Feld und Habitus«. 115

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Der Habitus gibt Sicherheit, führt aber auch, und das ist die andere Seite der Medaille, zur professionellen Unbeweglichkeit. Man schirmt seine Routinen ab: »Das haben wir schon immer so gemacht.« »Das haben wir noch nie so gemacht.« Auch die von der Theorie immer wieder beobachtete Resistenz gegenüber neueren Ansätzen und Ergebnissen der methodologischen Wissenschaften hat hier ihren Ort.121 Jede Theorietagung der Deutschen Richterakademie bietet hierzu hinreichende Anschauung. – Aber diese Anschauung belegt zunächst nur, dass Ergebnisse von Sozialisationsprozessen nicht auf Tagungen, wie sie die Richterakademie durchführt, aufgebrochen und verändert werden können. Die für eine Methodenlehre wesent­ liche Frage, wie dies geschehen könne, ist dann auch mit soziologi­ schen Mitteln allein nicht mehr zu beantworten. Antworten sind hier davon abhängig, wie sich die entscheidenden Handlungs-, Wahrneh­ mungs- und Denkmuster im erkennenden Subjekt, beim Richter selbst, ausbilden, entstehen und sich gegebenenfalls auch verändern. So hat sich die Rechtsermittlung von der Kommentarnutzung zur Datenbankrecherche grundlegend verändert. Auch für die gewandelte Methode der Rechtsfindung haben sich Mechanismen impliziter Regeln entwickelt. Darauf wird ausführlich einzugehen sein (Kap. 25). Doch damit sind die kognitiven Prozesse nicht benannt, die zu den Veränderungen geführt haben. Und andererseits kann man bei der Analyse dieser Prozesse nicht daran vorbeigehen, dass nicht nur die Gewohnheiten von Bedeutung sind, die allen Mitgliedern einer Gruppe gemeinsam sind. Am Beispiel: Da waren die IT-Freaks, die die IT mit z. T. sehr persönlichem Engagement in den Geschäftsalltag zu implementieren suchten, Kolleginnen und Kollegen, die sich besten­ falls »zurückhaltend« verhielten, und Behördenleiter, die die Ent­ wicklung – je nach Sachkompetenz, Interesse oder Unverständnis – förderten oder bremsten. Heute ist IT-Nutzung eine Selbstverständ­ lichkeit. – Wie gesagt, der Habitus lässt Spielräume für individuelles Handeln und ermöglicht so durchaus Veränderungen in den sozialen »Feldern«.

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Näher dazu Kap. 26, Vorb.

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2. »Richtertypen« Der Habitus wird erworben, der richterliche im Justizsystem, und wenn die Verweildauer lang genug ist, oft sehr konkret im Umfeld eines Gerichtes oder gar nur eines Spruchkörpers. Neben dem Habi­ tus, mit dem wir typische richterliche Handlungsmuster zu erfas­ sen suchen, interessieren deshalb auch die Verhaltensmechanismen, die den eingeübten Mustern vorgegeben sind. So sah eine in den 60er Jahren vieldiskutierte These in sozialer Herkunft, Erziehung und Ausbildung den entscheidenden Schlüssel zum richterlichen Ent­ scheidungsverhalten und zum richterlichen »Vorverständnis«.122 Sie ließ sich – zugegebenermaßen polemisch vereinfacht – auf den fol­ genden Nenner bringen: »Sage mir, aus welchem Milieu/Elternhaus der Richter kommt, und ich sage dir, wie er entscheiden wird.« Schon in der damaligen Auseinandersetzung hat sich dieser Ansatz jedoch nicht durchsetzen können. Belastbare Nachweise für einen unmit­ telbaren Wirkungszusammenhang: Herkunft – Richtertypus – Ent­ scheidungsverhalten hat die weitere Erörterung dieses Ansatzes nicht erbracht.123 Gleiches gilt auch für andere Versuche, aus bestimmten (nicht individualisierten) Persönlichkeitsprofilen klare Indikatoren für konkretes Entscheidungsverhalten zu gewinnen.124 Ein anderes Erkenntnisinteresse ist mit der Bildung von Typo­ logien verbunden, wenn es darum geht, richterliches Verhalten zu beobachten, zu beschreiben und zu analysieren. Jeweils individuelle Beobachtungen, Selbstaussagen, situationsbezogene Bemerkungen (etwa in Interviews) etc. müssen dann zu allgemeinen Befunden generiert werden. Hier bieten sich Typisierungen an; die jeweiligen »Richtertypen« oder »Richterbilder« müssen dann aber auch in erster Linie aus dem Kontext der jeweiligen Studien verstanden werden. So beschreibt etwa J. Schmid aus der Beobachtung des Simulationsfal­ les »Arzthaftung« sehr anschaulich vier Typen der Fallbearbeitung: den der souveränen Verhandlungsführung, den »Relationstechniker« (den es so heute nur noch selten geben dürfte), den Routinier und den 122 Vgl. insbesondere die Arbeiten von R. Dahrendorf 1964, Zur Soziologie der juris­ tischen Berufe in Deutschland, Anwaltsbl. 1964, S. 216–234; W. Kaupen 1969. 123 Ein gute Übersicht gibt D. Simon 1975, S. 147 f., 160 ff. Siehe auch das Fazit von J. Schmid 1997a, S. 114 zu dem schon in der Einleitung zitierten Arzthaftungsfall. 124 T. Berndt 2010, S. 50 f. Kennt man die Person – etwa des zu wählenden Richters –, sieht das natürlich anders aus.

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II. Kognition und Erkenntnisverfahren

Chaotiker.125 Ein anderes Beispiel ist die Untersuchung von T. Berndt; hervorgegangen aus einem von M. Morlok geleiteten Projekt »Recht als soziale Praxis«.126 Aus Interviews mit Richtern wird hier versucht, aus ihren Selbsttypisierungen Typen zu entwickeln. Die theoretische Bedeutung solcher Typisierungen liegt also insgesamt eher darin, dass sie Prozesse der Habitualisierung kon­ kretisiert und zugleich auf prinzipielle Grenzen von Generalisierun­ gen verweist – auf den Bereich der Kognition, der unhintergehbar individuell ist und für den wir nur konstatieren können, dass er »höchstpersönlich« ist.127 Für die methodische Praxis lassen sich am Beispiel bestimmter Richtertypen jedoch sehr anschaulich die Grenzen diskutieren, die zwischen methodisch noch vertretbarem und nicht mehr vertretbarem Handeln verlaufen. Ein Beispiel sind die Spielräume, die das Gesetz dem Richter bei der Verhandlungsführung lässt (Kap. 13 III. 2. b); ein anderes ist etwa der »Richterkönig« und sein »souveräner« Umgang mit der Methode.128

II. Kognition und Erkenntnisverfahren Methodisches Verhalten, so war das Zwischenergebnis, ist nicht nur eine Frage bewusster Regelanwendung. Die Methodenlehre muss auch die nicht explizierten Regeln und Mechanismen der Handha­ bung zu ihrem Gegenstand machen. Und diese sind, wie gezeigt, über Prozesse der Habitualisierung als soziologische Prozesse auch erklär­ bar. Offen ist, wie sich diese überindividuellen Handlungs-, Wahr­ nehmungs- und Denkmuster, die aus soziologischer Sicht als »Habi­ tus« beschrieben werden, im erkennenden Subjekt, also beim Richter selbst, ausbilden, wie sie entstehen und wirken. Wir müssen also einen Perspektivwechsel vornehmen und nach den kognitiven Prozessen fragen, die der Habitualisierung zugrunde liegen. Ein derartiger Perspektivwechsel ändert selbstverständlich nichts an dem Befund, dass sich die Anwendungsroutinen nicht als eine Kette logischer Schlussfolgerungen darstellen lassen. Dieser Befund J. Schmid 1997b, S. 160 ff. T. Berndt 2010; zum Projekt S. 70 ff., 291. 127 Vgl. bereits Einl. sowie etwa Kap. 23 IV. 2.; 26 V. 128 Siehe die anschauliche Darstellung bei T. Berndt 2010, S. 174 ff. Ein plastisches Beispiel dazu ist die Entscheidung BAGE 137, 275–291, s. Kap. 17 V. 125

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muss aber nicht zu der Folgerung führen, dass wir es mit einer Art »Black Box«, also mit Prozessen zu tun haben, die einer nähe­ ren Analyse nicht zugänglich sind und uns verborgen bleiben. Wir stehen vielmehr vor der Aufgabe, diese Prozesse mit Mitteln und Ansätzen aus den Kognitionswissenschaften auszuleuchten. Ziel ist es, aus der »Black Box« eine »Glass Box« werden zu lassen.129 Der juristische Leser muss sich dann allerdings darauf einlassen, wesentliche Begriffe, die er aus der Methodendiskussion kennt, aus einem anderen Kontext zu verstehen und mit anderen Vorstellungen zu verbinden. Das betrifft insbesondere die Begriffe »Denken« und »Erkennen«. Eine erste Einstimmung mag der große Göttinger Gelehrte Lichtenberg (1742–1799) mit folgendem, berühmtem Ein­ trag in sein Sudelbuch geben: »Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; andere glauben wir wenigstens, hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.«130

Die Vorstellung eines »Es denkt« verdeutlicht wohl am anschau­ lichsten das Gegenbild zu den Vorstellungen, die sich in der Metho­ dendiskussion mit dem Begriff »Erkennen« verbinden. Rechtswis­ senschaftlicher Umgang mit dem Recht verlangt »Erkenntnis«, und Rechtserkenntnis versteht sich in dieser Tradition als begrifflichaxiomatische Deduktion. Für die Begriffsjurisprudenz und den Gesetzespositivismus liegt das zu Tage. Aber auch die Topik bezieht aus dieser Vorstellung ihre polemische Kraft.131 Wenn Viehweg die »großen Verdienste« der Topik »um die Jurisprudenz« darin sah, dass sie es ist, »die die Jurisprudenz nicht zur Methode werden läßt, wenn man Methode nur ein Verfahren nennt, das logisch streng nachprüf­ bar ist, mithin einen eindeutigen Begründungszusammenhang, also ein deduktives System, schafft«, wendet er sich damit zwar gegen 129 Anknüpfend an F. Rösler 2011, S. 2: »Ziel der Kognitiven Psychologie ist es, ein Glass-Box-Modell der Informationsverarbeitung zu erarbeiten, in dem die Strukturen und Prozesse der Informationsverarbeitung nachvollziehbar sind.« 130 G. C. Lichtenberg 1971, Bd. II, S. 412 – Heft K 76. 131 Auf Begriffsjurisprudenz und Topik wird in Kap 18 I. über das »Recht« als Gegenstand der Methode zurückzukommen sein.

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II. Kognition und Erkenntnisverfahren

die Brauchbarkeit eines juristischen Denkens, das »logisch streng nachprüfbar ist«, geht dabei aber selbst von der Vorstellung eines auf logische Ableitung verengten Erkenntnisbegriffs aus.

1. Erkenntnis oder Dezision An Begriffsjurisprudenz und Topik entzünden sich die Geister heute kaum noch – an der Vorstellung über das, was wir »Erkenntnis« nennen, entscheidet sich aber, ob zu den beiden oben thematisier­ ten Problemstellungen: – –

der gerichtlichen Entscheidungsfindung als Erkenntnis oder Dezision und dem »Habitus« als Erklärungsmodell für eine mehr oder minder funktionierende professionelle Praxis,

eigentlich bereits alles Wesentliche gesagt ist oder ob nicht doch noch Spielräume für weitere Analysemöglichkeiten bleiben. Bevor ich mich dem Habitus in seiner Funktion einer Vermittlung zwischen Regel und Entscheidung zuwende, ist der kognitionswis­ senschaftliche Ansatz selbst zu skizzieren. Das sollte jedoch erst geschehen, wenn keine hinreichenden Gründe vorliegen, an einem auf logische Ableitungszusammenhänge begrenzten Erkenntnisbe­ griff festzuhalten. Aber wo sollten sie liegen? Insbesondere für die Begriffsjurisprudenz und den Gesetzespositivismus war er selbst­ verständliches theoretisches Fundament; aber dieses ist mit beiden rechtstheoretischen Ansätzen entfallen. Was als Grund gleichwohl bleibt, ist die These von der Notwendigkeit, an der kategorialen Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Dezision festzuhalten. Am Beispiel des nachfolgenden Textes zeigt sich jedoch, wie problema­ tisch diese These ist. Weil es auf den Gesamtzusammenhang der Argumentation ankommt und der Text zugleich auch die unterschied­ lichen Begriffsverwendungen in der Diskussion dokumentiert, ist es ein sehr ausführliches Zitat: »Jedenfalls in Teilen der juristischen Methodenlehre wird weiterhin daran festgehalten, daß auch die Entscheidung umstrittener Rechts­ fragen ein Akt der Erkenntnis sei. Das soll selbst für innovative Ent­ scheidungen gelten, wie etwa die ›erstmalige Auffüllung einer Geset­ zeslücke im Wege einer Analogie oder einer teleologischen Reduktion‹.

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Kapitel 5: Methode und Handhabungsroutinen – Erkenntnis, Habitus und Kognition

Hier wird der Begriff der Erkenntnis allerdings durch das Attribut ›schöpferisch‹ spezifiziert. Aber das ist keine befriedigende Lösung. Man kann zugestehen, daß der paradox anmutende Begriff der ›krea­ tiven Erkenntnis‹ einen Stellenwert im Rahmen eines Modells des Verstehens hat, das die aktive Rolle des Interpreten im Verhältnis zu dem zu interpretierenden Werk und dessen Urheber betont. In diesem Sinne mag man von der musikalischen, der literarischen, der kunstge­ schichtlichen Interpretation als schöpferischer Erkenntnis sprechen. Bei der Tätigkeit des Juristen aber kommt es gerade darauf an, klarzu­ stellen, wem eine bestimmte Entscheidung zuzurechnen ist. Das folgt aus der Bedeutung von Kompetenzregeln in der Rechtsordnung. Der Unterschied zwischen der kognitiven Komponente der richterlichen Entscheidung (Rekonstruktion der Entscheidung des Gesetzgebers) und der kreativen darf deshalb nicht durch harmonisierende Formeln verdeckt werden. Hält man deshalb an der scharfen kategorialen Unter­ scheidung zwischen Erkenntnis und Dezision fest, so liegt auf der Hand, daß sich die Entscheidung strittiger Rechtsfragen nicht im Wege der reinen Erkenntnis vollzieht. Erkenntnis ist ohne gleichwertige Alternative; die Alternative zur Erkenntnis ist der Irrtum. Wer der Auffassung ist, die Planeten bewegten sich auf epizyklischen Bahnen, vertritt nicht einfach eine Mindermeinung, sondern unterliegt einem Irrtum. Wer dagegen der Auffassung ist, daß Notwehr (§ 32 StGB) auch gegen Angriffe von Tieren zulässig ist, irrt nicht, sondern vertritt eine Mindermeinung. Wenn es aber bei umstrittenen Rechtsfragen nicht um Erkenntnis geht: Folgt daraus, daß es die Rechtswissenschaft lediglich mit (Willens)-Entscheidungen zu tun hat?«132

Neumann wendet sich zu Beginn des Textes gegen einen Begriff von Erkenntnis, der auch das »Schöpferische« einschließt. Und in der Tat hat die Methodenlehre »in Teilen« auch immer einen gegenüber dem »strengen« durchaus erweiterten Erkenntnisbegriff vertreten. Ein erweiterter Methodenbegriff gehört geradezu zum Kern der durch die Philosophische Hermeneutik geprägten Methodenlehre. Erinnert sei an die Ausführungen zu Gadamer, Wittgensteins Sprachspiel und Savignys Begriff der »Reconstruction« (Kap. 2 III. 3.). Auch der Grund für die Ablehnung dieses Erkenntnisbegriffs ist leicht einseh­ bar. Es ist ein normativ-funktionaler: die philosophisch-juristische Hermeneutik verwischt die Grenzen zwischen Rechts-Schöpfung und (im traditionellen Sinn) Rechts-Erkenntnis und es bleibt folglich unklar, »wem eine bestimmte Entscheidung zuzurechnen ist« – dem 132

U. Neumann 2001, S. 242 f.

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II. Kognition und Erkenntnisverfahren

Gesetzgeber oder dem Gericht. Das Problem ist aber das Postulat: Die Forderung, der »Unterschied zwischen der kognitiven Komponente der richterlichen Entscheidung (Rekonstruktion der Entscheidung des Gesetzgebers) und der kreativen darf […] nicht durch harmoni­ sierende Formeln verdeckt werden«, kann heute sowohl faktisch als auch theoretisch nicht mehr eingelöst werden. Hier hat schon die Analyse des Begriffs der »Reconstruction« bei Savigny gezeigt, dass eine eindeutige Erkenntnis dessen, was der Gesetzgeber entschieden hat, gerade via »Rekonstruktion« nicht mehr zu haben ist (vgl. Kap. 2 III.). Das bedeutet aber, dass der Jurist mit »der scharfen kategorialen Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Dezision« keine Differenz von Bedeutung mehr in den Griff bekommt. Die Entscheidung einer strittigen Rechtsfrage vollzieht sich so viel und so wenig in einem vom Prozess der »Herstellung« losgelösten Prozess »reiner Erkenntnis« wie der Umgang mit einer unumstrittenen Rechtsfrage. Ein Rechts­ streit ist immer ein Streit um Alternativen. Aber er ist deshalb, wie in der Argumentation wider den Methodenskeptizismus mit Gründen schon skizziert, nicht nur als eine Kette von Dezisionen zu begreifen. Auch Neumann sieht indes, wie mit der rhetorischen Schluss­ frage ja bereits angedeutet, dass auch dort, »wo der kognitive Bereich überschritten ist, […] es im Bereich des Rechts nicht um pure Dezision« geht, »sondern um begründetes Entscheiden«.133 Der »kognitive Bereich« wird dabei als Erkenntnis im oben beschriebenen »strengen« Sinn verstanden. In der Konsequenz bleibt dann zwischen Erkenntnis und Dezision, wie im Abschnitt zuvor bereits beschrieben, nur noch Raum für eine Argumentationstheorie, d. h. eine Beschrän­ kung der Methodik auf die Begründung der Entscheidung. Ein unver­ zichtbares Anliegen der Methodenlehre muss es demgegenüber aber sein, ihr die Möglichkeit zu eröffnen, auch das Erkenntnisverfahren – und damit auch den Prozess des »Entscheidens« mit seinen Anwen­ dungsroutinen – als kognitiven Prozess zu verstehen. Nur so kann die juristische Methodik auch wieder Anschluss an die wissenschaftliche Diskussion finden. Denn das juristische Denken lässt sich heute nicht mehr sinnvoll allein »unter dem Gesichtspunkt des logischen Schlußfolgerns betrachten«, um die bereits in der Einleitung (III.) zitierte Feststellung aus einem führenden Lehrbuch der Kognitiven Psychologie zu wiederholen.«134 Für die juristische 133 134

Neumann 2001, S. 243. J. Anderson 2001, S. 315.

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Kapitel 5: Methode und Handhabungsroutinen – Erkenntnis, Habitus und Kognition

Methode ist das gerichtliche Verfahren in erster Linie ein Informa­ tionsverarbeitungsprozess135 . Und so wie es Ziel der Kognitiven Psychologie ist, »ein Glass-Box-Modell der Informationsverarbei­ tung zu erarbeiten, in dem die Strukturen und Prozesse der Informa­ tionsverarbeitung nachvollziehbar sind«136, muss auch die juristische Methode den Versuch machen, die richterlichen Informationsverar­ beitungsprozesse mit Hilfe der Kognitionswissenschaften so nach­ vollziehbar wie möglich zu machen. Entsprechend werde ich für die folgenden Erörterungen nicht mehr von der Grundunterscheidung »Erkenntnis – Dezision«, sondern von der Unterscheidung zwi­ schen »Logik« und »Mustererkennung« als den beiden Haupt­ formen des Denkens ausgehen.137

2. Kognition und Kognitionswissenschaft Ein entscheidender Schritt wird darin bestehen (müssen), wichtige und weiterführende Ansätze für die nachfolgenden Überlegungen zur Methode und zu dem, was wir »Denken« und »Erkennen« nen­ nen, in einem kognitionswissenschaftlich abgesteckten Bereich von »Erkenntnis« zu suchen – mithin weder den »kognitiven Bereich« und den Begriff des »Erkennens« auf unbestreitbare, logisch gewonnene Erkenntnisse einzuengen noch uns auf die rein geistesgeschichtlich und geisteswissenschaftlich ausgerichteten Erkenntnisvorstellungen, wie sie aus der philosophischen Hermeneutik übernommen wurden, zu beschränken. Mit empirisch abgesicherten Erklärungsmodellen kann auch Rechtstheorie nur gewinnen. So sind die Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmuster, die die Handlungsroutinen bestimmen – also den Habitus ausmachen – nicht nur soziologisch beobachtbare Phänomene. Ihnen liegen kognitive Prozesse zugrunde und wir müssen sie aus dieser Perspektive zu analysieren suchen – einer Perspektive, die Bourdieu angesichts des damaligen Standes der Kognitionswissenschaften noch kaum hätte einnehmen können. 135 Kap 4 III. – Er ist, wie hinzugefügt werden muss, natürlich aber immer auch ein emotionaler Prozess. 136 F. Rösler 2011, S. 2. 137 Im Anschluss an den Neurowissenschaftler (und Nobelpreisträger für Medizin) G. M. Edelman 2007, S. 145 f. Zur Mustererkennung als Denkform ausführlich Teil E.

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II. Kognition und Erkenntnisverfahren

»Kognition« ist ein in den Kognitionswissenschaften – z. T. mit unterschiedlichen Inhalten und Akzentuierungen – verwendeter Sammelbegriff für Strukturen und Formen des Erkennens und Wis­ sens.138 Ein Standardlehrbuch der Psychologie umschreibt sie mit fol­ genden Begriffen: »Kognitionen: Strukturen oder Prozesse des Erkennens und Wissens. Darunter fallen z.B. die Prozesse des Wahrnehmens, Schlussfolgerns, Erinnerns, Denkens und Entscheidens und die Strukturen […]des Gedächtnisses. Der Begriff der Kognition ist an die Stelle der traditio­ nellen Bezeichnung des ›Geistigen‹ getreten.«139

Als Definition wird diese Umschreibung kaum befriedigen. Das liegt aber in der Natur der Komplexität der zu beschreibenden Phä­ nomene. Entsprechend ist die »Kognition« auch Gegenstand sehr unterschiedlicher Disziplinen, insbesondere der Psychologie, Neuro­ biologie, Informatik und Philosophie. Kognitionswissenschaften gibt es – jedenfalls beim derzeitigen Stand – sinnvoll nur im Plural. Anders als aus der Multiperspektivität verschiedener Disziplinen lassen sich die kognitiven Aktivitäten, die das richterliche »Erken­ nen« ausmachen, nicht analysieren. Beweisaufnahmen etwa – ob Zeugenvernehmung oder Augenschein – sind kompliziert vernetzte Prozesse von Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Wissen, Schlussfol­ gerungen, Gedächtnis, Sprache und Informationsverarbeitung. Das Aktenstudium, das Nachdenken über Rechtsfragen und das Lesen von Rechtstexten unterscheidet sich da nur in den Gewichtungen, die die einzelnen Funktionen haben, nicht aber in der Komplexität des Zusammenhanges.

Nach W. Singer »lassen sich mindestens fünf Bedeutungen differenzieren, die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden und verschieden scharf gefaßt und theoretisch ausgearbeitet sind«. War der Begriff zunächst hauptsächlich auf die Probleme »Den­ ken« und »Problemlösen« ausgerichtet, wird er heute umfassend verstanden und schließt vor allem auch die emotionalen Prozesse ein – Art. »Kognition«, Lexikon der Neurowissenschaft, Bd. 2, S. 247 ff. Vgl. dort auch den Art. »Kognitive Neurowissen­ schaft« von W. Schneider u. W. Prinz. 139 Zimbardo/Gerrig 1999, S. 790; in der Neubearbeitung – Gerrig/Zimbardo 2014, S. 276 – wird der Begriff ausführlich und mit Beispielen umschrieben. 138

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Kapitel 5: Methode und Handhabungsroutinen – Erkenntnis, Habitus und Kognition

3. »Prozedurales Wissen« und juristische Methode Nehmen wir hinzu, dass diese Prozesse auch nahezu stets mit »Emo­ tionen« verwoben, jedenfalls mit ihnen kontaminiert sind,140 liegt die Notwendigkeit einer Eingrenzung unserer kognitionswissenschaftli­ chen Betrachtungsweise auf der Hand. Wenn wir den Methodenbe­ griff durch die »Integration« kognitiver Prozesse nicht ins Uferlose erweitern wollen, müssen wir diesen Ansatz genauer auf die Problem­ stellungen richterlicher Methodik fokussieren. Als erster Schritt der Eingrenzung bietet sich hier eine grundlegende kognitionswissen­ schaftliche Unterscheidung an, nämlich die zwischen dem, was als deklaratorisches Wissen bezeichnet wird – Wissen über Fakten und Dinge – und dem Wissen darüber, wie man bestimmte kognitive Operationen ausführt, dem prozeduralen Wissen.141 Wenn Juristen eine Vorlesung hören, z. B. über Strafrecht oder Vermögensdelikte, ein entsprechendes Lehrbuch oder einen Fachauf­ satz zu Problemen der Bauzeitverzögerung lesen, geht es ihnen zunächst um den Erwerb von speicherbarem, deklarativem Wissen. Das ist in der Regel nicht Selbstzweck. Ziel ist es vielmehr, sich Wissen für Problemlösungen zu verschaffen. Es geht, in der Termi­ nologie der kognitiven Psychologie, um »prozedurales Wissen«. Methodisches Vorgehen bedeutet in diesem Sinne: Über Wege zum strukturellen Lösen von Problemen zu verfügen und dabei jeweils dieje­ nigen Regeln und Mittel einzusetzen, die für die Problemlösung optimal geeignet scheinen.142 »Optimal geeignet scheinen« aber auch – und nicht zuletzt – die Mittel, die dem Richter z. B. mit geringstem Aufwand die größtmöglichen Erledigungszahlen ermöglichen – gegebenenfalls noch verstärkt durch ein besonderes Lob im Dienstleistungszeugnis für seine besondere Belastbarkeit. Der kognitionswissenschaftlichen Betrachtungsweise ist also entgegenzuhalten, dass es hier nur um ein normbezogenes Methodenverständnis gehen kann. Aber gerade weil sich das richterliche Urteilen nur begrenzt in Regeln fassen lässt – nicht einmal hinreichend in genaue deskriptive, geschweige denn in normative –, wird die Wahl methodischer Regeln immer auch von Motiven bestimmt, deren sachliche Legitimation (zurückhaltend 140 141 142

Vgl. hier insbesondere A. R. Damasio 1997. Vgl. dazu J. R. Anderson 2001, S. 241. Vgl. dazu J. R. Anderson 2001, S. 241 ff.

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II. Kognition und Erkenntnisverfahren

formuliert) mindestens zweifelhaft ist. Die kognitionswissenschaftli­ che Definition des prozeduralen Wissens ist also eine notwendige Ausgangsperspektive, um das Gesamtspektrum des methodischen Vorgehens im Auge zu behalten und immer gegenwärtig zu haben, dass dieses Vorgehen stets wesentlich auch durch Wissen und Regeln gesteuert wird, die sich von einer juristischen Methodenlehre nicht in Regeln fassen lassen. Das betrifft zunächst die Zielstellungen, für die der Richter sein prozedurales Wissen einsetzt. Sind es amtsadäquate Ziele, für die er dieses Wissen einsetzt (Feststellung der Rechtslage, Herstellung des Rechtsfriedens durch einen die Interessen austarierenden Vergleich), oder wird sein Verhalten durch Vorstellungen und Motive gesteuert, die er nicht öffentlich machen dürfte, ohne gegen Amtspflichten oder mindestens den Geist seines Richtereides zu verstoßen (»Was interessiert ein genauerer Blick auf die Sach- und Rechtslage – Hauptsache, das Verfahren ist erledigt«)? Das betrifft zum anderen die Mittel. Hier reicht die Skala von amtsadäquat und regelkonform über die Kunst, die Vagheit der Regeln auszunutzen, bis zur Regel­ missachtung. Die Beispiele hierzu sind alltäglich: der Richter, der die Parteien oder eine Partei durch Drohung und (oft eigentlich auch) Täuschung zum Vergleich »prügelt«, der Fragen nicht stellt, obwohl sie für den Kundigen auf der Hand liegen, der zu bequem ist, einer Rechtsfrage nachzugehen, der sein auf problemlos schnelle Erledigung ausgerichtetes Verhandlungskonzept durchzieht und dem es dabei auf eine faire Verhandlungsführung nicht ankommt usw. In einem zweiten Schritt ist deshalb nach Regeln und Mechanis­ men der Einschränkungen zu fragen. Gehen wir dazu zunächst von den Mechanismen aus, die das Recht selbst zur Verfügung stellt, die aber voraussetzen, dass eine normative Regel besteht, deren Verletzung entweder in einem Rechtsmittelverfahren oder in einem außerordentlichen Überprüfungsverfahren festgestellt werden kann. Die letztgenannten, außerordentlichen Rechtsbehelfe haben augen­ scheinlich die Funktion und sind auch deshalb entwickelt worden, um eine Missachtung oder Nichtbeachtung von Regeln jedenfalls dann noch sanktionieren zu können, wenn sich deren Handhabung nicht mehr im Raum des Vertretbaren hält. Typische Fälle sind hier Gehörsrügen, Rüge eines unfairen Verfahrens, die Rüge richterli­ cher Willkür. Was in diesem Zusammenhang interessiert, sind aber nicht die prozessualen Überprüfungsmöglichkeiten als solche. Prozessrecht­

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Kapitel 5: Methode und Handhabungsroutinen – Erkenntnis, Habitus und Kognition

lich haben die genannten Regeln insoweit eine Sonderstellung, als sie als Rechtsregeln formalisiert sind. Betrachten wir die Mechanis­ men, durch die Handhabungsroutinen innerhalb der Justiz gesteuert werden, machen diese mit Rechtsbehelfen durchsetzbaren Normen jedoch nur den kleineren Teil der Regeln aus, mit denen das pro­ zedurale Wissen gehandhabt wird. Klar abgrenzbar sind die Teile freilich nicht. Im nächsten Abschnitt wird sich zeigen, wie fließend die Grenzen zwischen beiden sein können. Insgesamt haben wir es mit einem komplexen Gefüge von Regeln und Routinen zu tun, die für das verantwortlich sind, was wir oben als »Handlungs-, Wahrnehmungsund Denkmatrix« beschrieben haben. Integrale Bestandteile dieses Steuerungsmechanismus sind nicht zuletzt auch die Verhaltensko­ dizes, die sich aus dem »Richterbild«, aus dem, was amtsadäquat erscheint, und aus dem Ethos, dem der Richter verpflichtet ist, erge­ ben. Charakteristisch für dieses Gefüge ist es, dass es sich dabei um Phänomene sozialer Kognition handelt: Die Mechanismen individueller Kognition verzahnen sich mit Mechanismen sozialer Kognition. Bei allen individuellen Unterschieden zwischen den ein­ zelnen Richterinnen und Richtern im Denken, Handeln und in den Einstellungen gibt es charakteristische gemeinsame Routinen, spezi­ elle kommunikative Konventionen, gemeinsame Vorstellungen über relevante und irrelevante Informationen etc. Die Kommunikation funktioniert, weil man über einen »gemeinsamen begrifflichen Hin­ tergrund für eine kooperative Kommunikation«143 verfügt. Und über eine gemeinsame Methode. So agiert der Richter in einem Denk- und Argumentationsraum, der durchaus nicht nur sein eigener, sondern ein professioneller, gemeinsamer Denk- und Argumentations­ raum ist.

III. Kognitive Strukturen des Habitus – Schlussfolgerungen Der Schritt, in den Diskurs über juristische Methode den Ansatz des prozeduralen Wissens einzubeziehen und so den Methodenbegriff entscheidend zu erweitern, führt also nicht ins Uferlose. In der Vor­ stellung eines gemeinsamen professionellen Denk- und Argumenta­ tionsraums, auf den im nächsten Kapitel nochmals zurückzukommen 143

M. Tomasello 2009, S. 85 ff.

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III. Kognitive Strukturen des Habitus – Schlussfolgerungen

sein wird, mag das auch bildlich deutlich werden. Zunächst steht aber eine genauere Analyse zur Entstehung und zur Veränderbarkeit des beschriebenen komplexen Gefüges von Regeln und Routinen aus. Zu fragen ist mithin nach den kognitiven Strukturen des Habitus und den Chancen für eine institutionelle Selbstregulation dieses »Regelgefü­ ges«.

1. Habitus und Lernen Die »Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix«, die typischen Muster der Problembewältigung, die den Habitus ausmachen, sind das Ergebnis von Sozialisationsprozessen. Sie werden im Habitus als soziologische Phänomene wahrgenommen und analysiert – sie sind aber als Lernvorgänge zunächst als kognitive Vorgänge zu erfassen. Die Anwendungsroutinen, die Regeln und Muster, nach denen das prozedurale Wissen gehandhabt wird, werden – zwar in einem institutionellen Rahmen – aber gleichwohl jeweils individuell gelernt und verbinden sich dann zu dem benannten spezifischen »Gefüge«. Fragen wir nach den Mechanismen, die diesen Prozessen zugrunde liegen, stoßen wir letztlich auf die Veränderungen, die die Einübung in einen Habitus im neuronalen Netzwerk unseres Gehirns bewirken. Auch wenn im Einzelnen hier noch vieles ungeklärt ist: Eine »überwältigende Masse an Beweisen belegt, dass sich Erfahrung in strukturellen Veränderungen an Synapsen niederschlägt«.144 Es kommt zu »Bahnungen«, d. h. einer bevorzugten Verwendung einer Nervenverschaltung, die sich korrelierend im Gehirn verstärkt aus­ prägt.145 Training und Lernen haben also ihre neuronalen Entspre­ chungen. Mit den Worten des Neurowissenschaftlers W. Singer: »Die Zahl der Kontakte zwischen Nervenzellen nimmt zu, die für die

R. F Thompson 2001, S. 409. Die Bahnung beruht also auf dem Effekt der Änderungen von Synapsenstärken: Bei wiederholter Aktivierung zeigen Synapsen im Nervensystem Verstärkung (syn­ aptische Bahnung), während es bei fehlender Aktivierung zu Abschwächung (synap­ tische Depression) kommt. Die Bahnung der synaptischen Übertragung wird als der fundamentale Mechanismus von Lernen, Gedächtnis und Habituierung angesehen; diese induzieren ein unverwechselbares Muster neuronaler Aktivität im Gehirn. Vgl. dazu, mit weiteren Nachweisen, etwa R. F. Thompson 2001, S. 371 ff., 408 ff. 144

145

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Kapitel 5: Methode und Handhabungsroutinen – Erkenntnis, Habitus und Kognition

geübten Funktionen zuständigen Areale dehnen sich aus und die neu­ ronalen Antworten spezialisieren sich auf die trainierten Inhalte.«146 Etwas salopp formuliert: »Bahnungen« führen bei eingespielten Routinen zu »Datenautobahnen«; diese Routinen können deshalb ja auch ohne weiteres Nachdenken gehandhabt werden. Man bewegt sich in eingespielten Bahnen. Was als Regel in »Fleisch und Blut« übergegangen ist, lässt sich allerdings auch nicht mehr spielend umlernen. Und aus diesem Ansatz erklärt sich wohl auch, warum Tagungen, die ein Nachdenken oder gar eine Veränderung des (schon eingefahrenen) Habitus im Auge haben, zumeist mehr frustrieren als Erfolgserlebnisse vermitteln. Umgekehrt zeigt dieser Zusammen­ hang aber auch den Weg, den die Justiz gehen müsste, wenn es ihr mit besseren methodischen Standards ernst wäre. Notwendig sind keine entspannenden Tagungen zur Nachbesserung in Richterakademien. Eine Methoden-Lehre muss in den Stadien einsetzen, in denen sich der Habitus bildet, also dort, wo es im Studium »ernst« wird: zum Examen hin, im Referendariat und entscheidend – und zwar nicht nur als praktische Einübung, sondern auch theoretisch fundiert – zu Beginn der Richtertätigkeit.

2. Zum »Fließcharakter« von Habitus und normativen Regeln Den Regeln und Routinen, mit denen wir es bei diesem komplexen Gefüge zu tun haben, das es in seiner Funktionsweise zu untersuchen gilt, ist nicht nur gemeinsam, dass sie sowohl einen individuellen als auch einen sozialen Charakter haben. Gemeinsam ist ihnen auch eine »Fließcharakteristik«. Was ist damit gemeint? – Es handelt sich um formelle Regeln und um informelle, wie es sich einerseits um explizite, andererseits um implizite Regeln handeln kann. Entscheidend ist, dass es zwischen diesen »Zuständen« keine klaren, festgelegten Übergänge gibt, sondern nur fließende Grenzen. Wann ein richterliches Verhal­ ten nicht mehr »amtsadäquat«, nicht mehr »vertretbar« oder nicht mehr »fair« ist, lässt sich nicht abstrakt bestimmen – und im Voraus meist nicht einmal konkret. Oft ist die Grenze schon überschritten, ohne dass es dem handelnden Richter oder Gericht bewusst geworden

146

W. Singer 2006, S. 283.

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III. Kognitive Strukturen des Habitus – Schlussfolgerungen

ist. Die Fälle unfairer Terminierungspraxis sind ein Beispiel.147 Eine andere Beispielgruppe gilt der »Vertretbarkeitsgrenze« hinsichtlich der Verhandlungsführung, wenn es darum geht, die Prozessparteien zu einem Vergleich »zu bewegen«. Man ärgert sich, das Ansehen der Justiz nimmt Schaden, aber man nimmt es hin. Irgendwann wehrt sich aber eine Partei, und es ist dann nicht mehr zweifelhaft, dass die geübte Routine nicht mehr vertretbar war. Zur Illustration ein Leitsatz aus einem Urteil des BAG zu einem besonders krassen Fall: »Es liegt eine Drohung gemäß § 123 Abs. 1 BGB vor, wenn ein Vorsit­ zender Richter im Rahmen von Vergleichsverhandlungen äußert: ›Gleich werden Sie an die Wand gestellt und erschossen‹, ›Ich reiße Ihnen sonst den Kopf ab‹ und: ›Seien Sie vernünftig, sonst müssen wir Sie zum Vergleich prügeln‹ und sich aus dem Vorbringen der Parteien nicht ergibt, dass der betreffenden Prozesspartei die offenbar häufiger an den Tag gelegte ungewöhnliche Art des Vorsitzenden bekannt gewe­ sen wäre oder die Vergleichsverhandlungen in einer aufgelockerten Gesprächsatmosphäre geführt worden wären, vielmehr sich aus dem Vorbringen beider Parteien eine durchgehende Anspannung der betref­ fenden Partei ergibt. Unter diesen Umständen kann bei der Prozess­ partei aufgrund der in Rede stehenden Äußerungen der Eindruck ent­ stehen, dem Vorsitzenden sei jedes, gegebenenfalls auch ein anrüchiges Mittel recht, um den Prozess zu dem gewünschten Abschluss zu bringen, und sie könne diesem Druck nur dadurch aus­ weichen, dass sie den angetragenen Vergleich (endlich) schließe.«148

Die Entscheidung ist zwar auch als Einzelfall bemerkenswert, sie lie­ fert jedoch vor allem ein Muster dafür, wie es zu einem Umschlag von einer informellen, implizit geduldeten Methode der »Vergleichs­ kunst« zu normativ eingrenzenden Vorgaben für Vergleichsbemü­ hungen eines Gerichts kommen kann. Zu Recht weist eine Anmer­ kung – »Auswirkungen für die Praxis« – Anwälte auf die mit den

Beispiele: BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 26. September 2012 – 2 BvR 938/12 –, juris; zur Obliegenheit des Gerichts, sich mit zunehmender Verfah­ rensdauer nachhaltig um eine Verfahrensbeschleunigung zu bemühen – BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 02. 09. 2009 – 1 BvR 3171/08 –, juris – m. w. N. 148 BAG, Urt. v. 12.05.2010 – 2 ZR 544/0 – NZA 2010, 1250–1255, m. w. N. Nicht untypisch wohl auch die angegriffene Wertung durch das Landesarbeitsgericht: »Der Vorsitzende habe dem Kläger – wenn auch in unsachlicher Art und Weise – anhand der Prozesslage die voraussichtlichen Folgen eines möglichen Scheiterns der Vergleichsverhandlungen aufzeigen wollen«. 147

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Kapitel 5: Methode und Handhabungsroutinen – Erkenntnis, Habitus und Kognition

Maßstäben des Urteils gegebene Möglichkeit einer Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB hin und ergänzt: »Richtet sich der ›Vergleichs­ druck‹ des Gerichts vorrangig gegen eine Partei, gehört es zu den Pflichten des Prozessvertreters der anderen Partei, das Risiko einer späteren Anfechtung in Abstimmung mit seinem Mandanten durch geeignete Interventionen auszuschließen«.149 In den Fällen der »abgerungenen« Verfahrensbeendigung und in den Fällen der »unfairen Terminierung« handelt es sich um Verkür­ zungen des Rechtsschutzes. In einer Vielzahl von Fällen liegt eine Verkürzung des rechtlichen Gehörs vor. Ebenfalls noch nicht genannt sind die zahlreichen Fälle richterlicher Willkür bei der Rechtsanwen­ dung. Die Besonderheit der dazu ergangenen Entscheidungen liegt darin, dass sie einerseits die »Fließcharakteristik« von Anwendungs­ regeln ganz deutlich werden lassen und zugleich zur Kernfunktion juristischer Methodik führen und so ihr Kernproblem thematisieren. Die Grenze zwischen dem verfassungsrechtlich Vertretbaren und dem nicht mehr Vertretbaren wird hier genau dort gezogen, wo auch die Grenze des methodisch Vertretbaren verläuft.150 Auf diese Fälle des bei der Auslegung und Rechtsanwendung methodisch nicht mehr Vertretbaren ist im Laufe unserer weiteren Untersuchungen naturgemäß noch vielfältig auch im Einzelnen einzugehen. Dem soll hier nicht vorgegriffen werden. Für die zu klärenden Fragen nach Ent­ stehung und Veränderbarkeit des hier zu analysierenden komplexen Gefüges von Regeln und Routinen ergeben sich die entscheidenden Schlussfolgerungen schon aus dem untersuchten Material: Zunächst ist festzuhalten, dass die Regeln und Routinen, die den Habitus ausmachen und ihn steuern, nicht per se darauf festgelegt sind, implizite und informelle Regeln zu sein. Das Regel-Gefüge unterliegt vielmehr einer auch institutionellen Selbstregulierung – man könnte vielleicht sogar sagen: Selbstreflexion –, die die Steue­ rungscharakteristik der Regeln verändert: Implizite und informelle Regeln werden in bewusst formalisierte Regeln oder – etwa via Leit­ sätzen – in normative Direktiven transformiert. Das bedeutet für den Methodenbegriff – und um dieses Fazit ging es in diesem Abschnitt B. Ulrici, juris PR-ArbR 49/2010 Anm. 1. Vgl. etwa BVerfG, B. v. 16. 12. 2014 – 1 BvR 2142/11: »Ein solches Auslegungs­ ergebnis lässt sich mit den anerkannten Methoden nicht erreichen« – juris Rn. 81 und folgend: »Die Grenzen verfassungskonformer Auslegung ergeben sich grundsätzlich aus dem ordnungsgemäßen Gebrauch der anerkannten Auslegungsmethoden (vgl. BVerfGE 119, 247 )« – juris Rn. 86. 149

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III. Kognitive Strukturen des Habitus – Schlussfolgerungen

über die Notwendigkeit eines weiten Methodenbegriffs –, dass es keinen festen Kanon von methodischen Regeln geben kann. Wir haben es bei der Methodik der Praxis mit einem offenen Gefüge von Regeln zu tun: Regeln, die sich zum einen als methodische Regeln formulieren lassen und so einen normativen Charakter bekommen. Andererseits haben wir es aber vor allem auch mit Routinen, impli­ ziten Arbeits- und Handhabungsregeln, zu tun. Sie gilt es in den folgenden Analysen als »Sachverhalte« zu beschreiben, um sie als methodisches Verhalten (Habitus) zum Gegenstand methodischer Reflexion machen zu können.

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Kapitel 6: Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode – »Wahrung der Kohärenz«

Die Anwendungsregeln und Routinen, mit denen der Richter sein Wissen im Prozess handhabt, sind – das war ein Ergebnis des vorigen Kapitels – nur erklärbar, wenn sie sowohl als Phänomene individueller als auch sozialer Kognition verstanden werden. Nur so wird es auch plausibel, von einem »gemeinsamen« professionellen Denk- und Argumentationsraum zu sprechen. Dieser Denk- und Argumentationsraum bildet sich jedoch nicht von ungefähr, sondern wird durch spezifische Formen institutioneller Einbindung des Richters geprägt. Sie geben diesem Raum durch gemeinsame Kon­ texte Rahmen und Struktur. Eine entscheidende Rolle spielen hier der Instanzenzug und das Rechtsmittelrecht, die Aufgabe der Rechtspre­ chung, die »Einheit der Rechtsprechung« zu wahren. In besonderer Weise kommt diese institutionelle Einbindung bereits in dem Sprach­ gebrauch vom »erkennenden Gericht« zum Ausdruck. Nach üblichen Vorstellungen ist das »Ich« – also z. B. der einzelne Richter – im Erkenntnisprozess das »erkennende Subjekt«. Wie verhält es sich demgegenüber aber mit dem ebenso üblichen Sprachgebrauch vom »erkennenden Gericht«? Im Kern geht es um die theoretische Einbindung der Methodik in institutionelle Bezüge, um den Zusammenhang von Methode, Kohä­ renz und Gerichtsorganisation. Während die theoretische Einbin­ dung der Methodik in institutionelle Bezüge für eine »Methodenlehre der Rechtswissenschaft« kaum ein Thema darstellt,151 muss sich eine Methodik der Praxis den Fragen stellen, was mit der Figur des »erkennenden Gerichts« gemeint ist und was die Formel von der »Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung« bedeutet.

151

Vgl. Strauch 2003, ThürVBl. 2003, 1.

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Kapitel 6: Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode

I. Die Problemstellung In der Einleitung hatte ich als ein Resümee der empirischen Studie »Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt« J. Schmid mit dem Satz zitiert: »Hingegen legen die Befunde die Vermutung nahe, daß der Zufall bei der Konstitution des Rechtsfalles eine größere Rolle spielen könnte, als ihm in der Literatur bislang zugestanden wird«.152 Die Ergebnisse schienen in der Tat kaum einen anderen Schluss zuzulassen. Die von 51 Richterinnen und Richtern (AG, LG, OLG) in einem Arzthaftungsfall getroffenen Entscheidungen kamen zu 13 unterschiedlichen Urteilen – wobei sowohl die Divergenzen in den Beträgen, die bei teilweiser Stattgabe zugesprochen wurden, als auch die in den herangezogenen Anspruchsgrundlagen und Begründungen nicht eingerechnet sind. Ob es sich wirklich um eine Zufallsproblematik handelt, wie Schmid meint, hängt von dem Zufallsbegriff ab, mit dem man arbei­ tet,153 aber diese Frage kann hier auf sich beruhen. Jedenfalls beun­ ruhigt die Streubreite der unterschiedlichen Ergebnisse. Diese über­ rascht aber auch kaum. Die Untersuchung erfolgte aus der Perspektive der herkömmlichen, akademischen Methodenlehre. Und insoweit bestehen auch keine Zweifel an der Validität der Simulation. Die 51 Richter, die den gleichen Fall zu lösen hatten, simulierten die Situation der Falllösung aus einer ähnlichen Perspektive, die man bei 51 Refe­ rendaren hat, die einen Aktenfall bearbeiten müssen, oder vielleicht auch wie bei einer Studie, in der man 51 Deutschlehrern ein Gedicht von Hölderlin gibt, um dann die Streubreite der Interpretationen zu messen. Aber simuliert wurde nicht die Rechtsprechungssituation. Man hat beobachtet, wie Richter je für sich als Individuen entschei­ den. Als Richter entscheiden sie jedoch in einem institutionellen Zusammenhang; konkret lief der Ausgangsfall vor der Kammer eines Landgerichts. Die institutionelle Einbindung kann Streubreiten in den Entscheidungen gleicher Fälle zwar bekanntlich nicht verhindern, das Justizsystem ist aber geradezu auf die »Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung« angelegt. Instanzenzug und Rechtsmittel haben unmittelbar die Aufgabe, solche Streubreiten zu reduzieren. Innerhalb der Instanzen hat die Entscheidung in Spruchkörpern diese Funktion. Aber auch der Einzelrichter ist in das institutionelle Gefüge »Justiz« 152 153

J. Schmid 1997a, S. 114. Grundsätzlich zum Zufallsbegriff: Küppers 2008, S. 350 ff.

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II. Rechtsmittelrecht – die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung

eingebunden. – Bearbeitet ein Richter einen Fall, bei dem er damit rechnen muss, dass eine der Parteien ins Rechtsmittel geht, wirklich in derselben Weise wie ein Verfahren, bei dem er nur den »blauen Himmel der Rechtskraft« über sich hat oder gar in einer Situation, in der Entscheidung nur gespielt wird? Auf den ersten Blick müssen diese Einwände gegen die zitierte Studie freilich nicht überzeugen. Instanzenzug und Spruchkörper­ prinzip erscheinen zunächst nur als äußere Mechanismen, die gerade die Unzulänglichkeit juristischer Methode bestätigen. Das genau aber ist der Punkt. Wesentliche Teile des Justizsystems – Instanzenzug und Zugang zu Rechtsmitteln, Zuschnitt und Zusammensetzung von Spruchkörpern – sind gerade unter dem Aspekt zu sehen und zu verstehen, dass sie das leisten sollen, was die Methode, nur als individuelle Regelbindung verstanden, nicht leistet. Darauf ist gleich einzugehen (II.). Innerhalb des Justizsystems findet damit zugleich aber immer auch eine methodisch-inhaltliche Rückkoppelung statt. Die institutionelle Einbindung des Richters ist mithin nicht nur als Oberflächenphänomen (miss)zuverstehen. In dem Sprachgebrauch vom »erkennenden Gericht« zeigt sich diese Einbindung besonders deutlich und es ist deshalb zu fragen, ob es sich wirklich nur um ein Sprachbild handelt (III.). Der institutionelle Zusammenhang reicht jedoch weiter. Es ist dieser institutionelle Rahmen, in dem der Habitus generiert wird, d. h. die Anwendungsroutinen, Regeln und Muster, nach denen das prozedurale Wissen154 gehandhabt wird. In diesem Rahmen wird er auch kontrollierend korrigiert.155 Da sich Rechtsprechung in das Gefüge dieser Regeln einordnen muss, ist ihr als methodische Direktive auch die Herstellung von Kohärenz vorgegeben (IV.).

II. Rechtsmittelrecht – die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung Nach Art. 95 Abs. 3 GG ist zur »Wahrung der Einheitlichkeit der Recht­ sprechung« ein »Gemeinsamer Senat« der obersten Gerichtshöfe zu Kap. 5 II. 3. Wie oben gezeigt (Kap. 5 I. 1.) spielt dabei die nicht durch den Habitus determi­ nierte, »höchstpersönliche« »Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix« der Akteure allerdings eine erhebliche Rolle.

154 155

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Kapitel 6: Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode

bilden.156 Diese Norm ist der Schlussstein eines Systems prozessualer Regeln, die den Instanzenzug und das Rechtsmittelrecht auf das Ziel ausrichten, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren. Das gilt –



sowohl für den Rechtsmittelzugang zu den obersten Gerichts­ höfen des Bundes, soweit er davon abhängig gemacht wird, dass ein Urteil von einer Entscheidung des jeweiligen obersten Bun­ desgerichts, »des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichts­ höfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht« oder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend gemacht werden kann (so § 132 Abs. 2 VwGO)157; als auch für die Zuständigkeit der jeweiligen Großen Senate in den Fällen abweichender Rechtsauffassungen – die dann obliga­ torisch angerufen werden müssen – oder in Fragen von grund­ sätzlicher Bedeutung, »wenn das […] zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforder­ lich ist« (so z. B. § 11 VwGO, § 132 Abs. 4 GVG).

Einen wesentlichen Baustein für die folgenden Überlegungen zum Zusammenhang von Rechtsmittelrecht und Methodik liefert zunächst die »Divergenzvorlage«. Sie ist notwendig, wenn (1.) ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen will und (2.) der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, dass er an seiner Rechtsauffassung festhält.158 Vorgelegt wir dem Großen Senat eine Frage; die Entscheidung durch Beschluss erfolgt meist in der Form eines Leitsatzes.159 Vergleichen wir diese Verfahrensweise mit dem Vgl. § 1 RSprEinhG. Weitergehend z. B. § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG: »Die Revision ist zuzulassen, wenn […] das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, von einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, von einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts oder, solange eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts in der Rechtsfrage nicht ergangen ist, von einer Entscheidung einer anderen Kammer desselben Landesarbeitsgerichts oder eines anderen Landes­ arbeitsgerichts abweicht und die Entscheidung auf dieser Abweichung beruht«. 158 So § 132 Abs. 2 u 3 GVG; entsprechende Regelungen etwa in § 11 Abs. 3 VwGO, § 45 ArbGG. Als »Schlussstein« § 2 RsprEinhG. 159 Zur Frage der Bindungswirkung einer Entscheidung des Großen Senats vgl. Pietz­ ner in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO § 11 Rn. 25 u. 78 (Stand 2015). Der Große Senat des BFH hat zur Möglichkeit einer erneuten Vorlage und damit zur Bindungs­ wirkung der Entscheidung ausgeführt: »Will ein Senat von einer Entscheidung des 156 157

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II. Rechtsmittelrecht – die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung

rechtswissenschaftlichen Diskurs über Rechtsfragen, haben wir es in der Rechtsprechung mit einer hierarchischen Stufung der Antworten auf Rechtsfragen zu tun. Das Leitsatzrecht bekommt die Struktur einer Pyramide. Widersprüche werden – bis zum Gemeinsamen Senat nach Art. 95 Abs. 3 GG – jeweils auf der höheren Stufe geklärt. Ob man den auf den oberen Stufen im Leitsatzrecht fixierten Ant­ worten Rechtsnormcharakter zuspricht, ist die bekannte Frage nach der Qualität des Richterrechts.160 Aber der Richter, der es übersieht oder ohne bessere Argumente übergeht, macht einen methodischen Fehler. Es sind auch diese Fehler, die das Rechtsmittelrecht korrigieren soll.

1. Die Wahrung der Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung als Funktion des Rechtsbehelfssystems Auf Einzelheiten der Divergenz und der Grundsatzvorlage161 sowie der Rechtsmittelzulassung aus Gründen der Divergenz und Rechts­ fortbildung kommt es dabei nicht an. Das BVerfG hat die Unter­ schiede, die hier zwischen den einzelnen Prozessordnungen bestehen, nie als grundsätzliches Problem gesehen: »Der Gesetzgeber hat weitgehende Freiheit, den Zugang zum Rechts­ mittelgericht nach seinen Zweckmäßigkeitsvorstellungen auszurich­ ten. Es obliegt seiner Entscheidung, einen unkontrollierten Zugang oder Zugangskontrollen in Form von Zulassungs-, Annahme- oder Ablehnungsverfahren durch den Vorderrichter oder durch den Rechts­ mittelrichter vorzusehen (vgl. BVerfGE 54, 277 (292)). [...] Selbst wenn man von der Vergleichbarkeit der Einzelvorschriften verschiedener Verfahrensgesetze ausgeht, so lassen sich sachlich einleuchtende Gründe für eine Differenzierung der Revisionsvorschriften in der Zivil­ gerichtsbarkeit gegenüber der Arbeitsgerichtsbarkeit finden, die einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ausschließen. Wesentliche Funktion Großen Senats abweichen, so ist die Vorlage an den Großen Senat nur zulässig, wenn in der Zwischenzeit neue rechtliche Gesichtspunkte aufgetreten sind, die bei der ursprünglichen Entscheidung des Großen Senats nicht berücksichtigt werden konn­ ten, und (oder) neue Rechtserkenntnisse eine andere Beurteilung der entschiedenen Rechtsfrage rechtfertigen könnten«, BFHE 101, 13. 160 Näher Kap. 16 III.; zur Rechtsatzqualität dogmatischer Sätze – Richterrecht II – Kap18 III. 3 sowie zu Richterrecht und GG – Richterrecht III – Kap 20 II 3. b). 161 Zur Praxis der Vorlagen vgl. Pietzner in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO § 11 Rn. 81f. (Stand 2015).

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Kapitel 6: Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode

der Revisionsgerichte ist die Wahrung der Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung. Damit die Gerichte dieser Aufgabe gerecht werden können, bedarf es der Beschränkung des Zugangs zur Revisionsin­ stanz. Insofern sind unterschiedliche Regelungen möglich, die der jeweiligen Situation in den verschiedenen Gerichtsbarkeiten Rech­ nung tragen«.162

Das BVerfG sieht eine »Beschränkung des Zugangs zur Revisionsin­ stanz« mithin im Interesse der Funktionalität des Revisionsrechts nicht nur als zulässig, sondern auch als notwendig an. In einer Entscheidung vom 11.06.1980 hat das Plenum des BVerfG zur Funk­ tionalität von Rechtsmittelsystemen ausgeführt: »Das Grundanliegen, das mit der Einrichtung von gerichtlichen Rechtsbehelfssystemen im weitesten Sinne verfolgt zu werden pflegt, ist zum einen, eine tendenziell bessere Gewähr der Einzelfallgerech­ tigkeit, das heißt – gemessen am jeweils anzuwendenden Recht – der Richtigkeit gerichtlicher Entscheidungen zu erzielen, und zum anderen, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung, darunter auch der richterlichen Rechtsfortbildung, und dadurch die Einheit der Rechts­ ordnung institutionell zu sichern. Denn die Einheit der Rechtsordnung ist im Kern bedroht, wenn gleiches Recht ungleich gesprochen wird.«163

Diese Argumentation verknüpft mit dem Rechtsbehelfssystem drei Funktionen: zum einen »eine tendenziell bessere Gewähr der Ein­ zelfallgerechtigkeit«, zum anderen die Funktion, »die Einheit der Rechtsordnung institutionell zu sichern«, und unmittelbar damit verbunden eine institutionelle Absicherung dagegen, dass »gleiches Recht ungleich gesprochen wird«. Der Methodenskeptiker wird hierzu wahrscheinlich feststellen, dass das Rechtmittelrecht mithin offenbar das leisten soll, was die Methodik nicht leisten kann. Für eine Methodik der Praxis greift diese Schlussfolgerung aber augen­ scheinlich zu kurz. Es ist gerade diese Parallelität in den Funktionen von Rechtsmittelrecht und juristischer Methode, die die Notwendigkeit und Eigenständigkeit einer Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisver­ fahrens begründet.

162 163

BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Mai 1990 – 1 BvR 467/90 –, juris Rn. 2. BVerfGE 54, 277 – juris Rn. 48.

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2. Der Perspektivwechsel – von der Methodenlehre der Rechtswissenschaft zur Methodik der gerichtlichen Praxis Wir haben in Kapitel 3 II. gesehen, dass ein wesentlicher Grund für diese Eigenständigkeit aus dem stets vorgegebenen Fallbezug folgt. Das wird noch zu vertiefen sein (Kap. 22 I. 2.). In diesem Kapitel gilt es, die institutionelle Einbindung als das weitere, ja entscheidende grundlegende Moment für die Konstituierung einer Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens zu analysieren. Es ist diese institutionelle Einbindung, die den Rahmen für den Denk- und Argu­ mentationsraum schafft, in dem im gerichtlichen Verfahren Methode praktiziert wird. Gegenstand seiner Methodenlehre sei »die ›dogmatische‹ Rechtswissenschaft mit Einschluß der richterlichen Fallbeurteilung«, schrieb, wie schon zitiert, Larenz 1960 im Vorwort seines zum Standard gewordenen Lehrbuches.164 Nun kann man Rechtswissen­ schaft und Rechtsprechung als zwei Seiten einer Medaille betrach­ ten – als Teil des Rechtssystems und dieses wiederum als Teil des Gesellschaftssystems. Aber der Systembegriff ist ein perspektivischer Begriff165. Es kommt auf den Ansatz an, unter dem man einen Gegenstand als System analysieren will. Wir haben Verfahrensweisen und Methoden zu analysieren und aus dieser Perspektive erweisen sich die Systemdifferenzen zwischen Rechtswissenschaft und Recht­ sprechung in entscheidenden Punkten als sehr viel größer als ihre Gemeinsamkeiten. Zum Teil grundsätzlich divergierende Ziel- und Aufgabenstellungen, Instrumente und Funktionen führen hier zu sehr unterschiedlich arbeitenden und strukturierten Systemen mit entsprechend unterschiedlichen Systemrationalitäten. In der Termi­ nologie der Sozialtheorie Bourdieus: Die rechtswissenschaftlichen Felder und die Felder der Rechtsprechung formen einen jeweils unter­ schiedlichen Habitus und verlangen unterschiedliche Habitusformen. Die „›dogmatische‹ Rechtswissenschaft« zielt auf wissenschaft­ lich-systematische Durchdringung des Rechtsstoffs, die begründete Lehrmeinung. Kriterien wie eine »ständige Rechtsprechung« oder die »Einheit der Rechtsprechung«, die für die richterliche Arbeitsweise zentrale Steuerungskriterien sind und sein müssen, sind für den Rechtswissenschaftler zwar von Interesse – insbesondere wenn er, 164 165

K. Larenz 1960, S. V. H. Lenk 1980, S. 615.

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Kapitel 6: Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode

etwa als Kommentarautor, in die Praxis wirken will –, aber es sind keine Kriterien wissenschaftlicher Leistung. Ein wissenschaftlicher Beitrag taugt nichts, wenn ein wichtiger Aufsatz eines wichtigen Kollegen übersehen wurde und ihm dazu noch jede Originalität fehlt. Das Votum eines Revisionsrichters taugt nichts, wenn e sich zwar ausführlich mit einem wichtigen Aufsatz auseinandergesetzt hat und auch zu einem originellen Ergebnis kommt, aber übersehen hat, dass der eigene oder ein anderer Senat, wenn auch in einer bisher nicht als sonderlich wichtig angesehenen Entscheidung, bereits eine völlig andere Rechtsauffassung vertreten hat. – Ein Beispiel, das nur demonstrieren soll, wie unterschiedlich die Regeln sind, nach denen die rechtswissenschaftliche und die auf die Rechtsprechung ausgerich­ tete Methodik Informationen auswählt, bewertet und verarbeitet. Geprägt sind diese Regeln durch die beschriebene institutionelle Einbindung der richterlichen Funktionen, nicht zuletzt durch die Aufgabe, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren, weil immer auch der Gleichheitssatz bedroht ist, »wenn gleiches Recht ungleich gesprochen wird«.166 Will man den Unterschied auf einen Punkt bringen, hat die Rechtswissenschaft ihre Rechtsfragen aus einem (wie auch immer gearteten) System wissenschaftlicher Kategorien heraus zu beantwor­ ten, der Richter dagegen muss vornehmlich darauf achten, dass sich seine Antwort in die Rechtsprechung einfügt und insoweit kohärent ist – auch wenn es ihm nur gelingt, sie als »Einzelfall« ohne grundsätz­ liche Bedeutung einzuordnen. Und diese Kohärenz – ein zentraler Begriff dieser Methodenlehre, der im weiteren Gang der Überlegungen noch ausführlich zu erläutern sein wird – ist unmittelbar abhängig von der institutionellen Einbindung des Richters, von der Kohärenz in der Organisation der Justiz. Diese sicherzustellen, ist ein Grundanliegen neuzeitlicher Rechtsprechungssysteme. Beispielhaft und in aller Klar­ heit kommt dies in dem Bericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften zum Ausdruck. Expressis verbis wird in diesem Text der Vorschlag gemacht, »zur Wahrung der Kohärenz der Rechtsprechung« ein Kollegium zu schaffen, das »in regelmäßig und häufig stattfindenden Sitzungen über die Kohärenz der Urteilsentwürfe der einzelnen Spruchkörper des EuGH [wacht] und gegebenenfalls die Übertragung bestimmter 166

BVerfGE 54, 277 – juris Rn. 48.

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III. Das »erkennende Gericht«

Rechtssachen an das Plenum« beschließt.167 In diesen Zusammen­ hang von institutioneller Einbindung, Methode und Kohärenz führt auch der Sprachgebrauch von dem »erkennenden Gericht«.

III. Das »erkennende Gericht« Das »erkennende Gericht« ist ein Terminus, den die Gesetzessprache in Prozessordnungen ganz selbstverständlich benutzt (vgl. etwa § 74 Abs. 1 GVG, § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 138 Nr. 1 VwGO, § 119 Nr. 1 FGO). »Die Parteien verhandeln über den Rechtsstreit vor dem erken­ nenden Gericht mündlich«, statuiert § 128 Abs. 1 ZPO. Die Prozess­ rechtslehre setzt den Terminus nur folgerichtig für die grundlegende Beschreibung des Prozessrechtsverhältnisses ein. Bezogen auf den Zivilprozess heißt es beispielsweise in dem Prozessrechtlehrbuch von Blomeyer: »Das Erkenntnisverfahren ist der Rechtsstreit zweier Parteien, des Klägers und des Beklagten, vor dem erkennenden Gericht. Sie sind die Subjekte des Verfahrens.«168

Weitere Reflektionen zu dem Begriff des »erkennenden Gerichts« erfolgen in der Prozessrechtsliteratur so wenig wie zu dem Begriff des »Erkenntnisverfahrens«.169 Aus prozessrechtlicher Sicht mag es auch sein Bewenden damit haben, wenn man mit dem »erkennenden Gericht« nur rein formal das Zurechnungs- und Zuordnungssubjekt für das Prozessrechtsverhältnis bezeichnen will. Anders verhält es sich jedoch, wenn man beiden in dem Zitat zur Beschreibung des Pro­ zessrechtsverhältnisses genannten Begriffen auch eine substantielle Bedeutung beimisst. Wird in einer Methodenlehre des gerichtlichen Verfahrens das »Erkenntnisverfahren« – parallel zum Prozessrecht für das methodische Verfahren – als kognitiver Prozess verstanden, wäre es nur konsequent, dem »erkennenden Gericht« in diesem Prozess auch die Rolle eines »erkennenden Subjekts« zuzuweisen. Zukunft des Gerichtssystems der EG, Abschlussbericht der Reflexionsgruppe, Sonderbeilage zu Heft 19/2000 der NJW, S. 13. 168 Blomeyer 1985, § 3, 1. 169 Eine wesentliche Ausnahme macht die Schrift von J. Rödig, 1973, dem es um die Untersuchung des Rechtsanwendungsprozesses »in seinen logischen Strukturen« geht. – Siehe auch Einl. III. 167

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Das ist näher darzulegen und es muss sich auch ausweisen, ob dieser Ansatz für die weitere Diskussion methodischer Fragen fruchtbar ist. Zunächst ist diese Formulierung erkenntnistheoretisch durchaus anstößig – geht es doch in der traditionellen Erkenntnistheorie, wie eingangs schon bemerkt, in der Regel nur um das »Ich« als Erkenntnissubjekt. Wenn wir von dem Gericht als dem Subjekt des Verfahrens sprechen, ist also bereits eine erkenntnisphilosophische Grundposition verschoben. Aus der Frage, wie erkennt das denkende »Ich«, werden Überlegungen zur Frage: Wie denken und erkennen Institutionen?170 Anders wird man Antworten auf die Funktionsweise des gerichtlichen, also eines institutionellen Erkenntnisverfahrens, auch kaum gewinnen können.

1. Institutionelles Denken als Befund Der Ausgangspunkt für diesen Ansatz liegt in der täglichen Anschau­ ung – in der richterlichen Alltagserfahrung eines kollegial funktionie­ renden Spruchkörpers (wobei nicht unter den Tisch fallen darf, dass Kammern und auch Senate oft so nicht funktionieren). Der Ansatz ist der Befund, dass in einem Spruchkörper der »Erkenntnisprozess« anders verläuft als bei drei oder fünf Richtern, die parallel und separat arbeiten. Um den Ausgangspunkt mit einem konkreten Beispiel zu ver­ deutlichen: In einem obersten Bundesgericht gehen fünf Richter eines Senats mit zwei umfangreichen Voten, die in den Begründungen und im Ergebnis abweichen, um 9.30 Uhr in die Vorberatung. Wenn sie um 16.30 Uhr eine Entscheidungslinie gefunden haben und auseinan­ dergehen, spricht vieles dafür, dass sich keiner der Richter schon zu Beginn die Lösung genauso vorgestellt hat. Zunächst ließe sich das als ein Beleg für die Bindungsfreiheit verbuchen, aber andererseits wird wahrscheinlich keiner der Richter in dem Bewusstsein votiert haben, frei und ungebunden – gleichsam nach eigenem Gusto – entschieden zu haben. Als empirischer Befund hat dieser Verweis auf ein eigenes Erfahrungsbild naturgemäß nur indizielle Bedeutung – er erlaubt jedoch einige allgemeine Feststellungen, die unsere Überlegungen 170 So – ohne Fragezeichen – der Titel des Buches von M. Douglas 1991: »Wie Institutionen denken«.

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III. Das »erkennende Gericht«

weiterführen. Zunächst: das beschriebene Verfahren ist ein mehrstu­ figes Verfahren: Voten, Vorberatung, mündliche Verhandlung, Bera­ tung, Begründung. Professionell gehandhabt, bedeutet dies einen »Erkenntnisprozess«, der auf jeder Stufe auch wieder methodisch gesteuert und kontrolliert wird, jedenfalls werden kann. Insbesondere die Zweiphasigkeit von Voten und Beratung führt dazu, dass sowohl die Vorteile intensiver individueller Durcharbeitung – mit vielleicht auch aus dem Rahmen fallenden Lösungsansätzen – als auch die Chancen einer offenen Diskussion genützt werden können.171 Es handelt sich um ein vernetztes Denken. Wenn der Kollege A einen Ansatz vertritt, den die übrigen Senatsmitglieder keineswegs für überzeugend halten, kann eines seiner Argumente die Kollegin B aber durchaus auf einen Lösungsansatz bringen, der – evtl. präzisiert oder modifiziert – das Kollegium als Ergebnis überzeugt. Grundsätzlich bedeutet die Entscheidung durch einen Spruchkörper – so er als Team arbeitet –, dass das Urteil auf der Basis von mehr Informationen und Argumenten getroffen wird, als sie einem Einzelrichter zur Verfügung stehen können. Es fließen unterschiedliche Grundanschauungen und Vorverständnisse ein, die zugleich ausgeglichen werden können bzw. müssen. Die notwendige Abstimmung führt so dazu, die Wahrschein­ lichkeit von Extremausschlägen, Entscheidungen also, die in der Begründung und im Ergebnis nicht oder kaum vertretbar sind, jeden­ falls zu verringern. Die Folge ist nicht nur eine geringere Streubreite, sondern auch ein Ausrichten auf die bisherige Rechtsprechung des Senats – eine Fokussierung, die mindestens für die Spruchkörper der Revisionsgerichte geradezu konstituierend ist. Ein entscheidendes Argument für oder gegen eine vorgeschlagene Lösung ist immer, ob und inwieweit sie sich in die Rechtsprechung des Senats einfügt oder nicht einfügen lässt. Im Spiele ist mit anderen Worten immer die »Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung« und damit das Gebot, die Rechtsprechung kohärent zu halten. Beides ist schon angesprochen worden und wird noch weiterhin Thema sein.

Sozialpsychologische Untersuchungen bestätigen, dass eine solche zweiphasige Vorgehensweise – Ideen werden individuell und getrennt generiert, dann in der Gruppe aber gemeinsam bewertet – wesentliche Voraussetzung einer effektiven Gruppenleistung ist; vgl. Stroebe u. a. 2003, S. 522 f. 171

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2. Zuordnungssubjekt – Subjekt des Erkenntnisverfahrens? Natürlich denkt, argumentiert und formuliert auch im Senat jeweils ein »Ich«. Aber das, was als »Erkenntnis« das Ergebnis der gemein­ samen Bemühungen des Spruchkörpers ist, ist weder formal noch inhaltlich individuell seinen Mitgliedern zurechenbar. Dass es hier auch um substantiell-institutionelle Zuordnungen geht – und nicht um Einstellungen und Entscheidungen der beteiligten Richter –, zei­ gen die besprochenen Regelungen über die Zuständigkeit der Großen Senate bei abweichenden Rechtsauffassungen. Als »erkennender Senat« ist der Spruchkörper das Subjekt, das eine Rechtsauffassung hat und an ihr festhält oder sie aufgibt – völlig unabhängig von der konkreten Besetzung, den konkret mitwirkenden einzelnen Richtern. Die Zuordnung einer Rechtsauffassung zum Spruchkörper, der eine vorgefundene Rechtsprechung noch nicht aufgegeben hat, bleibt selbst bei einem Wechsel der Zuständigkeit erhalten (vgl. z. B. § 132 Abs. 2 S. 2 GVG). Man kann diese Regeln gleichwohl nur als rein rechtlich-tech­ nische Zuständigkeitsregeln ansehen. Eine konsequente Gegenpo­ sition müsste mit allen Implikationen die Frage klären, unter wel­ chen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen es geboten ist, dem »erkennenden Gericht« die Rolle eines »erkennenden Subjekts« zuzuweisen. Auf einen solchen erkenntnistheoretischen Diskurs kann es uns hier nicht ankommen. Worauf es aber ankommt, sind Vor­ stellungen und Erklärungsmodelle dazu aufzuzeigen, welche Mecha­ nismen den beschriebenen Phänomenen institutioneller Einbindungen zugrunde liegen und welche Konsequenzen daraus für die richterlichen Methoden und das Problem der Bindung an Recht und Gesetz zu ziehen sind.

IV. »Wie Institutionen denken« – Kohärenz und Bindung Zu den aufgezeigten Phänomenen der institutionellen Einbindungen, für die mit Blick auf unsere weiteren Überlegungen ein erklärender Zusammenhang gesucht werden muss, gehören insbesondere: a)

die »Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix«, die typi­ schen Muster der Problembewältigung, die den Habitus ausma­ chen;

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IV. »Wie Institutionen denken« – Kohärenz und Bindung

b) c)

das Gefüge von Anwendungsregeln und Handhabungsroutinen bei der Anwendung von methodischen Regeln; die Unterschiede, die sich unverkennbar in den kognitiven Pro­ zessen selbst und in der Streubreite der Ergebnisse zeigen, wenn Richter einerseits in einer individuellen Arbeitssituation und andererseits im und als Spruchkörper entscheiden.

Zu klären ist, mit welchen Erklärungsmustern wir diese Phänomene noch genauer erfassen können. Unabweisbar scheint zunächst der Ausgangspunkt zu sein. Die Rolle, die das »erkennende Gericht« – als Spruchkörper, aber selbst auch als Einzelrichter – in dem »Erkenntnisverfahren« wahrzunehmen hat, ist mit einem Verweis auf das erkennende »Ich« als Subjekt eines autonomen und individu­ ellen Erkenntnisprozesses nicht hinreichend erfassbar. Richterliches Wahrnehmen, Denken, Erkennen, Werten und Entscheiden vollzieht sich nicht in »Einsamkeit und Freiheit«. Es sind vielmehr Mecha­ nismen sozialer Kognition, die wir zu analysieren haben, um juristische Interpretationen durch den Richter zu beschreiben, der ein Gesetz auszulegen und das Ergebnis in einer Entscheidung als Recht festzustellen hat. Und diese sind andere als die, die wirksam sind, wenn ein Leser z. B. einen Text von Hegel, Handke oder Höl­ derlin liest und auslegt. Es geht bei der »Gesetzesauslegung« eben nicht nur »vor allem um die Rolle des interpretierenden Subjekts im Prozess des Verstehens sprachlicher Äußerungen«, wie es Arthur Kaufmann formuliert hat,172 und der Richter unterscheidet sich von dem Literaturwissenschaftler keineswegs nur dadurch, dass die Aus­ legung die im Gesetz festgelegten Zwecke zu verwirklichen hat, wie Rüthers meint.173 Das gegenüber der Philologie Eigentümliche in der Auslegung der Gesetze beruht entgegen der Auffassung Savignys schließlich auch nicht entscheidend auf der Aufspaltung der Ausle­ gung in seine vier Elemente174, sondern darauf, dass dieses Auslegen als Teil der Rechtsermittlung in dem institutionellen Rahmen von Rechtsprechung stattfindet.

172 173 174

A. Kaufmann 1982, S. 77; vgl. dazu auch Müller/Christensen 2004, Rn. 8 ff. B. Rüthers 2008, Rn. 160; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 160. Savigny 1840, Bd. 1, S. 213.

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1. Erklärungsmuster Eine Theorie der richterlichen Praxis wird mithin den Begrenzun­ gen der Subjekt-Philosophie in cartesianischer Tradition entkommen müssen, ohne allerdings das »Ich«, hier den Richter, als handelndes und denkendes Subjekt, sogleich in einem systemtheoretischen Auto­ poiesis-Konzept vollends verschwinden zu lassen.175 Wie oben (III.) einleitend schon vorgegeben, muss die Frage, wie das denkende »Ich« erkennt, durch Überlegungen zur Frage, wie das Ich in Institutionen denkt und erkennt, ergänzt werden. Der Mensch – in der klassischen Formulierung von Aristoteles ein zoon politikon – ist von Natur aus auf soziale Vernetzung hin angelegt. Schon das Baby könnte ohne seine wie selbstverständlich funktionierende Kommunikation über Gesten, Laute oder Körper­ sprache kaum überleben; bleibt diese Interaktion aus, oder ist sie unzureichend, nimmt das »Ich« zwangsläufig dauerhaft Schaden (Hospitalismus). – Zu weit ausgeholt? – Doch der Gedanke, dass unser Gehirn ein »soziales Organ« ist176, ein Organ, das auf Vernet­ zung mit anderen hin, d. h. auf Sozialität und Kulturalität, geradezu programmiert ist, ist nicht völlig selbstverständlich. Zumeist stehen wir immer noch in einer Tradition, die auch heute noch unser Denken stets nur als subjektiv-individuelle Leistung des denkenden Ichs zu begreifen gewohnt ist – und folglich auch richterliches Denken nur als subjektiv-individuelle Leistung des »erkennenden Richters« ver­ stehen kann. Überlegungen zum »Mechanismus sozialer Kognition« gehören deshalb nicht zu dem üblichen Themenbestand der Metho­ dendiskussion. Sie sind aber notwendig, weil ohne diese Mechanis­ men das Funktionieren von Rechtsprechung nicht zu erklären ist.

175 Die Ansätze, die nach dem (manchmal aber wohl eher überschätzten) Zusam­ menhang von Richterbiographie und Entscheidungsfindung fragen (siehe hierzu Kap. 5 I. 2. u. etwa J. Schmid 1997a, S. 57 ff.), haben mithin ebenso ihre Funktion, wie es andererseits dem hier vertretenen Ansatz entspricht, nach den Unterschieden von Gericht zu Gericht zu fragen; vgl. W. Langer 1994. 176 W. Singer in der »Zeit« 2008 Nr. 15: »Ein soziales Organ«; vgl. auch Strauch 2005, S. 491 m. w. N. Eingehend T. Fuchs 2010, S. 183 ff., das Gehirn als Vermitt­ lungsorgan für die Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt.

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a) Soziologische Ansätze Für die Erklärung des Phänomens der »Handlungs-, Wahrnehmungsund Denkmatrix« im »Habitus« haben wir Ansätze der Soziologie bereits nutzen können. Aber damit ist die Frage nicht beantwortet, wie sich das Zusammenspiel von Einzelnen in einer Institution zur Ent­ scheidung und »Erkenntnis« der Institution organisiert. Wir betreten damit das Feld der Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftstheo­ rie und einer der Begründer der soziologischen Betrachtungsweise von Erkenntnisvorgängen, L. Fleck, hat hierzu bereits 1936 den ent­ scheidenden Einstieg vorgegeben: Zur »soziale[n] Bedingtheit jedes Erkennens« schrieb er: »Vergleichende Erkenntnistheorie darf Erkennen nicht als zweiglied­ rige Beziehung des Subjektes und des Objektes, des Erkennenden und des Zu-Erkennenden betrachten. Der jeweilige Wissensbestand muß als grundsätzlicher Faktor jeder neuen Erkenntnis das dritte Beziehungsglied sein. Sonst bliebe unverständlich wie es zum abge­ schlossenen, stilvollen Meinungssystem kommt und warum man Entwicklungsanlagen eines Wissens in der Vergangenheit findet, die zu ihrer Zeit durch keine ›sachlichen‹ Gründe legitimiert waren (Prä­ ideen). Historische und stilgemäße Zusammenhänge innerhalb des Wissens beweisen eine Wechselwirkung zwischen Erkanntem und dem Erken­ nen: bereits Erkanntes beeinflußt die Art und Weise neuen Erkennens, das Erkennen erweitert, erneuert, gibt frischen Sinn dem Erkannten. Deshalb ist das Erkennen kein individueller Prozeß eines theoretischen ›Bewußtseins überhaupt‹; es ist Ergebnis sozialer Tätigkeit, da der jeweilige Erkenntnisbestand die einem Individuum gezogenen Gren­ zen überschreitet. […] Der Satz ›jemand erkennt etwas‹ verlangt analog einen Zusatz z. B.: ›auf Grund des bestimmten Erkenntnisbestandes‹ oder besser ›als Mitglied eines bestimmten Kulturmilieus‹ oder am besten ›in einem bestimmten Denkstil, in einem bestimmten Denkkollektiv‹. Definieren wir ›Denkkollektiv‹ als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, so besitzen wir in ihm den Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes,

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also eines besonderen Denkstiles. Hiermit gibt das Denkkollektiv das fehlende Glied der gesuchten Beziehung.«177

Gestützt auf diese Ansätze Flecks und eine Auseinandersetzung mit Émile Durkheims Lehre von den »kollektiven Vorstellungen«, hat M. Douglas in ihrem Buch »Wie Institutionen denken« Mechanismen der Steuerung von Gedächtnis und Wahrnehmungen, des Klassifizierens, des Unterscheidens von gleich und ungleich und auch des Entschei­ dens in Institutionen (im weitesten Sinn) analysiert. Auch wenn Insti­ tutionen »keinen eigenen Verstand haben« können,178 so »steuern« sie dennoch »unmittelbar das individuelle Gedächtnis und lenken unsere Wahrnehmung in Bahnen, die mit den von ihnen autorisierten Beziehungen verträglich sind«.179 Wie sie etwa auch bestimmen, was als gleich gelten kann, und das Klassifizieren besorgen.180 M. Douglas beschreibt diese Phänomene als »Kohärenz«181 – etwa wenn Theorien sich aufgrund ihrer Kohärenz mit anderen Theorien durchsetzen182 oder Rechts- und Moralsysteme auch in Notfällen, z. B. bei Hungers­ nöten, dank ihrer Kohärenz ihre Struktur beibehalten.183

b) Sozialpsychologische Ansätze – Gruppenkohärenz Neben die wissenssoziologische Perspektive treten die sozialpsycho­ logischen Ansätze. Wesentlich für das Verstehen sozialer Kognition ist hier zunächst die Rolle, die das Phänomen der intersubjektiven Bestätigung in diesem Prozess spielt; und es liegt nahe, dass für deren Mechanismus die bereits angesprochenen Interaktionsmuster der frühen Kindheit »fortgeschrieben« werden. Worum geht es? Wenn wir unsere verschiedenen, sich vielleicht sogar widersprechen­ den Sinneseindrücke mit unseren Erfahrungen, genauer mit unseren Gedächtnisinhalten, zu einer »Wirklichkeit« koordinieren, tun wir dies in aller Regel in sozialer Vernetzung, aus der wir Erklärungs­ modelle, Weltbilder, Anschauungen etc. beziehen. Eine entschei­ dende Funktion in unserem »Überzeugungssystem« kommt als kaum 177 178 179 180 181 182 183

L. Fleck 1980, S. 53 ff. M. Douglas 1991, S. 26 ff. Douglas 1991, S. 151. Douglas 1991, S. 93 ff. und 149 ff. Douglas 1991, S. 147. Douglas 1991, S. 126. Douglas 1991, zu Gerechtigkeit und Kohärenz, S. 192 ff.

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zu überschätzendes »Wirklichkeitskriterium« der »intersubjektiven Bestätigung« zu.184 Sind wir über etwas Gesehenes oder Gehörtes – ja sogar Gefühltes – unsicher, holen wir uns von anderen Bestätigung – und sind uns oft erst dann wirklich sicher. Argumentationsmuster wie: »Das sehen alle anderen auch so«, haben in der intersubjekti­ ven Bestätigung ebenso ihren Wirksamkeitsgrund wie der Hinweis auf die »h. M.« und das Zitieren von Autoritäten (d. h. Leuten, auf deren Kompetenz Autor und Leser, Redner und Zuhörer gemein­ sam vertrauen). Etymologische Belege machen den Zusammenhang gleichfalls deutlich: So bedeutet Konsens (von lat. con-sensus) im ursprünglichen Wortsinn nichts anderes als die »gemeinsame Emp­ findung«, die »gemeinsame Wahrnehmung«.185 »Gruppen tendieren dazu«, heißt es bei G. Roth, »nicht nur einheitliche Ideologien zu entwickeln, sondern auch einheitliche Wahrnehmungen. Wir sehen im allgemeinen die Welt so, wie wir gelernt haben, wie sie sein soll«.186 Intersubjektive Bestätigung und Konsens sind – sozial gesehen – Phänomene der Gruppenkohärenz.187 Je größer der Zusammen­ halt der Gruppe, eben die Gruppenkohärenz, desto ausgeprägter ist die Tendenz, einheitliche Ideologien und Wahrnehmungsmuster zu entwickeln. Es geht um Befunde, die schon lange zum festen Bestandteil der Sozialpsychologie gehören.188 W. Herkner hat sie in seinem Lehrbuch so zusammengefasst: »In jeder Gruppe besteht« – als Bedingung für das Funktionieren von Gruppenaktivitäten und für das Weiterbestehen der Gruppe – »ein gewisses Ausmaß an Kon­ formität, d.h. die Verhaltensweisen, Einstellungen und Meinungen

G. Roth 1996, S. 321 ff. Ein anderer, weiterer Terminus ist »soziale Unterstützung (social support)«, vgl. dazu Stroebe u. a. 2003, S. 614 ff. 185 Entsprechend auch die Wortbildungen Gemein-Sinn, common sense. Nicht zuletzt erhellt die Etymologie der »Wahrheit« diesen intersubjektiven Zusammen­ hang. Das deutsche Wort »wahr« wie das lat. »verus« stammt aus der indogermani­ schen Wortwurzel »ver«: Gunst, Freundlichkeit erweisen, mit der Grundbedeutung »vertrauenswert«. Das mhd. »ware« bedeutet der Vertrag, die Treue, wie das englische »true« (dt. treu) aus derselben etymologischen Wurzel stammt wie »trust«. Hier liegt die indogermanische Wurzel bei »deru« für »tree« (Baum) in der Bedeutung von Auf­ richtigkeit und Verlässlichkeit, vgl. hierzu J.R. Searle, Die Konstruktion der gesell­ schaftlichen Wirklichkeit, Frankfurt 1995/97, S. 217. 186 G. Roth 1996, S. 324. 187 Vgl. dazu M. Sader 2002. Zur Illustration lese man etwa Das Dienstbüchlein von Max Frisch. 188 M. Sader 2002, S. 88 ff. 184

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Kapitel 6: Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode

der Mitglieder stimmen weitgehend oder teilweise überein.«189 Die Einfügungs- und Anpassungsmechanismen, die hier wirken, sind durch zahlreiche Untersuchungen belegt; z. B. durch Experimente, die zeigen, wie schnell wir uns oft dem (falschen) Urteil der Mehrheit beugen oder besser: anschließen, obwohl unsere eigene Wahrneh­ mung »an sich« richtig ist.190 – Einsichtig werden aus der Perspek­ tive »Gruppenkohärenz« so auch typische Topoi der juristischen Argumentation. Der den Juristen völlig selbstverständliche Verweis auf die »h. M.« und Bewertungskriterien wie »vertretbar« setzen stillschweigend ein System von Wertungs- und Autoritätskriterien darüber voraus, welche Meinungen in eine »h. M.« einzurechnen sind und welche nicht. Sie sind auch ohne einen Konsens darüber nicht denkbar, innerhalb welcher Bandbreite eine Meinung noch akzeptiert werden kann. Die Kriterien sind aber auch hier umso ver­ bindlicher, je ausgeprägter die institutionelle Einbindung und damit die »Gruppenkonformität« ist. In der Interpretationstheorie spricht man im Hinblick auf solche gemeinsamen Bewertungskriterien von »Interpretationsgemeinschaft«.191 Ein Konsens über gemeinsame Einschätzungs- und Wertungskriterien, der zugleich über eine hinrei­ chende Stabilität verfügt, bildet sich nicht auf dem offenen Markt des freien Diskurses. Er setzt eine Interpretationsgemeinschaft voraus, und das Maß an Kohärenz, das sie schafft, ist abhängig von der Dichte der Organisationsstruktur und der Stärke der Einbindung in die Gruppe oder die Institution. Justiz und Wissenschaft sind so – bei allen Überschneidungen – unterschiedliche Interpretationsge­ meinschaften. Eine »ständige Rechtsprechung« hat deshalb – um ein Beispiel zu nennen – als Argument in der Rechtswissenschaft einen anderen Stellenwert als im gerichtlichen Verfahren. Wenn es um die Übertragbarkeit der Phänomene der Gruppen­ kohärenz auf den Rechtsprechungsprozess geht, ist sie für den Spruch­ körper fast evident. Soweit ersichtlich, fehlen zwar entsprechende W. Herkner 1991, S. 453. Berühmt geworden sind hier die Experimente zur Konformität, die Salomon Asch in den frühen 50er Jahren durchführte; siehe die Darstellung von Eddie von Avermaet, Sozialer Einfluss in Kleingruppen. In: W. Stroebe u. a. 2003, S. 459 ff. – Im Negativen entsteht anderenfalls das, was der Anthropologe R. Bilz »Disgregations-Angst« genannt hat, die Angst, die Herde (= grex) zu verlieren, Paläoanthropologie Bd. I/2, S. 29 ff. 191 H. Lenk 1995, S. 122 f.; zur Konzeption der Interpretationsgemeinschaft bei S. Fish ausführlich K.I. Lee 2010, S. 309 ff. 189

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IV. »Wie Institutionen denken« – Kohärenz und Bindung

empirische sozialpsychologische Untersuchungen – Kammern und Senate sind jedoch gleichsam klassische Kleingruppen im beschrie­ benen Sinne.192 Schon die Sprache – »Spruch-Körper« – belegt hier die Eigenständigkeit. – Viele der beschriebenen Beobachtungen treten jedoch in kleineren, (auch wissenschaftlich) überschaubaren Gruppen nur deutlicher hervor. Ihre Bedeutung für das Verstehen sozialer Kognition macht aber vor umfassenderen Organisationsformen nicht halt. Aus dem dargelegten Zusammenhang wird zunächst vor allem deutlich, dass und warum Auslegung und Rechtsfindung im Recht­ sprechungsprozess nicht vom individuellen Richter als einem auto­ nomen Subjekt her, sondern nur institutionell verstanden werden können. Informationen und Verarbeitungsregeln, Denkstile und Prä­ missen, die in gerichtliche Entscheidungen eingehen sollen, müssen institutionell »netzwerkfähig« sein, das heißt, in einem durch die Interpretationsgemeinschaft vorgegebenen Denkraum einen Platz und Relevanz haben, um kommunizierbar zu sein und Aussicht zu haben, akzeptiert zu werden.

2. Kohärenz »Kohärenz« meint in den theoretischen Aussagen von M. Douglas das Einfügen von Theorien, Wertungen und Anschauungen in den Wertungskontext des Organisationszusammenhanges, weil sie in der jeweiligen Institution von den Mitgliedern, die sie ausmachen, als zusammengehörig, in sich stimmig, gesehen und erlebt werden.193 Der Begriff hat so eine erkenntnistheoretische Seite. Es geht um den gedanklichen Zusammenhang verträglicher Sätze. Kohärenz­ theoretische Überlegungen werden deshalb in den folgenden Teilen im Mittelpunkt der erkenntnistheoretischen Analyse der zentralen Fragen stehen: Wie erkennt der Richter den »Sachverhalt« und wie erkennt der Richter »das Recht«? Der Sachverhalt ist ein Konstrukt, das den Kriterien der Kohärenz genügen muss. Und ob eine Rechts­ auffassung oder eine Entscheidung akzeptiert werden kann, hängt, 192 Sie unterliegen als »Kleingruppe« ganz unmittelbar Phänomenen, die als Grup­ penkonformität untersucht sind; vgl. etwa W. Herkner 1991, S. 453 ff. 193 Um es nochmals erläuternd aus der Sicht des Ansatzes von Bourdieu zu for­ mulieren: Das »Feld« prägt die »Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix« seiner Akteure.

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Kapitel 6: Zum Zusammenhang von Gerichtsorganisation und Methode

wie zu zeigen sein wird, wesentlich davon ab, dass sie sich in Recht und Gesetz, in das Gefüge der Rechtsprechung einfügt, d. h. wiederum: kohärent ist. Das schließt unmittelbar die institutionelle organi­ satorische Seite ein. Zur »Wahrung der Kohärenz der Rechtspre­ chung«194 bedarf es in der Justiz auch Organisationsformen, welche die dafür notwendigen Bedingungen und Voraussetzungen schaffen, um eine entsprechend kohärente Rechtsanwendung zu strukturieren. Die beiden eben beschriebenen Ansätze müssen also zusammen gesehen werden. Die entscheidende Bedeutung als zentraler Begriff dieser Methodenlehre bekommt der Kohärenzgedanke aber erst, wenn er noch um einen weiteren, wesentlichen Ansatz ergänzt wird – den der Kohärenz als philosophisch-theoretisches Wahrheitskri­ terium. Wir haben es dann aber mit einem theoretisch durchaus komplexen Gesamtzusammenhang zu tun, der es auch erfordert, im Gesamtzusammenhang dargestellt und diskutiert zu werden. Dies soll im folgenden Teil B geschehen, um dann für die in den folgenden Teilen zu erörternden Prozesse richterlicher Kognition das notwen­ dige theoretische Beurteilungsinstrumentarium zu haben. Zunächst sind jedoch die wichtigsten Ergebnisse dieses Teils A zusammenzufas­ sen.

Siehe oben II. 2. – Zukunft des Gerichtssystems der EG, Abschlussbericht der Reflexionsgruppe, Sonderbeilage zu Heft 19/2000 der NJW, S. 13.

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Kapitel 7: Schlussfolgerungen für die Methodik des gerichtlichen Verfahrens

I. Schlussfolgerungen für den Methodenbegriff Am Beginn unserer Überlegungen stand die Frage: Was ist das eigentlich, Methode? Sie führte sehr schnell zu dem Ergebnis, dass sich die Methodenlehre nicht nur auf Auslegung, Subsumtion und deren theoretische Reflexion beschränken darf, sondern dass sich diese Frage nur beantworten lässt, wenn die Methodenlehre diese verengte Perspektive aufgibt und auch die Mechanismen thematisiert, die die Handhabung dieser Regeln letztlich steuern. Wie sich gezeigt hat, sind wesentliche Themen hierzu: – – – –

Habitus und Routinen, die Mustererkennung, der Zusammenhang von Methode und Gerichtsorganisation, richterliche Ethik und das Selbstbewusstsein der Justiz.

Die Regeln, die Gegenstand des Lernfaches »Methode« sind, sind mithin sozusagen nur die Spitze des »methodischen Eisberges«. Wesentlich sind die genannten Prozesse, die im Hintergrund der Anwendung und Handhabung dieser Regeln ablaufen. Diese Prozesse und Mechanismen sollte eine Methodenlehre nicht nur als gegeben voraussetzen. Sie muss sie zum Gegenstand machen. Das schließt nicht nur die Aufgabe ein, diese Vorgänge als Befunde festzustellen und zu beschreiben, sondern auch die Notwendigkeit des Versuches, diese Mechanismen theoretisch zu erfassen. Erst die theoretische Erfassung gibt die Möglichkeit, die Hand­ habung von Regeln auch zu reflektieren. Neben der Beherrschung methodischer Regeln ist die Reflexion der Handhabung dieser Regeln das weitere Ziel, das einer Methodenlehre gesteckt ist. Und wenn wir es unternehmen, den Rechtsanwendungsprozess insgesamt in den Blick zu nehmen, tritt auch eine dritte Ebene als bestimmend hervor: die der Gerichtsorganisation. Diese markiert

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Kapitel 7: Schlussfolgerungen für die Methodik des gerichtlichen Verfahrens

ganz deutlich die Grenzen eines individuellen Methodenverständnis­ ses, das sich wesentlich nur auf den »Richter« als das Subjekt des Erkenntnisverfahrens konzentriert. Eine Methodenlehre der gericht­ lichen Praxis muss, wenn sie als Methode auf die Praxis Einfluss nehmen will, vor allem auch diese institutionelle Einbindung als Methodenproblem thematisieren und diskutieren.

II. Erste Thesen zu den Rahmenbedingungen des methodischen Arbeitens Dieser Sicht auf den Methodenbegriff entspricht es, an den Anfang unseres Diskurses nicht die methodischen Regeln und deren Inhalte und Grundlagen zu stellen, sondern den Blick auf die im Hinter­ grund laufenden Anwendungsroutinen zu richten. Je intensiver dies geschieht, desto deutlicher tritt dann im Verlauf der Untersuchung die prägende Kraft zutage, die die institutionelle Einbindung auf diese Mechanismen ausübt oder ausüben kann. – Konkret lassen sich die Ergebnisse der Überlegungen zum Zusammenhang Richter – Justizorganisation – Methode in folgenden ersten Thesen zusammen­ fassen: 1. Nach gängigen Vorstellungen der Hermeneutik ist der ein­ zelne Richter als Interpret von Tatsachen und Texten – also von Lebenssachverhalten und Gesetzen – zwar abhängig von der Über­ lieferungstradition und den Vor-Urteilen seines je eigenen Vorver­ ständnisses, in der Rolle des interpretierenden und entscheidenden Subjekts aber autonom. Diese Sicht übersieht die Bedeutung der insti­ tutionellen Einbindung der Richter. Diese institutionelle Einbindung führt dazu, dass die je eigenen Vorverständnisse des Richters durch die Vorverständnisse – genauer: die Denkstile, Wahrnehmungsperspek­ tiven, Relevanzkriterien, Wertungen etc. – der jeweiligen Gerichts­ barkeit und der jeweiligen Organisationsform des »erkennenden Gerichts« überlagert, modifiziert und auch verdrängt werden. 2. Diese Modifikationen und Überlagerungen sind in Spruch­ körpern ausgeprägter als bei Einzelrichtern, bei Einzelrichtern abhän­ gig von der Kontrolldichte durch Rechtsmittel, bei Spruchkörpern abhängig davon, ob sie (noch) als Kollegium funktionieren oder nur als Gruppe von Einzelrichtern mit gemeinsamer Geschäftsstelle. – Parallel dazu besteht eine Abhängigkeit von den Sachgesetzlichkeiten der einzelnen Rechtsgebiete und dort insbesondere von der Orga­

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II. Erste Thesen zu den Rahmenbedingungen des methodischen Arbeitens

nisationsstruktur auf Kläger- oder Beklagtenseite. Die Parteien in Mietstreitigkeiten werden und können divergierende Urteile eher hinnehmen als etwa die Finanzverwaltung abweichende Entscheidun­ gen in Steuersachen. 3. Weil das »erkennende Gericht« unabhängig ist – Einheitlich­ keit also nicht durch Anweisung hergestellt werden kann –, kommt den justiztypischen Einbindungen eine besondere Bedeutung zu. Sie schaffen zwar in der Regel keine direkten,195 wohl aber durchaus wirksame »induktive« Koppelungen. Man orientiert sich etwa an der Rechtsprechung des »Obergerichts«. Es wirkt »die Schere im Kopf«. Die Gerichtsbarkeit kann so als ein Geflecht von »Inter­ pretationsgemeinschaften«196 beschrieben werden, wie sie auch insgesamt selbst eine solche darstellt. Es ist dieser institutionelle Zusammenhang, in dem entschieden wird, welche Vorverständnisse akzeptabel sind und welche nicht, was »richtig«, »vertretbar« oder »relevant« ist. Unter diesem Blickwinkel bekommt auch die Diskus­ sion um »Topik und Jurisprudenz« eine besondere Perspektive. Denn ob Topoi, mit denen juristische Probleme angegangen werden, als geeignet angesehen werden, zur Lösung von Problemen beizutragen, ist wiederum davon abhängig, welche Topoi von der Gerichtsbarkeit akzeptiert werden, bildlich gesprochen: welche von ihnen »netzwerk­ fähig« sind. 4. Versteht man »Erkenntnis« im Kern allein als logische Deduk­ tion, können wir die Prozesse, die im Hintergrund der richterlichen Methodenanwendung mitlaufen und die Handhabungsroutinen ent­ scheidend bestimmen, nicht als Fragen des »Denkens« und »Erken­ nens« analysieren. – Jedenfalls wären sie einem rationalen Metho­ dendiskurs nicht zugänglich. Der zentrale theoretische Ansatz, um diese Prozesse als integralen Teil der methodischen Rechtsanwen­ dung einzuordnen und sie so auch beschreibbar und diskutierbar zu machen, liegt deshalb, wie in den Kapiteln 4, 5 und 6 dargelegt, in einem erweiterten Erkenntnisbegriff, »Erkenntnis« verstanden als »Kognition« in dem Sinn, in dem der Begriff in den Kognitionswissen­ schaften verwendet wird.197 Nur in dieser Bedeutung kann das »gerichtliche Erkenntnis­ verfahren« zu einem Schlüsselbegriff für eine Methodenlehre der Wie z. B. bei der Zurückverweisung durch das Rechtsmittelgericht. Siehe zu diesem Begriff H. Lenk 1995, S. 122; K. I. Lee 2010, S. 309 ff., 399 ff. Näher Kap. 6 IV. 1. u. 8. 197 Zu den Einschränkungen, die zu machen sind, siehe Kap. 5 II. 3. 195

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Kapitel 7: Schlussfolgerungen für die Methodik des gerichtlichen Verfahrens

gerichtlichen Praxis werden und nur von diesem Verständnis aus ist es gerechtfertigt, nach den theoretischen und praktischen Konsequenzen zu fragen, die sich aus diesem Begriff ergeben.

III. Die Perspektive des »erkennenden Richters« Die bestimmende Perspektive für die vorstehenden Kapitel war es, den Rechtsprechungsprozess als Gefüge von Regeln, Verhaltenswei­ sen und Randbedingungen möglichst in seiner Gesamtheit zum Gegenstand der Beobachtung, Beschreibung und Analyse zu machen. Je stärker sich die weiteren Untersuchungen auf die konkrete rich­ terliche Arbeit – Sachverhaltsfeststellungen und Rechtermittlung – konzentrieren werden, desto notwendiger wird es allerdings, diese umfassende Perspektive einzuschränken. Zwischen zwei unterschied­ lichen Beobachtungspositionen ist zu differenzieren: Einmal der der umfassenden Perspektive des erweiterten Methodenbegriffs, der prinzipiell alle Regeln der Rechtsanwendung und der individuellen und institutionellen Bedingungen, Voraussetzungen und Formen ihrer Handhabung erfassen will, und zum anderen der Perspektive des »erkennenden Richters«. Elemente der Strukturbildung wie Art und Intensität von Ausund Fortbildung, die Formen der Einarbeitung in die richterliche Praxis, Sozialisation als Einzelrichter oder im Spruchkörper, Pensen­ schlüssel, faktische und deklarierte Anforderungsprofile, Arbeit im Team oder als »Einzelkämpfer« etc. darf eine Methodenlehre der gerichtliche Praxis nicht ausblenden, weil ihnen für den Rechtsfin­ dungsprozess eine entscheidende Bedeutung zukommt. – Wobei jedoch wissenschaftlich vorsichtiger zu formulieren wäre: zukom­ men dürfte; denn empirische Untersuchungen über diese Zusammen­ hänge fehlen weitgehend.198 Wir können in diesem Text nur darauf hinweisen, dass es sich um Desiderate der Rechtstatsachenforschung handelt. Und um einen Gegenstand notweniger justizpolitischer Dis­ kussion. 198 So konnte man begründet den Eindruck haben, manche Justizreformen der letz­ ten Jahrzehnte folgten vornehmlich betriebswirtschaftlichen Rationalisierungsvor­ stellungen, z. B. dass drei Richter als Einzelrichter das dreifache Pensum einer Kammer leisteten und deshalb auch rechtsstaatlich gesehen effizienter seien. Untersuchungen über Qualitäts- und Akzeptanzverluste sind unbekannt geblieben.

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III. Die Perspektive des »erkennenden Richters«

Der einzelne Richter sollte über sein Eingebundensein in diese Zusammenhänge reflektieren und sich über deren justizpolitische Dimension im Klaren sein. – Aber für seine Praxis sind ihm die Steue­ rungen durch institutionelle Einbindungen weitgehend vorgegeben. Auch der Leser sollte sie im weiteren Verlauf unserer Überlegungen immer im Bewusstsein behalten. Thematisch werden sie jedoch in den Hintergrund treten. Wenn wir uns im nächsten Teil mit der Frage auseinanderzusetzen haben, was es für das Verständnis von Methode bedeutet, wenn wir von dem »gerichtlichen Erkenntnisverfahren« spre­ chen, dann werden wir das im Wesentlichen aus der Perspektive des »erkennenden Richters« tun. – Die Notwendigkeit, Methode als Beachtung und Herstellung von Kohärenz zu verstehen, wird unsere Überlegungen allerdings auch hier immer wieder auf das Recht- und Rechtsprechungssystem selbst zurückführen, als dessen Organ der Richter urteilt.

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Teil B Kohärenz und juristische Methode

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Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz

Der Ausrichtung der Methodik auf die Stimmigkeit von Tatbestand und Gründen kann nur widersprechen, wer nachzuweisen vermag, dass man sich nicht mit einer stimmigen Entscheidung begnügen darf, weil es um eine objektiv richtige Entscheidung gehen muss. Dieser Einwand kann freilich auf sich beruhen, da man für ihn heute keine empirisch oder theoretisch belastbare Grundlage mehr wird angeben können.200 Doch auch mit der These, dass ein Urteil stimmig sein muss, um »richtig« zu sein, ist für die Methodik erst etwas gewonnen, wenn es gelingt, die »Stimmigkeit« dergestalt als Begriff eines theoretischen Konzeptes zu bestimmen, dass sich aus diesem Theoriezusammenhang auch die methodisch notwendigen Kriterien und Regeln entwickeln lassen: Kriterien, um beurteilen zu können, unter welchen Voraussetzungen ein Urteil »stimmig« ist, und – aus der Perspektive des methodischen Vorgehens – Regeln, die bei der Herstellung einer Entscheidung zu beachten sind. »Stimmigkeit« beschreibt zunächst nur eine Einschätzung, ein Gefühl, den Eindruck, dass etwas so, wie es ist, eigentlich gelungen, »rund« ist – und jedenfalls keinen unmittelbaren Anlass für Bedenken gibt, dass etwas in diesem oder jenem Punkt nicht stimmt oder nicht überzeugend sei. Gemeint ist dann kein analytisches, sondern ein eher ästhetisches Urteil. Soll es ein methodisches Urteil sein, muss es weitere Bedingungen erfüllen: Die »Urteile müssen sich samt der Überzeugung, die sie begleitet, allgemein mitteilen lassen«;201 sie müssen sich analysieren und letztlich auch auf Regeln zurückführen lassen, aus denen sie gewonnen wurden. Der mithin entscheidende Schritt zu einer theoretischen Konzeption ist aber im Begriff der »Stimmigkeit« schon vorgeben und bereits getan, wenn »Stimmig­ keit« als Kriterium für Kohärenz verstanden wird. 200 Nur weil es eine solche Grundlage nicht gibt, war es notwendig, im Teil A einen erweiterten Methodenbegriff zu entwickeln, und wird es in den folgenden Teilen erforderlich sein, sich differenziert mit den Tatsachenfeststellungen und den Bausteinen und Determinanten der Rechtsfindung auseinanderzusetzen. 201 So Kant in Bezug auf Geschmacksurteile – KrU § 21.

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Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz

In diesem Kapitel wird deshalb die »Theorie der Kohärenz« das zentrale Thema sein. Mir geht es dabei zum einen um die Einsicht, dass wir juristisches Systemdenken heute nur noch als Denken in Kohärenzen begreifen und fassen können – Kohärenz in dem spezi­ fischen Sinn verstanden, in dem ich den Begriff entwickelt habe, um die Bindung des Richters an Gesetz und Recht als nicht nur kontrafak­ tisches Postulat beschreiben zu können.202 Der kohärenztheoretische Ansatz ist zum anderen die theoretische Grundlage für ein neues Methodenverständnis – Methode nicht mehr primär als Anwendung bestimmter Regeln, sondern als »Herstellung von Kohärenz«. Darzu­ stellen sind die Vorraussetzungen, Implikationen und Grundannah­ men dieses Kohärenzbegriffes – wobei es in diesem Teil B nur um die Grundlagen gehen kann. Zu vertiefen und zu konkretisieren sind sie nur in der Analyse der unterschiedlichen Erkenntnisprozesse, die der Richter bis zum Urteil methodisch durchlaufen muss. »Kohärenz« ist ein Begriff, der in ganz unterschiedlichen wissen­ schaftlichen und theoretischen Zusammenhängen verwandt wird; am Beginn muss deshalb eine erste Begriffsklärung stehen (I.). Einer ersten Übersicht dienen auch die drei Thesen zur besonderen Funktion der Kohärenz in der juristischen Methodik (II.). Die eingehende Aus­ einandersetzung mit den philosophischen und theoretischen Grund­ lagen und Konsequenzen folgt dann in den Abschnitten III. bis VII. Ein wesentliches Ergebnis ist die Notwendigkeit, sich auf »anerkannte Sätze« zu stützen. Für die kohärenztheoretische Konzeption dieser Methodenlehre kommt deshalb den im VIII. Abschnitt näher zu untersuchenden Phänomenen der »Akzeptanz« eine entscheidende Bedeutung zu.

I. Zum Begriff »Kohärenz« Der Begriff »Kohärenz« stammt aus dem Lateinischen, cohaerens: »zusammenhängend«, und bedeutet, dass zwischen bestimmten Phänomenen ein Zusammenhang besteht. Synonyme zu kohärent sind neben »stimmig« etwa »schlüssig«, »verbunden«, »einheitlich«. Gebraucht wird der Begriff »zur Bezeichnung des mehr oder weniger Strauch 2002, S. 311 f.; 320 ff.; zu den philosophischen, soziologischen und kognitiven Grundlagen des von mir gebrauchten Kohärenzbegriffs ausführlich Strauch 2005, insb. S. 483 ff. 202

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I. Zum Begriff »Kohärenz«

engen Zusammenhangs eines aus Teilen bestehenden Ganzen«.203 So beschrieben, fehlt dem Begriff allerdings jede genauere Kontur. Man kann ihn auch nicht einfach aus seiner Funktion heraus bestimmen, denn er wird für die unterschiedlichsten Zusammenhänge verwendet. Es ist deshalb sinnvoll, zunächst einen Blick auf die unterschiedlichen Phänomene zu werfen, für die der Begriff gebraucht wird (1.). Ent­ scheidend für die Problemstellungen, denen wir uns in der Metho­ denlehre gegenübergestellt sehen, ist dann allerdings vor allem die Funktion der Kohärenz, die ihr als Wahrheits- und Richtigkeits­ kriterium zukommt, d. h., es geht um die Rolle, die der Kohärenz­ begriff in der Erkenntnistheorie und der philosophischen Diskussion um die Wahrheitstheorien spielt. Aufgabe der folgenden Überlegun­ gen wird es also sein, den Kohärenzbegriff so zu bestimmen, dass man mit ihm als Wertungs- und Richtigkeitskriterium auch methodisch arbeiten kann (2.).

1. Unterschiedliche Kohärenzphänomene – gemeinsame Struktur Das Auffinden und die Analyse von Kohärenzphänomenen ist in vielen Wissenschaften ein zentrales Forschungsfeld: In der Optik ist es eine Eigenschaft von Lichtbündeln gleicher Wellenlänge (z. B. Laser);204 in der Gestaltpsychologie wird der Gestaltzusammenhang von Einzelempfindungen als Kohärenz erklärt; in der Sozialpsycholo­ gie dient der Begriff der Gruppenkohärenz (oder auch Gruppenkon­ sistenz) zur Erklärung der Unterschiede im Verhalten als Einzelner oder in einer Gruppe. Die Neurowissenschaften arbeiten mit die­ sem Begriff, um zu erklären, wie sich aus der Aktivität unzähliger Neuronen konkrete Erkenntnisse bilden.205 Im EU-Recht fordert das »Kohärenzgebot«, dass alle Organe der Gemeinschaft bei ihren

EPhWTh (2. Aufl.), Bd. 4., Art. kohärent, Kohärenz, S. 250. Weitere Beispiele aus dem Bereich der Physik und Linguistik vgl. EPhWTh (2. Aufl.), Bd. 4., Art. kohärent, Kohärenz, S. 252 f. 205 Dazu u. a. Edelman/Tononi 2002; S. 99 f. u. passim; Edelman 2007, S. 50 ff., 55; Wolf Singer 1990: Search for coherence: A basic principle of cortical self-organisation concepts, in: Neuroscience, 1,1–26. 203

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Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz

Handlungen zur Erreichung der Ziele der Europäischen Union bei­ zutragen haben.206 In dem Beitrag »Richterliche Rechtsanwendung und Kohä­ renz«207 hatte ich es unternommen, für diese Kohärenzphänomene – auch über die Grenzen der einzelnen Wissenschaften hinaus – Gemeinsamkeiten in der Form- und Strukturbildung zu finden: Kohä­ renz ist dann durch die drei folgenden Merkmale gekennzeichnet: a) eine Vielzahl von Elementen (z. B. Informationen, Neuronen, Mitglie­ der), die b) in einem komplexen System (z. B. Gehirn, Organisation, Gesellschaft) stehen und c) durch Interaktion eine jedenfalls momentane Einheit bilden. Kohärenz bedeutet so das Zusammenwirken von Ele­ menten eines komplexen Systems zu einer kontingenten (partiellen) Ein­ heit.208 Dieser Versuch einer allgemeinen Bestimmung kohärenter Struktur bleibt jedoch zu stark im Abstrakten. Ausgangspunkte für methodische Analysen, Regeln und Kriterien können nur die jeweili­ gen wissenschaftlichen und philosophischen Ansätze sein, die auch auf konkretere juristisch-prozessuale Gegebenheiten und Problem­ stellungen bezogen sind und die uns dann als »tools for handling« die Instrumente an die Hand geben, um methodische Wertungskriterien zu entwickeln und methodisch relevante Prozesse zu beschreiben und zu analysieren.

2. Kohärenz als Kriterium juristischer Methodik In der Methodik sind die »Elemente«, die im Sinne der gegebenen allgemeinen Bestimmung zu einer »Einheit« (etwa einer Wahrneh­ mung, einem Zwischenergebnis, einem Urteil) zusammenzufügen sind, Informationen, Aussagen, Sätze, Feststellungen, Wahrnehmun­ gen. Aber welche Bedingungen müssen gegeben sein, um sagen zu können, das Zusammenfügen, der hergestellte Zusammenhang sei 206 Vgl. dazu K Siems 1999; H.-J. Cremer, in: Christian Calliess / Matthias Ruffert (Hg.), EUV/AEUV 4. Aufl. 2011, Art. 21 EUV, Anm. 12 ff.; s. a. Art. 13 EUV; Art. 221, 256 Abs. 4 AEUV. 207 Dort – Strauch 2005, S. 483 ff. – habe ich meine kohärenztheoretischen Überle­ gungen in einem größeren theoretischen Zusammenhang dargestellt. Auf diesen Bei­ trag werde ich bei der Behandlung von Kohärenzphänomenen immer wieder verwei­ sen. 208 Strauch 2005, S. 499.

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II. Die Kohärenz des Rechtsprechungsprozesses in drei Thesen

auch »kohärent«? – Als prägnanteste Antwort darauf bietet sich die Definition an, die Aleksander Peczenik in seinen »Grundlagen der juristischen Argumentation« gegeben hat: »Wenn p q unterstützt, kann man behaupten, p und q seien miteinander kohärent. Der Kohä­ renzbegriff gilt auch für Mengen von Behauptungen oder Sätzen (deskriptive, normative oder wertende, usw.).«209 Diese formale Umschreibung verweist auf den Kern des Kohä­ renzbegriffs: die Stimmigkeit. Sie ist eines der drei Elemente der Kohärenz, die jeweils zu prüfen sind, wenn es darum geht, ob eine Feststellung, eine Aussage – eben ein Ergebnis, eine »Einheit« – kohärent ist. Es kommt darauf an, dass (1.) eine Aussage (p) mit anderen nicht im Widerspruch steht, dass (2.) zwischen ihr und ande­ ren Aussagen oder Phänomenen (q) ein spezifischer Zusammenhang besteht und dass (3.) alle relevanten Aussagen (q) auch berücksichtigt sind. In den folgenden Teilen D bis F wird auf diese drei Elemente – Widerspruchsfreiheit, Umfassendheit und Stimmigkeit = Kohärenz i.e. Sinn – immer wieder zurückzukommen sein. An dieser Stelle muss es bei den Stichworten verbleiben, denn die näheren Voraussetzungen und Inhalte, die mit diesen drei Elementen verbun­ den sind, lassen sich hinreichend konkret nur im Zusammenhang mit den konkreten Fragestellungen darstellen – den Fragestellungen nach den »richtigen« Sachverhaltsfeststellungen (Kap. 14) und nach den Bedingungen einer »richtigen« Entscheidung (Kap. 26). Das gilt vor allem auch für die genauere Bestimmung dessen, was gemeint ist, wenn Kohärenz dadurch definiert wird, dass p q »unterstützt«; ausge­ schlossen ist damit zwar ein beliebiger Zusammenhang zwischen q und p, aber zugrunde gelegt wird auch kein Verständnis von Kohärenz, nach dem q logisch aus p folgen muss (u. VII.2.).

II. Die Kohärenz des Rechtsprechungsprozesses in drei Thesen Für eine Methodik, die Methode als Herstellung von Kohärenz versteht, sind drei Kohärenzzusammenhänge von grundsätzlicher A. Peczenik 1983, S. 176. Peszenik bezieht sich an der zitierten Stelle ausdrücklich auf N. Rescher, der mit seinem Werk »The Coherence Theorie of Truth«, 1973, die neuere philosophische Kohärenztheorie stark beeinflusst hat. Einen Überblick gibt S. Bracker 2000, S. 32 ff. 209

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Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz

Bedeutung: der Zusammenhang von Kohärenz und Organisation des Justizsystems, der Zusammenhang von Rechtsprechung und »aner­ kannten Sätzen« und schließlich der Zusammenhang von Tatsachenund Rechtsermittlung. In den folgenden Teilen, in denen wir die ein­ zelnen Prozesse, die zur richterlichen Entscheidung führen, näher zu analysieren haben, werden wir immer wieder auf diese Zusammen­ hänge stoßen. In drei Thesen formuliert sollen sie deshalb als Grund­ gedanken vorangestellt werden210: 1. These: Die Kohärenz des juristischen Denkens ist abhängig von der Kohä­ renz in den institutionellen Strukturen der Justiz, von ihrer Organisation. Ihr Bezugspunkt ist nicht primär das autonom-individuell denkende Ich. 2. These: Eine Feststellung muss sich entweder in ein vorhandenes und als relevant und richtig akzeptiertes Aussagesystem eingliedern lassen oder man muss dieses so abändern, dass es sich in den neuen Bezugsrahmen einfügt. Auch dieser neue Rahmen muss sich aber auf »anerkannte Sätze« stützen können. 3. These: Der Sachverhalt muss in dem Argumentations- und Denkraum generiert werden, in dem auch die Rechtsfindung erfolgt. Kohärenzbedin­ gungen sind aber nicht bereits dann gegeben, wenn sich die Entscheidung in das Recht einfügt. Das Recht muss auch dem Fall und seinen Problemen gerecht werden.

1. Zur ersten These Wie die schon diskutierten kohärenztheoretischen Ansätze aus Soziologie und Sozialpsychologie gezeigt haben (Kap. 6 III.), ist der richterliche Denk- und Argumentationsraum viel stärker durch Mechanismen sozialer Kognition bestimmt als durch einen jeweils individuellen Denkstil des einzelnen Richters. Natürlich ist es zunächst das Denken der Richterin Charlotte Schmitt und das Denken des Richters Jörg Mann, wenn wir von richterlichem Denken spre­ chen; »Kohärenz« erscheint folglich jeweils als ein subjektives Phäno­ men im Denken dieser Personen. Zugleich ist es aber ein Phänomen »sozialer Kognition«. Recht, seine Kohärenz und die juristische Kon­ struktion eines »Falles« setzen denknotwendig »Intersubjektivität«, d. h. gemeinsame Denk- und Argumentationsräume voraus. Anders könnten sie nicht funktionieren und wir sie nicht denken. 210 Gegenüber dem Beitrag, Strauch 2005, S. 500 ff., sind diese Thesen in den For­ mulierungen deutlich modifiziert, in den Kernaussagen aber unverändert.

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II. Die Kohärenz des Rechtsprechungsprozesses in drei Thesen

Einzubeziehen in die Methodendiskussion waren deshalb die Themen Habitus und Stil, die Formen institutioneller Einbindung sowie die Kohärenz als sozialpsychologisches Phänomen auch und gerade als Voraussetzung für eine Kohärenz im Denken und Erken­ nen.211 Ein soziologischer Befund, unter dem nicht zuletzt Phänomene sozialer Kognition im Bereich des Rechts näher beschrieben wurden, ist der der Interpretationsgemeinschaft (Kap. 6 IV. 1. b) – sei es speziell der Richter oder allgemeiner der Juristen, institutionalisiert in der Gerichtsbarkeit und, wiederum allgemeiner, dem Rechtssystem. Ohne die spezifischen soziologischen und sozialpsychologischen Ver­ mittlungsprozesse sozialer Interaktion könnten sich sozio-kulturelle Phänomene wie gemeinsame Denk- und Argumentationsräume nicht bilden. Nur über die Vermittlungsprozesse in solchen institutionellen Zusammenhängen – wie Interpretationsgemeinschaften oder allge­ meiner: soziale Systeme mit spezifischen Funktionen und Organisa­ tionsstrukturen – erklärt sich auch die Einbettung unseres Denkens in eine historische Struktur mit ihren Institutionen, Traditionen, symbolischen Formen, Dogmatiken, Selbstverständlichkeiten und ihrem je eigenen kulturellen Gedächtnis. – Die erste Grundthese soll dieses für die hier vertretene Kohärenzlehre wesentliche Abhängig­ keitsverhältnis von Organisationsstruktur und Denken (Kognition) auf eine allgemeine Formel bringen.

2. Zur zweiten These Keine im Wesentlichen deskriptive, sondern eine weitgehend norma­ tive Bedeutung kommt dem Kohärenzbegriff zu, wenn er – wie dies in den folgenden Teilen meistens der Fall sein wird – als Wahrheits- bzw. Richtigkeitskriterium diskutiert und eingesetzt wird. Abgeleitet ist die zweite These aus einer Formulierung, mit der es O. Neurath 1931 unternommen hatte, die Richtigkeit einer Aussage zu bestimmen. Obwohl aus naturwissenschaftlichen Kontexten entwickelt, liegt in dem Kohärenzgedanken Neuraths ein Ansatz, der sich auch in den nachfolgenden Untersuchungen für die Bewertung von Sachverhaltsund Rechtsfeststellungen als tragfähig und fruchtbar erweisen wird. In diesen Untersuchungen wird der kohärenztheoretische Ansatz zugleich durch weitere erkenntnistheoretische Überlegungen ergänzt 211

Weiterführend T. Fuchs 2010, insbes. S. 193 ff.

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Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz

werden müssen. Der methodische Weg zu den Antworten auf die Frage nach den Bedingungen und Mechanismen der Sachverhalts­ feststellung und nach Kriterien für die Feststellung des »richtigen« Sachverhalts führt über die Einordnung dieser Fragestellungen in die Diskussion um die so genannten Wahrheitstheorien: Abbild-, Korrespondenz-, Diskurs- und Kohärenztheorien (Kap. 9 I.). Wenn dafür weitgehend kohärenztheoretische Ansätze (Kap. 11) zugrunde gelegt werden, dann beruht das nicht auf der Auffassung, dass schon im Grundsatz und generell allein diese Ansätze »richtig« seien und die anderen entsprechend »falsch«. Auszugehen ist vielmehr von der Situation, in der der erkennende Richter steht. Diese Erkenntnissi­ tuation vermögen die anderen Theorien nicht adäquat zu erfassen. Der Richter ermittelt »die Wahrheit« nicht in einem freien wissen­ schaftlichen Verfahren, sondern in einem Verfahren, das rechtlich formalisiert ist. Der Richter hat es in der Regel auch nicht unmittelbar mit beobachtbaren Tatsachen zu tun, sondern kann nur auf Aussagen über solche Tatsachen zurückgreifen. Maßstab für die Richtigkeit eines Sachverhaltes kann jeweils nur die Kohärenz der Schlussfolgerungen von den Indizien oder Aussagen auf die festgestellten Tatsachen sein, d. h. die Kohärenz der »Gesamtwürdigung« (Kap. 11). Auch im Laufe der Untersuchungen über die Kohärenzkriterien, die für die Rechtsfeststellungen zu gelten haben, wird die zweite These dann noch im Hinblick auf Mustererkennung und Entscheidungstheorie sowie die praktischen Konsequenzen, die sich aus dem Verständnis von Methode als Herstellung von Kohärenz ergeben (Teil F), in weiteren Schritten zu konkretisieren sein.

3. Zur dritten These Kohärent kann ein Urteil schließlich nur sein, wenn es gelingt, Wirklichkeitserfassung und Rechtsermittlung in einen stimmigen Zusammenhang zu bringen. Die dritte These formuliert deshalb die Notwendigkeit, Recht und Sachverhalt im Wechselspiel zu sehen. Die Prozesse der Mustererkennung, bei denen es um die Frage geht, wel­ che Mechanismen wirksam sind, wenn der Richter Lebenswelt, das Recht und den konkreten Fall im Urteil zusammenführen muss, sind aus dieser Sicht deshalb weitgehend Vorgänge der Kohärenzbildung. Das gilt insbesondere in Konstellationen, in denen Veränderungen in der Lebenswelt bisherige Rechtsüberzeugungen in Frage stellen, also

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III. Die Kohärenzformel Otto Neuraths

Prozesse der Rechtsfortbildung und der Rechtsschöpfung auslösen. Diese Prozesse lassen sich theoretisch gut erfassen, wenn man sie mit Kants Begriff der reflektierenden Urteilskraft beschreibt (Kap. 23 II.). Kohärenztheoretisch formuliert heißt das, der Richter muss für seinen konkreten Fall eine allgemeine Regel finden, die sowohl das vorhan­ dene Gefüge rechtlicher Aussagen als auch die besonderen Wertungsund Gerechtigkeitsaspekte, die sich aus dem Fall ergeben, berücksich­ tigt und stimmig zusammenführt.

III. Die Kohärenzformel Otto Neuraths Ausgangspunkt unserer Überlegungen zur Kohärenz tatsächlicher und rechtlicher Feststellungen ist der Begriff in der Bedeutung, die er in den Diskussionen des für die neuere Philosophie so wichtigen Wie­ ner Kreises212 durch Otto Neurath213 bekommen hat. Die Formel, auf die O. Neurath den Kohärenzbegriff gebracht hat, bezieht sich auf die »Wissenschaft« als ein »System von Aussagen«. Im Zusammenhang lautet der Text: »Aussagen werden mit Aussagen verglichen, nicht mit ›Erlebnissen‹, nicht mit einer ›Welt‹, noch mit sonst etwas. Alle diese sinnleeren Verdoppelungen gehören einer mehr oder minder verfeinerten Meta­ physik an und sind deshalb abzulehnen. Jede neue Aussage wird mit der Gesamtheit der vorhandenen, bereits miteinander in Einklang gebrachten Aussagen konfrontiert. »Richtig heißt eine Aussage dann, wenn man sie eingliedern kann. Was man nicht eingliedern kann, wird als unrichtig abgelehnt. Statt die neue Aussage abzulehnen, kann man auch, wozu man sich im allgemeinen schwer entschließt, das ganze bisherige Aussagesystem abändern, bis sich die neue Aussage eingliedern lässt«.214

212 Ein Diskussions- und Arbeitskreis aus Philosophen, Mathematikern, Sozial- und Naturwissenschaftlern; die Literatur ist umfangreich, vgl. etwa V. Kraft, Der Wiener Kreis, Wien, New York, 2. Aufl. 1968; M. Geiger, Der Wiener Kreis, Hamburg 1992; F. Stadler, Studien zum Wiener Kreis, Frankfurt/M. 1997. 213 Zur philosophiegeschichtlich umstrittenen, aber in unserem Zusammenhang zunächst nicht wesentlichen Frage, ob Neurath wirklich zu den Vätern des Kohärenz­ gedankens gerechnet werden kann, vgl. – zur damaligen Diskussion um 1930 – C. G. Hempel 1982, S. 1 ff. 214 Neurath 1931/1981, Bd. 2, S. 541.

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Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz

1. Nehmen wir diese Passage zunächst nur als Deskription, lässt sie sich unschwer als Beschreibung des Prozesses lesen, der den Kern richterlicher Rechtsfindung ausmacht. Der Ausbilder etwa, der von dem Referendar für eine Feststellung im Urteilsentwurf eine nähere Begründung fordert – ein Rechtsprechungszitat oder eine Bezug­ nahme auf einen dogmatischen Satz –, verlangt nichts anderes als ein »Eingliedern« dieser Feststellung in das bisherige »Aussagesystem« des Rechts. Das Zitat beschreibt in der Grundstruktur auch die juristische Arbeit eines Revisionssenates. Bei jedem Votum stehen die Senatsmitglieder vor der dargestellten Situation: »Jede neue Aussage wird mit der Gesamtheit der vorhandenen, bereits miteinander in Einklang gebrachten Aussagen konfrontiert.« Kann man die Rechts­ auffassung dann nicht einordnen – insbesondere nicht in die bisherige Senatsrechtsprechung –, muss eine Lösung gefunden werden, wie man »das ganze bisherige Aussagesystem abändern« kann. Nicht sel­ ten werden andere dann darauf hinweisen können, dass die Änderung oder der Umbau des bisherigen Systems nicht sonderlich gelungen sei. Aber der Konzeption dieses Kohärenzdenkens liegt auch nicht die Idee der perfekten und unangreifbaren Lösung zugrunde. Sehr plastisch wird das in einer Metapher, die Neurath für die »Wissen­ schaft« als ein »System von Aussagen« gebraucht. Es ist die Metapher vom Schiff, »für das es kein Trockendock gibt, und das deshalb auf offener See repariert und umgebaut werden muss«. Diese Metapher, die schon Einstein begeisterte215, trifft sehr anschaulich und gleichsam im Kern die praktische Verfahrensweise von Rechtsprechung. Auch Grundsatzurteile entstehen nicht »im Trockendock«, sondern »auf offener See«. 2. In dem so beschriebenen Mechanismus der Kohärenz ist zugleich eine Grundstruktur des Rechts mitgedacht: Recht ist immer schon da. Es besteht immer schon ein »bisheriges Aussagesys­ 215 Carnap 1993, S. 89. Vgl. dazu auch seine Schilderung einer Begegnung mit Ein­ stein, in der es um Einsteins Einwand gegen den Positivismus zur Frage der Realität der physikalischen Welt ging. Er kritisierte »die auf Ernst Mach zurückgehende Ansicht, dass Sinnesdaten die einzige Realität seien, oder, allgemeiner, jede Ansicht, die eine absolut gewisse Grundlage der Erkenntnis beanspruche. Ich erklärte ihm, dass wir diese früheren positivistischen Auffassungen aufgegeben hätten und nicht mehr an eine ›felsenfeste Grundlage der Erkenntnis‹ glaubten; ich erwähnte Neuraths Gleichnis, wonach es unsere Aufgabe ist, das mitten im Ozean schwimmende Schiff zu reparieren. Dieser Metapher und der dahinter stehenden Auffassung stimmt er begeistert zu«, S. 60.

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IV. Der Kohärenzgedanke – seine zentrale Rolle für die Methode

tem«. Jeder Rechtsgedanke trifft auf bereits bestehendes Recht und muss in einem Rechtsraum diskutiert werden, der durch den histori­ schen Bestand ein stets vorstrukturierter Denkraum ist. Eine »neue Aussage« – ein neuer Rechtsgedanke – kann entweder eingegliedert werden oder er muss verworfen werden – oder er zwingt zum Umbau des Rechts. Aber eben nicht ab ovo. Wir können diesen Denk- und Argumentationsraum in seiner Struktur nur erfassen, wenn wir uns klarmachen, dass wir es nie mit einem neuen oder gar selbst geschaf­ fenen Raum zu tun haben. Auch wenn er Wandlungen unterliegt, kann der Jurist unabhängig von dessen jeweiligen Strukturen nicht arbeiten. Wenn der Jurastudent oder der Berufsanfänger ihn betritt oder der Praktiker in ihm Recht spricht, nimmt er Einfluss auf seine kognitiven Prozesse. Zugleich manifestiert sich hier die historische Struktur des Rechts, Recht als Teil der kulturellen Evolution – Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft.216 So führt der Gedanke dann auch wieder zurück auf die Phänomene sozialer Kognition und Kohärenz, die oben mit der Figur der Interpretationsgemeinschaft näher beschrieben wurden.

IV. Der Kohärenzgedanke – seine zentrale Rolle für die Methode Bevor im nächsten Abschnitt (V.) kurz die theoriegeschichtlichen Zusammenhänge beleuchtet werden, in denen das kohärenztheoreti­ sche Denken zu sehen ist, um sodann die grundsätzlichen Annahmen und Folgerungen zu charakterisieren, durch die der von mir zugrunde gelegte kohärenztheoretische Ansatz bestimmt wird, ist eingangs nochmals zusammenfassend die zentrale Rolle zu verdeutlichen, die ihm in dieser Methodenlehre zukommt. Sie liegt in der dreifachen Funktion der Kohärenz als Kriterium von »Richtigkeit«: 1.

Kohärenz hat eine deskriptive Funktion. Wir können mit ihr die Prozesse beschreiben, in denen die Rechtsprechung eine Kohärenz im Recht herstellt. Wie gezeigt, kann Neuraths Formel unmittelbar als Beschreibung des Rechtsfindungsprozesses gele­ sen werden.

216 Siehe zu diesem Gedanken Strauch 2005, S. 507 mit Hinweis auf Dieter Simon, Es ist, wie es ist, in: Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Ein­ heit – Gegensatz – Komplementarität?, Göttingen 2000, S. 79 ff., 94.

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Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz

2.

3.

Kohärenz hat zugleich auch eine methodische Funktion, näm­ lich zu sagen, nach welchen Regeln Sachverhaltsfeststellungen zu treffen sind und nach welchen Regeln – Regeln zum Umgang mit Normtexten, Präjudizien und Dogmatik, also Regeln der Rechtsermittlung – Recht zu sprechen ist. Aus der Analyse der Prozesse, die bei der »Herstellung von Kohärenz« zu beob­ achten und festzustellen sind, ergeben sich auch die methodi­ schen Regeln. Das Primäre ist aber ihre normative Funktion. Für die Metho­ dik ist die »Herstellung von Kohärenz« nicht als Beschreibung richterlichen Verhaltens wesentlich, sondern als notwendige Bedingung der Regelbindung (Kap. 16). Es ist die Bindung an Gesetz und Recht, die die Verpflichtung des Richters begründet, seine Rechtsfeststellungen so zu treffen, dass sie sich in das bestehende Rechtssystem einfügen oder dieses System jedenfalls so anpasst, dass sich wieder eine neue (allgemeine) Regel ergibt.

Es sind diese drei Funktionen oder Ebenen, die den theoretischen Ansatz ausmachen und die zusammen gesehen werden müssen. D. h., die hier vertretene Kohärenzlehre ist auch deskriptiv; sie ist es inso­ fern, als sie versucht, die Prozesse zu beschreiben, die eine Bindung durch Kohärenz in der Rechtsprechung auch praktisch gewährleisten können. Mit ihrer Verpflichtung des Richters auf eine kohärente Ableitung seiner Rechtsauffassung aus dem Recht ist sie jedoch wesentlich normativ. D. h., die Forderung nach Kohärenz gilt auch dann, wenn und soweit die Wirkungsmechanismen unzutreffend beschrieben sein sollten. Vertreten wird also primär eine norma­ tive Kohärenzlehre.217

V. Kohärenz – zum theoriehistorischen Zusammenhang Wenn in den beiden vorangegangenen Abschnitten der kohärenz­ theoretische Ansatz Neuraths unmittelbar zur Beschreibung richterli­ cher Praxis und der Grundstruktur juristischer Methodik genutzt wurde, ohne zunächst dem theoriehistorischen Zusammenhang nachzugehen, in den die Kohärenzlehre Neuraths eingebettet ist, Vgl. zur »Bindung durch Kohärenz« Strauch 2002, S. 311 ff.; die Einordnung durch Lee 2010, S. 308 ff. in die deskriptiven Kohärenzlehren bedarf insofern also einer Klarstellung.

217

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V. Kohärenz – zum theoriehistorischen Zusammenhang

dann sollte das keinen Verzicht darauf bedeuten, diesen Hintergrund wenigstens zu skizzieren. Das heutige und eigene erkenntnisleitende Interesse an einer kohärenztheoretischen Konzeption macht es jedoch nicht erforderlich, mit dem allgemeinen theoretischen Ansatz auch den besonderen Theoriezusammenhang zu übernehmen, aus dem er entstanden ist. Unser (erkenntnis-) theoretisches Problem ist nicht mehr der richtige Umgang mit Beobachtungssätzen (im damaligen Jargon: Protokollsätzen) und die Verifikation von (natur-) wissen­ schaftlichen Fundamentalsätzen, sondern die Qualifizierung von Behauptungen und Rechtsauffassungen als »richtig« oder »falsch« und damit die Bedingungen einer juristisch »richtigen« Ableitung und Begründung. Gleichwohl gilt es, sich den Grundgedanken zu vergegenwärti­ gen. Zu verstehen ist dieser Grundgedanke, wie an anderer Stelle näher ausgeführt218, am besten vor dem Hintergrund der Auseinan­ dersetzung des Wiener Kreises um die Verifikationstheorie219 und die mit ihr verbundene Korrespondenztheorie der Wahrheit, die der Kreis (hier vor allem Carnap und Schlick) von Wittgenstein übernommen hat.220 Neurath hatte dieser Idee, dass es »eine Art letzter Erkenntnis gäbe« mit dem Ziel eines geschlossenen Erkenntnissystems221, stets widersprochen. Seiner Ansicht nach, schrieb Carnap rückblickend, »war die Gesamtheit des Wissens von der Welt immer ungewiss und bedurfte ständiger Verbesserung und Umwandlung«, und er schließt hier die schon zitierte Metapher vom Schiff an, das »auf offener See repariert und umgebaut werden muss«. Neurath stellte sich mit seiner – ja nur in Ansätzen ausformulierten222 – Theorie aber nicht nur gegen die Annahme der Verifikationstheorie, man könne aus empirischen Feststellungen eine sichere Erkenntnisbasis gewinnen. Er stellte sich auch gegen die Vorstellung, man könne die Wahrheit in umfassenden und geschlossenen Erkenntnissystemen finden. Ein Überblick über die Theoriegeschichte des philosophischen Kohärenzbegriffs beginnt meist mit der idealistischen Kohärenz­ theorie des englischen Neuhegelianers F. H. Bradley.223 »Das Wahre Strauch 2005, S. 497 f. D. h. die Möglichkeit, Aussagen zu verifizieren. Eine erste Übersicht über den Streit gibt Carnap 1993, S. 68 ff., 88 ff. 220 Vgl. hierzu Coomann 1983, S. 70 ff. 221 Carnap 1993, S. 88. 222 Siehe Th. Bartelborth 1996, S. 117 ff. 223 Zum Überblick vgl. H. Coomann 1983; S. Bracker 2000; K. Gloy 2004, S. 175 ff. 218

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ist das Ganze«, hatte Hegel in der Einleitung zu seiner »Phäno­ menologie des Geistes« formuliert, und an dieses Diktum knüpfte Bradley bewusst an.224 Neuraths Position markiert genau die Gegen­ these zu diesem ganzheitlichen Absolutismus. Um jeden Anklang an diesen idealistischen Ansatz zu vermeiden, verzichtete er selbst auch darauf, von »Kohärenz« zu sprechen.225 Und in seiner Schrift über die »Einheit der Wissenschaft als Aufgabe« formuliert er mit aller Schärfe: „›Das‹ System ist die große wissenschaftliche Lüge«.226 Adornos Verdikt: »Das Ganze ist das Unwahre« hatte Neurath also schon 1934 vorweggenommen und damit sowohl für den Kohärenzals auch allgemein für den Systemgedanken die Gegenposition for­ muliert, auf die es in unserem Überlegungszusammenhang entschei­ dend ankommt. Die philosophische Diskussion, die die Kohärenztheorie zunächst im Wiener Kreis und dann darüber hinaus auslöste, war eine Auseinandersetzung um die »wahre« Wahrheitstheorie227. Diese Perspektive ist eine andere als die einer »gerichtlich-prozessualen Wahrheit« mit den ihr eigenen Problemen, die uns interessiert. Insoweit muss auf sie nicht näher eingegangen werden. Einzugehen ist aber auf einige wichtige Namen und Stichworte der rechtstheo­ retischen Diskussion.228 Hier wurde der Begriff der Kohärenz erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts virulent.229 Zu nennen sind hier aus dem angelsächsischen Bereich R. Dworkin, S. Fish, B. Jackson, für die deutsche Diskussion R. Alexy und K. Günther.230 Sowohl Dworkin als auch Alexy und Günther stützen ihre Kohä­ renzlehren jedoch auf Grundlagen, die ich nicht für tragfähig halte. Zu Dworkin: Unterstellt man mit Dworkin eine Idee des »richtigen Rechts« oder ein »Recht an sich«, vermag ein »Richter Herkules«, der alle Umstände kennt und die Bedeutung aller Prinzipien richtig einzu­ Siehe etwa H. Coomann 1983, S. 23 f.; S. Bracker 2000, S. 17 ff. Th. Bartelborth 1996, S. 165. 226 O. Neurath 1981, S. 626. 227 Zu den Wahrheitstheorien vgl. allgemein K. Gloy 2004; L. B. Puntel 1993; weitere Nachweise Kap. 9 I. Aus der gerichtlich-prozessualen Perspektive ausführlich Kap. 10. 228 Dazu allgemein S. Bracker 2000 und K. I. Lee 2010, S. 287 ff. 229 Nachdem er in Deutschland auch in der Philosophie kaum noch eine Rolle gespielt hatte; charakteristisch das WBphB 1955, das für »Kohärenz« nur auf den Begriffsgebrauch in der Psychologie verwies. Zur allgemeinen philosophisch-kohä­ renztheoretischen Diskussion siehe Th. Bartelborth 1996. 230 Ausführlich zu diesen Autoren und auch zum Folgenden K. I. Lee 2010, S. 287 ff. 224

225

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VI. Die Kohärenzlehre – Grundannahmen und Implikationen

schätzen weiß, zwar eine »allein richtige Entscheidung« herzustellen, weil sie diesem objektiven Recht gegenüber kohärent ist. Für die Gewissheit der vorausgesetzten Rechtsidee gibt es jedoch keine Basis. Günther und Alexy greifen demgegenüber auf die Diskurstheorie von Habermas zurück.231 Recht bedarf nun zwar der Akzeptanz, stellt sich jedoch nicht wesentlich als Konsens in einem herrschaftsfreien Diskurs her (u. VII. 1.).

VI. Die Kohärenzlehre – Grundannahmen und Implikationen Anknüpfend an die skizzierte Ausgangsposition Neuraths sind – um für die folgenden Schritte die Grundlage zu schaffen – in diesem Abschnitt die wesentlichen Voraussetzungen, Annahmen und Konse­ quenzen anzugeben, die eingeschlossen und mitgedacht sind, wenn in dieser Methodenlehre von Kohärenz die Rede ist. Wir müssen uns grundsätzlich der Frage stellen, in welchem Verhältnis die Grundbe­ griffe Kohärenz, Wahrheit und System zu einander stehen und wie wir dieses Verhältnis bestimmen. 1. Folgt man Neuraths Kohärenzformel, gibt es zwei Möglichkei­ ten, Kohärenz herzustellen: entweder die neue, zu prüfende Aussage fügt sich in das bestehende System ein oder das System selbst muss angepasst werden. Das bestehende System ist also zunächst der Maß­ stab für die Richtigkeit der Aussage; es steht für »die Wahrheit«. Die zweite Möglichkeit besagt dann aber auch, dass wir diese Wahrheit nie als sichere Basis, als archimedischen Punkt voraussetzen dürfen. Für »die« (eine) Wahrheit gibt es in dieser Theorie keinen festen Ort. Die »alte« Wahrheit muss immer mit Veränderungen durch nicht passende Befunde oder Aussagen rechnen. In der Kohärenzlehre mitgedacht sind also sowohl der methodische Ansatz von trial and error als auch das dialogische Element der (Rechts-) Erkenntnis. 2. Kohärenz kann deshalb nur ein relativer Maßstab für eine »relative Richtigkeit« sein und die Konsequenz ist, dass man mit einer Pluralität von (in sich) kohärenten Systemen rechnen muss. Das führt zu dem Kernproblem der relevanten Kriterien für die »richtige« Auswahl der »richtigen« Hypothese (Aussagesystem, Theorie). Das 231 Zu Günther Lee 2010, S. 300 f.; zu Alexys Bezug zu Habermas, vgl. Alexy 1990, S. 106 f.

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Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz

Problem stellt sich jedoch unterschiedlich – je nach den Ebenen, auf denen es zu Inkohärenzen kommt, und je nach Ausmaß prinzipieller Unverträglichkeit zwischen den Grundpositionen. 2.1. Besteht eine Unverträglichkeit zwischen verschiedenen Satz­ systemen (zwischen S1 etwa und S2), ist diese auflösbar, wenn S1 und S2 auf ein übergeordnetes System bezogen werden können und sich in dieser Beziehung etwa S2 kohärenter erweist als S1. In der juristischen Argumentation führt dieser Weg beispielsweise über ein übergeordnetes Satzsystem (etwa aufgrund der Hierarchie der Rechtsquellen) oder über Abwägungsregeln – die typische Methode, um mit sich widersprechenden Positionen und Theorien umzugehen. Dass eine solche »Harmonisierung« nicht immer gelingen kann, wird allerdings noch zu besprechen sein.232 2.2. Gibt es aber in den Satzsystemen S1 und S2 keine hinrei­ chende Anzahl von Grundannahmen und Sätzen, die untereinander verträglich sind und es erlauben, beide Systeme als Subsysteme eines dritten aufzufassen, bedarf es Kriterien für »richtig« und »falsch«. Am Beispiel der unterschiedlichen Satzsysteme im Märchen- und im Physikbuch hatte bereits M. Schlick, die zentrale Figur des Wiener Kreises, Neurath das Fehlen eines solchen Kriteriums als entscheiden­ des Argument gegen seine Kohärenztheorie entgegengehalten: »Wer es ernst meint mit der Kohärenz als alleinigem Kriterium der Wahrheit, muß beliebig erdichtete Märchen für ebenso wahr halten wie einen historischen Bericht oder die Sätze in einem Lehrbuch der Chemie, wenn nur die Märchen so gut erfunden sind, daß nirgends ein Widerspruch auftritt [...]. Da es keinem Menschen einfällt, die Sätze eines Märchenbuches für wahr, die eines Physikbuches für falsch zu halten, so ist die Kohärenzlehre völlig verfehlt. [...] Sie gibt überhaupt kein eindeutiges Kriterium der Wahrheit, denn ich kann mit ihr zu beliebig vielen in sich widerspruchsfreien Satzsystemen gelangen, die aber unter sich unverträglich sind.«233

M. Schlick selbst sah das entscheidende Kriterium in der »Überein­ stimmung mit der Wirklichkeit«, also in einem Rückgriff auf die Korrespondenztheorie.234 Unberücksichtigt bei seiner Kritik blieb Kap. 25 IV. M. Schlick 1934, S. 86 f. 234 D. h., Aussagen sind dann wahr, wenn sie mit den Tatsachen in der objektiven Welt übereinstimmen (korrespondieren). Näher Kap. 9 I. Zur Diskussion innerhalb des Wiener Kreises siehe C. G. Hempel 1935/1977, S. 96 ff. 232

233

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VI. Die Kohärenzlehre – Grundannahmen und Implikationen

allerdings, dass auch für Neurath »Kohärenz« nicht das allein hinrei­ chende Kriterium war. Die »neue Aussage«, die zur Überprüfung mit den »bereits miteinander in Einklang gebrachte(n) Aussagen« gestellt wurde, wurde nicht mit beliebigen, sondern mit »anerkann­ ten Sätzen« konfrontiert. Die Formulierung Neuraths ist klar: »Einen Satz, den wir ausschalten, weil er mit anderen anerkannten Sätzen in Widerspruch tritt, nennen wir einen falschen Satz«.235 Eingeführt wird damit das Kriterium der Akzeptanz. Zu überlegen ist also, welches der beiden Kriterien – Korrespondenz mit der Wirklichkeit oder Akzeptanz – den Umgang mit dem Dilemma der Unverträglichkeiten zwischen verschiedenen Satzsystemen klarer und besser strukturie­ ren kann. Nehmen wir die Märchenwelt als Anschauungsmaterial: 3. Die Satzsysteme der Märchen- und Physikbücher liegen in unserer Lebenswelt zunächst auf so unterschiedlichen Wirklich­ keits- und Beschreibungsebenen, dass ihre Unverträglichkeit von uns in der Regel gar nicht als Dilemma empfunden wird. Wir haben es mit zwei Welten (der Märchenwelt und der Welt der Physik) zu tun, deren Inkongruenz für uns kein Problem, sondern selbstver­ ständlich ist. Es ist für die meisten kein Problem, weil man den Widerspruch zwischen diesen beiden Welten (salopp: von Fällen, die den Psychiater angehen, abgesehen) mit aller Gelassenheit hinneh­ men kann. Er führt auf der entscheidenden sozialen Ebene zu keinerlei Unverträglichkeiten. Auch auf der theoretischen Ebene gibt es hier im Ergebnis keinen wirklichen Unterschied zwischen den Ansätzen der Korrespondenztheorie und der Akzeptanz. Welche die »wahre« = wirkliche Welt ist, beantwortet sich über Schlicks Ansatz ebenso wenig eindeutig wie über das Kriterium der »anerkannten Sätze«, die für Neurath die wissenschaftlich anerkannten Sätze sind. 4. Bleiben wir jedoch bei der Märchenwelt und versetzen uns in die Zeit der Gottesurteile und Hexenprozesse, in der gute und böse Geister durchaus für wirkmächtig gehalten wurden und Wunder nicht im Widerspruch zum gängigen Weltbild standen. Hier die »Übereinstimmung mit der Wirklichkeit« gegen die Märchen­ welt auszuspielen, verfängt nicht, weil diese Welt selbstverständlicher Teil der damaligen Wirklichkeit war. Der Einwand, der aus diesem Beispiel folgt, wird auch nur scheinbar entkräftet, wenn man ihm entgegenhält, aber heute garantiere die Wissenschaft eine solche 235

Neurath 1981, Bd. 2, S. 593, Hervorhebung durch Verf.

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Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz

»Übereinstimmung mit der Wirklichkeit« als sichere Bewertungs­ grundlage. Wie die Diskussionen zur Methode der Sachverhaltsermittlung im Teil C genauer zeigen werden, haben wir für die Sachverhalts­ feststellung zu konstatieren, dass die »Übereinstimmung mit der Wirklichkeit« hier nur ein begrenzt taugliches Kriterium ist und die Korrespondenztheorie deshalb keine alleinige Grundlage sein kann. Bei Alltagstheorien, Erfahrungssätzen und selbst bei wissen­ schaftlichen Erkenntnissen muss sich der Richter auch immer wieder der Akzeptanz dieser Grundlagen vergewissern. So ist es zwar nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis von Kohärenz eindeutig, dass eine Ableitung oder Feststellung wissenschaftlich gesicherten Tatsachen nicht widersprechen darf, ohne im juristisch-methodischen Sinn inkohärent und somit »falsch« zu werden. Aber es ist ein Unter­ schied, ob man gesicherte Erkenntnisse (Naturgesetze) zugrunde legt und »wissenschaftlich gesicherte Tatsachen« meint oder ob man von einer wissenschaftlich gesicherten »Wirklichkeit« spricht – »Wirklichkeit« ist ein Konstrukt, kein Abbild der Realität, über das man nicht streiten könnte. Doch um den möglichen Geltungsbe­ reich der Korrespondenztheorie endgültig zu verlassen: Von einer wissenschaftlich gesicherten »Wertung« oder Norminterpretation kann man ganz sicherlich nicht im gleichen Sinn reden wie von einer »gesicherten« Tatsache. Die einschlägigen Wertungskriterien sind hier: »Akzeptanz«, »bewährt«, »anerkannt«, »nicht zweifelhaft«, »dogmatisch gesichert« etc. 5. Um das grundsätzliche Problem zu veranschaulichen, sei es statt am Beispiel von Märchen- und Physikbuch am Beispiel: Bibel – Naturwissenschaft / Evolutionstheorie diskutiert. Will man das Verhältnis beider Aussagesysteme erörtern, zeigen sich drei grund­ sätzlich unterschiedliche Positionen: Man versucht (1.) Kohärenz zwischen beiden herzustellen und die Widersprüche, die sich bei wört­ lichem Verständnis ergeben, durch Interpretationen aufzulösen.236 Oder man verzichtet auf den Versuch, beide gedanklich in Überein­ stimmung zu bringen und belässt (2.) beide in ihrer Eigenständigkeit – das eine mit Gültigkeit in der Wissenschaft, das andere in der »Welt des Glaubens«. Wer (3.) einen grundsätzlichen Widerspruch sieht, ihn aber weder lösen noch hinnehmen kann, hat nur die Wahl, eines der beiden Systeme für falsch zu halten. Insbesondere in den 236

Wie es etwa H. Küng 2005, S. 135 ff., versucht hat.

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VI. Die Kohärenzlehre – Grundannahmen und Implikationen

USA zeigt sich die politisch-juristische Brisanz dieses Streites auch praktisch. Immer wieder zitiert wird das 1928 vom Staat Kansas erlassene Anti-Evolutions-Gesetz, das es verbot, den Darwinismus in der Schule zu erwähnen. Es wurde zwar durch eine Entscheidung des Supreme Court von 1968 aufgehoben. Beigelegt war der Streit damit aber nicht. Bis Ende 1980 gab es allein in mehr als zehn Bundesstaaten kreationistische Gesetzesentwürfe, von anderen Maßnahmen abge­ sehen.237 Schlicks Argument: »Da es keinem Menschen einfällt, die Sätze eines Märchenbuches für wahr, die eines Physikbuches für falsch zu halten«, mit dem er die Kohärenzlehre für »völlig verfehlt« erklären will, verkennt also ein grundsätzliches Phänomen: Es gibt Satzsys­ teme, die man zwar mit fester Überzeugung für falsch halten kann, die andere aber ebenso sicher als wahr ansehen. Beide Systeme sind in sich kohärent und werden jeweils für wohlfundiert gehalten, aber es gibt »kein eindeutiges Kriterium der Wahrheit«, das den Widerspruch aufheben und von beiden Parteien akzeptiert werden könnte. Wir haben es mit einer »Unverträglichkeit« unterschiedlicher Weltbilder und Lebensformen zu tun, die einerseits argumentativ nicht auflösbar ist, andererseits aber als typische Konfliktlage pluralistischer Gesell­ schaften jederzeit als Rechtsproblem aktuell werden kann. Man denke an die rechtlichen Auseinandersetzungen um die strafrechtliche Sanktionierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Für die Kohärenzlehre bedeutet dies, dass zunächst die Bezugs­ punkte für die Bestimmung von »Kohärenz« und »Akzeptanz« genauer erörtert werden müssen. Zu fragen ist auch, wie sich der Grad, mit dem bestimmte Argumente und Sätze akzeptiert werden, auf die Einschätzung auswirkt, ein Satzsystem sei stimmig. Wie eine auch nur oberflächliche Beobachtung von Diskussionen lehrt, kann Akzep­ tanz einem Argument auf der Waagschale so viel Gewicht verleihen, dass widersprechende Gründe nicht mehr »ins Gewicht fallen«, für die Frage der Widerspruchsfreiheit also ihre Relevanz verlieren. Es ist aber nicht zuletzt die Relevanz, die Gesichtspunkten zu- oder abgesprochen wird, die die Kohärenz von Satzsystemen bestimmt.

237 Zur Übersicht vgl. H. Huber 2010, Geschichte des Kreationismus in den USA – LMU München – Institut für Philosophie, zit. nach http://web.archive.org/web/20 100420082546/http://www.gavagai.de/HHP29.htm.

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Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz

VII. Kohärenz und Akzeptanz als ihre notwendige Bedingung »Kohärenz« meint entgegen einer nicht nur von Schlick vertretenen Annahme mehr als nur »Konsistenz«. Wie bereits gesagt, ist die Widerspruchsfreiheit neben »Umfassendheit« und »Stimmigkeit« nur ein Element der Kohärenz. Kohärenz ist mit diesen drei Elementen auch nicht »selbsttragend«. In der vorstehenden Diskussion um den Kohärenzbegriff hat sich unabweisbar gezeigt, dass das Einfügen einer Aussage in ein Satzsystem nur dann als »richtig« zu überzeugen vermag, wenn es sich bei diesem um »anerkannte Sätze« handelt. Entsprechend hatte ich in früheren Darlegungen folgende Grund­ these formuliert: Die Richtigkeit einer Entscheidung wird durch Kohärenz der Begründung innerhalb eines als hinreichend akzeptierten Norm- und Prämissenrah­ mens bestimmt.238

Diese These ist im Folgenden in ihren Voraussetzungen und Konse­ quenzen näher zu bestimmen. Zu erörtern sind: (1.) die Fundierung durch Akzeptanz, (2.) der graduelle Charakter von Kohärenzen und (3.) die Relationen zwischen juristisch-dogmatischer Fundierung und gesellschaftlicher Akzeptanz.

1. Akzeptanz Jede Ableitung und jede Begründung braucht einen oder mehrere »anerkannte Sätze«, auf denen sie aufbauen kann. Doch was einen »anerkannten Satz« oder ein System »anerkannter Sätze« ausmacht, wird von Wissenschaft zu Wissenschaft und von einem gesellschaft­ lichen Bereich zum anderen unterschiedlichen Maßstäben folgen. Zum Teil ist eine solche Anerkennung das Ergebnis eines wissen­ schaftlichen Prozesses, zum Teil das Ergebnis einer sozio-kulturellen Entwicklung, zum Teil wirken beide Quellen zusammen.239 Die Begriffe »Akzeptanz«, »bewährt«, »anerkannt« markieren in unserem Strauch 2012, S. 342; Strauch 2005, S. 500 ff. In der Sache entspricht sie der oben formulierten zweiten These; sie ist nur abstrakter gefasst. 239 Ein geradezu klassisches Beispiel ist der langwierige Prozess, in dem sich das Kopernikanische Weltbild durchgesetzt hat. 238

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VII. Kohärenz und Akzeptanz als ihre notwendige Bedingung

Zusammenhang also keine prinzipiellen Unterschiede, sondern nur unterschiedliche Perspektiven. So spricht man im Empirismus von »Bewährung« und meint damit »wissenschaftlich erwiesene« Sätze.240 Gemeint ist aber auch die »bewährte« Tradition, wie in der anschaulichen Diktion des Art. 1 (Schweizer) ZGB für die Normset­ zung durch die Gerichte: »Es folgt dabei bewährter Lehre und Über­ lieferung«. Für den am besten geeigneten Ausdruck, die Phänomene zu erfassen, auf die es bei der Fundierung ankommt, halte ich den Begriff der »Akzeptanz«. Akzeptanz kann auf sehr unterschiedlichen Grundlagen beruhen: Autorität, Vernunft, Evidenz, »Alternativlosig­ keit«, unreflektierte Tradition, Konsens. Für die erste, ganz allgemeine Betrachtung kommt es freilich nicht darauf an, aus welchen Gründen eine Prämisse als »richtig« anerkannt wird; es reicht, dass man sie als gegeben hinnimmt. Akzeptanz muss nicht notwendig im Diskurs oder Konsens gefunden werden. Sie ist das Ergebnis sowohl eines sozio-kulturellen als auch eines institutionellen Prozesses. (Dieser Prozess soll zunächst ausgeklammert und dann im Abschnitt VIII. gesondert behandelt werden.) In einem ersten Fazit ergeben sich daraus zur zweiten Grund­ these (II. 2) folgende ergänzende Leitsätze: a) b)

Eine Ableitung oder Begründung kann nur insoweit Kohärenz und damit »Richtigkeit« beanspruchen, als ihre Prämissen, auf denen sie aufbaut, »anerkannt« werden. Will man als Prämissen nicht nur (natur-) wissenschaftlich aner­ kannte Sätze gelten lassen und das Kriterium der »Kohärenz« nicht nur auf den szientistischen Bereich beschränken, bedeutet die Frage nach »anerkannten« Sätzen die Frage nach der Akzep­ tanz dieser Sätze. Typische Beispiele für juristisch »anerkannte Sätze« sind die Sätze der Dogmatik.241

2. Der graduelle Charakter der Kohärenz Es ist in der juristischen Argumentation üblich, mit standardisierten Angaben zu dem Grad der Akzeptanz zu arbeiten, die einer Aussage Vgl. etwa Carnaps Aufsatz 1936, Wahrheit und Bewährung. Zu dem unmittelbaren theoretischen Zusammenhang, in dem »Dogmatik« und das Münchhausen-Trilemma zueinander stehen, vgl. Kap. 18 II. 3. b. 240 241

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Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz

oder einem Aussagesystem zugesprochen wird; man qualifiziert sie als: unstr., ganz h. M., st.Rspr., h. L., Mindermeinung, str., etc. In den gedanklichen Operationen der Juristen haben diese Qualifizie­ rungen die Funktion anzugeben, mit welchem Geltungsanspruch die verwendeten Prämissen in der Argumentation auftreten. Sind sie »wahr«, »wahrscheinlich wahr«, welche Verbindlichkeit können sie beanspruchen, auf welche Autorität sich berufen? Diese unterschiedlichen Modalitäten geben für den Umgang mit Prämissen zwei Wege vor: (1.) Werden Obersatz und Untersatz als »wahr« oder »richtig« akzeptiert, müssen sie als »anerkannte Sätze« nicht weiter legitimiert werden. Auch die Schlussfolgerungen sind dann als richtig anzuerkennen. Sind die Prämissen dagegen nicht unstrittig (2.), so bedarf es weiterer »anerkannter Sätze«, um die gewählten Prämissen verwenden zu können. Fügt sich die Prämisse in diese Sätze nicht ein, dann muss sie modifiziert oder durch eine »passende« ersetzt werden. Welche Operationen hier im Einzelnen zur »Herstellung von Kohärenz« nötig sind, wird noch zu erörtern sein (insbesondere Kap. 26). Zuvor ist die Grundstruktur der Operation selbst zu bestimmen: Ist sie wesentlich formaler, logischer Struktur oder schließt sie auch die pragmatisch-inhaltliche Dimension mit ein? Üblicherweise wird der Begriff der »Kohärenz« auf den der Begründung bezogen. Oft wird er dann auch noch in spezifischer Weise eingegrenzt, wie etwa in der Kohärenzlehre Alexys. Alexy verwendet den Begriff der Begründung in dem Sinne, »daß eine Aussage p eine Aussage q genau dann begründet, wenn q entweder allein aus p oder aus p zusammen mit weiteren Prämissen logisch folgt«.242 Im Gegensatz zu dieser Position schließt der von mir verwandte Begründungsbegriff die »pragmatische Dimension des Begründens«243 ein und klammert sie nicht aus. Er kann deshalb auch nicht rein deduktiv sein. Ich folge insoweit den Begriffsbestimmungen von Peczenik: »Wenn p q unterstützt, kann man behaupten p und q seien miteinander kohärent.«244 P unterstützt q, bedeutet dabei, »dass p ein guter Grund für q ist«.245 Und diese »guten Gründe« sind nicht nur analytische (formelle) Folgerungsregeln, sondern auch materi­

242 243 244 245

R. Alexy 1990, S. 97. R. Alexy aaO. Peczenik 1983, S. 176. Peczenik 1983, S. 170.

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elle, inhaltliche.246 Wenn der Richter die »guten Gründe«, die eine Prämisse entweder unterstützen oder gegen sie sprechen, bewertet, gewichtet und untereinander abwägt, argumentiert er inhaltlich, nicht nur formal. Vollzogen wird ein »Schluß auf die beste Erklärung«.247 Wie eingangs gesagt: Gebraucht wird der Begriff auch »zur Bezeich­ nung des mehr oder weniger engen Zusammenhangs eines aus Teilen bestehenden Ganzen«.248 Und das folgerichtig auch, weil Kohärenz meist keine Sache der zwingenden Schlussfolgerung, sondern eine Sache des Grades ist.249 Als 3. Leitsatz kann somit festgehalten wer­ den: 3. Kohärenz ist nicht nur dann gegeben, wenn q aus p folgt. Ihr wesentliches Feld sind Operationen, in denen es um die Frage geht, ob p allein oder zusammen mit p1, p2 usw. gute Gründe für q liefert oder nicht die besseren Gründe für non-q bzw. für q2 sprechen. In diesen Operationen ist Kohärenz immer graduell.

3. Juristisch-dogmatische Fundierung und gesellschaftliche Akzeptanz Akzeptanz ist in mehrfacher Hinsicht ein ambivalenter Begriff. Er ist das Ergebnis eines sozio-kulturellen und institutionellen Prozesses, eines Prozesses, in dem die Prozessparteien und Richter, Gesellschaft und Gerichte Mitspieler sind, zugleich aber auch diejenigen, die durch ihre Bereitschaft zu akzeptieren Akzeptanz erst herstellen. Der Richter, der für seine Entscheidung Akzeptanz verlangt, muss den Normen- und Prämissenrahmen, aus dem heraus er entscheidet, selbst anerkennen. Und unabhängig von dem einzelnen Richter: Was in dem sozio-kulturellen Prozess an Akzeptanz gewonnen werden kann, kann in ihm auch wieder verloren werden. – Doch eines kann die Akzeptanz allerdings nicht garantieren: dass die akzeptierten Regeln und Lösungen auch gerecht sind. Der Umstand, dass der Zeitgeist Siehe auch dazu Peczenik 1983, S. 172 ff. Aus einer allgemeinen kohärenztheoretischen Perspektive in diesem Sinn vor allem Th. Bartelborth 1996, S. 9 ff.: »Schlüsse auf die beste Erklärung«, S. 11; »Für wissenschaftliche Theorien und auch für viele Alltagsüberzeugungen ist ihre Erklä­ rungsstärke der zentrale Aspekt ihrer epistemischen Beurteilung«, S. 13. 248 EPhWTh (2. Aufl.), Bd. 4., Art. kohärent, Kohärenz, S. 250. 249 Im Ergebnis auch R. Alexy 1990, S. 97; grundsätzlicher Th. Bartelborth 1996, S. 117 ff., 292 ff. 246 247

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eine Rechtslage akzeptiert, besagt etwas darüber, dass sie als Recht gilt. Gemessen an Menschenrechten und uns selbstverständlichen Rechtswerten, kann es tiefstes Unrecht sein. Man denke etwa an die Sklavenhaltung, die Hexenverfolgung, die faschistische Ideologie und die Errichtung von Konzentrationslagern. Ein noch aktuelles Beispiel bieten die USA. Wer hätte vor der Ära G.W. Bush daran gedacht, dass die Folter wieder zu einem akzeptierten Instrument staatlicher Gewalt werden könnte – jedenfalls eines, dem gegenüber sich das Rechtssystem als macht- und willenlos erweisen würde. Sicher, die Beispiele haben unleugbar unterschiedliches Gewicht, aber in allen spiegeln sich immer auch akzeptierte Rechtslagen. Zu konstatieren ist also: Auf die Grundfragen nach dem »rich­ tigen Recht« – Thema etwa der Natur- und Vernunftrechtslehre und auch der Topik (Kap. 18 I. 3. e) – vermag die Kohärenzlehre keine Antworten zu geben. Sie kann es schon von ihrem Ansatz her nicht, basiert sie doch auf der Einsicht, dass es für das Recht keinen vorgegebenen, stabilen Maßstab, keinen archimedischen Punkt gibt. Überlegungen zu einem »richtigen Recht« können immer nur auf die Gedanken zurückgreifen, die im zeitbedingten Erkenntnis- und Erfahrungsbereich der jeweiligen Kultur und Gesellschaft liegen. Und ob sie im jeweiligen Rechts- und/oder Gesellschaftssystem dann auch eine Chance auf »Rechtswirksamkeit« haben, ist wiederum entschei­ dend eine Frage der Akzeptanz in diesen Systemen. Demgegenüber löst auch der Einwand, ohne eine metaphysische Verankerung des Rechts sei eben kein Maßstab zu gewinnen, das Problem nicht. Die Hexenprozesse haben sich nicht ohne Hilfe der Theologie durchge­ setzt; die nationalsozialistische »Rechtslehre« knüpfte vielfach an den deutschen Idealismus an (z. B. K. Larenz) und es gab sogar einen Versuch zu einem »völkischen Naturrecht«.250 Worauf die Kohärenzlehre jedoch eine Antwort geben kann und muss, ist die Frage, wie sich das Rechtssystem – hier in erster Linie die Rechtsprechung – gegenüber Rechtsvorstellungen und Wertungen verhält und verhalten sollte, die sich in die bisher für richtig gehal­ tenen eigenen Systeme »anerkannter Sätze« nicht mehr kohärent einfügen lassen. Zu diskutieren ist also der Konflikt zwischen dem Recht und entgegenstehenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen.

250

Nachweise bei M. Stolleis 1994, S. 32.

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a) Unterschiedliche Wertvorstellungen – Konstellationen der Unverträglichkeit Sucht man einen theoretischen Zugang zu diesem Problem, d. h. Begriffe und Kategorien, in die man es strukturell einordnen kann, bietet sich die Systemtheorie Luhmanns und dort der Begriff der »strukturellen Koppelung« an. Diskutiert wird unter diesem Begriff das Verhältnis von Autonomie eines Systems zu direkten und indi­ rekten Steuerungsmöglichkeiten durch andere Systeme (Kap. 16 IV. 3.). Es ist Luhmann jedoch nicht gelungen, diesen Begriff wirklich brauchbar zu präzisieren.251 Wir haben es mit sehr unterschiedlichen, hochkomplexen Vorgängen zu tun, die sich offenbar theoretisch nicht hinreichend klar strukturieren lassen. Einfach sind nur die Endpunkte der Problemskala zu bestim­ men: Einerseits wird eine Rechtsprechung, die für ihre Entscheidun­ gen keine Akzeptanz (mehr) findet, auch keine Möglichkeit mehr haben, ihren Entscheidungen die nötige faktische Rechtswirksamkeit zu vermitteln. Sie bedarf eines Mindestmaßes an Institutionenver­ trauen. Als Subsystem der Gesellschaft kann sich die Rechtsprechung nicht prinzipiell von deren Überzeugungen und Wertungen abkop­ peln. Andererseits verliert das Recht jede Eigenständigkeit, wenn es jeweils diese Wertungen übernehmen müsste, ohne sie mit dem Hinweis auf die eigenen Systeme »anerkannter Sätze« abweisen zu können. Die Problemlagen, die zwischen diesen beiden klaren Endpunk­ ten liegen, sind dann allerdings sehr unterschiedlich. Anschaulich werden sie etwa in den Entscheidungen des BVerfG, in denen es Wertungen des Gesetzgebers verwirft, oder in Entscheidungen von EuGH und EGMR, mit denen Urteile des BVerfG oder anderer deutscher Gerichte aufgehoben werden. Versucht man hier Verallge­ meinerungen, kann man zu folgenden Feststellungen kommen: (1.) Jede Rechtsordnung hat ihre jeweils eigenen Systeme »aner­ kannter Sätze«; sie basieren auf historischen Erfahrungen, gewach­ senen Strukturen und akzeptierten Wertungen. Unterschiedliche Rechtsordnungen sind deshalb vielfach nicht kohärent. »Unverträg­ lichkeiten« zwischen deutschem und europäischem Recht sind inso­ fern ebenso selbstverständlich wie Wertungswidersprüche zwi­ schen BVerfG und EGMR. 251

Anschaulich dazu N. Luhmann 2005, S. 106 ff., 269 ff.

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(2.) Die pluralistische Gesellschaft ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Wertvorstellungen und Ansich­ ten über ein »wirklich« gerechtes Recht. Wann immer ein Streit um diese unterschiedlichen Positionen zu einem sozialen Konflikt und zu einem Rechtsstreit führt, muss sich die Rechtsprechung entscheiden, welche Position sich in die eigenen Aussagesysteme einfügt oder welche Position sie als Grund einer Rechtsänderung oder -anpassung akzeptiert. Die Gemengelage und Komplexität, mit der die Rechtspre­ chung dabei konfrontiert sein kann, macht der »Vorspann« deutlich, den das BVerfG in seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschafts­ abbruch gewählt hat: »Die Frage der rechtlichen Behandlung des Schwangerschaftsabbruchs wird in der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten unter mannigfachen Gesichtspunkten diskutiert. In der Tat wirft dieses Phänomen des Soziallebens vielfältige Probleme biologischer, insbesondere human­ genetischer, anthropologischer, ferner medizinischer, psychologischer, sozialer, gesellschaftspolitischer und nicht zuletzt ethischer und moral­ theologischer Art auf, die Grundfragen menschlicher Existenz berüh­ ren. Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die aus diesen verschiedenen Sichtweisen entwickelten, unter sich vielseitig verschränkten Argu­ mente zu würdigen, sie durch spezifisch rechtspolitische Überlegungen sowie durch die praktischen Erfahrungen des Rechtslebens zu ergänzen und auf dieser Grundlage die Entscheidung zu gewinnen, in welcher Weise die Rechtsordnung auf diesen sozialen Vorgang reagieren soll. Die nach außergewöhnlich umfangreichen Vorarbeiten im Fünften Strafrechtsreformgesetz getroffene gesetzliche Regelung kann vom Bundesverfassungsgericht allein unter dem Gesichtspunkt geprüft werden, ob sie mit dem Grundgesetz als dem höchsten in der Bundes­ republik geltenden Recht vereinbar ist. Gewicht und Ernst der verfas­ sungsrechtlichen Fragestellung werden deutlich, wenn bedacht wird, daß es hier um den Schutz menschlichen Lebens geht, eines zentralen Wertes jeder rechtlichen Ordnung. Die Entscheidung über Maßstäbe und Grenzen der gesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit erfordert eine Gesamtschau des verfassungsrechtlichen Normenbestandes und der in ihm beschlossenen Wertordnung.«252

Das Ergebnis, zu dem die Mehrheit des Gerichts 1973 in einer »Gesamtschau des verfassungsrechtlichen Normenbestandes und der in ihm beschlossenen Wertordnung« kam, war bekanntlich kein

252

BVerfGE 39, 1–95 – juris Rn. 133.

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endgültiges. Das Gericht musste 1993 erneut entscheiden,253 und auch diese Entscheidung konnte nicht zu einer allseits akzeptierten und kohärenten Lösung führen (s. u.).254 Es gibt sie nicht. Die Wert­ ordnung des Grundgesetzes kann weder allein aus der Perspektive der Selbstbestimmung bestimmt werden, noch ist diese Ordnung »nicht zuletzt […] moraltheologischer Art«, will man das Grundgesetz »nicht zuletzt« im Sinne der katholischen Theologie verstehen. Die verschiedenen in der Gesellschaft vertretenen Wertperspektiven sind nicht kohärent. Sie können auch durch die Gerichte nur auf den Nen­ ner eines temporär akzeptierten Kompromisses zwischen an sich unverträglichen Positionen gebracht werden. Ist das Parlament nach offener Diskussion und Abstimmung für ein solches Problem zu einer Entscheidung gekommen, stellt sich deshalb auch die Frage, welche Eindeutigkeit und welches Gewicht die »besseren Argumente« gegen­ über der Kompetenz des Parlaments, eine demokratisch legitimierte Lösung zu finden, haben müssen, um – ja auch nur mit Mehrheit – eine andere Lösung zu legitimieren.

b) Recht vs. gesellschaftliche Wertvorstellungen Rechtsprechung kann sich nicht von den gesellschaftlichen Wertvor­ stellungen abkoppeln. Das Verhältnis von Recht und gesellschaftli­ chen Wertvorstellungen kann deshalb nicht konfliktfrei sein, was bedeutet: je stärker und dynamischer sich im gesellschaftlichen und politischen Bereich Werte wandeln und verändern, desto stärker wächst der Anpassungsdruck auf Recht und Rechtsprechung. Juris­ tisch gesehen stellt sich auch hier zunächst (1.) ein Kompetenzpro­ blem; es geht um Zulässigkeit, Umfang und Grenzen der Rechtsfort­ bildung und -änderung durch die Gerichte. Es geht zum anderen (2.) um die inhaltlichen Grenzen, die solchen Anpassungen durch die Verfassung gesetzt sind. (1.) Ob und inwieweit ein Gesetzgeber auf (neue) gesellschaft­ liche Konfliktlagen und rechtliche Regelungen reagiert, die nicht mehr im bisherigen Maße akzeptiert werden, hängt davon ab, ob die jeweilige Parlamentsmehrheit eine Änderung für opportun hält und sich auf eine konkrete Regelung einigen kann. Der Richter 253 254

BVerfGE 88, 203–366. Vgl. hier etwa die Kritik von H. Dreier 1993, S. 62.

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dagegen muss entscheiden. Gerade nach der »Adenauer Ära« war das Problem des »Alterns der Kodifikationen« besonders ins Bewusstsein getreten. In der viel zitierten Soraya-Entscheidung hat das BVerfG 1973 dazu die Feststellung getroffen, dass »mit zunehmendem zeit­ lichen Abstand zwischen Gesetzesbefehl und richterlicher Einzelfall­ entscheidung notwendig die Freiheit des Richters zur schöpferischen Fortbildung des Rechts (wächst)«.255 Nach dieser Entscheidung ist mit der Funktion von Rechtsprechung auch der Grundsatz vorgegeben: »Dem Richter kommt die Aufgabe und die Befugnis zu ›schöpferischer Rechtsfindung‹ und Rechtsfortbildung zu«.256 Der Streit um die gleichwohl zu beachtenden verfassungsrechtlichen Grenzen richterli­ cher Rechtsfortbildung ist damit freilich erst eröffnet.257 (2.) Die inhaltlich-materielle Grenzziehung scheint demge­ genüber, ohne noch prinzipielle Fragen klären zu müssen, leichter möglich. Auch die Rechtsprechung ist an die Grundrechte gebunden und wenn es auch hier keine zeitungebundenen, allgemein akzep­ tierten Lösungen gibt, so kann doch eine rechtliche Grenze immer gezogen werden. – Erinnern wir uns aber der Eingangsfeststellung: Akzeptierte Werte können auch Unwerte sein und akzeptierte recht­ liche Regelungen ganz und gar inakzeptabel. Und die historische Erfahrung hat gelehrt, dass Rechtsordnungen die Werte, auf denen sie aufbauen, nicht selbst garantieren können. Der »verfassungsrecht­ liche Normenbestand und die in ihm beschlossene Wertordnung« scheinen oft eine sichere Grundlage zu sein: vor Zeiten erkämpft und auch in Zukunft unumstößlich. Wenn jedoch gesellschaftliche Grundkonsense zerbrechen, sind auch vorher als sicher geglaubte Werte schnell entwertet oder umgewertet. Die Geschwindigkeit und der Erfolg, mit der nach 1933 die deutsche Rechtsordnung einem solchen Umwertungsprozess unterzogen werden konnte, hat das auf fürchterliche Weise deutlich werden lassen. Nach 1933 erwiesen sich nicht zuletzt die Generalklauseln und »Schleusenbegriffe« wie »Gemeinwohl«, Sittenwidrigkeit« etc. – von speziellen NS-Formeln: »Wille des Führers«, »gesundes Volksemp­ finden«, »Bedürfnisse der Volksgemeinschaft« u. ä.258 ganz abgesehen – als höchst taugliches methodisches Mittel, die Rechtsordnung zum 255 256 257 258

BVerfGE 34, 269–293. BVerfGE 34, 269–293, Orientierungssatz 4. Ausführlich Kap. 20 V. Vgl. die Übersicht bei M. Stolleis 1994, S. 23 f.

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nationalsozialistischen Machtinstrument umzubauen. B. Rüthers hat das in seiner grundlegenden Schrift von 1968 auf den Begriff der »unbegrenzten Auslegung« gebracht und beschrieben.259 Und aus dieser Perspektive wird auch die 1974 von Böckenförde formulierte grundlegende Kritik an der »Werttheorie« des BVerfG verständlich. »Die grundrechtlichen Freiheiten«, so sein Einwand, würden mit der Wertinterpretation der Grundrechte »im Ergebnis dem Zugriff des jeweils vorherrschenden – und im 20. Jh. erfahrungsgemäß schnell wechselnden – gesellschaftlichen Wertebewusstsein ausgesetzt«.260 Dieser Kritik ist zuzugeben, dass die Wertinterpretation der Grundrechte auch zu einer Dynamisierung ihrer Schutzbereiche führt. Doch wie zu Recht gegen Böckenfördes Einwände vorgebracht wurde, gewährleistet auch die Theorie der Grundrechte als Abwehr­ rechte keineswegs sichere, vorausbestimmbare Interpretationspro­ zesse.261 Die Offenheit, Beweglichkeit und Dynamik der »Wertord­ nung« bedeuten andererseits aber auch keine Instrumentalisierbarkeit zu beliebigen Inhalten. Die zentralen ver­ fassungsrechtlichen Organisationsbestimmungen, Verfahrensregeln, Grundprinzipien und Grundrechte bilden ein Normgefüge, das zwar Verschiebungen in ihrem Kräfteparallelogramm zulässt. Es fügt sich aber nicht jeder Wertewandel kohärent ein. Man kann Art. 79 Abs. 3 GG als Verbürgung dieser Kohärenz sehen. Für den methodischen Zugriff eines faschistischen »Wertebewusstseins« wäre das GG nicht offen.262 Insoweit ist auch »der Charakter des rechtlich Vorausliegen­ den (nicht) entfallen«.263 Vor allem darf man aber nicht vergessen: Für die Analyse des nationalsozialistischen »Rechtssystems« spielte die Methodik der »unbegrenzten Auslegung« nicht die wesentliche, sondern wohl nur eine »akzessorische« Rolle. Die Ausrichtung der gesamten Staatsor­ ganisation auf die NS-Ideologie und das »Führerprinzip« machten auch vor der Justiz, der Justizverwaltung und den Grundsätzen der richterlichen Unabhängigkeit nicht halt. Die »Gleichschaltung der

Grundlegend dazu B. Rüthers 1968. E. W. Böckenförde NJW 1974, 1529, 1534, und Ders. 1976b, S. 234. Kritisch dazu etwa H. Dreier 1993, S. 54 ff. 261 Vgl. etwa die Beispiele bei H. Dreier 1993, S. 61 Fn. 260. 262 Siehe die Abgrenzungen in BVerfGE 2, 1–79 – SRP-Urteil vom 23.10.1952 – juris Rn. 37. 263 E. W. Böckenförde NJW 1974, 1529, 1534. 259

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Länder mit dem Reich«264 führte 1934 zur völligen »Überleitung der Rechtspflege auf das Reich«.265 Weitere Schritte waren die Einführung von Sondergerichten266 und die Organisation der Gerichtsverwaltun­ gen nach dem »Führerprinzip«. Das erlaubte, die Richter nach ihrer Gesinnung an die »richtigen« Stellen zu setzen. Schon gleich nach der Machtergreifung gab das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufs­ beamtentums« vom 7. April 1933 in § 3 die Grundlage für die Ent­ lassung von Richtern »nicht arischer Abstammung« und in § 4 die Möglichkeit, Richter aus dem Dienst zu entlassen, »die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten«. Nicht ohne Rückhalt in einer antidemokratisch und antiliberal eingestellten Richterschaft267 hat man sich also Akzeptanz vor allem dadurch ver­ schafft, dass man missliebige Richter entließ, herausdrängte oder umsetzte und sie, vor allem in Führungspositionen, durch beken­ nende Nationalsozialisten ersetzte.268 Es sind also, wie das Beispiel der Machtergreifung auch zeigen sollte, nicht die methodischen Instrumentarien, die bestimmen, mit welchen Rechtswerten juristische Methoden Recht ermitteln. Ent­ scheidend sind vielmehr, wie schon im 1. Teil (A) betont, die organi­ satorischen und institutionellen Rahmenbedingungen, in die eine Rechtsprechung eingebettet ist. Was 1933 geschah, war eine Zerstö­ rung des Rechts über die Zerstörung der Rechtskultur und der sie tra­ genden Interpretationsgemeinschaft(en).269 – Und in dieser Zerstö­ rung liegt auch die Berechtigung, von »tiefstem Unrecht« zu sprechen. Denn wenn der »Ausnahmezustand«270 zum Normalzustand und »Mein Kampf« zum Ziel erklärt werden, um so Staat und Gesellschaft unter der Blankovollmacht »Not kennt kein Gebot« regieren zu kön­ nen, und im inneren Zusammenhang damit das Prinzip menschlicher Gleichheit prinzipiell aufgegeben wird, wird Recht prinzipiell negiert. 264 So paradigmatisch der Titel des ersten »Vorläufigen Gesetzes zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich«, Reichsgesetzblatt 1933 I, S. 153–154. 265 Reichsgesetzblatt 1934 I, S. 1214. 266 Vgl. die VO Reichsgesetzblatt 1933 I, S. 136–138 u. 1935 I, S. 4. 267 Vgl. etwa M. Stolleis 1994, S. 9 f., 23. 268 Zur Veranschaulichung am Beispiel Hamburgs W. Johe 1967, S. 64 ff. 269 Zu den unzähligen abfälligen Äußerungen der NS-Größen über Juristen vgl. B. Rüthers 1968, S. 104 ff. 270 »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«, C. Schmitt, Politi­ sche Theologie 1923, S. 11.

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VIII. Akzeptanz, Konsens, Institutionen – die verfassungsrechtliche Perspektive

VIII. Akzeptanz, Konsens, Institutionen – die verfassungsrechtliche Perspektive Im vorigen Abschnitt habe ich Akzeptanz zunächst ganz allgemein als das Ergebnis eines sozio-kulturellen Prozesses beschrieben und dabei das Augenmerk vornehmlich auf die mentalen Momente gelenkt. Spätestens im Zerrspiegel des NS-Regimes wurde jedoch deutlich, wie stark Akzeptanz- und Methodenfragen auch und wesentlich institutionelle Fragen sind. Es sind Institutionen, die aufgrund ihres »Institutionenvertrauens«, ihrer akzeptierten Legiti­ mität und letztlich auch ihrer Macht, ihre Vorstellungen gegebenen­ falls auch durchsetzen zu können, Akzeptanz erzeugen.271 Akzeptanz ist also nicht nur ein deskriptiv zu fassender Tatbestand, sondern auch – und dies ist für die juristisch-methodische Sicht entscheidend – eine Frage verfassungsrechtlicher Kompetenzen. Es sind die ver­ fassungsrechtlich legitimierten Entscheidungen und Normsetzungen, die zu akzeptieren sind. Für das Verständnis der Grundthese, um deren Begründung und Entfaltung es in diesem Kapitel geht, bedeutet dies, dass die gesetz­ lichen Normen und die Prinzipien der Verfassung den »Norm- und Prämissenrahmen« bilden, den der Richter als Grundlage für die Ableitung und Begründung seiner Rechtsentscheidung zu akzeptie­ ren hat. Gelöst ist das Akzeptanzproblem damit jedoch zunächst nur, soweit es die Ausgangsprämissen der Rechtsermittlung betrifft. Bei jedem Akt der Auslegung kann sich erneut die Frage der Akzeptanz stellen. Einige Standardfragen: Kann ein Gesetz, das vor mehr als hundert Jahren erlassen wurde, auch heute noch uneingeschränkt Akzeptanz verlangen? Hat der Richter die Vorstellungen, die sich je nach politischer Situation zwischen dem Kaiserreich und heute bei der Formulierung einer noch anzuwendenden Norm durchsetzten, auch heute noch zu akzeptieren? Ist die Absicht des Gesetzgebers zu akzeptieren oder nur sein Normtext? Oder kann statt der entste­ hungszeitlichen Vorstellung nur das »entscheidungszeitliche« Ver­ ständnis des Gesetzes Akzeptanz beanspruchen – nicht zuletzt weil nur dieses aktualisierte Verstehen die Akzeptanz der Entscheidung auch vermitteln kann? Nachlesenswert dazu immer noch die Ausführungen G. Jellineks zur »normativen Kraft des Faktischen« in seiner Staatslehre 1928/1959, S. 337 ff.

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Kapitel 8: Kohärenz und Akzeptanz

Angesprochen sind damit die bekannten Streifragen um die »richtige« Auslegungsmethode, also insbesondere um die »subjek­ tive« oder »objektive« Norminterpretation wie auch das verfassungs­ rechtliche Problem der Rechtsfortbildung. Sie werden Thema des Kapitels 20 sein. In unserem Zusammenhang von Akzeptanz, Insti­ tution und Verfassung interessiert die Frage, bei welcher Institution die verfassungsrechtliche Legitimation liegt, wenn verbindliche »Wertfestlegungen« zu treffen sind. Demokratietheoretisch kann es eigentlich nicht zweifelhaft sein, dass die primäre Legitimation, im Streit der Meinungen, Interessen und Weltanschauungen Wertent­ scheidungen zu treffen und normativ festzulegen, beim Parlament liegt. Nicht als Kompetenzfrage, sondern als Frage nach praktischer Konkordanz und richterlicher Zurückhaltung gestellt: Kann demge­ genüber eine vom BVerfG getroffene Abwägungsentscheidung, die zu einem anderen Ergebnis kommt und sie verfassungsrechtlich fest­ schreibt, per se mehr Akzeptanz verlangen als ein vom Parlament gefundener Konsens? Konkretisieren und verdeutlichen – wenn auch nicht lösen – lässt sich das Problem an der oben schon zitierten 2. Entscheidung des BVerfG zu Strafbarkeit des Schwangerschaftsab­ bruchs.272 Hier hatte das Parlament nach offener Diskussion und freier Abstimmung über die Fraktionen hinweg einen Konsens gefunden. Das BVerfG hielt diesen Kompromiss für verfassungswidrig und hat ihn durch seine eigene Wertentscheidung ersetzt. Auch sie wurde – mit Mehrheit – im Konsens gefunden, der je nach Zusammensetzung des Senats auch anders hätte ausfallen können.273 Aus klar abgelei­ teten Wertungsvorgaben ergab sich die Entscheidung jedenfalls nicht.274 Methodisch ist sie ein Schulbeispiel für eine inkohärente Ablei­ tung. Das betrifft zunächst die Abwägungsebene. Wenn für die Men­ schenwürde gilt, dass sie »jeder Abwägung von vornherein unzu­ gänglich ist«,275 fügt es sich in diesen Grundsatz nicht ein, die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG mit dem Persönlichkeitsrecht der Schwangeren abzuwägen. Auch die Lösung ist nicht stimmig. Als Grundsatz formuliert, würde diese lauten: Eine rechtswidrige und BVerfGE 88, 203–366. Sowohl im Sinne einer strengen Indikationslösung als auch einer Zurückweisung der Anträge. 274 Zu der fast unübersehbaren literarischen Auseinandersetzung mit dem Urteil siehe die Nachweise bei H. Dreier, in Ders. 2013, Bd. I, Art. 1 I Rn. 70 ff., 87, dessen aaO. formulierten Kritik ich mich der Sache nach im folgenden Text anschließe. 275 BVerfGE 129, 208–268 – juris Rn. 257 m. V. auf BVerfGE 109, 279 (318 f., 322). 272

273

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VIII. Akzeptanz, Konsens, Institutionen – die verfassungsrechtliche Perspektive

schuldhafte Tötungshandlung ist dann straflos, wenn sich der Täter vor der Tat einem formalisierten Beratungsverfahren unterzieht. Es ist augenscheinlich, dass es weder verfassungsrechtliche noch straf­ rechtliche Satzsysteme gibt, in die sich ein solcher Grundsatz kohärent einfügen würde. Die Frage nach der zu akzeptierenden Legitimation stellt sich zum anderen bei dem Problem, ob und inwieweit Richterrecht zu akzeptieren ist. Folgt man der Grundkonzeption, nach der Methode als Herstellung von Kohärenz zu verstehen ist, lässt sich als Aus­ gangsthese formulieren: Ein Richter, der eine Gesetzesnorm jeweils nur mit dem Zusatz akzeptiert: »aber allein in der Auslegung, die ich für richtig halte«, negiert die grundlegenden Vorgaben, die er – als Determinanten der Rechtserkenntnis – bei der Einordnung des Falles in das Recht zu beachten hat. Normen bedürfen der Auslegungs- und Anwendungsregeln. An diese hat sich der Richter zu halten. Eine Norm zu akzeptieren, heißt, sie zunächst grundsätzlich auch mit dem Verständnis zu akzeptieren, mit dem sie bisher ausgelegt wurde. Wie im Teil D zu erörtern sein wird: Der »Hypertext Recht« (Kap. 17 IV.) und dogmatische Satzsysteme (Kap. 18 III.) geben hier die Struktu­ ren und die Wortverwendungsregeln (im Ergebnis: die Inhalte) des Denkraumes vor, in dem sich der Richter auf dem Weg zu einer kohärenten Rechtsermittlung bewegen muss. Die Überlegungen zu Recht und Sprache (Kap. 17) werden im Übrigen zeigen, dass der Inhalt einer Gesetzesnorm von ihrer Auslegung nicht zu trennen ist. Was wir üblicherweise die Rechtsordnung nennen, ist also nicht nur die Summe der gesetzlichen Normtexte, sondern das Gefüge, das aus diesen Texten und ihren Auslegungen erwächst;276 der »Hypertext Recht« und die dogmatischen Satzsysteme und Rechtsfiguren sind untrennbare Elemente dieses Gefüges, ja durch sie wird es vielfach erst strukturiert. In diesem Zusammenhang werden wir dann auch der Struktur der »Rechtsordnung« nachzugehen haben – ist »das« Recht selbst so strukturiert, dass es als kohärentes System gedacht werden kann? (Kap. 19)

276

In diesem Sinne vgl. bereits K. Engisch 1935/1987, S. 8 ff.

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Teil C Das Erkenntnisverfahren – der Sachverhalt

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Kapitel 9: Der »Fall« als Gegenstand des »Erkenntnisprozesses«

Das gerichtliche Verfahren ist als »Erkenntnisprozess«278 ein Verfah­ ren, in dem sich der Richter immer auf zwei unterschiedlichen Ebenen bewegen muss – der des Seins (Sachverhalt) und der des Sollens (Rechtsfindung). Weil sich bei der Sachverhalts- und Rechtsermitt­ lung deshalb die entscheidenden erkenntnistheoretischen Fragen unterschiedlich stellen, sind in der Darstellung die Probleme der »Sachverhaltserkenntnis« – Teil C – und die der »Rechtserkenntnis« – Teil D – zunächst jeweils getrennt zu behandeln. Zugleich müssen beide Ebenen aber auch immer zusammen gesehen werden. Sonst führt das schnell zu einer richtigen Rechtsfeststellung zum falschen Fall oder zu einem richtigen Fall mit falscher Rechtsfeststellung. Es ist also eine stetige Verzahnung zwischen beiden Ebenen notwendig und dazu bedarf es Prozesse der Vermittlung. Dies sind vor allem die Prozesse der Mustererkennung, die im Teil E eigens und eingehend zu thematisieren sind. Ziel ist es, auf diese Weise die unterschiedli­ chen Aspekte und Fragestellungen in der einheitlichen Perspektive des Erkenntnisverfahrens zusammenzuführen. Als Problem des »Fallver­ stehens« ist die notwendige Verzahnung hier aber schon einleitend anzusprechen (II.).

I. »Wahrheitstheorien« und »Wahrheitsfindung« Ist von »Wahrheitsfindung« die Rede, assoziiert der Prozessualist wie selbstverständlich die prozessualen Wahrheitsbegriffe, abhängig vor allem von den Verfahrensgrundsätzen und der Ausgestaltung der konkreten Prozessordnungen. Für den Erkenntnistheoretiker ver­

278

Vgl. Einl. III.

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Kapitel 9: Der »Fall« als Gegenstand des »Erkenntnisprozesses«

weist der Begriff dagegen auf das weite Feld der – philosophischen – Wahrheitstheorien.279 Sehr vereinfacht lassen sich auf der philosophischen Ebene drei Ansätze unterscheiden, Ansätze, die in sich wieder auf unterschiedli­ chen Gründen beruhen und in unterschiedlichen Varianten vertreten werden. So werden sie etwa von Kant auch im Sinne von drei unver­ zichtbaren Momenten eines komplexen Wahrheitsbegriffes verstan­ den280, während die heutige Diskussion in ihnen demgegenüber eher drei konkurrierende Wahrheitstheorien sieht. Zunächst aber sind die drei wesentlichen Kriterien einfach und einleuchtend: Wahr ist, was mit der Wirklichkeit übereinstimmt (Korrespondenzoder Abbildtheorie). Eine ihrer klassischen Formulierungen stammt von Thomas von Aquin (De veritate 1,2): »veritas est adaequa­ tio intellectus et rei« (Angleichung/Übereinstimmung von Verstand und Sache/Gegenstand); was von allen vernünftigen Gesprächspartnern anerkannt wird, worüber alle übereinstimmen (Konsenstheorie). Von besonderem Gewicht – insbesondere in der deutschen Diskussion – ist hier die Variante der Diskurstheorie von Habermas; was sich widerspruchslos mit den übrigen Aussagen eines Sys­ tems zusammenfügen bzw. in diese Aussagen einordnen lässt (Kohä­ renztheorie). Auf diese »Wahrheitstheorien«, die an dieser Stelle zunächst nur kurz zu benennen waren, werden wir zurückkommen. Denn an dem Problem, wie wir zu Erkenntnissen und Aussagen kommen, die wir als »wahr« bezeichnen können, kann eine Methodenlehre nicht vorbeigehen. Zuvor müssen wir uns aber über den Fokus klarwerden, der es uns erlaubt, die Tauglichkeit dieser Theorien für die spezifische »Wahrheitsfindung«, die das Gericht zu leisten hat, zu überprüfen. Dieser Fokus liegt im »Fall«; d. h. in der prozessualen Situation, in der sich die Wahrheitstheorien auch als »tools for handling« bewähren müssen.

279 Einen Überblick über die »Wahrheitstheorien« geben: L. Kreiser u. P. StekelerWeithofer in: Enzyklopädie (2 Aufl.) Stichwort: Wahrheit/Wahrheitstheorien, S. 2927 ff.; L. B. Puntel 1993; K. Gloy 2004; eine gute Textauswahl gibt G. Skirbekk 1977. 280 Vgl. O. Höffe 2003, S. 158 ff.

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II. Die Perspektive des Falls

II. Die Perspektive des Falls Am Anfang eines Lehrbuches steht das System, jedenfalls der Gedanke, das zu erschließende Rechtsgebiet möglichst als Einheit in einem systematischen Zusammenhang zu erfassen; am Anfang der gerichtlichen Praxis steht der Fall – genauer das durch Klage, Antrag oder Anklage in Gang gesetzte Verfahren. Dieses ist das für die Methode der richterlichen Praxis entscheidende Konstitutiv. Im Zentrum einer so vom Verfahren her verstandenen juristi­ schen Methodik stehen drei Grundfragen: Wie »erkennt« das Gericht den Sachverhalt, wie »erkennt« es das Recht und wie sind die beiden Erkenntnisprozesse verzahnt? Diese sind keine parallelen, streng zu trennenden Erkenntnisvorgänge, sondern es handelt es sich um verzahnte Prozesse. Wir haben es mit drei Operationsebenen zu tun: – – –

der Ebene der »Sachverhaltserkenntnis«, der Ebene der »Rechtserkenntnis«, der Verzahnung und Verknüpfung beider Erkenntnisvorgänge,

die insgesamt nur als ein dynamisches Gefüge zu begreifen sind. Gleichwohl müssen wir den Versuch machen, sie analytisch zu tren­ nen, und das in zweifacher Hinsicht: Zum einen ist dieser Erkennt­ nisprozess in seinen unterschiedlichen Phasen der rechtlichen und tatsächlichen Beurteilung sowie der Verknüpfung von Rechts- und Tatsachenfragen zu beschreiben und zu analysieren. Ich gehe dabei von einem (sehr vereinfachenden) Phasenmodell aus. Entscheidend für dieses Phasenmodell ist das Fallverstehen durch Mustererken­ nung.281 In allen diesen Phasen sprechen wir von »Erkenntnis«, d. h., es sind die mit den verwendeten Erkenntnisbegriffen verbundenen Wahrheitsvorstellungen zu analysieren und gegebenenfalls zu trennen. Es ist zu fragen, inwieweit die mit einem erkenntnistheore­ tischen Begriff gemeinte »Erkenntnis« mit der »Rechtserkenntnis« oder der »Sachverhaltserkenntnis« des Richters identisch ist, sich deckt oder sich vielleicht grundsätzlich von jener unterscheidet. Anders gewendet: Wenn es darum geht, ob die im Gerichtsverfahren aufgestellten Behauptungen wahr sind oder der Tatvorwurf zutrifft, das Gericht also vor der Aufgabe der »Wahrheitsfindung« steht, 281

Darauf ist im Teil E ausführlich und im Zusammenhang einzugehen (Kap. 22 I. 2.).

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Kapitel 9: Der »Fall« als Gegenstand des »Erkenntnisprozesses«

ist die »Wahrheitsfindung« des Richters dann identisch mit einer Wahrheitsfindung im Sinne der beschriebenen Wahrheitstheorien? Im Alltagsverständnis und im Prozessalltag scheint die Antwort sowohl einfach als auch selbstverständlich zu sein: Man vergleicht die Tatsachenbehauptungen mit der Realität und wenn diese über­ einstimmen oder, mit anderen Worten, korrespondieren, ist damit unserem intuitiven Verständnis von Wahrheit entsprochen. In der philosophischen Diskussion bezeichnet man diese Vorstellungen von Wahrheit, wie gesagt, als Korrespondenz- oder Abbildtheorien. Aus dieser theoretischen Sicht formulierte etwa der Prozessrechtler Blo­ meyer ganz selbstverständlich als These: »Das Urteil kann nur dann gerecht ausfallen, wenn der vom Gericht festgestellte Sachverhalt der Wirklichkeit entspricht«.282 Die »Wahrheitsfindung« vollzieht sich nach dieser Vorstellung schlicht durch einen (ordentlich durchge­ führten) Vergleich zwischen einer Behauptung und der Realität. Mit diesem Alltagsverständnis wird die Korrespondenztheorie, soweit das juristische Schrifttum zu dieser Frage überhaupt eine Position bezieht, auch heute noch weitgehend vorausgesetzt.283 Die zitierte Formel: »Das Urteil kann nur dann gerecht ausfallen, wenn der vom Gericht festgestellte Sachverhalt der Wirklichkeit entspricht«, betrifft zunächst nur die »Tatseite«. Folgt man einer Korrespondenz- oder Abbildtheorie, kann für das »Recht« jedoch kaum etwas anderes gelten. Korrespondierend für die »Rechtsfin­ dung« müsste die Formel dann lauten: »Das Urteil kann nur dann gerecht ausfallen, wenn die vom Gericht festgestellte Rechtslage dem wirklichen Recht entspricht.« Für beide Varianten lässt sich die Kernfrage auf einen Nenner bringen: Können wir einen Gegenstand (eine »Tatsache« oder einen »Rechtssatz«) so erkennen, wie er an sich ist, oder verhält es sich mit dem richterlichen »Erkennen« so einfach leider doch nicht? Trotz dieser Parallelität ist es, wie schon dargelegt, sinnvoll, die Fragen: wie »erkennt« das Gericht den Sachverhalt und wie »erkennt« es das Recht, getrennt zu behandeln. Es wird dadurch zwar zu Über­ schneidungen in den Gedankengängen kommen und diese werden uns am Ende auch zu parallelen Ergebnissen führen. Nur so ist es aber möglich, die erkenntnistheoretischen Fragestellungen auf die Blomeyer 1985, S. 111. Zur Übersicht vgl. F. Stamp 1998, S. 37 ff. für den Strafprozess und M. Brinkmann 2005, S. 6 für den Zivilprozess. 282

283

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II. Die Perspektive des Falls

gerichtliche Praxis hin zu fokussieren und die Probleme nicht nur auf einer abstrakten theoretischen Ebene, sondern aus der prozessualen Perspektive heraus zu analysieren. Insbesondere für die »Sachver­ haltserkenntnis« ist diese Konkretisierung unabdingbar.

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Kapitel 10: Philosophische Wahrheitstheorien und prozessuale Wahrheit

Wer an der Sichtweise, den Inhalten und dem Ergebnis einer Theo­ rie keinen Zweifel hat, hält schnell diese Theorie auch für »die« Wahrheit. Wem es um kritische Auseinandersetzung mit Theorien geht, tut allerdings gut daran, Theorien erst einmal nur als »tools for handling«284 zu verstehen, als Modelle, Formen oder Beobach­ tungswerkzeuge zur Erfassung dessen, was wir Realität, Wirklichkeit oder Lebenssachverhalt nennen. So wird auch deutlich, dass deren Tauglichkeit nicht abstrakt zu bestimmen ist, sondern von der Tiefen­ schärfe abhängt, mit der wir ein Problem konkret beobachten müssen, das wir begreifen und lösen wollen. »Erkennen« heißt zunächst, mit unseren Sinnen Reize aufneh­ men und sie zu Informationen verarbeiten. Das sind kognitive Vor­ gänge, die Gegenstand der Kognitionspsychologie, der Neurowissen­ schaften und auch der Sozialpsychologie sind. Wir haben uns damit bereits in den Kapiteln 5, 6 und 8 beschäftigt und werden beson­ dere Aspekte dazu im weiteren Verlauf unserer Überlegungen zur Sachverhaltsfeststellung, Rechtserkenntnis und Mustererkennung vertiefen. Mit der Frage, wie das Gericht den Sachverhalt »erkennt«, ist aber nicht nur nach den kognitiven Mechanismen der richterli­ chen Wahrnehmung gefragt. Das Ziel der »Wahrnehmung« ist mit dem Wort selbst schon vorgegeben: Es gilt, »etwas für wahr neh­ men« zu können. Analysieren wir unsere Wahrnehmungsprozesse, müssen wir uns allerdings klarmachen, dass wir selbst einfachste Selbstverständlichkeiten nicht »erkennen«, wenn unser Gehirn in einem internen Abgleich der Wahrnehmungen nach richtig/falsch nicht ständig automatisch mitlaufend Korrekturen vornehmen würde. Soweit solche Mechanismen, die unser Gehirn unbewusst mitlaufend zur »Realitätssicherung« einsetzt, in Rede stehen, müssen und kön­

284

Vgl. dazu im allgemeineren Zusammenhang Strauch 2000, S. 1027.

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Kapitel 10: Philosophische Wahrheitstheorien und prozessuale Wahrheit

nen uns diese hier nicht eingehender beschäftigen.285 Zu thematisie­ ren sind aber die bewussten Wertungen, die der Richter vornimmt, wenn er Informationen zum Sachverhalt als richtig – falsch, wahr – unwahr, Tatsache – Irrtum, zutreffend – unzutreffend, bewiesen – nicht erwiesen bewertet. Auf dieser Stufe des Erkennens befinden wir uns dann auch auf der Ebene, auf der die »Wahrheitstheorien« die entscheidenden Kriterien zu liefern hätten, und damit wieder bei der Grundfrage: Sind deren Ansätze in der spezifischen Situation des gerichtlichen Prozesses in gleicher Weise anwendbar wie in der phi­ losophisch-erkenntnistheoretischen Diskussion um die Wahrheit? Konkreter: Ist die Feststellung, das »Urteil kann nur dann gerecht ausfallen, wenn der vom Gericht festgestellte Sachverhalt der Wirk­ lichkeit entspricht«, wirklich eine theoretisch sinnvolle Aussage? Oder versperrt eine »Abbildtheorie« so nur den Zugang zu den Pro­ blemen, die sich für einen pragmatisch-prozessualen Wahrheitsbe­ griff in der Praxis stellen?

I. Wahrheitsfindung – Verfahrensrecht – Kohärenz Werfen wir einen kurzen Blick auf die Praxis: Wenn der Richter der Wahrheit einer bestrittenen Behauptung nachgeht, wird er dies tun, indem er überprüft, ob sie den Tatsachen »entspricht«. Aber liefern Zeugenaussagen, Augenscheinseinnahmen, also die Gegenstände der Beweisaufnahme, deshalb Abbilder der Wirklichkeit? Kommt es darauf an, ob der Zeuge 10 oder 50 Meter vom Unfallgeschehen entfernt war oder ob Bäume die Sicht behinderten und der Zeuge eigentlich nichts hätte sehen können (wir werden auf eine solche Situation zurückkommen), wird das Gericht die genaue Entfernung oder den Umstand einer durch Bäume unbehinderten Sicht ins Pro­ tokoll aufnehmen. In diesem Sinne verstanden, waren »Protokoll­ sätze« auch ein Schlüsselwort des logischen Empirismus (ca. 1920 285 Zu den unbewusst mitlaufenden »Wirklichkeitskriterien« vgl. G. Roth 1996, S. 321 ff. Für den Bereich unbewusster Bewegungskontrollen gilt hier das Reafferenz­ prinzip, ein Regelprinzip, welches es dem Zentralen Nervensystem ermöglicht, erwar­ tete Reize auszublenden. Aufgrund des Reafferenzprinzips lässt sich erklären, warum zum Beispiel bei einer Augenbewegung die Umwelt unbeweglich wahrgenommen wird, obwohl die Vorgänge auf der Netzhaut sich nicht von einer Bewegung der Umwelt unterscheiden.

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I. Wahrheitsfindung – Verfahrensrecht – Kohärenz

bis 1950). Sie sollten die sichere Grundlage für eine empirisch sichere Wirklichkeitserkenntnis schaffen. In der philosophischen Diskussion hat sich dieser Ansatz freilich recht schnell als zu kurzatmig und nicht »verifizierbar«, letztlich als »unrealistisch« erwiesen.286 Jede sinnliche Beobachtung ist subjektiv; Gewissheit kann sie nur für den eigenen Eindruck, die eigene Feststellung bieten. Und jede Verknüp­ fung von Beobachtungen zu Geschehensabläufen ist, wie bereits jede Verallgemeinerung, keine beobachtbare Tatsache mehr.287 Das, was sich im Gerichtssaal als Tatsache darstellt, ist deshalb nicht »die« Wirklichkeit, kein Abbild, das man in »Protokollsätzen« sicher und zweifelsfrei fixieren könnte. Bender/Nack/Treuer haben zum Indizienbeweis als Regelbeweis diese Sicht so formuliert: »In der Alltagssprache bezeichnet man als »Indizienprozess« Beweis­ führungen mit Sachbeweisen und Zeugen, die die Tat nicht unmit­ telbar wahrgenommen haben. Derartige Prozesse werden als beson­ ders schwierig und problematisch angesehen. Damit werden sie von Beweisführungen mittels Augenzeugen abgegrenzt, obwohl auch mit diesen nur ein mittelbarer Beweis geführt werden kann. – Richtig ist indessen, dass nahezu jeder Beweis vor Gericht nur ein mittelbarer Beweis ist.«288

Bei jedem Zeugen etwa müssen wir uns fragen: Hat er die Sache wirk­ lich so gesehen? Hat er sie überhaupt gesehen? Ist er glaubwürdig? Das »Wahrnehmen« ist hier ein ständiges Urteilen. Es sind keine unmittelbaren Beobachtungen, die in »Protokollsätzen« festgehalten werden. Festgehalten werden Schlussfolgerungen. Es kam daher nicht von ungefähr, dass aus der Diskussion um die »Protokollsätze« im Wiener Kreis die Diskussion um die sog. Kohärenztheorie der Wahrheit hervorgegangen ist. Aus dem Blick­ winkel des Gerichtssaales: Jede Beweiswürdigung ist der Versuch, die vorhandenen Informationen in einen – stimmigen – Zusammenhang zu bringen. Wir werden auf diesen theoretischen Ansatz ausführlich zurückkommen (Kap. 11). Aber es gibt gegen die Tauglichkeit der Korrespondenz- oder Abbildtheorie auch einen grundsätzlichen Ein­ wand. Und dieser folgt unhintergehbar aus dem gerichtlichen Prozess als einem rechtlich geregelten Verfahren selbst; adäquat wird die Prozesssituation auch durch die Konsenstheorie nicht erfasst (III.). 286 287 288

Ergänzend zu den Nachweisen in Kap. 8 V.: H. Poser 2001, S. 73 ff., 104 ff. Zum Begriff »Tatsache« in diesem Zusammenhang: G. Patzig 1996, S. 9 ff. Bender/Nack/Treuer 2007, S. 145, auch im Original fett hervorgehoben.

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Kapitel 10: Philosophische Wahrheitstheorien und prozessuale Wahrheit

Soweit Methodenfragen erkenntnistheoretische Fragen sind, sind sie deshalb zunächst immer auch Verfahrensfragen (II.). Diese können nicht unabhängig von der prozessualen Situation beantwortet wer­ den.

II. Die »Wahrheit« – ein prozessrechtlicher Begriff Wissenschaftliches Erkenntnisverfahren bedeutet nach unserem Wissenschaftsverständnis, Art und Weise des Vorgehens und die zu verwendenden Mittel frei wählen zu können. Im gerichtlichen Erkenntnisverfahren gilt dieser Grundsatz aber gerade nicht. Begren­ zungen ergeben sich hier nicht nur aus methodischen Standards. Die freie Wahl des Verfahrens und der Erkenntnismittel – und damit auch die Methode der »Wahrheitsfindung« – ist vielmehr durch das jewei­ lige Prozessrecht prinzipiell beschränkt. Das »erkennende Gericht« kann das Verfahren und die Erkenntnismittel nur im Rahmen der Vorgaben der Verfahrensordnung bestimmen. Ist der Strengbeweis289 vorgegeben, darf das Gericht keineswegs alle Erkenntnisquellen, die ihm zur Verfügung stehen, zur Klärung der beweisbedürftigen Tatsa­ chen heranziehen. Werden diese Vorgaben nicht beachtet, berührt das grundsätzlich auch die »Richtigkeit« des Ergebnisses. Das gerichtliche Verfahren ist ein weitgehend formalisiertes Verfahren; die Richtig­ keit des Ergebnisses ist deshalb immer auch eine Frage der Einhaltung der wesentlichen Verfahrensregeln – und erst sekundär eine Frage materieller Richtigkeit. Verfahrensmangel und die absoluten Revisi­ onsgründe sind dazu die bekannten Stichworte.290

1. Verhandlungsmaxime – Amtsermittlung Nur folgerichtig ist auch der Wahrheitsbegriff zunächst allein pro­ zessrechtlich zu fassen. Es sind die Prozessordnungen, die – mit ihren jeweils unterschiedlichen Ausprägungen der Verhandlungsmaxime oder der Amtsermittlung291 – in den unterschiedlichen Graden zwi­ Vgl. etwa §§ 244 – 256 StPO. Vgl. § 547 ZPO, § 338 StPO, § 138 VwGO, § 119 FGO. 291 Diese ist z. B. im Verwaltungsprozess weniger stark ausgeprägt als im Strafpro­ zess. 289

290

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II. Die »Wahrheit« – ein prozessrechtlicher Begriff

schen (nur) »formeller« und nachgewiesener »materieller Wahrheit« den Wahrheitsbegriff bestimmen. Der im Zivilprozess weitgehend geltende Verhandlungs- oder – anschaulicher – Beibringungs­ grundsatz bedeutet die grundsätzliche Herrschaft der Prozesspar­ teien über den Prozessstoff, über den Umfang der Beweisaufnahme und über die Wahrheit der Tatsachen. Einzelheiten interessieren dabei nicht, wichtig ist das Fazit: Das Postulat, dass der vom Gericht fest­ gestellte Sachverhalt der Wirklichkeit entsprechen muss, kann kein entscheidender Maßstab für die Beurteilung der Richtigkeit einer Entscheidung sein. An dieser Grundfeststellung ändert sich auch nichts, wenn die Prozessstrukturen durch den Untersuchungs­ grundsatz geprägt sind, wie dies, mit unterschiedlichen Ausgestal­ tungen, etwa für Ehesachen, § 606 ZPO, für die öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten und den Strafprozess gilt. Die öffentlich-rechtli­ chen Gerichtsbarkeiten statuieren ausdrücklich, dass die Beteiligten bei der Erforschung des Sachverhaltes von Amts wegen heranzuziehen sind, § 86 Abs. 1 VwGO, § 103 SGG, § 76 FGO. Diese Mitwirkungs­ pflicht führt zugleich auch zu Einschränkungen der Ermittlungs­ pflicht292. Und naturgemäß haben die zur Mitwirkung Verpflichteten nicht die »Wahrheit« im Auge, sondern die Version der Geschichte und der Dinge, mit der sie ihren Interessen am besten gedient sehen. Vor allem kann das Gericht den Sachverhalt grundsätzlich nur inner­ halb des Prozessstoffes ermitteln, den die Parteien – auch wenn nur in Anhaltspunkten – vortragen oder den das Gericht aus eigener Sachkenntnis ergänzend in das Verfahren einführen kann. Die Gren­ zen werden hier, etwa unter dem Gesichtspunkt der »ungefragten Nachprüfung«, durchaus kontrovers diskutiert293. Unstreitig ist aber: Auch der Untersuchungsgrundsatz machte eine Klage nicht zu einem Forschungsauftrag. Im Strafprozess entfällt zwar naheliegenderweise die Mitwirkungspflicht, der Richter bewegt sich aber auch hier nicht auf einem freien Feld der Forschung nach Wahrheit, sondern im (begrenzten) Rahmen einer »Wirklichkeit«, die er (nur) mit den Mit­ teln und den Maßstäben des Prozessrechts ermitteln kann.

Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. § 86 Rn. 5 d; 11 ff. Zum Grundsatz der sog. »ungefragten Fehlersuche« vgl. BVerwGE 116, 188–197, sowie H. Sendler, DVBl 2002, 1412–1414; S. Gatz, jurisPR-BVerwG 1/2007 Anm. 6. Eine notwendige Ergänzung gibt BVerwG, Beschluss vom 03. Juli 2013 – 9 B 5/13 –, juris Rn. 6. Siehe auch BSGE 116, 42–54. 292

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Kapitel 10: Philosophische Wahrheitstheorien und prozessuale Wahrheit

2. Präklusion – oder »die Gerechtigkeit wartet nicht« Dass es für die Beurteilung der Richtigkeit einer Entscheidung eines eigenständigen Maßstabes bedarf, machen auch die Präklusionsvor­ schriften deutlich. Sie finden sich nicht nur im Zivilprozess,294 sondern auch in den öffentlich-rechtlichen Prozessordnungen, die auf die Amtsermittlung ausgerichtet sind.295 Nur dem geltenden Strafverfahrensrecht sind sie fremd und wären verfassungsrechtlich auch kaum zu rechtfertigen.296 Die geltenden Vorschriften, die die Möglichkeiten und Voraus­ setzungen regeln, ein Vorbringen als verspätet zurückzuweisen, haben, wie es der BGH formulierte, das Ziel, »eine abschließende Klärung des zwischen den Parteien bestehenden Streits in angemes­ sener Zeit zu fördern«.297 Der Gesetzgeber begrenzt auf diese Weise zwar das rechtliche Gehör. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG gewährt Art. 103 Abs. 1 GG aber keinen Schutz dagegen, dass das Gericht das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des mate­ riellen oder formellen Rechts unberücksichtigt lässt. Er kann das »im Interesse der Verfahrensbeschleunigung« tun.298 »Allerdings müssen solche Vorschriften dann wegen der einschneidenden Folgen, die sie für die säumige Prozesspartei nach sich ziehen, strengen Ausnahme­ charakter haben«; diesen sieht das BVerfG jedenfalls dann als gewahrt an, »wenn die betroffene Partei ausreichend Gelegenheit hatte, sich in den ihr wichtigen Punkten zur Sache zu äußern, dies aber aus von ihr zu vertretenden Gründen versäumt hat«.299 Während es bei den Regeln über die Sammlung des Prozess­ stoffes darum geht, in welchem Umfang, in welchen Formen und mit welchen Erkenntnismitteln das Gericht die »Wahrheitsfindung« betreiben darf, sollen die prozessrechtlichen Präklusionsvorschriften »die Partei anhalten, zu einem bereits vorliegenden Tatsachenstoff

Vgl. §§ 282, 296, 530, 531 ZPO. Vgl. z. B. §§ 87 b, 128 a VwGO; §§ 79 b, 121 FGO; §§ 106 a, 157 a SGG. 296 Vgl. BVerfG 2. Senat 2. Kammer, B. v. 06.10.2009 – 2 BvR 2580/08 – NJW 2010, 592–596. 297 BauR 2005, 1959. 298 Vgl. BVerfGE 55, 72 (93 f.); 66, 260 (264). 299 BVerfGE 69, 145–150, m. Hinweis auf BVerfGE 36, 92 (97 f.); 54, 117 (124); 55, 72 (94) und für den Ausnahmecharakter auf BVerfGE 59, 330 (334); 60, 1 (6); 62, 249 (254); 63, 177 (180); 66, 260 (264); st.Rspr. 294

295

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III. Korrespondenz- und Konsenstheorie – untaugliche »tools for handling«

rechtzeitig vorzutragen«.300 Zu Lasten einer säumigen Prozesspartei werden so allerdings nicht nur das rechtliche Gehör begrenzt, sondern auch Informationsmöglichkeiten, die evtl. Wesentliches zur »Wahr­ heitsfindung« beitragen könnten. Die Legitimation dafür gründet, wie gesagt, »im Interesse der Verfahrensbeschleunigung«301 und dieses Argument verweist auf einen kategorialen Unterschied zwischen epis­ temischer, wissenschaftlicher Wahrheitssuche und prozessualer Wahrheitsfindung. Er liegt in der zeitlichen Dimension. Weder die Korrespondenz- oder Abbildtheorie noch die Konsenstheorie lassen Raum für einen Hinweis darauf, dass mehr Zeit für die »Wahrheits­ findung« nicht vertretbar gewesen sei. Ihr Wahrheitsbegriff verträgt keine pragmatischen Begrenzungen. Dem gerichtlichen Verfahren ist der Anspruch der Beteiligten – und auch der Allgemeinheit – auf eine baldmöglichste Konfliktlösung dagegen immanent. Der französische Philosoph Jacques Derrida hat dafür die schöne Formulierung gefun­ den: »die Gerechtigkeit wartet nicht« und die Aporie, die sich dahinter verbirgt, unter der Überschrift »Die Dringlichkeit, die den Horizont des Wissens versperrt« beschrieben.302

III. Korrespondenz- und Konsenstheorie – untaugliche »tools for handling« Für unsere erkenntnistheoretische Fragestellung – unter welchen Voraussetzungen können wir sagen, eine Aussage ist wahr, und nach welchen Kriterien können wir die Antwort überprüfen – hat uns das Prozessrecht zur entscheidenden Grundposition geführt: Eine Ant­ wort darauf, ob der einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegte Sachverhalt »richtig« oder »falsch« ist, kann nicht losgelöst von der Prozesssituation gegeben werden. Die Beurteilung der »Richtigkeit« eines Sachverhaltes ist unhintergehbar an eine solche – konkrete – prozessuale Situation gebunden. Anders gesagt: Es gibt keinen Standort außerhalb des Prozessgeschehens, den ein Beobachter303 einnehmen könnte, um einen festgestellten Sachverhalt »objektiv« beurteilen zu können. BGHZ 170, 252–260 – juris Rn. 7. Vgl. BVerfGE 55, 72 (93 f.); 66, 260 (264). 302 J. Derrida 1996, S. 53. 303 Die Begriffe »Beobachtung«, »Beobachter« haben zentrale Bedeutung in der Sys­ temtheorie Luhmanns. Darauf kann hier näher nicht eingegangen werden. Zum Prob­ 300

301

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Kapitel 10: Philosophische Wahrheitstheorien und prozessuale Wahrheit

Damit wird zugleich ein grundsätzlicher Unterschied zwischen einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis und der Feststellung eines Sachverhaltes im Erkenntnisverfahren deutlich. Für die Beurteilung einer naturwissenschaftlichen Aussage spielt es keine Rolle, woher sie stammt oder wie man zu ihr gekommen ist. Der »Entstehungszu­ sammenhang (context of discovery)« hat, so eine naturwissenschaft­ liche Grundposition, »mit dem Begründungszusammenhang (context of justification) nichts zu tun«.304 Eine naturgesetzliche Aussage muss sich im Experiment jederzeit wiederholbar an der Wirklichkeit der Natur messen lassen – d. h. unabhängig von Zeit und Ort. Fest­ stellungen zum Sachverhalt oder gar der Sachverhalt selbst sind dage­ gen unlösbar an Ort und Zeit ihres »Entstehungszusammenhangs« gebunden. Anders als aus der »aus dem Gesamtergebnis des Verfah­ rens gewonnenen Überzeugung«, so etwa § 108 Abs. 1 VwGO, gibt es keine Grundlage für den Sachverhalt.

1. Korrespondenz- oder Abbildtheorie Diese spezifische Abhängigkeit der Sachverhaltsfeststellung von der prozessualen Situation bedeutet, dass es eine »objektive«, von der Prozessperspektive ablösbare »Wirklichkeit« als Maßstab für eine »Sachverhaltswirklichkeit« im Erkenntnisverfahren nicht geben kann. Zwar mag für einzelne Tatsachen, wie die oben angeführten Beispiele zur Feststellung von Entfernungen, messbaren Größen oder des Todes eines Tatopfers, die Korrespondenztheorie jedenfalls unserem Alltagsverständnis entsprechen. Ein Sachverhalt ist jedoch nicht die additive, logisch zwingende Einheit solcher Feststellungen, sondern der Sinn-Zusammenhang, in den der Richter diese Tatsachen gebracht hat. Wie der Sachverhalt näher zu charakterisieren ist, wird in den Kapiteln 13 und 14 darzulegen sein. Zunächst haben unsere Überlegungen nur gezeigt, dass mit der Abhängigkeit der Sachver­ haltsfeststellung von der Prozesssituation den Wahrheitstheorien, die an die »Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem wirklichen Geschehen« anknüpfen oder »Erkenntnis« mit Abbildung der Wirk­ lichkeit gleichsetzen, der Boden entzogen ist. lem der »Selbstbeschreibung des Rechtssystems« bei Luhmann siehe Ders. 1995, S. 496 ff. 304 H. Poser 2001, S. 112.

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2. Konsenstheorie der Wahrheit Wenn es um die Frage geht, ob der einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegte Sachverhalt »richtig« oder »falsch« ist, werden wir auch nicht bei einer Konsenstheorie der Wahrheit ansetzen kön­ nen, wie Habermas sie – gegen die Korrespondenztheorie – 1972 in einem Aufsatz mit dem Titel »Wahrheitstheorien«305 entwickelt und dann in seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« (1981) und in »Faktizität und Geltung« (1992) ausgebaut und immer weiter diffe­ renziert hat. Das letztgenannte Werk thematisiert, wie der Untertitel deutlich macht, seine »Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates«. Die rechtstheoretische Diskussion hat diese Ansätze vielfach aufgenommen306 und deshalb kann sie auch in unserem Kontext nicht übergangen werden – zumal im Kontrast die Eigenart des Gerichtssaals als »Kommunikationsraum« besonders deutlich wird. Zunächst zu den Grundbausteinen der Diskurstheorie (soweit sie für das gerichtliche Verfahren von unmittelbarer Bedeutung sind): »Wahrheit« ist für Habermas »ein Geltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, indem wir sie behaupten«.307 Solche Geltungs­ ansprüche verbinden wir nicht nur mit Aussagen mit dem Blick auf Sachverhalte, sondern auch in Bezug auf Normen.308 Werden diese Aussagen hinsichtlich »Wahrheit« oder »Richtigkeit« in Frage gestellt, werden also erhobene Geltungsansprüche problematisiert, kommt es darauf an, ein Verfahren zu finden, das der Begründung (oder der Abweisung) problematisierter Geltungsansprüche dient. Und an dieser Stelle führt Habermas dann unter dem Stichwort »Dis­ kurs« die »durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommu­ nikation ein, in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht wer­ den«.309 In dieser Skizze vermag der Jurist auf Anhieb Strukturen und Funktionen des gerichtlichen Verfahrens zu erkennen. Auch im J. Habermas 1995, S. 127 ff. Zum Einstieg siehe U. Neumann 2008, S. 248 ff. und andererseits die Aufsätze, die J. Habermas im Anschluss an »Faktizität und Geltung« in: Die Einbeziehung des Anderen, Ders. 1999b, veröffentlicht hat, jeweils mit Nachweisen. 307 J. Habermas 1995, S. 129. 308 J. Habermas 1995, S. 128, 137. 309 J. Habermas 1995, S. 130. 305

306

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Kapitel 10: Philosophische Wahrheitstheorien und prozessuale Wahrheit

Prozess werden problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und es gilt, sie in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auf ihre Berechtigung hin zu untersuchen. Die Frage ist aber, ob die Struktur und die Diskursregeln, die Habermas seiner Konsenstheorie der Wahrheit zugrunde legt, auch der »gerichtlichen Wahrheitsfindung« adäquat sind. Folgt man dem theoretischen Ansatz von Habermas, kann ein Diskurs die Funktion, Wahrheit zu ermitteln, nur erfüllen, wenn dieser bestimmte Bedingungen erfüllt. Wesentlich ist eine ideale Sprechsituation, in der Kommunikation weder durch äußere Ein­ wirkungen noch durch Zwänge behindert wird, die sich aus der Kommunikation selbst ergeben.310 Habermas formulierte dazu vier methodischen Regeln, die als Bedingungen einer idealen Sprechsitua­ tion eingehalten werden müssen: Alle potentiellen Diskursteilnehmer müssen 1. jederzeit Dis­ kurse eröffnen und diese durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort fortsetzen können (kommunikative Sprechakte); 2. die glei­ chen Chancen haben, Deutungen, Behauptungen, Empfehlungen, Erklärungen und Rechtfertigungen aufstellen sowie deren Geltungs­ anspruch problematisieren, begründen oder widerlegen zu können (konstative Sprechakte); 3. Einstellungen, Gefühle und Wünsche ausdrücken und damit ihre innere Natur offenlegen können, um sich als Diskussionsteilnehmer ihrer eigenen Wahrhaftigkeit versichern zu können (repräsentative Sprechakte) und 4. die gleiche Chance haben, regulative Sprechakte zu verwenden, d. h. zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, Versprechen zu geben und abzunehmen, Rechenschaft abzulegen und zu verlangen.311 Mit jedem der vier unterschiedlichen Sprechakte verbindet sich jeweils ein bestimmter Geltungsanspruch: Der allgemeine Sinn, die Verständlichkeit wird durch die kommunikativen Sprechakte vermit­ telt. Dem Geltungsanspruch der Wahrheit entspricht der konstative Sprechakt. Wahrhaftigkeit wird durch den repräsentativen (oder sich selbst als Person darstellenden) Sprechakt angestrebt. Mit dem Gel­ tungsanspruch der Richtigkeit korrespondiert der regulative Sprechakt. Nach Habermas’ eigenen Bemerkungen waren es die rechtstheo­ retischen Überlegungen von R. Alexy, die ihn veranlasst haben, die für die Moral entwickelte Diskurstheorie auch auf das Recht auszu­ 310 311

J. Habermas 1995, S. 177. J. Habermas 1995, S. 177 f.

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III. Korrespondenz- und Konsenstheorie – untaugliche »tools for handling«

dehnen.312 Dieser Schritt, das Diskursprinzip auch für »juristische Diskurse« zu »operationalisieren«313 hat, wie gesagt, eine breite theo­ retische Diskussion ausgelöst. Es fehlt aber eine klare Antwort auf die Vorfrage: Können wir überhaupt von dem juristischen Diskurs als einer einheitlich bestimmbaren Form ausgehen?314 So gibt es den rechtswissenschaftlichen Diskurs (der allerdings durch sehr unter­ schiedliche Interessen geleitet sein kann), die gerichtlichen Beratung (wobei zu unterscheiden ist, ob mit oder ohne Laienrichter) oder im Prozess den Streit um Rechts- und Tatsachenbehauptungen (oft untrennbar verwoben). Ein – auch nach eigenen Beobachtungen – hervorzuhebendes Beispiel ist die »Verschränkung des institutionali­ sierenden Rechtsverfahrens mit einem Argumentationsprozess«315 bei bestimmten Formen der Beratung. Wenn es in einem Spruchkör­ per mit mehreren Berufsrichtern »gut läuft«, dann sind dies die Bera­ tungen, die durch die Situationen einer »idealen Sprechsituation« geprägt sind. Doch mitgedacht bleibt selbst in solchen Momenten – von der »Beurteilungsmacht« des Vorsitzenden einmal ganz abgese­ hen –, dass am Ende eine Abstimmung nach Regeln, §§ 196,197 GVG, stehen wird, wenn sich ein Konsens nicht einstellt, wobei im Hinter­ grund immer mehr oder minder deutlich die schon zitierte »Dring­ lichkeit, die den Horizont des Wissens versperrt«316, steht. Doch der entscheidende Punkt liegt nicht in solchen Momenten, sondern in dem grundsätzlichen, strukturellen Unterschied zwischen (auch juris­ tischem) Diskurs und gerichtlichem Prozess. Ursprünglich hatte Habermas den Prozess, die Gerichtsverhand­ lung nicht als kommunikatives Handeln, sondern als strategisches Handeln konzipiert.317 Folgt man der Unterscheidung zwischen »kommunikativem Handeln« – gerichtet auf Verständigung – und »strategischem Handeln« – gerichtet auf das zielgerichtete Verwirk­ lichen von Zwecken –, lässt sich in der Tat die Einordnung des Gerichtsprozesses als kommunikatives Handeln kaum nachvollzie­ hen. Bestimmend für den Prozess ist der »Kampf ums Recht«, nicht 312 J. Habermas 1999b, S. 366 mit Hinweis auf Alexy, Theorie der juristischen Argu­ mentation. 313 J. Habermas 1999b, S. 64. 314 Alexy 1983, S. 33 ff. bestimmt ihn als »Sonderfall« des rationalen praktischen Diskurses – dort aber nicht im unmittelbaren Anschluss an Habermas. 315 J. Habermas 1997, S. 219. 316 J. Derrida 1996, S. 53. 317 J. Habermas 1987, S. 62.

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Kapitel 10: Philosophische Wahrheitstheorien und prozessuale Wahrheit

die Verständigung im Recht. Der prägende Hintergrund ist nicht im sokratischen Dialog, sondern in Rache und Strafe, Gewalt und Gewaltmonopol zu suchen und zu finden. Der Gerichtssaal ist ein Kommunikationsraum, aber ein Kommunikationsraum eigener Art. Kommuniziert werden Geschichten, Tatsachen- und Rechtsbehaup­ tungen, also Argumente, mit denen Rechtspositionen begründet oder zurückgewiesen werden sollen. Getragen sind sie keineswegs von Motiven »kooperativer Wahrheitssuche« als Bedingung einer idealen Sprechsituation,318 sondern von der mehr oder minder manipula­ tiven Absicht, auf die »Wahrheitssuche« des Richters Einfluss zu nehmen. Dieser muss sie als Argumente aufnehmen, sie in einen vorhandenen juristischen Argumentationsraum einordnen und sie dann – in den Entscheidungsgründen – argumentativ an die Par­ teien zurückspielen. Eingebettet ist dieser Argumentationsprozess in einen Kommunikationsprozess, der weder »zwanglos« noch unter »gleichen Teilnehmern« stattfindet. Er ist strukturell asymmetrisch. Die Akteure – die »potentiellen Diskursteilnehmer« – sind durch Interessen und durch das Prozessrecht auf unterschiedliche Rollen festgelegt. Kläger, Beklagter und Angeklagter habe ihre Prozessziele, die sie zu erreichen suchen. Bei der Staatsanwaltschaft ist es oft ein Schwanken zwischen der Rolle des öffentlichen Anklägers und der »objektivsten Behörde der Welt«. Und für den Richter gehört es nicht zur Wahrhaftigkeit seiner Rolle, dass er (in einem repräsentativen Sprechakt) deutlich macht, ob es ihm wesentlich auf ein gerechtes Urteil, einen gerechten Vergleich oder nur schlicht auf die Beendigung des Verfahrens ankommt, um es aus der Liste seiner Altverfahren streichen zu können. Als ein Ort des herrschaftsfreien Diskurses kann der Gerichtssaal mithin nicht verstanden werden. Der Prozess hat andere Regeln, Strukturen und Richtigkeitsbedingungen als die Konsenstheorie der Wahrheit. Nicht anders als über die Korrespondenztheorie können wir also auch über den Weg der Diskurstheorie und ihrer Bedingun­ gen, Wahrheit prozessual zu bestimmen,319 keine Kriterien für die Prüfung der »Wahrheit« eines vom Gericht festgestellten Sachverhal­ tes gewinnen. Offen bleibt so auch, wie sich aus Diskurs und Konsens der Schluss darauf ergeben soll, ob die Behauptung, die hinsichtlich eines Gegenstandes/Sachverhaltes aufgestellt wurde, richtig oder 318 319

J. Habermas 1987, S. 48. Vgl. J. Habermas 1999a, S. 49.

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III. Korrespondenz- und Konsenstheorie – untaugliche »tools for handling«

falsch war, oder allgemeiner: wie und ob sich mit einer Konsenstheorie der Wahrheit überhaupt ein Gegenstandsbezug konstruieren lässt.320 Um auf die Frage nach dem »richtigen« Sachverhalt eine Antwort zu finden, werden wir also nach einem anderen Ansatz suchen müssen.

320 Zu dieser Frage siehe die Kritik von K. Gloy 2004, S. 221 f. Grundsätzlich die Kritik von B. O. Küppers 2008, S. 172 ff.; er spricht ironisch von einer »Wahrheit, die im wahrsten Sinne des Wortes herbeigeredet wird«, S. 174.

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Kapitel 11: Der Sachverhalt als Konstrukt

Die bisherigen Überlegungen bestätigen zunächst nur, dass Versuche, dem »richtigen« Sachverhalt mit den beiden geläufigen Wahrheits­ theorien beizukommen, kaum ergiebig sind. Wenn wir – als Beob­ achter eines Prozessgeschehens – beurteilen wollen, ob ein Gericht den Sachverhalt »richtig« festgestellt hat, können wir eine solche Frage immer nur im Blick auf die prozessuale Situation stellen. Es ist diese fachspezifische Beobachterperspektive, in die sich auch der Methodiker begeben muss, wenn es ihm darum geht, die für die Praxis relevanten »Wahrheits«- oder Richtigkeitskriterien zu entwickeln. Erst aus dieser Perspektive zeigt sich, warum wir den Sachverhalt nur als Konstrukt begreifen können (I.) und warum die Kriterien einer »erkenntnistheoretisch richtigen« Sachverhaltsfeststellung andere sind als die des Revisionsrechts (II. u. III.).

I. »Der Ball war rot« – war der Ball auch tatsächlich rot? – die prozessrechtliche Perspektive Prozesse beginnen mit Rechtsbehauptungen, die auf behauptete Tatsachen gestützt werden. Die Verteidigung besteht darin, diese Behauptungen zu bestreiten bzw. Gegenbehauptungen aufzustellen. Das Prozessrecht organisiert dieses Spiel von Behaupten und Bestrei­ ten durch Regeln. Mit Habermas lässt sich das Gerichtsverfahren so als ein Verfahren beschreiben, das der Begründung oder der Abweisung problematisierter Geltungsansprüche dient. Nur werden die »problematisch gewordenen Geltungsansprüche« nicht in einem Diskurs »zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin unter­ sucht«321, der Vorgaben einer idealen Sprechsituation folgt, sondern nach den je eigenen Regeln der einzelnen Verfahrensordnungen. Da sind zunächst die Regeln zur Beweisführungslast in den Verfahren, die dem Beibringungsgrundsatz unterliegen, und dort, wo es keine 321

J. Habermas 1995, S. 130.

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Kapitel 11: Der Sachverhalt als Konstrukt

Beweispflicht gibt, die Regeln, die die Amtsermittlung durch die Gerichte konkretisieren. Findet das Gericht auf die Frage, ob eine Behauptung »wahr« oder »falsch« ist, keine Antwort, so wird die »Wahrheitsfrage« zur Frage nach der Beweislast, also zu einer reinen, letztlich materiell-rechtlichen Rechtsfrage. Die »Wahrheitsfrage« erscheint aus dieser Sicht nur als prozes­ suales Problem. Aber bereits dann, wenn der Richter von seinem Fragerecht Gebrauch macht oder wegen der Wahrheitspflicht der Beteiligten oder seiner Amtsermittlungspflicht eine Behauptung nicht einfach stehen lässt, weil er weiß oder nur das Gefühl hat, »da stimmt etwas nicht«, stellt sich die Pilatusfrage: »Was ist Wahrheit?« auch inhaltlich. Ganz eindeutig natürlich dort, wo er eine Behauptung für nicht bewiesen hält und diese Einschätzung auch begründen, also Kriterien für dieses Urteil an der Hand haben muss. Es muss also zunächst darauf ankommen, aus einem prozessualen Blickwinkel diejenigen Momente im Verfahren herauszuarbeiten, in denen die »Wahrheitsfrage« Probleme aufwirft, die zu lösen üblicherweise Sache der Erkenntnistheorie ist. Zur Analyse dieser Probleme soll ein »Fall« dienen, in dem ein roter Ball ein Ereignis ausgelöst haben soll, dessen Folgen Gegenstand des Prozesses sind. Der Fall selbst soll im Dunklen bleiben. Es kommt nur darauf an, mit dem Versatzstück eines Falles – einem roten Ball – die Momente eines Verfahrens zu benennen, in denen es inhaltlich um den Geltungsanspruch einer Aussage als »wahr« geht, und in diesem Gedankenexperiment in fünf Schritten festzuhalten, in welcher Weise sich die »Wahrheitsfrage« dann stellt. (Und wenn für den Leser die Geschichte, Ereignis und Schaden, der durch den Ball verursacht wurde, offen bleibt, dann soll mit dieser Verkürzung zugleich die Verengung gespiegelt werden, mit der Richter in der Alltagspraxis oft in fataler Weise meinen, sich in ihrer Vernehmungspraxis nur auf die scheinbar allein relevante Tatsachenbehauptung konzentrieren zu können). (1.) Der Ausgangspunkt: Nach dem klägerischen Vortrag war das Schadensereignis entscheidend durch einen roten Ball verursacht worden. In der Beweisaufnahme ist die Aussage des Zeugen Z eindeu­ tig: »Der Ball war rot«. – Diese Aussage kann richtig sein. Stimmen muss diese Aussage aber keineswegs: Der Zeuge kann farbenblind sein, eine Farbspiegelung nicht bemerkt haben, den roten Ball mit einem anderen verwechselt haben, Erinnerungen durcheinanderge­ bracht oder schlicht gelogen haben. Vielleicht existiert irgendwo auch

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I. Die prozessrechtliche Perspektive

eine Videoaufzeichnung, aus der sich ergibt, dass der Zeuge den Vorgang gar nicht beobachtet haben konnte – ja, dass ein roter Ball für das Schadensereignis überhaupt nicht entscheidend gewesen war. (2.) Wir haben es also mit vielfältigen Möglichkeiten zu tun, dass es entgegen einer klaren Aussage auch ganz anders gewesen sein könnte. Wie kann das Gericht unter diesen vielfältigen Möglichkeiten, dass eine Beweisaufnahme nicht die Wahrheit ans Licht bringt, son­ dern wenn nicht eine Falschaussage, so doch jedenfalls ein falsches Bild ergibt, sicher sein, dass es einen Sachverhalt »richtig« erfasst? Verlangen wir – im Sinne der Korrespondenztheorie –, dass »der vom Gericht festgestellte Sachverhalt der Wirklichkeit entspricht«,322 kann die Antwort nur negativ ausfallen. Wie oben schon dargelegt, kann es diese Sicherheit einer objektiven Wahrheit nicht geben. Ob ein Sachverhalt »richtig« erfasst ist, ist eine Frage, die immer nur im Hinblick auf eine prozessuale Situation beantwortet werden kann. Bildlich gesprochen: Es können nur die Momente in die Kon­ struktion des Sachverhaltes einfließen, die in irgendeiner Form auf dem »Bildschirm des Prozessgeschehens« auftauchen und dann auch wahrgenommen werden. (3.) Fahren wir im Gedankenspiel fort und nehmen an, der Zeuge Z erschien glaubwürdig und weder einer der Beteiligten noch das Gericht hatten Zweifel an dieser Aussage: Dann ist der Ball für diesen Prozess rot und all die Möglichkeiten, dass es das Gericht mit einer unrichtigen Aussage zu tun hatte, ändern an diesem Ergebnis nichts. Das gilt selbst für den Strafprozess, in welchem dem Täter die Tat ja positiv nachgewiesen werden muss. Auch hier können nur die Tatsachen und Momente für Zweifel an diesen Tatsachen in die Konstruktion des Sachverhaltes einfließen, die – um die bildliche Formel zu wiederholen – in irgendeiner Form auf dem »Bildschirm des Prozessgeschehens« auftauchten und dann auch wahrgenommen wurden. Auch hier ist es eine prozessual geprägte Wahrheitsvorstel­ lung, die für die richterliche Überzeugung entscheidend ist, nicht das auch theoretisch abgesicherte Wissen, dass es mit Sicherheit so war, wie dem Urteil zugrunde gelegt. In einer Entscheidung von 1951 hatte der BGH zur Beschreibung des »Wesens« der richterlichen Überzeugung im Sinne des § 261 StPO folgende Formulierung gefunden: »Sie beruht, der Eigenart geisteswissenschaftlichen Erkennens gemäß, anders als das Ergebnis 322

A. Blomeyer 1985, S. 111.

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Kapitel 11: Der Sachverhalt als Konstrukt

exakter, naturwissenschaftlicher Forschung nicht auf einem unmit­ telbar einsichtigen Denken, sondern auf dem Gewicht eines die Gründe klar abwägenden Urteils über den Gesamtzusammenhang eines Geschehens. Für sie ist es erforderlich, aber auch genügend, daß ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit besteht, dem gegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr laut werden können. Die bloße ›theoretische‹ oder ›abstrakte‹ Möglichkeit, daß der Angekl. nicht der Täter war, kann seine Verurteilung nicht hindern. Da eine solche Möglichkeit bei der Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnis nie ganz auszuschließen ist, wäre jede richterliche Wahr­ heitsfindung unmöglich. Diese Auffassung vom Wesen der freien richterlichen Überzeugung ist in der höchstrichterlichen Rechtspre­ chung stets vertreten worden.«323 – In der Vorinstanz war der Ange­ klagte von dem Vorwurf der schweren Brandstiftung und des Versi­ cherungsbetruges freigesprochen worden, weil das Schwurgericht es mit Rücksicht auf einen Teil der Zeugenangaben »theoretisch für möglich« gehalten hatte, dass der Brand an anderer als der vom Ange­ klagten in seinem Geständnis bezeichneten Stelle ausgebrochen sei »und daß nicht der Angeklagte den Brand gelegt hat«; es könne des­ halb nicht mit »letzter Sicherheit« die volle Überzeugung von seiner Schuld gewinnen. (4.) Wenn in späteren Entscheidungen an die Stelle der Feststel­ lung, dass die bloße »theoretische« oder »abstrakte« Möglichkeit, dass der Angeklagte nicht der Täter war, seine Verurteilung nicht hindern kann, vielfach die Überprüfung tritt, »ob der Tatrichter über­ spannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat«,324 dann ist damit nur der dargestellte Grund­ gedanke anders beschrieben. Wesentlich für unsere weiteren Überle­ gungen ist der Maßstab der »Gewissheit«, auf den wir ausführlich im 14. Kapitel im Zusammenhang mit Fragen des Beweismaßes eingehen werden. Wenn dieser Maßstab, so wie er etwa in einem BGH-Urteil von 1957 umschrieben wurde,325 als Grundlegung einer BGH, NJW 1951, 122 m. Hinweis auf RGSt. 61, 202 (202); 66, 164. BGH NStZ 2011, 648–650 m. w. N. auf st.Rspr. – juris Rn. 8.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 27. April 2010 – 1 StR 454/09, NStZ 2011, 108, 109, und vom 1. Februar 2011. 325 BGHSt 10,208 mit der Formulierung, dass es »für die Beantwortung der Schuld­ frage allein darauf ankommt, ob der Tatrichter die Überzeugung von einem bestimm­ ten Sachverhalt erlangt hat oder nicht; diese persönliche Gewissheit ist für die Verurteilung notwendig, aber auch genügend.« 323

324

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I. Die prozessrechtliche Perspektive

»subjektivistischen Beweiswürdigungstheorie«326 gedeutet werden konnte, wird heute »vorausgesetzt, dass der Schuldspruch auf einer tragfähigen Beweisgrundlage aufbaut, die die objektiv hohe Wahr­ scheinlichkeit der Richtigkeit des Beweisergebnisses ergibt«, wie es in einem Kammerbeschluss des BVerfG vom 30.4.2003 heißt.327 Entsprechend prüft der BGH die Beweiswürdigung üblicherweise hinsichtlich folgender Ansätze: ob der Umfang und die Bedeutung des Zweifelssatzes verkannt sind, ob sie lückenhaft ist, ob sie wider­ sprüchlich oder unklar ist oder ob sie gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt.328 Insbesondere sind die Beweise erschöpfend zu würdigen und das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat.329 (5.) Behalten wir diese Kriterien richtiger oder unzureichender Beweiswürdigung330 im Auge und wenden uns wieder der Aussage des Zeugen Z zu. Gegen diese Aussage sind Einwände und Gegenbe­ weise, wie an den Beispielen gezeigt, in unendlicher Vielzahl denkbar. Es könnte etwa der Einwand kommen, es gäbe auf dem Markt gar keine roten Fußbälle. Es könnte auch ein Brief vorgelegt werden, in dem der Zeuge zusichert, falsch auszusagen. In beiden Varianten könnte die »Wahrheitsfrage« damit zunächst geklärt sein. In der Regel ergibt eine Beweisaufnahme jedoch keine so klaren Antworten. Erinnern wir uns hier nochmals an die schon zitierte Bemerkung von Bender/Nack/Treuer, dass »nahezu jeder Beweis vor Gericht nur ein mittelbarer Beweis ist«.331 Selbst mit dem Brief wäre bei genauerem Hinsehen die »Wahrheitsfrage« nur scheinbar geklärt. Der Zeuge könnte durchaus die Wahrheit gesagt haben, wollte sich aber vielleicht von dem Begünstigten für die richtige Aussage auch noch bezahlen lassen. Und wenn es, bei aller Seltenheit, doch rote Fußbälle gibt, käme es etwa darauf an, ob der Schadensverursacher – entgegen 326 Vgl. A. Schoreit 2008, Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, § 261 StPO Rn 4 h. 327 NJW 2003, 2444 f. – juris Rn. 36 – unter Hinweis u. a. auf BGH NStZ-RR 1996, S. 202 f. 328 BGH Urteil vom 10.08.2011 – 1 StR 114/11 – NStZ 2012, 110–111 – juris Rn. 11 m. Hinweis auf st.Rspr. 329 NStZ, 2011, 648–650. 330 Zum Beweismaß Kap. 14 III. 331 Bender/Nack/Treuer 2007, S. 145.

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Kapitel 11: Der Sachverhalt als Konstrukt

seinen Beteuerungen – überhaupt mit einem roten Fußball gespielt haben könnte. Quod erat demonstrandum: Wir können diese Fäden möglicher Varianten des Versatzstückes »roter Ball« ins Unendliche weiterspin­ nen. Das aber zeigt, dass wir unser Gedankenspiel spätestens an diesem Punkt nicht sinnvoll weiter treiben können. Beweiswürdigung setzt Tatsachen voraus, die in Zusammenhänge eingeordnet sind und/ oder in solche eingeordnet werden können. Für die Einschätzung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen ist es meist unerlässlich, wenigstens in entscheidenden Bezügen den sozialen Kontext zu kennen, in dem er zu den Prozessbeteiligten und zur Geschichte steht, über die gestritten wird. Man muss den Kontext kennen, in dem der Zeuge seine Beobachtungen gemacht hat. Der Richter muss eine Vorstellung von dem Handlungszusammenhang haben, der die Tat oder den Streitgegenstand ausmacht.

II. Kohärenz einer Aussage und Nullhypothese Das Stichwort »Zusammenhang« ist mithin ein Schlüsselwort für das Verstehen und die Analyse der kognitiven Vorgänge um die Beweiswürdigung. Es ist auch der entscheidende Terminus in den Regeln für die Zeugenvernehmung. Der Zeuge soll zunächst eben nicht punktuell auf das Versatzstück hin befragt werden, das der Rich­ ter für entscheidungserheblich hält, sondern der Grundsatz lautet: »Der Zeuge ist zu veranlassen, das, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang (Hervorh. d. Verf.) anzugeben« – § 69 Abs. 1 StPO und nahezu gleichlautend § 396 Abs. 1 ZPO. »Der Bericht ist das zentrale Erkenntnismittel für die Tatsachenfeststellung«, lautet deshalb auch nur folgerichtig der Kern­ satz der Vernehmungslehre bei Bender/Nack/Treuer.332 Dem Richter, der auf seine punktuellen Fragen mit Luther nur ein klares »ja, ja« oder »nein, nein« erwartet, bleibt für die Glaub­ würdigkeitsprüfung in der Regel nur sein »Bauchgefühl«. Er wird sich – bewusst oder unbewusst – dann wohl auch an der »unausge­ sprochenen Beweisregel« orientieren, dass einem Zeugen mangels Anhaltspunkten für die Unrichtigkeit seiner Aussage regelmäßig zu 332

Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 808 und ausführlich 811 ff.

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II. Kohärenz einer Aussage und Nullhypothese

glauben sei. Gegen einen solchen »Vertrauensbonus« einer Zeugen­ feststellung hat sich der BGH jedoch zu Recht mit der Übernahme der »Nullhypothese« gestellt.333 Sie bedeutet, dass jede Aussage so lange als unwahr zu gelten hat, bis sich diese Vermutung angesichts der Umstände nicht mehr aufrechterhalten lässt. Ihr »methodisches Grundprinzip besteht darin«, so der BGH, »einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammel­ ten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst an, die Aussage sei unwahr (sog. Null­ hypothese). Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, daß die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, daß es sich um eine wahre Aussage handelt.«334

Die Umstände, aus denen die Hypothesen zu bilden sind, ergeben sich einmal aus der Aussage selbst, d. h. aus ihrem Zusammenhang. Nur wenn der Richter die Feststellungen, auf die es ihm ankommt, aus dem Kontext des (zusammenhängenden) »Berichts« würdigen kann, in den der Zeuge sie stellt, können sich für ihn die notwendi­ gen Ansatzpunkte ergeben, um nach Umständen wie der Zahl und Qualität inhaltlicher Realitätskriterien und strukturellen Aussagekri­ terien eine Glaubhaftigkeitswürdigung vornehmen zu können. Auch die Chance einer ergiebigen Prüfung dieser Kriterien anhand von Tatsachen, die sich aus dem Prozess im Übrigen ergeben, wächst naturgemäß, je mehr es gelingt, den Zeugen das, was ihm bekannt ist, im Zusammenhang vortragen zu lassen. – Im Hinblick auf die erkenntnistheoretischen Überlegungen formuliert, auf die es für den »richtigen Sachverhalt« ankommt, heißt das: Der Richter kann nur aus dem Zusammenhang, dem »Inbegriff der Verhandlung«, Maß­ stäbe für die Kohärenz einer Aussage, also Kriterien für ihre »Richtigkeit« finden.

333 334

Grundlegend BGHSt 45, 164–182; für die ZPO: BGH, NJW 2003, 2527–2529. BGHSt 45, 164, 167 – juris Rn. 12.

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Kapitel 11: Der Sachverhalt als Konstrukt

III. Der »richtige« Sachverhalt – die revisionsrechtliche und die erkenntnistheoretische Perspektive Noch nicht beantwortet ist damit aber die oben gestellte Frage, wie es sich zum einen mit der revisionsrechtlichen Funktion und zum anderen mit der erkenntnistheoretischen Grundlage der richterlichen Überzeu­ gung und des subjektiven Maßstabes der »Gewissheit« verhält. Der BGH hatte in der zitierten Entscheidung von 1951 zutreffend die »richterliche Überzeugung« auf das »Gewicht eines die Gründe klar abwägenden Urteils über den Gesamtzusammenhang eines Geschehens« bezogen und dieses Erkennen einem »Ergebnis exakter, naturwissenschaftlicher Forschung« gegenübergestellt. Es ist in der Tat dieser Unterschied zwischen dem Generieren eines Sachverhaltes einerseits und naturwissenschaftlicher Erkenntnis andererseits, der die Funktion dessen, was richterliche Überzeugung und Gewissheit ausmacht, plastisch und auch theoretisch verständlich werden lässt. Vereinfacht kann man ihn auf folgenden Nenner bringen: –



Bei einer Realität, die naturwissenschaftlich erfasst und beschrie­ ben wird, haben wir es mit einem objektiv verifizierbaren Gefüge von Tatsachen zu tun. Das bedeutet: Bei definierten Randbedin­ gungen sind die Aussagen über dieses Gefüge sowohl unabhän­ gig von der Person, die sie macht, als auch von der Situation, in der sie gemacht werden, richtig oder falsch. Das Urteil eines Richters über den »Gesamtzusammenhang eines Geschehens« ist dagegen weder ablösbar von der prozes­ sualen Situation, aus der heraus die Sachverhaltsfeststellungen getroffen werden, noch in der Weise intersubjektiv, dass auch jeder andere Richter bzw. Spruchkörper zu den gleichen Feststel­ lungen gekommen wäre.

Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen der tatrichterlichen »Über­ zeugung von einem bestimmten Sachverhalt« und naturwissenschaft­ licher Gewissheit schließt nicht aus, dass es auch der Richter bei der Sachverhaltsgenerierung mit einem »objektiv verifizierbaren Gefüge von Tatsachen« zu tun haben kann, für das er aufgrund eigener Sach­ kenntnis oder aufgrund eines Sachverständigengutachtens Feststel­ lungen zu treffen hat, die unabhängig von der prozessualen Situation jeder andere Sachkundige auch so getroffen hätte. Das ändert aber nichts daran, dass wir bei der Sachverhaltsgenerierung in aller Regel ein Urteil über den »Gesamtzusammenhang eines Geschehens« –

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III. Revisionsrechtliche und erkenntnistheoretische Perspektive

also ein Konstrukt – zu beurteilen haben, das grundsätzlich weder situations- noch personen-unabhängig ist. In diese Ausgangsstruktur unserer Überlegungen passen sich die prozessualen Grundnormen, die den für die Feststellung des Sachver­ haltes wesentlichen Vorgang der richterlichen Überzeugungsbildung zum Inhalt haben, nahezu nahtlos ein, etwa die Regelungen: 1. 2.

3.

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpf­ ten Überzeugung (§ 261 StPO). Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisauf­ nahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsäch­ liche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. – An gesetzliche Beweisre­ geln ist das Gericht nur in den durch dieses Gesetz bezeichneten Fällen gebunden (§ 286 ZPO). Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamter­ gebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (§ 108 VwGO).

Diese normativen Grundlagen geben der Sachverhaltsfeststellung eine klare Struktur vor: Die Überzeugung ist aus dem »Zusammen­ hang« (oben in II. als Schlüsselwort bezeichnet) zu bilden; in den For­ mulierungen des Prozessrechts: aus dem »Gesamtergebnis«, »unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen«, dem »Inbegriff der Verhandlung«. Da eine Überzeugung immer auch an ein Subjekt gebunden ist – es ist die durch eigenes Urteil gewonnene Erkenntnis –, erhellt dies auch die Konsequenzen, die sich für das Revisionsrecht ergeben: 1. 2.

Der Revisionsrichter steht nicht in der prozessualen Situation des Tatrichters und kann seine Überzeugung nicht an die Stelle des Tatsachenrichters setzen, ohne selbst zum Tatrichter zu werden. Gegenstand der revisionsrechtlichen Überprüfung kann nur sein, ob das »Urteil über den Gesamtzusammenhang eines Gesche­ hens« auf einer tragfähigen Beweisgrundlage beruht, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wesentliche Tatsachen nicht oder unzureichend gewürdigt sind.

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Kapitel 11: Der Sachverhalt als Konstrukt

Gleichwohl: der routinierte Tatrichter kann eine Beweiswürdigung oder eine Sachverhaltsfeststellung bekanntlich auch »revisionssi­ cher« machen. Oder grundsätzlicher: Wenn eine Sachverhaltsfeststel­ lung revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, revisionsrechtlich also »richtig« ist, heißt das nicht, dass damit auch die Sachverhaltsfest­ stellung des Tatsachenrichters methodisch und inhaltlich richtig war. – Die Kriterien, mit denen wir als Beobachter der tatrichterlichen Sachverhaltsgenerierung diese aus der erkenntnistheoretischen Perspektive bewerten können, sind zwar in der Grundstruktur keine anderen als die revisionsrechtlichen, erfassen aber auch ent­ scheidende Momente, die der revisionsrichterlichen Überprüfung entzogen sind. Von diesen erkenntnistheoretischen Kriterien wird im Folgenden zu handeln sein.

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Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

Dem Leser, der das vorstehende Gedankenspiel mit einer gewissen Aufmerksamkeit verfolgt hat, dürfte es immer wieder unterlaufen sein, dass er sich zu dem Versatzstück des »roten Balles« irgendwie eine Geschichte, einen Fall hinzugedacht hat. Ob es nun ein ärgerli­ cher Fußgänger gewesen sein mag, der einem Fußball einen Tritt gab, ein Vater, der auf sein ballspielendes Kind nicht aufpasste, oder ein Jugendlicher, der einen Fußball mit scharfem Schuss auf die befahrene Kreuzung kickte. Wir können eben nicht nicht interpretieren. Nur wenn wir ein solches Versatzstück in einen Vorgang, eine Geschichte einpassen können, können wir uns »einen Reim darauf machen«. Wir konstruieren zu einem solchen Versatzstück mit anderen Worten geradezu zwangsläufig eine »Realität«, in die es sich einfügt, in der es Sinn macht.

I. Die erkenntnistheoretische Perspektive Diese Ausgangsüberlegung mag vielleicht zunächst etwas herbeige­ zogen wirken. Jeder Richter, der eine Klageschrift liest, wird sich aber jederzeit genau bei diesem Vorgang beobachten können: Wie er – mitlaufend mit dem Lesen der Akte – dabei ist, sich ein Bild von dem Geschehensablauf zu machen, den er seiner Beurteilung zugrunde legen kann. Er bildet eine Sachverhaltshypothese, indem er dieses Bild auf seine juristischen Konsequenzen hin interpretiert – er sucht in dem Bild das passende rechtliche Muster.335 Wesentliche Phasen und Bausteine der Sachverhaltsarbeit sind so aber nur beschrieben. Versuchen wir, diesen Beobachtungen eine Struktur zu geben, führt das wieder auf die oben schon eingeführten entscheidenden Begriffe 335

Näher zur Sachverhaltshypothese Kap. 22 I. 2.

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Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

der Kohärenz / des Zusammenhangs und der Konstruktivität336 zurück. Doch wir müssen noch einen Schritt weiter gehen: Die Frage »Wie erkennt der Richter den Sachverhalt?« lässt sich nur beantwor­ ten, wenn wir uns der Mühe unterziehen, sie in die allgemeine erkenntnistheoretische Diskussion einzuordnen, und es gelingt, sie aus dieser Sicht so zu beantworten, dass sich daraus für die Methodik auch praktische Folgerungen ziehen lassen.

1. Ausgangskriterien Zur Konstruktivität: Der Sachverhalt soll die narrative Seite des Streitgegenstands erfassen. Der Richter generiert ihn aus den mitge­ teilten, beobachteten und nachgefragten Tatsachen. Wesentlich für Auswahl und Fokussierung der Tatsachen ist einmal ihre Relevanz für den Sachverhalt als Grundlage für die rechtliche Beurteilung. Zum anderen müssen die Tatsachen zu einem Lebenssachverhalt gefügt werden, der als Geschichte bzw. als Beschreibung eines Vorganges stimmig ist. Mit dieser Stimmigkeit ist zugleich nichts anderes ange­ sprochen als die These, dass der Sachverhalt kohärent sein muss. Dabei geht es hier darum, Kohärenz sowohl als Ziel der Sach­ verhaltskonstruktion als auch als Prüfkriterium zu verstehen, ob diese gelungen ist. Wie am Beispiel von Bewertungen von Zeugenaussagen – Stichwort: Nullhypothese – gezeigt, ist es für die Beurteilung der Wahrheit einer behaupteten Tatsache wesentlich, ob und wie sie sich in einen »Zusammenhang« einfügt. Umgekehrt muss auch die »Geschichte« in sich stimmig sein, d.h., sie muss sich daran messen lassen, ob sie mit allen Umständen, die zu Tage getreten sind, vereinbar ist. Im weiteren Verlauf unserer Überlegungen werden wir uns dann noch mit weiteren Kohärenzzusammenhängen beschäftigen: nämlich dem der Kohärenz zwischen Sachverhalt und Gründen (Kap. 26 II.) und den Kohärenzzusammenhängen, denen die Rechtsanwen­ dung (im engeren Sinne) genügen muss (Kap. 26 IV.). In diesem Kapitel kommt es nur darauf an, die angesprochenen Grundbegriffe der Kohärenz und der Konstruktivität konkreter in die erkenntnistheo­ retische Diskussion einzuordnen, um sie dann auch mit konkreteren Kriterien zur Analyse der Sachverhaltsgenerierung nutzen zu können. 336

Näher zu diesem Begriff unten III.

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II. Die entscheidenden Ansätze: Subjektivität, Vermittlung und Intersubjektivität

2. Notwendige Reduktion des Diskussionsstandes Die erkenntnistheoretische Diskussion ist so komplex und unüber­ sichtlich verästelt – sie erstreckt sich von den verschiedenen philo­ sophischen Schulen über die Linguistik, die Psychologie und die Soziologie bis hin zu den Neurowissenschaften –, dass in unserem Zusammenhang nicht einmal ihre Grundzüge dargestellt werden können.337 Ist man allerdings bereit, sich auf eine radikale Reduktion des Diskussionsstandes einzulassen, wird ein Funktionssystem von sechs Ansätzen deutlich, das bei aller Vielfalt in den theoretischen Ausgangspunkten und der Einschätzung dessen, was Erkenntnistheo­ rie überhaupt zu leisten vermag, doch eine gewisse Grundstruktur erkennbar macht. So lässt sich ein Schema finden, von dem aus die erkenntnistheoretischen »Wahrheitsfragen« und Probleme, denen sich der Richter bei der Generierung des Sachverhaltes stellen muss, sowohl theoretisch eingeordnet als auch für die Praxis relevant disku­ tiert werden können.

II. Die entscheidenden Ansätze: Subjektivität, Vermittlung und Intersubjektivität Will man die Grundannahmen verstehen, die die erkenntnistheore­ tische Diskussion in der Moderne prägen, muss man sich zunächst von dem einfachen Subjekt-Objekt-Dualismus lösen, von allen Vor­ stellungen, die Erkenntnis auf eine unmittelbare Beziehung zwischen dem zu erkennenden (und als solches auch erkennbaren) Objekt – der Welt – und dem wahrnehmenden Subjekt – dem Ich – reduzieren. Wegweisend ist Kants berühmte Kopernikanische Wende, die er in sei­ ner Vorrede zur »Kritik der reinen Vernunft« von 1787 als Hypothese so formulierte: »unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte[t] sich nicht nach diesen, als Dinge an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr, als Erscheinungen, richten sich nach unserer Vorstellungsart.«338 337 Die folgenden Hinweise können und sollen deshalb auch nicht den Diskussions­ stand dokumentieren, sondern nur die für das Verstehen und die Analyse richterlicher Kognition notwendigen Diskussionszusammenhänge belegen. 338 Kant KrV B XX, S. 22.

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Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

Die Erkenntnistheorie nahm damit zum einen den entscheiden­ den Perspektivwechsel auf die Subjektivität des Erkenntnisvor­ ganges und der Erkenntnisbedingungen vor.339 Es ging aber nicht nur darum, unsere Erkenntnis unhintergehbar als Leistung des erkennen­ den Subjekts zu erfassen, sondern auch darum, Erkenntnis zugleich entweder an eine dem Subjekt vorgegebene Realität oder – falls diese Möglichkeit aus grundsätzlichen Überlegungen verneint wird340 – jedenfalls an Denkformen und Erkenntnisstrukturen zu binden, die unabhängig von dem Einzelnen sind.341 In den Brennpunkt rücken mit diesem Perspektivwechsel die Vermittlungsprozesse zwischen dem erkennenden »Subjekt« und der »Realität«. Unsere Überlegungen müssen sich hierzu (metaphorisch gesprochen) auf die »Programme« richten, welche »unsere Vorstellung der Dinge« – und jetzt nicht nur im Sinne der kantschen Transzendentalphilosophie verstanden – hervorbringen, bilden und durch die sie geprägt werden. Zu untersuchen ist das »Dritte«, das diese Vermittlung über­ nimmt. Dieses »Dritte« – das »Vermittelnde« – hat viele Namen, nach denen sich auch die einzelnen Erkenntnistheorien unterschei­ den. Dafür folgen sogleich Beispiele – für die es mir auch hier wesentlich nur auf die Funktion ankommt, die das »Vermittelnde« für unser Thema der »richtigen« Sachverhaltsermittlung hat.

1. Zur Phänomenologie der Vermittlung Für Kant wird »unsere Vorstellung der Dinge« entscheidend durch die Anschauungsformen von Raum und Zeit und die Kategorien geprägt – Erkenntnisformen, die nach Kant ebenso allgemeingültig wie erfah­ rungsunabhängig (a priori) gelten. Für Ernst Cassirer, den Kantianer und großen deutschen Erkenntnistheoretiker des 20. Jahrhunderts, konnte »Erfassung und Wiedergabe des Wirklichen« dagegen nur als Vermittlung über »selbstgeschaffene intellektuelle Symbole«342 verstanden werden. Solch »symbolische Formen« waren für ihn: die Sprache, der Mythos, die Wissenschaft, die Kunst und auch das Sandkühler/Pätzold 2003, S. 71. Ein wesentliches Ergebnis der kantschen Kritik war, dass man über das »Ding an sich« keine sinnvollen Aussagen machen kann. Exemplarisch ist heute der Streit zwi­ schen dem Radikalen Konstruktivismus und naturwissenschaftlichen Perspektiven. 341 Zu nennen ist etwa Kant, aber auch die analytische Philosophie. 342 E. Cassirer 1953, S. 6/5. 339

340

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II. Die entscheidenden Ansätze: Subjektivität, Vermittlung und Intersubjektivität

Recht. Wesentliche »Medien der Vermittlung« sind so in Cassirers Untersuchungen bereits angesprochen oder angelegt: – – – – –

die Sprache und Sprachphilosophie sowie die Linguistik; die Semiotik, die wir heute u. a. mit den Namen Charles S. Peirce und Umberto Eco verbinden; Mathematik und Logik; Formen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und die Strukturwissenschaften343.

Hegel hatte es in seiner »Phänomenologie des Geistes« (1807) unter­ nommen, die »verschiedenen Gestalten des Geistes als Stationen des Weges« zum objektiven Wissen zu erfassen. Marx war es dann, der – Hegel vom Kopf auf die Füße stellend, wir er es selbst beschrieb – die »selbstgeschaffenen intellektuellen Symbole«, mit denen wir uns die Wirklichkeit erschließen, nicht mehr als »Gestalten des Geis­ tes« begriff, sondern als Spiegelungen von Produktionsverhältnissen. Unabhängig von marxistischen Denktraditionen im engeren Sinn ist mit diesem Grundgedanken des Zusammenhangs von »Basis/Über­ bau«, von Denk- und Anschauungsformen und sozialer Wirklichkeit auch das Grundmuster wissenschaftssoziologischer Ansätze in der Erkenntnistheorie vorgeprägt. Zu nennen sind hier vor allem: 1.

2.

die Thesen über die »gesellschaftliche Konstruktion der Wirk­ lichkeit« von Berger und Luckmann.344 Zentrale Gedanken ver­ dankt deren Wissenssoziologie den Arbeiten von Alfred Schütz über die Strukturen der Lebenswelt. Dessen Ansätze sind wiede­ rum entscheidend, um Phänomene wie Alltagswissen, Alltagstheorien und allgemeine Erfahrungssätze auch theoretisch in den Blick zu bekommen. Sie liegen zwar kaum im Blickfeld der akademischen Erkenntnis­ theorie, spielen aber im gerichtlichen Erkenntnisverfahren eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Wir können nicht nicht interpretieren, war unsere Ausgangsüberle­ gung, und es macht insofern keinen Unterschied, ob wir die Welt mit Hegels »verschiedenen Gestalten des Geistes« erfassen oder mit Zum Zusammenhang von Strukturwissenschaften und Cassirer B. O. Küppers 2000; zu den Grundgedanken der Strukturwissenschaften B. O. Küppers 2008, S. 313 ff. u. passim. 344 Vgl. ihre gleichnamige Schrift von 1966 (5. Aufl. 1977).

343

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Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

unseren Alltagstheorien. Denn »auch im Alltag theoretisieren wir im weitesten Sinne alle und immer«.345 Der berühmte Satz Nietzsches: »Das vernünftige Denken ist eine Interpretation nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können«, trifft deshalb ebenso den Kern des Vermittlungsproblems, wie er andererseits zu eng ist.346 Auch das unvernünftige Denken ist Interpretation nach einem Schema. Diese Allgegenwart von Denk- und Anschauungsformen auf allen Ebenen des Interpretierens hat Hans Lenk zum Thema seiner allgemeinen Theorie der Schemainterpretationen und Interpretati­ onskonstrukte gemacht. Wesentliche Formen der Vermittlung werden dabei aufgegriffen: der Gedanke der symbolischen Formen, die Lehre von den Zeichen, die Sprachspieltheorie Wittgensteins und auch kognitions-wissenschaftliche Ansätze. Der Grundgedanke: Es gibt keine nichtinterpretative Beschreibung der Welt. Wenn wir denken, handeln und wahrnehmen, sind immer Schemata am Werk, die uns den Zugang zur »Welt« bzw. zur »Wirklichkeit« vermitteln. Lenk unterscheidet dazu sechs Stufen der Interpretation: beginnend mit der Ebene der biologisch unveränderlichen oder angelegten primä­ ren Schematisierungen über habituelle Form- und Schemakategori­ sierung, sprachliche Begriffsbildung, »Einordnungsinterpretation« (Klassifikation, Subsumierung) und »Rechtfertigungsinterpretation« bis zur erkenntnistheoretischen Metainterpretation.347 Von unmit­ telbarem Interesse sind hier die Kategorien »Einordnungsinterpreta­ tion« (Klassifikation, Subsumierung) oder »Rechtfertigungsinterpre­ tation« (theoretisch begründende Interpretation).348 Sie beschreiben genau auch wesentliche Momente der juristischen Sachverhaltskon­ stituierung: Tatsachen werden in Schemata und Strukturen einge­ ordnet und es werden »argumentative Zusammenhänge zwischen Einordnungen hergestellt«.349 Das, was Lenk »habituelle Form- und Schemakategorisierung« nennt, ist im Teil A (Kap. 5 I.1.) bereits ausführlich behandelt worden. Dem wissenschaftstheoretischen – nicht zuletzt neurowissen­ schaftlich – orientierten Ansatz Lenks entspricht die in der Wis­ senschaftstheorie gängige These, dass es keine theoriefreie Wahr­ 345 346 347 348 349

H. Lenk 1995, S. 108. H. Lenk 1995, S. 36. H. Lenk 1995 S. 103 ff. Vgl. die Stufen der Interpretation aaO. S. 103. H. Lenk 1995, S. 106 f.

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II. Die entscheidenden Ansätze: Subjektivität, Vermittlung und Intersubjektivität

nehmung gibt. Man spricht von der »Theoriebeladenheit« oder auch »Theoriegeladenheit« (engl. theory-ladenness) von Beobach­ tungen.350 Einstein hat es für die moderne Naturwissenschaft nach den Worten von Heisenberg auf den Nenner gebracht: »Vom prin­ zipiellen Standpunkt aus ist es ganz falsch, eine Theorie nur auf beobachtbare Größen gründen zu wollen. Denn es ist in Wirklichkeit genau umgekehrt. Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann«.351 Auch diese These findet ihre Entsprechung in der juristischen Praxis. Welche Tatsachen in den Blick kommen, auf welche Umstände der Richter sein Augenmerk richtet, unterliegt in doppelter Weise den Mechanismen theoriegeleiteter Beobachtung. Es sind zum einen die Kriterien rechtlicher Relevanz, die darüber entscheiden, welche Tatsa­ chen vom Richter für wesentlich gehalten werden, und es sind zum anderen zumeist Alltagstheorien und Erfahrungswissen, mit denen sie erfasst werden. Die juristische Methodik – fokussiert auf die Arbeit mit Begriffen – hat erkenntnistheoretische Ansätze, die die Grenzen von Sprachphi­ losophie und Hermeneutik überschreiten, bislang kaum wahrgenom­ men, geschweige denn genutzt. Um die kognitiven Prozesse zu verste­ hen, die das gerichtliche Erkenntnisverfahren ausmachen, müssen wir jedoch auch die Phänomene der Vermittlung in den Blick nehmen, die jenseits der Sprache und des hermeneutischen Zirkels liegen. Das gilt insbesondere für den Gedanken, dass Methode auch Erkennen und Reflexion von Mustern ist. Über Mustererkennungen laufen nicht nur wesentliche Vorgänge der Rechtsfindung. Phänomene der Mustererkennung spielen auch bei der Sachverhaltsgenerierung eine entscheidende Rolle. Und das wohl wichtigste Organ in diesen Vermittlungsprozessen ist unser Gedächtnis. Wenn wir z. B. von Mechanismen theoriegeleiteter Beobachtung sprechen, sprechen wir von dessen Vermittlungsfunktion, setzen sie selbstverständlich vor­ aus. »Wir sind Gedächtnis« ist nicht von ungefähr der Titel einer grundlegenden Untersuchung über das Gedächtnis.352 Und es sind nicht zuletzt die persönlichen Erfahrungen, die unser Gedächtnis prägen und so die individuellen Verstehenskontexte ausmachen, Vgl. M. Carrier, Art. Theoriebeladenheit, in EPhWTh. Bd. 4, S. 272 f. Werner Heisenberg 1969/1973, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, 7. Aufl. München, S. 79 f. 352 D. Schacter 1999. 350 351

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Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

mit denen wir wahrnehmen und werten. Es bilden sich die Vorver­ ständnisse, die wiederum je nach unterschiedlichen Umständen zu sehr unterschiedlichen »Ansichten« führen können – bis hin zu Welt­ bildern, die so spezifisch und individuell sind, dass sie intersubjektiv nicht mehr vermittelbar sind.

2. Zur Phänomenologie des erkennenden Subjekts Die Wende zur Subjektivität in der modernen Erkenntnistheorie darf nicht mit einer Wendung zum Subjektivismus verwechselt oder gar gleichgesetzt werden. Gemeinsam ist nur die Grundvorstellung von der Rolle des Subjekts im Erkenntnisprozess, die nicht mehr passivrezeptiv gedacht wird – Wirklichkeit abbildend wie eine Kamera –, sondern als das Subjekt, das – z. B. mit »selbstgeschaffenen intel­ lektuellen Symbolen« – Erkenntnis produziert. Es ist also in einer durchaus aktiven Rolle zu denken. Geht es dagegen um die Art der Bindung des Subjekts in dieser Rolle, um die Einschätzung seiner Freiheiten oder auch seiner Deter­ miniertheit – im Ergebnis also um Wesen und Struktur des Subjekts –, ist ein gemeinsamer Nenner nicht mehr auszumachen. Das Glei­ che gilt folgerichtig für die Objektivität der Erkenntnis oder, anders formuliert, für den Grad der intersubjektiven Verbindlichkeit der Erkenntnis, die wir erwarten können. Beginnen wir auch diese Skizze wieder mit Kant. »Woran liegt es nun«, fragt Kant in dem schon zitierten Vorwort, »daß hier [sc. anders als in der Mathematik und der Naturwissenschaft] noch kein sicherer Weg der Wissenschaft hat gefunden werden können?« Diese Frage enthält das Programm, der Erkenntnistheorie den sicheren Weg der Naturwissenschaft zu weisen. Die Lösung für das Problem hat O. Höffe in seinem Buch über Kants Vernunftkritik auf die nur schein­ bar paradoxe Formel »Objektivität durch Subjektivität« gebracht.353 Denn diese kantsche Subjektivität hat mit dem konkreten Subjekt, mit dem, was wir üblicherweise meinen, wenn wir vom »Ich« sprechen, also mit individuellen Besonderheiten empirischer Subjekte, nichts zu tun. Das »Ich« Kants hat – anders als etwa bei Descartes – keine Sub­ stanz.354 Und auch die Anschauungsformen von Raum und Zeit und 353 354

O. Höffe 2003, S. 42 ff. So G. Patzig 1996, S. 224.

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II. Die entscheidenden Ansätze: Subjektivität, Vermittlung und Intersubjektivität

die Kategorien, mit denen unser Erkenntnisvermögen arbeitet, sind apriorische (erfahrungsunabhängige) Strukturen. Sie gelten univer­ sal, sind weder kultur- noch epochenabhängig. »Sie entstammen«, um nochmals Höffe zu zitieren, »einer übersubjektiven Subjektivität«.355 Dieser »transzendentalphilosophische« Ansatz der »Kritik der reinen Vernunft« – nach einem Wort Schopenhauers das »wichtigste Buch, das jemals in Europa geschrieben wurde« – prägt insbesondere in Deutschland noch heute Grundpositionen der erkenntnistheoreti­ schen Diskussion. Folgt man diesem Ansatz, ergibt sich daraus schnell eine grundsätzliche Ablehnung aller Versuche, erkenntnistheoreti­ schen Fragestellungen mit empirischen Untersuchungen und Metho­ den beizukommen. Das gilt für die evolutionäre Erkenntnistheorie ebenso wie für die Psychoanalyse und für die Wissenssoziologie nicht anders als für die Kognitionswissenschaften356. Sie trifft dann der Vor­ wurf des »Naturalismus« bzw. Kategorienfehler nicht zu sehen. – Im Hintergrund wirkt dabei sicher auch ein fast strukturell erscheinendes Unverständnis der Geisteswissenschaften für empirische Ansätze, das sich etwa auch darin äußert, methodische Fragen immer wieder mit rein philosophischen, nicht aber mit kognitionswissenschaftlichen Ansätzen zu diskutieren. Wir werden uns auf den erkenntnistheoretischen Grundsatz­ streit über den jeweiligen Geltungsbereich zwischen Transzendental­ philosophie und empirischer Erkenntnistheorie hier nicht einlassen können, da dies den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde, und es mag im Übrigen offen bleiben, inwieweit dieser Streit heute überhaupt noch fruchtbar ist. Sicher scheint mir aber, dass man auf Erkenntnisse u. a. der empirischen Psychologie, der Wissenssoziolo­ gie, der Neurowissenschaften und auf kognitionswissenschaftliche Beschreibungssysteme nicht verzichten darf, wenn man den Mecha­ nismen richterlicher Erkenntnis und Entscheidungsstrukturen auf die Spur kommen will. Phänomene wie richterliche Routinen und richter­ licher Habitus (Kap. 5 und 6), Glaubwürdigkeitsgutachten, Probleme der Rechts- und Tatsachenerfassung im gerichtlichen Verfahren und nicht zuletzt Fragen der Mustererkennung sind – auch theoretisch – nicht anders zu erschließen.

355 356

O. Höffe 2003, S. 45. Vgl. hierzu etwa Höffe 2003, S. 145, 165 ff.; Patzig 1996, S. 227 f.

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Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

3. Intersubjektivität Eine Erkenntnis, die in dem Subjekt entsteht und dort auch endet, die keine Brücke zum anderen hat und so keine Möglichkeit, intersubjek­ tiv geteilte Erkenntnis zu werden – welchen Sinn hätte diese Erkennt­ nis? Wir müssen also das »vermittelnde Dritte« in der Weise denken, dass es nicht nur zwischen »Welt« und »Ich« vermittelt, sondern auch zwischen den Subjekten. Erkenntnis muss bei all ihrer Subjektivität als »objektiv« wahrgenommen werden können. Konstruierbar ist eine derartige Intersubjektivität auf zwei Wegen: 1.

2.

Entweder man geht mit Kant von apriorischen Strukturen des Erkenntnisvermögens aus bzw. mit einer evolutionären Erkennt­ nistheorie von genetisch einheitlich geprägten Anschauungsfor­ men und Kategorien, die deswegen bei allen Menschen grund­ sätzlich gleich sind, oder es gilt die Annahme, dass diese Anschauungsformen und Kate­ gorien, die Begriffe, Schemata, Zeichen oder Muster sozial eingespielt sind. Dann wären sie Teil der »gesellschaftliche[n] Konstruktion der Wirklichkeit«.

Wenn Erkenntnistheorien die Möglichkeiten von Erkenntnis in den oben unter 1. beschriebenen Phänomenen der Vermittlung reflektie­ ren, sind Intersubjektivität und in diesem Sinne auch Objektivität also immer mitgedacht. Nachzugehen ist dann freilich einer durch die Blickrichtung veränderten Fragestellung: Wie, auf welche Art und Weise, werden die genannten Schemata, Denkmuster und Anschau­ ungsformen, die uns die »Welt« vermitteln, gemeinsam; wie kommt es wenigstens zu gemeinsamen Schnittmengen, so dass wir die Welt der Anderen in unseren Schablonen wiedererkennen können? Es geht also um die Mechanismen dieser intersubjektiven Ver­ mittlung und soweit diese für die Methodenlehre eine unmittelbare Bedeutung haben, sind sie in unseren bisherigen Überlegungen auch bereits thematisiert oder wenigstens angesprochen worden, nämlich am Beispiel des Sprachspiels. An diesem Phänomen wird zugleich erklärbar, wie in einem umfassenden Sinn »Kultur« und »Sprache« zwischen »Ich« und den »Anderen« und der »Welt« vermitteln. Von »Interpretationsgemeinschaften« (Kap. 8 II. 1.) kann man nur sprechen, sofern sie »Sprache« und »Sprachspiele« gemeinsam haben. Sie alle sind notwendige Elemente der Vermittlung – stellen gleich­ sam die »gemeinsamen Schnittmengen« zur Verfügung, die nicht nur

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II. Die entscheidenden Ansätze: Subjektivität, Vermittlung und Intersubjektivität

das Verstehen und Kommunizieren von Normtexten, sondern auch von Mustern und theoretischen Vorverständnissen zur Bedingung haben. Das ist bereits besprochen oder wird noch ausführlich zu behandeln sein.357 Einer Erläuterung bedarf aber schon an dieser Stelle die Rede vom »Denk- und Argumentationsraum« – ein Bild, mit dem kein erkenntnistheoretisches Problem auf den Begriff gebracht, wohl aber ein solcher Zusammenhang veranschaulicht werden soll. Dieses Bild soll die Vielfalt von Sprache, Schemata, Mustern, positiven und nega­ tiven Prägungen durch Lebens- und Berufserfahrungen vorstellbar machen, die wirksam sind, wenn das »Ich« wahrnimmt, erkennt, denkt. Soweit ist es »mein« Denkraum. Als zoon politikon aber, als ein auf Gemeinschaft angelegtes Lebewesen teilt das »Ich« die als Phäno­ mene der Vermittlung beschriebenen Lebens- und Anschauungsfor­ men, Schemata, Muster und vor allem auch die Sprache mit anderen. Es sind zwar immer nur Schnittmengen, aber diese gemeinsamen Schnittmengen sind die Voraussetzung dafür, dass »Erkenntnis« intersubjektiv vermittelbar ist, kommunizierbar wird.358 Für eine Methodenlehre ist die Hypothese eines gemeinsamen »Denk- und Argumentationsraums« geradezu Grundbedingung, um überhaupt über Methode sprechen zu können. Eine nur individuelle Methode ist so unsinnig wie eine individuelle Privatsprache. Um den zuvor (Kap. 5 II. u. III.; Kap. 6 IV.) formulierten Gedanken zu den Phänomenen sozialer Kognition zu wiederholen: Die Mecha­ nismen individueller Kognition verzahnen sich mit Mechanismen sozialer Kognition. Bei allen individuellen Unterschieden zwischen den einzelnen Richterinnen und Richtern im Denken, Handeln und in den Einstellungen gibt es charakteristische gemeinsame Routinen, spezielle kommunikative Konventionen, gemeinsame Vorstellungen über relevante und irrelevante Informationen etc. Es funktioniert, weil man über einen »gemeinsamen begrifflichen Hintergrund für eine kooperative Kommunikation«359 verfügt. Und über eine gemeinsame Methode. So agiert der Richter in einem Denk- und Argumenta­ tionsraum, der durchaus nicht nur sein eigener, sondern ein pro­ Zur »Sprache« siehe Kap. 17, zur Mustererkennung Teil E. Nicht zu verschweigen ist allerdings: Diese Schnittmengen sind nicht selten viel kleiner, als man zumeist annimmt. Deshalb misslingt Kommunikation viel häufiger, als man es wahrhaben will. 359 M. Tomasello 2009, S. 85 ff. 357

358

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Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

fessioneller, gemeinsamer Denk- und Argumentationsraum ist. Andererseits ist wiederum zu differenzieren, etwa zwischen Gerichtszweigen und Instanzen. Der Arbeitsrichter und der Richter am BVerwG agieren zugleich in ihren speziellen, eigenen Denk- und Argumentationsräumen.360

III. Die entscheidenden Folgerungen: Konstruktivität, Kohärenz und Akzeptanz Die Subjekt-Abhängigkeit der Erkenntnis bedeutet nicht nur die Perspektivität, sondern auch die Konstruktivität aller Formen des Wahrnehmens und Erkennens. Wenn aber Realität nicht mehr mit Selbstverständlichkeit als strukturadäquate Abbildung von Außen­ welt in unseren Vorstellungen repräsentiert ist, sondern »konstruiert« wird, stellt sich sofort und zwangsläufig die Frage nach den Kriterien, mit deren Hilfe wir uns der »Richtigkeit« unserer Erkenntnisse und Wahrnehmungen versichern können. Wie in den Ausgangsüberle­ gungen schon beschrieben, ist das entscheidende Kriterium dann das der Kohärenz, das wiederum der Ergänzung durch Überlegungen zur Akzeptanz bedarf.

1. Konstruktivität Wenn von »Konstruktion«, »Konstruktivismus« oder »Konstruktivi­ tät« die Rede ist, schließt das keineswegs Beliebigkeit ein. Auch der Maschinen- oder Brückenbauer konstruiert seine Maschine oder seine Brücke ja nicht beliebig. Wer als Ingenieur oder Mathematiker konstruiert, tut das allerdings bewusst. Das Erkennen und Wahrneh­ men über Schemata, Denkformen, Begriffe, Alltagstheorien, Muster etc. vollzieht sich dagegen meist »einfach nur so«, nicht bewusst konstruierend. Es geschieht beispielsweise, wie es Kleist mit dem Titel seines berühmten Essays beschreibt, als »allmähliche Verferti­ gung der Gedanken beim Reden«. Damit ist auch der eine Grund Die Prozessparteien müssen und können in diesen Argumentationsräumen nicht »zu Hause« sein; zur Problematik des Gerichtssaals als Kommunikationsraum vgl. Kap. 17 I. 360

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III. Die entscheidenden Folgerungen: Konstruktivität, Kohärenz und Akzeptanz

genannt, warum ich im Anschluss an Cassirer und im unmittelbaren erkenntnistheoretischen Zusammenhang den Ausdruck Konstrukti­ vität verwende und nicht von »Konstruktion« spreche.361 Der andere Grund liegt darin, dass der »Konstruktivismus« – insbesondere in Gestalt des »Radikalen Konstruktivismus«362 – üblicherweise nur spezielle erkenntnistheoretische Ansätze bezeichnet, während mit »Konstruktivität« generell die konstruierende Funktion des erken­ nenden Subjekts erfasst werden soll. Das Konstruktive als gemeinsames Element schließt es gerade nicht aus, dass das erkennende Subjekt, je nach den sehr unterschied­ lichen erkenntnistheoretischen Ansätzen mit sehr unterschiedlich stringenten »Programmen« arbeitet. Da im transzendentalphiloso­ phischen Ansatz Anschauungsformen und Kategorien allgemeingül­ tig sind, folgt aus ihnen auch keine Varianz in den Ergebnissen, soweit nur die Randbedingungen gleich sind. Sie garantieren gleichsam Objektivität. Das Grundmodell ist hier die naturwissenschaftliche Erkenntnis, die durch das Experiment jederzeit und an jedem Ort bestätigend wiederholbar sein muss. Und diesem Modell wird auch eine Sachverhaltsfeststellung folgen müssen, wenn eine bestimmte Tatsache naturwissenschaftlich festgestellt werden konnte. Wenn dagegen im Gerichtssaal unabhängig von solchen Tatsachen darüber gestritten wird, »wie es wirklich gewesen ist«, bleiben, wie wir gese­ hen haben, die Feststellungen des Richters immer abhängig von der prozessualen Situation. Und die Alltagstheorien, die zur Konstitution des Sachverhaltes herangezogen werden, werden immer auch von den Erfahrungshorizonten der Richter abhängig sein.

2. Kohärenz Gilt es, eine Aussage, die auf einer Ableitung aus eindeutigen, nicht anzweifelbaren Annahmen (Axiomen) beruht, auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen, kann das Ergebnis nur eindeutig sein. Entweder Wenn im Text von Sachverhaltskonstruktion, Konstruktion des Sachverhalts etc. die Rede ist, dann aus sprachlichen Gründen. 362 Als »Neokonstruktivismus« verkennt der »radikale Konstruktivismus« mit seiner Reduktion auf die neuronalen Prozesse die Vielschichtigkeit der oben beschriebenen Einbindungen; sie sind nur mit einem »neuro-kulturellen« Ansatz zu fassen, vgl. Strauch 2005, S. 483, 485 ff. Zur grundsätzlichen Kritik siehe T. Fuchs 2010, S. 182 f. und bereits Einl. V. 361

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Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

die Deduktion ist logisch richtig, dann ist es auch das Ergebnis; ande­ renfalls ist es falsch. Der »Sachverhalt« aber ist ein Konstrukt und wird nicht logisch abgeleitet. Schon eher ist der Richter hier mit einem Kunstwissenschaftler vergleichbar, der ein Bild – ohne das Original zu kennen – daraufhin zu untersuchen und zu beschreiben hat, ob es das Original ist oder doch wenigstens zu Recht dem Meister M zuge­ schrieben werden kann. Ihm bleiben nur bildimmanente Kriterien oder Indizien, die er irgendwie aus relevanten Kontexten gewinnen muss.

a) Kohärenz und die »Wahrheitsfrage« Der Richter befindet sich bei der Sachverhaltsermittlung mithin in aller Regel in der gleichen Situation, in der auch die erkenntnistheo­ retische Diskussion steht, wenn sie weder ein System zu unterstellen vermag, aus dem sich die Wahrheit logisch ableiten lässt, noch die Wahrheitsfindung als Abbildungsleistung qualifizieren kann. Damit rücken die Maßstäbe der »Kohärenz« in den Mittelpunkt der Wahrheitsfrage, d. h., wir können unmittelbar an die theoretischen Ausführungen im Kohärenzkapitel (Teil B) anknüpfen: Es sind die drei Elemente der Kohärenz – Widerspruchsfreiheit, Umfassendheit und Stimmigkeit des Zusammenhangs –, die auch für die Frage, wann eine Aussage, eine Beweiswürdigung oder die Feststellung einer Tatsache »richtig« ist, die entscheidenden Beurteilungskriterien liefern. Neben Widerspruchsfreiheit und Umfassendheit gilt also ins­ besondere: Sie müssen »stimmig« sein, müssen sich »einfügen«. Wie sich bei dem Gedankenspiel mit dem »roten Ball« und dem zur »Nullhypothese« Gesagten gezeigt hat, kommt es etwa bei der Zeugenaussage genau darauf an, ob »man sie eingliedern kann«. Nur wenn sie in das »ganze bisherige Aussagesystem« passt, kann man von ihrer Richtigkeit ausgehen. Lässt sie sich nicht eingliedern, steht die Beweiswürdigung vor der Wahl: Entweder ist zu begründen, warum der Umstand unbeachtlich ist, oder man muss eben das »ganze bisherige Aussagesystem« abändern, »bis sich die neue Aussage eingliedern lässt«. D. h., das Gericht muss die Tatsachen dann zu einer anderen Geschichte, einem veränderten Sachverhalt neu konfigurie­ ren. »Stimmigkeit« hatten wir mit der Formel bestimmt: »Wenn p q unterstützt, kann man behaupten p und q seien miteinander kohä­

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III. Die entscheidenden Folgerungen: Konstruktivität, Kohärenz und Akzeptanz

rent.«363 P unterstützt q, bedeutet dabei, »dass p ein guter Grund für q ist«.364 – Das Kernproblem der kohärenztheoretischen Beurteilung liegt damit in der Qualität von »p«. Ist »p« ein Axiom, eine unbezwei­ felbare Feststellung oder ein naturwissenschaftliches Gesetz, sind »p« und »q« miteinander kohärent und es überzeugt auch das Ergebnis. Hat »p« diese Qualität nicht, muss es seinerseits begründet werden – eben so lange, bis es als »guter Grund« anerkannt wird. Aus der Frage, ob ein Zusammenhang kohärent ist, wird somit die Frage nach der Akzeptanz der Prämisse zum entscheidenden Problem. An der Akzeptanz der Prämissen entscheidet sich deshalb letztlich auch, ob die Sachverhaltsfeststellungen und Beweiswürdigungen überzeu­ gen und als »richtig« akzeptiert werden können oder nicht.

3. Akzeptanz der Prämissen – Wissenschaft und Alltagstheorien Auch die grundsätzlichen Probleme, die sich unter dem Stichwort »Akzeptanz« für die Sachverhaltskonstruktion stellen, wurden bereits behandelt. Wir können also unmittelbar mit der konkreten Ausgangs­ frage beginnen: Wann haben Sätze, mit denen Sachverhaltsfeststel­ lungen begründet werden, als Begründungssätze eine hinreichende Akzeptanz. Welche Beurteilungsmaßstäbe haben wir dafür? – Tra­ gende Sätze, die die Konstruktion eines Sachverhaltes kohärent hal­ ten, sind hier vornehmlich: Artikel I naturwissenschaftliche Gesetze; Artikel II

wissenschaftlich begründete Zusammenhänge, Theorien;

Artikel III

Alltagstheorien, die auf Alltagserfahrungen beruhen und sowohl mehr oder minder allgemeine Erfahrungssätze sein können wie auch sehr individuelle Erfahrungen der Richter, die diese für mehr oder minder allgemeine halten.

363 364

Peczenik 1983, S. 176. Peczenik 1983, S. 170; siehe Kap. 8 VII. 2.

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a) Allgemeine Erfahrungssätze, Alltagstheorien und individuelle Erfahrungssätze Mit der Reihenfolge, in der diese Typen von Begründungsmöglichkei­ ten genannt sind, ist zugleich die Skala für die Akzeptanzbewertung vorgegeben, von der man grundsätzlich ausgehen kann, ohne sich im konkreten Fall noch über »Akzeptanz« streiten zu müssen. Wenn eine Sachverhaltsfeststellung naturwissenschaftlich abgesichert ist, wird sie akzeptiert. Es sind dann eher die Zweifel an diesen Feststellungen, die Kopfschütteln auslösen und nicht akzeptiert werden. Auf der anderen Seite muss eine vom Gericht verwendete Alltagstheorie, ein Erfahrungssatz akzeptiert sein oder plausibel begründet werden. (1.) Akzeptiert sind – schon per definitionem – die »allgemei­ nen Erfahrungssätze« im Sinne des Revisionsrechts. Wenn die tat­ richterliche Auslegung im Revisionsverfahren nur der eingeschränk­ ten Überprüfung darauf unterliegt, »ob gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verletzt sind«,365 dann sind dies deshalb geeignete Maßstäbe, weil man sich über sie nicht wie über das Vorliegen von Tatsachen und deren Wertung sinnvoll streiten kann.366 Es sind »jedermann zugäng­ liche Sätze, die nach der allgemeinen Erfahrung unzweifelhaft gelten und durch keine Ausnahme durchbrochen sind«.367 Alle anderen Formen der »Alltagstheorien« und »Erfahrungstatsachen« bedürfen, so scheint es zunächst, »guter Gründe«. – Aber es gehört auch zum Paradoxen des Alltagswissens, dass es, – »weil es in einer Welt der Selbstverständlichkeiten untergebracht ist« – in der Regel »inexpli­ zit« ist.368 Nur soweit es nicht geteilt wird, strittig ist, erwartet man »gute Gründe«, sonst sichert ihm seine Herkunft aus einem gemein­ samen Alltag auch seine Akzeptanz. Das bedarf näherer Begründung und Differenzierung: (2.) Was haben wir unter »Alltagstheorien« zu verstehen und wie funktionieren sie? Eine Antwort findet man, wenn man ihren Entstehungsgrund reflektiert. Er liegt in der Lebenserfahrung, an BGHZ 135, 269, 273. Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner/Eichberger VwGO § 137 Rn. 31: Allge­ meine Erfahrungssätze sind nur »solche Sätze, die nach der allgemeinen Erfahrung unzweifelhaft und ausnahmslos gelten«; dort und unter Rn. 176 auch zur Abgrenzung von speziellen Erfahrungssätzen und Erfahrungstatsachen. 367 BVerwGE 67, 83–84. 368 Soeffner 2004, S. 25. 365

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III. Die entscheidenden Folgerungen: Konstruktivität, Kohärenz und Akzeptanz

die auch die Rechtsprechung immer wieder anknüpft, wenn es um Beweiswürdigung geht (näher Kap. 13 III. 3.). Es ist das Wissen, das in der Lebenswelt des Alltags entsteht und aus dem wir die Anschauungen, Muster, Erkenntnis- und Handlungsschemata gewin­ nen, die uns zugleich unsere »Welt« und das Verstehen Anderer vermitteln. Der Alltag ist unser primärer Interaktionsraum und prägt so unseren »unmittelbare[n] Anpassungs-, Handlungs-, Planungsund Erlebnisraum«369. Um es auch hier mit dem oben erläuterten Bild des Denk- und Argumentationsraumes zu verdeutlichen: Wir können immer von einer (mehr oder minder großen) gemeinsamen Schnittmenge in einem gemeinsamen Denk- und Argumentationsraum ausgehen. So wird auch verständlich, wie individuelles Wissen zum »objektiven« Wissen wird370 und wir zu der »Intersubjektivität der fraglos gegebenen Welt« kommen, wie es Alfred Schütz und Thomas Luckmann formuliert haben.371 Aus einer veränderten Perspektive stoßen wir mit diesen Fest­ stellungen auf ein Phänomen, das wir bei der Analyse richterlichen Arbeitens bereits unter den Stichworten »Habitus«, »Routinen« und institutionelle Einbindung als Erscheinungsformen sozialer Kogni­ tion beschrieben haben (Kap. 5). Auch der »Berufs-Alltag« des Rich­ ters ist »Alltag« im Sinne eines »kognitiven Stils der Praxis«.372 Aus beiden »Alltags-Welten« bilden sich so – mit spezifischen Erfahrun­ gen – die Alltagstheorien und Erfahrungssätze, mit denen Richter arbeiten. Dazu zählen etwa die Vorstellungen über typische Gesche­ hensabläufe, Muster zu Glaubwürdigkeitskriterien, Verhaltenserwar­ tungen, Vorstellungen, wie man sich in bestimmten Situationen oder in bestimmten Rollen verhält oder nicht verhält, und alle anderen Arten von Typenbildungen, mit denen Menschen im Alltag (und in der Wissenschaft) die »Welt« in eine Ordnung bringen wollen.373 (3.) Doch die Welt ist pluralistisch, die Gesellschaft vielfach frag­ mentarisiert und somit liegen zwischen einer richterlichen »BerufsAlltags-Welt« und den Erfahrungen anderer oft Welten. Auch die richterlichen Erfahrungssätze sind durch ihren Erfahrungshorizont naturgemäß begrenzt. Es gibt dann für entscheidende Begründungs­ Soeffner 2004, S. 18. A. Schütz und T. Luckmann 2003, S. 367 ff. 371 A. Schütz und T. Luckmann 2003, S. 98. 372 Soeffner 2004, S. 23. 373 Zur erkenntnistheoretischen Seite näher oben II. 1.; die Rolle, die diese Mechanis­ men bei der Sachverhaltskonstruktion spielen, ist zentrales Thema der Kap. 13 u. 14.

369

370

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Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

sätze keine gemeinsamen Schnittmengen, die Akzeptanz vermitteln könnten. Zur Illustration ein protokollierter Ausschnitt aus einer Vernehmung in dem Strafverfahren gegen den Wettermoderator Kachelmann, das 2011 ein weidlich ausgemünztes Presseereignis war: Richter Seidling: »Was hat Sie veranlasst, nicht vom dringenden Tatver­ dacht abzurücken?« Haftrichter: »Seine Schilderung zum Ablauf des Abends war mir nicht einleuchtend.« Kachelmann lauscht mit dem Kopf in den Händen. Der Haftrichter weiter: »Ich ging davon aus, dass jemand, der einen einer solchen Straftat bezichtigt, wahrheitsgemäße Angaben macht. Es gab Bilder von den Verletzungen der Frau. Ich habe es ausgeschlossen, dass sich jemand diese Verletzungen selbst zufügt.« Kachelmann faltet die Hände. »Mir war auch nicht einleuchtend, dass eine Frau erst freiwillig den Geschlechtsverkehr ausführt und sich dann zur Trennung bespricht. Ich kann nicht sagen, ob damals schon ein Gutachten zu DNA-Spuren am Messer vorlag. Jörg Kachelmann gab spontan an, weder das Messer noch andere Gegenstände angefasst zu haben bei der Essenszuberei­ tung. Er war ja schon einige Tage in Haft, er hat sich gut überlegen können, was er sagt.«

Das Beispiel374 zeigt, wie leicht ein irgendwie auf »Lebenserfahrung« gestützter Begründungssatz – hier: »Ich ging davon aus, dass jemand, der einen einer solchen Straftat bezichtigt, wahrheitsgemäße Angaben macht« – Inhalte annehmen kann, die weder intellektuell noch empi­ risch irgendwie belastbar sind. Ob man im konkreten Fall aus dem Umstand, dass erst das OLG der Haftbeschwerde stattgab, schließen kann, dass es zwischen Haftrichter und Strafkammer eine »gemein­ same Schnittmenge« hinsichtlich der angewandten Erfahrungssätze gab, kann dahinstehen. In dem Mechanismus der Verwendung von Alltagstheorien innerhalb einer »Interpretationsgemeinschaft« – hier der Juristen – liegt jedoch immer die Gefahr, dass sie als Teil einer gemeinsamen Schnittmenge selbstverständlich werden, und man es selbst nicht mehr erkennen kann, dass sie Unsinn sind.

374

Entnommen einem Bericht der Bild-Zeitung v. 29.09.2010 – Internetausgabe.

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III. Die entscheidenden Folgerungen: Konstruktivität, Kohärenz und Akzeptanz

b) Akzeptanz zwischen Alltagstheorien und wissenschaftlichem Sachverstand Alltagstheorien und die auf ihnen aufbauenden Erfahrungssätze sind also keineswegs immer »gute Gründe«. Wie in jedem Alltag sind sie jedoch auch im »Justiz-Alltag« unverzichtbar. Dieses Dilemma werden wir letztlich nicht auflösen können. Es gilt aber, die Analyse ihrer Mechanismen zu vertiefen und so zu versuchen, wenigstens weitere Rationalitätskriterien zu gewinnen. Während wir bisher vor allem die Funktionsweise auf der sozialen Ebene betrachtet haben, ist es für eine solche Analyse wichtig, sich zunächst klar zu machen, welche logische Struktur solche Erfahrungssätze haben. Einem Ansatz folgend, den Rüßmann für die Beweislehre entwickelt hat, ist hier von einer Unterscheidung zwischen deterministischen und statistischen (prohabilistischen) Erfahrungssätzen auszugehen.375 Deterministisch ist ein Erfahrungssatz dann, wenn sich aus den Prämissen, die er aufstellt, ein sicherer Schluss auf eine bestimmte Sachverhaltsfeststellung ergibt. Wir haben es mit einer Wenn–dann– Struktur zu tun. Typisch ist das Naturgesetz. Bei statistischen Erfah­ rungssätzen ermöglichen die Tatsachen, genauer, die Indizien (I), von denen man ausgehen kann, dem Richter dagegen keineswegs einen sicheren Schluss auf eine bestimmte Sachverhaltsfeststellung, die zu ermittelnde Tatsache (T). Die Wenn-dann-Verknüpfung bedeutet hier: wenn I dann T (nur) mit einer Wahrscheinlichkeit X. Es kann also auch ganz anders sein. Der Rationalitätsgewinn dieser Differenzierung lässt sich bereits an dem Beispiel des oben zitierten Satzes – »Ich ging davon aus, dass jemand, der einen einer solchen Straftat bezichtigt, wahrheits­ gemäße Angaben macht« – deutlich machen. Dieser Satz ist wohl als statistischer Erfahrungssatz gemeint. Die Formulierung »dass jemand, der ...« könnte freilich auch als Wenn-dann-Verknüpfung verstanden werden und der Begründung auf diese Weise den Anstrich einer zwingenden Schlussfolgerung geben. Das Argument nutzt so die verdunkelnde Kraft, die im Alltagswissen deshalb steckt, »weil es in einer Welt der Selbstverständlichkeiten untergebracht ist«, und aus diesem Grund »inexplizit« bleiben kann.376 In dem Moment, in dem Alltagswissen nicht akzeptiert ist oder jedenfalls nicht mehr mit Selbstverständlichkeit hingenommen wird, 375 376

H. Rüßmann 2003b, S. 372 ff. Soeffner 2004, S. 25.

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Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

muss der Richter jedoch explizit machen, ob er seinen »Erfahrungs­ satz« als Grundlage für eine zwingende Schlussfolgerung oder nur als Wahrscheinlichkeitsaussage verstanden wissen will. Sowohl in der einen als auch in der anderen Variante hätten wir jedoch – um jetzt zu verallgemeinern – bereits den engeren Bereich einer »Alltagstheo­ rie« verlassen und wären einen entscheidende Schritt weiter: –



Haben wir es mit einer zwingenden Schlussfolgerung zu tun, muss es eine entsprechende, empirisch nachgewiesene Gesetz­ mäßigkeit geben. Im Zweifelsfall wäre die Frage durch einen Sachverständigen zu klären. Geht es um eine Wahrscheinlichkeitsannahme, stellt sich nicht nur die Frage nach entsprechenden empirischen Befunden für eine Wenn-dann-Verknüpfung, sondern auch die nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit.

Hätte der Haftrichter anhand dieser Kategorien seinen Begründungs­ satz explizieren müssen, wären ihm wahrscheinlich an seinem »Erfah­ rungssatz« selbst Zweifel gekommen.

c) Orientierungssätze zur Akzeptanzproblematik Konkret werden wir uns mit der Bedeutung von Erfahrungstatsa­ chen, Erfahrungssätzen, Alltagswissen und Alltagstheorien für die richterliche Sachverhaltsfeststellung in den beiden nächsten Kapiteln auseinanderzusetzen haben. Um die Fragen der Akzeptanz, die mit diesen Sätzen, mit denen die Richter ihre Feststellungen begründen, immer wieder verbunden sind, aber nicht jeweils neu thematisieren zu müssen, soll bereits hier die Akzeptanzproblematik im Sinne von »Merkposten« generalisierend zusammengefasst werden. 1.

Die Problematik von Alltagstheorien und Erfahrungssätzen lässt sich prinzipiell nicht auflösen. Sie bleibt bestehen. Wohl aber können – als Orientierungssätze für die richterliche Praxis – einige grundsätzliche Fehlerquellen markiert werden:



Unsere Annahmen über Wahrscheinlichkeiten unterliegen, wie die Kognitionspsychologie gezeigt hat, oft typischen Fehlein­ schätzungen. Dazu gehört einmal der sogenannte Monte-CarloEffekt, d. h., man unterstellt ein »Gesetz des Mittelwertes«, nach dem ein Ereignis mit größerer Wahrscheinlichkeit eintreten

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III. Die entscheidenden Folgerungen: Konstruktivität, Kohärenz und Akzeptanz



werde, wenn dieses längere Zeit nicht eingetreten ist (der Trug­ schluss, dass etwa beim Münzenwerfen die Frequenz KZKZZK wahrscheinlicher sei als die Frequenz KKKKKK, obwohl beide gleich wahrscheinlich sind, oder die Vorstellung, dass man mit Wahrscheinlichkeit damit rechnen kann, dass beim Roulett jetzt »rot« gewinnt, nachdem die Kugel mehrfach hintereinander auf »schwarz« liegen geblieben ist).377 Zum anderen werden bei der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten oft die Grundraten, also die Ausgangshypothese übersehen und so eine Wahrscheinlich­ keit viel zu hoch eingeschätzt.378 Die Übergänge von Erfahrungssätzen, subjektiven Theorien379 und individuellen Deutungsmustern zu Alltagstheorien und Vorurteilen sind fließend. Wirklich greifbar sind sie meist nicht. Vor allem macht sich der Einzelne oft nicht klar – und kann es auch nicht –, ob es sich nun konkret um Alltagstheorien handelt, die auch von anderen akzeptiert werden können, oder doch nur um individuelle Erfahrungen, von deren intersub­ jektiver Gültigkeit nur der Richter selbst überzeugt ist. Persön­ liche Einstellungen und Erfahrungen werden verallgemeinert und unterliegen nicht zuletzt Fehleinschätzungen, weil auch hier nicht tatsächliche Häufigkeiten oder gar statistische Vergleichs­ zahlen die entscheidende Rolle spielen, sondern die Intensität und eigene Betroffenheit, die dafür maßgebend sind, inwieweit und wie tief sich uns eine Erfahrung einprägt.

Da derartige Fehleinschätzungen in der menschlichen Kognition angelegt sind, sind auch die Korrekturmöglichkeiten begrenzt. Ein wichtiges institutionelles Korrektiv gegen die Überschätzung individueller Erfahrungswerte liegt im Spruchkörperprinzip; es ist Aufgabe der Kollegen, zu überprüfen, ob der »Erfahrungssatz« wirk­ lich trägt. Ein anderes ist verfahrensrechtlicher Natur: Erfahrungssätze und Alltagstheorien, die das Gericht, etwa zur Rekonstruktion von Kausalverläufen, zur Konstituierung des Sachverhaltes benutzen will,

Vgl. dazu J. R. Anderson 2001, S. 342 ff. Vgl. das Beispiel bei J. R. Anderson 2001, S. 327. 379 Unter »subjektiven Theorien« kann man die Theorien und Modelle verstehen, mit denen der Mensch im Alltag versucht, eben diese Alltagswelt, gestützt auf persönliches Wissen und die eigenen Erfahrungen, zu erfassen und »abzubilden«. 377

378

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Kapitel 12: Einordnung in die erkenntnistheoretische Diskussion

sind den Parteien mit der Gelegenheit zur Stellungnahme offenzule­ gen.380 1.

Stützt sich das Gericht für eine Sachverhaltsfeststellung auf Annahmen, die wissenschaftlich abgesichert sind, stellt sich die Frage der Akzeptanz in der Regel nicht. Will sich das Gericht dagegen auf wissenschaftlich begründete Kausalzusam­ menhänge stützen, die auf theoretischen Ansätzen beruhen, die in der Wissenschaft umstritten sind, oder stützen sich Prozessbeteiligte auf solche Ansätze, steht auch das Gericht vor Akzeptanzproblemen. Solche können sich für die gerichtliche Praxis insbesondere bei folgenden Fallkonstellationen ergeben:



Es werden Zusammenhänge behauptet, die wissenschaftlich (noch) ungeklärt sind. Beispiele waren etwa Ansprüche auf Schutz vor Immissionen mit dem Argument erheblicher Gesundheitsgefährdungen (Lärmschutz381, Elektrosmog382). Beweisaufnahmen können hier in der Regel keine Lösung brin­ gen; ein Gericht kann keine Forschungsprogramme initiieren. Eine bislang als gesichert angesehene wissenschaftliche Position verliert an Akzeptanz. Worauf soll sich das Gericht stützen? (Beispiel etwa: Schulmedizin vs. Alternativmedizin). Fälle, in denen das Gericht vor die Frage gestellt ist, ob es sich für seine Wertung (noch) auf Alltagswissen berufen darf oder ihm nur ein Sachverständigengutachten eine hinreichende Grund­ lage bieten kann. Bisher akzeptierte Annahmen und Erfahrungs­ werte können oder sollten nicht mehr genutzt werden, weil sie durch inzwischen vorhandenes Sachwissen über technische Entwicklungen (etwa zur Unfallverhinderung in Situationen der Gefährdungshaftung) oder durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse383 überholt, modifiziert oder jedenfalls auf andere Grundlagen gestellt sind.

– –

Vgl. etwa BVerwGE 67, 83–84. BVerwGE 31, 15: Urt. V. 05.11.1968 zur Lärmbelästigung durch eine Gastwirt­ schaft bzw. Kegelbahn. 382 Vgl. aus den Anfängen der Diskussion den Beschluss des VGH Kassel v. 26.11.1997 – 14 UE 4076/97 –, juris. 383 Ein Beispiel sind die Erkenntnisse, die wir inzwischen über die Funktionsweise des Gedächtnisses haben, mit denen aber richterliche Alltagsvorstellungen vielfach nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen sind und die z. B. zur Vorgabe geführt haben, für 380 381

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III. Die entscheidenden Folgerungen: Konstruktivität, Kohärenz und Akzeptanz

Generalisierend und in allgemeine Regeln gefasst, kann der gebotene Umgang mit den methodischen und prozessualen Problemen, die sich dann stellen, wenn sich durch wissenschaftliche – und auch gesellschaftliche – Diskussionen die Grenzziehungen zwischen All­ tagstheorien, Erfahrungssätzen und wissenschaftlichen Erkenntnis­ sen verschieben und strittig werden, allerdings kaum beschrieben werden. Lösungen lassen sich hier nur aus dem unmittelbaren Zusam­ menhang zwischen den konkreten Sachproblemen und den konkreten Rechtsproblemen des jeweiligen Rechtsgebietes entwickeln.

die Glaubwürdigkeitsprüfung von der Nullhypothese auszugehen. Näher dargestellt im konkreten Zusammenhang des Fragenkreises »Zeugenbeweis«, Kap. 12 III. 1.

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Kapitel 13: Regeln der Sachverhaltsermittlung

Wenn ein Sachverhalt einerseits kein Abbild des rechtlich relevanten Geschehens – so, wie es wirklich gewesen ist – sein kann, wir andererseits aber von einem »richtigen« Sachverhalt sprechen, bedarf es Kriterien, um für die konkrete Arbeit am Sachverhalt zwischen »richtigen« und fehlerhaften Feststellungen unterscheiden zu kön­ nen. Gerade weil der Sachverhalt ein Konstrukt ist, muss er nach Regeln konstruiert werden.

I. Grundregel Eine erste Bedingung liegt (selbstverständlich) darin, dass der Sach­ verhalt im Sinne des Revisionsrechts rechtlich nicht zu beanstanden ist. Worauf es uns in diesem Kapitel ankommt, sind darüber hinaus zwei weitere Bedingungen, die die Sachverhaltsfeststellungen erfüllen müs­ sen: 1. 2.

– –

Die Feststellungen müssen in sich stimmig, d. h. im engeren Sinn kohärent sein. Der Sachverhalt muss sich also für den Leser als folgerichtige Verknüpfung von Tatsachen darstellen. Er muss darüber hinaus einem Abgleich mit allen Informatio­ nen standhalten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung sowie des gerichtsbekannten oder sachverständigen Wissens waren. Das bedeutet, alle Informationen müssen sich entweder in die folgerichtige Verknüpfung der Tatsachen einfü­ gen oder es muss gute Gründe dafür geben, dass sie als nicht bewiesen, unwahr, eher unwahrscheinlich oder als unwesentlich und irre­ levant bei der Konstruktion des Sachverhaltes nicht berücksich­ tigt werden.

Um diese Grundregel zu konkretisieren und handhabbar zu machen, müssen wir uns die Struktur des Prozesses, in dem der Sachverhalt

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Kapitel 13: Regeln der Sachverhaltsermittlung

konstruiert wird (II.), sowie die Problemfelder methodischer Sach­ verhaltsermittlung (III.) näher ansehen, um ihn sodann im nächsten Kapitel auf die Kohärenzkriterien (Kap. 14) hin überprüfen zu können, die ein »richtiger« Sachverhalt erfüllen muss.

II. Die Sachverhaltskonstruktion – als Prozess Die Sachverhaltskonstruktion ist ein Prozess, der sowohl prozess­ rechtlich als auch »erkenntnistheoretisch« »richtig« laufen muss. Zugleich ist für die Analyse stets im Auge zu behalten, dass Sach­ verhalts- und Rechterkenntnis zwar in zwei Strängen oder Phasen nebeneinander herlaufen, aber immer sich beeinflussend aufeinander bezogen sind – und dies von Beginn an. Ohne rechtliche Bewertung lässt sich die Relevanz der Tatsachen für die Sachverhaltsfeststel­ lung nicht beurteilen.

1. Parteivorbringen, Informationen und Hypothesenbildung Der Richter bekommt seine Informationen in der Regel nur in einer – oft mehrfach – gefilterten Form. Welche Geschichten und welche Details der Kläger oder Angeklagte seinem Anwalt erzählt hat, weiß der Richter so wenig, wie er die Intensität kennt, mit der sie modifiziert wurden. Nicht selten bleibt auch die »Geschichte« selbst undeutlich, sei es, weil sie aus taktischen Gründen unklar gelassen wird oder die Partei nicht genau weiß, worauf es rechtlich ankommt, oder schlicht nicht in der Lage ist, mehr als nur bruchstückhafte Angaben in Worte zu fassen. Es ist dann Sache des Richters, sich »einen Reim darauf zu machen«. Nur die prinzipielle Zielstellung der Informationen ist klar: Sie sollen rechtliche Ansprüche begründen oder abwehren. Der Richter wird die Informationen auf zwei Ebenen verarbeiten: Zum einen wird er eine rechtliche Einordnung vornehmen, die je nach Falllage mehr oder weniger eindeutig ist oder nur in ersten Überlegungen besteht. Oft ist dies schon deshalb nötig, um seine Zuständigkeit beurteilen zu können. Ist die rechtliche Einordnung dem Richter auf Anhieb nicht klar, wird es zu einer ersten Einschät­ zung dessen kommen müssen, »was Sache ist«. Für den Richter muss

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II. Die Sachverhaltskonstruktion – als Prozess

ein rechtliches Muster erkennbar sein, denn nur so wird er abschätzen können, auf welche Informationen es für die Sachverhaltsfeststellung ankommt. Diese ersten Überlegungen zum Sachverhalt werden je nach Vortrag, Prozesssituation und vor allem Prozessordnung sehr unterschiedlich konkret und konturiert sein. Im Prozess der Sachver­ haltsfeststellung haben diese Einschätzungen die Funktion von Sach­ verhaltshypothesen. Sie bezeichnen die Annahmen des Richters, »so könnte es gewesen sein«, auf die er im Laufe des gerichtlichen Verfahrens immer wieder zurückgreifen muss. Ohne eine solche Vor­ stellung ist eine strukturierende, entscheidungsorientierte Verhand­ lungsführung und Sachverhaltsermittlung nicht möglich. In Verfah­ ren, in denen die Amtsermittlung gilt, kann er anders als mit solchen Sachverhaltshypothesen, die er dem Sachvortrag der Beteiligten ent­ nommen oder auch in kritischer Auseinandersetzung mit diesen Informationen entwickelt hat, den Prozess nicht führen. Auch die Aufklärungspflicht, die dem Richter nach § 139 ZPO – der »Magna Charta des Zivilprozesses«384 – obliegt, setzt eine begleitende Vor­ stellung über den möglichen oder einen wahrscheinlichen Ablauf des Geschehens voraus, das dem Rechtsstreit zugrunde liegen könnte. Das betrifft nicht nur den Geschehensablauf insgesamt, sondern gilt auch für seine Elemente, für Einzelfeststellungen. Ohne Annahmen darüber, wie »es – auch – gewesen sein könnte«, kann der Richter die Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage oder die Wahrscheinlichkeit eines Kausalverlaufes nicht überprüfen. Nun ist es nicht richterliche Aufgabe, Hypothesen, sondern Sachverhaltsfeststellungen zu generieren. Die Vorstellungen, die sich der Richter macht, können und dürfen nicht mehr sein als vorläufige Arbeitshypothesen. Nicht zuletzt dürfen sie nie den Vortrag der Parteien »überwuchern« und sich verselbstständigen.385 Als Hilfsmit­ tel der richterlichen Informationsstrukturierung und -verarbeitung dienen sie im Verlauf des Prozesses nur dazu, Informationen (etwa eine Zeugenaussage oder eine Behauptung) daraufhin zu überprüfen, ob sie sich folgerichtig in einen Geschehensablauf, in einen stritti­ gen Tatsachenzusammenhang einfügen lassen. Vom Richter verlangt dieses »Abgleichverfahren« eine hochgradige Beweglichkeit und Änderungsbereitschaft hinsichtlich »seiner« Hypothesen. Er muss bereit und in der Lage sein, zu erkennen, wenn umgekehrt Informatio­ 384 385

Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 72. Aufl., § 139 ZPO. Rn. 1. J. Schmid 1997a, S. 68 ff.

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Kapitel 13: Regeln der Sachverhaltsermittlung

nen sein Interpretationsschema bzw. seine bisherigen Vorstellungen über das, wie es gewesen sein könnte, in der bisherigen Form nicht mehr stützen, in Frage stellen oder gar als falsch erweisen.

2. Problemfelder der »Verifizierung« Dieses »Abgleichverfahren« und die konkreten Probleme, die es aufwirft, müssen wir uns in seinen wesentlichen Vorgängen näher ansehen, um einer Analyse des »richtigen Sachverhalts« Kontur zu geben. Systematisch geht es dabei um drei Fragen: – – –

Ist die behauptete – oder vom Richter zu unterstellende – Tatsache »richtig«? Ist die behauptete – oder vom Richter zu unterstellende oder angenommene – Verknüpfung der Tatsachen »richtig« – im Sinne von tragfähig? Sind die zu beurteilende Tatsache und/oder die angenommene Verknüpfung rechtlich relevant?

Wenn ich hier für dieses »Abgleichverfahren« den Ausdruck der »Verifizierung« verwende (von lat. veritas: ›Wahrheit‹ und facere: ›machen‹), dann kann das nicht in dem Sinne eines Nachweises verstanden werden, dass ein vermuteter oder behaupteter Sachverhalt unzweifelhaft wahr ist. Gebraucht wird der Begriff vielmehr in dem deutlich weiteren Sinn einer Beschreibung des Vorganges, in dem der Richter den Sachverhalt und seine Elemente daraufhin zu überprüfen hat, ob sie unter den Bedingungen eines gerichtlichen Prozesses und nach den Kohärenzkriterien als »richtig« und insofern auch als »wahr« dem Urteil zugrunde gelegt werden können. Die Problemfelder, für die es auf eine solche »Verifizierung« ankommt, sind zahlreich: Sachverständigengutachten, alle Formen der Wahrnehmung, vom schnellen Blick bis zum richterlichen Augenschein, gelingende oder misslingende Kommunikation. Besonders herausgreifen und näher diskutieren werde ich: – – –

den Zeugenbeweis; die Zielgerichtetheit und Offenheit der Informationsverarbei­ tung; die Verknüpfung der Tatsachen.

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III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung

III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung 1. Der Zeugenbeweis Der Zeugenbeweis ist als Mittel der »Wahrheitsfindung« in der gerichtlichen Praxis so unverzichtbar wie er gerichtsnotorisch ein »ungewisser, schlechter Beweis«386 ist. Konsequent nennt denn auch Hartmann die Zeugenvernehmung »eine nur begrenzt erlernbare Kunst«387. Ironisch könnte man ergänzen: Deshalb versuchen es Hochschulen und Justiz auch gar nicht erst, Juristen auf diesem Gebiet auszubilden. Die Grundregel – jedenfalls aller traditionellen Kunst –, dass Kunstfertigkeit Wissen und Beherrschung handwerklicher Regeln voraussetzt, wird ignoriert. Das Themenfeld, das unter dem Stichwort »Zeugenbeweis« in einer Methodenlehre der gerichtlichen Praxis darzustellen wäre, ist weit gespannt: Funktionsweise des Gedächtnisses, Vernehmungs­ lehre und Vernehmungstaktik, Glaubwürdigkeits- und Aussagein­ haltsanalyse. Angemessen zu bearbeiten ist es aber wohl nur durch ein Team von Fachleuten aus unterschiedlichen Erfahrungs- und Wis­ sensbereichen. Ich kann für diese Themengebieten insofern nur auf die einschlägige Literatur verweisen388 und werde mich hauptsächlich auf Probleme der Funktionsweise des Gedächtnisses beschränken. Denn deutlich zu machen sind in jedem Fall die Gründe für die prinzipiellen Ungewissheiten jeder Zeugenaussage. Sie liegen in der Struktur unseres »Gedächtnisses«, das es als das Gedächtnis gar nicht gibt.389 Genau aus diesem Umstand resultiert dann aber die Notwen­ digkeit eines Abgleichs von Zeugenaussagen mit Kohärenzkriterien. Zwei Beispiele sollen die Problematik illustrieren: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Übers. § 373 Rn 5. Hartmann aaO. 388 Die wohl beste Übersicht geben Bender/Nack/Treuer 2007. – Zur Aussagein­ haltsanalyse siehe insbesondere: Luise Greuel u. a.: Glaubhaftigkeit der Zeugenaus­ sage: Theorie und Praxis der forensisch-psychologischen Begutachtung: Die Praxis der forensisch-psychologischen Begutachtung, 1998. Zu nennen sind ferner: Axel Wendler / Helmut Hoffmann: Technik und Taktik der Befragung im Gerichtsverfah­ ren: Urteile begründen. Urteile prüfen. Lüge und Irrtum aufdecken. Stuttgart 2009; Max Hermanutz / Sven Max Litzcke: Vernehmung in Theorie und Praxis: Wahrheit – Irrtum – Lüge. 2. Aufl. Stuttgart. 389 Einen guten Überblick über die Gedächtnissysteme geben Bear u. a. 2009, S. 821 ff. und J. R. Anderson 2001, S. 173 ff. 386 387

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Kapitel 13: Regeln der Sachverhaltsermittlung

1. Fall: Der Knallzeuge: Drei Männer stehen an einer Straßen­ kreuzung, ins Gespräch vertieft, als es neben ihnen auf der Straße kracht. Zwei zerbeulte Pkws, einer davon Schrottwert. Was haben die drei gesehen? Ihre späteren Aussagen unterscheiden sich in wesentli­ chen Punkten. 2. Fall: Eine Krankenschwester stürzt aus dem dritten Stock vom Balkon eines Schwesternheimes. Sie ist sofort tot. Der Streit geht um die Lebensversicherung. Im Prozess sagt der Pförtner aus, er habe gesehen, wie die Krankenschwester vom Balkon gesprungen sei. Er beschrieb, wie sie in der Luft eine Spirale gedreht habe – wie beim Turmspringen. Dann sei sie aufgeschlagen. Abgespielt hatte sich dies an einem 30. September gegen 20.00 Uhr. Der Richter ist im späten Winter am Haus vorbeigefahren und da fiel ihm eine Reihe von Pap­ peln auf. Er wurde stutzig und hat genau ein Jahr später einen Orts­ termin durchgeführt. Es stellte sich heraus, dass der Pförtner schon wegen der Belaubung von seiner Pförtnerloge nichts hatte sehen kön­ nen. Der Zeuge selbst war völlig verstört – nicht weil er beim Lügen ertappt wurde, sondern weil er sich fest eingebildet hatte, die Sache, so wie geschildert, gesehen zu haben. In beiden Fällen haben wir es mit »falschen Erinnerungen«390 zu tun. Zeugen erbringen also nicht allein deshalb keine tragfähigen Aussagen, weil sie lügen oder sich nicht mehr (genauer) erinnern können (oder wollen). Sie erinnern sich auch an »Wahrheiten«, die sie gar nicht wahrgenommen haben (können), oder deuten Wahrneh­ mungen um, ohne dies selbst zu bemerken. Neu ist dieses Phänomen zwar keineswegs391, doch erst die Neurowissenschaften haben uns in den letzten Jahrzehnten die notwendigen Einblicke in Struktur und Funktionsweisen des Gehirns gebracht, um verstehen und einordnen zu können, warum eine Zeugenaussage in der Regel nur ein begrenzt taugliches Beweismittel sein kann. Wie haben wir uns Struktur und Funktionsweisen unseres Gedächtnisses vorzustellen? Vorab negativ: Wir nehmen zum einen das, was wir sehen, nicht auf wie ein Videorecorder oder eine Digital­ kamera. Zum anderen dürfen wir uns den Abruf von Erinnerungen nicht vorstellen wie den Aufruf einer Datei, auf die wir beliebig oft zurückgreifen können, ohne dass sie ihren Inhalt verändert. Übertrag­ 390 Einen allgemeinen Überblick über den Forschungsstand geben Kühnel/Marko­ witsch 2009. 391 Vgl. Kühnel/Markowitsch 2009, S. 74.

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III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung

bar ist an diesem Bild nur, dass die Organisation unserer Wahrneh­ mung und unserer Erkenntnis unmittelbar mit der Organisation des­ sen verbunden ist, was wir Gedächtnis nennen. Die Funktionsweise des Gedächtnisses lässt sich also nicht isoliert darstellen, sondern nur im Zusammenhang mit der Funktionsweise des Gehirns insgesamt – was hier nur im Herausgreifen einiger Grundstrukturen möglich ist.

a) Exkurs in die kognitive Neurowissenschaft (I.) Werfen wir in diesem neurowissenschaftlichen Exkurs (I.) zunächst einen Blick auf Aspekte unserer Wahrnehmung.392 – Wahrnehmen, Denken, Erleben und Sich-Erinnern vollziehen sich in einem Prozess des »Feuerns« unzähliger Neuronen in unterschiedlichen Hirnarea­ len. Bildgebende Verfahren ermöglichen es heute, solches Zusam­ menspiel auch sichtbar zu machen.393 Eine der zentralen Fragen der Hirnforschung wird damit deutlich: Wie werden diese diversifizier­ ten neuronalen Aktivitäten so organisiert, dass wir uns das Erken­ nen bestimmter Gegenstände oder die Erinnerung an bestimmte Ereignisse vorstellen können394; wie werden aus einem »Fließgesche­ hen«395 Geschichten? Nach dem heute wohl überwiegend anerkann­ ten Modell ist der wesentliche Mechanismus darin zu sehen, dass die Neuronen im Ensemble nicht nur gleichzeitig feuern, sondern in dieser Aktivität auch eine temporal kohärente Struktur396 bilden. Stellen wir uns zunächst einen Tisch vor, auf dem eine Tasse Kaffee steht. Das ist ein Bild. Aber unser Gehirn verarbeitet die Sinneseindrücke, die dieses Bild ausmachen, in den jeweils »zustän­ digen«, ganz unterschiedlichen Gehirnarealen. Es verarbeitet diese Informationen parallel.397 So ist eine Kaffeetasse eben nicht einfach eine Kaffeetasse, sondern unsere Vorstellung entsteht, wenn etwa 392 Der in Kapitel 14 II. 3 – »Gesamtschau« – um einen Exkurs II, in Kapitel 22 (V.) über die Mustererkennung um einen Exkurs (III.) und in Kap. 24 (IV.) über Entscheidungstheorien um einen Exkurs (IV.) zu ergänzen ist. 393 Münte/Heinze 2001, S. 298 ff. 394 Vgl. etwa F. Deneke 2001, S. 73 ff. 395 F. Deneke 2001, S. IX f. 396 Im Anschluss an T. Metzinger 1996, S. 609, Fn. 26 u. 609 ff., dieser unter Hinweis auf einen Aufsatz von W. Singer aus dem Jahr 1994 (W. Singer 2002, S. 120 ff.). – Ein Gedanke, den ich dann kohärenztheoretisch aufgenommen habe, Strauch 2005, S. 489, 499. Siehe auch G. M. Edelman 2007, S. 50 ff., 55). 397 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 62.

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Kapitel 13: Regeln der Sachverhaltsermittlung

im Areal für das Dekodieren von Farben die Neuronen der Farben braun und weiß feuern und in einer »temporal kohärenten Struktur« zugleich die Neuronen für die Form und das Wort Tasse, aber auch diejenigen Neuronen aktiv sind, die im Geruchszentrum das Kaffeearoma vertreten, wie auch solche, die für die emotionalen Wünsche aus dem limbischen System zuständig sind.398 Alle diese Wahrnehmungen setzen ein Vorwissen voraus: was eine Tasse ist, was Kaffee, wie er riecht usw. All das muss ja gespeichert sein. Das Gehirn dekodiert also unsere Sinneseindrücke durch Abgleich mit Gedächtnisinhalten. Plastisch hat G. Roth diese elementare Funktion unseres Gedächtnisses auf den Nenner gebracht: »Das Gedächtnis ist unser wichtigstes Sinnesorgan«.399 Stellen wir uns weiterhin diesen Kaffeetisch vor, aber der Akteur ist auf das Geschäft konzentriert, das er abschließen will, vielleicht interessiert ihn auch etwas anderes – das Bild an der Wand, weil er Kunstsammler ist, oder etwa die Gastgeberin. So mag er denn die Kaffeetasse irgendwie gesehen haben, sie hat jedoch über das (früher so genannte) Kurzzeitgedächtnis nicht so Eingang ins Lang­ zeitgedächtnis gefunden,400 dass er sich die Tasse leicht wieder in Erinnerung rufen könnte. Der Kunstsammler würde das Bild sofort wieder beschreiben können. Von dem Akteur, der ein Auge auf die Gastgeberin geworfen hat, ganz zu schweigen. So mag der Mensch zwar vieles sehen, das in seinem Gesichtsfeld liegt, aber nur ein Bruchteil davon findet Eingang in sein Gedächtnis.401 Festzuhalten ist: Wie genau ein Zeuge etwas wahrgenommen hat, wird also wesentlich davon abhängen, wie stark sein Interesse ihn auf bestimmte Wahrnehmungsgegenstände fokussiert hat. Und die Richtigkeit seiner Beobachtung wird auch von dem Wissen abhängen, mit der er sie gemacht hat. Wesentliche Faktoren für die Einspeicherung (»Enkodierung«402) in das Langzeitgedächtnis sind deshalb die Fähigkeit, das Wahrgenommene in vorhandenes Wissen

G. Roth 1996, S. 255 gibt am Beispiel eines Stuhles eine detaillierte Aufgliederung solcher Aspekte und ihrer Zuordnung zu unterschiedlichen kortikalen Arealen. All­ gemein auch G. M. Edelman 2007, S. 54. 399 G. Roth 1996, S. 261 ff. 400 Vgl. J. R. Anderson 2001, S. 174 ff. 401 Vgl. dazu näher Kühnel/Markowitsch 2009, S. 40 f., 117 f., 128 ff. 402 Vgl. J. R. Anderson 2001, S. 173 ff. 398

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III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung

einzuordnen und dort zu verankern,403 sowie die Intensität des emo­ tionalen Interesses an dem beobachteten Geschehen.404 Nicht zuletzt »fördert Stress eine Festigung emotional relevanter Informationen«, allerdings »ohne dabei zu unterscheiden, ob diese Information tat­ sächlich der Wahrheit entspricht oder unserer eigenen Vorstellung entsprungen ist«.405 Bleiben wir auch für den damit angesprochenen dritten wesent­ lichen Zusammenhang beim Kaffeetisch. Den Akteur hat der Kaffee, wie gesagt, nicht sonderlich interessiert. Gleichwohl soll er später als Zeuge eine Aussage machen. Hier kann schon die Fragestellung den Inhalt der Aussage bestimmen. Eine möglichst neutrale, offene Frage lautet: Stand etwas auf dem Tisch? Der Zeuge zuckt die Achseln; er kann nichts »abrufen«. Zu einer ganz anderen Reaktion kann es kommen, wenn etwa gefragt wird: Haben Sie denn die Kaffeetasse nicht gesehen? Oder gar: Ist Ihnen der Kaffeegeruch wirklich nicht aufgefallen? – Allerdings kann es dann so sein, dass nicht einmal der Zeuge selbst genau weiß, ob er sich nun wirklich – wenigstens bruchstückhaft – an eine konkret abgespeicherte Tatsache erinnert oder nur Suggestivfragen ihre Wirkung getan haben. So unbefriedigend diese typische Situation, in der eine Grenze zwischen »richtiger« und »falscher« Erinnerung nicht oder kaum aus­ zumachen ist, für die richterliche »Wahrheitsfindung« auch sein mag – der Richter muss sie als gegeben hinnehmen. Das wird noch klarer, wenn wir den neurowissenschaftlichen Hintergrund weiter ausleuch­ ten: Wie wir gesehen haben, ist das, was wir Gedächtnis nennen, keinem festen Speicher, etwa einem Neuron oder einem stabilen Ver­ bund von Neuronen, klar und separat zugeordnet, sondern kann als »Gedächtnisspur« über sehr viele Verbindungen in einem ausgedehn­ ten Neuronenverbund verteilt sein. Dieselben Neuronen, die Träger eines so gespeicherten Gedächtnisinhaltes sind, sind aber auch an dem Prozess der Wahrnehmung beteiligt.406 Unsere Wahrnehmung ist geradezu daraufhin angelegt, dass wir sie durch Vorwissen ergänzen und für den größten Teil unseres Wahrnehmens und Denkens auf 403 J. R. Anderson: »Wenn Inhalte elaborativer verarbeitet werden, dann werden sie besser behalten«, aaO. S. 193. 404 J. R. Anderson«, aaO. S. 198 ff. 405 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 190. 406 Bear u. a. 2009, S. 831; dort – S. 829 ff. – auch zum »Modell für ein verteiltes Gedächtnis« und zur Frage, wie man sich die physische Repräsentation eines »Engramms« oder einer »Gedächtnisspur« als »cell assembly« vorzustellen hat.

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Kapitel 13: Regeln der Sachverhaltsermittlung

automatisierte Schemata zugreifen.407 Es sind Gedächtnisinhalte, die unsere Wahrnehmungsfragmente zu kompletten Wahrnehmungen nach solchen Schemata und Kohärenzprinzipien ergänzen. Hier liegen auch die entscheidenden Mechanismen, die in den beiden Ausgangs­ fällen wirksam waren: der Knallzeugen und des Pförtners. Man weiß, wie ein Unfall typischerweise abläuft und stellt ihn sich vor, wenn man den Knall hört und das Ergebnis sieht. Wir unterscheiden zwar wie selbstverständlich zwischen Wahrnehmung und Vorstellung – wenn wir etwas wahrnehmen oder uns etwas vorstellen, dann beruht das aber weitgehend auf denselben Hirnfunktionen. Dem entspricht es, »daß sich die Aktivitätsmuster, die auftreten, wenn sich Menschen etwas vorstellen oder das Vorgestellte tatsächlich vor Augen haben, kaum unterscheiden« (W. Singer).408. So assoziierten sich beim Pfört­ ner, als er den Aufschlag der Krankenschwester wahrnahm, Bilder mit denen er sich den Vorgang »erklären«, ihn »rekonstruieren« konnte. Und er »beschrieb« in seiner Vernehmung, wie die Person »in der Luft eine Spirale gedreht habe – wie beim Turmspringen.« Die Art, in der Gedächtnisinhalte gespeichert werden, macht auch verständlich, warum wir das Gespeicherte nicht, wie bei einer Festplatte, beliebig mit immer gleichem Inhalt abrufen können. Wir haben es mit einem prinzipiell dynamischen Prozess zu tun.409 Denn bei jedem Abruf wird die Information in einer veränderten (Lebens-) Situation und somit in einem neuen Zusammenhang erinnert.410 Im Kontext neuer aktueller Informationen verändert sich so auch das alte »Aktivitätsmuster« (W. Singer). Dabei wird wiederum ein Mechanismus wirksam, der schon bei der Einspeicherung eine ent­ scheidende Rolle spielt und der sich auf den Nenner bringen lässt: »Erinnerungen müssen stimmen«411 – nicht etwa »objektiv«, sondern sie müssen für mich stimmig sein. Auch hier geht es um eine »temporal kohärente Struktur« und sie wird hergestellt, indem wir Informationen und Erleben so ordnen, dass sie sich in unser Welt- und Selbstbild

407 H.-L. Kröber, Freie Entscheidung gegen den Fahrstuhl, in: Gehirn und Geist 2/2003, S. 13. 408 W. Singer 2005, S. 716; siehe auch G. M. Edelman 2007, S. 107; grundlegend zu »falschen Erinnerungen« – auch zu Erinnerungstäuschungen aufgrund fragwürdiger Therapiemethoden – die Arbeiten von E. Loftus, siehe Loftus 1998. 409 Vgl. näher Kühnel/Markowitsch 2009, S. 57 ff. 410 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 47. 411 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 219 ff.

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III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung

ohne Dissonanzen einfügen.412 Erinnert sei an Nietzsches berühmte Satzfolge: „›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach«.413 Für die Vernehmungspraxis sind diese Phasen der so genann­ ten Re-Konsolidierung414 von kaum zu unterschätzender Bedeu­ tung.415 Worum geht es? Mit jedem Neuaufruf werden die alten Erin­ nerungen wieder ins Gedächtnis gerufen. Sie haben so die Chance, sich zu verfestigen. Zugleich hinterlässt auch die neue, veränderte Situation ihre Gedächtnisspuren. Das alte »Aktivitätsmuster« (W. Singer) verändert sich so im Kontext neuer, aktueller Information zu einem neuen Muster, einem veränderten Gedächtnisinhalt. Dafür gibt es gute Gründe. Unser Wissen passt sich so immer wieder den Gegebenheiten an.416 Mithin ist der Mensch als Zeuge entsprechend schlecht geeignet. Vor allem ist es möglich, wie zahlreiche Untersu­ chungen gezeigt haben, durch Techniken der Suggestion – bewusste oder unbewusste – falsche Erinnerungen zu produzieren.417 Das gilt vor allem bei kindlichen Zeugen, die per se zwar keineswegs schlech­ tere Zeugen, aber für Beeinflussungen besonders anfällig sind.418

b) Die »Nullhypothese« – Wege der »Verifizierung« Kühnel und Markowitsch ziehen in ihrem Buch über »falschen Erin­ nerungen« u. a. folgendes Fazit: »Wenn wir aufhören, unsere eigenen Erinnerungen auf ein Podest zu stellen, können wir beginnen, sie als das zu sehen, was sie sind: Erinnerungen sind eine Mischung aus Wahrnehmung, Erfahrung, Überzeugung, Emotion, Vorstellung, Wünschen und Gesprächen und auch geprägt durch den sozialen Hintergrund eines jeden Einzelnen«.419 Da das menschliche Gehirn 412 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 221 f.; zu Mechanismen solcher »Rationalisie­ rung« dort insbesondere der Hinweis auf die kognitive Dissonanztheorie von Festin­ ger. 413 Friedrich Nietzsche, Werke III – Jenseits von Gut und Böse, § 68. 414 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 47. 415 Vgl. Kühnel/Markowitsch 2009, S 144 ff.; Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 253 ff., 888 ff. 416 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 47. 417 Vgl. E. Loftus 1998 und etwa J. R. Anderson 2001, S. 221 f. 418 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 150 ff. 419 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 224.

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Kapitel 13: Regeln der Sachverhaltsermittlung

also nicht dafür ausgelegt ist, »konsequent zwischen richtigen und falschen Erinnerungen zu unterscheiden«,420 brauchen wir Metho­ den der »Verifizierung«. Sie sind, um Grundstrukturen sichtbar zu machen, wenigstens in Stichworten zu skizzieren: 1.

2.

Eine solche Methodik der »Verifizierung« setzt erstens unab­ dingbar voraus, dass der Richter über ein hinreichend fundiertes Wissen darüber verfügt, warum die Glaubwürdigkeit und Glaub­ haftigkeit von Zeugenaussagen ein Problemfeld ist. Aufgrund dieses Wissens muss er sich dann zweitens auch darüber klar sein, dass er sich nicht darauf verlassen darf, sich mit Selbstver­ ständlichkeit in diesem Problemfeld mit Alltagstheorien und All­ tagsweisheiten421 zurechtfinden zu können. Verfügt er hier nicht über hinreichendes Wissen, bedarf es eines Sachverständigen. Entscheidend ist, wie der BGH in seiner Grundlagenentschei­ dung zur »Nullhypothese« ausgeführt hat: »Bei der Begutach­ tung hat sich ein Sachverständiger ausschließlich methodischer Mittel zu bedienen, die dem jeweils aktuellen wissenschaftli­ chen Kenntnisstand gerecht werden«422; es fällt bei der Einho­ lung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens auch grundsätzlich in die Zuständigkeit des Tatrichters, »die Einhaltung der dargelegten wissenschaftlichen Mindestanforderungen sicherzustellen«.423 Angesichts der oben im Hinblick auf (unbewusst) falsche Erinne­ rungen beschriebenen Gründe für die Unzuverlässigkeit des Zeu­ genbeweises und der Unzuverlässigkeit, die sich daraus ergibt, dass der Richter immer damit rechnen muss, dass der Zeuge schlicht bewusst lügt (ohne dass er ihm das, wie viel zitiert, an der Nasenspitze ansehen kann), liegt es auf der Hand, dass der Richter bei der Bewertung von Aussagen nicht von einer Anfangswahrscheinlichkeit für deren Zuverlässigkeit ausgehen darf. Da die Zeugenaussage andererseits ein unverzichtbares Beweismittel ist, bedarf es Kriterien für die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen. Für diese Beurteilung muss ein Abgleich der Aussage zu dem bezeugten Geschehen mit – jetzt sehr allgemein formuliert –

Kühnel/Markowitsch 2009, S. 229. Vgl. dazu in diesem Zusammenhang näher Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 388 ff., 480 ff. 422 BGHSt 45, 164–182 – juris Rn. 46. 423 BGHSt 45, 164–182 – juris Rn. 58. 420 421

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III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung

anderen Daten vorgenommen werden. Dieser Abgleich kann auf zwei Ebenen stattfinden: – –

als Abgleich mit anderen für zuverlässig zu haltenden Aussagen oder mit fraglos feststehenden oder bewiesenen Tatsachen; als Abgleich der Aussage des Zeugen mit Daten, die darüber Aufschluss geben können, ob die auf ein bestimmtes Geschehen bezogenen Angaben auch einem tatsächlichen Erleben des Zeu­ gen entsprechen oder nicht.

Je eindeutiger der Abgleich auf der 1. Ebene ausfällt, desto geringer wird die Bedeutung eines Abgleichs auf der 2. Ebene. Kann das Gericht dagegen auf fraglos feststehende oder bewiesene Tatsachen nicht zurückgreifen und/oder steht Aussage gegen Aussage, kann die Beweiswürdigung nur auf der 2. Ebene erfolgen. Die Aussage dieses Zeugen muss dann – jedenfalls wenn die Entscheidung im Strafverfahren davon abhängt, ob dem einzigen Belastungszeugen zu folgen ist – einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung – unterzogen werden.424 Die wesentlichen Prüfungsgesichtspunkte und gedanklichen Arbeitsschritte einer methodischen Beurteilung der Zuverlässigkeit einer Aussage sind mit folgenden Stichworten wenig­ stens skizziert: 1.

Gearbeitet wird bei der aussagepsychologischen Begutachtung mit Analysen nicht nur allgemein der Persönlichkeit, sondern spezifischer Aspekte der Person und der Aussage; genannt seien:



die kriterienorientierte Aussagenanalyse: Es geht um die Frage, ob ein Bericht aus dem Gedächtnis rekonstruiert wurde oder eine (bewusst) lügende Person ihre Aussage aus ihrem gespeicherten Allgemeinwissen konstruiert. Kriterien sind hier aussageimma­ nente Qualitätsmerkmale wie logische Konsistenz, quantitati­ ver Detailreichtum, raum-zeitliche Verknüpfungen, Schilderung ausgefallener Einzelheiten und psychischer Vorgänge, Entlas­ tung des Beschuldigten, deliktsspezifische Aussageelemente;425 die Motivanalyse: Sie zielt vor allem auf die Feststellung mögli­ cher Motive für eine unzutreffende Belastung des Beschuldigten durch einen Zeugen ab. Potentielle Belastungsmotive können



Vgl. BGHSt 44, 153–160, – juris Rn. 14; grundsätzlich: BVerfG 2. Senat 3. Kam­ mer, NJW 2003, 2444–2447. 425 BGHSt 45, 164, 182, – juris Rn. 20 ff.

424

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Kapitel 13: Regeln der Sachverhaltsermittlung



sich etwa bei der Untersuchung der Beziehung zwischen dem Zeugen und dem von ihm Beschuldigten / einer Partei ergeben. Besondere Bedeutung kann der Frage zukommen, welche Konse­ quenzen der erhobene Vorwurf für die Beteiligten oder für Dritte nach sich ziehen kann. Bei Anhaltspunkten ist hier auch stets die Rachehypothese zu überprüfen426 oder das Motiv, dass sich ein Zeuge selbst entlasten will;427 die Kompetenzanalyse: Die Beurteilung der persönlichen Kompe­ tenz der aussagenden Person, insbesondere seiner allgemeinen und sprachlich-intellektuellen Leistungsfähigkeit sowie seiner Kenntnisse in Bezug auf den Bereich, dem die Beweisfrage zuzu­ ordnen bzw. die dem erhobenen Tatvorwurf zuzurechnen ist.428

Diese Stichworte vermitteln allenfalls grobe Vorstellungen über die Ansätze, um die es bei den »Methoden der Aussageanalyse«429 geht. Für diese Methoden ist, wie bereits gesagt, auf die spezielle Literatur zu verweisen.430 Jede verkürzte Darstellung würde diese Methoden zu dem machen, was sie nicht sein dürfen: schematische Anwen­ dung von undifferenzierten Alltagstheorien431 und von Kriterien, die untereinander weder trennscharf noch eindeutig sind, sondern oft gegenteilig interpretiert werden können.432 Erst ein Zusammenspiel differenzierter Beobachtungskriterien und genauer situationsbezo­ gener Beobachtungen kann hier zu tragfähigen Analysen führen. Noch schwieriger als im Falle der Lüge, diese von der Wahrheit zu unterscheiden, wird die Analyse für den Richter bei den falschen Erin­ nerungen. Da sich, um nochmals W. Singer zu zitieren, »die Aktivitätsmus­ ter, die auftreten, wenn sich Menschen etwas vorstellen oder das Vorgestellte tatsächlich vor Augen haben, kaum unterscheiden«,433 muss jedenfalls versucht werden, die Mechanismen in den Blick zu BGHSt 45, 164, 173; BGH. NStZ-RR 2003, 206–209; Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 219, 364 ff., 486. 427 BGH, NStZ-RR 2003, 245–246. 428 BGHSt 45, 164, 182, Rn. 35; allgemein zur Aussagefähigkeit U. Eisenberg 2015, Rn. 1362 ff. 429 BGHSt 45, 164–182 – juris Rn. 27; vgl. auch Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 247. 430 Etwa Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 212 ff.; U. Eisenberg 2015, Rn. 1426 ff. 431 Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 388 am Beispiel eines weiteren Analysegesichts­ punktes, der Konstanzanalyse; grundsätzlich auch U. Eisenberg 2015, Rn. 1429 ff. 432 Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 306. 433 W. Singer 2005, S. 716. 426

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bekommen, mit denen sich die Entstehung »falscher Erinnerun­ gen« erklären lässt. Die Praxis der Gerichte und Gutachter arbeitet hier mit folgenden Hypothesen: – –

– – –

Konfabulationshypothese: bei den Aussagen handelt es sich um ein reines Fantasieprodukt; Wahrnehmungsübertragungshypothese: bei den Aussagen han­ delt es sich um Inhalte, die nicht durch eigene Wahrnehmung, sondern auf andere Weise – durch Filme, Fernsehen, Bücher, Zeitschriften – erworben wurden und die der Zeuge dann auf den Aussagegegenstand überträgt; Übertragungshypothese: die aussagende Person hat die von ihr geschilderten sexuellen Übergriffe so erlebt, allerdings mit einer anderen Person als der angegebenen; Instruktionshypothese: der Zeuge wurde von einer anderen Person gezielt instruiert, eine Falschaussage zu tätigen; Suggestionshypothese: die Aussage ist das Ergebnis häufiger und subjektiver Beeinflussungen im Vorfeld oder auch wäh­ rend der Begutachtung beziehungsweise Anzeigenerstattung bei der Polizei.

Eine Überprüfung nach diesen Kriterien434 ist ein wesentlicher Teil einer aussagepsychologischen Begutachtung. Ihr methodisches Grundprinzip besteht, um die entscheidenden Passagen aus dem Grundsatzurteil des BGH nochmals zu zitieren, darin, »einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammel­ ten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst an, die Aussage sei unwahr (sog. Null­ hypothese). Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, daß die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, daß es sich um eine wahre Aussage handelt.«435 Ergibt also eine Überprüfung, dass keine der genannten Hypo­ thesen zutrifft, ist die Ausgangsannahme, die Aussage sei unwahr 434 Die Aufstellung der Kriterien ist dem Urt. des OLG Saarbrücken v. 13.07.2011 – 1 U 32/08 – 9, 1 U 32/08 – juris Rn. 53 entnommen. Eine Übersicht über den For­ schungsstand geben Kühnel/Markowitsch 2009, S. 93 ff.; über die Irrtums-Phäno­ mene in der gerichtlichen Praxis ausführlich Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 20 – 211. 435 BGHSt 45, 164, 182, juris Rn. 12.

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(sog. Nullhypothese) insoweit nicht mehr aufrechtzuerhalten, als man befürchten muss, dass es sich um »falsche Erinnerungen« handelt. Bestätigen weiterhin die Aussageanalysen und der Abgleich mit den übrigen erhobenen Fakten die Unwahrheitshypothese nicht, kann die Aussage als »richtig« einem Urteil zugrunde gelegt werden. Man hat damit eine wissenschaftlich fundierte und inzwischen auch elaborierte Methode für eine Glaubhaftigkeitsbegutachtung gefunden, die den Zufälligkeiten hausbackener Vorurteilsstrukturen und Alltagstheorien herkömmlicher Beweiswürdigungen eindeutig überlegen ist. Aber auch diese Methode macht die Beweiswürdigung nicht zu einem Verfahren, das aufgrund sicherer Datensätze und eindeutiger Korrelationen zu unbezweifelbaren Ergebnissen kommt. Gerade die Abwägungen, die die zitierte Entscheidung BGHSt 45, 164 und andere Urteile hinsichtlich unterschiedlicher Gutachterein­ schätzungen immer wieder vornehmen müssen, machen das deutlich. Und selbst mit bildgebenden Verfahren ist es auch auf der neuroana­ tomischen Ebene bis heute nicht gelungen, belastbare Unterschiede zwischen echten (selbsterlebten) und falschen (»eingebildeten«) Erin­ nerungen auszumachen.436. Insoweit überrascht es auch nicht, dass der BGH in neueren Entscheidungen klargestellt hat, dass die in BGHSt 45, 164 genannten methodischen Grundprinzipien »lediglich den derzeitigen wissenschaftlichen Standard beschreiben, dass aber aussagepsychologische Gutachten nicht einheitlich dieser Prüfstrate­ gie folgen müssen, vielmehr weiterhin der Grundsatz gelte, dass es dem Sachverständigen überlassen bleiben müsse, in welcher Art und Weise er dem Gericht sein Gutachten unterbreite«.437

c) Zeugenbeweis – ein Zwischenergebnis Die Beurteilung einer Zeugenaussage als richtig oder falsch wird sich in aller Regel nicht als einfache Schlussfolgerung aus einigen wenigen und klaren Indizien darstellen lassen. Glaubwürdigkeitsund Glaubhaftigkeitsprüfungen sind auch nicht die einzigen Richtig­ keitskriterien. Die Qualität einer Zeugenaussage hängt zunächst und entscheidend von der Qualität der richterlichen Vernehmung ab; ein Thema, mit dem wir uns anschließend zu beschäftigen haben (u. 2. a). Weiterhin ist die Beweiswürdigung eine Frage der Gewissheit, 436 437

Kühnel/Markowitsch 2009, S. 142 f.; 223. NStZ 2008, 116–117 mit Hinweis auf BGH, NStZ 2001, 45–46.

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mit der der Richter von der »Wahrheit« einer Aussage überzeugt sein muss, also des Beweismaßes. Erst am Schluss wird dann eine Gesamt­ würdigung stehen, deren Gelingen darüber entscheidet, ob die Beweiswürdigung »kohärent« ist. Wie wir die »Gesamtschau aller Beweisanzeichen« zu verstehen haben, werden wir in ihrer kom­ plexen Struktur jedoch erst im Kapitel 14 näher erörtern und analy­ sieren können. Als Zwischenergebnis ist aber festzuhalten: Soweit die Stimmig­ keit der Beweiswürdigung von der Richtigkeit einer Zeugenaussage abhängt, kommt es für deren Verifizierung (oder umgekehrt: Fal­ sifizierung) darauf an, ob es gelingt, auf folgenden zwei Ebenen Kohärenz herzustellen: 1.

2.

Zum einen ist die Frage zu beantworten: Fügt sich das, was der Zeuge ausgesagt hat, in das Wissen ein, was dem Gericht bislang zum Sachverhalt bekannt ist? Fügt es sich nicht ein, kommt es darauf an, ob die Aussage im eindeutigen Widerspruch zu bereits feststehenden Fakten steht – dann kann das Gericht der Aussage nicht folgen – oder ob die Aussage dem Gericht hinreichende Veranlassung gibt, seine bisherige Sachverhaltshypothese zu überprüfen – dann ist seine Hypothese gegebenenfalls der Aus­ sage anzupassen. Im zweiten Vorgang ist zu überprüfen, inwieweit sich Aussage und Umstände der Aussage und des Aussagenden so in das Wissen über die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage einordnen lassen, dass sich das Gericht darüber Klarheit verschaffen kann, ob es diese Überprüfung mit eigener Sachkunde vornehmen kann oder sich eines Sachverständigen bedienen muss.

Die Einzelanalysen auf beiden Ebenen müssen also auch untereinan­ der »stimmig« sein. Diese Kohärenz ist insoweit Bedingung für die Stimmigkeit der zu leistenden »Gesamtschau aller Beweisanzeichen«.

2. Sachverhaltsermittlung: Kommunikation zwischen Zielgerichtetheit und Offenheit Ob wir die Würdigung einer Zeugenaussage oder allgemein die Feststellung eines Sachverhalts als »kohärent« und damit »richtig« bezeichnen können, hängt also – um dies nochmals zu betonen –

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am Ende davon ab, ob die »umfassende Gesamtwürdigung«438 des Gerichts überzeugt. Diese »umfassende Gesamtwürdigung« hat aber zur entscheidenden Voraussetzung, dass das Gericht die mündliche Verhandlung oder das (schriftliche) Verfahren zuvor so genutzt hat, dass es bei seiner Überzeugungsbildung auch alle relevanten Daten zur Hand hat. Wie aber ist das Kohärenzkriterium der Umfassendheit praktisch zu handhaben? Diese Frage ist mit prozessrechtlichen Erör­ terungen allein – wie umfassend muss die Sachverhaltsermittlung sein und welche Grenzen muss der Richter je nach Prozessordnung einhalten? – nicht zu beantworten. Denn wie umfassend die Infor­ mationen sind, über die der Richter letztlich verfügen kann, verlangt auch Antworten, die jenseits der Fragen liegen, die von Juristen üblicherweise mit dem Hinweis auf die rechtlichen Vorgaben der Prozessgrundsätze beantwortet werden. Was sich bei den Gründen für die Unzuverlässigkeit von Zeugen­ aussagen beispielhaft gezeigt hat, gilt naturgemäß auch für Richter: Bereits unsere Wahrnehmungen sind selektiv und das Wahrgenom­ mene merken wir uns auch keineswegs umfassend. Das häufige Misslingen menschlicher Kommunikation kommt hinzu. Man darf also zunächst nicht davon ausgehen, dass der Richter all die Infor­ mationen, die »auf dem Bildschirm des Prozessgeschehens auftau­ chen«, auch aufnehmen und verarbeiten kann. Für eine Methode der Sachverhaltsermittlung kommt deshalb der Frage, ob und wie der Richter seine Aufmerksamkeit steuern kann – und soll – eine entscheidende Bedeutung zu. Ich will es einleitend im Kontrast zweier Berufsrollen erläutern, für die das Zuhören-Können und somit auch das Zuhören-Lernen in sehr unterschiedlicher Weise Bedingung des professionellen Arbeitens ist. Beobachten wir die Kommunikation, die ein Psychoanalytiker mit seinem Klienten führt, und die Kommunikation, die ein Richter mit den Prozessparteien führt, haben sie etwas Gemeinsames: Sie ist professionell einseitig und im Alltag würde sich niemand, der etwas erfahren will, in dieser Weise mit einem anderen unterhalten. Vor allem aber unterliegen, wie gesagt, Richter und Analytiker den glei­ chen Mechanismen, die die Problematik von Zeugenaussagen ausma­ chen: den Problemen selektiver Wahrnehmung und der Steuerung Vgl. etwa die Formulierungen in BGH, Urt. vom 28. 02. 2013 – 4 StR 357/12 –, juris, Rn. 23 m. N.; BFH, Urt. v. 06. 03. 2003 – IV R 21/01 –, juris Rn. 22 ff. m. N.; BVerwGE 140, 185, 193.

438

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der Verarbeitung durch individuelle Muster; was man an Informa­ tionen speichert, wird vielfach emotional bestimmt und unterliegt den Prozessen sekundärer Rationalisierung. Methode und Habi­ tus haben hier die zentrale Aufgabe, die emotional bestimmte Auf­ merksamkeit und Wahrnehmung professionell zu steuern. Unter die­ sem Gesichtspunkt professioneller Aufmerksamkeitssteuerung könnten die Unterschiede analytischer und richterlicher Methode dagegen kaum gegensätzlicher sein. Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass auch die Sachaufklärung durch den Richter ohne Phasen, die sich an Freuds Idealregel »gleichschwebender Aufmerk­ samkeit« orientieren, nicht auskommen kann. In seinen »Ratschläge[n] für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung« von 1912 beschreibt Freud seine Technik als »eine sehr einfache«, nämlich »sich nichts besonders merken zu wollen und allem, was man zu hören bekommt, die nämliche ›gleichschwe­ bende Aufmerksamkeit‹ […] entgegenzubringen«.439 Auf Seiten des Patienten soll auf diese Weise der für die Analyse entscheidende Vorgang der »freien Assoziation« befördert werden, ohne Einschrän­ kung alles das zu sagen, was ihm gerade einfällt. Der Gegensatz zur richterlichen Ermittlungstechnik liegt damit auf der Hand. Der Richter muss seine Aufmerksamkeit auf die – rechtlich – relevanten Tatsachen richten, und soweit er unmittelbar mit Parteien verhandelt, erfordert es oft sein besonderes Geschick, sie in ihrer »freien Asso­ ziation« zu bremsen, um sich »auf das Wesentliche« konzentrieren zu können. Je konzentrierter die richterliche Aufmerksamkeit jedoch auf einen bestimmten Punkt gerichtet ist, desto leichter kann es zu einer »Wahrnehmungsblindheit« kommen, einem Phänomen, für das ein berühmter Videoclip (»Der Gorilla«) ein anschauliches Beispiel gibt:440 Zwei Mannschaften – drei weiß gekleidete und drei schwarz gekleidete Studenten – werfen sich jeweils einen Basketball zu. Den Zuschauern wird die Aufgabe gestellt, genau mitzuzählen, wie oft der Ball innerhalb der weißen Mannschaft aufgefangen wurde. Ist das Video zu Ende, wird die Zahl abgefragt und der Versuchsleiter fragt, ob denn sonst noch etwas aufgefallen sei. Es hätte etwas auffallen müssen. Denn während des Zuspiels ging eine große, als Gorilla verkleidete Person mitten durch die Gruppe, gestikulierte, grinste in die Kamera und verschwand wieder. Ich selbst habe das Video 439 440

S. Freud 1975, S. 171. Siehe dazu näher M. O‘Shea 2008, S. 93 f.

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häufiger auf Tagungen der Deutschen Richterakademie gezeigt und das Ergebnis war immer wieder verblüffend. Soweit die Teilnehmer es nicht schon kannten, war der Gorilla oft von nahezu allen Kolleginnen und Kollegen nicht wahrgenommen worden. Nachdenklich hat das allerdings nicht alle Richter gestimmt.

a) Die ideale Kommunikationshaltung – geteilte Aufmerksamkeit So unabdingbar die selektive/fokussierende Aufmerksamkeit für die Sachverhaltsermittlung ist, so notwendig ist auch ein möglichst weiter Blick, eine Offenheit für Informationen, die zwar beim aktuellen Sachund Streitstand nicht relevant erscheinen, aber es werden können. Man denke auch an all die zunächst nebensächlich erscheinenden Beweisanzeichen und Reaktionen, ohne die eine Beweiswürdigung nicht sinnvoll durchzuführen ist. Es bedarf deshalb oft einer »geteil­ ten Aufmerksamkeit«, die in ihrer Intention gleichzeitig offen und fokussiert ist. Sehr anschaulich und auch auf die Rechtspraxis übertragbar, hat Freud in seinen »Ratschlägen« die Gefahren der Verengung, die sonst auftreten, so beschrieben: »Sowie man nämlich seine Aufmerksamkeit absichtlich bis zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen Materiale auszuwählen; man fixiert das eine Stück besonders scharf, eliminiert dafür ein anderes und folgt bei dieser Auswahl seinen Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade dies darf man aber nicht; folgt man bei der Auswahl seinen Erwartungen, so ist man in Gefahr, niemals etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß; folgt man seinen Neigungen, so wird man sicherlich die mögliche Wahrnehmung fälschen. Man darf nicht darauf vergessen, daß man ja zumeist Dinge zu hören bekommt, deren Bedeutung erst nachträglich erkannt wird.«441

Ein Richter, der sich immer nur auf »das Wesentliche«, auf die Beschaffung der für die rechtliche Beurteilung »relevanten« Informa­ tionen konzentriert, läuft also eine doppelte Gefahr: zum einen, dass er die relevanten Informationen nicht bekommt, und zum anderen, dass er für relevant hält, was nicht relevant ist. Dies soll an typischen Schritten der Sachverhaltsermittlung verdeutlicht werden: (1.) Hypothesenbildung: Die Konstitution eines Sachverhal­ tes verlangt, wie wir gesehen haben, zunächst Ausgangshypothesen 441

S. Freud 1975, S. 172.

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(oben II. 1.). Handelt es sich um eine dem Richter bekannte Fallkon­ stellation, wird das sofort ein rechtliches Muster sein. Anderenfalls muss er erst eine Vorstellung über den Sachverhalt bilden. So sehr er sich bei seiner »Arbeit am Sachverhalt« an diesen Vorstellungen und Mustern orientieren muss, so sehr muss er darauf achten, dass seine nur selektive/fokussierende Aufmerksamkeit nicht zum »Tun­ nelblick« wird. Der Richter muss das Verfahren mit einer zwischen Zielgerichtetheit und Offenheit für überraschende Informationen geteilten Aufmerksamkeit führen. Um eine bildliche Formel zu wie­ derholen: Die »Wahrheit« eines Sachverhaltes hängt nicht zuletzt davon ab, dass der Richter auch zunächst nicht relevant erscheinende Informationen, die auf dem »Bildschirm des Prozessgeschehens« auftauchen, wahrnimmt und nicht gleich ausblendet. Anderenfalls kann er schnell in die Situation kommen, dass er, ohne es zu merken, den falschen Fall entscheidet. Typische Fehlerquellen: Schriftsätze werden nur selektiv auf Infor­ mationen hin gelesen, die dem Richter noch für seine Subsumtion fehlen. In der empirischen Studie anhand des schon mehrfach zitierten Arzthaftungsfalles wurde der Befund so beschrieben: »Die Sachver­ haltsschilderungen der Prozessparteien werden nur insoweit verwer­ tet, als mit ihnen ein für den Richter im Rahmen dogmatischer Kon­ struktion verwertbarer typisierter Lebenszusammenhang erkennbar wird«.442 Dem Richter entgehen dann die Besonderheiten, die den konkreten Fall ausmachen. Der Arbeitsrichter übersieht etwa, dass es alleiniges Ziel einer Organisationsmaßnahme war, dem Inhaber die­ ses Arbeitsplatzes betriebsbedingt kündigen zu können.443 Oder noch gravierender: Dem Gericht kommt der entscheidende Handlungszu­ sammenhang nicht in den Blick, so dass es eine Schenkung annimmt, aber eine Gesellschafterstellung (causa societatis) übersieht.444 (2.) Zeugenvernehmung: Die Notwendigkeit und Funktion von geteilter Aufmerksamkeit wird in kaum einem anderen Ver­ fahrensabschnitt so deutlich wie bei der Zeugenvernehmung. Hier ordnet gleichsam schon der Gesetzgeber geteilte Aufmerksamkeit T. Drosdeck 1997, S. 25. Vgl. LAG Berlin-Brandenburg Urt. v. 25.11.2010 – 2 Sa 707/10 – juris – Das AG Berlin hatte sich, vereinfacht, mit dem Grundsatz zufriedengegeben, es sei an die unternehmerische Organisationsentscheidung gebunden; s. a. BAG 2. Senat, Urt. v. 24.05.2012 – 2 AZR 124/11 – juris. 444 »Sportgate./.Boris Becker«-Fall; vgl. BGH Urt. vom 8.5.06 – II ZR 94/05 = BB 2006, 1467–1468 = WM 2006, 1202–1204. – Näher zu diesem Fall Kap. 23 I. 442

443

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an. Der Zeuge soll zunächst eben nicht punktuell auf das relevante Tatbestandsmerkmal hin befragt werden, das der Richter für entschei­ dungserheblich hält, sondern der Grundsatz lautet: »Der Zeuge ist zu veranlassen, das, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang anzugeben«.445 Mit Freud lässt sich die Leitidee gerade hier dahin formulieren, dass man nur so »Dinge zu hören bekommt, deren Bedeutung erst nachträglich erkannt wird«.446 Bender/Nack/Treuer formulieren die Maxime einprägsam mit der Überschrift: »Reden lassen«.447 Denn es ist in der Tat nur »schwerlich möglich, die Glaubhaftigkeit einer Aussage zuverlässig zu beurtei­ len, wenn die Auskunftsperson nicht als erstes einen ungestörten Bericht abliefert«.448 Was die Vernehmung selbst anlangt, die eine Kunst des kon­ zentrierten Fragens und der geteilten Aufmerksamkeit ist – zuvor aber vom Richter verlangt, dass es ihm überhaupt gelingt, eine für das Verfahren fruchtbare Kommunikation herzustellen –, kann und muss auch hier für die konkreten Verhaltensprobleme und Regeln auf die vorhandene Handbuch-449 und Kommentarliteratur450 verwiesen werden. Notwendig sind jedoch wenigstens Hinweise darauf, dass der Richter gerade in der besonderen Situation der Zeugenvernehmung die Kommunikation nie nur als objektiver Beobachter führt und bestimmt. Er mag sich noch so sehr als unbefangener Neutraler fühlen, muss aber reflektieren, dass er im Persönlichen gefangen bleibt. Wir müssen uns mit anderen Worten darüber im Klaren sein, dass richterliche Offenheit gegenüber Informationen – wie jede menschliche Wahrnehmung – durch Bedingungen begrenzt ist, die sich prinzipiell nicht ausschalten lassen. Man kann sie als die neuro-kulturellen Strukturen bezeichnen, die unsere Erkennt­ nis- und Wahrnehmungsprozesse unhintergehbar prägen.451 In dem neurowissenschaftlichen Exkurs sind für unsere Wahrnehmung und das Gedächtnis wichtige Momente solcher Begrenzungen näher beschrieben worden. Sie wirken beim Richter selbst nicht anders

445 446 447 448 449 450 451

Vgl. § 69 Abs. 1 StPO und nahezu gleichlautend § 396 Abs. 1 ZPO. S. Freud 1975, S. 172. Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 811. Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 808. Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 705 ff. U. Eisenberg 2015, Rn. 1318 ff. Vgl. dazu näher Strauch 2005, S. 483 ff.

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als beim Zeugen.452 Das gilt auch für die kulturellen Muster unserer Wahrnehmung und unseres Verhaltens, also insbesondere unserer Kommunikation. Eine Erfahrung, die fast jeder macht, der längere Zeit in einem fremden Kulturkreis lebte, lässt sich nicht selten so formulieren: »Das werde ich nie verstehen« oder »Das wird mir immer fremd bleiben«. Der Richter muss mit solchen Situationen – etwa in Asylstreitverfahren – aber vielfach zurechtkommen, obwohl er den anderen Kulturkreis nicht einmal selbst erlebt hat. Etwa bei Ver­ nehmung von Zeugen, für die Familieninteressen aus tiefer ethischer Überzeugung immer höher stehen als die Wahrheit einer Aussage. Oder bei Zeugen, die mit einer Kommunikationsform, der es darum zu tun ist, ein Problem möglichst schnell, klar und unmissverständlich auf den Punkt zu bringen, nichts anzufangen wissen, weil sie ihnen völlig fremd ist. Und in nicht seltenen Fällen ist die »Situation eines fremden Kulturkreises« schon gegeben, wenn der Zeuge oder die Prozessparteien aus Milieus kommen, die außerhalb der Erfahrungsund Lebenswelt des Richters liegen. Mechanismen, über die man nicht verfügen kann, kann eine Methodik auch nicht in Regeln fassen. Der Richter muss sie aber reflektieren können. Und es ist eine Frage der professionellen Einstel­ lung, ob man mit einem offenen, wachen Blick aufmerksam ist. Zur Erläuterung eine Prozesssituation, über die ein Jugendrichter auf einer Methodentagung der Deutschen Richterakademie berichtete: Zwei Heranwachsende waren wegen schwerer Körperverletzung angeklagt. Der als Zeuge gehörte Taxifahrer hatte die Täterschaft der beiden bezeugt. Er war aus der Zeugenrolle entlassen, blickte aber nochmals zurück und dem Richter fiel etwas Unsicheres im Blick auf. Er fragte den Zeugen, ob da noch etwas wäre, und es ergab sich dann, dass sich der Taxifahrer geirrt hatte. Die eigentlichen Täter, die unter Bewäh­ rung standen, hatten die beiden überredet, in diesem Strafverfahren ihre Rolle zu übernehmen.

b) Verhandlungsführung Die Kommunikation im Gerichtsaal unterliegt, wie in unseren Über­ legungen schon vielfach thematisiert, gesetzlichen Regelungen. Sie ist nicht frei. Wie oben am Beispiel der Erfassung von Zeugenaussagen 452 Zu Vernehmung und Persönlichkeit des Vernehmenden vgl. die konkreten Hin­ weise bei U. Eisenberg 2015, Rn. 1321 ff.

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knapp skizziert, hängt das Gelingen oder Misslingen von Kommuni­ kation zum anderen entscheidend von Mechanismen, Mustern und Vorurteilen ab, die der Richter in allenfalls sehr engen Grenzen steuern oder auch nur in ihren Wirkungen erkennen kann. Dies auch nur in Grundzügen darzustellen, würde unseren Rahmen sprengen. Aus dem weiten Themenbereich, den eine Standardtagung der Deut­ schen Richterakademie unter dem Titel »Menschen vor Gericht – Kommunikationskompetenzen als richterliches Qualitätsmerkmal« behandelt, kann ich nur zwei Aspekte herausgreifen, um bislang noch nicht angesprochene Probleme der Sachverhaltsermittlung deutlich zu machen; nicht um sie in konkrete Regeln aufzulösen, sondern um sie zu beschreiben. Der eine betrifft das, was man »Asymmetrie der Kommunika­ tion« nennen kann. Juristen haben ihre Fachsprache. Diese sprechen sie natürlich insbesondere dann, wenn sie juristische Fragen erörtern, und deshalb soll diese Problematik auch erst im Kapitel 17 über Recht und Sprache näher besprochen werden. Aber auch der Sachverhalt wird in weiten Strecken juristisch verhandelt und entsprechend juris­ tisch formuliert. Das bedeutet: Soweit die Laien das »Juristische« nicht verstehen – und das geschieht vielfach in einem Umfang, den sich Juristen gar nicht klar machen –, sind sie aus der Kommunikation ausgeschlossen. Obwohl sie in aller Regel die Betroffenen sind, werden sie zum Objekt eines Diskurses und können nicht verstehen, um was es geht. Hier hat der Richter die Pflicht, »zweisprachig« zu verhandeln. Es ist – auch im Interesse eines »richtigen Sachverhaltes« – ein Gebot der »fairen Verhandlungsführung«, dass der Laie der Verhandlung in den für ihn entscheidenden Punkten folgen kann. Eine nachträgliche »Übersetzung« durch den Anwalt ist oft nicht mehr wert als eine ärztliche Aufklärung nach der Operation.453 Als zweiter Aspekt ist die Frage nach der Intensität richterli­ cher Aufklärung zu erörtern; auf einen prozessrechtlichen Nenner gebracht: das Problem der Sachverhaltsermittlung zwischen for­ meller und materieller Wahrheit. Der Begriff der »formellen Wahrheit« wird üblicherweise dem Beibringungsgrundsatz, der »materiellen Wahrheit« der Amtsermitt­ lung zugeordnet. Damit ist dann zwar auch die Grundstruktur vor­ gegeben, in der wir die in den Prozessordnungen unterschiedlich geregelten Aufklärungspflichten zu sehen haben. Für die methodische 453

Näheres zur Problematik Alltags- und Fachsprache Kap. 17 I. u. II.

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Anwendung dieser Regeln – und damit auch für die Frage nach den Kriterien für den »richtigen« Sachverhalt – lassen sich jedoch kaum klare Regeln entwickeln. Wesentliche Grenzen sind rechtlich nicht klar bestimmbar und so bleiben zwangsläufig offene Spielräume. (1.) Zur Amtsermittlung: Verletzt ein Gericht seine Aufklä­ rungspflicht – etwa ein Verwaltungsgericht die nach § 86 Abs. 1 VwGO – ist dies ein Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Dieser liegt aber nicht schon vor, wenn das Gericht von einem unrich­ tigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht. Entscheidend ist die Prozesssituation, nicht die von dieser losgelöste »objektive« Sachlage. Mit den Worten eines Beschlusses des BVerwG v. 29.03.2012: »Eine erfolgreiche Aufklärungsrüge (§ 86 Abs. 1 VwGO) setzt u. a. die Dar­ legung voraus, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben gerügt wird, hingewirkt worden ist, oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (stRspr, […]). Die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse in der Tatsacheninstanz zu kompensieren.«454 Wir stoßen also auch hier auf die schon bekannte Differenz, die zentrales Thema dieses Teils ist: Auch wenn die Sachverhaltsfest­ stellung revisionsrechtlich »richtig« ist, schließt das durchaus die Möglichkeit ein, dass das Gericht von einem unvollständigen, nur oberflächlich und unzureichend ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist. Das Kriterium, dass sich die Feststellung weiterer entscheidungs­ erheblicher Tatsachen »hätte aufdrängen müssen«, hat die Funktion eines revisionsrechtlichen Filters. Sie ist kein Kriterium dafür, dass der Tatrichter von einem richtigen und vollständigen Sachverhalt ausgegangen ist. Ausreichend ermittelt hat der Tatrichter hier erst, wenn er all die Daten ermittelt hat, die ermittelbar sind und nach Lage des Falles für die Beurteilung der Sachlage eine Rolle spielen können. Die Einschätzung dessen, was an der Sachlage relevant ist, hängt dabei unlösbar von der Einschätzung der Rechtslage ab. Um auf Seiten des Richters den entscheidenden Punkt zu fixieren, müsste er sagen können: Auch wenn ich jetzt noch weiter ermittele, gewinnt die Tatsachengrundlage, die ich für die rechtliche Beurteilung brauche, nicht an Richtigkeit. 454

Az.; 9 B 88/11 – juris Rn. 4; vgl. auch BVerwGE 126, 149–166.

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Rechtlich sichere Vorgaben für die Intensität richterlicher Auf­ klärung gibt es aber auch nicht für ein Übermaß an Aufklärung. Die Grenzen, die hier, etwa unter dem Gesichtspunkt der »ungefragten Nachprüfung«, kontrovers diskutiert werden455, betreffen aber eher materiellrechtliche Fragen des zu wählenden rechtlichen Gesichts­ punktes. Es ist keine ungefragte Nachprüfung, wenn der Richter seine Ermittlung deshalb so ausdehnt, weil er ganz sicher sein will, von einem richtigen und vollständigen Sachverhalt ausgehen zu können. Als methodische Gegenregel muss er sich dann jedoch fragen lassen: Reichen die vorhandenen Daten wirklich nicht aus, um die gestellte Rechtsfrage beantworten zu können? Nicht selten ist es ja nur die mangelnde rechtliche Durchdringung des vorhandenen Materials, die zu der (trügerischen) Hoffnung verleitet, dass sich bei intensiverer Sachverhaltsermittlung auch eine richtige rechtliche Lösung einstel­ len wird. Und, wie gesagt, auch der Untersuchungsgrundsatz macht eine Klage nicht zu einem Forschungsauftrag. (2.) Zum Beibringungsgrundsatz: Der Zivilprozess kann mit dem früher gern zitierten Grundsatz »da mihi facta, dabo tibi jus« – Gib mir die Tatsachen, ich werde dir das Recht geben – nicht mehr charakterisiert werden. Insbesondere § 139 ZPO stellt mit seinen Aufklärungs- und Erörterungspflichten auch die Sachverhaltsermitt­ lung in die Verantwortung des Gerichts. Das gebotene Maß richter­ licher Aufklärung ist jedoch unbestimmt. Die rechtlichen Grenzen für das, was das Gericht einerseits tun muss, um seinen Pflichten nach­ zukommen, und was es andererseits nicht tun darf, ist Gegenstand umfangreicher Kasuistik.456 Der Prozessrechtler kann hier zu Recht auf den jeweiligen Einzel­ fall verweisen. Uns muss aber genau der Grenzbereich interessieren: »Was das Gericht nicht zu tun braucht«,457 aber tun kann, um sei­ ner »prozessualen Fürsorgepflicht«458 gerecht zu werden, ohne den Verhandlungsgrundsatz als Amtsermittlung zu handhaben und ohne 455 Zum Grundsatz der sog. »ungefragten Fehlersuche« vgl. BVerwGE 116, 188–197, sowie H. Sendler, DVBl 2002, 1412–1414. 456 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 72. Aufl. § 139 ZPO, Rn. 43 ff. 457 Zöller/Greger, ZPO, 20. Aufl., § 139 Rn. 12. 458 Vgl. BGH, BauR 2010, 246–247: »Das Gericht muss – in Erfüllung seiner pro­ zessualen Fürsorgepflicht – gemäß § 139 Abs. 4 ZPO Hinweise auf seiner Ansicht nach entscheidungserhebliche Umstände, die die betroffene Partei erkennbar für uner­ heblich gehalten hat, grundsätzlich so frühzeitig vor der mündlichen Verhandlung erteilen, dass die Partei die Gelegenheit hat, ihre Prozessführung darauf einzurichten und schon für die anstehende mündliche Verhandlung ihren Vortrag zu ergänzen und

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III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung

gegen seine Rolle als unparteiischer Mittler und Richter zu verstoßen. Die Konfliktlage ist an Beispielen schnell klar zu machen: Auf eine ausführliche und sorgfältige Klageschrift folgt eine nichts sagende, unsubstantiierte Klageerwiderung. Der Richter bemüht sich nun, diesen Vortrag erheblich zu machen. Oder der Richter kommt seiner Aufklärungspflicht so nach, dass zwar ein Fachanwalt noch ohne grö­ ßere Verständnisprobleme folgen kann, nicht aber der klagende Herr Müller. Oder folgender Beweisbeschluss: »Beweisthema: Erwerb von drei darlehensfinanzierten Eigentumswohnungen durch den Kläger und die Zeugin im Jahr 1993«. – In dieser Allgemeinheit kann das nur zur Aufforderung an die Zeugin führen: »Nun erzählen Sie mal, wie das alles so war«. Mit Frage und Nachfrage steht der Richter dann mitten in einer Amtsermittlung. Ein Versuch, für die Anwendung des § 139 ZPO methodische Regeln der Verhandlungsführung zu formulieren, müsste sich zunächst auf die unterschiedlichsten Kommunikationssituationen einstellen und festhalten, was in ihnen situationsangemessen ist. Und Entsprechendes gilt natürlich für die schriftliche Kommunikation (Aufklärungsverfügung). Will man hier methodischen Regeln auf­ stellen, zeigt sich unabweisbar, dass man (vor allem) diese nicht los­ gelöst von Person und Rollenverständnis des Richters diskutieren kann. In Anlehnung an die Untersuchung von J. Schmid u. a. und die dort sehr anschaulich beschriebene Art, wie Richter Fälle bearbei­ ten,459 lässt sich die methodische Problematik aber typisierend anhand von vier Arten der Verhandlungsführung und entsprechenden »Richtertypen« deutlich machen. Da ist (1.) der Stil des »Routiniers«, (2.) der Stil des »Relationstechnikers«, (3.) der Stil extensiver Auf­ klärung und (4.) der Stil souveräner Verhandlungsführung. Dem »Routinier« reicht als Richtschnur das, was er als »Rechts­ gefühl« versteht. Methodik sind für Routiniers die Techniken, die sie »im Laufe ihrer langjährigen Erfahrung […] entwickelt haben, um sich die Arbeit zu erleichtern«.460 Die Frage, »was das Gericht nicht zu tun braucht, aber tun kann, um seiner prozessualen Fürsorgepflicht die danach erforderlichen Beweise anzutreten. Erteilt es den Hinweis entgegen § 139 Abs. 4 ZPO erst in der mündlichen Verhandlung, muss es der betroffenen Partei genügend Gelegenheit zur Reaktion hierauf geben.« Siehe auch BGH, BauR 2011, 1200–1202; BGH, NJW 1991, 493–495; Hartmann § 139 Rn. 7 ff. 459 J. Schmid 1997b, S. 159 ff.; vgl. auch Kap. 5 I. 2. 460 J. Schmid 1997b, S. 167.

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gerecht zu werden«, ist für sie eine rein theoretische Frage, die für ihre Praxis genauso irrelevant ist wie alle in diesem Buch erör­ terten methodischen Probleme. Für den »Relationstechniker«,461 der seine Verhandlung entscheidend danach schematisiert, ob der Vortrag den Darlegungslasten und, wenn ja, auch den Beweisführungslasten genügt, stehen dagegen die rechtsmethodischen Vorgaben der Ver­ handlungsmaxime so stark im Vordergrund, dass die Prozessbeteilig­ ten auch dort nicht mit seiner prozessualen Fürsorgepflicht rechnen können.462 Den Gegenpol bilden die Richter, die »extensive Aufklä­ rung« betreiben und »in diverse Einzelheiten des Falles einsteigen«.463 Als Typus kann man hier den »Kümmerer« und den »Chaoten« ausma­ chen. Ersterer dehnt – besonders oft in Familienrechtsstreitigkeiten – auch im Anwaltsprozess sein Aufklärungs- und Erörterungsbemühen so aus, dass er nicht nur Amtsermittlung betreibt, sondern auch noch in die Rolle eines Rechtsberaters schlüpft.464 Extensive Aufklärung muss aber nicht nur gut gemeinter Fürsorge entspringen; oft ist sie nur Ausdruck unzureichender gedanklicher und rechtlicher Struktu­ rierung. Man hofft dann wohl, in einem der möglichst vielen Details auch die Spur für die richtige Lösung zu finden. Es fehlt der Durchblick und für die Verhandlungsführung war zu konstatieren: Es »gerieten die Fragen durcheinander und verloren den Themenbezug, so daß im Extrem ein Zustand erreicht wurde, der nicht mehr erkennen ließ, wie weit das Verfahren gediehen war«.465 Viertens bleibt schließlich das Ideal der »souveränen Verhandlung«. Sie zeigt sich »außer in der Rechtskenntnis vor allem in der gründlichen Vorbereitung der Verhandlung, in der vorab ausgearbeitete, klare konkrete Fragen gestellt wurden. Die Verhandlung verlief nicht nervös oder hektisch, und der Umgang mit den Prozessbeteiligten war freundlich.«466 Man wird hinzufügen: In der Erörterung der Sach- und Rechtslage, in Frage und Antwort kann sich der Richter auf die Parteien einstellen. Seine Aufmerksamkeit ist konzentriert – zugleich aber auch hinreichend offen, um Indizien für eine möglicherweise ganz andere Sicht der Sachlage wahrnehmen zu können. Den es in »reiner Form« heute allerdings nur noch selten geben dürfte. J. Schmid 1997b, S. 164 f. 463 aaO. S. 169. 464 Vgl. zu den rechtlichen Grenzen Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 72. Aufl. § 139 ZPO, Rn. 71. 465 J. Schmid 1997b, S. 172. 466 aaO. S. 160. 461

462

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III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung

Die Beschreibung unterschiedlicher Verhaltensmuster auf Seiten der Richterbank bliebe jedoch selbst als vereinfachende Skizze unvoll­ ständig, wenn nicht wenigstens ein Hinweis darauf erfolgte, dass die Analyse einer situationsadäquaten Kommunikation nicht nur die unterschiedlichen Rollenverständnisse der Richter, sondern auch die der Anwälte einzubeziehen hat. Stellt man sich einerseits den gut vorbereiteten Fachanwalt, den Staranwalt, den Kleinstadt-Allrounder (der durchaus darauf vertrauen darf, dass ihm die Richter »seines« Gerichts notfalls schon helfen werden) oder den Anwalt als Typus des Routiniers oder des Chaoten vor, ergeben sich aus den Kombinationen eine Vielzahl von Interaktionsmustern. Diese könnten selbst nach umfangreichen Analysen nicht hinreichend auf den Nenner von Regeln gebracht werden. Aber es wird ein entscheidender Punkt deut­ lich: Die richterliche Fürsorge darf nicht dazu führen, dass die ver­ fahrensrechtliche Gleichbehandlung unbeachtet auf der Strecke bleibt.

3. Der Sachverhalt – eine Verknüpfung von Indizien Die Sachverhaltsermittlung ist ein Informationsverarbeitungspro­ zess. Der Richter muss für das normative Schema Tatbestand – Rechtsfolge Feststellungen darüber treffen, ob die mit der Klage / Anklage / Einrede behaupteten Zustände / Ereignisse auf einem behaupteten Tun, Dulden oder Unterlassen einer Person oder dem Zustand einer Sache beruhen oder nicht. Und in der Regel trifft der Richter diese Feststellungen nicht durch unmittelbare Wahrnehmung der für den Tatbestand wesentlichen Tatsachen, sondern im Wege von Schlussfolgerungen aus ihm vorgetragenen oder von ihm ermittel­ ten Informationen. Eingeordnet in das Problem revisionsrechtlicher Überprüfung der Beweiswürdigung hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner »Cadmium-Entscheidung« die »logische Operation« des indiziellen Beweises expressis verbis wie folgt hervorgehoben: »Der an sich beste­ hende Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) wird durch die richterrechtlich ausgebildeten Regeln des indi­ ziellen Beweises eingeschränkt. Auch der indizielle Beweis ist Voll­ beweis. Er besitzt insoweit einen logischen Aufbau, als Folgerungen auf das zu beweisende Tatbestandsmerkmal mit Hilfe von Erfah­

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rungstatsachen gezogen werden. Der Indizienbeweis erfordert damit zum einen Indizien (sog. Hilfstatsachen), zum anderen allgemeine Erfahrungssätze und schließlich Denkgesetze und logische Operatio­ nen, um auf das Vorhandensein der Haupttatsache folgern zu kön­ nen.«467 Der Grundmechanismus, der hier nicht nur der Beweiswürdi­ gung und der Feststellung einzelner Tatsachen, sondern auch allge­ mein der Konstruktion des Sachverhaltes zugrunde liegt, lässt sich verallgemeinernd so beschreiben: Man verknüpft Informationen, indem man von einem oder mehreren bekannten Umständen (Indi­ zien, Beweiszeichen, »Hilfstatsachen«468) auf Tatsachen schließt, die unbezeugt sind, die jedenfalls bislang noch nicht fraglos feststehen. Ob diese Schlussfolgerungen von einer bekannten Erfahrung auf eine anzunehmende Realität richtig sind, ist augenscheinlich keine Frage des rein logischen Kalküls. Wie können diese Schlussfolgerungen dann aber überhaupt überzeugen, und woher nehmen wir die Krite­ rien für die Bewertung, dass sie keine ernsthaften Zweifel aufwerfen, unsere Kriterien für die Stimmigkeit unserer Sachverhaltskonstruk­ tion? In der Praxis wirft das oft keine Probleme auf. Beispiele: X hat zugegeben, den Brand gelegt zu haben; Y hat eingeräumt, dass das gekaufte Haushaltsgerät im Geschäft ausprobiert wurde und keinen erkennbaren Mangel hatte; der Richter hat sich per Augenschein davon überzeugt, dass der Bau abweichend von der Baugenehmigung gebaut wurde. Oder ein Sachverständiger konnte den Unfallhergang rekonstruieren; ein anderer hat bestätigt, dass das Medikament zur Lähmung geführt hat. Bestreitet X aber, etwas zugegeben zu haben, oder wird dem Sachverständigen entgegengehalten, dass eine seiner Sachverhaltsannahmen unzutreffend sei, muss der Richter auch in dem zunächst »klaren« Fall in eine Beweiserhebung und -würdigung eintreten, die kompliziert werden kann. Und dann stellt sich, bevor wir überhaupt nach Richtigkeitskriterien fragen können, das erkenntnis­ theoretische Grundproblem nach den »Denkgesetzen« oder »Denkfi­ guren«, die hinter solchen Schlussfolgerungen stehen.

467 468

BVerwGE 84, 271–274, juris Rn. 27, 20. Vgl. Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 586 ff.

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a) Die Verknüpfung und ihre Denkgesetze Greifen wir auf die Folgerungen zurück, die sich insbesondere aus unseren erkenntnistheoretischen Überlegungen zu den »Phänome­ nen der Vermittlung« ergeben haben (Kap. 12 II. 1.), lassen sich die hinter dem Vorgang der Verknüpfung stehenden kognitiven Pro­ zesse in ihrer Grundstruktur erkennen und sind so als Mechanismen zur Herstellung von Kohärenz auch verständlich. Für die konkreten Schlussfolgerungen, die wir jetzt zu ziehen haben, bedeuten diese Ergebnisse aber auch, dass es – jedenfalls bei dem derzeitigen Wis­ sensstand – nicht möglich ist, die unterschiedlichen Ansätze aus traditioneller Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie oder Kognitions­ wissenschaft so auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, dass sich die Denkvorgänge, die der Sachverhaltskonstituierung zugrunde lie­ gen, präzise beschreiben ließen. Das heißt, wir können die einzelnen »Denkgesetze« oder »Denkfiguren«, die bei der Konstruktion eines Sachverhaltes im Spiele sind, nur eher kasuistisch als theoretisch-sys­ tematisch erfassen. Und da diese »Denkgesetze« oder »Denkfiguren«, wie in dem Abschnitt über die Akzeptanz schon gezeigt (Kap. 8 VI. 3. b), nicht selten falsch spielen, gehört zu dieser Kasuistik auch eine solche typischer Fehlerquellen.

b) Eine Typologie der Verknüpfungen und ihre typischer Fehlerquellen In dem Abschnitt über »Akzeptanz der Prämissen – Wissenschaft und Alltagstheorien« hatten wir – abgestellt auf die unterschiedli­ chen Wissensgrundlagen – drei Grundtypen von Verknüpfungen unterschieden, die die Konstruktion eines Sachverhaltes kohärent halten (müssen): naturwissenschaftliche Gesetze; wissenschaftlich begründete Zusammenhänge; Alltagstheorien, Erfahrungssätze. Kann der Richter seine Schlussfolgerungen auf wissenschaftlich abgesicherte Wenn-dann-Beziehungen stützen, ist damit für das alltägliche Wirklichkeitsverständnis auch sichergestellt, dass er mit seiner Sachverhaltsfeststellung hinreichend beschreibt, »wie es gewe­ sen ist«. In den meisten Fällen muss er seine Verknüpfungen jedoch auf Grundlagen vornehmen, für die er nur teilweise auf wissenschaft­ lich begründete Zusammenhänge zurückgreifen kann oder allein auf Alltagswissen angewiesen ist. Die methodischen Probleme, die mithin

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bei der Anwendung von Erfahrungssätzen zwangsläufig auftreten, sind jedoch wenigstens bewusst zu machen. Sie sollen deshalb im Folgenden in ihren unterschiedlichen Spielarten näher analysiert werden. Dies soll zugleich ein Versuch der Systematisierung sein. (1.) Betrachten wir zunächst nur die Struktur der Verknüpfung, haben Erfahrungssätze folgende Grundformen, die wir unterscheiden können: Die Schlussfolgerungen erfolgen nach dem Schema: immer dann, wenn; nach dem Schema: fast immer dann, wenn; oder nach dem Schema: wahrscheinlich dann, wenn. (1.1) Die – insbesondere auch für das Revisionsrecht wichtige – Unterscheidung zwischen einerseits »allgemeinen Erfahrungssät­ zen«, die einer revisionsgerichtlichen Überprüfung zugänglich sind, und andererseits (sonstigen) Erfahrungssätzen bzw. Erfahrungstatsa­ chen differenziert nach diesen Grundformen. 1.

2.

Die »allgemeinen Erfahrungssätze« sind durch das Schema: »immer dann, wenn« definiert. Darunter sind, so der BGH, »nur solche empirisch aus der Beobachtung und Verallgemeinerung von Einzelfällen gewonnenen Einsichten zu verstehen, die, auf ihren Anwendungsbereich bezogen, schlechthin zwingende Fol­ gerungen enthalten, denen auch der Richter folgen muß«.469 Es handelt sich um »jedermann zugängliche Sätze, die nach der allgemeinen Erfahrung unzweifelhaft gelten und durch keine Ausnahme durchbrochen sind«.470 Davon zu unterscheiden sind die übrigen Erfahrungssätze und Erfahrungstatsachen, die zwar ebenfalls auf Erfahrung beru­ hen, aber keine strikten Wenn-dann-Beziehungen ermöglichen, sondern nur Wahrscheinlichkeitsaussagen enthalten. In diesen Fällen hat der Richter den Tatsachenstoff erst anhand weiterer Beweisanzeichen darauf zu prüfen, ob sie im konkreten Fall zur Gewissheit werden. Erfahrungstatsachen können mit anderen Worten nicht unabhängig von den Umständen des Einzelfalles allgemein Gültigkeit beanspruchen.471

BGHSt 31, 86–91; s. auch BFHE 157, 165. BVerwGE 67, 83, 84. 471 Vgl. BGHSt 31, 86–91; BFHE 157, 165. – Zu den »historischen Tatsachen«: BVerwG Urteil vom 25. Juni 2008 – 8 C 12/07 –, Rn. 18, juris: »Der typische Cha­ rakter des Geschehensablaufs kann sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung, aus sonst offenkundigen Tatsachen einschließlich der historischen Tatsachen oder aus speziellem Erfahrungswissen ergeben. Ob beim jeweiligen Falle ein solcher typischer 469

470

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III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung

(1.2) Die nächste Differenzierung liegt darin, zu unterscheiden, ob die Tatsache, aus der auf die zu treffende Feststellung geschlossen werden soll, eine notwendige und auch ausreichende oder nur eine notwendige Bedingung ist. Den unter (1.) genannten Formeln ist dann hinzuzufügen: »... und wenn auch …«. Zur Illustration diene die unterschiedliche Verwendung des BAK-Wertes als Indiz: 1.

2.

zunächst der Autofahrer, bei dem eine Blutalkoholkonzentration von 0,9 Promille gemessen wurde. Für die Annahme einer Fahr­ untüchtigkeit (§§ 315c, 316 StGB) ist das nicht ausreichend. Kommen aber weitere Momente hinzu (»... und wenn auch …«), etwa waghalsiges Überholen, Fahren in Schlangenlinien, Bewe­ gungsanormalitäten, ist eine solche Feststellung gerechtfer­ tigt.472 Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit war dagegen »in älte­ rer Rechtsprechung die Auffassung vertreten worden, bei Über­ schreiten bestimmter Grenzwerte sei die Steuerungsfähigkeit mit einem kaum widerlegbaren Grad an Wahrscheinlichkeit ›in aller Regel‹ erheblich vermindert«.473 Diese Auffassung hat der BGH inzwischen aufgegeben.

Der BGH hat sich damit der Kritik aus der forensisch-psychiatrischen Wissenschaft angeschlossen, dass es prinzipiell unmöglich sei, »einer bestimmten Blutalkoholkonzentration für jeden Einzelfall gültige psychopathologische, neurologisch-körperliche Symptome oder Ver­ haltensauffälligkeiten zuzuordnen«.474 Parallel dazu liegt die Argu­ mentation zur Fahruntüchtigkeit: »Gesicherte Erfahrungswerte, die es erlauben würden, bei Blutwirkstoffkonzentrationen oberhalb eines bestimmten Grenzwertes ohne Weiteres auf eine rauschmittelbe­ dingte Fahrunsicherheit zu schließen, bestehen nach wie vor nicht«.475 (1.3) Soweit der Erfahrungssatz keine eindeutige Wenn-dannBeziehungen beinhaltet, sondern Aussagen nur nach dem Schema: »wahrscheinlich dann, wenn« zulässt, steht der Richter vor dem Geschehensablauf als Grundlage einer tatsächlichen Vermutung vorliegt, hat das Tat­ sachengericht im Rahmen seiner Aufklärungspflicht festzustellen« – Buchholz 428 § 1 Abs. 2 VermG Nr. 36. 472 Vgl. dieses Beispiel eines »Beweisringes« bei Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 625; s. auch BGH NStZ 2012, 324–325. 473 BGH, NJW 2012, 2672–2675, mit Hinweis u. a. auf BGHSt 37, 233 ff. 474 BGH, NJW 2012, 2672–2675 – juris 21. 475 BGH, B v. 21.12.2011 – 4 StR 477/11 – NStZ 2012, 324–325.

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Problem, die Wahrscheinlichkeit richtig einzuschätzen. Der Grad der Wahrscheinlichkeit ist aber nur abschätzbar, wenn die Häufig­ keitsverteilung bekannt ist, man also sagen kann, wie signifikant ein Indiz / Beweisanzeichen z. B. für einen Kausalverlauf oder eine Täteridentifizierung ist. Die Problematik wird evident, wenn die Häu­ figkeitsverteilung nur aufgrund eigener Erfahrung geschätzt wird. 1.

Beispiel: A fährt nahezu täglich mit der Bahn. B nur ganz selten und dann hatte der Zug jedes Mal Verspätung. Wie brauchbar werden die aus diesen Erfahrungen gebildeten Erfahrungssätze sein? – Erfahrungssätze, die etwa von Bedeutung sind, inwie­ weit es einer Partei zuzurechnen ist, dass sie einen Termin versäumt hat.

Wie grundsätzlich oben schon als Merkposten hervorgehoben: Unsere Annahmen über Wahrscheinlichkeiten unterliegen oft typi­ schen Fehleinschätzungen. Eine typische Fehlerquelle liegt darin, dass bei der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten oft die Grundraten, also die Ausgangshypothese übersehen und so eine Wahrscheinlich­ keit viel zu hoch eingeschätzt wird.476 1.

Konkretisiert sei das Problem der Anfangswahrscheinlichkeit am Beispiel der DNA-Analyse. Die Seltenheit der Merkmals­ kombinationen liegt heute im Milliardenbereich, die Signifikanz ist insoweit eindeutig. Als man noch mit Dreierkombinationen gearbeitet hat, konnte man davon ausgehen, dass von 1000 Personen nur 1 Person die gleiche Kombination aufwies. Wann war unter diesen Voraussetzungen X als Sexualstraftäter über­ führt? Wenn 800 Personen getestet wurden, scheint das Ergebnis sicher. Wenn der mögliche Täterkreis aber (in einer größeren Stadt) 100.000 Personen umfasste, kommen neben X noch 99 andere Personen als Täter in Betracht.477

(1.4) Der Mensch neigt aber nicht nur dazu, Wahrscheinlichkeiten falsch einzuschätzen. Damit zusammenhängend kann er insbeson­ dere auch mit Kausalitäten nur sehr »subjektiv« umgehen, was nicht nur heißt: individuell unterschiedlich. In einer der Alltagserkenntnis oft eigentümlichen Weise werden vielmehr auch dort Kausalitäten Vgl. das Beispiel bei J. R. Anderson 2001, S. 327. Das Beispiel ist Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 642 ff entnommen, die an die Entscheidung BGHSt 38, 320 anknüpfen.

476 477

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als sicher angenommen, wo mit wissenschaftlicher Sicherheit keine auszumachen sind. Omen, Rauchzeichen, Vogelflug, Sternkonstel­ lationen, manche Therapieformen sind traditionelle und aktuelle Beispiele. Bei der Sachverhaltswürdigung liegt der neuralgische Punkt insbesondere in dem uns eingewurzelten Bestreben, für ein Ereignis – eine Wirkung – auch eine Ursache zu suchen. Hier liegt die Gefahr einer voreiligen, unrichtigen Verknüpfung schnell nahe. Was bei einer ex ante-Betrachtung vielleicht gar nicht oder allenfalls als mögliche Entwicklung in Betracht gezogen worden wäre, wird bei einer ex post-Beurteilung – wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist – zu der Feststellung: Das musste ja so kommen. In der psychologischen Forschung lautet das Stichwort hierzu »Rückschaufehler«.478 Im Nachhinein, so der Fehler, unterstellt der Richter einen Grad der Wahrscheinlichkeit, den der Betroffene in der für ihn noch völlig offenen Situation so gerade nicht einschätzen konnte. H. Bergson hat dieses Phänomen anschaulich als »Illusion des retrospektiven Determinismus« beschrieben. (1.5) Eine nicht seltene Fehlerquelle ergibt sich daraus, dass aus Erfahrungen eine Wenn-dann-Beziehung abgeleitet wird, obwohl dem Indiz für die festzustellende Tatsache keine signifikante Bedeutung zukommt. M a. W. das Indiz lässt auch Rückschlüsse auf viele andere Ursachen/Tatsachen zu (zur weiteren Erläuterung vgl. u. 2.1). Zulässig wäre nur der Schluss: »wenn, dann möglicherweise«. (2.) Inhaltlich ist zwischen den unterschiedlichen Wissensgrund­ lagen zu unterscheiden, aus denen die Erfahrungssätze abgelei­ tet sind: 1.

2.

478

Das können wissenschaftliche Untersuchungen sein (Unfall­ forschung, medizinische, metallurgische, kriminalistische, forensische, aussagepsychologische Untersuchungen etc.). Das Gericht hat hier darauf zu achten, ob sie als fachwissenschaftliche Erfahrungssätze hinreichend verifiziert und akzeptiert sind und – insbesondere hinsichtlich der Wahrscheinlichkeitsannahmen – auch richtig angewandt sind (s. 1.2.). Handelt es sich um Erfahrungssätze, die auf allgemeine Lebens­ erfahrung oder bereichsspezifisches Alltagswissen gestützt werden, so wurde deren grundsätzliche Problematik bereits angesprochen. Unsere alltägliche »Wirklichkeitserfassung« kann auf Alltagstheorien nicht verzichten. Auch der Richter wird bei Vgl. Kirchler/Stark 2014; Art. »Rückschaufehler«.

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seiner Einschätzung, was denn »Sache war«, nicht ohne sie auskommen. Man kann über Alltagstheorien im Gerichtsalltag trefflich spotten. Aber sie gehören zu den Grundmechanismen menschlicher Kognition. Das Feld möglicher Fehleinschätzungen ist allerdings ein weites. Einige der typischen Anwendungsfälle und Fehlerquellen sollen in den folgenden Untergliederungs­ punkten wenigstens benannt werden: (2.1) Scheinbare Erfahrungssätze: Wenn Erfahrungssätze auf Erfahrungswerten beruhen, dann sind diese oft nur begrenzt, weil die Erfahrungsbasis / Perspektive nur begrenzt ist. Es wird so leicht eine scheinbar sichere Verbindung zwischen Indiz und festzustellender Tatsache hergestellt, ohne zu sehen, dass dieses Indiz nicht nur kein notwendiges, sondern nicht einmal ein typisches »Beweisanzeichen« für die angenommene Haupttatsache ist. Ein Trugschluss, dem nicht nur Richter unterliegen, die ihre individuellen Erfahrungen (insbe­ sondere, wenn sie emotional nachhaltig waren) für mehr oder minder allgemeine halten. Auch wissenschaftliche Begutachtungen können mit solchen Wenn-dann-Beziehungen arbeiten, ohne zu sehen, dass spezielle Erfahrungen unzulässig verallgemeinert werden. 1.

Bei Kindern, die sexuell missbraucht wurden, kommt es oft zu Verhaltensauffälligkeiten. Hat ein Sachverständiger – so das Bei­ spiel von Bender/Nack/Treuer zu dieser Form des Trugschlusses – seine Erfahrung nahezu ausschließlich aus seinen Erfahrungen mit missbrauchten Kindern gewonnen, erfährt er ihre Auffällig­ keiten als deliktstypisch und sie werden im Prozess zu Belas­ tungsindizien. Dass solche Verhaltensauffälligkeiten vielfältige andere Gründe haben können, kommt nicht in den Blick.479

(2.2) Scheinbare Alternativlosigkeit: Insbesondere der Strafrich­ ter steht nicht selten vor der Situation, dass er über Indizien verfügt, von denen zwar keines einen sicheren Schluss auf das Geschehen zulässt, die aber eine bestimmte Sachverhaltsannahme plausibel erscheinen lassen. Der entscheidende Schritt zur Überzeugung wird dann mit dem Argument vollzogen: wie oder wer soll es denn sonst gewesen sein.

479

Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 597.

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Zur Illustration sei hier der Pistazieneis-Fall480 zitiert, über den in der Presse unter dem Titel: Das falsche Bild von der teuflischen Tante481- berichtet wurde. Die Tante kam abends als Babysitterin und brachte eine Portion Pistazieneis mit. Von diesem gab sie ihrer Nichte zwei Portionen mit Schokoladensoße, die im Haus war. Das Kind starb am nächsten Tag um 11.32 Uhr; diagnostiziert wurde eine Arsenvergiftung. Das Landgericht, das sich offenbar ein sicheres Bild von der Tante – in der Presse als »mondän« beschrieben – gemacht hatte, verurteilte sie, trotz einer ersten Zurückverweisung, auch im zweiten Anlauf wegen Mordes. Der BGH hob das Urteil auf und begründete den Freispruch u. a. wie folgt: »Das Tatgericht legt […] in einseitiger Weise verschiedene Maßstäbe an die Prüfung der Täterschaft der Eltern des Tatopfers einerseits und der Angeklagten andererseits an. Da Motive und tatnahe Indi­ zien fehlen, zieht das Landgericht aus zahlreichen Verhaltensweisen und allgemeinen, aber nicht unmittelbar tatbezogenen Äußerungen der Angeklagten Folgerungen zu ihren Lasten. Demgegenüber wird Gleichartiges auf Seiten der Eltern als plausibel, nachvollziehbar u. ä. qualifiziert. Dabei handelt es sich jedoch nur um zahlreiche Spe­ kulationen über innere Vorgänge oder Vermutungen zu allenfalls möglichen (oder auch näher liegenden) Sachverhalten, ohne dass dies durch (wesentlich) mehr als die ’Überzeugung’ des Landgerichts gestützt wird«.

(2.3) Richterlich gesetztes Erfahrungswissen: So kann man die meist nicht weiter reflektierte Anwendung von Alltagstheorien und Erfahrungswissen nennen, von denen das Gericht einfach als gegeben ausgeht. Es ist die übliche Art, mit der jedermann im Alltag mit sei­ nem Wissen umgeht. Man hält es für selbstverständlich, dass man mit seinem Erfahrungswissen die Realität seiner Alltagswelt auch richtig erfasst. Falsch muss das nicht sein. Aber es muss auch nicht immer richtig sein. – Fragt man nach einem möglichen Korrektiv, so ist es das Kollegialitätsprinzip und zum anderen der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, der das Gericht verpflichtet, auch Erfahrungstatsachen, die es

BGH-Entscheidung vom 19.01.1999 (1 StR 171/98), NJW 1999, 1562–1564 – juris Rn. 8. 481 So der Bericht der SZ vom 22.01.1999.

480

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zur Begründung seines Urteils verwenden will, zum Gegenstand der Verhandlung zu machen.482 (3.) Weitere, für die rechtliche Betrachtung wichtige Unterschei­ dungen sind hinsichtlich der Arten und Graden der Wahrscheinlich­ keit zu machen: (3.1.) Zunächst ist zwischen zwei grundsätzlich unterschiedli­ chen Wahrscheinlichkeitseinschätzungen zu differenzieren483: 1. 2.

der objektiven, auch statistischen oder aleatorischen Wahr­ scheinlichkeit und der subjektiven, auch induktiven oder epistemischen Wahr­ scheinlichkeit.

Letztere stellt auf den konkreten Fall ab. Sie meint »den Grad von Gewissheit, den Überzeugungsgrad, das Fürwahrhalten«484 und ist auf die richterliche Gewissheit bezogen, ein Problemfeld, das wir im Abschnitt über das Beweismaß (Kap. 14 III.) näher beleuchten müssen. Aus der objektiven, statistischen Wahrscheinlichkeit kann der Richter konkrete Schlussfolgerungen für den konkreten Fall nur ziehen, wenn die Wahrscheinlichkeit 1. 2.

entweder so hoch liegt, dass für vernünftige Zweifel an der Sicherheit der Schlussfolgerung kein Raum bleibt, weil der Wert, der an 100 % fehlt, statistisch kein Gewicht hat485, oder aus Rechtsgründen, d. h., wenn aus Gründen des Beweismaßes ein geringerer Grad von Wahrscheinlichkeit genügt.

(3.2.) Ein typisierter Anwendungsfall, in dem der Richter aus einem nicht sicheren, aber wahrscheinlichen Kausalverlauf Schlüsse ziehen darf, ist der Anscheinsbeweis. Der Anscheinsbeweis erlaubt es, bei typischen Geschehensabläufen aufgrund allgemeiner Erfahrungs­ sätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache 482 BVerfGE 10, 177; BVerfG 2. Senat 2. Kammer, B. v. 08.03.1988 – 2 BvR 19/87 – juris; BVerwGE 67, 83–84. 483 Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 568; vgl. auch U. Eisenberg 2015, Rn. 918. 484 Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 568; vgl. auch Eisenberg 2015, Rn. 920 ff. 485 Als anschauliches Beispiel vgl. BGHZ 133, 110–117: »Im Streitfall hat das sero­ logische Gutachten eine Wahrscheinlichkeit für die Vaterschaft des Klägers von 99,9993 % und damit einen weit höheren Grad an Gewißheit erbracht, als er in den meisten Prozessen möglich ist, in denen zur Feststellung der Wahrheit keine natur­ wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden zur Verfügung stehen.«

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III. Problemfelder methodischer Sachverhaltsermittlung

bzw. das Verschulden festgestellt ist.486 Oder in der Formulierung des BVerwG: »Die Anscheinsbeweisführung setzt einen Sachverhalt vor­ aus, der nach der Lebenserfahrung regelmäßig auf einen bestimmten Verlauf hinweist und es rechtfertigt, die besonderen Umstände des einzelnen Falls in ihrer Bedeutung zurücktreten zu lassen«.487 – An diesen Voraussetzungen fehlt es, wenn mehrere Handlungsalternati­ ven in Betracht zu ziehen sind oder besondere Umstände hinzukom­ men, die wegen der Abweichungen des Sachverhalts von den typi­ schen Sachverhalten einen anderen Geschehensablauf als ernsthafte, ebenfalls in Betracht kommende Möglichkeit nahelegen.488 Entspre­ chend führt der Anscheinsbeweis nach ständiger Rechtsprechung nicht zu einer Umkehr der Beweislast, sondern macht den Gegenbe­ weis nötig, wenn der Gegner eine atypische Folge behauptet.489 Prinzipiell unvereinbar ist der Anscheinbeweis mit strafrechtli­ chen Grundsätzen: »Es gibt im Strafprozess keinen Beweis des ersten Anscheins, der nicht auf der Gewissheit des Tatrichters, sondern auf der Wahrscheinlichkeit eines Geschehensablaufs beruht (BGH, Urteil vom 15. Juli 2008 – 1 StR 231/08)«.490 Die Tat muss konkret nach­ gewiesen werden. Eine nach dem Muster der Anscheinsregel zugrunde liegende Erfolgstypik reicht hier nicht.

c) »Gesamtschau«, Beweismaß und Kohärenz Mit der »Typologie der Verknüpfung« und den typischen Fehlerquel­ len, die mit ihnen verbunden sind, ist zwar ein wesentlicher Teil des für die Methodik der Sachverhaltsfeststellung wichtigen Problemfel­ des der Verknüpfung von Indizien im Vorgang der Beweiswürdigung besprochen. Offen ist aber nicht nur das für die richterliche Überzeu­ gung entscheidende »Beweismaß«. Noch komplexer und in seiner Struktur noch schwieriger zu erfassen ist der Mechanismus, den die gerichtliche Praxis meist auf die Formel von der »Beweiswürdigung 486 BGHZ 192, 84–90 m. w. N.; zur Übersicht vgl. Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl., vor § 284 Rn. 29. 487 BVerwG, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 305 m. H. auf BVerwGE 100, 310, (314). 488 BGH, NJW 2012, 2263–2265 – juris Rn. 13. 489 BGHZ 100, 31–35 m. w. N. 490 Vgl. BGH NStZ-RR 2011, 50 – juris Rn. 9.

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Kapitel 13: Regeln der Sachverhaltsermittlung

im Rahmen einer Gesamtschau aller Beweisanzeichen«491 bringt. Es ist eine Formel mit vielen Unbekannten, die aber durchaus hand­ habbar wird, wenn man diese »Gesamtschau« als Herstellung von Kohärenz begreift.

So etwa BGH Urt. v. 07.04.2005 – 5 StR 544/04 – juris Rn. 10.; BGH Urt. v. 08.05.2012 – XI ZR 262/10 – juris Rn. 45, NJW 2012, 2427–2434; oder »Gesamt­ würdigung aller Beweisanzeichen« BGH, B. v. 10.02.2009 – 5 StR 12/09 – juris Rn. 9. Beweisanzeichen stehen hier für Indizien oder den Terminus »Hilfstatsachen, vgl. Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 219.

491

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Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

Zu verknüpfen sind im Sachverhalt nicht nur einzelne Indizien. Oft ist es eine Vielzahl von Tatsachen und Indizien, die zu einer Einheit, zu einem kohärenten Sachverhalt verbunden werden müssen. Verlangt wird für diesen zentralen Vorgang der Beweiswürdigung eine »Gesamtschau aller Beweisanzeichen«. Aber was ist unter »Gesamt­ schau« bzw. »Gesamtwürdigung« zu verstehen? Wie haben wir uns die Vorgänge, die damit gefordert sind, vorzustellen? Eine Antwort auf diese Fragen werden wir nur insoweit geben können, als es uns im Folgenden gelingt, die kognitiven Prozesse zu beschreiben und zu analysieren, die diese »Gesamtwürdigung« bzw. »Gesamtschau« ausmachen. Nur so lassen sich auch Richtigkeitskriterien für die Sachverhaltskonstruktion gewinnen.

I. Der Sachverhalt – die drei Elemente der Kohärenz Ausgangspunkt unserer Analyse muss auch hier die Bestimmung des Kohärenzbegriffes durch seine drei Elemente sein. In ihrer grundsätz­ lichen Bedeutung sind die Elemente Widerspruchsfreiheit, Umfas­ sendheit und Stimmigkeit zwar schon erläutert worden (Kap. 8 I. 2). Wie später im Kapitel 25 für die Rechtsermittlung müssen sie für die Sachverhaltsfeststellung jedoch nochmals thematisiert werden, um auch die konkreten Probleme, die sich in diesem Bereich stellen, zu veranschaulichen und einordnen zu können.

1. Widerspruchsfreiheit Die »Widerspruchsfreiheit« ist ein selbstverständlicher Maßstab für die Konsistenz eines Sachverhaltes. Sachverhaltsfeststellungen dür­ fen sich nicht widersprechen. Die Praxis hat jedoch auch ihre einfachen

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Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

Wege, dieses Ziel zu erreichen: Tatsachen oder Indizien, die nicht ins Bild passen und zu Widersprüchen führen würden, werden nicht wahrgenommen, übersehen oder schlicht unterdrückt. Das Kriterium der Widerspruchsfreiheit macht also als Richtigkeitskriterium nur Sinn, wenn es durch das der Umfassendheit ergänzt wird.

2. Umfassendheit Das Kriterium der Umfassendheit oder Vollständigkeit lässt sich zunächst uneingeschränkt wörtlich als all-umfassend begreifen und umschließt so jeden denkbaren Gesichtspunkt und auch jeden denk­ baren Gegeneinwand, dem im Zusammenhang des Geschehens, in dem der Fall spielt, irgendeine Bedeutung zukommen kann. Mit dieser Definition wäre der Begriff freilich praktisch völlig unbrauchbar. Der Richter hat oft schon Schwierigkeiten genug, den Beteiligten klarzu­ machen, dass es für die Entscheidung nicht auf alle ihnen persönlich wichtigen Gesichtspunkte ankommt. – Diese Definition wäre auch rechtlich unbrauchbar.492 Die Frage, wie umfassend und vollständig die Datenbasis sein muss, um auf ihr Sachverhaltsfeststellungen aufzubauen, kann, wie sich immer wieder gezeigt hat, nur im Hinblick auf die (unterschied­ lichen) prozessrechtlichen Vorgaben für die Sachverhaltsermitt­ lung und für eine konkrete Prozesssituation beantwortet werden. Um es zu wiederholen: Diese Datenbasis ist abhängig von den Informa­ tionen, die die Prozessbeteiligten beibringen (müssen), und von dem Recht und der Pflicht des Gerichts, auf eine Aufklärung hinzuwirken und in der Sache selbst zu ermitteln. Diese Ermittlungsvorgaben wer­ den insbesondere im Strafrecht durch verfassungsrechtliche Vorgaben verstärkt. So ergeben sich aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und dem Prozessgrundrecht auf ein faires493, rechtsstaatliches Verfahren »Mindesterfordernisse für eine zuverläs­ sige Wahrheitserforschung im strafprozessualen Hauptverfahren […]. Sie setzen u. a. Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für eine hinreichende tatsächliche Grundlage der richter­ lichen Entscheidungen. Denn es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug 492 493

Vgl. BGH NStZ-RR 2011, 50 – juris Rn. 13. Vgl. BVerfGE 57, 250 (274 f.).

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I. Der Sachverhalt – die drei Elemente der Kohärenz

der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen«.494 Bei Ermittlung des Sachverhalts unter­ liegt die richterliche Aufklärungspflicht mithin dem »Gebot bestmög­ licher Sachaufklärung«.495 Sie muss »umfassend« sein. Die prozess- und verfassungsrechtlichen Vorgaben sind die eine Seite. Daneben tritt bei der Sachverhaltsermittlung die metho­ disch-sachliche Verantwortlichkeit des Tatrichters. Sie betrifft den Bereich, in dem Fehler revisionsrechtlich nicht zu beanstanden sind, in dem es aber darum geht, ob der Richter – in seinem Zuständigkeits­ rahmen – auch wirklich die Möglichkeiten genutzt hat, den Sachver­ halt so zu ermitteln, wie dies nach Lage des Falles erforderlich gewesen wäre – auch um nicht fernliegende Zweifel auszuschließen. Insbeson­ dere angesprochen sind damit der Umgang mit Zeugen und die Art und Weise, in der der Richter mit den Prozessbeteiligten kommuni­ ziert. Die Probleme, mit denen der Richter hier zu kämpfen hat, und die Regeln, die er zu beachten hat, um die aus diesen Schwierigkeiten resultierenden Fehler zu minimieren, sind im Zusammenhang der Problemfelder »Zeugenbeweis« und »Kommunikation zwischen Ziel­ gerichtetheit und Offenheit« dargestellt worden. Verallgemeinernd formuliert: Ob der Richter bei seinen Sachverhaltsfeststellungen über alle Informationen verfügt, die er nach Lage der Dinge in sie einstellen muss – seine Datenbasis also »umfassend« ist –, ist ein Teil dessen, was die Kunst der Verhandlungsführung ausmacht: Unvoreingenom­ men das aufzunehmen, »was Sache ist«.

3. Stimmigkeit Was wir unter »Stimmigkeit« zu verstehen haben, ist in Grundzügen gleichfalls bereits dargestellt worden (Kap. 8 II.; Kap. 11 III. 2.). Daran können wir anknüpfen, dürfen aber eine Besonderheit der Sachverhaltsfeststellung nicht überspielen. Mit dem Urteil, etwas sei »kohärent« (= stimmig zusammenhängend), wird eine Aussage über den Zusammenhang von zwei oder mehr Sätzen gemacht, die man in formalisierter Form so ausdrücken kann: »p« (das Argument a1...n) unterstützt »q« (die Aussage r1). Bei einer Sachverhaltsfeststellung 494 BVerfG 2. Senat 3. Kammer, B. v. 30.04.2003 – 2 BvR 2045/02 – NJW 2003, 2444–2447; vgl. auch BGH, NStZ 2009, 401–403. 495 BVerfGE 57, 250 (277).

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Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

haben wir es allerdings – sehr viel allgemeiner – mit Informationen zu tun, die sich in den Kontext anderer Informationen einfügen müssen. Die Grundstruktur ist aber gleich: Es geht um die konsistente Eingliederung in ein (schon als konsistent angenommenes) System aller bisher anerkannten Informationen. Für die uns interessierende Ebene der Sachverhaltsermittlung als Informationsverarbeitungspro­ zess sind die Ausgangsfragen also dahin zu formulieren: Unterstützt »q« (das Indiz) »p« (die Haupttatsache)? Und für den Sachverhalt ins­ gesamt: Fügt sich die einzelne Sachverhaltsfeststellung ins Gefüge der bereits bewiesenen oder unstrittigen Tatsachen ein? Zu untersuchen sind also die richterlichen Schlussfolgerungen auf ihre Stimmigkeit. – Das betrifft sowohl die Tragfähigkeit der angewandten Regeln als auch die logischen Operationen und die – noch zu beschreibenden – kognitiven Mechanismen, mit denen sie angewendet werden. Zitiert sei zum Indizienbeweis nochmals aus der »CadmiumEntscheidung« des Bundesverwaltungsgerichts: Er »besitzt insoweit einen logischen Aufbau, als Folgerungen auf das zu beweisende Tatbe­ standsmerkmal mit Hilfe von Erfahrungstatsachen gezogen werden. Der Indizienbeweis erfordert damit zum einen Indizien (sog. Hilfstat­ sachen), zum anderen allgemeine Erfahrungssätze und schließlich Denkgesetze und logische Operationen, um auf das Vorhandensein der Haupttatsache folgern zu können.«496 Mit solchen Erfahrungssät­ zen (die aber keine »allgemeinen« sein müssen) haben wir uns in dem Abschnitt »Typologie der Verknüpfungen und ihre typischen Fehlerquellen« ausführlich beschäftigt. Stehen sie nicht im Streit – weder als auf den Fall anwendbare Regel noch in ihrer konkreten Anwendung – oder anders: überzeugen die Schlussfolgerungen vom Indiz auf den Sachverhalt und lassen, bei Berücksichtigung aller relevanten Informationen, auch keine ernsthaften Zweifel zurück, ist die Feststellung im kohärenztheoretischen Sinne »richtig«. Zwei Bei­ spiele: 1. 2.

Bestritten ist allein, ob der tödliche Schuss aus der Waffe des T abgegeben wurde. Wird dies durch ein ballistisches Gutachten festgestellt, ist dies auch der »richtige« Sachverhalt; ein Autounfall: A ist auf den PKW des B aufgefahren. Besondere Umstände liegen nicht vor. Der Richter kann aufgrund des

496 BVerwGE 84, 271–274, juris Rn. 20, 27 mit Hinweis auf Koch/Rüßmann, Begrün­ dungslehre, 1982 S. 278 ff.; Rüßmann, in: AK-ZPO § 286 Rn. 4.

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II. »Gesamtschau«, »Gesamtwürdigung«

Anscheinsbeweises davon ausgehen, dass A den Unfall schuld­ haft verursacht hat. Diese Beispiele machen nochmals deutlich: Ob eine Sachverhaltsan­ nahme stimmig ist, ist keine Frage objektiver, aus einem System sicher ableitbarer Wahrheit, sondern nur die Frage, ob sie sich in einen akzeptierten Prämissenrahmen kohärent einfügt. Dieser ist nicht primär durch logische Strukturen bestimmt, sondern durch kulturelle Strukturen, sozial anerkannte Erklärungsmuster und rechtliche Wer­ tungen. Das System, in das sich die Sachverhaltsfeststellung einfügen muss, ist das konkrete Rechtssystem mit seinen Wirklichkeitsbildern. Dieses ist kein sicherer Fels, auf dem man sicher bauen könnte. Aber die Frage, warum eine Feststellung dann letztlich überzeugt, beantwortet sich auch hier aus den schon ausführlich dargestellten Mechanismen sozialer Kognition.497 Um bei den Beispielen zu bleiben: Für eine Kultur, die fest daran glaubt, dass Geister und Hexen auch den Alltag bestimmen, haben nicht nur das Alltagswissen und die Alltagstheorien andere Inhalte. Selbst das beste ballistische Gutachten wäre (angesichts der Macht des Teufels) nicht zwingend. Und die Schlussfolgerung aus einem Anscheinsbeweis beruht auf einer Wertung, die für das Zivilrecht als Ergebnis einer Interessenab­ wägung akzeptiert, im Strafrecht aber inakzeptabel ist.

II. »Gesamtschau«, »Gesamtwürdigung« Die gedanklichen Operationen, die zu leisten sind, wenn im Vorgang der Beweiswürdigung aus Indizien auf eine für die Rechtsanwen­ dung notwendige Tatsache geschlossen wird, sind nicht immer so unkompliziert, wie sie sich – aus richterlicher Sicht – in den beiden Beispielsfällen darstellten. Es ist zu differenzieren:

497 Deren »Wirkungsgrad« wiederum von dem Grad institutioneller Einbindung abhängig ist.

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Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

1. Die revisionsrechtliche Sicht Für die weiteren Untersuchungen bieten sich hier zur Unterscheidung zwei Fallgruppen an: (1.) Fälle, in denen eine übersichtliche Anzahl eindeutiger Indizien ohne Komplikationen nach den in der »Typologie der Ver­ knüpfungen« beschriebenen Regeln daraufhin zu überprüfen sind, ob sie einen hinreichend sicheren Schluss auf die zu beweisende Tatsache zulassen. Die Feststellungen werden hier in der Regel kohärent sein. Jedenfalls aus richterlicher, pragmatischer Sicht erscheinen diese Fälle häufig als »einfach« – nämlich dann, wenn die Regel zwar selbst auf einer »Gesamtschau« von Einzelfakten beruht, die Verallgemeinerung aber als Alltagswissen oder fachwissenschaftliches Erfahrungswissen anerkannt ist. (2.) Fälle, in denen es darum geht, eine große, möglicherweise unübersichtliche Anzahl von Indizien, die in einem komplexen Zusammenhang stehen, kohärent zu Schlussfolgerungen zu ver­ knüpfen. Notwendig ist dann in der Tat eine »Gesamtwürdigung« oder »Gesamtschau«. Um die Verknüpfung von Indizien in komple­ xen Vorgängen der Beweiswürdigung zu charakterisieren, gebraucht die Rechtspraxis diese Begriffe in unterschiedlichen Formeln: 1.

als Pflicht einer »Beweiswürdigung im Rahmen einer Gesamt­ schau aller Beweisanzeichen«.498 »Liegen mehrere Beweisanzeichen vor, so genügt es nicht, sie jeweils einzeln abzuhandeln, erforderlich ist vielmehr eine Gesamtwürdigung«499; oder ausführlicher: »Werden mehrere Hilfstatsachen vorgetragen, die jeweils für sich allein betrachtet keine sicheren Rückschlüsse auf die Haupt­ tatsache zulassen, ist vom Tatrichter aber auch zu prüfen, ob die Hilfstatsachen in einer Gesamtschau, gegebenenfalls im Zusammenhang mit dem übrigen Prozessstoff, geeignet sind, ihn von der beweisbedürftigen Behauptung zu überzeugen«500; oder mit umgekehrtem Ergebnis: »Selbst wenn nämlich jedes einzelne, die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin möglicherweise in Frage stellende Indiz noch

2. 3.

4.

498 499 500

BGH Urt. v. 07.04.2005 – 5 StR 544/04 – juris Rn. 10. BGH NStZ 2002, 48–49 m. Hinweis auf BGH NStZ 1983, 133. BGH, Urt. v. 08.05.2012 – XI ZR 262/10 – NJW 2012, 2427–2434, juris Rn.

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II. »Gesamtschau«, »Gesamtwürdigung«

keine Bedenken gegen die den Angeklagten belastende Aussage aufkommen ließe, so kann doch die Häufung der – jeweils für sich noch erklärbaren – Fragwürdigkeiten bei einer Gesamtschau zu durchgreifenden Zweifeln an der Richtigkeit der erhobenen Vorwürfe Anlass geben«.501 Oft ist dann die revisionsrechtliche Wertung zugleich auch eine Auseinandersetzung mit der Anwendung von Erfahrungswissen: 1.

2.

3.

501 502 503

»Die Gesamtwürdigung des Berufungsgerichts lässt wesentliche Fallumstände außer Acht und erscheint insgesamt lückenhaft. Sie begründet im Übrigen die Besorgnis, dass das Berufungsge­ richt ohne sachverständige Hilfe und auch ausreichende eigene Sachkunde einzelnen wenigen psychodiagnostischen Beweisan­ zeichen eine zu große Aussagekraft beigemessen hat«502; aus der Lebenserfahrung: »den Urteilsgründen fehlt es als Grundlage für eine Anwendung des Zweifelssatzes an einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Beweisanzeichen, insbe­ sondere an einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit der – zudem nicht durchgängig einheitlichen – Einlassung des Angeklagten sowie mit dem objektiven Tatgeschehen, das nach der Lebenserfahrung in hohem Maße dafür sprach, dass der Angeklagte mit Gewalt auch den Geschlechtsverkehr mit den Geschädigten erzwingen wollte«.503 »Der Senat verkennt dabei nicht, dass es die Aufgabe des Tat­ richters ist, die Bedeutung und das Gewicht der einzelnen beund entlastenden Indizien in einer Gesamtwürdigung des Bewei­ sergebnisses zu bewerten (BGH NStZ 2008, 146, 147). Allein, dass ein bestimmtes Ergebnis dabei nicht fern liegt, schließt nicht aus, dass der Tatrichter im Einzelfall auch rechtsfehlerfrei zu einem anderen Ergebnis kommen kann (BGH, Urt. vom 3. Juni 2008 – 1 StR 59/08 m. w. N.). Verwirft er jedoch die nahe lie­ genden Deutungsmöglichkeiten und führt zur Begründung sei­ ner Zweifel an der Täterschaft eines Angeklagten nur Schluss­ folgerungen an, für die es nach der Beweisaufnahme entweder keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt oder die als eher fern lie­ gend zu betrachten sind, so muss er im Rahmen der Gesamt­ BGH, B v. 10.02.2009 – 5 StR 12/09 – juris Rn. 9. BGH, B. v. 29.10.2008 – IV ZR 272/06 – juris Rn. 8. BGH, Urt. v.12.10.2011 – 2 StR 202/11 – juris Rn. 11.

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Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

würdigung erkennbar erwägen, dass er sich dieser besonderen Konstellation bewusst war. Anderenfalls kann nämlich nicht aus­ geschlossen werden, dass der Tatrichter überspannte Anforde­ rungen an seine Überzeugungsbildung gestellt hat«.504 Mit der Grundforderung nach einer »Gesamtschau« bzw. »Gesamt­ würdigung« formuliert die Rechtsprechung die Grundvoraussetzung einer kohärenten Beweiswürdigung: Sie setzt eine umfassende Berücksichtigung aller relevanten Informationen voraus. Negativ schließt dieses Kriterium der Umfassendheit aus, sich die Gesamt­ würdigung dadurch zu erleichtern, dass man unzulässig vereinfacht. Offen lassen allerdings beide Begriffe, wie wir uns denn die gedank­ lichen Vorgänge, die eine solche »Gesamtschau« oder »Gesamtwürdi­ gung« ausmachen, vorzustellen haben. Das ironische Bild, das sich bei der Formel von der »Gesamtschau aller Beweisanzeichen« einstellt, ist das einer »Black Box«; alle Beweisanzeichen kommen hinein, ein Sachverhalt kommt heraus. Aber wie? Es ist nicht Aufgabe der Rechtsprechung, hochkomplexe Bewer­ tungs- und Einschätzungsvorgänge wissenschaftlich-theoretisch zu beschreiben. Sie kann nur auf vorhandene Modelle und Analysen zurückgreifen. Für die Probleme der Glaubhaftigkeitsprüfung – ins­ besondere bei Belastungszeugen im Bereich der Sexualdelikte – konnte sie sich auf solche wissenschaftliche Analysen stützen und hat dies, wie oben ausführlich beschrieben, auch getan. Es gibt aber auch allgemeine Analyse- und Beschreibungsmodelle. In der Diskussion steht hier vor allem das Bayes-Theorem als der normative »Standard«, an dem »die Kohärenz der Beweiswürdigung gemessen werden muss«.505 Es baut auf den Möglichkeiten der Wahrscheinlich­ keitsrechnung auf (2.). Der zweite Weg, die »Black Box« transparent zu machen, führt über kognitionswissenschaftliche Ansätze (3.).

2. Die Wahrscheinlichkeitstheorie – eine allgemeine Lehre vom Indizienbeweis? Wie sich bei der Typologie der Erfahrungssätze gezeigt hat, folgen diese meistens nicht einem eindeutigen Wenn-dann-Schema, son­ dern dem Schema: »fast immer dann, wenn« oder dem Schema 504 505

BGH, Urt. v. 18.03.2009 – 1 StR 549/08 – juris Rn. 28. M. Schweizer 2005, S. 151.

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II. »Gesamtschau«, »Gesamtwürdigung«

»wahrscheinlich dann, wenn«. Das logische Grundmuster des Indizi­ enbeweises ist mithin die Induktion. Induktive Schlüsse müssen nicht richtig sein. Sie müssen aber überzeugen. Sie sind deshalb dann nicht »richtig«, wenn sie durch bessere Gründe falsifiziert werden. Sind die Erfahrungssätze nicht deterministischer, sondern statistischer Natur, ist ihre Beweis- und Überzeugungskraft, wie wir gesehen haben, eine Frage der Wahrscheinlichkeiten, die ihnen zugrunde liegen. Und diese lassen sich berechnen. Wenn der Richter über den Zusammenhang von einem Indiz I und der Tatsache T nachzudenken hat, muss er einschätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit T gegeben ist, wenn nur der Umstand I bekannt ist. Eine entsprechend sichere Feststellungsgrundlage ergibt sich, wie wir an dem Beispiel der DNA-Analyse gesehen haben, wenn Anfangs- und Belastungswahrscheinlichkeiten bekannt sind. Haben wir es mit einer Beweiskonstellation in der Form eines »Beweisringes« zu tun506, also mit dem Problem, dass zwar nicht das einzelne Indiz, wohl aber eine Mehrzahl von Indizien, die in einem statistischen Zusammenhang stehen, einen Beweis erbringen können, sind die Möglichkeiten von Indizienwertungen mit den mathematischen Mit­ teln der Wahrscheinlichkeitsberechnung natürlich von besonderem Interesse. Hier eröffnet sich die Möglichkeit, durch eine Analyse kom­ plexer Beweiswürdigungen Licht in die »Black Box-Gesamtschau« zu bringen. Der Umgang mit Indizien ist ein Umgang mit bedingten Wahr­ scheinlichkeiten. Definiert ist die bedingte Wahrscheinlichkeit als die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses A (= gesuchte Tatsache) unter der Bedingung, dass ein Ereignis B (= Indiz) bereits eingetreten ist. Die mathematischen Grundlagen für das Rechnen mit bedingten Wahrscheinlichkeiten liefert das Bayes-Theorem (benannt nach Reverend Thomas Bayes, 1702–1761). Ein weiterer wesentlicher Bau­ stein ist der so genannte »Likelihood-Quotient«, der den abstrakten Beweiswert eines Indizes angibt.507 Wie ohne weiteres einsichtig, hängt die Beweiskraft des Indizes davon ab, »wie häufig es bei der Haupttatsache vorkommt, verglichen zu seinem Vorkommen bei der Nicht-Haupttatsache.«508 – Soweit eine sprachliche Formulierung der Ansätze. Für Leser, die die mathematische Formulierung der Theorie 506 507 508

So das Bild von Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 622 ff. Dargestellt etwa von H. Rüßmann 2003b, S. 375 ff. Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 679.

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Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

(mit ihren umfangreichen Formeln bei einer Vielzahl von Indizien, zugehörigen Ableitungen und notwendigen Erläuterungen) nicht scheuen, sei auf die Darstellungen insbesondere von Bender/Nack/ Treuer509, Rüßmann510, Anderson511 und Schweizer512 verwiesen; natürlich auch auf die Links zum Bayes-Theorem. Zur Bewertung: Wir haben ein als theoretische Grundlage geeignetes Modell (1.), das (aber) seine Grenzen in den Anwendbar­ keitsbedingungen erfährt (2.): (1.1) Der Ausgangspunkt ist von Rüßmann grundsätzlich zutref­ fend beschrieben worden, wenn er zur Problematik einer komple­ xen Indiziensituation feststellt: »Mit der Aufgabe, die Stärke eines solchen Beweisrings aufgrund der statistischen Verknüpfungen der verschiedenen Indizien im Beweisring zum gesuchten Merkmal ein­ zuschätzen, ist unser Gefühl regelmäßig überfordert. Hier verspricht nun das Bayes-Theorem Hilfe, weil es uns bei Unabhängigkeit der Indizien untereinander erlaubt, unsere Einzelkenntnisse über die Zusammenhänge der Indizien mit dem gesuchten Merkmal Schritt für Schritt auf die Gesamtstärke des Beweisrings hin auszuwerten.«513 (1.2) Das Bayes-Theorem »erlaubt es, eine bestehende Überzeu­ gung und neue Erkenntnisse widerspruchsfrei zu integrieren«. Es ist der »normative Standard […], an dem die Kohärenz der Beweis­ würdigung gemessen werden muss.«514 Es bietet, so die Position von H. Rüßmann, in Verbindung mit dem »Likelihood-Quotienten« eine »tragfähige Grundlage für die allgemeine Lehre vom Indizienbe­ weis«.515 (2.1) Fragen wir, wie sich die Wahrscheinlichkeit für das gesuchte Merkmal (die Haupttatsache) ändert, wenn wir die Information über ein zusätzliches Indiz (I) erhalten, kann das Bayes-Theorem eine Ant­ wort nur geben, wenn wir die abstrakte Beweiskraft dieses Indizes ken­ nen. Die Häufigkeiten, mit der ein Indiz bei T auftritt und anderseits nicht auftritt, sind aber oft unbekannt. Sie können also nicht sicher quantifiziert und mit Zahlenwerten in die Berechnung eingestellt Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 664 ff. Rüßmann 2003b, S. 373 ff. 511 J. R. Anderson 2001, S. 333 ff. 512 M. Schweizer 2005, S. 151. 513 Rüßmann 2003b, S. 377, Hervorh. d. Verf. 514 M. Schweizer 2005, S. 151 mit der Formulierung: »Ausschließlich das BayesTheorem erlaubt es [...]«; Hervorh. d. Verf. 515 Rüßmann 2003b, S. 377. 509

510

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II. »Gesamtschau«, »Gesamtwürdigung«

werden. Die Problematik potenziert sich, wenn eine Mehrzahl von Indizien mit nicht bekannter oder auch nur ungenauer Beweiskraft eingerechnet werden muss. (2.2) Für die Voraussetzung zahlenmäßiger Quantifizierbarkeit weisen deshalb Bender/Nack/Treuer zu Recht darauf hin, dass das (nur) »bei einigen Sachverständigengutachten der Fall« sein wird. Und fügen hinzu: »meist bleibt nur die Abschätzung auf Plausibili­ tätsniveau«.516 Das Niveau einer solchen Plausibilitätseinschätzung kann sehr unterschiedlich sein. Es ist zunächst abhängig von der Datenbasis: umfangreiches statistisches Material – sachverständige Erfahrung – lange richterliche Praxis in einem bestimmten Gebiet – oder die Plausibilität des Alltagswissens. Über die Gründe, warum bei ungesicherten empirischen Grund­ lagen die Einschätzungen auch hoher Wahrscheinlichkeiten durchaus »trügerisch«517 sein können, braucht an dieser Stelle nicht mehr näher gesprochen werden. Auch nicht über die Fehleinschätzungen von Kausalitäten als Phänomen des »Rückschaufehlers« (Kap. 13 III. 3. b) – mit H. Bergson treffend als »Illusionen des retrospektiven Deter­ minismus« charakterisiert. So scheinen uns unsere Wahrscheinlich­ keitsannahmen zwar häufig plausibel, verfehlen aber gerade deshalb eine zutreffende Einschätzung, und es führt zudem schnell zu einer falschen Sicherheit, wenn falsch geschätzte Annahmen in eine an sich korrekte Berechnung eingesetzt werden. (2.2.1) Entscheidende Gesichtspunkte zur richterlichen Über­ zeugungsbildung nach dem Bayes'schen Theorem hat der BGH in seiner Entscheidung vom 28.03.1989 zusammengefasst: »Im Rah­ men der Würdigung von Indizien wird der Tatrichter allerdings die unangefochtenen logischen und mathematischen Regeln der Wahr­ scheinlichkeitsrechnung nicht verletzen dürfen. Er wird dazu aber im allgemeinen, insbesondere wenn wie im Streitfall keine einiger­ maßen gesicherten empirischen statistischen Daten zur Verfügung stehen, im Rahmen der von ihm vorzunehmenden Beweiswürdigung nicht sog. Anfangswahrscheinlichkeiten in Prozentsätzen ausweisen und mit diesen dann Berechnungen anstellen müssen. Sicherlich kann es häufig nützlich sein, sich über die Tragfähigkeit und das Gewicht der einzelnen Indizien genauere Rechenschaft abzulegen und vielleicht auch einmal anhand von Berechnungsformeln das 516 517

Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 683. So U. Eisenberg 2015, Rn. 97 und dazu näher Rn. 918 ff.

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Ergebnis zu überprüfen. Andererseits besteht die Gefahr, daß bei wie häufig ungesicherter empirischer Grundlage für die Annahme sog. Anfangswahrscheinlichkeiten ein solches Verfahren zu überdies manipulierbaren Scheingewißheiten führen kann«.518 (2.3) Aus diesen Überlegungen ergibt sich als Fazit: Die Anwend­ barkeit mathematischer Modelle der Wahrscheinlichkeitsberechnung auf die Verifizierung von indiziellen Beweisen steht und fällt mit der Datenbasis, die zur Verfügung steht. Können Richter und Sachver­ ständige nicht auf hinreichend sichere Werte über die Korrelationen zwischen Indiz und Haupttatsache und die Korrelationen der Indi­ zien untereinander zurückgreifen, haben wir also immer noch ein weites Problemfeld, für das das Bayes-Theorem keine Hilfe verspre­ chen kann. Wenn wir mithin die Operationen, die den Folgerungen von Indizien auf den Sachverhalt zugrunde liegen, in der Regel auch nicht mathematisch abbilden können, so sind es doch kognitive Vor­ gänge. Der nächste Schritt muss es also sein, in den für die »Gesamt­ schau« wichtigen kognitiven Vorgängen diejenigen Mechanismen zu beleuchten und auch zu verstehen, die die Operationen ausmachen, die die Rechtsprechung »Gesamtwürdigung« nennt. So zeigt etwa das zuletzt genannte Problem der Plausibilitätseinschätzung (2.3), dass der Mensch – auch ohne direkte Anwendung mathematischer Gesetze – durchaus zu richtigen Abschätzungen von Wahrscheinlichkeiten in der Lage ist. Das ist dann aber keine Frage eines überforderten oder nicht überforderten Gefühls, sondern von Denkvorgängen, die auf sachkompetenter Erfahrung beruhen.519

3. »Gesamtschau« – kognitive Mechanismen (Exkurs II) Die Skepsis, die Rüßmann mit der Feststellung formulierte, bei »Beweisringen«, also angesichts komplexer Abschätzungen, »ist unser Gefühl regelmäßig überfordert«, ist durchaus berechtigt. Es gibt, gerade aus kognitionswissenschaftlicher Sicht, unabweisbare Gründe für eine solche Skepsis (a). Andererseits kommt der Mensch augenscheinlich oft auch mit komplexen Situationen zurecht. Unser Denken muss also über Mechanismen, Techniken und Strukturen 518 519

BGH NJW 1989, 3161–3162 – juris Rn. 19. Vgl. dazu etwa J. R. Anderson 2001, S. 282 ff.

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verfügen, die der Einschätzung solcher Situationen, wenn auch nicht immer adäquat, so doch auch nicht prinzipiell unangemessen sind (dazu b und c).

a) Die prinzipiellen Schwierigkeiten (1.) Die prinzipiellen Schwierigkeiten unseres Denkens, mit Beweis­ würdigungen bei komplexer Indizienlage rational und »richtig« umzugehen, liegen zum Ersten darin, dass unsere kognitiven Pro­ zesse nahezu immer in emotionale Zusammenhänge – konkret das limbische System – eingebettet sind:520 »Die Kategorisierung von Wahrnehmungen, die Analyse von Situatio­ nen unter logisch-rationalen Gesichtspunkten, die rationale Zuschrei­ bung von Bedeutungen, das vernunftorientierte Planen von Handlun­ gen – die meisten dieser kognitiven Prozesse werden durch begleitende emotionale Erfahrungsqualitäten inhaltlich und in ihrer Verlaufsrich­ tung ständig überformt, wie umgekehrt kognitive Prozesse die emotio­ nalen Qualitäten des Erlebens ständig verändern.«521

Wenn wir mit dem Einmaleins rechnen, können wir die logischen Vorgänge isolieren; so auch bei der Anwendung fachwissenschaftli­ cher Regeln. Arbeiten wir mit unserem Alltagswissen und unseren Alltagserfahrungen, sind an dieser Verarbeitung aber meist auch emotionale Kontexte beteiligt. Ein Richter, der hintereinander drei Zeugen hört, reagiert schon auf deren unterschiedliches Aussehen, ihre unterschiedlichen Stimmen nicht in gleicher Weise. Und das kann schon anders sein, wenn die Reihenfolge eine andere gewesen wäre. Wahrnehmungen und Erinnerungen sind, wie wir gesehen haben, immer (vereinfacht gesagt) emotional kontaminiert. Nur wenn diese Emotionalität einen bestimmten Grad überschreitet und dies auch bewusst wird, gibt es rechtliche Regeln, dem entgegenzusteuern. Solange aber der Grad der Befangenheit nicht erreicht ist, bleibt nur ein Verweis auf den professionellen Habitus und den Ausgleich und die Abmilderung durch kollegiale Korrekturen im Spruchkörper. Eine zentrale, heute in den Neurowissenschaften nicht mehr bestrittene These; grundlegend A. R. Damasio, vgl. insbesondere Damasio 1997 und darauf aufbauend Ders: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München 2000. Anschaulich zum Limbischen System Solms/Turnbull 2007. 521 F. W. Deneke 2001, S. 101. 520

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»Mit der Aufgabe, die Stärke eine solchen Beweisrings auf­ grund der statistischen Verknüpfungen der verschiedenen Indizien im Beweisring zum gesuchten Merkmal [zutreffend] einzuschätzen«522, ist unser kognitives System aber nicht nur deshalb schnell überfor­ dert, weil ungesteuert immer wieder unsere Emotionen mit im Spiel sind. Schnell fehlt diesem System – bildlich gesprochen – auch der ausreichend große Arbeitsspeicher und eine hinreichende Rechenka­ pazität. (2.) Zum Problem des »Arbeitsgedächtnisses«: Versetzen wir uns in die Situation einer Zeugenvernehmung: Es geht um einen Geschehensablauf, den die Beteiligten völlig unterschiedlich darstel­ len. Die Indizien sind zahlreich, lassen aber direkte und sichere Schlüsse auf die zu beweisenden Umstände nicht zu. Der (einzige) Zeuge erzählt zunächst weitschweifig seine Sicht des Geschehens. Er wird dann von den Richtern und den Vertretern der Beteiligten befragt und zeigt dabei recht unterschiedliche Reaktionen. Die Ver­ nehmung dauert weit über eine Stunde; ausführliche Stellungnahmen der Prozessparteien schließen sich an. Manche Details der Aussage passen mit den vorhandenen Indizien nicht zusammen. Der Zeuge hat aber nicht den Eindruck gemacht, dass er fabulierte oder bewusst gelogen hat. In der Situation der Beweiswürdigung wird jetzt von dem Richter verlangt, dass er vor dem Horizont des gesamten Prozessstoffes und aller Informationen, die die Beweisaufnahme ergeben hat, eine Gesamtwürdigung vornimmt. Und dazu gehören auch das Wissen und die Informationen, die es braucht, um eine qualifizierte Glaub­ haftigkeitsprüfung vornehmen zu können. Alle diese Informationen muss der Richter gewichten, gegeneinander abwägen, auf ihre sinn­ vollen Verknüpfungen und ihre wahrscheinlichen oder sicheren Kau­ salbezüge überprüfen. Und soweit sie voneinander abhängig sind, muss er sie für die Gesamtschau gleichzeitig im Blick haben. – Genau mit einer solchen Aufgabe ist jedoch unser analytisches Denken strukturell überfordert. Der Grund liegt in einem kognitiven Mecha­ nismus, für den sich der Ausdruck »Arbeitsgedächtnis« eingebürgert hat. Ich wähle hier nicht von ungefähr diese vage Formulierung. Die Forschung ist im Fluss und kann mit sicheren Zuordnungen nicht aufwarten. Was hier wie mit welchen Regionen des Gehirns neuronal genau vernetzt ist, ist noch weitgehend ungeklärt; es gibt dazu nur 522

Rüßmann 2003b, S. 377.

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Hypothesen und Modelle.523 Zu beschreiben ist also nur die Funktion des Arbeitsgedächtnisses als »Bezeichnung für das Bereithalten von (bzw. die aktuelle verfügbare Menge von) Informationen und Such-, Entscheidungs- bzw. Lösungsstrategien während der Beschäftigung mit einer Aufgabe«.524 Es sind also die Informationen, die man – nebst prozeduralem Wissen – präsent hat, wenn man eine Schlussfolgerung zieht. Die Anzahl der Informationen (oder auch Informationseinhei­ ten), die das Arbeitsgedächtnis parat hält bzw. halten kann, ist aber – und das ist der entscheidende Punkt – prinzipiell begrenzt. Termi­ nologisch spricht man von »Chunks« und definiert: »chunk [Englisch: Klumpen], eine bedeutungstragende Informationseinheit im Arbeitsoder Kurzzeitgedächtnis (im Rahmen der Mehrspeichermodelle des menschlichen Gedächtnisses)«. Um sogleich hinzuzufügen; »Man nimmt an, daß etwa sieben solcher chunks gleichzeitig behalten bzw. verarbeitet werden können.«525 In der neueren Literatur wird sogar davon ausgegangen, dass »nur vier Chunks zugleich im Kurzzeitgedächtnis bereitgehalten wer­ den können«.526 Andererseits verfügt das kognitive System durchaus über Techniken, die Verarbeitungskapazität zu erhöhen. Wir erhöhen den Informationsgehalt der einzelnen Chunks: Wir merken uns z.B. nicht die Buchstabenfolge, sondern das Wort, nicht die Wörter, sondern den Satz, nicht den Satz, sondern seine Bedeutung, nicht die Bedeutung, sondern die Relation, in der sie mit anderen steht. Das setzt Abstraktionsfähigkeit voraus (die auch bei Richtern nicht gleichermaßen gut ausgebildet ist) und muss darauf bauen, dass im Gang der Operation keine Information übersehen oder falsch verstanden wurde. Dann wäre der Chunk falsch. In der kognitiven Psychologie ist dieses Problem u. a. am Beispiel des Expertentums527 von Meistern des Schachspiels untersucht worden – thesenartig mit folgendem Ergebnis: »Experten können bei Problemen zusammen­ hängende Chunks erkennen; dies sind Muster aus Elementen, die über verschiedene Probleme hinweg immer wieder vorkommen«,528 und 523 Vgl. Kühnel/Markowitsch 2009, S. 28 ff.; R. F. Thompson 2001, S. 359 ff.; J. R. Anderson 2001, S. 173 ff.; zur Lokalisierung insb. Bear u. a. 2009, S. 857 ff. 524 So das Stichwort »Arbeitsgedächtnis, working memory«, in: Lexikon der Neuro­ wissenschaft, Bd. 1, S. 101. 525 Lexikon der Neurowissenschaft, Art. »chunk«, Bd. 1, S. 289. 526 Kühnel/Markowitsch 2009, S. 28. 527 Vgl. dazu J. R. Anderson 2001, S. 281 ff., zum Schachspiel insbes. S. 300 ff. 528 Anderson aaO. S. 302.

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sie können sich auf diese Weise auch komplizierte Aufstellungen von Schachfiguren viel besser und selbstverständlicher merken als Anfän­ ger. In der Grundstruktur vergleichbar wird so auch der Richter seine Informationen zu Informationseinheiten zusammenfügen und mit ihnen bei der »Gesamtwürdigung« arbeiten. Das aber setzt das zweite wesentliche Element des Expertentums voraus, nämlich Erfahrung529. Und dieses hat seine Grenze in den Fällen, in denen die Informationslage so komplex und vielfältig ist, dass sie nicht in einer überschaubaren Zahl von Informationseinheiten komprimiert wer­ den kann. Möglichkeiten, auch diese Grenzen zu umgehen, liegen in der Abschichtung (b) und im Mechanismus der Mustererkennung (c).

b) Strategie der Strukturierung und Abschichtung Hat der Richter es mit Hilfstatsachen zu tun, die zunächst voneinan­ der unabhängig sind, kann er Schritt für Schritt vorgehen und so den Prozess der »Gesamtwürdigung« in Teilbewertungen abschichten. In der Struktur ist das eine Methode der Problemlösung, die auch bei der Wahrscheinlichkeitsberechnung nach dem Bayes-Theorem vorgenommen wird, nur dass der Vorgang dann mathematisch for­ mulierbar ist. Hier beruhen die Schlussfolgerungen auf induktiven Einschätzungen. Im Vorgehen ist jedoch auch hier zunächst jedes Indiz einzeln in seiner Beweisbedeutung zu untersuchen und der BGH rügt zu Recht, »daß die Strafkammer den Zweifelsgrundsatz rechtsfehlerhaft schon auf einzelne Indiztatsachen angewandt und sich so den Blick dafür verstellt hat, daß mehrdeutige Indizien mit der ihnen zukommenden Ungewißheit in die erforderliche Gesamtwürdi­ gung einzustellen sind«.530 Eine weitere typische Konstellation, in der für solche Einschätzungen ein Schritt-für-Schritt-Vorgehen möglich und auch angezeigt ist, beschreibt der BGH, wie schon zitiert, für die Glaubhaftigkeitsprüfung: »Die Nullhypothese sowie die in der Aussagebegutachtung im wesentlichen verwendeten Elemente der Aussageanalyse (Qualität, Konstanz, Aussageverhalten), der Persön­ lichkeitsanalyse und der Fehlerquellen – bzw. der Motivationsanalyse 529 530

Vgl. Anderson aaO. S. 300 ff. BGH NStZ-RR 2002, 243–244.

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sind gedankliche Arbeitsschritte zur Beurteilung der Zuverlässigkeit einer Aussage.«531 Das Entscheidende an dem Ansatz der Nullhypothese ist in der Tat nicht, dass er einen »schematischen Gutachtenaufbau« ver­ langt532, sondern die »Gesamtwürdigung« zunächst in einzelne »gedankliche Arbeitsschritte zur Beurteilung« aufspaltet und sie so einer rationalen Nachprüfbarkeit zugänglich macht. In der Aufspal­ tung liegt dann auch die Möglichkeit, die Beurteilung »auszulagern«, d. h. dort, wo das eigene richterliche Wissen nicht hinreichend ist, einen Gutachter zu beauftragen. Das aussagepsychologische Gutach­ ten ist hier nur ein Beispiel. Es gilt immer dann, wenn ein Erfahrungs­ satz sachkundig zu »verifizieren« ist und/oder seine Anwendung fachliches Wissen und Erfahrung voraussetzt. Ob das eigene richterliche Wissen hinreichend ist, unterliegt zunächst der eigenen tatrichterlichen Einschätzung. »Die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut.«533 Die Grenze liegt aber dort, wo »der Sachverhalt oder die Person des Zeugen solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel daran aufkommen können, ob die Sachkunde des Gerichts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht.«534 – Aber es liegt auf der Hand, dass hier eine »Grauzone« vorliegt, in der zur tat­ richterlichen Würdigung auch eine großzügige Einschätzung der eige­ nen Sachkunde gehört. Doch es lässt sich nicht übersehen, dass es hierfür auch gute Gründe der Verhältnismäßigkeit mit Blick auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis geben mag. Ist ein umfangreiches aussa­ gepsychologisches Gutachten angemessen, wenn € 87,51 eingeklagt sind? Die »Gesamtwürdigung« kann so auch auf eigene Weise einer »Reduktion von Komplexität« dienen.

BGH B. v. 30.05.2000 – 1 StR 582/99 – NStZ 2001, 45–46, juris Rn. 14. BGH aaO. 533 BGH, NStZ-RR 2006, 242–243 mit Hinweis auf BGHSt 8, 130; vgl. auch BGHSt 45, 164, 182; BSG, B v. 24.05.2012 – B 9 V 4/12 B – juris Rn. 21. 534 BGH, NStZ-RR 2006, 242–243; siehe auch das OLG Saarbrücken, Urt. v. 13.07.2011 – 1 U 32/08 – 9, 1 U 32/08 – juris Rn. 48. 531

532

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c) »Gesamtschau« – Mustererkennung Die Problematik der »Gesamtwürdigung« bleibt also – jedenfalls für die Fälle, in denen die »Gesamtschau« eine Vielzahl von Informatio­ nen/Informationseinheiten erfassen muss, die im »Arbeitsgedächt­ nis« nicht mehr überschaubar sind und die wegen ihrer Vernetzungen einer Analyse Schritt für Schritt nicht zugänglich sind. Das Postulat einer »Gesamtschau« gibt hierzu, wie gesagt, nur die Vorgabe, dass die Würdigung alle vorhandenen Informationen umfassen muss. Was mit »Gesamtschau« gemeint ist, findet sich allenfalls in der Wortbe­ deutung für »Schau«, als »(gehoben) intuitives, schauendes Erfassen (geistiger Zusammenhänge)«, so der Duden. Aber das besagt wenig darüber, wie der Vorgang einer »Gesamtwürdigung« selbst zu ver­ stehen ist. Und hinreichend gesicherte Erklärungsmodelle, auf die wir zurückgreifen könnten, stehen, soweit ersichtlich, nicht zur Verfü­ gung. Wie an anderer Stelle bereits dargelegt, lässt sich ein Ansatz, die angesprochene »Intuition« beschreib- und erklärbar zu machen, jedoch in dem Phänomen der »Mustererkennung« finden. Insbe­ sondere im Hinblick auf die Frage, wie der Richter in Sachverhalten rechtliche Strukturen erkennt, werden wir auf die Mechanismen, die für die Mustererkennung wesentlich sind, noch ausführlich eingehen: An dieser Stelle können wir uns auf Grundüberlegungen, die zunächst auf die Sachverhaltserkenntnis konzentriert sind, beschränken. (1.) Als Ausgangspunkt für unsere Überlegungen bietet sich folgende Beobachtung an: Von einem Indiz schließen wir nicht nur auf eine bestimmte Tatsache; vielfach nehmen wir es, sehr viel wei­ tergehend, als Indiz für eine Sachlage, also einen Tatsachenzusam­ menhang, einen (ganzen) Sachverhalt. Wenn wir etwa eine Sirene hören, bleiben unsere Gedanken meist nicht bei der Vorstellung eines Einsatzfahrzeuges der Polizei oder eines Krankenwagens ste­ hen, sondern »getriggert« werden Vorstellungen wie Unfall, Überfall, Notarzteinsatz. Ein vergleichbares Phänomen haben wir oben am Beispiel der Knallzeugen bereits angesprochen. In der Sache geht es darum, dass partielle Informationen bzw. Beweisanzeichen oft zugleich Muster typischer Geschehensabläufe evozieren. (2.) Versuchen wir diese Beobachtungen in eine Theorie der Wahrnehmung einzuordnen, so zeigt sich, dass Wahrnehmung nicht einfach als Abbildung funktioniert. Die Informationen, die wir auf­ nehmen, werden nicht zu Bildern zusammengesetzt, wie bei Digital­

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aufnahmen Pixel um Pixel zu einem Bild zusammengefügt werden. Vielmehr treffen Informationen auf Kontexte im kognitiven System und daraus erwachsen unsere Vorstellungen. »Das theoretische Bild von den Grundstrukturen der Wahr­ nehmung, das in den vergangenen Jahrzehnten gewonnen werden konnte«, schreibt Mausfeld, »läßt sich stark verkürzt so zusammen­ fassen: Unser Gehirn verfügt über ein vorgegebenes Repertoire an ›Geschichten‹ über die Beschaffenheit der Außenwelt. Welche ›Außenwelt-Geschichten‹ dem Gehirn verfügbar sind, wurde durch die Evolution festgelegt (wodurch eine Anbindung an die physika­ lisch-biologische Umwelt gegeben ist). Das Gehirn sucht gleichsam jedem sensorischen Input einen Sinn dadurch zu geben, daß es mit ihm eine Geschichte über die Beschaffenheit der Außenwelt verbin­ det. Der sensorische Input selektiert oder ›triggert‹ also eine ›Außen­ welt-Geschichte‹. Die Sinne dienen folglich nicht zur ›Abbildung‹ der Welt, sondern lediglich als Stichwortgeber für die Selektion einer bereits im Gehirn vorhandenen ›Außenwelt-Geschichte‹ (dies steht in Einklang mit jüngeren neurophysiologischen Befunden, denen zufolge beim visuellen System der überwiegende Teil der Fasern im Dienste corticofugaler Informationsübertragung steht). Gegen­ über dem alternativen Designprinzip, nach dem ein Organismus so beschaffen wäre, daß er alle relevante Information über die Umwelt aus dem sensorischen Reiz gewinnen müßte, hat dieser ›phylogeneti­ sche Umweg‹ den funktionalen Vorteil einer besonderen Stabilität der Ankopplung an die Umwelt sowie einer größeren Schnelligkeit.«535 Entscheidend ist die Fähigkeit, zum Zweck der Erkennung von Objekten und Situationen trotz individuell unterschiedlicher Erschei­ nungen (Verdeckungen, perspektivische Verzerrung u. a.) Neben­ sächliches zu abstrahieren und allgemeine Eigenschaften herauszu­ heben. Für Tiere und Menschen ist es überlebensnotwendig, einen Raubfeind oder eine sonstige typische Gefahrenlage unter den ver­ schiedensten Bedingungen sofort (wieder-) zu erkennen (gleichsam ohne vorherigen Beweisbeschluss und geregelte Beweisaufnahme). Abstrakt gesprochen: Es ist lebensnotwendig, auch komplexe Sachla­ gen in einer »Gesamtschau« überblicken zu können, um in gefährli­ chen Lagen schnell reagieren zu können. Das kann nicht funktionie­ ren, indem das Gehirn alle Informationen, die von außen kommen, 535 R. Mausfeld, Art. »Wahrnehmung«, Lexikon der Neurowissenschaft, Bd. 3, S. 440 ff.

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Schritt für Schritt verarbeitet, sondern nur mit radikal reduzierten Datenmengen, und dies geschieht in der Weise, dass sensorische Inputs über vorhandene Kontexte verarbeitet werden. Die Namen dafür können je nach Perspektive wechseln: Erfahrungswissen, Sche­ mata, Erfahrungssätze, Muster. Die terminologischen Differenzen können an dieser Stelle auf sich beruhen.536 Diese Muster oder Schemata sind aber nicht nur aus dem vor­ gegebenen Repertoire an »Geschichten« über die Beschaffenheit der Außenwelt gespeist, also von Annahmen, die dem Menschen bereits als biologisches Programm vorgegeben sind. Es ist auch unser erwor­ benes Vor-Wissen, das unsere Wahrnehmung beeinflusst. (»Ich sehe nur, was ich weiß.«) Und wir entwickeln aus unseren Erfahrungen Vorstellungen, wie bestimmte Situationen abzulaufen haben,537 wie eine Bar oder ein Wohnzimmer aussieht538 oder auf welche Kausal­ verläufe bestimmte Ereignisse typischerweise zurückzuführen sind (Voraussetzung des Anscheinsbeweises). (3.) Bevor wir uns konkret wieder dem Problem der »Gesamt­ schau« zuwenden, gilt es in einem weiteren Schritt, den theoreti­ schen Rahmen, in dem wir Schemata bzw. Muster als Mittel der Erkenntnis und als Denkformen begreifen müssen, nochmals zu erweitern. Dieser Rahmen ist Thema der schon mehrfach genannten Untersuchung von H. Lenk über »Schemaspiele«539. Unter der Überschrift »Grundlegendes zum Begriff der Schemainterpretation« gibt er folgende Zusammenfassung, die ich im Zusammenhang zitie­ ren möchte: »Geradezu in genialer Weise hatte Kant (vgl. Kap. 1, sc.: über Kants Schemabegriff) neben den transzendentalen Voraussetzungen auch den Prozeß der erfahrungsmäßigen Bildung und Anwendung kognitiver Konstrukte zur vorstellungsmäßigen Vergegenwärtigung, zur ›Ver­ bildlichung‹ mentaler Konfigurationen und Modelle, also der Kogni­ tionen, vorweggenommen. Die kognitive Psychologie hat erst vor wenigen Jahrzehnten in der Nachfolge der Begrifflichkeit der Gestalt­ psychologie diesen Begriff der Schemata als der ›verbildlichenden‹ kognitiven Konstrukte wieder aufgegriffen (vgl. z. B. Rumelhart 1978, Näher Kap. 22 II. Zur Schematheorie aus diesem Blickwinkel vgl. Kühnel/Markowitsch 2009, S. 224. 538 Vgl. ein anschauliches Beispiel bei H. Welzer 2006, S. 112 ff. 539 Nicht im Sinne der Spieltheorie zu verstehen, sondern als Parallele zu den »Sprachspielen« Wittgensteins. 536 537

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Anderson 1988)540. ›Schemata‹ werden von der kognitiven Psycholo­ gie als ›Bausteine der Kognition‹ bezeichnet: man erkannte, daß nicht nur die visuelle Wahrnehmung oder die Sinneserkenntnis allgemein, sondern daß auch die begriffliche und alltagstheoretische Erkenntnis in Prozessen der Schemabildung und -anwendung vonstatten geht, gestaltet oder ›realisiert‹ wird. Alle Kognitionen, Erkenntnisse, Deu­ tungen sind an die Auslösung, Auswahl oder Anwendung sowie Überprüfung von Schemata gebunden. Der ›Prozeß der Interpretation‹ bestehe geradezu darin, daß ›mögliche Konfigurationen von Schemata ausgewählt und daraufhin verifiziert werden, daß sie mit gespeicherten Daten – Gedächtnisfragmenten – zusammenstimmen‹ (Rumelhart 1978). Darüber hinaus ist dieser Vorgang ein aktiver Informationssuchund -strukturierungsprozeß, der mit unseren jeweiligen (ebenfalls schematisiert repräsentierten) ›gegenwärtigen Bedürfnissen und Zie­ len‹ in relevanter Weise verknüpft ist. Ein solches Interpretieren ist also wesentlich auf das Auslösen oder Auswählen von Schemata (kognitiven Interpretationskonstrukten) und deren versuchsweiser Zuordnung zu Sinnesdaten, zu Wahrnehmungserlebnissen und zu abstrakteren inhaltlichen (etwa konditionalen) Datengegebenheiten sowie auf die sukzessiv rückkoppelnde Überprüfung der Stimmigkeit bei der Anwendung des jeweiligen Konstrukts bezogen. Es handelt sich um mentale Repräsentationen von Mustern oder datenmäßig gestalteten Merkmalen oder Gehalten, die typisiert, gattungsartig auf relevante Züge konzentriert und als solche aus dem Gedächtnis abrufbar sind.«541

(4.) Ordnen wir die Frage, wie wir uns die Mechanismen, die einer »Gesamtschau« zugrunde liegen, vorzustellen haben, in den unter (1.) bis (3.) skizzierten Denk- und Argumentationsrahmen ein, erhellt sich zunächst das Grundprinzip: Die Rekonstruktion eines Geschehens, das der Richter bei der Sachverhaltsfeststellung vornimmt, geschieht nicht durch ein Zusammenfügen von je selbstständigen und gleich­ wertigen Einzelinformationen (Inputs), sondern es sind bestimmte Informationen/Indizien, die als Auslöser für Muster, Schemata und Verknüpfungen von Tatsachen (über Erfahrungssätze) wirken. Im Prozessverlauf wird beispielsweise aus einer Bemerkung plötzlich ein Motiv deutlich, aus dem heraus ein bisher unklarer Verhalts- und Geschehensablauf erst verständlich wird. Oder bei einem zunächst klaren Unfallverlauf fällt nebenbei ein Umstand auf, der es nahelegt, 540 541

H. Lenk 1980. H. Lenk 1980, S. 59 f.

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dass der Unfall gestellt war.542 Oder ein Zeuge sagt aus; für den Richter war bislang alles glaubhaft – bis er, nur für den Bruchteil einer Sekunde, einen Blickkontakt mit einer Partei wahrnahm, der zu einer völlig veränderten Gesamtbeurteilung, auch bereits anders eingeordneter Indizien, führte. Diese Fähigkeit zum blitzschnellen Erfassen entspricht einer pri­ mären evolutionären Funktion von Mustererkennung. Das kognitive System soll sich augenblicklich ein Bild von einer – möglicherweise gefährlichen – Situation verschaffen können. Wie sich an dem Ein­ gangsbeispiel – Sirene lässt an Unfall, Notarzt, Überfall denken – zeigte, sind die evozierten Vorstellungen andererseits zunächst häufig unbestimmt, gleiten in andere Muster über. Hier muss nicht sofort gehandelt werden (Angriff oder Flucht543); die Information, das Indiz will jedoch verstanden sein und muss deshalb interpretiert werden. Es bedarf dann weiterer Schritte der Konkretisierung und des Verifi­ zierens. Der Schwebezustand (was denn genau die Sirene bedeutet) muss »in dem Sinne optimiert werden, dass eine Art Vorstellung in Richtung der momentan jeweils ›wahrscheinlichsten‹ Interpretation erfolgt«.544 Lenk hat in der obigen Textstelle diese Schritte einer »sukzessiv rückkoppelnde[n] Überprüfung der Stimmigkeit« als akti­ ven »Informationssuch- und -strukturierungsprozeß« beschrieben, als Prozess, in dem „›mögliche Konfigurationen von Schemata ausge­ wählt und daraufhin verifiziert werden, daß sie mit gespeicherten Daten – Gedächtnisfragmenten – zusammenstimmen‹“. (4.1) Im vorigen Kapitel haben wir den Prozess der Sachver­ haltsfeststellung als einen Vorgang analysiert und dargestellt, bei dem es genau auf solche Verfahren der Konkretisierung, der rück­ koppelnden Überprüfung der Stimmigkeit und der »Verifizierung« ankommt. Natürlich ist der Prozessstoff durch die Prozessbeteiligten und/oder Aktenlage meist so vorgegeben, dass der Richter eine Sachverhaltshypothese, ein Muster in den Informationen nicht erst mühsam suchen muss. Aber seine Grundfrage, von der auch sein »Fallverstehen« abhängt – nämlich: »was ist denn eigentlich Sache?« –, wird immer auch fordern, dass er den Prozessstoff mit eigenen Mustern, Sachverhaltshypothesen und eigenem Erfahrungswissen 542 Als Beispiel vgl. etwa OLG Köln, Beschluss vom 23. Oktober 2014 – 19 U 79/14 – juris – m. w. N. 543 Solms/Turnbull 2007, S. 140 ff. 544 R. Mausfeld 1996, Art. »Wahrnehmung«, Wörterbuch der Kognitionswissen­ schaft, S. 776, 790.

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abstimmen muss. Insofern verdeutlichen die allgemeinen Überlegun­ gen zur Mustererkennung nur den theoretischen Rahmen, in dem die Analysen zur Hypothesenbildung, zu den Problemfeldern der »Verifizierung«, zur »Verknüpfung« sowie zur Aufmerksamkeit und Kommunikation standen. (4.2) Kein Zweifel: Ein Indiz, das ein Muster evoziert, garan­ tiert keineswegs, dass auch die Sachlage richtig getroffen wird. Die beschriebenen Methoden der »Verifizierung« sind aber nur der eine Weg, Fehleinschätzungen zu minimieren. Der andere wird deut­ lich, wenn wir uns den Zusammenhang klarmachen, der zwischen unseren Erfahrungen, die wir in den Erkennungsprozess einbringen können, und der Chance besteht, die »jeweils wahrscheinlichste Inter­ pretation«545 zu treffen. »Erfahrungen« sind hier zu verstehen als Expertenwissen, das sowohl durch besonderes Fachwissen als auch durch besondere Erfahrungen in den Tätigkeitsfeldern des Faches gekennzeichnet ist.546 (4.2.1) Näher können die wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Zusammenhang nicht dargestellt werden. Festzustellen sind aber die entscheidenden Gesichtspunkte und Ergebnisse, die sich aus ihnen ergeben und die wir den folgenden Überlegungen zugrunde legen werden. In Stichworten sind dies: 1.

2.

Wahrscheinlichkeit und Erfahrung: Die bewussten Wahrschein­ lichkeitsurteile der Versuchsteilnehmer stimmen oft nicht mit dem Bayes-Theorem überein, ihr tatsächliches Verhalten dage­ gen schon. Experten kommen jedoch – mit zunehmender Erfah­ rung – zu immer genaueren Einschätzungen, insbesondere auch der Ausgangswahrscheinlichkeiten.547 Muster und Erfahrung: »Eine wichtige Dimension zunehmender Expertenschaft besteht in der Berücksichtigung reichhaltiger per­ zeptueller Merkmale bei der Enkodierung von Problemen«.548 Mit anderen Worten: Mit zunehmender Praxiserfahrung wer­

545 Kohärenztheoretisch entspricht die »jeweils wahrscheinlichste Interpretation« dem »Schluß auf die beste Erklärung«; in diesem Sinn vor allem Th. Bartelborth 1996, S. 9 ff. Siehe Kap 8 VII. 2. 546 Vgl. zusammenfassend J. R. Anderson 2001, S. 300 ff. 547 J. R. Anderson 2001, S. 341 f. 548 J. R. Anderson 2001, S. 300, am Beispiel der Röntgendiagnostik.

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Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

3.

den sowohl mehr als auch umfangreichere und differenziertere Wahrnehmungsmuster ins Gedächtnis eingespeichert.549 Erfahrung und Chunks: »Experten können bei Problemen zusam­ menhängende Chunks erkennen; dies sind Muster aus Elemen­ ten, die über verschiedene Probleme hinweg immer wieder vor­ kommen.«550

Wir können also von folgenden Annahmen ausgehen: Je mehr Muster und Erfahrungswissen zur Verfügung stehen, desto differenzierter kann ein Abgleich vorgenommen werden. Je kleinteiliger die Muster im Übrigen sind, weil man in einem bestimmten Bereich über vielfäl­ tige Erfahrungen verfügt, desto größer wird die Mustererkennung auch in ihrer Tiefenschärfe und desto größer wird auch die Wahr­ scheinlichkeit, dass die »jeweils wahrscheinlichste Interpretation« getroffen wird. Ein erfahrener Verkehrsrichter, der in zahlreichen Fallvarianten Unfallgeschehen zu beurteilen hatte, wird in dem Erfas­ sen einer Sachverhaltshypothese und deren Verifizierung sicherer sein als ein Proberichter, der keinen Führerschein besitzt. Dieser Zusammenhang von Erfahrung und Einschätzungskapazität gilt auch, wenn es um die Gesamtwürdigung komplexer Situationen geht, etwa um die Würdigung einer Zeugenaussage zu einem unübersichtlichen Tatsachenkomplex bei Zweifeln, ob das, was der Zeuge aussagt, auch wirklich seinem subjektiven Erleben entspricht. Einige Aspekte dazu: Ein Richter mit breiter Vernehmungserfahrung wird zunächst in seiner Konzentration nicht dadurch abgelenkt, dass er besonders darauf achten müsste, keine Verfahrensfehler zu machen. Kriterien der Aussageanalyse werden mehr oder minder automatisch mitlaufen und er wird auf Muster für Lügenindizien, Interessenorientierung, Inkompetenz in der Sache, gute und schlechte Gründe für Konstanz und Inkonstanz etc. zurückgreifen können. Das wird ihn auch befähi­ gen, Zwischenergebnisse festzuhalten, also im zuvor erörterten Sinne Informationseinheiten bzw. übergreifende Chunks zu bilden. (4.2.2) Ist man den bisherigen Überlegungen und damit dem Versuch gefolgt, die Mechanismen, die im Vorgang der »Gesamtwür­ digung« wirksam sind, kognitionswissenschaftlich zu rekonstruieren, eröffnet sich auch – geradezu spiegelbildlich – der Blick auf die J. R. Anderson 2001, S. 303. J. R. Anderson 2001, S. 302, am Beispiel von Schachspielern; siehe auch S. 124 zu optischen Chunks. 549

550

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II. »Gesamtschau«, »Gesamtwürdigung«

Fehlerquellen, die in diesen Mechanismen liegen. Sie markieren zugleich Zusammenhänge »verfehlter Würdigung«551: Es werden Muster übertragen, die nicht passen oder dazu führen, dass wesentli­ che Besonderheiten nicht gesehen oder ausgeblendet werden. Es wird nach Mustern gesucht, die es (noch) nicht gibt, statt sich unbefangen der Situation zu stellen; man denke an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern.552 Auch können das, was man gerne als berufliche Erfahrung ausgibt, nur sich stetig verfestigende Vorurteile sein. Gerade das Beispiel der Erfahrung zeigt aber auch die Unterschei­ dung, auf die es ankommt. Gemeint ist nicht die Routine (zum Typ des Routiniers Kap. 13 III. 2. b), für den jede Erfahrung nur die Bestätigung der früheren ist. Das Ergebnis ist dann, dass die Erkennungsmuster immer starrer werden und ihr Erkenntniswert immer geringer.553 Erfahrung im Sinne des zuvor beschriebenen Expertenwissens verfestigt sich nicht in der Routine, sondern differenziert sich in einem Prozess von trial and error aus. Es ist, soweit gegeben, auch immer durch Wissen erweitert und kontrolliert. Entsprechend differenzierter werden auch die Interpretations- und Wahrnehmungsmuster. Als methodische Maxime formuliert: Der Richter muss sich immer der Möglichkeit bewusst sein, dass er sich geirrt hat und ihn seine Erkenntnismechanismen nicht zur »Wahrheit«, sondern in die Irre führen können.

d) Zwischenergebnisse und noch offene Fragen Ziehen wir das Fazit aus unseren Überlegungen, so ergibt sich als wesentliches Ergebnis, dass wir hinter den Vorgängen der »Gesamtschau« bzw. der »Gesamtwürdigung« mehr erkennen kön­ nen als nur eine »Black Box«. Was wir nicht können, ist die Rückfüh­ rung dieser Begriffe auf eindeutig strukturierte, klar nachvollziehbare kognitive Vorgänge. Aber es sind Vorgänge, die sich kognitionswis­ senschaftlich erfassen lassen – nur entsprechen sie in ihrer Komplexi­ tät eben der Komplexität der Informationen, die zu verarbeiten sind. 551 Diese Formulierung gebraucht U. Eisenberg 2015, S. 342 ff. mit typischen Bei­ spielen, Rn. 913 ff. 552 Dazu Strauch 2000, JZ 1020, 1026. 553 In diesem Sinne kritisch zur Rolle der Berufserfahrung auch U. Eisenberg, 2015, mit dem nachdenkenswerten Hinweis auf das Fehlen jeder Form von »Supervision« in der Richterausbildung, Rn. 916 f.

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So ist es auch im Ergebnis nicht überraschend, dass die Mechanismen, die wir zunächst getrennt zu analysieren versucht haben, oft alle gleichzeitig an dem beteiligt sind, was wir als »Gesamtschau« zu entschlüsseln suchten: die mehr oder minder präzise Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten, die Abschichtung und Abschätzung von Einzelanalysen, die Bildung von Chunks und schließlich das Arbeiten mit Mustern und Erfahrungswissen. Festzuhalten ist aber auch ein weiteres Ergebnis und das betrifft in zwei Richtungen den im Teil A immer wieder betonten Zusam­ menhang von richterlicher Arbeit und institutionellen Vorgaben. Erfahrungen, Beobachtungsperspektiven, Aufmerksamkeit etc. sind individuell. Der Horizont einer »Gesamtschau« ist also breiter und die Informationswahrnehmung und -verarbeitung umfassender in einem (funktionierenden) Spruchkörper als beim Einzelrichter. Der andere Punkt: Es gibt in der Justiz den (für jede Verwaltung verständ­ lichen) Grundsatz: Jeder Richter muss grundsätzlich alles können. Auf Erfahrung kommt es dabei nicht selten auch in den Bereichen nicht an, in denen die Qualität der Beweiswürdigung und die Sicherheit bei einer »Gesamtwürdigung« unmittelbar von dem Erfahrungswis­ sen des Richters abhängen. »Stimmigkeit« und »Richtigkeit« der Sachverhaltsfeststellung wird so unmittelbar zu einer Frage eines aufgaben-adäquaten Personaleinsatzes. Und das gilt unabhängig von dem Umstand, dem wir uns im Teil E noch näher widmen müssen: Wir alle arbeiten mit Mustern, aber nicht alle lernen in gleicher Weise aus Erfahrung. Damit ist die entscheidende Perspektive angesprochen, die wir bisher weitgehend ausgeblendet haben: Die Gesamtwürdigung oder Gesamtschau ist ein Vorgang, der unablösbar von der Person oder den Personen ist, die sie vornehmen. Der Richter muss aus der Gesamt­ würdigung die für seine richterliche Überzeugung notwendige persönliche Gewissheit gewinnen. Beide Begriffe spielen eine entscheidende Rolle für die Bestimmung des Beweismaßes, dem wir uns zu Beginn des nächsten Abschnittes zunächst zuwenden müssen. Unabweisbar wird dann aber zugleich die Frage, wie wir das Kriterium der »Stimmigkeit« verstehen können, wenn es unhinter­ gehbar auch die individuelle Persönlichkeit des Richters ist, die mit ihren Prägungen und Erfahrungen, ihrem Rollenverständnis, ihren persönlichen und institutionellen Vorverständnissen die subjektiven Raster vorgibt, mit denen die Beweise und die Tatsachen ermittelt und gewürdigt werden.

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III. Das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung

III. Die Stimmigkeit des Sachverhaltes – das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung »Im Normalfall ist es nicht möglich«, schreibt Grunsky zum »Nor­ malbeweis« in seinen Grundlagen des Verfahrensrechts, »ein in der Vergangenheit liegendes Geschehen mit absoluter Sicherheit zu rekonstruieren. Es mag noch so viel dafür sprechen, daß die Dinge so und nicht anders abgelaufen sind, doch ändert dies nichts daran, daß die Möglichkeit eines Irrtums besteht: alle Zeugen können etwa lügen oder sich falsch erinnern. Wollte man diese Möglichkeit als Hindernis für eine richterliche Überzeugungsbildung ansehen, so gäbe es prak­ tisch keinen Weg dazu, sich vom Vorliegen einer bestimmten Tatsache zu überzeugen. Die Entscheidung müßte dann fast immer gegen den Beweisbelasteten ausfallen, womit insbesondere der gesamten Strafrechtspflege der Boden unter den Füßen entzogen wäre. Um dies zu verhindern, muß man sich damit begnügen, für die Feststellung einer Tatsache eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit genügen zu lassen, die keinen vernünftigen Zweifel mehr offen läßt.«554 Genügt Wahrscheinlichkeit? Und welche Wahrscheinlichkeit genügt? Das Beweismaß bestimmt mit seiner Antwort auf diese Frage unmittelbar die »Wahrheitsmaßstäbe«, die bei der Sachver­ haltsfeststellung zugrunde zu legen sind. Mit der Art und Weise, in der der Richter das Beweisrecht und insbesondere die Beweislastregeln handhabt, also diejenigen Regeln, »die als Entscheidungsnormen im Schnittpunkt von sachlichem und Verfahrensrecht stehen«555, trifft er dann auch die Sachentscheidung. Es ist die materielle Komponente des Rechtsstaates, die an dieser Schnittstelle auf die »Erlangung und Erhaltung materieller Gerechtigkeit im staatlichen und staatlich beeinflußbaren Bereich« zielt.556

1. Die prozessrechtliche Seite und ihre praktischen Probleme Die Abhängigkeit der Chance »Recht zu bekommen« von dem Beweismaß, das dafür erbracht werden muss, ist die prozessuale W. Grunsky 1974, S. 450. So die Richter Zeidler, Hirsch, Niebeler und Steinberger in der Entscheidung BVerfGE 52, 131–187 – juris Rn. 72. 556 BVerfGE 52, 131–187 – juris Rn. 70 mit Hinweis auf Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, Grundgesetz, Art. 20 Rn. 59. 554 555

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Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

Seite des Problemzusammenhangs. Soweit sich ein Prozess nicht im Wesentlichen um Rechtsfragen dreht, ist die Frage, was ist bewiesen und was nicht, der Kern- und Angelpunkt eines Rechtsstreites.

a) Die Sachverhaltsermittlung – ein Kampf um die richterliche Gewissheit Der Kampf ums Recht ist aus dieser Sicht ein Kampf um die richterli­ che Gewissheit. Die einen wollen den Richter von dem vorgetragenen Sachverhalt überzeugen, die anderen richten ihre Prozesstaktik nicht selten darauf aus, es dem Richter möglichst unmöglich zu machen, sich von dem Geschehen, das er zu beurteilen hat, ein zweifelsfreies Bild zu machen. Im Strafverfahren soll eine Flut von Beweisanträgen das Gericht zu einem Deal zwingen. Statt Rechtsanwendungsgleich­ heit zu gewährleisten, wird der Basar eröffnet. Im Zivilverfahren – man denke an die »Punktesachen« in Bauprozessen – werden Posi­ tionen für Positionen bestritten und solange Mängelrügen erhoben, bis der Prozess kaum noch entscheidbar ist bzw. die Kosten in kei­ nem Verhältnis mehr zu der eingeklagten Summe stehen. Die Nöti­ gung zum Vergleich erscheint dann als unabweisbar. Es ist deshalb naheliegend, dass Wege aus diesem Dilemma gesucht werden. Sie können über eine Abschwächung des Beweismaßes führen oder über Modifizierungen der Beweislastregel. Typische Beispiele sind etwa das Arzthaftungsrecht,557 Versicherungsfälle558 oder, allgemeiner, der Anscheinsbeweis. Die dogmatischen Konstruktionen sind hier vielfach umstritten.559 Das mag auf sich beruhen. Es geht nicht um eine prozessrechtliche Auseinandersetzung mit dem Ziel, die unter­ schiedlichen Auffassungen zum Beweismaß auf ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten, auf richtige und weniger richtige Ansätze zu untersuchen. Im Blickpunkt ist hier nur die Funktion, die das Kriterium des Beweismaßes bei der Sachverhaltsermittlung spielt. Uns interessieren die Problemzusammenhänge, die sich aus dem Postulat der »generellen Geltung« des Beweismaßes560 einerseits und 557 Vgl. die Belege bei Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 72. Aufl., Anh. § 286 Rn. 56 ff., 127. 558 Vgl. die Belege bei Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 72. Aufl., Anh. § 286 Rn. 215. 559 Näher etwa Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 286 ZPO, Rn. 128 ff., 133 ff. 560 Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl., § 286 ZPO Rn. 20.

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III. Das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung

unseren erkenntnistheoretischen Überlegungen zu Art und Weisen der richterlichen Sachverhaltsfeststellung andererseits ergeben.

b) Der »Normalbeweis« Folgen wir den gesetzlichen Regelungen, gilt trotz etwas unterschied­ licher Formulierungen für alle Prozessordnungen das gleiche Beweis­ maß: Maßgebend ist die richterliche Überzeugung.561 Wenn der Strafrichter nach § 261 StPO, der Zivilrichter nach § 286 ZPO oder der Verwaltungsrichter nach § 108 Abs. 1 VwGO über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner »freien Überzeugung« entscheidet, verlangt dies persönliche Gewissheit. Parallel dazu liegen die Vor­ schriften § 128 Abs. 1 SGB, § 96 FGO. Aber fordert dies dann jeweils eine richterliche Gewissheit in gleicher Intensität – unabhängig davon ob es um Mord oder Bagatellen, um die staatliche Strafgewalt oder den Ausgleich privater Interessen geht? Für das Strafverfahren, und das ist schon dargelegt, folgt aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben, dass ein »zentrales Anliegen des Strafprozesses die bestmögliche Ermittlung des wahren Sachver­ halts sein muss«.562 Das bedeutet zwar nicht, dass die richterliche Überzeugung eine »mathematische, jede Möglichkeit des Gegenteils ausschließende Gewissheit« verlangt. »Wenn der Tatrichter aber […] nach erschöpfender Beweiswürdigung letzte Zweifel an der Schuld eines Angeklagten hat, die er trotz hohen Verdachts nicht überwinden kann, darf er den Angeklagten insoweit nicht schuldig sprechen. Auch ein sehr hohes Maß an Wahrscheinlichkeit für die subjektive Einstellung eines Angeklagten kann die notwendige persönliche Überzeugung des Tatrichters nicht ersetzen«.563 Von rein abstrakten Denkmöglichkeiten, dass sich das Tatgeschehen auch anders zuge­ tragen haben könnte, darf der Richter seine Überzeugungsbildung 561 Ob es sich bei den Sonderregelungen in einzelnen Prozessordnungen – z. B. Glaubhaftmachung, §§ 287, 294 ZPO, § 77 OWiG – um Beweismaßreduzierungen oder um Modifizierungen des materiellen Rechts handelt – vgl. Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl., vor § 284 Rn. 29. Vor § 284 ZPO Rn. 28, 35 –, ist umstritten; vgl. einerseits Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 72. Aufl., Einf. § 284 Rn. 6 ff. m. w. N,, andererseits Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl., § 286 ZPO Rn. 20. 562 BVerfG NJW 2012, 907–917 unter Hinweis auf BVerfGE 57, 250 (275); 63, 45 (61); 80, 367 (375); 86, 288 (317); 107, 104 (118 f.); 115, 166 (192); 118, 212 (230 f., 233); 122, 248 (270). 563 BGH NStZ 1981, 389–390, VRS 62, 120–123; juris Rn. 7.

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allerdings nicht abhängig machen. Der Grundsatz »in dubio pro reo«, so der BGH in ständiger Rechtsprechung, »bedeutet nicht, daß von der dem Angeklagten jeweils (denkbar) günstigsten Fallgestal­ tung auch dann auszugehen ist, wenn hierfür keine Anhaltspunkte bestehen […]. Unterstellungen zugunsten eines Angeklagten sind vielmehr nur dann rechtsfehlerfrei, wenn der Tatrichter hierfür reale Anknüpfungspunkte hat«.564 Der Zweifelssatz »ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann anzuwen­ den hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- oder Rechts­ folgenausspruch unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsache zu gewinnen vermag«.565 Auch die Rechtsprechung der Zivilgerichte verlangt für den Vollbeweis nach § 286 ZPO naturgemäß »keine mathematische Sicherheit […], die jeden möglichen Zweifel und jede denkbare Mög­ lichkeit des Gegenteils ausschließt«.566 Eine von allen Zweifeln freie Überzeugung wird nicht vorausgesetzt. »Der Richter darf und muß sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen, der etwaigen noch verbleibenden Zweifeln Schweigen gebietet«.567 Diese Formel, nach der ein Vollbeweis keine »von allen Zweifeln freie Überzeugung« erfordert, »sondern nur einen für das prakti­ sche Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schwei­ gen gebietet«568, wird auch in der Rechtsprechung der Arbeitsge­ richte,569 der Verwaltungsgerichte,570 der Sozialgerichte571 und der Finanzgerichte572 verwandt. Sie findet sich jedoch nicht für die Umschreibung der strafrichterlichen Überzeugung. Während sich für den Strafrichter das letztlich steuernde Entscheidungskriterium aus dem Grundsatz »in dubio pro reo« ergibt, kann der Richter in anderen Verfahrensarten auf derart eindeutige Vorgaben für eine 564 BGH NStZ-RR 2005, 209, mit Hinweis auf BGH StV 2001, 666, 667; NStZ-RR 2003, 166, 168. 565 BGH aaO. Mit Hinweis auf BGH NStZ 2001, 609 m. w. N. 566 BGHZ 115, 141–150 m. w. N. 567 BGH aaO. mit Hinweis auf BGHZ 53, 245, 256, Fall »Anastasia«. 568 BGH NJW 2008, 2845–2846. 569 Vgl. BAG MDR 2012, 1297–1298. 570 Vgl. BVerwGE 71, 180–183. 571 Vgl. BSGE 45, 285–290. 572 Vgl. BFHE 229, 346.

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III. Das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung

Entscheidungsfindung in Zweifelsfällen nicht zurückgreifen. Welche Partei die Folgen richterlicher Zweifel, die Last fehlender Klärbarkeit, zu tragen hat, ist hier jeweils eine Frage der konkreten materiellen Rechtslage.573

c) Beweismaß und Wahrscheinlichkeit – pragmatisch flexibler Maßstab? Wenn etwas sicher feststeht, hat es keinen Sinn, von einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit zu reden. Spricht man von Graden der Gewissheit, dann liegt das Problem darin, dass man es nur mit Graden der Wahrscheinlichkeit zu tun hat. Gleichwohl darf sich der Richter nach h. M. nicht auf eine lediglich überwiegende Wahrscheinlichkeit stützen.574 Rechtspolitisch sieht man die Gefahr einer »Aufforderung zu noch unbekümmerterem Prozessieren«.575 Ein weiterer Hintergrund hat mit Vorstellungen zum Wahrheitsbe­ griff zu tun. Darauf ist im nächsten Abschnitt einzugehen. Sieht man die Streitfrage zunächst prozessrechtlich-pragmatisch, spricht vieles für eine vermittelnde Position, die Gottwald wie folgt formuliert hat: »Im praktischen Ergebnis besteht freilich (obwohl vielfach bestritten) kein Unterschied zwischen diesen Auffassungen. Da in der Regel Mittel fehlen, um die Wahrscheinlichkeit im Einzelfall genau zu messen, kommt es auf die Überzeugungsbildung eines vernünftigen Urteilers an; in Grenzfällen entscheidet die subjektive Einschätzung der Richter. Es liegt deshalb nahe anzunehmen, das Gesetz lege zwar einzelne Beweiserleichterungen fest, habe aber kein Regelbeweismaß fixiert, sondern überlasse es den Gerichten, sich ihre Überzeugung nach der Bedeutung der Tatsachen, den Beweisschwierigkeiten und anderen, auch materiellen Umständen, unterschiedlich leicht zu bilden bzw. das Beweismaß entsprechend festzulegen. Danach gilt letztlich ein nach Richterrecht pragmatisch abgestufter flexibler Maßstab. In diesem Rahmen ist entscheidend, dass sich der Richter eine Überzeugung zu bilden vermag.«576 573 Zum Zivilprozess vgl. hier etwa Rosenberg/Schwab/ Gottwald 2010, § 115 Rn. 7 ff. 574 Vgl. Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 286 Rn. 9 m. w. N. 575 Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 286 Rn. 9. 576 Rosenberg/Schwab/Gottwald 2010, § 113 Rn. 15 m. N.

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Neben dem Ausgleich über die Beweislastverteilung, über die der Richter in Zweifelsfällen zu Entscheidungskriterien kommt, wer was und wie viel zumutbarer- und gerechterweise beweisen kann und zu beweisen hat, ist es nicht zuletzt die nie exakt vorgegebene Ermitt­ lungstiefe, die dem Richter Spielräume einräumt. Wie weit muss der Richter seine Befugnisse nach § 139 ZPO ausschöpfen? Wann hat er seiner Pflicht zur Amtsermittlung Genüge getan? Wie sich in dem Abschnitt über die Verhandlungsführung gezeigt hat, lassen sich hier klare Regeln nicht ermitteln. Soweit nicht Beweisanträge eine weitere Aufklärung gebieten oder sich eine solche »aufdrängen musste«,577 ist das entscheidende Kriterium letztlich kein anderes als die Überzeu­ gung des Richters, dass »die Sache für ihn jetzt hinreichend klar ist«. Besonders deutlich zeigt sich die Ambivalenz zwischen Grundsatz und Praxis bei Prognoseeinschätzungen – etwa im Ausländer- oder Asylrecht. So verlangte das BVerwG für eine »sachgerecht erarbeitete asylrechtliche Prognose« eine »vollständige Ausschöpfung aller ver­ fügbaren Erkenntnisquellen«.578 Wenn man diese Vorgabe wörtlich nehmen würde, bemerkt ein Kommentar dazu, würde »in der Praxis kein einziges Asylverfahren ordnungsgemäß zu Ende geführt werden können«.579 Die Pflicht »zur vollständigen Ausschöpfung aller ver­ fügbaren Erkenntnisquellen« wird in einer späteren Entscheidung dann auch dahingehend modifiziert, dass »ein Berufungsgericht in der Regel« verpflichtet ist, »zur Feststellung genereller Tatsachen jeden­ falls solche von einem der Beteiligten in sein Verfahren eingeführte, bisher nicht beigezogene Erkenntnisquellen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen«.580 Maßstab ist im Ergebnis wieder ein »für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewißheit«, mit dem man sich begnügen muss.581 Auch für das Strafrecht können wir nicht davon ausgehen, dass das von der Theorie für alle Verurteilungen verlangte gleich hohe Beweismaß auch bedeutet, dass die von der Praxis einzuhaltende Ermittlungstiefe generell bestimmt ist und in gleicher Weise gehand­ 577 Für § 139 ZPO greift hier die »gemilderte« Frage- und Hinweispflicht ein; Rosen­ berg/Schwab/Gottwald 2010, § 77 Rn. 15 ff. m. N.; vgl. etwa BGH BauR 2008, 1029– 1030. 578 BVerwG, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 143, NVwZ 1992, 270–272. 579 T. Stuhlauth in: Bader, VwGO, 6. Aufl., VwGO § 86 Rn. 8. 580 BVerwG, Beschluss vom 07.09.1993 – 9 B 509/93 – juris Rn. 4. 581 BVerwGE 71, 180; OVG NRW, Beschluss vom 04.01.2012 – 13 A 2821/11.A – juris Rn. 6.

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III. Das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung

habt wird. »Die Praxis verfährt«, so Bender/Nack/Treuer, »bei den Anforderungen an die Überzeugung – zu Recht – mit Blick auf den jeweiligen Einzelfall differenzierter«.582 Das Urteil muss zwar »auf einer Überzeugungsbildung unter vollständiger Ausschöpfung des Beweismaterials«583 beruhen; ob es um ein Bußgeld oder eine lang­ jährige Freiheitsstrafe geht, kann jedoch für die Intensität der Ermitt­ lung kaum ohne Einfluss sein. Für den Umfang der Beweisaufnahme in Bußgeldsachen hat der Gesetzgeber dies auch ausdrücklich geregelt (§ 77 OWiG).584

2. Wahrheit – Wahrscheinlichkeit – Gewissheit Die prozessualen Grundfragen zum Beweismaß, mit denen wir uns bislang beschäftigt haben, kreisen um die Begriffe Wahrheit, Wahr­ scheinlichkeit, richterliche Überzeugung und richterliche Gewissheit. Offen sind die erkenntnistheoretischen Problemzusammenhänge: Wie haben wir die kognitiven Prozesse zu verstehen, die die Topoi Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, richterliche Überzeugung und richter­ liche Gewissheit verbinden? Scheinbar rein objektive Gegebenheiten kollidieren hier mit höchst subjektiven Zuständen. Wie fügen sich »Gesamtschau« und »Überzeugungsbildung« zur »Gewissheit«?

a) Wahrheit – Wahrscheinlichkeit Im Alltagsverständnis und im Prozessalltag sprechen wir ganz selbst­ verständlich von Wahrheit. Man vergleicht die Tatsachenbehauptun­ gen mit der Realität und wenn beides übereinstimmt, sind sie »wahr«. Wenn Greger die »Aufgabe des Beweises« darin sieht, »die größtmög­ liche Übereinstimmung zwischen dem vom Gericht beurteilten und dem wahren Sachverhalt zu gewährleisten«,585 dann korrespondiert dies genau mit unserem intuitiven Verständnis von Wahrheit. Alle bisherigen erkenntnistheoretischen Überlegungen zu Art und Weisen der richterlichen Sachverhaltsfeststellung haben jedoch ergeben, dass mit einer »Abbildtheorie der Wahrheit« die Probleme, die sich bei 582 583 584 585

Rn. 551. BGH NStZ-RR 2012, 256–257 m w. N. Vgl. Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 552 f. Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl., § 286 ZPO Rn. 18.

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Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

der Sachverhaltsermittlung stellen, nicht erfasst werden können. Dem traditionellen und alltagsüblichen Wahrheitsbegriff gegenüber lassen sich »wahr« und »Wahrheit« nur mit Anführungszeichen gebrauchen. Auszugehen ist vielmehr von folgenden, bisher getroffenen Feststellungen: Es gibt eine doppelte Verfahrensabhängigkeit der »Wahrheit«: sie kann nur auf die prozessuale Situation bezogen beurteilt werden und sie ist davon abhängig, dass sowohl die verfah­ rensrechtlichen Vorgaben als auch die in diesem Teil erörterten Regeln der Sachverhaltserkenntnis beachtet wurden. Der Sachverhalt erfasst nicht die »Wahrheit«, sondern ist ein Konstrukt; er kann nicht bean­ spruchen, objektiv richtig zu sein, sondern ist nur insoweit »richtig«, als er intersubjektiv vermittelbar ist. Als Konstrukt kann er nur mit mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit das Geschehene so rekonstruieren, wie es sich nach »bestem Wissen und Gewissen« darstellt – nicht »wie es eigentlich gewesen ist«, um mit Rankes berühmtem Postulat zu verdeutlichen, was dem Richter – und nach heutiger Auffassung auch dem Historiker – nicht möglich ist. Und wenn hier auf das »beste Wissen« und das »Gewissen« abgestellt wird, dann wird damit nicht auf eine Leerformel verwiesen, sondern auf den für das Richteramt unlösbaren Zusammenhang von Professionalität und Ethos.

b) Wahrscheinlichkeit und Gewissheit Nahezu immer, wenn sich der Richter auf Alltagstheorien stützt, aus Indizien auf Tatsachen schließt, arbeitet er, wie gezeigt, mit Wahrscheinlichkeiten. Gedanklich liegt es deshalb nur nahe, eine objektive Konzeption des Beweismaßes anzustreben.586 »Stimmigkeit« ließe sich dann dadurch herstellen, dass der Richter den (objektiven) Wahrscheinlichkeitsgrad angibt, mit dem er seine Feststellungen trifft. Schon oben waren wir allerdings zu dem Ergebnis gekommen, dass der Anwendungsbereich statistisch abgesicherter, objektiver Wahrscheinlichkeit in der gerichtlichen Praxis sehr begrenzt ist. Eine allgemeine Lehre des Indizienbeweises lässt sich deshalb auf dieser Grundlage ebenso wenig aufbauen wie eine objektive Konzeption des Beweismaßes. Muss der Richter eine Beweiswürdigung vornehmen, wird er also den sicheren Weg objektiver Wahrscheinlichkeit in aller Regel nicht 586

Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald 2010, § 112 Rn. 11 m. N.

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III. Das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung

gehen können. Seine Vorstellung vom richtigen Sachverhalt wird er dann nur im Wege einer »Gesamtschau aller Beweisanzeichen« gewinnen können. Unser Diskurs über den »richtigen Sachverhalt« muss folglich dort wieder ansetzen, wo wir unsere Überlegungen zur Gesamtschau bzw. Gesamtwürdigung unterbrochen haben: bei der Subjektivität der Gesamtschau, bei der subjektiven Wahrscheinlich­ keit, der subjektiven Gewissheit. Wenn wir von der subjektiven Wahrscheinlichkeit sprechen, meinen wir damit »den Grad von Gewissheit, den Überzeugungsgrad, das Fürwahrhalten«.587 Mit ihr wird der Bereich verlassen, in dem wir mit sicheren oder gar zwingenden Schlussfolgerungen rechnen können. Die wesentlichen Aspekte der dann gebotenen Einschät­ zungen von Wahrscheinlichkeiten als Wahrheit finden wir immer noch sehr gut zusammengefasst in der Erklärung, die R. Eisler dem Begriff in seinem »Wörterbuch der philosophischen Begriffe« gab. Wahrscheinlichkeit ist danach »ein Grad von ›Gewißheit‹, beruhend auf starken, überwiegenden Motiven zu Urteilen, so aber, daß diesen Motiven immerhin noch andere gegenüberstehen, die berücksichtigt werden wollen oder sollen; objektiv wahrscheinlich ist das, was, auf eine Reihe von Gründen gestützt, das Denken als wahr, wirklich anzunehmen, zu erwarten sich berechtigt weiß, ohne, wegen der Lücken in der Erfahrung und im Schließen, absolut stichhaltige Gründe, stringente Beweise zu haben. Je nach der Art und Menge der Gründe oder der Instanzen, auf die sich das Wahrscheinlichkeits­ urteil und der Wahrscheinlichkeitsschluß stützt, gibt es verschiedene Grade der Wahrscheinlichkeit (s. Induktion).« Zu bedenken haben wir mit anderen Worten den Zusammenhang von induktiven Schlüssen und Gewissheit. In diesem Zusammenhang liegt ein Grunddilemma richterli­ cher Erkenntnis, richterlichen Urteilens. Diese sollen objektiv sein, sind aber »höchstpersönlich«. Naturwissenschaftliche Erkenntnis ist für uns dadurch bestimmt, dass sie von jedem Wissenschaftler jederzeit und an jedem Ort mit gleichem Ergebnis – mit gleicher Gewissheit – nachvollzogen werden kann. Die »Gewissheit« des Richters ist dagegen »unvertretbar«. Soweit sie höchstpersönlich ist, sind Sachverhaltsfeststellungen deshalb auch revisionsrechtlich nicht überprüfbar. 587

Bender/Nack/Treuer 2007, Rn. 568; vgl. auch U. Eisenberg 2015, Rn. 920 ff.

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Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

c) »Richterpersönlichkeit« vs. Methodenlehre? Wir kommen damit auf einen entscheidenden Punkt zurück, den wir in dem vorstehenden Abschnitt über die »Gesamtschau« bzw. »Gesamtwürdigung« noch ausgeklammert hatten: Die Art und Weise, in der der Richter in der »Gesamtschau alle Beweisanzeichen«, Tatsachen und Indizien verknüpft und bewertet und sich eine Über­ zeugung bildet, darf zwar nicht beliebig sein; sie ist aber unhinter­ gehbar mit seiner Person verbunden. Es ist die Persönlichkeit, die mit ihren Prägungen und Erfahrungen, ihren Vorurteilen und ihrem Rollenverständnis, ihren persönlichen und institutionellen Vorver­ ständnissen die subjektiven Raster vorgibt, mit denen die Beweise und die Tatsachen ermittelt und gewürdigt werden. Die Gepflogenheit in den Dienstleistungszeugnissen der Richter, »Berufsauffassung«, »Judiz«, »Richterpersönlichkeit« und »Entschei­ dungsfähigkeit« zu thematisieren, reflektiert aus dieser Sicht genau den untrennbaren Zusammenhang, der zwischen der Aufgabe, den »richtigen« Sachverhalt zu ermitteln, und richterlichem Berufs­ ethos besteht. Vergegenwärtigen wir uns das Problem im Kontrast­ verfahren: Ein Teilnehmer an der Untersuchung von J. Schmid u. a., Richter am Amtsgericht, meinte bei der Befragung, dass ihm die Simulation (eines Arzthaftungsprozesses) ein höheres Maß an Auf­ klärung abverlangte, als er für sinnvoll bzw. vertretbar hielt, und gab zu Protokoll: »Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, so gut wie gar nichts zu sagen, sondern die Sache gleich totzumachen, denn Fragen solch evidenter Art sind mir während meiner ganzen Zeit am Landgericht nicht vorgekommen. Läßt man sich auf die Aufklärung ein, so führt das zum Chaos. Als Amtsrichter nicht aufzuklären ist auch völlig legitim. Ich habe hier im Jahr siebenhundert Sachen auf dem Tisch liegen. Sie können sich vorstellen, was passiert, wenn ich da anfange, aufzuklären. Eine vernünftige Aufklärung wird im Übrigen auch von der Justizverwaltung nicht erwartet. Diese Zurückhaltung entspricht auch dem Alltag der Fälle hier. Die sind so langweilig, da hält man als Amtsrichter lieber den Mund. Schließlich gibt es ja auch noch die Landgerichte und die sollen ja auch noch etwas tun.«588

Sehen wir davon ab, dass hier auch die Hinweispflicht nach § 139 ZPO (a. F.) nicht in den richterlichen Blick gekommen ist, zeigt sich eine 588

J. Schmid 1997b, S. 173 f.

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III. Das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung

Einstellung, die jeden Gedanken an Methodik ins Leere laufen lässt. Dafür gibt es aber nicht nur Beispiele aus simulierten Situationen: Es ist auch kein Ausweis für richterliches Berufsethos, wenn ein Richter, dem ein Beweisantrag nicht ins Konzept passt, auf den Vorhalt eines Bevollmächtigten, es sei auch seine Aufgabe, die Wahrheit zu erfor­ schen, entgegnet: »Die Wahrheit interessiert mich nicht.« Besonders kritisch ist dieses Beispiel auch deshalb, weil selbst im Instanzenzug keine Korrektur erfolgte. Mit Gründen, die das BVerfG in seiner statt­ gebenden Entscheidung nur als »unvertretbar« und »erst recht […] nicht tragfähig« charakterisieren konnte, hatten sowohl das Landge­ richt als auch das Oberlandesgericht das Ablehnungsgesuch abge­ lehnt.589 Gewählt ist das Beispiel nicht als ein Fall, in dem der grund­ rechtliche Anspruch auf den gesetzlichen Richter nicht gewahrt ist, sondern als Hinweis auf das weite Feld der Fälle, in denen das rich­ terliche Verhalten nicht so eindeutig willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist, dass es rechtlich korrigiert werden kann. Man muss also fragen, wie es mit dem richterlichen Berufsethos aussieht, wenn die richterliche Selbstkontrolle schon dann versagt, wenn ein Richter so eindeutig »bekundet, dass er an der Erfüllung einer wesentlichen richterlichen Amtspflicht nicht interessiert sei«?590 Letztlich ist es nur das Berufsethos, das in der Grauzone zwischen Rechtsverstoß und notwendigem richterlichem Beurteilungs- und Handlungsspielraum das richterliche Verhalten steuert.

d) Überzeugungsbildung – Persönlichkeit und Professionalität Richterliches Urteilen ist als Erkennen und Beurteilen von Sachver­ halten der Lebenswelt immer auch höchstpersönlich. Wenn es deshalb nicht in eine Folge zwingender Schlussfolgerungen auflösbar ist, vollziehen sich Überzeugung und Gewissheit aber doch in Prozes­ sen, die auch als kognitive Erkenntnisprozesse analysierbar sind – »Erkenntnis« allerdings in dem bereits grundsätzlich dargelegten Verständnis der Kognitionswissenschaften. Überzeugung kann durchaus als plötzlich sichere Gewissheit erlebt werden. Zu analysieren ist sie jedoch als Prozess, der in Schrit­ ten und auf mehreren Ebenen stattfindet und mit den Mechanismen sozialer und individueller Kognition arbeitet, die wir bisher gesondert 589 590

BVerfG 2. Senat 3. Kammer, B. v. 12.12.2012 – 2 BvR 1750/12 – juris. AaO. – juris Rn. 16.

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Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

beschrieben haben. Die bisherigen Überlegungen zusammenfassend, lassen sich folgende Ebenen und Schritte unterscheiden: 1.

2.

3.

Die Überzeugungsbildung muss auf einer objektiven Tatsa­ chengrundlage beruhen.591 Und die dafür notwendige Beweis­ grundlage muss nicht nur tragfähig, sondern auch umfassend sein. D. h., die ermittelten und die zu ermittelnden Tatsachen müssen – in dem beschriebenen kohärenztheoretischen Sinn: »umfassend« – in die gebotene Gesamtwürdigung einbezo­ gen werden. 1. Die Schritte von der Tatsachenbasis zur Gewissheit sind zwar keine logisch zwingenden Schritte. Es muss sich jedoch um Begründungsschritte handeln. Schon im ursprüng­ lichen Wortsinn von zunächst »mit Zeugen überführen« zu »mit Gründen zu einer Ansicht bekehren«592 kommt der prozedurale und nicht-dezisionistische Charakter der »Überzeugung« zum Ausdruck. Die Regeln, nach denen der Richter die ermittelten Daten ver­ knüpft und vermittels derer er auf den Sachverhalt »schließt«, waren Gegenstand unserer ausführlichen Analyse: Naturge­ setze, Alltagstheorien, wissenschaftlich abgesicherte oder sehr individuelle Erfahrungssätze, die Muster und Schemata, mit denen unser Denken arbeitet, wenn es eine »Gesamtwürdigung« leisten muss. 1. Diese Regeln vermitteln allerdings, wie ebenfalls schon dar­ gelegt, Gewissheiten mit sehr unterschiedlicher Über­ zeugungskraft. Je nachdem, ob man diese aus der Sicht des Richters selbst oder eines objektiven Beobachters wertet, sind die subjektiven von den objektiven Gewissheiten zu unterscheiden. So kann die subjektive Gewissheit – etwa bei rein subjektiven Erfahrungssätzen – sehr hoch sein, während sie für andere nur eine geringe oder gar keine Überzeugungskraft hat. Fachwissenschaftliche oder alltägliche Erfahrungssätze, Alltags­ theorien oder allgemein: Argumente, die anerkannt sind, sind

Wenn etwa das Gericht eine nicht gemachte Aussage oder eine Urkunde mit anderem Wortlaut gewürdigt hat, dann fehlt dem »inneren Vorgang der Überzeu­ gungsbildung […] die notwendige äußere Grundlage«, so BGHSt 29, 18–23 m. N. 592 Vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Aufl. 1995, Stichwort: »überzeugen«.

591

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III. Das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung

dagegen bereits ihrer Struktur nach inter-subjektiv. Insoweit sie akzeptiert sind, kann auch die richterliche Überzeugung Akzeptanz finden. Die Überzeugungsbildung auf richterlicher Seite und das Überzeugt-Werden Dritter kann sich auf diese Weise über sich überschneidende Schnittmengen vollziehen.593 Selbst in den Fällen, in denen die Beweiswürdigung nicht eindeutig auf sichere oder gar zwingende Schlussfolgerungen aufbauen kann, bleibt also ein weiter Bereich für intersubjektiv vermittelbare Feststellungen. Aber auch der Bereich, in dem die subjektiven Einschätzungen ent­ scheidend dafür sind, mit welchen Gewichten und Vorverständnissen Indizien eingeordnet und Beweise gewürdigt werden, wird damit nicht zu einer Zone sinnvoll nicht weiter analysierbarer Mechanis­ men, methodisch nicht weiter hinterfragbarer Subjektivität. 1.

2.

3.

593 594 595

Ein wesentliches Moment liegt zunächst in der Pflicht des Rich­ ters, die Gründe, auf denen seine Überzeugung beruht, in der Entscheidung auch öffentlich zu machen. »Aus den Urteils­ gründen muß sich ergeben, daß die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern von einem zutreffenden Ausgangspunkt betrachtet und unter diesem Blickwinkel in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden.«594 Der Richter muss die Überzeugungsbildung transparent machen.595 Insofern wird die Beweiswürdigung des Richters analysierbar. Man kann sie nachvollziehen. Obwohl die Überzeugungsbildung ein intra-subjektiver Vorgang bleibt, ist der Richter gezwungen, sich jedenfalls im Hinblick auf die Urteilsbegründung die Gründe für seine Einschätzungen und Abwägungen bewusst zu machen. Nach außen treten aber nicht die Zwischenschritte der Überzeu­ gungsbildung, sondern nur diejenigen Gründe, die dem Richter im Ergebnis mitteilenswert scheinen. In einem Spruchkörper müssen auch die Zwischenschritte, d. h. viele der induktiven Schlussfolgerungen, Gewichtungen und Abwägungsvorgänge, die beim Einzelrichter intra-subjek­ tiv bleiben, offen dargelegt werden. Die Richter müssen die Gründe, die sie zum Ergebnis der Beweiswürdigung führen, dis­ kursiv erarbeiten. Jedenfalls innerhalb des Spruchkörpers ist die Siehe Kap. 12 II. 3. BGH NStZ 2001, 491–492. Vgl. U. Eisenberg 2015, Rn. 98 m. N.

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Kapitel 14: Der »richtige« Sachverhalt – Herstellung von Kohärenz

Überzeugungsbildung deshalb auch inter-subjektiv vermittelt. Insoweit scheint es nur noch eingeschränkt zu passen, sie als »höchstpersönlich« zu charakterisieren. Eindeutig ist nur die Unvertretbarkeit ihrer Wertung.

3. Die höchstpersönliche Verantwortung des Richters für seine »Gewissheit« Unsere Überlegungen stoßen an dieser Linie des Intra-Subjektiven an die Grenzen, jenseits deren die Mechanismen der Sachverhaltsfest­ stellung nicht mehr methodisch analysierbar sind. Zugleich liegen die Einwände gegen eine allzu »idealistische« Betrachtung auf der Hand: Selbst in einem Spruchkörper, in dem jedes Mitglied um die Selbst­ verantwortung und Kollegialität des anderen weiß – und jeder Richter mit Erfahrung in Kammern und Senaten kennt Beispiele, in denen die Wirklichkeit diesem Bild nicht entspricht –, gibt es gruppendynami­ sche Prozesse, die einer rationalen Überzeugungsbildung nicht för­ derlich sind. Und hinter den Gründen, auf die die Begründung gestützt wird, stehen bekanntlich oft die »eigentlichen« Gründe, die nicht öffentlich werden. Aus rationalistischer Perspektive ergäbe sich daraus nur die resignierende Feststellung, dass richterliche Erkennt­ nis eben deshalb keine sei, weil sie in aller Regel »emotional konta­ miniert« ist. Dem ist aus realistischer Sicht – die man mit guten Gründen auch humanistische nennen kann – entgegenzuhalten: Rein funktional kann das Richteramt eben auch nicht gedacht werden. Die richterliche Gewissheit ist immer auch »höchstpersönlich«, d. h., der Richter muss sie persönlich verantworten. Und darauf muss man ver­ trauen können. Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern »anver­ traut«, Art. 92 GG. Der Diskurs über den »richtigen Sachverhalt« nimmt an dieser Grenzlinie eine andere Gestalt an; er wird zum Diskurs über das, was Professionalität von der »Richterpersönlichkeit« fordert. Was das konkret bedeutet, ist an zahlreichen Beispielen erörtert worden, etwa für das Zuhören-Können und somit auch Zuhören-Lernen als Bedin­ gung des professionellen Arbeitens oder für die persönlichen Erfah­ rungssätze die Einsicht und Möglichkeit, mit diesen kritisch umgehen zu können. Das Richteramt fordert – bei der Sachverhaltsfeststellung vielleicht noch nachdrücklicher als bei der rechtlichen Würdigung – mehr als nur die richtige Anwendung der Regeln des richterlichen

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III. Das Beweismaß und die richterliche Überzeugungsbildung

Handwerks. Methode verlangt Reflexion: die Fähigkeit des Richters, in seinen Einschätzungen, Schlussfolgerungen und Wertungen die Relativität der eigenen Wahrnehmung und Wahrheit reflektieren zu können. Methode setzt hier nichts weniger voraus als die sich selbst sichere und selbstbewusste Persönlichkeit, die – weil sie dies ist – sich selbst relativieren kann.

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Teil D Das Erkenntnisverfahren – Determinanten der Rechtserkenntnis

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Kapitel 15: Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses

In den folgenden Kapiteln werden sich entscheidende Parallelen zwi­ schen der Sachverhalts- und der Rechterkenntnis zeigen: Auch das Recht lässt sich nicht als solches, als Gegenstand, als »Recht an sich« erkennen (I.). Auch hier sind die erkenntnistheoretischen Fragestel­ lungen von spezifischen Randbedingungen abhängig, sowohl von theoretischen Ausgangspositionen als auch von der Wertung tatsäch­ licher Befunde (II.). Ändern sich diese Randbedingungen, muss eine zeitgemäße Methodik auch die Determinanten der Rechtsermittlung neu bestimmen und gegebenenfalls neue Ansätze formulieren (III.).

I. »Das Recht« und die divergierenden Vorstellungen vom Recht Ein Diskurs über die juristische Methode scheint zunächst unaus­ weichlich in den Strudel eines hermeneutischen Zirkels zu geraten: Die Methode soll auf einen sicheren Weg zu dem führen, was Recht ist. Sie muss also vom Recht, von ihrem Gegenstand her, den es zu erkennen gilt, entwickelt werden. Das Recht kann aber nicht so erkannt werden, wie es »wirklich« ist. Folgen wir unseren bisheri­ gen Feststellungen zur Struktur unserer Erkenntnis, ist die Frage, »was« wir erkennen, untrennbar verbunden mit der Art und Weise, »wie« wir erkennen. Die Grundthese wäre dann: Ausgangspunkt für unsere Überlegungen zur Rechtserkenntnis kann nicht der Versuch sein, das, was Recht ist, objektiv zu fixieren. Entscheidend sind vielmehr die Vorstellungen von Recht, die unsere Vorstellungen, wie wir Recht erkennen, begleiten und bestimmen. Nicht, was Recht »an sich« ist, ist zu untersuchen, sondern zu analysieren sind die Bedingungen und Vorgaben, die in durchaus unterschiedlicher Weise unsere Vorstellungen von Recht und »Rechtsfindung« prägen. Schon der eingangs zitierte unterschiedliche Sprachgebrauch verweist auf

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Kapitel 15: Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses

divergierende Vorstellungen darüber, wie Recht zu erfassen ist. Wenn wir schon die Welt der Dinge oder – im Sachverhalt – das »wirklich« Geschehene nicht einfach abbilden können, umso weniger kann das bei dem komplexen soziokulturellen Phänomen »Recht« gelingen. Rechtserkenntnis lässt sich jedenfalls nicht als Prozess darstellen, in dem ein an sich vorhandenes Recht nur nachbildend zum Bewusstsein gebracht wird. Die These, dass Rechtserkenntnis – »Erkenntnis« auch hier im Sinne des kognitionswissenschaftlich verstandenen Begriffs – immer über unsere Vorstellungen über das Recht und die Art und Weise seiner Erkenntnis vermittelt ist, »Recht« also nicht unabhängig vom Erkenntnisprozess »gefunden« werden kann, macht die Antwort auf die Frage, wie wir es erkennen, zwar nicht einfacher als die naive Annahme eines nur nachbildenden Bewusstseins, ist aber als Ansatz einer kritischen, die Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft spiegelnden Rechtstheorie unausweichlich.

II. Methodenlehre im Netz ihrer Abhängigkeiten Auf die Fragen: Wie erkennen wir, was rechtens ist? und: Was ist Recht? hat die Rechtstheorie bekanntlich keine einhellige Antwort gefunden. Es gibt Rechtstheorie nur im Plural. Entsprechendes gilt für die uns primär interessierende Frage: Welche Vorstellungen von Recht haben welche Methoden hervorgebracht? Man bekommt auf diese Frage sehr unterschiedliche Antworten – je nach Perspektive, aus der man sie stellt. Auf diese unterschiedlichen Vorstellungen muss sich eine Methodenlehre auch inhaltlich einlassen, indem sie die Argumente, die sich aus ihnen ergeben, entweder aufgreift oder ver­ wirft. Vergegenwärtigen wir uns einige der wesentlichen Ansätze, in denen die Abhängigkeit der Methode von solchen unterschiedlichen Perspektiven deutlich wird: 1. Die Frage gäbe zunächst Gelegenheit, im Rahmen einer Ide­ engeschichte der Rechtstheorien die Abhängigkeit der Methoden der Rechtsfindung von den jeweiligen Vorstellungen über Ursprung, Geltungsgrund und Wesen des Rechts konkret darzustellen und detailliert zu belegen. Um Beispiele zu nennen: etwa das mittelalter­ liche Verständnis von Rechtsprechung als Erhaltung des überkom­ menen, guten alten Rechts oder die Vorstellungen eines von Gott gegebenen Gesetzes (Tafeln Moses) oder eines vorgegebenen Natur­

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II. Methodenlehre im Netz ihrer Abhängigkeiten

rechts, das es nur richtig zu erkennen gilt. Eine Gegenposition liegt in der Sicht des Rechts als bloßes Instrument gesellschaftlicher Macht, als Spiegelung konkreter gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse. – Methodenlehre als Geschichte der Rechtstheorien zu betreiben, kann hier freilich nicht unser Ziel sein. 2. In der Regel gibt die Methodenlehre ihre Antwort auf die Frage »Wie erkennen wir, was rechtens ist?« auch nicht aufgrund einer ideengeschichtlichen Analyse, sondern durch eine Ableitung aus einem der in der Rechtstheorie üblicherweise verwendeten Ansätze, etwa durch Übernahme systemtheoretischer oder hermeneutischer oder durch die Rhetorik geprägter Konzeptionen des Umgangs mit und des Verstehens von Recht. Den grundsätzlichen Einwand gegen Deduktionen aus solchen »Großtheorien« hatten wir aber schon im Eingangsteil formuliert (Einl. IV.). Weder über die Systemtheorie noch über die Hermeneutik können wir die für die Analyse der Rechts­ anwendungsprobleme in concreto notwendige »Tiefenschärfe« errei­ chen. 3. Eine sehr viel konkretere theoretische Perspektive gewinnen wir, wenn wir von den unterschiedlichen Paradigmen ausgehen, die die Rechtstheorie zum Verhältnis von Recht und Methode ent­ wickelt hat und die auch die aktuelle Diskussion über Recht und Methode (z. T. immer noch) bestimmen. Dies sind im Wesentlichen folgende Vorstellungen: 1. 2. 3. 4.

5.

597

Recht als System von Rechtsbegriffen; was rechtens ist, ist aus diesem System ableitbar (Rechtspositivismus); Recht als System von Normen, die ihren Geltungsgrund in der Autorität des Gesetzgebers haben; was rechtens ist, ist aus diesem System ableitbar (Gesetzespositivismus); Recht, das nach seiner Struktur nur vom Problem bestimmt werden kann,597 gewonnen wird Recht in einem diskursiven Verfahren (Topik); Recht als Produkt des Rechtssystems, insbesondere – oder auch nur – der Rechtsprechung (Systemtheorie); bestimmendes Para­ digma der Rechtserkenntnis ist die Selbstreferenz; das gilt auch für das Recht als Produkt aller an Rechtsetzung, Rechtsprechung, Rechtsumsetzung und Auslegung Beteiligter, das nur als Gefüge Vgl. die Formulierung von Viehweg 1974, S. 66, 68.

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Kapitel 15: Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses

partieller, mehr oder minder kohärenter Strukturen erfasst wer­ den kann. 4. Es sind schließlich auch die aktuellen Befunde, unsere tatsächli­ chen Erfahrungen mit dem Rechtssystem, die unsere Vorstellungen prägen. Wir erfassen dieses Rechtssystem weitgehend über unsere Vorstellungen von den Institutionen, die es ausmachen, über die hierarchischen Strukturen, in denen sie miteinander kommunizieren, wie auch die Art und Weise, wie diese Institutionen denken, handeln und Informationen verarbeiten. Soweit wir hier mit traditionellen Vorstellungen arbeiten, passen sie mit aktuellen Befunden oft nicht mehr zusammen: Da ist das traditionelle Bild von den klaren Rollen, die Gesetzge­ bung und Parlament in einem solchen System haben. Wie etwa die Beispiele Deutschland, England, USA zeigen, lässt sich bereits für diese Staaten, die sich als Demokratien verstehen, die dem Gewalten­ teilungsgrundsatz verpflichtet sind, das Netzwerk der Institutionen und Rechtsvorstellungen, die das Rechtssystem ausmachen, nicht mehr auf einen Nenner bringen. Auch innerhalb eines Rechtssystems sind die Kräfteparallelogramme oft weder austariert, noch bleiben sie konstant. Vier Momente, die für das Verhältnis Gesetzgeber – Rechtsprechung wesentlich sind, sind besonders hervorzuheben: 1.

2.

3.

Seit Gründung der Bundesrepublik hat die Rechtsprechung – unter Führung des Bundesverfassungsgerichts – die überkom­ mene Rechtsordnung wesentlich »grundgesetzlich« umgestaltet. Diese Entwicklung setzt sich durch EuGH und EGMR europa­ rechtlich fort. Die Regelungsdichte ist in vielen Bereichen davon abhängig, inwieweit das politische System (Parteien, gesellschaftliche Machtgruppen, Bund, Länder, Parlamente) einen Konsens findet. Bleibt es untätig, bleibt der Konflikt ungeregelt, muss die Recht­ sprechung dann Grundregeln vorgeben (z. B. für das Arbeits­ kampfrecht) oder Generalklauseln (oft nichts anderes als vage Kompromissformeln) auf dem Wege eines konkretisierenden Leitsatzrechtes »durchnormieren«. Die normative Kraft eines Parlamentsgesetzes ist immer auch abhängig von der handwerklichen Qualität, mit der es gemacht ist. Die zunehmende Komplexität der Regelungsmaterien stellt den Gesetzgeber fachlich vor immer größere Anforderungen an die eigene Sachkompetenz. Mit dem entsprechend stärkeren

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III. Determinanten der Rechtserkenntnis

4.

Heranziehen von Lobbyisten und Großkanzleien bei der Geset­ zesarbeit stellen sich zwangsläufig Probleme hinsichtlich Trans­ parenz der Willensbildung, Gemeinwohlorientierung und Legi­ timation. Noch problematischer sind die Phänomene »symbolischer Gesetzgebung«. Gesetze sollen im politischen Geschäft Wertbe­ kenntnisse oder Handlungsfähigkeit demonstrieren – jedenfalls Handlungswillen und diesen oft gerade in den Bereichen, in denen man eigentlich nicht handeln will oder kann. Faktische Unwirksamkeit der Regelung wird in Kauf genommen oder ist sogar beabsichtigt.598

In das Bild einer aus dem Kodifikationsmodell entwickelten akademi­ schen Methodenlehre lassen sich diese Entwicklungen nicht mehr bruchlos einfügen. Für unsere Vorstellungen von dem, was Recht ist, und für die Frage, wie eine Methode beschaffen sein muss, die mit diesen Phänomenen umgehen kann, sind sie jedoch wesentlich. Hinzu tritt ein weiteres – zunächst nur technisches – Moment, das unmittelbar die Art und Weise betrifft, wie in unserem Rechtssystem miteinander kommuniziert wird und Informationen verarbeitet wer­ den: die Auswirkungen, die die Informationstechnik, insbesondere die Datenbanken, auf den Rechtsfindungsprozess haben.599

III. Determinanten der Rechtserkenntnis – ein grundlegend verändertes methodisches Vorverständnis Aufgabe wird es im Folgenden sein, für unsere Vorstellungen von dem, was Recht und Rechtserkenntnis ausmacht, einen gemeinsamen Prämissenrahmen zu suchen, der auch hinreichend Akzeptanz fin­ den kann. Diesen Rahmen werden wir weitgehend im Blick auf die genannten Abhängigkeiten – Rechtsprechung und Regelbindung, Recht und Sprache sowie Recht, System und Kohärenz und schließlich Methode und Verfassung – festzulegen haben. Sie sind die Grund­ elemente der Rechtsermittlung. Ein spezifischer Zusammenhang von Sprache, System und »Rechtserkenntnis« hat freilich auch die 598 599

Vgl. dazu. näher G.-P. Calliess 1999, S. 76 ff. m. w. N. zu Literatur und Beispielen. Näher dazu Kap. 25.

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Kapitel 15: Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses

traditionelle Methodenlehre geprägt. Doch nur die Worte sind gleich, die theoretischen Inhalte sind grundlegend andere. Einen neuen Prä­ missenrahmen für eine zeitgemäße Methodenlehre können wir also nur abstecken, wenn wir zunächst in einem Kontrastverfahren die völlig unterschiedlichen theoretischen Kontexte deutlich machen, in deren Rahmen die hergebrachte Methodenlehre die Grundelemente Sprache – System – Erkenntnis verstanden hat, und uns demgegen­ über der Kontexte vergewissern, in denen wir diese Begriffe heute handhaben müssen.

1. Der Justizsyllogismus und seine theoretischen Vorverständnisse In dem Kapitel »Vom wissenschaftlichen zum Gesetzespositivismus« seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit hat F. Wieacker auch die theoretischen Methoden und Postulate dieser Epoche, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hineinreicht, skizziert.600 Zurückführen lassen sich die Grundelemente dieses »wissenschaftlichen Gesetzes­ positivismus« auf folgenden Grundüberlegungen: 1. 2. 3. 4.

das Recht als wissenschaftliches System, die aus diesem System sich ergebende objektive Bedeutung juristischer Begriffe, die Lückenlosigkeit der geschriebenen Rechtsordnung, die Bindung des Richters an wissenschaftliche Methoden.

Im »Justizsyllogismus« verdichteten sich diese Ansätze zum Idealty­ pus rechtswissenschaftlicher Methodik. a. Das Kodifikationsmodell garantierte in der Idee eine lücken­ lose rechtliche Ordnung. Wo dennoch Lücken in der gesetzlichen Regelung auftraten – und das Lückenproblem wurde zu einem zentra­ len Thema dieser Methodenlehre601 –, konnten sie im Rahmen der »Vorstellung, daß alle Rechtsentscheidungen im Gesetz vorgezeich­ F. Wieacker 1967, S. 460. Kaufmann/Hassemer 2004, S. 114, Fn. 284 mit Hinweis auf C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983. Zur Funktion der »lückenlos gedach­ ten Gesamtrechtsordnung«, vgl. auch B. Rüthers 1970, S. 17 ff. – Näher zu diesem Zusammenhang auch Strauch 2001, S. 315. 600

601

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III. Determinanten der Rechtserkenntnis

net seien«602, geschlossen werden. So ergab sich ein Zusammenhang zwischen dem Dogma der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung und der Vorstellung eines mehr oder minder geschlossenen Begriffssystems, das es ermögliche, auch neu auftretende Rechtsfragen im Wege logi­ scher Gedankenoperationen zu beantworten. Begriffe wie »Gesamt­ rechtsordnung« und die »Einheit der Rechtsordnung«, in denen sich das Systemdenken des Positivismus und die naturrechtliche Kodifika­ tionskonzeption verbinden, markieren weitere zentrale Kategorien und die tragenden Säulen der traditionellen Methodik. »Das Prinzip der ›Einheit der Rechtsordnung‹“, so hat es Engisch formuliert, »steht in einem doppelten logischen Verhältnis zur Rechtsdogmatik. Bald erscheint es als Axiom, bald als Postulat juristischer Arbeit«603, und zwar dort, wo es um Normergänzung, Analogie, »Normfindung« und methodisch um die Gesetzesbindung geht. Damit schließt sich auch der Kreis zum Subsumtionsmodell im oben beschriebenen Sinn. Denn ein prinzipiell stringentes System axiologisch zusammenhän­ gender Begriffe und Sollenssätze ist Voraussetzung dafür, Rechts­ findung auch dann noch über deduktive Subsumtionsvorgänge zu beschreiben, wenn eine konkrete Gesetzesnorm nicht vorhanden ist. b. Eine Regel ist nur in dem Maße allgemein, in dem durch den Text die Bedeutung so eindeutig bestimmt ist, dass sie von jedem Richter auch gleich angewandt wird. Für das Sprachverständnis, das dem Kodifikationsgedanken und dem Rechtspositivismus zugrunde lag, war diese Bedingung allgemeiner Geltung kein grundsätzliches Problem. Man ist von einem im Prinzip eindeutigen Zusammenhang von Wort und Gegenstand ausgegangen, von einer klaren Zuordnung von juristischem Begriff und seinem Bedeutungsinhalt. Ein juristi­ scher Begriff war in den klaren logischen Strukturen des Systems verankert und deshalb in seinem Inhalt auch klar bestimmbar. Der absolute Textgehorsam, den die Kodifikationen ursprünglich forderten – Napoleon für seinen »Code civil« von 1804604 ebenso wie das preußische ALR und das Josefinische Gesetzbuch von 1786 –, war und ist in dem Maße schlüssig, in dem man von dem repräsentativen Charakter der Sprache, d. h. einer realistischen Semantik ausgehen konnte, wie Sprachwissenschaftler das formulieren würden605. Das 602 603 604 605

Röhl 1987, S. 44. K. Engisch 1935/1987, S. 69. Vgl. B. Rüthers 1970, S. 15. F. v. Kutschera 1975, S. 38 ff.

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Kapitel 15: Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses

setzt eine befriedigende Referenztheorie der Bedeutung voraus, und zwar in der Weise, dass 1. der jeweilige Begriff Code-Charakter hat, also in seiner regelhaften Verwendung eindeutig definiert ist und 2. eine eindeutige Korrespondenz zwischen Gegenstand und Begriff, allgemein zwischen Welt und Sprache besteht. Das juristische Sub­ sumtionsmodell ist in diesem Sinne nur ein Unterfall des allgemeinen Subsumtionsmodells606, das auf der traditionellen Korrespondenz­ theorie der Wahrheit aufbaut – Wahrheit als Übereinstimmung von Einsicht und Gegenstand.607 c. »Erkenntnis« konnte in diesem Zusammenhang auf logi­ sches Erkennen reduziert werden. Rechtserkenntnis war richtiges Schlussfolgern, »logisches Ableiten aus juristischen Begriffen«608, eben: Justizsyllogismus. d. In der Konsequenz konnte sich auch das Problem des Richter­ rechts nicht stellen, allenfalls in der Funktion als »Rechtserkenntnis­ quelle«609. Denn wenn sich die Entscheidungs- oder Fallnormen, die der Richter zur Fallentscheidung benötigt, jeweils schlussfolgernd und ohne kreative richterliche Beimengungen unmittelbar aus dem Gesetz ergeben, hat das Gefüge solcher Entscheidungsnormen keine Eigen­ ständigkeit. Es ist nicht sinnvoll, Leitsätzen, die nur den Charakter analytischer Urteile haben, also eigentlich nichts Neues sagen, eine eigenständige normative Bedeutung zuzusprechen.

2. Der veränderte Rahmen – neue theoretische Ansätze Einwände gegen den Justizsyllogismus sind natürlich immer wieder erhoben worden – etwa durch die Freirechtsschule, durch die Interes­ senjurisprudenz oder durch die geisteswissenschaftliche Methode (R. Smend). Doch theoretische Positionen sind gegenüber der Realität immer unterkomplex und blenden Realitäten und Probleme aus, die dann von konkurrierenden Theorien aufgegriffen werden. Ihre Vormachtstellung verlieren herrschende Theorien erst, wenn ihre Vgl. dazu M. Frank 1992, S. 14, 34, 63. Thomas von Aquin, De veritate 1,2 – »veritas est adaequatio intellectus et rei«. Einen Überblick über die Korrespondenztheorien geben L. Kreiser u. P. StekelerWeithofer in: Enzyklopädie Philosophie, Hg. Sandkühler, 1999, Stichwort: Wahr­ heit/Wahrheitstheorien. 608 F. Bydlinski 1991, S. 11, Anm. 21. 609 K. Larenz 1992, S. 320. 606 607

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III. Determinanten der Rechtserkenntnis

theoretischen Grundpositionen als idealtypische Konstrukte von der Zunft nicht mehr geglaubt werden. Als »tools for handling« taugen sie dann nichts mehr und werden obsolet. Inzwischen hat dieses Schicksal alle genannten Grundpositionen ereilt. a. Das betrifft zunächst das Systemdenken. Die Gleichung: Rechtserkenntnis bedeutet Rechtswissenschaft, Wissenschaft bedeu­ tet umfassendes deduktives System, baute auf einem Verständnis von »System« auf, dem Wissenschaftsentwicklung und theoretische Diskussion heute die Grundlage entzogen haben. In der rechtstheo­ retischen Auseinandersetzung waren es vor allem die Vertreter der Topik, die diesen Kampf geführt haben. Das »Lückenproblem« dürfte damit geklärt sein: Eine »Lücke« ist nichts anderes als eine nicht vorhandene Regelung, die der Richter in methodischer Weise schließen muss. Man kann diese Operation nicht mehr als Subsumtion im Sinne einer »Rechtserkenntnis durch logische Ableitung aus juristischen Begriffen«610 ausgeben. Daraus darf aber nicht der Schluss gezogen werden, das Systemdenken ins­ gesamt für obsolet zu erklären, oder doch zu glauben, es aus der Methodendiskussion ausklammern zu können. Wie in Kapitel 18 zu zeigen sein wird, kann »in methodischer Weise« nur bedeuten: auch systematisch. Die oft zitierte Formulierung H. J. Wolffs: »Rechtswis­ senschaft zumindest ist systematisch oder sie ist nicht!«611 hat nichts von ihrer Richtigkeit verloren. Nur muss der Systembegriff – und zwar in einem kohärenztheoretischen Rahmen – neu formuliert wer­ den. b. Wie in Kapitel 2 schon angesprochen, haben Sprachwissen­ schaft und Sprachphilosophie dem eindeutigen, man kann auch sagen, naiven Verständnis dessen, was die Bedeutung eines Wortes ausmacht, die Grundlage entzogen. Im Anschluss an Wittgenstein hatte sich als der entscheidende Erklärungsansatz für die »Bedeu­ tung« der des Sprachgebrauchs erwiesen. Aber wie ist dieser Gebrauch dann näher zu bestimmen? Können unter den Voraussetzungen einer Gebrauchstheorie der Sprache den Tatbestandsmerkmalen einer Norm noch hinreichend genaue, bestimmbare Bedeutungen zugesprochen werden? Mit Hinweis auf Wittgenstein wird das vielfach grundsätz­ lich bestritten. Im 17. Kapitel werden wir uns mit dieser Frage und

610 611

F. Bydlinski 1991, S. 11, Fn. 21. H.-J. Wolff 1952, S. 205.

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Kapitel 15: Rechtserkenntnis – eine Frage des Vorverständnisses

konkret mit den Problemen Fachsprache, Wortlautgrenze und den Möglichkeiten semantischer Stabilität auseinanderzusetzen haben. c. Wenn heute auch in der allgemeinen philosophischen Diskus­ sion eine »Subversion des Subsumtionsmodelles« zu konstatieren ist612 – und das völlig unabhängig von juristischen Methodenfragen –, dann wird unübersehbar, dass auch die erkenntnistheoretischen Vor­ aussetzungen des hergebrachten Modells als überholt gelten müssen. Der Erkenntnisbegriff kann auch für die Rechtserkenntnis nicht mehr entscheidend als logische Ableitung aus Begriffen verstanden wer­ den. Wie im bisherigen Verlauf unserer methodischen Reflexionen immer wieder dargelegt und betont, bedarf es also eines umfassen­ den Erkenntnisbegriffs, der alle Momente und Mechanismen der Kognition erfasst – auch die Mechanismen der »Gesamtschau«, der sozialen Kognition und der Mustererkennung. d. Mit der Veränderung in den bisherigen theoretischen Ansät­ zen verändert sich schließlich zwangsläufig auch die Bedeutung, die dem Richterrecht beizumessen ist. Die Regeln, die die Begründung tragen – die in Leitsätzen formulierten Obersätze und Entscheidungs­ normen –, können nicht mehr nur als logische Zwischenschritte qualifiziert werden, sondern sind »synthetische Urteile«; sie wieder­ holen also nicht nur das Gesetz, sondern formulieren als richterliche Erkenntnis, wie es verstanden werden soll. Die Regelbindung des Richters, die sich – wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird – u. a. aus der Begründungspflicht ergibt, ist so zugleich auch die »Quelle« des Richterrechts.

612

M. Frank 1992, S. 63.

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Kapitel 16: Rechtsprechung und Regelbindung

Wenn man die Determinanten der Rechtserkenntnis bestimmen will, ist es sinnvoll, zuvor den Fixpunkt auszumachen, den der Richter ein­ nehmen muss, um Recht zu sprechen. Man kann auch anders fragen: Von welchen Vorstellungen müssen wir unabdingbar ausgehen, wenn wir über Rechtsprechung sprechen? Da es oft einfacher ist, sich darauf zu einigen, was mit einem Begriff unvereinbar ist, als für eine positive Begriffsbestimmung einen Konsens zu finden, beginnen wir mit der Frage: Was darf Rechtsprechung nicht sein? Und da gibt es neben dem Postulat, dass der Richter ein unabhängiger und unbefangener Dritter sein muss, keinen Zweifel: Rechtsprechung darf nicht beliebig, darf nicht willkür­ lich sein. Wenn der Richter eine Entscheidung nach seinem Belieben trifft, spricht er kein Recht. Die freie Wahl der Entscheidung nach dem alleinigen Maßstab des eigenen Willens lässt den Richterspruch genauso rechtlos sein wie eine Entscheidung aus dem Würfelbecher. Wobei allerdings das Bild des Richters, der würfelt, nicht ein­ mal eindeutig ist. Dahinter könnte ein Glauben an eine lenkende unsichtbare Hand stehen, der Gedanke an eine Art Gottesurteil. Die Vorstellungen von dem, was den gesuchten Fixpunkt ausmacht, sind, wie Rechtsgeschichte und Ethnologie zeigen, sehr unterschied­ lich. Der König urteilt, der göttlichen Eingebung folgend.613 Die Richter finden das Recht in Tradition und Herkommen, orientieren sich am Narrativ, d. h. an der Erzählung, wie man früher in einem derartigen Fall verfahren ist. Diese Rückschau soll nicht vertieft werden, sondern nur deutlich machen, dass die Vorstellungen über die Legitimations- und Ableitungsschemata, auf die Rechtsprechung zurückgeführt wird, sehr verschiedene und wechselnde Inhalte haben 613 Höchst anschaulich der Bericht über das Urteil König Salomons im Streit zweier Mütter um ein Kind: »Doch die andere rief: ›Es soll weder mir noch dir gehören. Zerteilt es!‹ Da befahl der König: ›Gebt jener das lebende Kind, und tötet es nicht; denn sie ist seine Mutter.‹ Ganz Israel hörte von dem Urteil, das der König gefällt hatte, und sie schauten mit Ehrfurcht zu ihm auf; denn sie erkannten, dass die Weisheit Gottes in ihm war, wenn er Recht sprach,“ 1 Kön 3,16–28.

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Kapitel 16: Rechtsprechung und Regelbindung

– ein Ableitungszusammenhang als solcher aber unverzichtbar ist. Unser Sprachgebrauch lässt daran keinen Zweifel: Das Recht wird durch den Richter »gesprochen« – »jurisdiction« –, nicht »erzeugt«, »gesetzt«, »geschaffen«. In unserem heutigen Verständnis wird der notwendige Ablei­ tungszusammenhang durch die Regelbindung geschaffen. Das ist näher zu begründen (I.). Zu diskutieren ist dann anhand des Toul­ min-Schemas die Struktur dieser Regeln und ihrer Bindung (II.), um in einem dritten Schritt aus den Überlegungen zu I. und II. den rechtstechnischen Entstehungsgrund von Richterrecht skizzieren zu können (III.). Unumstritten ist die Sicht notwendiger Regelbindung allerdings nicht. Diese Kritik gibt Anlass, über einen Exkurs zur Systemtheorie Luhmanns die Regelbindung in ihrer Struktur als Mehrebenensystem auch theoretisch besser zu fassen (IV.).

I. Notwendige Regelbindung Zunächst ist das Postulat der Regelbindung selbst näher zu begrün­ den. Dies geschieht über drei unterschiedliche Ansätze: als notwen­ dige Bedingung einer rationalen Begründung (1.), als notwendige Folge aus dem Gleichheitssatz (2.) und als verfassungsrechtliche Vorgabe (3.).614

1. Der argumentationstheoretische Ansatz Folgt man der üblich gewordenen Unterscheidung zwischen Herstel­ lung und Darstellung615 und stellt mit der Argumentationstheorie entscheidend auf die Begründung ab, dann ergibt sich die Regelbin­ dung aus dem Erfordernis, das Urteil als rational begründete Ent­ scheidung darzustellen.616 Mit den Worten U. Neumanns: »Rational begründet ist eine Entscheidung nur dann, wenn sie auf eine Regel 614 Grundlegend R. Alexy 1983, S. 273 ff. und für das Folgende insbesondere auch U. Neumann 2012, S. 315 ff., Ders. 2011, S. 578 ff. 615 Zur Übersicht K. Röhl 1987, S. 610 f. 616 Das bedeutet nicht, dass die Begründungspflicht Wesensmerkmal eines Urteils ist. Historisch hat sich die Begründung eines Urteils in Deutschland erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchgesetzt; vgl. B. Lahusen 2011, S. 49 ff.

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I. Notwendige Regelbindung

zurückgeführt werden kann, der zufolge alle Fälle dieses Typus in entsprechender Weise zu entscheiden sind. Dieses Moment der Gene­ ralisierung folgt aus dem Begriff der rationalen Begründung selbst. Denn Gründe im normativen Bereich lassen sich, ebenso wie Ursa­ chen im Bereich der Empirie, nicht auf den Einzelfall beschränken.«617 In der Regel tritt so in dem konkreten Fall das Allgemeine zu Tage. Hier hakt – etwa aus dekonstruktivistischer Perspektive – die Kritik ein. »Jeder Fall ist anders«, heißt es bei Derrida, »jede Entscheidung ist verschieden und bedarf einer vollkommen einzigartigen Deutung, für die keine bestehende, eingetragene, codierte Regel vollkommen ein­ stehen kann und darf.«618 In der Konsequenz bedeutete dies allerdings – und das wird von Derrida durchaus gesehen619 –, dass ein konkreter Fall nie nach allgemeinen Regeln entschieden werden könnte. Es gäbe dann folglich kein anwendbares Recht. Recht können wir nur anwenden, wenn wir »Strukturelemente«620 extrahieren, die auch in anderen Fällen gegeben sind. Nicht anders verhalten wir uns auch, wenn wir das, was die Besonderheit eines Einzelfalles ausmacht, diskutieren. Wir müssen es benennen. Allein die Benennung setzt aber voraus, dass der Besonderheit begriffliche Eigenschaften von einem gewissen Allgemeinheitsgrad zugeordnet werden können. »In dem Augenblick aber, in dem wir uns über das Individuelle und das Einzigartige intersubjektiv verständigen, avanciert es bereits zum Gegenstand allgemeiner Bestimmungen und ist damit, zumindest im Prinzip, einer erklärenden und gesetzmäßig beschreibenden Wissen­ schaft zugänglich.«621 Was der Wissenschaftstheoretiker B. Küppers im Anschluss an E. Cassirer hier für die Wissenschaft und allgemein für das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen formuliert,622 gilt auch für das Verhältnis Regel – Einzelfall. Wenn eine Regel für den konkreten Fall nicht passt, muss das Besondere so auf den Begriff gebracht werden, dass sich daraus wiederum eine Regel bilden lässt. Sie hat dann entweder die Form: »das gilt auch dann, wenn ...« oder die Form: »... es sei denn, dass ...«. In beiden Formen ist dies das tägliche Geschäft des Richters. Im Zusammenhang der Erörterung des Argu­ U. Neumann 2004, S. 335. Derrida 1996, S. 48. 619 Derrida 1996, S. 48; Derrida lässt dabei allerdings die Frage außen vor, wieweit Regeln immer als Allsätze verstanden werden müssen. Vgl. dazu u. II. 2. 620 U. Neumann 2011, S. 579. 621 B. Küppers 2012, S. 264. 622 Zum Gesamtzusammenhang B. Küppers 2012, S. 262 ff. und S. 148 f. 617

618

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Kapitel 16: Rechtsprechung und Regelbindung

mentations-Schemas, das wir für die Regelanwendung brauchen (II.), ist darauf noch näher einzugehen. Auf konkrete Anwendungsfälle wer­ den wir stoßen, wenn es um die Analyse der Denkoperationen geht, die bei der richterlichen Rechtsfortbildung am Werke sind.623

2. Gebot des Gleichheitssatzes Regelorientierung ist auch ein notwendiges Gebot gerechter Entschei­ dung. Das Prinzip der formalen Gerechtigkeit624 fordert, Gleiches gleich zu behandeln. Der Richter, der bei der Behandlung oder Bewer­ tung zweier Fälle in unterschiedlicher Weise vorgeht oder entscheidet, muss angeben können, worin der Unterschied liegt, der ihn in diesem Fall zu dieser und in jenem Fall zu jener Entscheidung veranlasst hat. Anders handelt er willkürlich und ungerecht. Das heißt aber, dass er den Weg, den er bei seiner Entscheidung gegangen ist, gedanklich muss nachgehen können – und nichts anderes bedeutet, wie bereits dargelegt, ins Griechische rückübersetzt »methodisch«. Der Richter bewegt sich auch hier in dem oben beschriebenen Problemfeld des Allgemeinen und Besonderen. Des Allgemeinen, das gebietet, nach der allgemeinen Regel zu entscheiden, und des Besonderen, das gebietet – oder es jedenfalls ermöglicht – dem Besonderen Rechnung zu tragen. Was dann inhaltlich für eine Dif­ ferenzierung auch immer relevant sein mag, das Besondere muss benannt werden. Eine Begründung nach der Formel: »der Fall X ist anders als der Fall A, weil es der konkrete Fall A ist«, reicht augen­ scheinlich nicht. Auch hier muss das Besondere so verallgemeinert werden, dass die Begründung (»weil es ...«) in einer Regel formuliert werden kann, einer Regel, die dann auch für andere gleichgelagerte Fälle Geltung hätte.

623 624

Stichwort ist die »regulative Urteilskraft«, Kap. 23 II. Siehe in diesem Zusammenhang R. Alexy 1983, S. 274 f.

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I. Notwendige Regelbindung

3. Bindung an »Gesetz und Recht« Das Kapitel ist mit »Regelbindung« und nicht mit »Regelorientie­ rung«625 überschrieben. So soll auch sprachlich ein Zusammenhang zur verfassungsrechtlichen Vorgabe hergestellt werden: der Bindung des Richters an Gesetz und Recht nach Art. 20 Abs. 3 GG. Was diese Bindung verfassungsrechtlich bedeutet oder nur bedeuten kann, ist im Kapitel 20 zu erörtern. Bereits hier klarzustellen ist freilich, dass mit der sprachlichen Anbindung an die Grundgesetzbestimmung nicht – gleichsam klammheimlich – das idealtypische Postulat des Gesetzespositivismus zum Kriterium der Bindung gemacht werden soll. Darüber, dass ein Urteil aus »Gesetz und Recht« nicht logisch ableitbar ist, kann heute kein Zweifel mehr bestehen. Worum es in unserem Zusammenhang geht, sind die Ableitungszusammenhänge und dort liegen die entscheidenden Unterschiede der drei Ansätze: »Regelbindung« bedeutet aus argumentationstheoretischer Sicht etwas anderes als aus der verfas­ sungsrechtlichen Perspektive. Mit R. Alexy lassen sich zwei Aspekte der Rechtfertigung (= Begründung) unterscheiden: die »interne Rechtfertigung« und die »externe Rechtfertigung«.626 Gegen­ stand der Letzteren ist die Begründung der in der internen Rechtfer­ tigung benützten Prämissen. Dazu gehören insbesondere die Regeln des positiven Rechts627. Die Regeln für die »interne Rechtfertigung«, die der Konkretisie­ rung des Universalisierbarkeitsprinzips dienen, formuliert R. Alexy in zwei Schritten: 1. »Zur Begründung eines juristischen Urteils muß mindestens eine universelle Norm angeführt werden«, und 2. »Das juristische Urteil muß aus mindestens einer universellen Norm zusammen mit weiteren Aussagen logisch folgen.«628 Diese Regeln gelten sowohl in den Fällen, »in denen eine positive Rechtsnorm zur Begründung benutzt werden kann, als auch in den Fällen, in denen es eine solche positive Rechtsnorm nicht gibt. Wenn dem Gesetz keine Regel entnommen werden kann, ist eine Regel zu bilden«.629 U. Neumann spricht nur in Ders. 2001, S. 244 von »Regelbindung«, sonst von »Regelorientierung«. 626 R. Alexy 1983, S. 273; kritisch dazu U. Neumann 1986, S. 20 f. 627 R. Alexy 1983, S. 283. 628 R. Alexy 1983, S. 275. 629 R. Alexy 1983, S. 275. 625

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Kapitel 16: Rechtsprechung und Regelbindung

Für die »interne Rechtfertigung« spielt mithin die Frage der rechtlichen Qualifizierung und Ableitung zunächst noch keine Rolle. So wie wir auch isoliert beurteilen können, ob eine Begründung »in sich« stimmig ist und eine Subsumtion richtig sein kann – die Prä­ misse, der juristische Obersatz, von der der Richter ausgegangen ist, aber durchaus zweifelhaft oder gar falsch ist. Auf einer zweiten Ebene bedarf es deshalb einer »externen Rechtfertigung«; d. h. der Begrün­ dung, dass die eingesetzte Regel auch als Rechtsregel zu gelten hat.630 Zu differenzieren ist mithin zwischen der Begründungsebene, die man die Ebene der argumentationstheoretischen Rechtfertigung nennen kann, und der Ableitungs-Ebene, auf der die eingesetzte Regel auf eine rechtliche Grundlage, auf »Gesetz und Recht« zurückgeführt wird. Dass diese Ableitung nicht logisch zwingend sein kann, ist bereits gesagt. Der Legitimationszusammenhang muss aber über methodische Regeln hergestellt werden, und das heißt zunächst: Wir brauchen ein Argumentations-Schema, das sowohl einem differen­ zierten Umgang mit unterschiedlichen Regeln (des Allgemeinen und Besonderen) als auch der Differenzierung in zwei Ebenen (Ableitung und Argumentation) Rechnung trägt. Beide Voraussetzungen erfüllt das 1958 von Stephen Toulmin (1922–2009) für die Argumentations­ analyse entwickelte Schema.631

II. Zur Struktur der Regel – das Toulmin-Schema Die Frage, wie der Richter allgemeine Regeln auf den Fall anwendet, werden wir in den folgenden Teilen E und F thematisieren. Aber über den Grundmechanismus, der bei der Regelanwendung zum Tragen kommt, müssen wir uns schon im Zusammenhang mit den Grundfra­ gen der Regelbindung klar werden. Traditionell greift die Methodik hier auf den juristischen Syllogismus zurück. Für unsere Überlegungen müssen wir uns jedoch nicht in der ganzen Bandbreite mit der Kritik am juristischen Syllogismus und dem Themas »Logik und juristische Argumentation«632 auseinandersetzen. Uns interessiert die Struktur 630 Vgl. parallel dazu den Grundgedanken des Münchhausen-Trilemmas, Kap. 18 III. 3. b). 631 Dargestellt ist das Argumentationsschema bei Toulmin 1996, S. 88 ff. 632 Vgl. U. Neumann 1986, S. 19 ff.

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II. Zur Struktur der Regel – das Toulmin-Schema

von Regel und Regelanwendung und für diese kann im Anschluss an U. Neumann an zwei Beispielen deutlich gemacht werden, warum das von Toulmin entwickelte Argumentationsschema633 der Aufgabe, den Mechanismus der Regelanwendung zu rekonstruieren, besser gerecht wird als der traditionelle Ansatz.

1. Die Begründung der Prämisse Der Syllogismus rechtfertigt die Konklusion, lässt aber die Berechti­ gung der Prämisse außen vor. Zur Erläuterung beginnen wir mit einem klassischen Lehrbuch-Beispiel für den Modus barbara634: 1. 2. 3.

Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich.

Aber, was ist damit gesagt? – doch nur, dass der Mensch Sokrates sterblich ist, weil Menschen sterblich sind. Die Feststellung, dass Sokrates ein Mensch ist, impliziert bereits die Feststellung, dass er sterblich ist. Das ist tautologisch, eine neue Erkenntnis wird nicht gewonnen.635 Eine Konklusion kann nur dann überzeugen, wenn man den Obersatz für richtig hält. Die Prämisse – oder »Schlussregel« – muss folglich so durch Argumente »gestützt« werden (können), dass sie als Ausgangspunkt und Grundlage für weitere Schlussfolgerungen akzeptiert wird. Dies kann etwa durch den Erfahrungssatz gesche­ hen, dass bisher alle Menschen vor Erreichung eines bestimmten Lebensalters gestorben sind. Rechtliche Obersätze werden durch Nor­ men gestützt. Entsprechend »ist es unter logischen Gesichtspunkten nicht nur sinnvoll, sondern unabdingbar, die Frage der Gültigkeit eines Schlusses von der der Wahrheit und der Beweisbarkeit der Prämissen zu trennen.«636 In dem von Toulmin entwickelten Konzept kommt dieser Zusammenhang in der Differenzierung von Sachver­ halt (»Datum« – »D«) und »Konklusion« (»K«) sowie »Schlussregel« 633 Insbesondere U. Neumann 1986, S. 21 ff. Zur Ableitung des Argumentations­ schemas: Toulmin 1996, S. 88 ff. 634 Herberger/Simon 1980, S. 23 ff. 635 Vgl. dazu näher U. Neumann 1986, S. 20 ff. 636 U. Neumann 1986, S. 27.

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Kapitel 16: Rechtsprechung und Regelbindung

(Prämisse – »P«) und »Stützung« (Ableitung – »A«) in folgendem Schema637 zum Ausdruck:

2. Allsätze – Regel und Ausnahme Der Syllogismus baut auf Allsätzen auf, d. h. auf Sätzen in der Form: »… immer wenn, dann …« oder in der Grundstruktur gleich: »… wenn die Tatbestandsmerkmale a, b und c gegeben sind, gilt die Rechtsfolge F«. Ein typisches Beispiel, zunächst auch sprachlich als Allsatz formuliert: »Alle Mörder sollen mit … bestraft werden«, sodann mit dem Gesetzeswortlaut: 1. 2. 3.

Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. A ist ein Mörder A wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.

2.1 Da der Obersatz in diesem Beispiel mit dem Wortlaut des § 211 Abs. 1 StGB identisch ist, fällt das zuvor besprochene Problem einer fehlenden Ableitung der Prämisse nicht sofort auf. Mit einem Hinweis auf § 211 Abs. 1 StGB könnte es auch zunächst behoben werden. Um subsumieren zu können, muss die Prämisse jedoch konkretisiert wer­ den. Zu Beginn mit dem Gesetzeswortlaut selbst: 1.

637

»Mörder ist, wer … aus niedrigen Beweggründen heimtückisch … einen Menschen tötet«; U. Neumann 1986, S. 23.

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II. Zur Struktur der Regel – das Toulmin-Schema

in weiteren Schritten dann durch Unterprämissen, die jeweils durch Interpretation gewonnen werden, z. B.: 1. 2.

»Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt.«638 »Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet.«639

Beide Sätze, sind keine logischen Schlussfolgerungen, die sich zwin­ gend aus dem Normtext ergeben.640 Sie verstehen sich aber als Ablei­ tungen aus dem Gesetz. Geltung können sie auch nur beanspruchen, weil und soweit die so aufgestellten Prämissen in der Norm ihre Stütze finden. Insoweit wird das oben beschriebene Schema also nur ergänzt. Dem Beispiel der »Stützung« durch einen empirischen Satz wird das Beispiel der Stützung durch eine normative Regel hinzugefügt. Um so nochmals den entscheidenden Vorteil des Toulmin’schen Schemas hervorzuheben: Das Modell markiert den Ort in der Argumentations­ struktur, der nötig ist, um die argumentativen Zwischenschritte zu beschreiben, die wir brauchen, um den Obersatz so zu konkretisie­ ren, dass wir den konkreten Sachverhalt auch auf dessen Begriffe bringen können. 2.2 Der noch nicht behandelte Kritikpunkt an dem juristischen Syllogismus, der Toulmin zu einer Erweiterung seines Schemas ver­ anlasst hat, liegt aber vor allem in der Prämisse selbst. Wenn sie etwa lautet: »Alle Mörder sollen mit … bestraft werden«, ist sie als Allsatz formuliert. Als Allsatz ist sie jedoch nicht stimmig; sie stimmt z. B. nicht, wenn sich der Täter über wesentliche Tatumstände geirrt hat oder schuldunfähig war. Im vorangegangenen Abschnitt I haben wir bereits auf das grundsätzliche Problem solcher Allsätze hingewiesen. Eine Regel muss einerseits allgemein gelten. – Doch so notwendig die Allgemeinheit der Regel ist, ihr steht potentiell immer BGH, NStZ 2011, 634–635. BGH, NStZ 2005, 526–527; Urt. v. 06.09.2012 – 3 StR 171/12 – juris Rn. 5. 640 Der BGH hatte den Begriff der Heimtücke mit der Entscheidung GS – BGHSt 9, 385–390 – »fortentwickelt« und die bisherige Rechtsprechung aufgegeben. Vgl. dazu näher Kap. 21 III. 638

639

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Kapitel 16: Rechtsprechung und Regelbindung

die Notwendigkeit gegenüber, dem Besonderen Rechnung zu tragen. Wenn es der Jurist mit Rechtssätzen zu tun hat, dann sind diese Sätze also »eher als – für Ausnahmen offene – Regeln denn als – ausnahme­ feindliche – logische Allsätze zu verstehen«.641 Ein Modell, mit dem wir die Struktur: allgemeine Regel – Regelanwendung – Ausnahme hinreichend beschreiben wollen, muss in dieser Struktur also auch einen Ort für die Ausnahme vorsehen. Toulmin tut dies mit dem »Modaloperator« (O), den eine Argumentation durchlaufen muss, bevor eine Schlussfolgerung gezogen werden kann. Das Schema hat dann folgende Gestalt:

Überträgt man dieses Schema642 auf die für unsere Überlegungen wesentlichen Vorgänge der Rechtsanwendung, ergeben sich fol­ gende Entsprechungen: - »D« steht für »Datum«; das sind die Tatsachen, die als Begrün­ dung für die Behauptung herangezogen werden, juristisch: die Sach­ verhaltsfeststellungen; - »K« für »Konklusion«, das Urteil; - »SR« für »Schlussregel«, die Prämisse, d. h. die Regel oder das Prinzip, das den Schritt von den Daten zur Konklusion legitimiert; - »S« für »Stützung«; d. h. die Begründung, Ableitung, Legitima­ tion der Schlussregel; - »AB« für »Ausnahmebedingung«, sie gibt die Umstände an, unter denen die in der Schlussregel ausgedrückte Legitimation des Schlusses von den Daten auf die Konklusion aufzuheben ist;643

641 642 643

U. Neumann 1986, S. 45. Toulmin 1996, S. 95.; vgl. auch Neumann 1986, S. 34 ff. Toulmin 1996, S. 92 f.

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II. Zur Struktur der Regel – das Toulmin-Schema

- »O« für »Modaloperator«: er gibt den Grad der Notwendigkeit an, die die Schlussregel dem Schluss vom Datum auf die Konklusion verleiht.644

3. Struktur der Regelbindung Von zentraler Bedeutung ist in diesem Schema das Verhältnis von »SR« und »S«. Hier geht es um die Art der Gründe oder die Stützung, auf denen eine Schlussregel beruht, und diese ist abhängig vom Bereich der Argumentation.645 Wir hätten dieses Schema also bereits in Teil C unseren Überlegungen zur argumentativen Rekonstruktion der Sachverhaltsfeststellungen zugrunde legen können. Die Erfah­ rungssätze, mit denen der Richter aus Indizien auf Tatsachen und Sachlagen schließt, müssen in einem entsprechenden Fach- oder Erfahrungswissen ihre Stütze finden.646 Für diesen Argumentations­ bereich hätte das Schema m. E. aber kaum einen zusätzlichen Erklä­ rungswert gehabt. Für die Analyse der Regelbindung ermöglicht dieses Schema dagegen, sowohl die Struktur hinreichend komplex darzustellen als auch so zu strukturieren, dass wir daraus unmittelbare Folgerungen für die weiteren Überlegungen ziehen können. 1. Mit der Unterscheidung von Schlussregel und Stützung wird zunächst eine klare Differenzierung zwischen der Regelebene geschaffen, auf der die Obersätze zu formulieren sind, und der Ebene, auf der sie begründet werden. Die juristischen Bezeichnungen, auf denen der Richter auf der Ebene der »Schlussregel« arbeitet, wech­ seln: Prämissen, Obersatz, »Entscheidungsnorm« oder, konkre­ ter, »Fallnorm«647. Die Fallnorm ist die Norm, die alle für den konkreten Fall rechtlich relevanten Merkmale abstrakt als Bedingun­ gen einer generellen Regel formuliert. Die andere Ebene ist die der Ableitung dieser Schlussregel aus dem Gesetz oder allgemeinen Rechtsprinzipien.648 Hier geht es um die Frage, ob und wie »SR« durch »S« argumentativ hinreichend abgesichert ist oder werden kann, in der Sache also um Auslegung, die Tragweite verfassungsrechtlicher 644 645 646 647 648

Toulmin 1996, S. 92. Toulmin 1996, S. 102. Vgl. Kap. 13 III. 3. b. Zum Begriff: W. Fikentscher 1977, Bd. IV., S. 202 ff., 288 ff. Vgl. dazu U. Neumann 2012, S. 329.

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Kapitel 16: Rechtsprechung und Regelbindung

Vorgaben, Argumente aus der Systematik oder der Meinungsstand etc. – Formuliert man es kohärenztheoretisch, bedeutet die Notwen­ digkeit, »SR« durch »S« argumentativ abzusichern, nichts anderes als die Forderung, sich auf »anerkannte Sätze« zu stützen.649 2. Der Modaloperator »O« und die »Ausnahmebedingung« (AB) markieren demgegenüber die wesentliche Schnittstelle zwischen allgemeiner Norm und Ausnahme, d. h. die Schnittstelle, an der die allgemeine Regel auf die Regeln trifft, die die generelle Norm an die Besonderheiten des konkreten Falls anpassen sollen. Wenn man die generelle Norm als Direktive des Gesetzgebers an den Richter auffasst, in einer typisierten Konfliktsituation so und so zu entschei­ den, dann geht es hier um die Beschränkung dieser Direktive. Sehr allgemein formuliert: Der Richter hat dann auch die Direktive, der Besonderheit des Falles Rechnung zu tragen. 2.1 Dabei geht es zunächst um Spielräume, die die Normen selbst lassen. Klassische Beispiele sind im Verwaltungsrecht Ermessen und Beurteilungsspielraum, im Prozessrecht die Schadensschätzung. Generalklauseln geben einen weiten Bereich vor, so oder so zu werten, d. h., sie zwingen nicht zu einer bestimmten Rechtsfolge. Der Modal­ operator ist also keineswegs immer der der Notwendigkeit (müssen), sondern auch der der Möglichkeit (können), der Erlaubnis (dürfen) oder der Empfehlung (sollen – d. h. mit der Einschränkung: nur in der Regel). 2.2 Die meisten der umfangreicher geregelten Rechtsmaterien sind bereits gesetzlich nach dem Regel-Ausnahme-Modell nor­ miert: etwa im Bereich der Ordnungsverwaltung die Baufreiheit nach dem Schema Baugenehmigungspflicht – Ausnahmen oder die gewerbliche Betätigung nach dem Schema Gewerbefreiheit – beson­ dere Zulassung. Hat der Gesetzgeber keine Ausnahmen geregelt oder diese nicht ausreichend differenziert, stellt sich das Regel-AusnahmeProblem als verfassungsrechtliche Frage einer möglichen Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes oder des Differenzierungsgebo­ tes.650 Räumt die gesetzliche Regelung selbst einen BeurteilungsKap. 8 IV. 2 ff.; VII. Vgl. etwa BVerfGE 121, 317–388 (Verfassungswidrigkeit der Ausgestaltung lan­ desgesetzlicher Vorschriften über das Rauchverbot in Gaststätten); BVerfGE 111, 10– 54 (Angemessene Ausnahmeregelung bei den Ladenschlusszeiten); BVerfGE 30, 292 (»Dadurch, daß das Gesetz keine Möglichkeit vorsieht, diese Sonderfälle angemessen zu berücksichtigen, … also … in einer das Gerechtigkeitsgefühl nicht befriedigenden Weise ›Ungleiches gleich‹ behandelt, ist bei der in dem angefochtenen Gesetz ent­ 649

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III. Regelbindung und Richterrecht

oder Ermessensspielraum ein, ist die Verhältnismäßigkeit konkret bei der Rechtsanwendung zu prüfen.651 Klassisches Beispiel ist die Ein­ schränkung der polizeilichen Generalklausel durch den Verhältnis­ mäßigkeitsgrundsatz. In all diesen Fällen hat das Grundschema die Struktur: »wenn…, dann…; es sei denn, es besteht eine Ausnahme­ regel oder eine solche ist aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrund­ satzes oder des Differenzierungsgebotes erforderlich«.

III. Regelbindung und Richterrecht Das Thema »Richterrecht« behandelt die Methodenlehre in der Regel als Problem der Rechtsquellenlehre652 und damit als Problem des Geltungsgrundes und des Verbindlichkeitsgrades oder aus der Perspektive verfassungsrechtlicher Zulässigkeit und Legitimität.653 Bestimmt wird diese Diskussion, so hat man den Eindruck, auch heute noch unterschwellig durch die Vorstellung, dass sich eigentlich alle wesentlichen Fragen aus dem Gesetz beantworten lassen, und dies auch eindeutig.654 Hat man sich dagegen von diesem Glauben gelöst, ergibt sich aus dem Postulat notwendiger Regelorientierung geradezu selbstverständlich und folgerichtig auch die Konsequenz, die wir hergebracht mit dem Etikett »Richterrecht« umschreiben.

1. Justizgewährleistungsanspruch Am Anfang eines jeden Rechtsstreites steht – wie immer wieder betont – der Fall. Zur Entscheidung des Falls bedarf es einer Regel. Fehlt es nun an einer solchen Regel, müsste der Richter den Kläger wieder nach Hause schicken, weil ihm für diesen Fall niemand ein Recht vorgegeben hat, nach dem er entscheiden könnte. Gegen diese haltenen Berufsausübungsregelung Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG verletzt worden.«). 651 Beispiel: Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund eines einmalig festgestellten Haschischbesitzes und der Weigerung, am Drogenscreening teilzunehmen, verletzt in unverhältnismäßiger Weise die allgemeine Handlungsfreiheit – 1. Senat 1. Kammer, B. v. 20.06.2002 – 1 BvR 2062/96 – NJW 2002, 2378–2380. 652 Vgl. etwa E. A. Kramer 1998, S. 175 ff. 653 Dazu näher Kap. 20 II. 3. b; zur Rechtsatzqualität dogmatischer Sätze Kap18 III. 3. 654 Nachweise Kap. 20 II. 2. u 3.

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Konsequenz steht jedoch der staatliche Justizgewährleistungsan­ spruch, d. h. der Anspruch insbesondere auf Zugang zu den Gerich­ ten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche gerichtliche Entscheidung.655 Das bedeutet: Dort, wo keine gesetzliche Regelung vorhanden ist, weil der Gesetz­ geber in diesem Bereich (noch) nicht tätig geworden ist oder sich eine solche Regelung angesichts des konkreten Falls als lückenhaft erweist, muss der Richter die fehlende Regelung selbst erzeugen. – Anderes gilt nur, wenn sich aus einer anderen Regel, wie etwa aus Art. 103 Abs. 2 GG, ergibt, dass der Richter eine »Lücke« nicht schließen, keine eigene Regel bilden darf. Den Angeklagten, auf dessen Verhalten keine Strafnorm passt, muss der Richter wieder nach Hause schicken. »Wenn dem Gesetz keine Regel entnommen werden kann, ist eine Regel zu bilden«.656 Was Alexy als theoretische Feststellung for­ muliert, hat das Schweizer Zivilgesetzbuch in Art. 1 ZGB normativ gefasst: 1. 2.

3.

»Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das Gericht nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstel­ len würde. Es folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung«.

Diese Regelung kann durchaus als allgemeiner methodischer Grund­ satz verstanden werden. Der Richter ist in seiner richterlichen Recht­ setzung nicht frei und kann es aus den unter I. genannten Gründen nicht sein. Abs. 3 nennt als »verbindliche Leitplanken« die »bewährte Lehre«, also die Dogmatik, und die »bewährte Überlieferung«, also die gefestigte Rechtsprechungspraxis.657 Das sind, neben den allge­ meinen Rechtsprinzipien, die noch gesondert zu nennen wären, die Maßstäbe658, mit denen auch der deutsche Richter arbeiten muss. 655 Zum allgemeinen Justizgewährungsanspruch vgl. etwa BVerfGE 93, 99 (107); 107, 395 (401); P. M. Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 19 Abs. 4 Rn. 242 (6. Aufl. 2011). Zur Entstehung und Bedeutung für das Rechtssystem anschaulich N. Luhmann 1995, S. 310 ff. 656 R. Alexy 1983, S. 275. 657 Grundlegend Arthur Meier-Hayoz, Berner Kommentar, Band I, Einleitung und Personenrecht, Bern 1966, Rn. 423 ff. zu Art. 1 ZGB. 658 Zu den »Verobjektivierungsformen« näher E. A. Kramer 1998, S. 179 ff.

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Insofern statuiert Art. 1 ZGB nichts, was sich nicht auch allgemein aus der Regelbindung ergäbe. Er normiert aber so etwas wie die Ver­ pflichtung, bei der Schaffung von Richterrecht »methodenehrlich«659 zu sein, also klar darzulegen, warum dem Gesetz keine Regel ent­ nommen werden kann und nach welchen Kriterien der Richter die Regel gebildet hat, die er deshalb zugrunde legt. An Beispielen für richterliche Rechtserzeugung herrscht bekanntlich kein Mangel. Typische Bereiche sind das Arbeitsrecht und das Verwaltungsrecht, hier exemplarisch das Arbeitskampfrecht oder das allgemeine Verwaltungsrecht. Vom Kreuzbergurteil aus dem Jahre 1882 hat es bis zum preußischen Polizeiverwaltungsgesetz von 1931 gedauert, bis das Leitsatzrecht des Preußischen OVG kodi­ fiziert wurde. Das allgemeine Verwaltungsrecht wurde erst 1976 im Verwaltungsverfahrensgesetz in eine Gesetzesform gebracht. Für das Arbeitskampfrecht scheint es derzeit sogar ausgeschlossen, dass das politische System eine gesetzliche Regelung auch nur anstre­ ben könnte. Auf der Ebene des Unionsrechts bietet die Entwicklung des unionalen Grundrechtsstandards durch die Rechtsprechung des EuGH ein beeindruckendes Beispiel für die Entwicklung von Verfas­ sungsrecht durch Richterrecht aus allgemeinen Rechtsgrundsät­ zen.660

2. Rechtserzeugung und Urteilsgründe Richterliche Rechtserzeugung in der Konsequenz des Justizgewähr­ leistungsanspruches ist der eine Entstehungsgrund von Richterrecht; der andere ergibt sich aus der Argumentationsstruktur, wie wir sie in dem dargestellten Toulmin-Schema abgebildet haben. »Schlussre­ geln« müssen abgeleitet werden (a). Besonderheiten müssen berück­ sichtigt und dafür zunächst in Regeln gefasst werden (b).

a) Gesetzesnorm und Entscheidungsnorm Das »Leitsatzrecht« hat zunächst einen ganz trivialen Grund: In jeder Begründung werden Gründe formuliert, und soweit Leitsätze nicht allein später hinzugefügte »Orientierungssätze« sind, formulieren 659 660

E. A. Kramer 1998, S. 182. Vgl. M. Herdegen 2014, § 8 Rn. 17 ff.

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sie nur die eine oder die wesentlichen Regeln, die die Begründung tragen. In den seltensten Fällen ergibt sich die Entscheidungsnorm unmittelbar aus der gesetzlichen Norm. Die Fallnorm, auf die die konkrete Fallentscheidung gestützt werden soll, muss begründet wer­ den. Es bedarf also – oft zahlreicher – Zwischenschritte, über die eine Entscheidung aus jeweils konkreter werdenden Regeln schlussendlich abgeleitet wird. Am Beispiel des § 211 StGB hatten wir die Notwendigkeit, eine Norm durch nähere Regeln zu konkretisieren, um sie »subsumierbar« zu machen, bereits dargestellt. Das sei hier, nur etwas ausführlicher, anhand von »Rechtsgrundsätzen, die für Regelfälle der Heimtücke gel­ ten«,661 nochmals wiederholt: »Nach ständiger Rechtsprechung han­ delt heimtückisch, wer in feindlicher Willensrichtung (BGHSt 30, 105, 119) die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewußt zur Tötung ausnutzt […]. Er überrascht es infolge von dessen Arglosigkeit in hilfloser Lage und will es so daran hindern, sich zu verteidigen, zu fliehen, Hilfe herbeizurufen, ihn umzustimmen oder dem Anschlag in sonstiger Weise zu begegnen … Heimtücke setzt nicht voraus, daß der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers selbst bewußt her­ beiführt oder bestärkt, indem er es z.B. in eine Falle lockt […]. Es genügt, daß er eine vorgefundene Situation für sein Vorhaben aus­ nutzt. Das Opfer ist arglos, wenn es sich in der ›unmittelbaren Tat­ situation‹, d. h. bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs […] keines Angriffs von seiten des Täters versieht.«662 Man kann diese Verkettung von Leitsätzen einerseits verfeinern und andererseits mit weiteren Beispielen quer durch alle Rechtsge­ biete auch ausführlicher illustrieren. Es sollte aber nur veranschaulicht werden, wie aus dem Ableitungszusammenhang von Normtext und konkreter Entscheidungsnorm, den der Richter in der Begründung darstellen muss, ein Geflecht von »Rechtsgrundsätzen« erwächst. Immer dann, wenn sich in der Rechtsprechung ein solcher Ablei­ tungszusammenhang von Gesetzesnorm und Leitsätzen etabliert und stabilisiert hat, ist es dieses Geflecht, das in der gerichtlichen Praxis weitgehend das ausmacht, was tatsächlich gemeint ist, wenn von Auslegung und Rechtsanwendung die Rede ist.

661 662

BGHSt 32, 382–384 – juris Rn. 8. BGHSt 32, 382–384 – juris Rn. 7.

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b) Ausnahmeregeln und Regelungen durch unbestimmte Rechtsbegriffe Welches Rechtsgebiet man sich auch immer zu erschließen hat, man wird es wahrscheinlich nach dem Schema Regel – Ausnahme – Modalitäten tun. Wie das Schema im Einzelnen ausgestaltet ist, kann durch Gesetz in den Grundzügen oder auch detailliert vorgege­ ben sein. Vielfach ist es jedoch das »Leitsatzrecht«, durch das dieses Schema ausgestaltet ist. Wenigstens auf zwei strukturelle Aspekte dieses weiten Problemfeldes ist in Stichworten einzugehen: (1.) Der eine betrifft ein prinzipielles Problem des Verhältnisses von Regel und Ausnahme. In den Abschnitten I. und II. haben wir es unter den Gesichtspunkten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes oder des Differenzierungsgebotes663 bereits thematisiert. Nochmals aufgrei­ fen müssen wir aber die »dekonstruktivistische Perspektive« und zwar als methodische Mahnung vor einem Mechanismus, den man die »dialektische Dekonstruktion des Rechts durch Ausnahmen« nennen kann. Die gut begründbare These: »Jeder Fall ist anders« (Derrida), führt zu der gut begründbaren Regel, jeder neue Fall rechtfertige eine neue Ausnahmeregel. Die Sicherheit und Berechenbarkeit, die das Recht schaffen soll, verflüchtigt sich dann schnell in unübersichtliche Kasuistik und Kadijustiz (Max Weber). Dabei lässt sich über die Frage, wann eine Differenzierung geboten, vernünftig, vorzuziehen, gut begründbar oder nur möglich ist, bekanntlich trefflich streiten – die Entscheidung des BVerfG zu den Ausnahmen, die für ein Rauchverbot zu fordern sind, gibt dazu mit den abweichenden Voten ein plastisches Beispiel.664 (2.) Der andere Aspekt betrifft die Regeln, die schon nach der gesetzgeberischen Intention die Anpassung an den Einzelfall oder an veränderte Situationen der Rechtsprechung überlassen. Es geht um Regelungen mittels unbestimmter Rechtsbegriffe und General­ klauseln. Beide Instrumente können jeweils unterschiedliche Funk­ tionen und Strukturen haben und entsprechend unterschiedlich bildet sich dann auch das Leitsatzrecht aus.

663 664

Dort – III. 1. – auch die Beispiele. BVerfGE 121, 317–388.

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3. Offene Regelungen – gesetzgeberische Gründe und die Mechanismen der Konkretisierung Weil allgemein, ist jede Regel mehr oder minder offen; man kann fast immer darüber streiten, ob ein konkreter Fall ein Fall der Regel ist oder nicht. Der Grad der Unbestimmtheit und Allgemeinheit der Regel kann unterschiedlich sein (a). Er lässt der Rechtsprechung dann jeweils unterschiedliche Spielräume für die Konkretisierung. Aber auch hier gilt: Sie muss auf eine Regel zurückgeführt werden können (b).

a) Gesetzgeberische Gründe Für den Einsatz von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbe­ griffen lassen sich im Wesentlichen vier Gründe ausmachen: 1.

2.

3.

Je konkreter eine Regelung ausfällt, desto größer ist die Wahr­ scheinlichkeit, dass Sachverhalte, die auch erfasst werden sollten, ungeregelt bleiben. Im Gegensatz zu einer »kasuistischen« Tatbestandsbildung – besondere Fallgruppen werden in ihren Eigenarten näher umschrieben – ist das Ziel deshalb eine »Tatbestandsfassung, die mit großer Allgemeinheit eine Fall­ gruppe umfasst«.665 Mit der Verwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen schafft der Gesetzgeber wertausfüllungsbe­ dürftige Tatbestände. Er delegiert so das konkrete Wertbzw. Unwerturteil an die Rechtsprechung. Wandeln sich die Anschauungen und Wertmaßstäbe, kann die Normanwen­ dung angepasst werden, ohne dass das Gesetz angepasst wer­ den müsste. Betritt der Gesetzgeber mit einer Regelung Neuland, sind oft schon mangels Erfahrung mit den Wirkungszusammenhängen neuer normativer Eingriffe die Regelungstatbestände nicht hin­ reichend konkret zu fassen. Der direkte Weg, wie bei neuer Software, erst einmal eine Beta-Version eines Programms zu Testzwecken zu veröffentlichen, ist kaum gangbar. Die Formel

665 So die Definition der Generalklausel bei Engisch 1975, S. 118 f.; dort, S. 106 ff. auch immer noch lesenswert die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Proble­ matik »Juristenrecht«, unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln.

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4.

lautet dann üblicherweise: Das Nähere bleibt der Rechtspre­ chung überlassen. Nicht selten überlässt der Gesetzgeber die nähere Ausgestaltung aber auch einfach deshalb der Rechtsprechung und flüchtet in unbestimmte Rechtsbegriffe oder Generalklauseln666, weil auch gerade im politischen Prozess der Teufel meist im Detail steckt. Kompromisse lassen sich viel leichter in vagen, abstrakten For­ mulierungen finden als in konkreten Regelungen und präzisen Zuweisungen von Ansprüchen.

b) Probleme der Konkretisierung Unterschiedlich sind aber nicht nur die Gründe für die Verwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen, sondern auch ihre Strukturen und die Art und Weise, in denen sie durch die Rechtsprechung in Richterrecht umformuliert und gehandhabt werden. Wir haben es einerseits mit dem sprachlichen Phänomen semantischer Spielräume zu tun, die durch die Verwendung vager Begriffe – und das sind sowohl die Wert- als auch die Allgemein­ begriffe – entstehen (ba), andererseits mit spezifischen Formen des »Juristenrechts«667, mit solchen Spielräumen umzugehen (bb). ba) Der Umgang mit vagen Begriffen Die Frage, ob im konkreten Fall ein Tatbestand erfüllt oder nicht erfüllt ist, macht – soweit der Sachverhalt und die relevante Entscheidungs­ norm geklärt sind – im alltäglichen richterlichen Geschäft meist keine sonderlichen Schwierigkeiten. Probleme treten aber auf, wenn man sich im konkreten Fall durchaus streiten kann, ob die Voraussetzung, die das Tatbestandsmerkmal verlangt, »schon«, »noch nicht« oder »möglicherweise doch« gegeben ist. Das gilt für wertausfüllungsbe­ dürftige Begriffe, also z. B. die Frage, ob etwas »grob unbillig«, »ange­ messen«, »erforderlich« »unzumutbar« oder jemand »unzuverlässig« ist oder an seiner Verwendung ein »besonderes Interesse« besteht. Das Problem stellt sich aber auch für deskriptive Begriffe, die zwar 666 Siehe den Titel der berühmten Schrift von Justus Wilhelm Hedemann: Die Flucht in die Generalklauseln: eine Gefahr für Recht und Staat. Tübingen 1933. 667 Engisch 1975, S. 188 ff.

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auf konkrete Tatsachen Bezug nehmen, dabei aber nicht exakt und trennscharf, sondern insoweit ebenfalls vage sind. In beiden Fallgruppen liegt das Grundproblem darin, dass nicht genau bestimmbar ist, welche Tatsachen ein Sachverhalt – als not­ wendige und hinreichende Bedingungen – aufweisen muss, um die Feststellung zu rechtfertigen, dass der Tatbestand erfüllt ist. Nehmen wir als Parallelbeispiele die Regelungen über die Gewerbeuntersa­ gung wegen Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden in § 35 GewO und zur Brandstiftung in § 306 StGB, wonach bestraft wird, wer fremde Wälder in Brand setzt. In beiden Fällen haben wir eine not­ wendige Bedingung: »Wald« bzw. »Unzuverlässigkeit«; gemeinsam ist beiden das Problem der Bestimmbarkeit: Welche Quantität ist hinreichend? – Wie viele Bäume müssen es sein, um von einem »Wald« sprechen zu können, und ab welcher Höhe rechtfertigen Steuer- oder Abgabenschulden den Schluss auf die Unzuverlässig­ keit? Um näher zu bestimmen, was genauer unter einem vagen Begriff zu verstehen ist, haben H.-J. Koch und H. Rüßmann ein Modell entwickelt, das mit folgender Dreiteilung arbeitet: »Es gibt – erstens – Gegenstände, die unzweifelhaft unter den Begriff fallen (sogenannte ›positive Kandidaten‹); es gibt – zweitens – Gegen­ stände, auf die der Begriff ebenso unzweifelhaft nicht anzuwenden ist (sogenannte ›negative Kandidaten‹); schließlich gibt es – drittens – Gegenstände, hinsichtlich derer nicht entschieden werden kann, ob sie unter den Begriff fallen oder nicht (sogenannte ›neutrale Kandida­ ten‹).«668

Vage Begriffe sind dann solche Begriffe, die neutrale Kandidaten haben.669 Es besteht dann keine eindeutige semantische Regel über die Verwendung eines Prädikates670 – wie »Wald«, »unzuverlässig«, »Dunkelheit« etc. Die hochstrittige sprachphilosophische Frage, wie sicher solche Verwendungsregeln überhaupt sein können (Kap. 17 III.), kann an dieser Stelle offen bleiben. Hier interessiert uns nur die Frage, wie die Rechtsprechung in einem Streitfall mit solchen semantischen Unschärfen umgeht, d. h. mit welchen Möglichkeiten der Konkretisierung sie arbeitet.

668 669 670

Koch/Rüßmann 1982, S. 195; vgl. auch Herberger/Simon 1980, S. 287 ff. Koch/Rüßmann 1982, S. 196. Koch 1977, S. 44.

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Es sind zwei Wege, auf denen die Rechtsprechung eine Lösung des Konkretisierungsproblems zu erreichen sucht: entweder bb) über eine vom Einzelfall unabhängige normativ-inhaltliche Konkreti­ sierung oder bc) über rechtliche oder in der Natur der Beurteilung liegende Vorgaben, die Konkretisierung konkret einzelfallbezogen vorzunehmen. bb) Konkretisierung durch ergänzende Regeln Die Rechtsprechung konkretisiert den unbestimmten Rechtsbegriff, indem sie eine mehr oder minder klare Grenze zwischen den »posi­ tiven Kandidaten« und den so genannten »negativen Kandidaten« zieht. Der Vagheitsspielraum wird dadurch begrenzt oder aufgehoben, dass die strittige sprachliche Verwendungsregel durch eine Ausle­ gungsregel, d. h. durch eine Rechtsregel, ersetzt wird. Vagheit wird durch das Ausscheiden eindeutiger Fälle vermindert. Diese Umwand­ lung semantisch unklarer und deshalb strittiger Wortverwendungen via »Leitsatzrecht« in rechtliche »Schlussregeln« kann in unterschiedlicher Art und Weise erfolgen. Zur Illustration seien dazu einige typische Beispiele genannt: 1.

1. Es gelingt eine abstrakte Definition des unbestimmten Rechtsbegriffs. Die Definition macht den Begriff dergestalt sub­ sumtionsfähig, dass sie als »Schlussregel« bzw. Obersatz in die Argumentation eingesetzt werden kann. Musterbeispiel ist die heute selbstverständliche und unumstrittene Umschreibung der »öffentlichen Sicherheit« in der polizeilichen Generalklausel. – Für den Begriff der »öffentlichen Ordnung« ist dies dagegen nicht gelungen. Mit dem Verweis auf »ungeschriebene Regeln, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen unerlässliche Voraussetzung für ein geordnetes Zusammenle­ ben ist«, ist zunächst nur ein vager Begriff durch mehrere andere, ebenfalls vage Begriffe ersetzt. Obwohl deshalb gute Gründe dafür sprechen, die rechtsstaatliche Bestimmtheit dieser Eingriffsermächtigung in Zweifel zu ziehen, sieht die h. M. im Ergebnis dazu keine Veranlassung, weil man die Reservefunk­ tion der Generalklausel, auch außerrechtliche Sozialnormen

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zu schützen, glaubt nicht aufgeben zu können. Man setzt deshalb auf eine restriktive Praxis.671 Das klassische Beispiel einer Generalklausel ist § 242 BGB. Sie enthält den die Rechtsordnung als Ganzes prägenden Grundsatz von Treu und Glauben, ein allgemeines Gebot redlichen Verhaltens, das je nach den unterschiedlichen Anwendungsbereichen rechtskonkretisierend, rechtsbegründend, rechtsbestärkend oder auch rechtsbeschränkend wirken kann.672 Entsprechend haben Literatur und Gerichte den offe­ nen Tatbestand – Leistung, Treu und Glauben, Verkehrssitte – funk­ tionsspezifisch konkretisiert.673 Im Ergebnis wird die typische Genese von Richterrecht deutlich: In der Rechtsprechung bilden sich charak­ teristische Fallgruppen heraus. Aus diesen sind dann eigenständige (»subsumtionsfähige«) Rechtsinstitute hervorgegangen, so etwa die Verwirkung oder das nunmehr in § 314 BGB gesondert geregelte Recht zur außerordentlichen Kündigung von Dauerschuldverhältnis­ sen und der Anspruch auf Vertragsanpassung nach § 313 BGB. 1.

2. Ein Beispiel für das Drei-Bereiche-Modell, an dem Engisch das Problem unbestimmter Rechtsbegriffe erläuterte, war die Frage, welcher Zeitpunkt während des Geburtsvorganges dafür maß­ geblich ist, ob es sich um Totschlag (»Mensch«) oder um Abtrei­ bung handelt (»Leibesfrucht«).674 Die Antwort hat der BGH mit folgendem Leitsatz gegeben: »Bei regulärem Geburtsverlauf wird die Leibesfrucht zum Menschen im Sinne der Tötungsde­ likte mit dem Einsetzen der Eröffnungswehen«.675 – Vergleich­ bare Beispiele für solche Grenzziehungen sind etwa die Fest­ stellung: »Eine Sache ist geringwertig im Sinne von § 243 Abs. 2 StGB, wenn sie die Wertgrenze von 25 Euro nicht über­ steigt«,676 oder die Bestimmung des Grenzwertes der nicht gerin­ gen Menge eines Betäubungsmittels.677

671 Vgl. zu dieser Diskussion etwa Pieroth/Schlick/Kniesel 2014, § 8 Rn. 46 ff. m. w. N.; dort Rn. 3 auch zur »öffentlichen Sicherheit«. 672 Vgl. etwa Pfeiffer in: jurisPK-BGB, 6. Aufl. 2012, § 242 BGB, Rn. 1. 673 Siehe Palandt/Grüneberg § 242 BGB Rn. 3. (74. Aufl. 2015). 674 Engisch 1975, S. 108 f.; vgl. auch Koch/Rüßmann S. 195. 675 BGHSt 32, 194–197, Weiterentwicklung von BGH, 22.04.1983, 3 StR 25/83, BGHSt 31, 348. Kritisch dazu R. Herzberg 2005, JuS 2005, 1 ff. 676 BGH, Beschluss vom 09.07.2004 – 2 StR 176/04 – juris Rn. 3. 677 BGHSt 56, 52–71 zur nicht geringen Menge von Benzodiazepinen und Zolpidem.

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1.

3. Zur näheren Bestimmung werden Normen herangezogen, die bereits konkrete oder jedenfalls konkretere Begriffsbestimmun­ gen enthalten, etwa die TA Lärm als normkonkretisierende Ver­ waltungsvorschrift, der im gerichtlichen Verfahren eine zu beachtende Bindungswirkung zukommt, »soweit sie für Geräu­ sche den unbestimmten Rechtsbegriff der schädlichen Umwelt­ einwirkungen konkretisiert.«678 So kommt es auch weder im Baurecht noch im Strafrecht, soweit die Eigenschaft als »Wald« streitig ist, auf die Zahl der Bäume an, sondern man arbeitet ent­ weder mit einem Normverweis und nimmt Bezug auf die Begriffsbestimmung in § 2 Bundeswaldgesetz679 oder, wie in § 306 StGB, mit einer eigenen normbezogenen Definition.680

1.

4. Schließlich steht die Rechtsprechung vor dem Problem, für eine Unzahl nahezu gleichgelagerter Fälle aus Generalklauseln – insbesondere des Unterhaltsrechts – für den Einzelfall Berech­ nungsmaßstäbe zu entwickeln, die jedenfalls in einem gewis­ sen Umfang in gleichen Fällen vergleichbare Entscheidungen gewährleisten. Mittel sind hier die Tabellen und Leitlinien zum Unterhaltsrecht, Rechengrößen zum Zugewinn- und Ver­ sorgungsausgleich. Der BGH qualifiziert sie als »auf allgemeiner Erfahrung beruhende Richtsätze, die dem Rechtsanwender die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs des ›angemesse­ nen Unterhalts‹ erleichtern sollen.« »Da die Werte (aber) nur Hilfsmittel für die Unterhaltsbemessung sind, ist das mit ihrer Hilfe gewonnene Ergebnis nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles stets auf seine Angemessenheit und Ausgewogen­ heit hin zu überprüfen.«681 Sie haben also nicht die Verbindlich­

BVerwG, NVwZ 2013, 372–375 mit der näheren Feststellung: »Die normative Konkretisierung des gesetzlichen Maßstabs für die Schädlichkeit von Geräuschen ist jedenfalls insoweit abschließend, als sie bestimmte Gebietsarten und Tageszeiten ent­ sprechend ihrer Schutzbedürftigkeit bestimmten Immissionsrichtwerten zuordnet und das Verfahren der Ermittlung und Beurteilung der Geräuschimmissionen vor­ schreibt. Für eine einzelfallbezogene Beurteilung der Schädlichkeitsgrenze aufgrund tatrichterlicher Würdigung lässt das normkonkretisierende Regelungskonzept der TA Lärm nur insoweit Raum, als es insbesondere durch Kann-Vorschriften (z.B. Nr. 6.5 Satz 3 und Nr. 7.2) und Bewertungsspannen (z.B. A.2.5.3) Spielräume eröffnet (Urteil vom 29. August 2007 – BVerwG 4 C 2.07 – BVerwGE 129, 209 Rn. 12 m. w. N.).« 679 Vgl. BVerwG, NVwZ 2012, 318–319; OVG Lüneburg, DVBl 2012, 772–775. 680 BGHSt 31, 83–86. 681 BGH, NJW 2000, 3140–3142. 678

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keit normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften, prägen die Praxis allerdings mit ihrer normativen Kraft des Faktischen. Ähn­ liches gilt etwa für Streitwertkataloge.682 bc) Regelbindung und Einzelfallentscheidung Oft wird der Richter aber auch auf solche ergänzenden Regeln, auf die er sich stützen könnte, nicht zurückgreifen können. Das Recht verweist ihn vielmehr ausdrücklich auf die Abwägung im Einzelfall. Typisch sind hier zum einen die im Zusammenhang von Sachverhalts­ feststellungen vorzunehmenden »Gesamtwürdigungen« (Kap. 14 II.). Paradigmatisch für die materiellrechtliche Einzelfallabwägung ist die Grundrechtsanwendung über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Doch weil im Recht stets konfligierende Interessen und Wertungen im Spiel sind, die situativ oder jedenfalls fallspezifisch gewürdigt werden müssen, ist die Abwägung nicht anders als die Subsumtion selbstver­ ständlicher Teil der methodischen Praxis. Sie ist ein »im Recht ubiqui­ tärer Entscheidungsmodus«.683 Als solcher ist er im Schlusskapitel – im Zusammenhang der Herstellung von Kohärenz durch »Subsum­ tion und Abwägung« (Kap. 26 IV. 3. c) – noch ausführlich zu thematisieren, und zwar gerade auch im Hinblick auf das Problem der Regelbindung der in diesem Modus zu treffenden Entscheidungen. Insofern kann es aber auch genügen, mit den genannten Stichworten an dieser Stelle den Problemzusammenhang darzustellen.

4. Wertbegriffe und Wertewandel als Problem der Regelbindung Mit unbestimmten Rechtsbegriffen kann man sich nicht hinreichend befassen, ohne auf die besondere Funktion einzugehen, die sie für Anpassung und Selbstorganisation des Rechtssystems haben. Böckenförde spricht in diesem Zusammenhang von »Schleusenbegrif­ fen« und erläuterte den Ausdruck zur Charakterisierung des Rechts­ staatsbegriffs so: »Er gehört zu jenen vom Wortsinn her vagen und nicht ausdeutbaren Schleusenbegriffen, die sich ›objektiv‹, aus sich Gehandhabt werden sie wie Normen; vgl. etwa OVG Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. April 2015 – 2 E 332/15 –, juris. 683 H.-J. Koch 2003, S. 236.

682

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heraus niemals abschließend definieren lassen, vielmehr offen sind für das Einströmen sich wandelnder staats- und verfassungstheore­ tischer Vorstellungen und damit auch für verschiedenartige Konkre­ tisierungen, ohne sich dabei in dessen Inhalt völlig zu verändern, d. h. ihre Kontinuität zu verlieren, und zu einer bloßen Leerformel herabzusinken.« Als weitere Beispiele nennt er die »Freiheits- und Eigentumsklausel«, den Begriff der »Öffentlichen Sicherheit und Ordnung« sowie die »Freiheitlich-demokratische Grundordnung«.684 Das BVerfG beschreibt in diesem Sinne die Generalklauseln als »die ›Einbruchstellen‹ zur Verwirklichung grundrechtlicher Entscheidun­ gen der Verfassung«.685 Den »Wertbegriffen« kommt damit eine Rolle zu, die man als ihre osmotische Funktion bezeichnen kann, was heißen soll: Sich verändernde Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen diffundieren in die gesetzliche Norm und erlauben so ohne Tätigwer­ den des Gesetzgebers eine Rechtsanpassung. Die Veränderung solcher Einschätzungen geschieht oft in kleinen Schritten und diese fallen oft nicht weiter auf, bis dann ein Wandel so selbstverständlich geworden ist, dass frühere Wertungen kaum noch nachvollzogen werden können. Ein nahezu klassisches Demonstrati­ onsbeispiel ist die Entscheidung, in der der BGH, Großer Senat für Strafsachen, 1954 die Feststellung trifft, dass der Geschlechtsverkehr zwischen Verlobten grundsätzlich unzüchtig im Sinne der §§ 180, 181 StGB ist (damals geltende Fassung). In der Begründung konstatiert der Große Senat zunächst eine Entwicklung »zu einer immer stärke­ ren Relativierung des Unzuchtsbegriffes«.686 Damit werde, so der entscheidende Kritikpunkt, »eine objektiv geltende und verpflich­ tende Wertordnung verneint und alles auf die wechselnden Meinun­ gen oder Verhaltensweisen wechselnder Volksteile abgestellt, die der Richter überdies kaum feststellen kann und von denen er nicht weiß, ob hinter ihnen wirklich eine sittliche Überzeugung steht oder bloße Gleichgültigkeit oder aber noch das Gefühl für das Ordnungswidrige des Geschehens«.687 Um den Wert- bzw. Unwertbegriff »Unzucht« zu konkretisieren, formuliert der Senat das Problem deshalb zunächst mit der grundsätzlichen Frage, ob das »das Gebot geschlechtlicher Zucht […] ein Gebot der bloßen Sitte, der bloßen Konvention oder 684 685 686 687

E.-W. Böckenförde 1976a, S. 65 f. BVerfGE 49, 220–243 unter Hinweis auf E 42, 143, 148. BGHSt 6, 46–59 – juris Rn. 7. BGHSt 6, 46–59 – juris Rn. 8.

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eine solche der Sittlichkeit, des Sittengesetzes ist«, und erläutert dies dann näher: »Gebote der bloßen Sitte, der Konvention leiten ihre (schwache) Ver­ bindlichkeit nur aus der Anerkennung derjenigen her, die sie freiwillig anerkennen und befolgen; sie gelten nicht mehr, wenn sie nicht mehr anerkannt und befolgt werden; sie ändern ihren Inhalt, wenn sich die Vorstellung über das, was die Sitte verlangt, ändert. Normen des Sittengesetzes dagegen gelten aus sich selbst heraus; ihre (starke) Verbindlichkeit beruht auf der vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte und der das menschliche Zusammenleben regie­ renden Sollenssätze; sie gelten unabhängig davon, ob diejenigen, an die sie sich mit dem Anspruch auf Befolgung wenden, sie wirklich befolgen und anerkennen oder nicht; ihr Inhalt kann sich nicht deswe­ gen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln.«688 Die Entscheidung zugunsten der »(starken) Verbindlichkeit« wird nun allerdings mitnichten begründet, sondern es wird ex cathedra festgestellt: »Nun kann es aber nicht zweifelhaft sein, daß die Gebote, die das Zusammenleben der Geschlechter und ihre geschlechtlichen Beziehungen grundlegend ordnen und die dadurch zugleich die gesollte Ordnung der Ehe und der Familie (in einem entfernteren Sinne auch die des Volkes) festlegen und verbürgen, Normen des Sittengesetzes sind und nicht bloße dem wechselnden Belieben wechselnder gesellschaft­ licher Gruppen ausgelieferte Konventionalregeln.«689

Ich habe diese Entscheidung deshalb so ausführlich zitiert, weil sie durchaus folgerichtig und auch verallgemeinerungsfähig die Konkre­ tisierungsprobleme benennt, die sich bei Wertungen stellen, die auf allgemeine Anschauungen und Wertvorstellungen Bezug nehmen. Zum anderen macht sie die Zeitgeistabhängigkeit solcher Wertun­ gen und Konkretisierungen deutlich. Die Wertung durch den BGH war damals schon alles andere als »nicht zweifelhaft«690, konnte aber jedenfalls an durchaus nicht nur periphere Strömungen des Zeitgeis­ tes anknüpfen – etwa an die Grundeinstellungen, die nach 1945 in der »Naturrechtsrenaissance« zum Ausdruck kamen. Eine Gerichtsent­ scheidung, die heute in dieser Form mit Vorstellungen eines unver­ änderlichen Sittengesetzes operieren würde, hätte dagegen keine Chance mehr, noch mit einer hinreichenden Akzeptanz rechnen zu können. – An dem Beispiel zeigt sich aber auch klar, dass die in diesem 688 689 690

BGHSt 6, 46–59 – juris Rn. 10. BGHSt 6, 46–59 – juris Rn. 12. Vgl. etwa Schönke/Schröder StGB 10. Aufl. 1961 § 181 II 2 a, S. 761.

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IV. Vertikale Struktur der Regelbindung – Gesetzesbindung und Systemtheorie

Abschnitt zu behandelnde Frage des rechtstechnischen Umgangs mit wertausfüllungsbedürftigen Begriffen nur einen Ausschnitt aus dem grundsätzlichen Thema erfasst, unter welchen Bedingungen Urteile als gerechte Entscheidungen Akzeptanz finden können. In Bezug auf die Akzeptanz einer Sachverhaltsfeststellung haben wir diese Frage insbesondere als Problem der Akzeptanz zugrunde gelegter Alltags­ theorien und Erfahrungssätze bereits erörtert. Für die rechtlichen Feststellungen ist dies zentral eine Frage der Akzeptanz des rechtli­ chen Prämissenrahmens, in dem die Entscheidung zu begründen ist (Kap. 8 V.).

IV. Vertikale Struktur der Regelbindung – Gesetzesbindung und Systemtheorie Wie eingangs gesagt: Unumstritten ist die in diesem Kapitel darge­ stellte Sicht notwendiger Regelbindung nicht. Ins Grundsätzliche geht hier insbesondere die Kritik von W. Grasnick. An die Stelle des Postulates der Gesetzesbindung tritt »der systemtheoretisch fun­ dierte Ausschluß des Gesetzgebers aus dem Rechtssystem. Der landet dann dort, wo er hingehört. Im politischen System.« Und mit ihm auch »seine Produkte, die Gesetze«.691 Aus diesem auf Luhmann gestützten Ansatz ergibt sich für Grasnick die These, »dass Gesetze eben nichts anderes sind als Topoi, mehr oder weniger nützliche Materialien für den Rechtsherstellungsprozess«.692 Es liegt auf der Hand, dass diese grundsätzliche gesetzesskeptische Position mit der in diesem Kapitel zugrunde gelegten Konzeption der Regelbindung unvereinbar ist. Doch die Gründe, sie nicht zu teilen, geben zugleich auch Gelegenheit, die vertikale Struktur der Regelbindung zu verdeutlichen und näher zu begründen.

1. Das Gesetz – nur ein Topos? Unstrittig ist zunächst, dass die Gesetzesbindung nicht mehr mit dem Vorverständnis des Gesetzespositivismus erörtert werden kann. 691 692

W. Grasnick 2000, S. 156. W. Grasnick 2000, S. 158.

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Kapitel 16: Rechtsprechung und Regelbindung

Schon der Sachverhalt ist ein Konstrukt und alle bisherigen Überle­ gungen zur Regelbindung haben gezeigt, dass und warum es einen logisch determinierten Ableitungszusammenhang zwischen Gesetz und Rechtsfeststellung nicht geben kann. Mit der Gleichset­ zung von Gesetz und Topos wird die Gesetzesbindung allerdings prinzipiell aufgegeben. Sind Gesetze nur »Topoi im Rahmen der juristischen Argumentation«693, ist das Gesetz nur ein Argument, das jederzeit durch ein einleuchtenderes Argument verdrängt werden kann. Eine Argumentation nach dem Grundschema: »das steht zwar so und so im Gesetz, für meine Auffassung sprechen jedoch die besseren Gründe«, war zwar in der antiken Rhetorik, wie man bei Aristoteles nachlesen kann,694 durchaus üblich, ist heute in einer juristischen Argumentation aber prinzipiell unzulässig. Aufgrund der vertikalen Struktur der Regelbindung wäre eine solche Argumentation nur dann zulässig, wenn sie einem höher­ rangigen Rechtssatz entnommen wäre. Die Konsequenzen, die dann zu ziehen wären, hingen im Übrigen davon ab, ob und inwieweit in diesem Fall eine Verwerfungskompetenz bestünde. Sinnvoll ist eine Gleichsetzung von Regel und Topos allerdings auf der jeweiligen horizontalen Ebene. So kann ein Gericht von einer Regel des Richterrechts abweichen, wenn es dafür die besseren Gründe hat – also aufgrund des typischen topischen Verfahrens. Auch für den Gesetzgeber ist das geltende eigene Gesetz nur ein Topos in der Argumentation, wenn es um eine Änderung geht. Die Verfassung darf er dagegen auch mit besseren Argumenten nicht beiseiteschieben. Und das gilt auch für die Regelungsebene, die wir bisher noch nicht berücksichtigt haben – das EU-Recht. Wenn der Bundestag eine EU-Richtlinie in nationales Recht umsetzen muss, dann sind diese Richtlinien eben keineswegs »nichts anderes […] als Topoi, mehr oder weniger nützliche Materialien für den Rechtsherstellungsprozess«. Er muss sie umsetzen, gegebenenfalls einschließlich der Rechtsregeln, die sich aus inzwischen ergangenen Entscheidungen des EuGH erge­ ben. Gerade für die spezifischen methodischen Probleme des Zusam­ menspiels von nationalem und EU-Recht695 würde ein Ausklammern W. Grasnick 2000, S. 158. Aristoteles, Rhetorik, übersetzt (Hbd. I) und erläutert (Hbd. II) von Christof Rapp, Berlin 2002, Hbd. I, I 1375 (S. 66); Hbd. II, S. 509 f. 695 Zum Überblick vgl. M. Herdegen 2014, § 8 Rn. 73 ff. 693

694

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des Gesetzgebers und des Gesetzes aus dem Rechtssystem den Blick auf wesentliche Momente der Regelbildung und Regelbindung verstel­ len: etwa, dass der nationale Gesetzgeber wesentlich nur die Funktion eines Rechtsanwenders hat, wenn er eine Richtlinie umsetzt,696 und dass er dann auch die Rechtsbegriffe nicht mehr eigenständig definie­ ren darf.697 Wie auch der nationale Richter, der ein solches Gesetz anzuwenden hat, dabei nicht nur an das Gesetz, sondern auch an die Richtlinie und die oft schon vorliegenden Entscheidungen des EuGH gebunden ist.698

2. Das Mehrebenensystem – das Regelwerk der Regelbindung Wir haben es also mit einem Gefüge von Regelebenen zu tun, das durch verfassungs- und europarechtliche Normen hierarchisch – und keineswegs topisch – strukturiert ist. Zentral für die Kohärenz dieses Mehrebenensystems ist ein Netz von Regeln, die – im Fluss unzäh­ liger Einzelentscheidungen und Anpassungen an veränderte Umwelt­ 696 Zum zweistufigen Rechtsetzungsverfahren der Umsetzung vgl. Herdegen 2014, § 8 Rn. 36 ff.; näher zur Umsetzungspflicht Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/ AEUV, Kommentar, Art. 288 AEUV Rn. 23 ff.(4. Aufl. 2011). 697 Zur einheitlichen Auslegung autonomer Begriff des Unionsrechts siehe die Ent­ scheidung SGAE, EuGH, Urteil vom 21.10.2010, C-467/08, Celex-Nr. 62008CJ0467 – juris Rn. 37, Tenor 1. 698 Veranschaulicht sei die Wirkungsweise im Mehrebenensystem am Beispiel § 439 BGB: Der Nacherfüllungsanspruch ist 2002 im Zuge der Schuldrechtsreform einge­ fügt worden. Die »Zielsetzung« des »Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts« wurde einleitend mit folgenden Sätzen begründet: »Die Verbrauchs­ güterkaufrichtlinie 1999/44/EG vom 25. Mai 1999 ist nach ihrem Artikel 11 Abs. 1 bis zum Ablauf des 31. Dezember 2001 in deutsches Recht umzusetzen. Sie sieht namentlich vor, dass Verbraucher bei Kaufverträgen neben Wandelung und Minde­ rung auch Ansprüche auf Nachbesserung oder Ersatzlieferung haben und dass diese Ansprüche in zwei Jahren (statt bisher in sechs Monaten) verjähren.« Es folgt der Hinweis auf zwei weitere Richtlinien, die umzusetzen sind. Auch die detaillierte Ein­ zelbegründung stellt dann auch ausdrücklich immer wieder auf die Richtlinie 1999/44/EG ab. Gleichwohl ist es auf der Anwendungsebene immer wieder zu Streit­ fragen gekommen. Einen Zwischenstand dokumentiert eine BGH-Entscheidung vom 17.10.2012 (NJW 2013, 220–223) mit folgendem Leitsatz: „§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB ist richtlinienkonform dahin auszulegen, dass die Nacherfüllungsvariante ›Lieferung einer mangelfreien Sache‹ neben dem Ausbau und Abtransport der mangelhaften Kaufsache auch den Einbau der als Ersatz gelieferten Sache erfasst (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 16. Juni 2011, Rechtssachen C-65/09 und C-87/09, NJW 2011, 2269; BGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, VIII ZR 70/08, NJW 2012, 1073).«

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bedingungen – die Einheit des Systems sicherstellen sollen, sei es unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung oder dem der Einheitlichkeit der Rechtsprechung (Art. 95 Abs. 3 GG), die wir im Teil A bereits ausführlich erörtert haben, um die institutionelle Einbindung richterlicher Methodik zu belegen. Die Regel des Art. 95 Abs. 3 GG ist aber nur ein Beispiel. Unter dem Gesamtaspekt der Kohärenz des Rechtssystems haben wir es mit einer Vielfalt von Regeln zu tun, die die Regelbindung der Rechtsprechung gewähr­ leisten sollen: 1.

2. 3.

4.

5.

Die Vorrangregeln, also die Regeln, die in der herkömmlichen Rechtsquellenlehre die »Rechtsquellenhierarchie« bestimmen: Beispiele sind die Art. 31, 28, 80 GG oder der Grundsatz »Lex posterior derogat legi priori«. Für das EU-Recht geht der EuGH in st.Rspr. von einem Grundsatz des uneingeschränkten Vor­ rangs des Gemeinschaftsrechts aus.699 Regeln, die eine Bindung der Rechtsprechung unmittelbar aus­ sprechen, etwa Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3, Art. 25 GG; die Vor­ lagepflicht, die Art. 234 Abs. 3 EGV anordnet. Die Regeln des Rechtsmittelrechts, deren Funktion immer auch in Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung liegt. Dazu gehören auch die unabhängig von Anträgen der Parteien beste­ henden Vorlagepflichten, etwa Art. 100, Art. 95 Abs. GG; Art. 234 Abs. 3 EGV. Auf der »Erkenntnisebene« die methodischen Regeln zur Geset­ zesauslegung und die Regeln zur »verfassungskonformen Ausle­ gung« und auf der EU-Ebene die Grundsätze der »richtlinienkon­ formen Auslegung«.700 Schließlich Regeln, die ein Eingreifen ermöglichen, wenn Gerichte Regeln der vorgenannten vier Ebenen eindeutig miss­ achten. Wird etwa ein Vorlageverfahren nach Art. 234 Abs. 3 EGV nicht eingeleitet oder unterbleibt eine notwendige Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe, so verletzt dies die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).701 – In anderen Fällen von Missachtung der Bindung an

699 Grundlegend die Entscheidung Costa ./. E.N.E. L. (Rs 6/64, Slg. 1964, 1251, 1269 ff.). Zur Übersicht: Herdegen 2014, § 10 Rn. 1 ff. 700 Vgl. Herdegen 2014, § 8 Rn. 41. 701 Näher zur Vorlage an den EuGH siehe BVerfGE 82, 159–198. Zu Art. 95 Abs. 3 GG vgl. BVerfG 2. Senat 3. Kammer, B. v. 23.10.1991 – 2 BvR 776/90 – juris.

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IV. Vertikale Struktur der Regelbindung – Gesetzesbindung und Systemtheorie

höherrangige Regeln, die nicht mehr im Instanzenzug korrigiert werden können, liegt das Dilemma in einer oft prinzipiell schwie­ rigen Grenzziehung. Es gibt, wie gesagt, grundsätzlich keine Regeln ohne Spielräume – andererseits: »mit welchem Spiel­ raum [auch] immer für die Interpretation« eine Regel angewandt wird, so hat jeder Spielraum Grenzen, die auch überschritten werden können. Sind diese Grenzen überschritten, nimmt die Rechtsprechung des BVerfG eine Verletzung von Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 2 Abs. 1 GG bzw. Art. 3 Abs. 1 GG an702. In der Formulierung des BVerfG: »Die Auslegung des einfachen Rechts, die Wahl der hierbei anzuwendenden Methoden sowie seine Anwendung auf den Einzelfall sind Sache der dafür zuständigen Fach­ gerichte und vom Bundesverfassungsgericht nicht auf ihre Richtigkeit zu untersuchen. Nur wenn die Gerichte hierbei Verfassungsrecht ver­ letzen, kann das Bundesverfassungsgericht auf eine Verfassungsbe­ schwerde hin eingreifen. Das ist nicht schon dann der Fall, wenn eine Entscheidung am einfachen Recht gemessen objektiv fehlerhaft ist (vgl. BVerfGE 1, 418 ; 18, 85 ; 113, 88 ). Setzt sich die Auslegung jedoch in krassen Widerspruch zu den zur Anwendung gebrachten Normen und werden damit ohne entsprechende Grund­ lage im geltenden Recht Ansprüche begründet oder Rechtspositionen verkürzt, die der Gesetzgeber unter Konkretisierung allgemeiner ver­ fassungsrechtlicher Prinzipien gewährt hat, so beanspruchen die Gerichte Befugnisse, die von der Verfassung dem Gesetzgeber über­ tragen sind.«703 Der Richter hat zwar, wie sich zeigen wird, eine – eingeschränkte – Freiheit in der Methodenwahl,704 und die »Anpassung des gelten­ den Rechts an veränderte Verhältnisse [gehört] zu den Aufgaben der Dritten Gewalt.«705 »Dabei ist [jedoch] den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen.«706 Eine Interpretation, die »sich mit keiner der anerkannten Auslegungsmethoden rechtfertigen«

Art. 3 Abs. 1 ist verletzt, wenn das Gericht »die Rechtslage in krasser Weise ver­ kannt« hat, BVerfGK 18, 515–519 m. w. N. 703 BVerfGE 128, 193–224 – juris Rn. 51. 704 Bezogen auf die Auslegung näher Kap. 20. 705 BVerfGE 128, 193–224 – juris Rn. 53. 706 BVerfG 1. Senat 3. Kammer B. v. 04.04.2011 – 1 BvR 1803/08 – juris Rn. 15 mit Hinweis auf BVerfGE 84, 212 ; 96, 375 . 702

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Kapitel 16: Rechtsprechung und Regelbindung

lässt,707 überschreitet die Grenzen des richterlichen Interpretations­ spielraums und damit auch die Grenzen richterlicher Kompetenz. Es sind also die Regeln methodischer Gesetzesauslegung und -Anwendung, die, verfassungsrechtlich gesehen, die rechtsstaatliche Grenze zur Willkür markieren. Und wenn das BVerfG die Grenze damit begrün­ det, dass die richterliche Rechtsfortbildung nicht dazu führen darf, »dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt«708, stellt es – aus systemtheoretischer Sicht – fest, dass der Richter die strukturelle Koppelung nicht in Frage stellen darf.709 Der Grundgedanke bleibt dabei gleich: Eine ungebundene Freiheit von Amtsträgern kann eine differenzierte, demokratische Gesellschaft strukturell nicht akzeptie­ ren.

3. Der systemtheoretische Ansatz: Gesetz und strukturelle Koppelung Die Systemtheorie Luhmann’scher Prägung hat mithin gute Gründe, prinzipiell zwischen dem Rechtssystem und dem politischen System zu differenzieren. Für Luhmann unterscheiden und bestimmen sich die Systeme durch die unterschiedlichen »Codes«, nach denen sich die Systeme funktional organisieren – das politische System nach dem (binären) Code Regierung/Macht – Opposition, das Rechtssystem nach dem (binären) Code Recht – Unrecht. Betrachten wir diese Dif­ ferenz aus der Sicht juristischer Methodik, entspricht sie dem Unter­ schied, den wir machen müssen, wenn wir nach den Gestaltungs­ spielräumen und Prinzipien der Rechtserzeugung fragen, die auf den unterschiedlichen Regelungsebenen der Gesetzgebung und des Richterrechts bestehen. Hier unterscheiden sich Gesetzgebung und Richterrecht grundsätzlich. Der Gesetzgeber kann seine Spiel­ räume, die ihm höherrangiges Recht lassen, frei ausgestalten – frei nach seinen politischen Vorstellungen. Was er als Recht setzt, ist – im alten Sprachgebrauch – gewillkürtes Recht. Der Richter, der eine Regel zu bilden hat, wenn dem Gesetz keine Regel entnommen wer­ BVerfGE 128, 193–224 – juris Rn. 68. BVerfGE 128, 193–224 – juris Rn. 52. 709 In diesem Sinne auch die Ausführungen zur strukturellen Koppelung von Di Fabio 2012, S. 65 ff. 707

708

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den kann, hat dagegen diese Freiheit nicht. Er kann sich nicht auf einen politischen oder moralischen Gestaltungswillen oder -auftrag beru­ fen, sondern muss seine Regeln aus vergleichbaren Normen, allge­ meinen Rechtsgrundsätzen und Rechtsüberzeugungen ableiten. Das gilt für den Amtsrichter nicht anders als für den EuGH. Insofern sind die Grenzen und Maßstäbe, die das Schweizer Recht mit Art. 1 Abs. 3 ZGB der richterlichen Rechtsetzung vorgibt, auch systemim­ manent. Die juristische Methodik muss deshalb, so das Fazit, sowohl von einer Steuerungsfunktion des Gesetzes und des Gesetzgebers710 ausgehen als auch die eben beschriebene Systemdifferenz theoretisch einbeziehen. Die Charakterisierung als »Mehrebenensystem« soll genau dieses Sowohl-als-auch begrifflich erfassen. Das setzt aber zugleich eine theoretisch befriedigende Antwort voraus, wie dann die Systemdifferenz »eingebaut« wird. Dabei ist es allerdings nicht so sehr von Bedeutung, ob und inwieweit die Antwort genau in das Luhmann’sche »Theoriedesign«711 passt. Wichtig ist nur, dass die beschriebene Systemdifferenz zwischen politischem System und Rechtssystem auf der Ebene Kognition und Kommunikation nicht zu einer Differenzierung zwischen Gesetz und Richterrecht zwingt, die das Bindungspostulat als rein fiktional erscheinen lässt oder, anders gesagt, die es prinzipiell ausschließt, einen Kohärenzzusammenhang zwischen den unterschiedlichen Regelungsebenen herzustellen. Und hier erweist sich die aus der Systemtheorie Luhmanns entwickelte These Grasnicks zur prinzipiellen Unmöglichkeit, die Regelbindung auch als Bindung an das Gesetz zu verstehen, mitnichten als zwin­ gend. Luhmann nutzt zur Beschreibung des Verhältnisses von Gesetz und Rechtssystem keineswegs nur das System/Umwelt-Schema, sondern arbeitet auch mit der »Differenzierungsform von Zentrum und Peripherie innerhalb von Funktionssystemen«.712 In diesem Zen­ trum/Peripherie-Schema wird die Organisation der Gerichtsbarkeit dem Zentrum zugeordnet, während das Vertragswesen (etwa der Bereich der AGBs) und insbesondere die Gesetzgebung der Peripherie zugewiesen werden. Die Peripherie ist für Luhmann die »Kontaktzone

710 711 712

Zu dieser Funktion und ihren Grenzen ausführlich Kap. 20. Luhmann 1984, S. 26; ein von Luhmann häufiger verwendete Ausdruck. Luhmann 1995, S. 334.

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Kapitel 16: Rechtsprechung und Regelbindung

zu anderen Funktionssystemen der Gesellschaft«.713 In ihr »werden Irritationen in Rechtsform gebracht«,714 und es ist der Bereich der »über politische Konsensbildung zustande gekommenen Gesetze,“715 die dann den Gerichten als Programme vorgegeben werden. »Pro­ gramme« nennt Luhmann die »Regeln, die darüber entscheiden (mit welchem Spielraum immer für die Interpretation)«716, wie »die Werte Recht und Unrecht zugeteilt werden«717, also wie die Codie­ rung zu handhaben ist. Die Programme des Rechtssystems sind für ihn grundsätzlich Konditionalprogramme718 und er denkt dabei an »Rechtsgesetze, aber auch an andere Entscheidungsprämissen des Rechtssystems, etwa an Selbstbindung durch Präjudizien in der Gerichtspraxis.«719 Für unseren Gedankengang festzuhalten ist dabei zunächst die Selbstverständlichkeit, mit der Luhmann Gesetz und Gesetzgebung auch dem Rechtssystem zuordnet. Der Gesetzgeber, der, anders als die Gerichtsbarkeit im Zentrum des Rechtssystems, keinem Entschei­ dungszwang unterliegt720, arbeitet zwar nach dem Code des politi­ schen Systems bei der Entscheidung, ob und mit welchem Inhalt er ein Gesetz erlässt. Das Gesetz muss aber von ihm »in eine Form gebracht werden, die gegebenenfalls vom Rechtssystem als verbindli­ ches Recht gelesen werden kann«.721 Das »Programm« muss also im Code des Rechtssystems geschrieben werden. Das Gesetz verknüpft so die Teilsysteme Politik und Recht und schafft das, was Luhmann »strukturelle Koppelung« nennt.722 Aus dieser Sicht stellt sich die Gesetzesbindung »als strukturelle Koppelung von Politik und Recht« dar,723 und die »Rechtstextabhängigkeit (Bindung nur an das geltende Recht)«724 wird zu einer Bedingung für eine strukturelle Koppelung. Luhmann 1995, S. 322. Luhmann aaO. 715 Luhmann 1995, S. 323. 716 Luhmann 1995, S. 93; zum grundsätzlichen Zusammenhang ferner S. 84, 189. 717 AaO. 718 Luhmann 1995, S. 195 ff. 719 Luhmann 1995, S. 93. 720 Luhmann 1995, S. 310 ff., 320 ff.; die EU-Richtlinien bleiben unberücksichtigt. 721 Luhmann 1995, S. 325 f. 722 Zu diesem Zentralbegriff der Systemtheorie Luhmanns ist die erklärende und kritische Literatur fast unübersehbar. Einen guten Einstieg bietet die Vorlesungsver­ öffentlichung, Luhmann 2005, S. 254 ff. 723 Di Fabio 2012, S. 66. 724 Luhmann 1995, S. 330. 713

714

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IV. Vertikale Struktur der Regelbindung – Gesetzesbindung und Systemtheorie

Auch für die »Sprache des Rechts« ist damit ein wesentlicher Tatbe­ stand festzustellen: Beide Systeme nutzen die gleiche (Fach-)Sprache – und insofern muss eine Kommunikation, d. h. hier das Verstehen eines Gesetzestextes durch den Richter, auch nicht an der prinzipiellen Systemdifferenz scheitern.725 Um Missverständnisse zu vermeiden, die die Verwendung des Wortes »Programmierung« – für das »an der Computersprache getankt« wurde726 – nahelegt: Es geht nicht um die Vorstellung eines Gesetzgebers, der via Gesetz den Rechtssprechungsprozess operativ steuert, nicht um den Richter als Subsumtionsautomaten. Natürlich kann eine Gesetzgebung sehr detailreich sein und für Interpretationen kaum Spielräume lassen, jedenfalls nicht in den Kernregelungen (z. B. Änderung von Fristen, Gleichstellung von ehelichen und unehe­ lichen Kindern, Voraussetzungen für konkrete Leistungsansprüche etc.). Aber das nimmt dem Rechtssystem nicht seine Eigenschaft der Selbstreferenz. Mitzudenken ist bei der »Programmierung« stets: »mit welchem Spielraum immer für die Interpretation«. Es gibt grundsätzlich keine Regeln ohne Spielräume. Das führt zu einem weiteren wichtigen Zwischenergebnis: Gehen wir davon aus, dass wir zwischen Gesetz und Rechtsfeststellung keinen logisch determinier­ ten Ableitungszusammenhang annehmen können, liegt der Schlüssel für das Problem der Gesetzesbindung auch nicht wesentlich in der systemtheoretischen Differenz zwischen politischem System und Rechtssystem.727 Es ist ein Problem des Spielraums, den das Gesetz der Interpretation lässt. Zu analysieren sind also die Spielräume, die Sprache und System schaffen oder einengen.

Näher dazu Kap. 17 II. 3. So die Formulierung von Luhmann 2005, S. 266. 727 Diese Differenz wird insbesondere wirksam, wenn es um die unterschiedliche Systemrationalitäten geht, die die unterschiedlichen Codes beider System fordern (Recht/Unrecht einerseits Macht/Opposition andererseits); vgl. dazu näher Kap. 20 IV. 3. a. 725

726

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

Wer über Rechtsprechung spricht, muss auch über Sprache sprechen. Rechtssätze sind Sprachgebilde. Und jeder Rechtsstreit – das unter­ scheidet ihn von dem Streit, der mit Gewalt ausgetragen wird – wird über die Sprache geführt, wie auch jeder Diskurs über das Recht nur mit Argumenten geführt werden kann, die sich in Sprache fassen lassen. In diesem Kapitel müssen wir dazu konkret werden und uns der Frage stellen, wie der Rechtsprechungsprozess durch Sprache determiniert wird. Dazu gehört notwendig auch die Einsicht, dass Sprache kein willfähriges Mittel ist. – Oft misslingt Kommunikation, obwohl alle Beteiligten Verständigung wollen. Sie ist selten so eindeu­ tig, wie eigentlich angestrebt. Und Sprache ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern auch ein Mittel, andere von der Kom­ munikation auszuschließen. Wird der allgemeine Sprachgebrauch verlassen und gilt ein spezifischer juristischer Gebrauch, so schließt dieser diejenigen von der Kommunikation aus, die sich auf diesen Sprachgebrauch nicht verstehen (I.). Mit der Feststellung, dass Rechtssätze, weil sie Sprachgebilde sind, durch ihren Text allein in ihrer Bedeutung nicht so eindeu­ tig bestimmt sein können, dass sie von jedem Richter auch gleich verstanden werden, steht die Methodik zugleich vor einem ihrer zentralen Probleme: Muss die Regelbindung nicht spätestens an ihrer Sprachlichkeit scheitern? Ist die Regelbindung nur eine Art rechts­ staatlicher Fetisch oder gibt es bei näherem Hinsehen gleichwohl Mechanismen, die es erlauben, von einer Bindung des Richters an Regeln zu sprechen? Um die Grundthese vorwegzunehmen: Eine wesentliche Bedingung der Regelbindung liegt in der Eigenart des spezifischen juristischen Gebrauchs des »Juristischen« als Fachspra­ che. Zu erörtern sind deshalb zunächst die Differenzierung Alltags­ sprache – Fachsprache (I.) und Grundfragen der Gebrauchstheorie der Sprache (II.). Entscheidend wird dann sein, ob und inwieweit über die (Fach-)Sprache ein hinreichendes Maß an semantischer Stabilität

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

erreicht werden kann (III. u. IV.). Dazu gehören auch Überlegungen zur »Wortlautgrenze« (V.).

I. Der Gerichtssaal als Kommunikationsraum Der Gerichtssaal ist ein Kommunikationsraum, aber ein Kommuni­ kationsraum eigener Art. Kommuniziert werden Geschichten, Tatsa­ chen- und Rechtsbehauptungen, also Argumente, mit denen Rechts­ positionen begründet oder zurückgewiesen werden sollen. Getragen sind sie keineswegs von Motiven »kooperativer Wahrheitssuche« (Habermas) als Bedingung einer idealen Sprechsituation, sondern von der mehr oder minder manipulativen Absicht, auf die »Wahr­ heitssuche« des Richters Einfluss zu nehmen. Auch ist dieser Kom­ munikationsprozess weder »zwanglos«, noch findet er unter »glei­ chen Teilnehmern« statt. Er ist, wie bei der Sachverhaltsermittlung bereits erörtert (Kap. 10 III. 2.), strukturell asymmetrisch. Für das Rechtsgespräch gilt dies in noch viel stärkerem Maße. Es agieren vornehmlich die Professionals: der Richter, die Anwälte der Parteien, Staatsanwälte, Behördenvertreter. Sie »verstehen« sich – jedenfalls in aller Regel –, obwohl sie unterschiedliche Rollen und Interessen haben. Die Überblendung dieser kommunikativen Situation auf die eigentlichen Beteiligten, auf Kläger und Beklagte, Angeklagte also, oder auf Zeugen und Zuhörer, führt mit gleicher Regelmäßigkeit zu einer völligen Fehleinschätzung: Die Nicht-Professionellen verstehen von dem Prozessgeschehen meist nur wenig. Sie nehmen an diesem Kommunikationsprozess grundsätzlich nicht gleichberechtigt teil. Hinzu kommt die mentale Asymmetrie. Für die Professionals kann der Prozess als ein Verfahren professioneller Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung beschrieben werden; für die Betroffe­ nen ist es ein Kampf, ein Streit um Positionen, in aller Regel erleben sie ihn viel elementarer auch als emotionalen Prozess. Sprache ermöglicht, wie gesagt, nicht nur Kommunikation. Sie schließt auch aus, wenn man den Sinn dessen, was da kommuniziert wird, nicht voll verstehen kann. Das kann schon dann passieren, wenn Richter und Anwälte Umgangssprache als »gehobene« Sprache sprechen oder sich, besonders »volksnah«, munter im Dialekt unter­ halten, dem einer der Beteiligten nur mit Mühe folgen kann. Kaum überwindbar wird die Sprachbarriere, wenn – wie im Gerichtssaal häufig – die Sprache zur juristischen Fachsprache wird, die man als

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I. Der Gerichtssaal als Kommunikationsraum

Laie nicht oder jedenfalls nicht vollständig verstehen kann. Aus einer anderen Perspektive: Wenn der Richter mit den Beteiligten rechtliche Fragen erörtert, merkt er oft gar nicht, dass Nichtjuristen meist nicht wirklich abschätzen können, was er sagt. Selbst Worte wie »Ver­ gleich«, »Klagerücknahme« etc. werden meist nicht hinreichend erfasst. Denn ein Laie wird oft nicht genau abschätzen können, welche rechtlichen Konsequenzen mit ihnen verbunden sind oder sein kön­ nen.

1. Alltagssprache – Fachsprache Diese Asymmetrie – das Dilemma der Rechtssprache – ist zwar immer wieder Anlass, Verständlichkeit anzumahnen, aber doch letzt­ lich ein Spezifikum rechtlicher Kommunikation. So behandelt die Sprachwissenschaft die Rechtssprache einerseits ganz selbstverständ­ lich als Fachsprache728, während man andererseits immer wieder die Notwendigkeit einer Alltagssprachlichkeit hervorhebt. Die Rechtssprache hebe sich zwar von der Allgemeinsprache deutlich ab; weil sie das »Mittel zum verbindlichen Regeln gegenüber jedermann ist, also die Allgemeinheit des Staatsvolks betrifft«, dürfe sie jedoch nicht »zu einer ausschließlich von einer bestimmten Berufsgruppe verwendeten und verstandenen Fachsprache werden«, so der grund­ sätzliche Einwand Paul Kirchhofs. »Die Sprache des Rechtslebens ist deshalb nicht Fachsprache, sondern fachlich geprägter Teil einer an die Allgemeinheit gewendeten oder in ihren Inhalten zumindest der Allgemeinheit vermittelten Sprache.«729 Noch radikaler der Linguist W. Klein: »Ein Gemeinwesen, in dem das Volk herrscht, darf nicht von Gesetzen beherrscht werden, die das Volk nicht versteht«.730 Was dabei verkannt wird: Das Recht hat es zwar täglich mit dem Alltag zu tun, ein Mindestmaß systemnotwendiger Stabilität und Verlässlichkeit kann das Rechtssystem jedoch nur über seine Fachsprachlichkeit erlangen. Und dies geht zwangsläufig auf Kosten allgemeiner Verständlichkeit. Von einem »fachlich geprägte(n) Teil 728 Zur Übersicht vgl. B. Jean d‘Heur, in: »Handbücher zur Sprach- und Kommuni­ kationswissenschaft«, Bd. 14.1, im Abschnitt XVI »Wissenschaftliche Fachsprachen des Deutschen«, S. 1286 ff.; siehe auch W. Kahl 2006, S. 389 f. 729 P. Kirchhof 1987, S. 5 f. 730 W. Klein 2004, so der Titel.

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einer an die Allgemeinheit gewendeten« Sprache statt von Fachspra­ che zu reden, verdeckt demgegenüber eher das Problem des »Juristi­ schen«, das N. Luhmann zutreffend in folgender Beschreibung ana­ lysiert hat: »Rein von der Sprache her gesehen, käme man nie auf die Idee, den juristischen Diskurs für ›autonom‹ oder für ein operativ geschlossenes System zu halten; und er findet ja auch in der Gesell­ schaft statt. Das Problem ist nur, daß man ihn oft nicht verstehen kann, wenn man nicht speziell dafür geschult ist. Und das schließt nicht nur Sinnverstehen ein, sondern auch und erst recht das Verste­ hen der Intention und der Folgen bestimmter Mitteilungen.«731 Als Beispiele sind der »Vergleich« und die »Klagerücknahme« oben schon genannt worden.

2. Die Janusköpfigkeit der Rechtssprache Es ist gerade die Janusköpfigkeit der Rechtssprache, die ihre Funktion ausmacht. Worte wie »Besitz«, »Leihe«, »vergleichen«, »unverzüglich«, »fahrlässig«, »Sache«, »Nachbar«, »sozialer Rechts­ saat«, »fremd«, »Schaden« – diese Wortliste könnte nahezu bis auf Dudenlänge fortgesetzt werden – benutzen wir im Alltag und gebrauchen sie als Juristen. Auf den ersten Blick erscheint es deshalb durchaus einleuchtend, wenn man von der Feststellung ausgeht, dass die Rechtssprache, von speziellen rechtswissenschaftlichen Termini abgesehen, »die normale Sprache verwendet«. Die besonderen Ver­ ständnisprobleme liegen dann aber in dem »fachlich geprägte(n) Teil einer an die Allgemeinheit gewendeten« Sprache. Der Laie versteht etwas umgangssprachlich, meint es richtig zu verstehen, missversteht es aber, weil es juristisch einen ganz spezifischen, ihm jedenfalls nicht genau bekannten Sinn hat. Das Gerechtigkeitsdilemma, das sich damit auftut, ist offensicht­ lich. Wenn ich ein Gesetz befolgen muss, muss ich auch verstehen können, was im Gesetz steht. Fair kann ein Prozess nur sein, wenn ich ihm folgen kann. Rechtliches Gehör macht nur Sinn, wenn ich weiß, um was es geht. Um nochmals W. Klein zu zitieren: »So scheint es vernünftig, an Rechtstexte das Erfordernis zu stellen, daß sie ver­ ständlich seien. Dem Laien ist daher sehr befremdlich, wenn die Leute 731

N. Luhmann 1995, S. 36.

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von der Zunft über solche Vorstellungen oft nur milde lächeln, sie für gut gemeint, aber letztlich abwegig oder gar schädlich halten, wenn es um die Wahrung und Wiederherstellung des Rechtsfriedens geht.«732 Der Richter darf diese Einwände nicht einfach »milde lächelnd« abtun. Er muss sich dem Dilemma stellen, das sich weder durch ver­ mittelnde Charakterisierungen wie »fachlich geprägter Teil einer an die Allgemeinheit gewendeten« Sprache noch mit guten theoretischen Gründen wegdiskutieren lässt. Als Richtschnur kann auch heute noch eine Entscheidung des BSG von 1975 dienen, die für medizinische Fachausdrücke – aber auch gültig für das »Juristische« – für ein Urteil die Grundsätze so formulierte: »Die Vorschrift, daß deutsch die Gerichtssprache sei (§ 184 GVG iVm § 61 Abs. 1 S. 1 SGG), ist nicht schon dann mißachtet, wenn das Gericht, die Beteiligten und die Sachverständigen – in bescheidenem Umfang – Fremdwörter und lateinische Fachausdrücke gebrauchen. Ein solcher Wortgebrauch kann sogar unumgänglich sein, wenn – wie im medizinischen Bereich – Gegenstände einer Wissenschaft behan­ delt werden, die auch von der Allgemeinheit häufig nicht eingedeutscht werden und deren deutsche Benennung nicht die volle Gewähr für die Genauigkeit des damit Gemeinten bietet. Jedenfalls kann es ein Gericht, um Mißverständnissen zuvorzukommen, für angebracht hal­ ten, den von einem Sachverständigen benutzten Spezialbegriff dann unverändert zu wiederholen, wenn auch die Beteiligten sich dieses Begriffs bedient haben. Der Gefahr einer abgewandelten Vorstellung, die mit einer Übersetzung, Vereinfachung und Generalisierung einer Fachbezeichnung verbunden sein kann, wird ein Gericht entgehen wol­ len, ohne daß ihm daraus ein Vorwurf zu machen wäre. Die Auffassung, daß bei Abfassung des Urteils und seiner Gründe Fremdwörter und nicht allgemein übliche Ausdrücke tunlich vermieden werden sollen …, ist kein zwingendes Gebot der Rechtsstaatlichkeit.«733

a. Konkretere Regeln lassen sich kaum aufstellen. Zunächst ist die Frage, wie »verständlich« das Urteil oder die Verhandlung sein müssen, davon abhängig, ob Anwaltspflicht besteht oder nicht. Der Anwalt hat gegenüber seinem Mandanten dann auch die Aufgabe eines »Sprachvermittlers«. Und auch die Verständnisebenen der Laien können sehr unterschiedlich sein. Für die Verhandlungsführung ist es jedoch ein nobile officium, jedenfalls dort, wo Kläger und Beklagte per­ 732 W. Klein, Einleitung, in Ders. (Hg.), Sprache des Rechts II. Zeitschrift für Litera­ turwissenschaft und Linguistik 128 (2002), S. 5. 733 BSG, B. v. 30.04.1975 – 9 RV 276/74 – juris Rn. 3.

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sönlich einbezogen sind, die Verhandlung so zu führen, dass diese ihr auch folgen können. Insbesondere Ausdrücke, die umgangssprachlich anderes bedeuten als fachsprachlich, sind dann zu erläutern bzw. zu »übersetzen«. Ob dies in der Verhandlung gelingt, entscheidet letztlich auch darüber, ob das Urteil verstanden und akzeptiert wer­ den kann. b. Anders als auf der Kommunikationsebene des Gerichtssaales scheint das Gebot der Verständlichkeit dagegen für Normtexte – wenigstens im Grundsatz – eine schärfere Kontur zu haben. Insbe­ sondere im Hinblick auf die Garantie des Art. 103 Abs. 2 GG hat das BVerfG hier »den rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten« aus­ drücklich betont: »Jedermann soll vorhersehen können, welches Ver­ halten verboten und mit Strafe bedroht ist. Art. 103 Abs. 2 GG hat insofern freiheitsgewährleistende Funktion. [...] Das Bestimmtheits­ gebot verlangt daher, den Wortlaut von Strafnormen so zu fassen, dass die Normadressaten im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht«.734 Selbst für den Bereich des Strafrechts folgt dem Grundsatz aber immer ein »Allerdings«: »Allerdings muss der Gesetzgeber auch im Strafrecht in der Lage blei­ ben, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden (BVerfGE 28, 175 ; 47, 109 ). Müsste er stets jeden Straftatbestand bis ins Letzte ausführen, anstatt sich auf die wesentlichen für die Dauer gedachten Bestimmungen über Voraussetzungen, Art und Maß der Strafe zu beschränken, bestünde die Gefahr, dass die Gesetze zu starr und kasuistisch würden und dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden könnten (vgl. BVerfGE 14, 245 ). Wegen der gebotenen Allgemeinheit und der damit zwangsläufig verbundenen Abstraktheit von Strafnormen ist es unvermeidlich, dass in Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Ver­ halten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. Das Bestimmtheitsgebot bedeutet nicht, dass der Gesetzgeber gezwungen wäre, sämtliche Straftatbestände ausschließlich mit unmittelbar in ihrer Bedeutung für jedermann erschließbaren deskriptiven Tatbe­ standsmerkmalen zu umschreiben. Es schließt die Verwendung wert­ ausfüllungsbedürftiger Begriffe bis hin zu Generalklauseln im Straf­ recht nicht von vornherein aus (vgl. BVerfGE 48, 48 ; 92, 1 ; ferner BVerfGE 75, 329 ). Der Gesetzgeber kann Tatbestände auch so ausgestalten, dass zu ihrer Auslegung auf außerstrafrechtliche 734

BVerfGE 126, 170–233 mit Hinweis auf BVerfGE 48, 48 ; 92, 1 .

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Vorschriften zurückgegriffen werden muss. Dies führt, soweit es sich nicht um Normen zur Ausfüllung eines strafrechtlichen Blanketts han­ delt, nicht dazu, dass auch die betreffenden außerstrafrechtlichen Vor­ schriften am Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen wären (vgl. BVerfGE 78, 205 )«.735

Die Formel, die das BVerfG üblicherweise gebraucht, ist kürzer: Art. 103 Abs. 2 GG »verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzun­ gen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Ausle­ gung ermitteln und konkretisieren lassen«.736 Sie überspielt aber mit dem von mir im Zitat kursiv hervorgehoben »und« nur das Dilemma: Die Forderung nach Verständlichkeit für den Normadressaten nimmt in dem Moment eine andere Gestalt an, in dem auf die Notwendigkeit der Auslegung verwiesen wird.737 Dieser Verweis auf Informationen, die in einem Text enthalten sind – enthalten sein sollen – kann nur ein Verweis auf einen juristisch-methodischen Umgang mit dem Normtext sein. Und dieser ist ein anderer als unser alltäglicher Umgang mit Sprache. Allein aufgrund seiner Sprachkompetenz in der Alltagssprache kann der Normadressat nicht zureichend sicher über die Bedeutung, die einem Begriff in einem Normtext zukommt, ent­ scheiden;738 das geht selbst dann nicht ohne juristisches Regelwissen, wenn es letztlich – aus Rechtsgründen! – nur auf die umgangssprach­ liche Bedeutung ankommen sollte. Im Rechtssystem muss man die Regeln beachten, mit denen das systemimmanente Sprachspiel gespielt wird.

II. Recht und Semantik Wir haben uns mit dieser Methodenlehre die Aufgabe gestellt, die theoretischen Annahmen und Voraussetzungen aufzuzeigen, die hin­ ter den expliziten Regeln und den Anwendungsroutinen der rich­ terlichen Praxis stehen, und dies mit dem Ziel, die theoretischen BVerfGE 126, 170, 199 f. BVerfGE 105, 135, 157, vgl. auch BVerfGE 73, 206 ; 75, 329 ; 78, 374 ; 92, 1 ; st.Rspr. 737 Vgl. dazu die grundsätzlichen Ausführungen des BVerfG zum Untreuetatbestand, BVerfGE 126, 170–233 – juris Rn. 71 ff. 738 Vgl. U. Neumann 1992, S. 16, 18 ff. 735

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Implikationen zu reflektieren, gegebenenfalls auch um die Routinen der Praxis zu verbessern. Zu diesen in Routinen angewandten Regeln gehören die klassischen Auslegungsregeln und dort zuforderst die Auslegung nach dem Wortlaut, die nach dem Wortsinn, dem semantischen Gehalt eines Tatbestandsmerkmals fragt, wie er sich aus Grammatik und Sprachgebrauch ergibt. Diese Regeln sind zwar – wie gesagt – Handwerksregeln, aber als solche nie »theoriefrei« und theo­ rieunabhängig zu handhaben (Kap. 2 II.). Betreiben wir »Auslegung«, sind wir unweigerlich Mitspieler in Sprachspielen und damit den Spielregeln unterworfen, die Gegen­ stand der Interpretationstheorie739 und der Sprachphilosophie sind, genauer der Semantik, die sich als der Teil der Linguistik (Sprachwis­ senschaft) mit der Bedeutung sprachlicher Zeichen befasst. Die entscheidende Perspektive, die wir dabei im Auge haben müssen, lässt sich als Frage formulieren: Wie ermittelt der Richter die Bedeutung eines Tatbestandsmerkmales? – oder allgemeiner: Wie sicher kann der Richter die anzuwendende Rechtsnorm »richtig« erfassen? Um eine Antwort geben zu können, ist zunächst näher auf die Gebrauchs­ theorie der Bedeutung einzugehen.

1. Die Gebrauchstheorie der Bedeutung Die entscheidende Ausgangsposition haben wir uns bereits in den Exkursen zur Sprachphilosophie und zu L. Wittgenstein erarbei­ tet740: Wörter gewinnen ihre Bedeutung nicht unmittelbar aus einem Gegenstandsbezug, sondern aus Gebrauch und Sprachsituation. Es gibt also im Prinzip keinen eindeutigen Zusammenhang von Wort und Gegenstand, zwischen juristischem Begriff und seinem Bedeu­ tungsinhalt. Ist die Sprache kein Abbild der Welt, ist damit aber nicht nur einer realistischen Theorie der Sprache – der »realis­ tischen Semantik«741 – der Boden entzogen, sondern, wie wir gesehen haben, auch dem »Wortlautverständnis« der traditionellen Methodenlehre. Wenn wir heute nach der juristischen Bedeutung eines Normtextes, seiner Tatbestandsmerkmale fragen, können wir Hier im weiten Sinn verstanden; eine Übersicht gibt der Reader von Tom Kindt und Tilmann Köppe: Moderne Interpretationstheorien, Göttingen 2008. 740 Kap. 2 II.; Kap. 4 II. 741 Vgl. dazu ausführlich F. v. Kutschera 1975, S. 136 ff. 739

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für eine solche Bestimmung folglich nicht von vorgegebenen und sicheren Relationen und Bezügen742 ausgehen, sondern nur von der Bedeutung, die sich aus dem Gebrauch ergibt. Diese Gebrauchs­ theorie der Bedeutung erhielt, wie bereits gesagt,743 ihre entschei­ denden Impulse durch die »Philosophischen Untersuchungen« Witt­ gensteins. Statt abstrakt nach der Bedeutung eines Ausdruckes zu fragen, gibt er den methodischen Rat: »Frag’ nicht nach der Bedeu­ tung, frag’ nach dem Gebrauch!«744 Eine gesicherte und allgemein anerkannte Grundlage für die semantische Bestimmung von Norminhalten ist dem interpretieren­ den Juristen damit aber nicht an die Hand gegeben. Entsprechend kontrovers sind die Schlussfolgerungen, die für die Probleme der Wortlautinterpretation aus seinen Ansätzen gezogen werden. Beson­ ders deutlich wird dies, wenn etwa mit Gedanken Wittgensteins die Tauglichkeit von Wortlautinterpretationen grundsätzlich in Frage gestellt wird. Aus rechtslinguistischer Sicht wäre dann etwa Art. 103 Abs. 2 GG im Ergebnis obsolet. Aber das Verdikt, »die These, der Wortlaut könne dem Textverständnis eine Grenze setzen«, huldige »einem spätestens seit Wittgensteins Gebrauchsphilosophie der Spra­ che überholten Wort(laut)verständnis«,745 lässt sich auf Wittgenstein eben nicht stützen. Es verkennt den von Wittgenstein vorgegebenen theoretischen Rahmen. Das zeigt gerade auch der von M. Jestaedt zum Beleg angeführte Nachsatz: »Sieh den Satz als Instrument an, und seinen Sinn als seine Verwendung«.746 Denn Instrumente können für ihren Verwendungszweck sehr speziell konstruiert sein. Das schließt zwar einen zweckentfremdenden Gebrauch nicht aus, man kann des­ halb aber nicht sagen, der Sinn, wie das Instrument zu gebrauchen ist, sei in der Regel nicht bestimmbar. Inwieweit wir dieses Bild auf den Gebrauch von Normtexten übertragen können, wird zu diskutieren sein. Festzuhalten ist aber, dass Überlegungen zur so genannten Wortlautgrenze (V.) nicht bereits a limine an (vermeintlichen) sprach­ philosophischen Glaubenssätzen scheitern müssen.

742 Die Sprachphilosophie spricht hier meist von »Repräsentation« oder von »Refe­ renz« – J. Simon 1981, S. 79, zieht hier das Fazit: »Es hat vielmehr niemals eine befriedigende Referenztheorie der Bedeutung […] gegeben.« 743 Kap. 2 I. 3. Exkurs I zu Wittgenstein. 744 Zitiert nach Lenk/Skarica 2009, S. 73. 745 M. Jestaedt 2012, S. 59. 746 Wittgenstein PU § 421.

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2. Die Gebrauchstheorie – das Gebot des korrekten Gebrauchs (Exkurs III zu Wittgenstein)747 Für das, was man in der Sprachphilosophie zutreffend »Bedeutungs­ skeptizismus« genannt hat, kann man sich im Ansatz durchaus auf Wittgenstein berufen.748 Denn mit der Wendung zur Gebrauchstheo­ rie der Sprache gab Wittgenstein die Vorstellung auf, dass es so etwas wie absolute Exaktheit, insbesondere eine absolute Präzision in der Bestimmung von Wortbedeutungen geben könne.749 Aber: wie die mangelnde Präzision unseres Gedächtnisses uns bessere Anpassungen an veränderte Situationen ermöglicht,750 so sind auch Vagheit und Mehrdeutigkeit Bedingungen einer lebenden Sprache. Und Bedingungen der Anpassungsfähigkeit des Rechts. Doch Vagheit und Mehrdeutigkeit heben das Recht nicht auf. In dem Exkurs Witt­ genstein (II.)751 waren wir zu dem Ergebnis gekommen, dass das Sprachspiel zwar »ein Begriff mit verschwommenen Rändern« ist752 , dass aber die Schlussfolgerung: ›Es ist doch kein Spiel, wenn es eine Vagheit in den Regeln gibt‹753 nicht richtig ist. Die »Vagheit der Regel« nimmt ihr nicht den Charakter als Regel. Auch Begriffe »mit verschwommenen Rändern« haben ihre Gebrauchsregeln. Derjenige, der sie benutzt, muss sie beachten, wenn er verstanden werden will. Wir haben so einmal das Vage als Faktum; »absolute Exaktheit ist ein Phantom, dem man nicht nachjagen soll.«754 Aber es bleibt bei einer Regelbindung – bei der Möglichkeit einer je nach Sprachspiel mehr oder weniger weitgehenden Annäherung an »Exaktheit« als Ziel.755 Die Rede vom Gebrauch bezieht sich ja nicht auf einen belie­ bigen Gebrauch, eine willkürliche oder abnorme Verwendungsweise, Siehe zu den Exkursen I und II Kap. 2 II. und Kap. 4 II. Zur Übersicht M. Klatt 2005, S. 348 ff. 749 Hier liegt der radikale Bruch zu der im »Tractatus« vertretenen Position; vgl. F. v. Kutschera 1975, S. 136 ff. 750 Vgl. Kap. 13 III. 1. a. 751 Kap. 4 II. 752 PU § 71. 753 PU § 100. 754 W. Stegmüller 1969, S. 126. 755 Mit den Worten Wittgensteins wird das sehr deutlich in PU § 88: „›Unexakt‹, das ist eigentlich ein Tadel, und ›exakt‹ ein Lob. Und das heißt doch: das Unexakte erreicht sein Ziel nicht so vollkommen wie das Exaktere. Da kommt es also auf das an, was wir ›das Ziel‹ nennen. Ist es unexakt, wenn ich den Abstand der Sonne von uns nicht auf 1 m genau angebe; und dem Tischler die Breite des Tisches nicht auf 0,001 mm? 747

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sondern auf den tatsächlichen, korrekten Gebrauch eines Wortes.756 Dieser korrekte Gebrauch setzt Regeln voraus. Um zu verdeutlichen, wie wir uns diese Regeln vorzustellen haben, benützt Wittgenstein zum einen die Metapher des Sprachspiels. Wie bereits beschrieben, dient ihm die Metapher des »Sprachspiels« dazu, die vielfältigen Ähnlichkeiten zwischen Sprache und Spiel deutlich werden zu las­ sen.757 Es ist die doppelte Abhängigkeit des Gebrauchs – von den konventionellen Regeln der Sprache und von den Sprachsituationen, in welchen das Wort verwendet wird –, die verstanden werden muss. Die Analogie der Sprache mit dem Spiel soll uns da ein Licht aufstecken758, wie Sprache und Spiel durch Regeln bestimmt und andererseits doch wieder »nicht überall von Regeln begrenzt« sind.759 – »Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ›Zeichen‹, ›Worte‹, ›Sätze‹, nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen. [...] Das Wort ›Sprachspiel‹ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebens­ form.«760 Es ist die Lebensform, in die die einzelnen Sprachspiele eingebettet sind, aus der sie erwachsen, in der die Regeln gelernt und aus der heraus verstanden wird, was der andere meint.761 Erfasst wird der außersprachliche Kontext, mit dem unser Sprachgebrauch und damit unser Sprachverstehen untrennbar verwoben sind.762 F. v. Kutschera weist zu Recht darauf hin, dass die Redeweise von den Sprachspielen nicht zu wörtlich genommen werden darf; von Anwendungsfall zu Anwendungsfall ergeben sich nicht einfach unterschiedliche Sprachen mit unterschiedlichen Bedeutungen.763 Im Ein Ideal der Genauigkeit ist nicht vorgesehen; wir wissen nicht, was wir uns darunter vorstellen sollen – es sei denn, du selbst setzt fest, was so genannt werden soll. Aber es wird dir schwer werden, so eine Festsetzung zu treffen; eine, die dich befriedigt.« 756 Siehe W. Stegmüller 1978, S. 585. 757 H.-J. Glock 2000, S. 325. 758 Wittgenstein 1984, PU § 83. 759 PU § 84 – mit Beispielen §§ 66, 71, 83. 760 PU § 23. 761 Eine Definition gibt Wittgenstein nicht. Glock 2000, S. 200 spricht von seinem »nonchalanten Gebrauch«. 762 Siehe Glock 2000, S. 200; W. Stegmüller 1978, S. 592: das gesamte »soziale Tätigkeitsfeld« ist als Lebensform mit der Sprachbeherrschung verwoben. 763 F. v. Kutschera 1975, S. 137.

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Fokus der Überlegungen von Wittgenstein – und auch unseres Inter­ esses – liegen nicht die Fragen der allgemeinen Sprachverwendung, sondern das Phänomen der Verschiedenheit der Sprachverwendung in verschiedenen Kontexten. Für uns gilt es, die Besonderheit des juristischen Sprachspiels herauszuarbeiten, weil nur so die Besonder­ heit des juristischen Sprachgebrauchs deutlich wird. Es geht um das »Juristische« als Fachsprache. Wenn man von Sprachspiel spricht, spricht man ja bereits von Handlungsformen mit sehr unterschiedli­ cher Regeldichte (ein paar Kinder beschließen, Fußball zu spielen – Schachspiel in einem Schachturnier). Wittgenstein verwendet zur Beschreibung der Regeln des Sprachgebrauchs und des Sprachverste­ hens, was oft übersehen wird, nicht nur die Analogie Sprache – Spiel. Neben dem Bild des »Sprachspiels« gebraucht er auch das der »Stadt«. Als Bild für die Alltagssprache spricht er von einer »alten Stadt« mit »Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten« und unterscheidet davon – als Bild für die Fachsprache – eine »Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.«764 Und noch deutlicher wird der Gedanke unterschiedlicher Struktur, Funktion und Bestimmtheit im eingangs zitierten Vergleich mit einem Instrument: »Die Sprache ist ein Instrument. Ihre Begriffe sind Instrumente. Man denkt nun etwa, es könne keinen großen Unterschied machen, welche Begriffe wir verwenden. Wie man schließlich mit Fuß und Zoll Physik treiben kann, sowie mit m und cm; der Unterschied sei doch nur einer der Bequemlichkeit. Aber auch das ist nicht wahr, wenn, z.B. Rechnungen in einem Maßsystem mehr Zeit und Mühe erfordern, als wir aufwenden können.«765

In diesem Sinne ist auch der juristische Begriff als »Instrument« zu verstehen, das auf bestimmte Verwendungen hin »konstruiert« ist.

764 PU § 18 mit der Frage, »ob unsere Sprache vollständig ist; – ob sie es war, ehe ihr der chemische Symbolismus und die Infinitesimalnotation einverleibt wurden«. Den Ausdruck Fachsprache gebraucht er nicht. 765 PU § 569.

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3. Sprachspiel, Intersubjektivität und Interpretationsgemeinschaft Bevor wir uns im nächsten Abschnitt unmittelbar mit dem »Juris­ tischen« als Fachsprache beschäftigen, sollen die Ansätze der Gebrauchstheorie Wittgensteins zunächst in den im 8. Kapitel (1. These zur Kohärenz) und im 12. Kapitel (II.) abgesteckten erkennt­ nistheoretischen Rahmen eingeordnet werden. Vornehmlich geht es dabei um das Problem der intersubjektiven Verbindlichkeit des Sprachgebrauchs.766 In den genannten Kapiteln hatten wir die Bedin­ gungen von »Intersubjektivität« erörtert und als Voraussetzung dafür, dass »Erkenntnis« intersubjektiv vermittelbar ist und kommu­ nizierbar wird, auf die Notwendigkeit eines gemeinsamen »Denkund Argumentationsraums« hingewiesen, also eines Bereichs, in dem wir mit Anderen über gemeinsame Schnittmengen verfügen (Kap. 12 II. 3.). Das gilt jedenfalls bei der Annahme, dass unsere Anschauungsformen und Kategorien, die Begriffe, Schemata, Zeichen oder Muster intersubjektiver Vermittlung sozial eingespielt sind und wir nicht auf eine stets exakte, immer unmissverständliche Sprache zurückgreifen können. Das genau ist ja auch der Ausgangspunkt der Gebrauchstheorie. Mit dieser Theorie hatte Wittgenstein das Ziel der »Verifikation«767 aufgegeben, d. h. das Unternehmen, die Frage nach der Bedeutung eines Wortes (eines Zeichens) mit der Frage zu klären, worauf es sich »in Wirklichkeit« bezieht. In Wittgenstein Worten: »Die Frage nach der Art und Möglichkeit der Verifikation eines Satzes ist nur eine besondere Form der Frage ›Wie meinst du das?‹“.768 Oder konkreter und unmittelbar auf die Frage bezogen, wie Sprache Intersubjektivität herstellen soll: »Man sagt mir: ›Du verstehst doch diesen Ausdruck? Nun also, – in der Bedeutung, die du kennst, gebrauche auch ich ihn‹.«769 Dieser an sich einfache Tatbestand – »in der Bedeutung, die du kennst, gebrauche auch ich ihn« – beschreibt geradezu trivial den Bezugsrahmen, im dem wir Worte verstehen und gebrauchen sollten, wenn wir verstanden werden wollen. Es ist die Formel, auf die man Eine gute Übersicht über die Problematik gibt F. v. Kutschera 1975 in dem Abschnitt »Bedeutung und Gebrauch von Prädikaten«, S. 152 ff. 767 Zu diesem Zentralthema des Wiener Kreises vgl. L. Krauth, 1997, S. 75 ff. 768 PU § 353. 769 PU § 117. 766

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die Kommunikation bringen kann, wenn sich Juristen im Gerichtssaal unterhalten. Ein Nichtjurist kann dann aber die Frage »Du verstehst doch diesen Ausdruck?« (wenn sie denn an ihn gestellt würde) meist nur verneinen, weil er ihn eben nicht kennt. Es bedarf mithin eines sozialen Bezugsrahmens für das Verstehen von Bedeutung. Und dieser Bezugsrahmen, in dem das juristische Sprachspiel gespielt wird, ist unter anderer Perspektive bereits benannt: die Interpretati­ onsgemeinschaft. Der Begriff erfasst so auch die Grundsituation des juristischen Sprachspiels.770 Der Gerichtssaal ist ein Kommunikationsraum, aber ein Kom­ munikationsraum eigener Art, weil grundsätzlich strukturell asym­ metrisch, hatten wir oben festgestellt. Man braucht sich allerdings nur einige unterschiedliche Gerichtsverfahren vorzustellen, um zu sehen, dass »der« Gerichtssaal keineswegs ein stets gleicher Kom­ munikationsraum ist. Wenn in dem einen Verfahren Probleme des Verteilungsmaßstabes im Straßenbeitragsrecht, im anderen Probleme des Warenzeichenrechts und in einem dritten Fragen der betrieblichen Mitbestimmung erörtert werden, dann haben wir es mit sehr unter­ schiedlichen Sprachspielen zu tun. Sie sind unterschiedlich wie die Lebenswelten, die jeweils Gegenstand des juristischen Sprachspiels sind. Von »Interpretationsgemeinschaft« können wir mithin nur inso­ weit reden, als Begriffe mit der Bedeutung gebraucht werden, die auch der Andere kennt. Setzen wir die Begriffe »Sprachspiel« und »Interpretationsge­ meinschaft« mit der soeben vorgenommenen Differenzierung ein, werden sie auch auf den uns zentral interessierenden Zusammen­ hang von Gesetzgeber – Gesetzestext – Rechtsprechung anwendbar. Dieser überspielt so die systemtheoretische Differenzierung von Politik und Recht. Nach systemtheoretischer Sicht arbeiten beide Systeme mit unterschiedlichen Codes; wie dargelegt, führt das aber nicht zu einem »systemtheoretische[n] Ausschluss des Gesetzgebers aus dem Rechtssystem« 771. Aus sprachtheoretischer Sicht ergibt sich nichts anderes. Das »soziale Tätigkeitsfeld«772, in dem die Gesetzes­ texte entstehen, ist vielfach dadurch bestimmt, dass systemüberlap­ pend und damit systemübergreifend ein gemeinsames Sprachspiel gespielt wird. Die Juristen, die die Gesetze formulieren, und die 770 Zu Interpretationsgepflogenheiten, auch im Anschluss an Wittgensteins Sprach­ spiel, vgl. H. Lenk 1995, S. 122; 246 ff. 771 Wie W. Grasnick 2000, S 156, meint; Kap. 16 IV. 3. 772 W. Stegmüller 1978, S. 592.

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III. Juristische Semantik

Juristen, die sie anwenden, sprechen eine gemeinsame Sprache. Je spezialisierter Rechtsgebiete sind, desto sicherer kann man für die Gesetzgebungspraxis davon ausgehen, dass »man« sich kennt, Minis­ terialbeamte, Abgeordnete, Verbandsvertreter, Richter – also system­ übergreifende Interpretationsgemeinschaften bestehen. Demgegen­ über gibt es natürlich Ausnahmen – wenn etwa Spitzenpolitiker nächtens im Vermittlungsausschuss einen Kompromiss aushandeln. Aber diese sind nicht strukturbestimmend. Vielmehr ist festzuhalten: Auch auf Befunde sprachlicher Kommunikation lassen sich die sys­ temtheoretischen Einwände gegen die Regelbindung, mit denen wir uns am Ende des 16. Kapitels auseinandergesetzt haben, nicht stützen.

III. Juristische Semantik Rechtssätze sind Sprachgebilde. Wenn wir im Folgenden zu analysie­ ren haben, wie mit ihnen umzugehen ist, wie sie verstanden werden und wie Juristen mit ihnen arbeiten, können wir aufgrund unserer bis­ herigen Überlegungen davon ausgehen, dass ein alleiniger Rückgriff auf allgemeine linguistische und semiotische Überlegungen und Theo­ rieansätze nicht ausreichend ist.773 Entscheidend ist vielmehr, »dass der Sprachgebrauch in den verschiedenen Lebenskontexten jeweils spezifischen Regeln folgt, dass für die verschiedenen Sprachspiele ver­ schiedene Regelsysteme gelten.«774 Und das heißt auch: verschiedene spezifische Regeln semantischer Bestimmtheit und semantischer Festlegungen. Sie machen die besondere Struktur juristischer Seman­ tik aus. Um diese näher herausarbeiten und beschreiben zu können, ist es aufschlussreich, sich zuvor in einem Gedankenexperiment zu vergegenwärtigen, mit welchen Unterschieden ein Textverstehen von den verschiedenen Lebenskontexten abhängig ist.

773 Grundsätzlich zur Notwendigkeit eigenständiger Ansätze K. D. Lerch 2005, S. 170 ff. 774 F. v. Kutschera 1975, S. 137.

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

1. Textverstehen – ein Gedankenexperiment Dieses Gedankenexperiment soll von folgenden unterschiedlichen Situationen ausgehen, in denen wir vor die Aufgabe gestellt sein können, einen Text zu verstehen: 1. Man stelle sich zunächst einen nach dem Zufallsprinzip zusammengestellten Leserkreis vor. Zu lesen und dann in den Grund­ gedanken wiederzugeben sind Texte von Handke, Hegel, Hölderlin und aus dem HGB. Wie werden diese Leser die genannten Texte ver­ stehen? 2. In einem zweiten Schritt stelle man sich zwei jeweils ausge­ wählte Leserkreise vor: eine Gruppe ausgewiesener Hegelkenner (Lesegruppe 2.1) interpretiert den Hegeltext, eine Gruppe von Rich­ tern aus OLG-Senaten mit den Arbeitsschwerpunkten Handels- und Wirtschaftsrecht (Lesegruppe 2.2) den HGB-Text. 3.1 Es wird niemand ernsthaft überraschen, wenn in der Leser­ gruppe 1 die Interpretationen höchst unterschiedlich ausfallen. Es ist sogar zu vermuten, dass es schwierig bis fast unmöglich sein würde, hinter den Interpretationen die gleichen Texte wiederzuerkennen. Die traditionelle Vorstellung, dass ein Text, den man lesen und verstehen kann, im Großen und Ganzen auch ein übereinstimmendes Verstehen zu Tage bringt, würde sich jedenfalls nicht bestätigen. In den Lesegruppen 2.1 und 2.2 würde dagegen – so der wahr­ scheinliche Befund, auf den es mir bei dem Gedankenspiel ankommt – die Varianz deutlich geringer ausfallen und von Ausnahmen abge­ sehen, die hier die Regel bestätigen, wird ein fachkundiger Leser auch keine Schwierigkeiten haben, den Ausgangstext wiederzuerkennen. 3.2 Fragt man nach den Gründen für diese Unterschiede im Textverstehen, dann sind es die sehr unterschiedlichen Strukturen der Sprachspiele und deren Lebenswelten, die hier den Worten und Sätzen Bedeutung geben: 1.

Einen Text zu verstehen bedeutet, zwischen ihm und schon bekanntem Wissen Kohärenz herzustellen; er muss an gemein­ same Muster und Interpretationsschemata andocken können. Wie und welche Bedeutung einem Wort beigemessen wird, hängt unmittelbar von der Dichte der Muster, der Schemata und dem Vorwissen ab, über das wir verfügen. Daraus ergeben sich prinzipielle Unterschiede:

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III. Juristische Semantik

2.

3.

4.

5.

775 776

Bei dem Laien stoßen die genannten Texte auf ein allenfalls diffuses Wissen und damit auch auf diffuse Kontexte; »unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ›Zei­ chen‹, ›Worte‹, ›Sätze‹, nennen«775, stehen ihm offen. Es ist der in der Sprachgemeinschaft irgendwie denkbare Sprachgebrauch, der eine mögliche Grenze setzt. Argumentieren kann man allen­ falls mit dem Duden. Für den Fachkundigen ist die Mannigfaltigkeit möglicher Bedeu­ tungen dagegen durch Vorwissen, Kenntnis der Kontexte, profes­ sionelle Muster und Interpretationsschemata schon prinzipiell begrenzt. Eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten wird dem Experten erst gar nicht in den Sinn kommen, weil sie sich nicht in das System Hegel’scher Philosophie einfügen oder nicht in die Systematik des HGB und der dort verwandten Begriffe passen würden. Auch dort, wo der Laie vielleicht auf sehr indi­ viduelle Erfahrungen und Muster, gar auf freie Assoziationen zurückgreift, um sich den Text verständlich zu machen, greifen bei dem Experten776 professionelle Filter. Gegenüber der allgemeinen Sprach- und Kommunikationsge­ meinschaft haben wir es also bei den Fallgruppen 2.1 und 2.2 mit speziellen, professionellen Interpretationsgemeinschaften zu tun, die sich ja auch und gerade durch ihr Sprachspiel definie­ ren, das sie durch ihre überindividuell gültigen Konventionen – oft sehr rigide – reglementieren. Ziel ist immer eine möglichst genaue Fachsprache mit möglichst geringen Unschärfen. Also eine Sprache, die ihre Funktion dann am besten erfüllt, wenn sie in ihrer gewöhnlichen Gebrauchsform, nämlich Mittel alltäg­ licher Kommunikation zu sein, nicht mehr brauchbar ist. Bei aller Vergleichbarkeit der beiden Fallgruppen 2.1 und 2.2 besteht zwischen diesen Interpretationsgemeinschaften aller­ dings ein prinzipieller Unterschied. Und der liegt in der institu­ tionellen Struktur. Auch in der Gruppe der Hegelinterpreten wird es unterschiedliche Auffassungen geben; man wird sie wahrscheinlich kennen und sie nach »Schulen« und »Zitierkar­ tellen« strukturieren können. Aber die »Entscheidung« über die »Richtigkeit« trifft letztlich der »Meinungsmarkt« – soweit eine solche »Entscheidung« überhaupt getroffen werden kann. Wittgenstein PU § 23. Zum Thema Mustererkennung und »Expertenforschung« Kap. 23 V. 2.

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

6.

Wenn sich Richter dagegen im Rahmen ihrer rechtsprechenden Tätigkeit777 mit Normtexten befassen, sind diese Gegenstand komplexer institutioneller Auslegungs- und Anwendungsver­ fahren778. In diesen Verfahren wird über das »richtige Verstehen und den richtigen Gebrauch« eines Textes befunden und ent­ schieden. Die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung bedeutet aus semantischer Perspektive nichts anderes als größt­ mögliche Standardisierung des Sprachgebrauchs.

4. Schließlich: Im Urteilsspruch beschreibt die Sprache nicht mehr nur etwas. Sie wird performatorisch. Das Urteil entfaltet als performativer Sprechakt »materielle Wirkungen«. Es verändert im Moment seiner Verkündung die Rechtslage.

2. Das Spezifische juristischer Semantik Das Gedankenexperiment sollte nicht nur nochmals verdeutlichen, dass man über das Verstehen von Texten nicht abstrakt diskutieren kann. Die Analyse des Textverstehens muss immer auch die Analyse der sprachlichen und sozialen Kontexte – das »soziale Tätigkeits­ feld«779 – einschließen. Es zeigt auch klar das Spezifische der juristi­ schen Semantik. Diese wird entscheidend durch die spezifische Ein­ bindung in die institutionellen Zusammenhänge der Rechtsetzungsund Rechtsprechungsprozesse bestimmt. Wirksam werden mithin all die Mechanismen, die wir bereits unter den Stichworten Habitus und Interpretationsgemeinschaft sowie mit der 1. These zur Kohärenz beschrieben haben (Kap. 8 II. 1.). Für die Bestimmung der besonderen Struktur juristischer Semantik müssen wir also zum einen die entscheidenden Modifika­ tionen feststellen, die das »Juristische« durch diese Einbindungen und Mechanismen erfährt. Das ist die – entscheidende – institutionelle Seite juristischer Begriffsbildung. Inhaltlich geht es um die prinzi­ piellen Unterschiede, die die Alltagssprache und das »Juristische« bei der Frage semantischer Stabilität aufweisen. Diese Unterschiede sind für das Recht konstitutiv. Wie im 16. Kapitel gezeigt, stehen Rechtsprechung, Regelbindung und Rich­ 777 778 779

Im Unterschied etwa zur Tätigkeit als Kommentatoren, der beachtlich sein kann. Zu diesem Zusammenhang instruktiv K. D. Lerch 2005, S. 171. W. Stegmüller 1978, S. 592.

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III. Juristische Semantik

terrecht in einem untrennbaren Zusammenhang. Geschaffen wird dieser durch die Sprache. In ihr vollzieht sich die Regelbindung. Sie hat dann aber auch Regeln zur Voraussetzung, die für ihren Gebrauch und damit das Sprachverstehen eine hinreichend klare Unterschei­ dung zwischen »richtig« und »unzutreffend« ermöglichen. Denn eine Regel ist nur in dem Maße allgemein, als sie nicht nur situativ gilt. Folgt man der Idee der Regelbindung, muss der Text die Bedeutung grundsätzlich so eindeutig vorgeben, dass die Regel, soweit sie keine Beurteilungsspielräume einräumt, von jedem Richter auch gleich angewandt werden kann. Semantische Stabilität ist also Bedin­ gung der Regelbindung. – Aus der Perspektive juristischer Seman­ tik ergibt dies für den Zusammenhang von Regelbindung und Rich­ terrecht: Richterrecht ist das wesentliche Instrument, mit dem das Rechtssystem semantische Stabilität herstellt – also Bedeutung fest­ schreibt, sagt, wie ein Normtext richtig zu verstehen ist, und Kriterien für den »richtigen« und »unzutreffenden« Gebrauch angibt.

3. Vom »invisible-hand Phänomen« zur gerichtlichen »Definitionskompetenz« Die herkömmliche realistische Semantik – und mit ihr die traditio­ nelle juristische Methodik – ist von einer vorgegebenen stabilen Relation von Wort und Bedeutung ausgegangen. Unter den Voraus­ setzungen einer Gebrauchstheorie der Sprache muss die juristische Methodik demgegenüber andere Antworten finden, ob und wie unter diesen Voraussetzungen den Tatbestandsmerkmalen einer Norm noch bestimmte, hinreichend genau abgrenzbare Bedeutungen zuge­ sprochen werden können. Anders gefragt: Wie bilden sich Rechtsbe­ griffe und wie wird ihre Bedeutung stabil gehalten?

a) Die Perspektive des »semantischen Kampfes« Im Feld des allgemeinen Sprachgebrauchs haben wir es – abgesehen von Eigennamen und speziellen Bezeichnungen, die auf eindeutige Definitionen verweisen – in der Regel nicht mit derart abgegrenzten Bedeutungsinhalten zu tun. Mit der Gebrauchstheorie ist zwar kein beliebiger Gebrauch gemeint, sondern der korrekte Gebrauch eines Wortes. Über diesen entscheidet aber der tatsächliche Gebrauch.

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

Die Verwendungsregel wird nicht von einer »Definitionsinstanz« festgelegt, sondern sie entsteht, wie insbesondere im Sprachwandel deutlich wird, nach dem Muster des Marktes als »invisible-hand Phänomen«.780 Nach diesem Muster bestimmt sich, welche Verwen­ dungsregel sich durchsetzt – ob das Wort so verstanden werden kann, wie es gemeint ist. Wirksam ist in diesem Feld freilich nicht nur eine »unsichtbare Hand«. Gesellschaftliche und politische Konflikte wie auch wissenschaftliche Auseinandersetzungen sind meist sehr gezielt und bewusst geführte Kämpfe um die Hoheit über semantische Bedeutungen und Einordnungen. Werden diese Auseinandersetzungen im Gerichtssaal als Rechtsstreitigkeiten ausgetragen, werden die gegenseitigen Posi­ tionen als »semantischer Kampf«781 um die richtige Lesart des Normtextes geführt. Das gilt für Prozesse, in denen sich gesellschaft­ liche Grundkonflikte widerspiegeln, nicht anders als für den Streit um alltägliche Interessen und Rechthabereien. Den streitenden Par­ teien liegt nicht eine objektiv richtige Auslegung des Gesetzes am Herzen, sondern es geht ihnen »im semantischen Kampf darum, ihre eigenen Erklärungen zur Bedeutung eines Ausdrucks als einzige ›Erklärung der Bedeutung‹ durchzusetzen«.782 – Das Gericht muss diese Interpretationen nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern sich mit ihnen auch auseinandersetzen. Insofern steht die »richtige« Inter­ pretation eines Gesetzes immer zur Debatte. Zwischen diesen von den Beteiligten vertretenen Rechtsauffassungen und der gerichtlichen Entscheidung besteht allerdings – systemtheoretisch gesprochen – allenfalls eine strukturelle Koppelung (Kap. 16 IV. 3.). Wie das Recht­ sprechungssystem mit den Lesarten der Parteien inhaltlich umgeht, folgt den eigenen Regeln des Systems.

b) Gerichtliche Definitionskompetenz Der Prozess ist allerdings nicht nur ein semantischer Kampf um die Bedeutung eines normativen Begriffs und das Verständnis einer Norm. Seine zentrale Funktion liegt in der Entscheidung über diese Bedeutung. Das Gericht hat einen sozialen Konflikt zu lösen – aber nicht nur situativ, auf den Einzelfall bezogen, sondern es muss dies 780 781 782

Vgl. dazu und zum Sprachwandel grundlegend R. Keller 1994, S. 87 ff. Ausführlich dazu R. Christensen, insbes. 2005, S. 77 ff. R. Christensen 2005, S. 80.

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nach einer allgemeinen Regel tun. Daraus ergibt sich nicht nur das Spezifische des Urteils, sondern auch der juristischen Semantik: Ein Urteil legt auch den »richtigen Gebrauch« – die Bedeutung eines Tat­ bestandsmerkmals – rechtskräftig fest. Mit jedem Urteil macht das Rechtssystem von seiner ihm eigentümlichen »Definitionskompe­ tenz« Gebrauch. Indem es feststellt, wie ein Text richtig zu verstehen ist, schafft es insoweit semantische Stabilität.

4. Semantische Stabilität und semantische Spielräume Aus dem Blickwinkel des »Kampfes ums Recht«, des Prozesses als »semantischer Kampf« ist die Feststellung, der »Jurist hat immer die Möglichkeit, eine andere Sprachverwendung vorzuschlagen«, ebenso zutreffend, wie die grundsätzliche Offenheit rechtlicher Regeln für neue Deutungen und Bedeutungen Bedingung für die Anpassung an veränderte Realitäten oder veränderte Wirklichkeitseinschätzungen ist. Semantische Stabilität wird im Recht dann in der Tat an vielen Punkten überhaupt erst ausgehandelt. Als allgemeine Aussage – also nicht nur bezogen auf die grundsätzliche Offenheit des Rechts und semantische Offenheit in konkreten Streitpunkten – würde die Schlussfolgerung, die »semantische Stabilität [sei] in einem Rechts­ streit gerade keine Voraussetzung, sondern höchstens mögliches Resultat von Argumentationen«783, aber mit der semantischen Stabi­ lität auch das Recht selbst aufheben. Ein Recht, das in jedem Prozess prinzipiell neu ausgehandelt werden muss, weil der Bedeutungsinhalt jeder Norm jeweils neu auszuhandeln ist – ein Recht, das also in gleicher Weise von Fall zu Fall in Frage steht, wie es Geltung beansprucht –, dieses Recht hat keine Geltungskraft. Seine Funktion der Verhaltenssteuerung784 kann das Recht nur erfüllen, wenn die semantische Stabilität prinzipiell größer ist als die Chance einer Partei, in einem Prozess für ihre Interessen neue Deutungen und Bedeutungsspielräume zu erkämpfen. Entsprechend ist denn auch, wie es K. D. Lerch – passend unter der Überschrift: »Justitia im Bett des Prokrustes« – formulierte, »die Auslegung der Gesetzestexte den Bedingungen der Institutiona­ lität unterworfen, der Einbindung in institutionelle Deutungs- und 783 784

Christensen/Sokolowski 2005, S. 128. N. Luhmann 1995, S. 157 ff.; Di Fabio 2012, S. 69 f.

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

Arbeitsrahmen, die dem einzelnen Gesetzesanwender in der Praxis meist nur wenig semantischen Spielraum lassen«.785 a. Die »Auslegung« – d. h. Bedeutung eines Tatbestandsmerk­ males – ist in der richterlichen Alltagspraxis meist nicht das Problem. Man weiß oder hat es nachgelesen, was die einzelnen Tatbestands­ voraussetzungen bedeuten, und wendet die Norm mittels dieser Defi­ nitionen an. Die notwendige Reduktion von Komplexität, die das Rechtssystem zu leisten hat, könnte die Rechtsprechung auch gar nicht erbringen, wenn semantische Stabilität nicht weitgehend vor­ ausgesetzt, sondern in jedem Verfahren neu hergestellt werden müsste. Die Semantik ist durch die h. M. fixiert. Über § 242 StGB z. B. wird man sinnvoll kaum noch einen semantischen Streit führen kön­ nen. Wenn ein Angeklagter bestreitet, die Sache gestohlen zu haben, denn sie sei ihm geschenkt worden, so steht nicht zur Debatte, was »fremd« oder was »Schenkung« ist, sondern Vorgänge auf der Sach­ verhaltsebene. Auch den Wertungsfragen, die sich bei der Anwen­ dung unbestimmter Rechtsbegriffe im Einzelfall ergeben, liegen meist keine Bedeutungs-, sondern Bezeichnungskonflikte und unter­ schiedliche Sichtweisen des Sachverhalts zugrunde. Wenn es etwa darum geht, ob ein beobachteter Ladendieb bereits Gewahrsam erlangt hat oder überhaupt eine Zueignungsabsicht hatte, eine Hand­ lung fahrlässig war oder ein Verhalten als unzumutbar zu werten ist, geht der Streit um die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Schluss von einer (oft nicht bestimmbaren) Anzahl indizieller Tat­ schen auf die zu treffende Wertung gerechtfertigt ist. Wir haben es damit mit dem schon ausführlich behandelten Problem der Gesamt­ schau, der Gesamtwürdigung zu tun, also mit Wertungen, bei denen sich Tatsacheneinschätzungen und Einschätzungen von Normzwe­ cken im Einzelfall verzahnen. Mit Aussicht auf befriedigende Ant­ worten lassen sich Probleme der Bestimmbarkeit hier allerdings erst dann lösen, wenn sich in der Rechtsprechung hinreichend klar unter­ scheidbare Fallgruppen gebildet haben, aus denen sich Regeln formu­ lieren lassen, unter welchen Voraussetzungen allgemein die zu tref­ fende Wertung zulässig ist und unter welchen nicht. b. Wenn sich semantische Spielräume ergeben, dann werden sie im Alltag der erst- oder auch zweitinstanzlichen Praxis meist erst aufgrund von Veränderungen bisheriger Gegebenheiten wahrgenom­ men: Gesetzesänderungen, neue Problemsituationen, veränderte 785

K. D. Lerch 2005, S. 171.

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IV. Wortbedeutung – Rechtsbegriff, Hypertext und Rechtsermittlung

Verhältnisse, Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung der Revisi­ onsgerichte, der Verfassungsgerichte oder von EuGH oder EGMR. Wie groß die Spielräume sind, hängt bei neuen gesetzlichen Rege­ lungen davon ab, ob und inwieweit der Gesetzgeber nur bisheriges Recht modifiziert oder Neuland betritt. Liefert die Entstehungsge­ schichte hierzu hinreichend dichte Kontexte, aus denen sich auch das mit dem Gesetzestext Gemeinte erschließen lässt, muss seman­ tische Stabilität durch die Rechtsprechung nicht erst von Entschei­ dung zu Entscheidung hergestellt werden;786 fehlen solche Kontexte oder sind sie gar widersprüchlich, muss sie in mehr oder weniger langwierigen Argumentationsprozessen erst gewonnen werden.787 Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung schaffen zwangsläufig dann neue und auch erhebliche semantische Spielräume, wenn sie die Fachgerichte zu einem Um- oder sogar Neubau der Systematik eines ganzen Rechtsbereiches zwingen; die Konsequenzen, die für das System öffentlichrechtlicher Ersatzleistungen aus der Nassauskie­ sungsentscheidung des BVerfG788 zu ziehen waren, veranschaulichen dies am Beispiel.789

IV. Wortbedeutung – Rechtsbegriff, Hypertext und Rechtsermittlung Die Auslegung einer Norm soll dem Richter Kriterien und Maßstäbe für ihre Anwendung an die Hand geben – soll sie ihm die »Subsum­ tion« ermöglichen: Die Voraussetzungen einer Entscheidungsnorm sollen so definiert werden, dass im Wege begrifflicher Subordination geprüft werden kann, ob die Sachverhaltsfeststellungen diese Voraus­ setzungen erfüllen. Allein aus Wortlaut und Begrifflichkeit ergeben sich diese Definitionen nicht. Nicht nur für die Sprache, sondern auch für die Definitionen gilt, dass sie sich aus dem Gebrauch ergeben – aus dem Gebrauch der Norm von Fall zu Fall, in einer Kette von Ein Beispiel ist das Investitionszulagengesetz; siehe dazu unten 2. a). Ein Beispiel für einen widersprüchlichen Entstehungskontext gibt § 124 VwGO; siehe dazu Mayer-Ladewig/Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO § 124 Rn. 1 ff. (Stand 2015). 788 Das BVerfG nahm mit der Entscheidung BVerfGE 58, 300 eine grundsätzliche neue Abgrenzung von Enteignungen einerseits und Inhalts- und Schrankenbestim­ mungen andererseits (Art. 14 GG) vor. 789 Vgl. Ossenbühl/Cornils 2013, S. 205 f.; 269 ff.; 292 ff. 786 787

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

Entscheidungen. – Aus der Perspektive des Gerichts bedeutet dies: In dem Maße, in dem ein Gericht eine solche Definition seinem Urteil als »richtig« zugrunde legen kann, erübrigen sich Sinnermittlungen über Auslegungsregeln. Insoweit besteht semantische Stabilität und die methodische Arbeit liegt darin, diese Definitionen und den Grad ihrer Akzeptanz zu ermitteln. Auslegung wird zur Rechtsermitt­ lung. Die besondere Struktur juristischer Semantik modifiziert damit auch, wie eingangs gesagt, die Methoden, mit denen Juristen Wort­ bedeutungen ermitteln (2.). Zuvor sind aber die Definitionsbegriffe zu klären, von denen auszugehen ist: Wie bestimmen wir die Bedeu­ tungsinhalte der Worte, die als Rechtsbegriffe die Tatbestandsvor­ aussetzungen einer Norm bilden? (1.)

1. Der Rechtsbegriff – zur juristischen Begriffsbildung Folgt man einer Gebrauchstheorie der Sprache, lassen sich Streit­ fragen über Bedeutung und Bezeichnungen nicht über »Wesensbe­ stimmungen« lösen. Die klassischen Formen des Definierens – die »Definition als Wesensbestimmung« oder als »Begriffsbestimmung (Begriffskonstruktion bzw. -zergliederung)«790 – scheiden damit zunächst aus.791 Im Rückgriff auf die Definitionslehre W. Dubislavs eignen sich als Einstieg aber die beiden folgenden Definitionen, die stattdessen auf die Verwendung abstellen: 1. 2.

»Eine Definition besteht in der Hauptsache aus einer Feststellung (nicht Festsetzung) der Bedeutung, die ein Zeichen besitzt, bzw. der Verwendung, die es findet. Eine Definition besteht in der Hauptsache aus einer Festsetzung (nicht Feststellung) über die Bedeutung eines (neu einzuführen­ den) Zeichens bzw. über die Verwendung, die es finden soll.«792

Typische Beispiele für eine Feststellung nach (1.) sind die Feststel­ lungen, die ein Lexikon trifft, wenn es einen Begriff definiert. Typische Festlegungen nach (2.) finden sich in der Mathematik.793 Die juris­ Näher dazu W. Dubislav 1931/1981, S. 2 ff. Dass juristische Definitionen eine Begriffsbestimmung als Grundlage für eine Subordination zu liefern haben, steht damit nicht in Zweifel. 792 W. Dubislav 1931/1981, S. 2. 793 W. Dubislav 1931/1981, S. 20 ff.

790 791

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IV. Wortbedeutung – Rechtsbegriff, Hypertext und Rechtsermittlung

tische Semantik kennt solche Festlegungen in der Form der Legalde­ finition oder in den Fällen, in denen Entscheidungen Gesetzeskraft zukommt, also in den Fällen, für die das BVerfG annimmt, dass die Bindungswirkung gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG auch die tragenden Gründe der Entscheidung umfasst, soweit diese Ausführungen zur Auslegung der Verfassung enthalten.794 Dubislav zählt zu den typischen Beispielen für Definitionen nach (1.), also »Nominaldefinitionen, die mit dem Anspruch auf­ treten, bestehenden Sprachgebrauch innerhalb einer Gemeinschaft oder Gesellschaft zu präzisieren«, auch die »Definitionen in der Jurisprudenz« und zitiert die Feststellungen des RG zum Begriff der »Eisenbahn«.795 Diese Einordnung befriedigt jedoch nicht. Bei einer Charakterisierung, die nur auf die Feststellung eines bestehen­ den Sprachgebrauchs abstellt, bleiben wesentliche Besonderheiten juristischer Semantik ausgeblendet. Juristische Definitionen stehen immer im Zusammenhang normativer Kontexte, aus denen sie ent­ wickelt sind, und sie bilden sich nach den spezifischen Regeln des Rechtssystems. Ihr Ziel ist es nicht, den Gebrauch einer Regel zu konstatieren, sondern ihre Verwendung festzulegen. Dass dies – jedenfalls mit einer gewissen Stabilität – gelingt, ist zugleich Voraus­ setzung dafür, dass Rechtsprechung ihre Kohärenz sichert; sie stellt sie über diese Begriffsbestimmungen her. Diesen Charakteristika soll folgende Definition, der dann allerdings leider die Bündigkeit und Klarheit der Formulierungen Dubislavs fehlt, Rechnung tragen: 1.

Eine juristische Definition besteht in der Hauptsache aus einer Feststellung über die Bedeutung, mit der ein Begriff im Rechts­ system Verwendung findet und die dieses System gemäß der ihm eigenen Regeln trifft. Getroffen wird diese Feststellung mit dem Ziel einer Festlegung und diese hat die Funktion, Kohärenz herzustellen und zu sichern.

Wegen der Kohärenz des Rechts kommt es für den inhaltlich-seman­ tischen Aspekt, der uns im Folgenden (vor allem auch im nächsten Kapitel über System und Kohärenz) beschäftigen wird, nicht entschei­ dend auf die Wortbedeutung an sich an. Entscheidend ist vielmehr die spezielle Bedeutung, die ein juristischer Begriff aus dem Kontext mit seinen »Nachbarbegriffen« gewinnt. Bezogen ist der juristische 794 795

BVerfGE 40, 88,93 f. m. w. N.; offen gelassen in BVerfGE 115, 97–118. W. Dubislav 1931/1981, S 18 f.

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

Begriff immer auch auf den systematischen Zusammenhang, in dem er gebraucht wird und der letztlich auch die »Rechtsordnung« als Textgestalt insgesamt umfassen kann. Ich werde hier vom »Hyper­ text Recht« sprechen, um die spezielle Verflechtung, mit der es die Juristen dabei zu tun haben, mit einem Begriff zu benennen.

2. Recht als Hypertext Hypertext: Der Begriff ist in den 60er Jahren für eine computer-orga­ nisierte Vernetzung von Texten geprägt worden.796 Typische Beispiele für derartige juristische Texte sind juristische Datenbanken wie juris oder beck-online, die als Hypertext konzipiert sind. Charakteristisch für den Hypertext ist seine Nichtlinearität; die Verbindung der Texte hat keine hierarchische Struktur. »Bei Hypertext-Dokumenten gibt es nicht (wie bei Druckwerken) eine einzige, lineare Lesereihenfolge, sondern die Leser können jede Einzelinformation über viele verschie­ dene Wege und von vielen verschiedenen Stellen aus erreichen«, so einem von ungefähr 18,7 Millionen Suchergebnissen für »Hypertext« entnommen, die Google (am 28.09.2015) in 0,37 Sekunden ausge­ worfen hat. Aber auch die »klassischen« Hilfsmittel zur Erschließung linearer, gedruckter Texte wie Inhaltsverzeichnisse, Indizes, Querver­ weise und Fußnoten sowie Wörterbücher und jegliche Verweissys­ teme entsprechen funktional einem Hypertext. Nicht anders bewegt sich auch der Jurist in einem solchen Verweisungssystem, der es, ausgehend von einem Gesetzestext oder einer Rechtsbehauptung, »genauer wissen will« und deshalb in einem Kommentar nachschaut, anschließend eine angegebene Entscheidung liest, um von dort auf eine nächste Fundstelle verwiesen zu werden, etc. 796 Zur Entwicklung vgl. F. Krüger, jur-pc, Heft 3/92, S. 1497–1503; Krüger gibt dort folgende Definition: »Hypertext (oder in der multimedialen Form Hypermedia) ist ein assoziatives Netzwerk von Textteilen (sog. Knoten, engl. nodes), die durch Gra­ phen (Kanten, engl. links) verknüpft sind. Ausgangspunkte dieser Kanten sind ein­ zelne Wörter oder Wortgruppen (Anker, engl. anchor), die aktiviert werden können, um zu anderen Knoten zu gelangen. Charakteristisch für Hypertext ist dabei die maschinelle Unterstützung beim Verfolgen dieser Kanten und die generelle Auswahl­ möglichkeit zwischen verschiedenen Kanten, was zu einer nicht-linearen Textstruktur führt. Ein weiterer notwendiger Bestandteil des Hypertext-Modells sind Orientie­ rungshilfen, die oft als graphische Übersichtsfunktionen (sog. Browser) realisiert wer­ den.«

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IV. Wortbedeutung – Rechtsbegriff, Hypertext und Rechtsermittlung

Auch ohne dass es sich um eine computer-organisierte Vernet­ zung von Texten handeln muss, können wir also vom »Hypertext Recht« sprechen und damit auch das Spezifische einer juristischen Semantik auf einen Begriff bringen. Die entscheidenden Momente, die dieses Spezifische ausmachen, liegen, zusammenfassend in Thesen formuliert, darin dass 1. 2. 3. 4. 5. 6.

die allgemeine Sprache eine andere Hypertextstruktur hat als die juristische Semantik. Dieser Unterschied ergibt sich aus den Unterschieden der Verknüpfung und den Regeln der Verlin­ kung, d. h. die juristischen Begriffe sind »systemisch« viel dichter und ein­ deutiger miteinander verknüpft als im allgemeinen Sprachge­ brauch üblich. Damit sind nicht nur die semantischen Spielräume enger und entsprechend die semantische Stabilität größer, sondern es bedeutet auch, dass für juristische Bedeutungsinhalte die Ermittlung von Wortbe­ deutungen in anderer Weise erfolgt als in der Umgangssprache.

Als Zwischenergebnis ist damit aber auch festzuhalten, dass sich das Spezifische einer juristischen Semantik ohne eine nähere Vorstellung über die Bedeutung des Systemdenkens nicht erfassen lässt. Denn die Stabilität eines Rechtsbegriffs ist nach diesen Überlegungen abhängig von der Intensität, mit der er systemisch eingebunden ist. Das Recht weist hier eine besondere Form der »Intertextualität«797 auf. Dem »Hypertext Recht« kommt deshalb eine eigenständige Struktur zu.

a) Intertextualität In der Literaturwissenschaft bezeichnet »Intertextualität«798einmal eine konkrete Bezugnahme eines (literarischen) Textes auf einen anderen (literarischen) Text, in der Kulturtheorie dann grundsätzlich das allgemeine Phänomen, dass Texte innerhalb einer kulturellen Struktur immer im Bezug zur Gesamtheit der anderen Texte stehen und verstanden werden. Zur Illustration für solche literarischen Ver­ weise denke man an J. Joyces »Ulysses« (und Homers Odyssee und Vergils Aeneis als Hintergrundtexte), den »Doktor Faustus« von Thomas Mann oder Ecos Roman »Im Namen der Rose«, den man 797 798

Grundlegend zur Intertextualität im Recht M. Morlok 2004, S. 93 ff. Zur Entstehung des Konzepts und zu Beispielen vgl. M. Morlok aaO. S. 96 ff.

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

wohl erst dann mit dem größten Gewinn liest, wenn man ihn als postmoderne Parabel zum Thema »Intertextualität« versteht. Was nun in der Literatur nicht selten ein Spiel des Autors mit dem – hoffentlich wissenden – Leser ist, ist für den Juristen profes­ sionelles Handwerk. Der Jurist, der Rechtstexte (Urteile, Schriftsätze, Aufsätze) produziert, verweist ständig auf andere Texte. Und wenn er einen Text verstehen will und es darauf ankommt, möglichst genau die Bedeutung eines Rechtsbegriffs zu ermitteln, dann wird er in anderen Texten, die auf seinen (z. B. Gesetzestext) Bezug nehmen, danach suchen, mit welcher Bedeutung das Wort dort gebraucht wird. Handelt es sich um eingespielte Normen, wird er zum Kommentar greifen oder die Norm bzw. ein Stichwort in einer juristischen Daten­ bank aufrufen. Ist die Norm neu, muss er die Vor-Texte suchen, aus denen sie hervorgegangen ist. Das ist, fernab des Streites um objektive oder subjektive Auslegungstheorien, der Kern des historischen Ausle­ gungselements. Dazu ein oben schon genanntes Beispiel: § 1 Abs. 4 des Investitionszulagengesetzes vom 18. August 1969 knüpfte den Anspruch auf Förderung an die Voraussetzung, dass die Investition »volkswirtschaftlich besonders förderungswürdig« sein musste. Wie konnte und sollte diese Voraussetzung in der gerichtlichen Praxis konkretisiert werden, nach welchen Theorien und Kriterien die beson­ dere volkswirtschaftliche Förderungswürdigkeit beurteilt werden? Wie sie zu verstehen war, dazu sagte das Gesetz in der ursprünglichen Fassung nichts. Nach der Entstehungsgeschichte war aber klar, was das Gesetz wollte: Eine langjährige Förderung, die durch Richtlinien geregelt war, sollte auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden, um einen Rechtsanspruch zu schaffen. Und in diesen Richtlinien war sehr ausführlich bestimmt, was unter »volkswirtschaftlich besonders förderungswürdig« zu verstehen war.799 Nun ist es zwar nicht die Regel, dass der Richter die Verwendungsregel für einen Rechtsbegriff in dieser unmittelbaren Weise in einem Text hinter dem (Gesetzes-) Text findet. Gesetze kommen aber in der Regel auch nicht aus dem Nichts. Ihnen sind nahezu immer Vor-Texte vorausgegangen, aus denen sich ihre Wortbedeutungen erschließen lassen – wenn auch mit oft großen semantischen Variationsbreiten.

799 Vgl. zu dem Auslegungsstreit um das Tatbestandsmerkmal »volkswirtschaftlich besonders förderungswürdig« in § 1 Abs. 4 InvZulG 1969 einerseits VG Köln, BB 1972, 870, andererseits BVerwGE 48, 211.

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IV. Wortbedeutung – Rechtsbegriff, Hypertext und Rechtsermittlung

Unter den Stichworten Gesetzgebungsverfahren und Interpreta­ tionsgemeinschaft ist oben bereits die institutionelle Seite der Inter­ textualität angesprochen worden. Nimmt man beide Phänomene zusammen – Intertextualität und Interpretationsgemeinschaft –, wer­ den damit aber auch die beiden gegensätzlichen Einschätzungen, mit denen die Bedeutung des Normtextes eines Gesetzes oft diskutiert wird, obsolet. Sicher sind die Annahmen des Gesetzespositivismus heute nicht mehr diskussionswürdig. Aber auch die Gegenthese, dass der Gesetzestext eigentlich nur ein Argumentationsgesichtspunkt unter anderen ist oder gar nicht mehr ist als Papier und Drucker­ schwärze800, greift zu kurz.

b) Der »Hypertext Recht« Aus der Perspektive einer sprachwissenschaftlichen Theorie der Inter­ textualität liegt es nahe, Wörterbücher mit Literaturformen wie der des Gesetzeskommentars zu vergleichen und gleichzusetzen. Der Kommentar wird dann zum Wörterbuch der Juristen. »Beide sammeln gelungene Gebrauchsbeispiele«, wie es R. Christensen formulierte.801 Und man benutzt einen Kommentar als Jurist ja auch in der Tat wie ein spezielles Fachwörterbuch. Wer wissen möchte, was »wegneh­ men« in § 242 StGB bedeutet, greift zum Kommentar, um den rich­ tigen fachsprachlichen Gebrauch zu ermitteln; ein Blick in ein allge­ meines Wörterbuch der deutschen Sprache würde da nur in die Irre führen. Der strukturelle Unterschied wird aber sofort deutlich, wenn wir uns fragen, was denn »gelungene Gebrauchsbeispiele« eigentlich sind. Wie man sie für ein Wörterbuch ermittelt und sammelt, hat die Duden-Redaktion als »Wortsuche per Computer« so beschrieben: »Das wichtigste Verfahren der Dudenredaktion besteht darin, dass sie mithilfe von Computerprogrammen sehr große Mengen an elektroni­ schen Texten daraufhin ›durchkämmt‹, ob in ihnen bislang unbekannte Wörter enthalten sind. Treten sie in einer gewissen Häufung und einer bestimmten Streuung über die Texte hinweg auf, handelt es sich um Neuaufnahmekandidaten für die Wörterbücher. Die Textbasis bildet dabei das Dudenkorpus, das mittlerweile mehr als 2 Milliarden 800 801

Zu diesem Bild Müller/Christensen 2004, Rn. 531. R. Christensen 2010, S. 130.

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

Wortformen zählt und sich aus einer Vielzahl aktueller Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Romane, Reden, Reparatur- und Bastelanleitun­ gen usw. zusammensetzt.«802

Ähnlich wird etwa derjenige, der unterschiedliche Auffassungen zu einer Rechtsfrage wissenschaftlich untersuchen will, die juristische Literatur und entsprechend die Datenbanken »durchkämmen«. Der typische Standardkommentar wird ihm dafür aber kaum behilflich sein. Und das liegt an dem entscheidenden Unterschied: Anders als ein Wörterbuch hat der Kommentar nicht die Aufgabe, die Gebrauchs­ beispiele in möglichst großer Variationsbreite zu generieren, sondern zu selektieren; er soll möglichst exakt angeben, wie und mit welchem »Verlässlichkeitswert« eine Verwendungsregel im geltenden Recht verwandt wird. Der Hypertext Recht ist mit anderen Worten durch einen sehr spezifischen Wertungscode strukturiert. Jede Wissenschaft verfügt über einen Code, über den sie die Bewertung von Informationen steuert. Intertextualität wird durch Rankings handhabbar gemacht: Rankings der Standardlehrbücher, der Handbücher, der Zeitschriften, Vorstellungen über den Rang von Fakultäten, Instituten, Autoren. Das ist im Bereich des Rechts zunächst auch nicht grundsätzlich anders. Die Orientierung an diesen wissenschaftlichen Rankings tritt jedoch nahezu völlig in den Hinter­ grund, wenn mit der Frage, was denn »rechtens« ist, im juristischen Hypertext nach dem geltenden fachsprachlichen Gebrauch eines Rechtsbegriffes gesucht wird. Dieser geltende Gebrauch wird selbst dann (mit-) recherchiert, wenn man primär einen Beleg für einen Bedeutungsinhalt sucht, der davon abweicht, weil man ein anderes Ergebnis begründen will. Entscheidend ist also nicht die Möglichkeit der freien assoziativen Bewegung in der Intertextualität, die den Hypertext Recht ausmacht, sondern der zum Teil informelle, zum Teil aber auch sehr formelle Code, der ihn strukturiert und mit dem der Nutzer auch arbeitet. Das Entscheidende an den »Gebrauchsbei­ spielen« und an den Links, die wir in einem Gesetzeskommentar suchen, sind deshalb nicht die unterschiedlichen Wortverwendungs­ möglichkeiten an sich, sondern die Informationen, mit denen sie »annotiert« sind.803 Der eigenen Auffassung und den »Links« werden Orientierungscodes beigefügt: unstr., h. L., h. M., a. A., st.Rspr. Die Vgl. http://www.duden.de/ueber_duden/wie-kommt-ein-wort-in-den-duden. Im Hinblick auf diese wertende Verlinkung erhält die Intertextualität dann auch ihren die Wortbedeutung deutlich stärker verengenden und reglementierenden Cha­ 802

803

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IV. Wortbedeutung – Rechtsbegriff, Hypertext und Rechtsermittlung

entscheidende Wertung ergibt sich nicht zuletzt aus der Information, von welchem Gericht das »Gebrauchsbeispiel« stammt. Denn weitge­ hend unabhängig von dem Streit um die Einordnung des Richterrechts in die traditionelle Rechtsquellenlehre folgt die Praxis in ihrem Wer­ tungscode, mit dem sie sich an Präjudizien hält, der Hierarchie der »richterlichen Rechtsquelle«. Die Mechanismen, die unter dem Gesichtspunkt der Einheitlich­ keit der Rechtsprechung beschrieben wurden,804 bestimmen also auch in spezifischer Weise die Struktur des Hypertextes Recht. Die Texte, die den Gebrauch von Rechtsbegriffen belegen, und die Texte, die die Bedeutung von Rechtsbegriffen festlegen, sind im »Hypertext Recht« in einem institutionell bestimmten Gefüge aufeinander bezogen. Diese Beziehung ist nicht nur linear, sondern selbstreferentiell; ein Gericht (Senat), das seine Rechtsprechung fortführt, weiterentwickelt oder ändert, tut das (soweit es nach üblichem professionellen Stan­ dard arbeitet) in der Regel immer im Selbstbezug auf die eigene Rechtsprechung oder andere Texte des rechtlichen Hypertextes und nicht »aus dem Off«. Der Hypertext Recht ist damit das eine entschei­ dende Moment für die semantische Stabilität von Rechtsbegriffen und damit auch die eine Voraussetzung für die Kohärenz des Rechts. Das andere liegt im Systemischen des Rechts. Der »Hypertext Recht« ist, wie gesagt, dadurch gekennzeichnet, dass er die Links nicht zur freien Wahl stellt, sondern durch einen Code reglementiert und begrenzt. Das Systemische des Rechts führt darüber hinaus zu einer weiteren Beschränkung semantischer Vari­ anz. Rechtliche Systeme begrenzen die Zahl wählbarer Knoten und Verlinkungen – also wählbarer Bedeutungsvarianten – inhaltlich noch viel entscheidender und nachhaltiger als die genannten Codes. Das gilt, wie sich im folgenden Kapitel 18 zeigen wird, insbesondere dann, wenn die Systeme dogmatische Qualität haben. Begriffe wie »Versuch«, »Vertrag« oder »Verwaltungsakt« sind in ihren jeweili­ gen Systemen so stabil festgelegt, dass sie ohne Umgestaltung des Systems selbst kaum geändert werden können. Wenn es zu Verän­ derungen kommt, dann sind es meist nur Modifikationen durch ergänzende Rechtsfiguren, wie etwa die des »faktischen Vertrages« oder die des »Abwägungsgebotes« als spezifisches Zwischenglied zwischen Ermessen und Beurteilungsspielraum. rakter; die Akzentuierung bei M. Morlok 2004, S. 129 ff. ist hier deutlich zurückhal­ tender. 804 Kap. 8: 1. Kohärenzthese.

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

V. Die »Wortlautgrenze« In den vorausgehenden Abschnitten haben wir uns auf das Problem konzentriert, auf welche Weise trotz aller semantischen Offenheit eine für das Recht unhintergehbar notwendige semantische Stabilität hergestellt werden kann. Die Frage, ob sich dem Wortlaut eines Gesetzes überhaupt Grenzen für die Auslegung entnehmen lassen und, wenn ja, welche, blieb offen. Diese Frage, am besten bezeichnet als Frage nach der semantischen Grenze, ist, wie leicht einsichtig, nicht identisch mit der nach der semantischen Bedeutung. Für den Umgang mit vagen Begriffen haben H.-J. Koch und H. Rüßmann das oben dargestellte Dreiteilungsmodell entwickelt805; sie unterscheiden zwischen den sogenannten »neutralen Kandidaten« und den Gegen­ ständen, die unzweifelhaft unter den Begriff fallen (so genannte »positive Kandidaten«), sowie den Gegenständen, auf die der Begriff ebenso unzweifelhaft nicht anzuwenden ist (sogenannte »negative Kandidaten«). Dieses Modell konkretisiert, worum es bei der »Wort­ lautgrenze« geht: die negativen Kandidaten. Die Diskussion um die »Wortlautgrenze« ist in der aktuellen Auseinandersetzung um Semantik und Methode zu einem der zentra­ len Streitpunkte geworden.806 Während etwa die Rechtsprechung des BVerfG ganz selbstverständlich von einer solchen Grenze ausgeht,807 handelt es sich aus sprachphilosophischer und linguistischer Sicht bei der »Wortlautgrenze« um einen ungeeigneten Maßstab: Der Wort­ laut könne die Rechtsanwendung nicht begrenzen. Die Bedeutung einer Norm sei kein vor der Rechtsanwendung feststehender Maß­ stab.808 Für die einen ist eine empirische Ermittlung von Bedeutungen unmöglich,809 während der Linguist D. Busse etwa meint, »daß es (unterhalb der Objektivitätsfixiertheit juristischer Gesetzesinterpre­ ten) schon so etwas wie eine empirische Feststellbarkeit von Bedeu­ Kap. 16 III. 3. b. aa. Zu dieser Diskussion vgl. einerseits M. Klatt 2004 und Ders. 2005, S. 343 ff. m. N.; anderseits R. Christensen 2005 und 2010; Kudlich/Christensen 2007; siehe auch Jestaedt 2012; S. 59 f. 807 BVerfGE 92, 1–25 – juris Rn. 46: »Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maß­ gebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation«. 808 R. Christensen 2005, S. 14. 809 So die Beschreibung der Position Christensens durch M. Klatt 2005, S. 348 f. 805

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V. Die »Wortlautgrenze«

tungen gibt«.810 – Auch die nachfolgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es »so etwas wie« semantische Grenzen gibt und dass sich Kriterien entwickeln lassen, um Überschreitungen solcher Grenzen festzustellen. Zunächst zu einem grundsätzlichen Gegenargument: Das immer wieder verwendete Sprachspielargument trägt die grundsätzliche sprachphilosophische Kritik der Methodenskeptiker nicht. Denn es steht, wie gezeigt, nicht nur für semantische Offenheit, sondern auch für sprachliche Verwendungsregeln. Gerade eine Gebrauchstheorie der Sprache ist ohne einen hoch wirksamen Konventionalismus811 in der Bedeutungsfeststellung nicht denkbar. Von ihm gehen die Sprachnutzer ja auch mit aller Selbstverständlichkeit aus. Ohne die in der Regel begründete Erwartung, dass der Andere versteht, was ich mit einem theoretischen Text sagen will, in meinem Brief oder meiner Mail schreibe, und dass die entscheidenden Punkte, um die es den Parteien geht, in einem Vertrag auch hinreichend sprachlich fixiert werden können – welchen Sinn sollte dieses Tun sonst haben? Für unsere rechtsmethodischen Überlegungen können wir von den bisherigen Darlegungen zum Problem der semantischen Stabili­ tät ausgehen. Sie zeigen bereits dreierlei: 1. 2. 3.

Der Rechtsstreit als semantischer Kampf ums Recht wird durch semantische Grenzziehungen entschieden (z. B.: Fügt sich ein Bauvorhaben nach § 34 BauGB ein?). Die Grenzziehung muss regelhaft sein, baut also auf Verwen­ dungsregeln auf, und sofern diese variant sind, ist das Rechtssys­ tem darauf angelegt, Begriffsfeststellungen zu stabilisieren. Auf der Ebene des Urteilens macht die semantische Grenzzie­ hung das »Kerngeschäft« aus; auf der Ebene der Rechtsmittel (und auch der Rechtswissenschaft) ist eine Auseinandersetzung mit definitorischen Argumenten unabdingbar, wenn mit rationa­ len Kriterien überprüft werden soll, ob sich der Richter innerhalb seiner Entscheidungsgrenzen gehalten hat.

D. Busse 1989, S. 124. M. Klatt stützt seine »analytische Rekonstruktion semantischer Grenzen« auf die normative Pragmatik R. Brandoms, die sprachphilosophisch derzeit wohl am stärksten diskutierte Variante des Konventionalismus; dazu näher M. Klatt 2004, S. 349 ff. m. w. N. – Kritisch Kudlich/Christensen 2007.

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Es ist im Wesentlichen die im 3. Punkt angesprochene Perspektive, unter der wir in diesem Abschnitt die Frage der »Wortlautgrenze« zu erörtern haben. Semantische Grenzen sind nicht nur eine »unver­ zichtbare Grundlage der juristischen Methodik«812. Sie sind auch not­ wendig, um dem speziellen Gesetzesvorbehalt des Art. 103 Abs. 2 GG und dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt des Art. 20 Abs. 3 GG über­ haupt eine juristische Kontur geben zu können. Erst wenn deren ver­ fassungsrechtliche Vorgaben hinreichend konkretisiert sind, kann auch hinreichend bestimmt werden, ob der Begriff der »Wortlaut­ grenze« diese Funktion angesichts des linguistischen und sprachphi­ losophischen Diskussionsstandes auch einlösen kann (2. und 3.). Zuvor sind jedoch einige Klarstellungen angezeigt (1.).

1. Notwendige Differenzierungen Der Terminus von der »Wortlautgrenze« gibt zu Missverständnissen Anlass.813 Es geht vor allem nicht um das einzelne Wort. Wie nach den vorstehenden Darlegungen zur juristischen Semantik nicht zwei­ felhaft sein kann, kommt es für die festzustellende Wortbedeutung auf die Bedeutung an, die aus dem Kontext zu ermitteln ist; »Kontext« dabei nicht nur verstanden als Kontext des Satzes, sondern als der Kontext, den der Jurist insgesamt bei der Wortauslegung zugrunde zu legen hat.814 Schließlich bleibt das Missverständnis auszuräumen, das Abstellen auf die »Wortlautgrenze« bedeute die »These, dass der Wortlaut die Grenze der Auslegung markiere«.815 Zu Recht weist M. Klatt darauf hin, dass eine solche Sperrwirkung für die meisten Rechtsgebiete gerade nicht gegeben ist.816 Ob sie besteht, ist wiederum in erster Linie eine Frage konkreter verfassungsrechtlicher Vorgaben für den jeweiligen Normbereich. – Wenn gleichwohl der Terminus der »Wortlautgrenze« beibehalten und nicht durch den präziseren der »semantischen Grenze« ersetzt wird, dann weil er sich M. Klatt 2005, S. 345 ff. Vgl. dazu und zum Folgenden M. Klatt 2005, S. 344. 814 Also auch Systematik, Terminologie und Gesetzesmaterialien – zu den Materia­ lien näher Kap. 20 IV. 815 So M. Jestaedt 2012, S. 59. 816 M. Klatt 2005, S. 344. 812

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V. Die »Wortlautgrenze«

als Schlagwort für die Problemstellung eingebürgert hat und so auch von der Rechtsprechung verwandt wird.817 In der Sache ist klarzustellen, dass die Feststellungen der Wort­ bedeutung und der »Wortlautgrenze« unterschiedliche Operationen sind und auch unterschiedliche zeitliche Dimensionen haben. Spra­ che ist vom Gebrauch abhängig und verändert sich mit ihm. Sie ist ein Fließgeschehen. Im Bereich des allgemeinen Sprachgebrauchs entstehen Wortverwendungsregeln weitgehend nach dem Muster des Marktes als »invisible-hand Phänomen« (III. 3.). Auch für die rechtliche Bedeutung, d. h. die juristischen Wortverwendungsregeln, gilt, dass sie sich aus dem Gebrauch ergeben – aus dem Gebrauch der Norm von Fall zu Fall, in einer Kette von Entscheidungen. Aber ergibt sich aus diesem Gebrauch bereits etwas zur »Wortlautgrenze«? Der Richter, der »seinen« Fall zu entscheiden hat und sich über die anzuwendenden Verwendungsregeln klar werden muss (z. B. hin­ sichtlich des »Einfügens« in § 34 BauGB), steht in einer solchen Kette. Die herkömmliche »Auslegung« erweist sich aus dieser Sicht als Auf­ gabe, den »Gebrauch« in der Rechtssprache zu ermitteln. Und an die­ ser Stelle bedeutet methodisches Arbeiten nichts anderes, als sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob man sich mit seinem Verständnis noch im Rahmen des bisherigen Gebrauchs hält oder stattdessen eine abweichende, evtl. auch neue Verwendungsregel zugrunde legt. – Doch man kann mit diesem Beispiel sicher nicht sagen, dass immer dann, wenn der Richter eine abweichende Verwendungsregel gebraucht, auch die Wortlautgrenze überschritten ist. Welcher Art muss dann aber eine solche Abweichung sein? Eine Abweichung von der h. M.? Eine neue Verwendungsregel, die sich aber auf die Entste­ hungsgeschichte stützen kann? Ein Rückgriff auf einen Sprachge­ brauch der Alltagssprache? Kann sich ein Gericht in diesem Fall auch dann auf den »möglichen Wortsinn« berufen, wenn der Gesetzgeber (nach der Entstehungsgeschichte) eindeutig einen fachlichen Termi­ nus benutzt hat, dem umgangssprachlich oder mit Verwendungsre­ geln aus anderen theoretischen Ansätzen nicht beizukommen ist Vgl. etwa aus 2014: BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2014 – KRB 47/13 –, juris; OVG Lüneburg, Urteil vom 30. April 2014 – 1 KN 110/12 –, juris, NuR 2014, 568–571 (Bebauungsplan); BVerwG, Urteil vom 27. März 2014 – 2 C 2/13 –, juris Rn. 15, DRiZ 2014, 346–347: »Eine Auslegung, die […] dieses Tatbestandsmerkmal ignoriert, würde die Wortlautgrenze überschreiten und sich damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen« – mit Hinweis auf BVerfGE 119, 247, 259 und BVerfGE 128, 193, 209. f. 817

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

(Beispiel. »volkswirtschaftlich besonders förderungswürdig«)? – Fra­ gen, die deutlich machen, dass die Skepsis gegenüber dem Kriterium der »Wortlautgrenze« gute Gründe hat und die Bestimmung von Grenzen nur über die Funktion gelingen kann, die die Verfassung dem Gesetzeswortlaut zuweist. Insbesondere in Art. 103 Abs. 2 GG wird die Funktion einer solchen Grenzziehung gesehen. Um das Problem der »Wortlautgrenze« im Zusammenhang klären zu können, muss die verfassungsrechtliche Bedeutung dieser Bestimmung für die Metho­ denlehre deshalb auch vorab geklärt werden und nicht erst im Rahmen des Kapitels 20 über die verfassungsrechtlichen Vorgaben.

2. Art. 103 Abs. 2 GG Während die Fruchtbarkeit der allgemeinen These, »Methodenfragen sind Verfassungsfragen«818, erst noch zu erweisen ist, liegt die Rele­ vanz des Art. 103 Abs. 2 GG (»Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.«) für die Methodik auf der Hand. In Gestalt des Bestimmt­ heitsgebotes und des Rückwirkungsverbotes enthält die Bestimmung nicht nur Handlungsanweisungen an den Gesetzgeber. Mit dem Grundsatz »nullum crimen sine lege stricta« statuiert sie zugleich auch eine wesentliche Handlungsbeschränkung für den Richter.819 Wie andere Gesetze sind auch Strafgesetze auslegungsbedürftig und es gelten die üblichen Auslegungsregeln. Durch Art. 103 Abs. 2 werden jedoch die Konkretisierungstechniken im Umgang mit dem Gesetz, die dem Richter sonst zur Verfügung stehen – insbesondere seine Kompetenz zur Rechtsanpassung und zur Rechtsfortbildung –, rechtsgrundsätzlich eingeschränkt. Er verbietet dem Richter jede strafbegründende oder strafverschärfende Auslegung, mit der der Norminhalt überschritten wird, insbesondere also jede Form einer Analogie. Die Grundpositionen sind hier kaum streitig und die Recht­ sprechung des BVerfG ist hier in den Grundsätzen seit langem ein­ deutig:

B. Rüthers 2006, S. 56. Sehr klar und grundsätzlich dazu Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grund­ gesetz, Art. 19 IV Rn. 224 ff. (Stand 2003). 818

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V. Die »Wortlautgrenze«

»Der Gesetzgeber und nicht der Richter ist zur Entscheidung über die Strafbarkeit berufen (vgl. BVerfGE 71, 108 ; 92, 1 ; 126, 170 ). Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, ob und in welchem Umfang ein bestimmtes Rechtsgut mit den Mitteln des Strafrechts verteidigt werden muss. Den Strafgerichten ist es verwehrt, seine Ent­ scheidungen zu korrigieren (vgl. BVerfGE 92, 1 ; 126, 170 ). Sie müssen in Fällen, die vom Wortlaut einer Strafnorm nicht mehr gedeckt sind, daher zum Freispruch gelangen und dürfen nicht korri­ gierend eingreifen (vgl. BVerfGE 64, 389 ; 126, 170 ). Aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit folgt ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Dabei ist ›Analogie‹ nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die – tatbestandsausweitend – über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht, wobei der Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen ist (vgl. BVerfGE 71, 108 ; 82, 236 ; 92, 1 ; 126, 170 ). Dement­ sprechend darf die Auslegung und Anwendung der Tatbestandsmerk­ male, mit denen der Gesetzgeber das unter Strafe gestellte Verhalten bezeichnet hat, nicht dazu führen, dass die dadurch bewirkte Eingren­ zung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird«.820

Das BVerfG bezeichnet in diesen Grundsätzen auch den für die Methode entscheidenden Punkt: den »Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation«.

a) »Wortlautgrenze« – Sprachwandel und Sprachebenen In seiner Kommentierung zu Art. 103 Abs. 2 spricht SchmidtAßmann plastisch vom „›Wortsinn‹ als Kompetenzgrenze«821 und es ist in der Tat nicht erkennbar, wie anders als über den »Wortsinn« oder die „ Wortlautgrenze« Kriterien für eine Grenzziehung zwischen dem »strengen Gesetzesvorbehalt« des Art. 103 Abs. 2 GG und dem all­ gemeinen Gesetzesvorbehalt des Art. 20 Abs. 3 GG zu ermitteln wären. Die Diskussion um die semantische Tauglichkeit der »Wort­ lautgrenze« steht also vor der Alternative, entweder eine Grundsatz­ norm des liberalen Rechtsstaates für obsolet zu erklären, weil ein ent­ scheidendes Unterscheidungskriterium aus rechtslinguistischer Sicht BVerfGE 130, 1–51 – juris Rn. 165. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 IV Rn. 225 (Stand 2003).

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

nicht einlösbar ist, oder trotz aller Schwierigkeiten den Versuch zu unternehmen, Kriterien für eine Bestimmung des »Wortsinns als Kompetenzgrenze« zu finden. (1.) Angesichts der Phänomene des Sprachwandels ist die erste Frage, auf die es bei dieser Feststellung der Wortbedeutung und der »Wortlautgrenze« ankommt, die nach dem Zeitpunkt, auf den abzu­ stellen ist – auf den der Entscheidung oder den der parlamentarischen Verabschiedung. Die Antwort ergibt sich aus der Doppelfunktion des Art. 103 Abs. 2 GG : Diese Grundnorm soll einerseits gewährleisten, dass »die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten im voraus vom Gesetzgeber … gefällt wird«822 (1.1). Sie liegt andererseits in dem rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten: »Jedermann soll vor­ hersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist«823 (1.2). (1.1) Weil das Grundgesetz die alleinige Kompetenz des Gesetzgebers gewährleisten will, zu bestimmen, was strafwürdiges Verhalten ist, enthält Art. 103 Abs. 2 GG »einen strengen Gesetzes­ vorbehalt, der es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung festzu­ legen.«824 Es ist allein der Gesetzgeber, der »mit der Entscheidung über strafwürdiges Verhalten die demokratisch legitimierte Verant­ wortung für eine Form hoheitlichen Handelns (übernimmt), die zu den intensivsten Eingriffen in die individuelle Freiheit zählt; es ist eine grundlegende Entscheidung, in welchem Umfang und in welchen Bereichen ein politisches Gemeinwesen gerade das Mittel des Straf­ rechts als Instrument sozialer Kontrolle einsetzt.«825 Für eine Ermitt­ lung der Wortlautgrenze ist deshalb als Ausgangspunkt festzuhalten: Entscheidend muss zunächst das »ursprüngliche(n) Sprachverständ­ nis des Gesetzgebers (Gesichtspunkt der parlamentarischen Verant­ wortung für die Strafdrohung, Parlamentsvorbehalt)«826 sein. Um auf die Beschreibung des Sprachwandels als »Fließgeschehen« zurückzu­ kommen, bedeutet dies, dass der für die Bedeutungsfeststellung rele­ vante Sprachgebrauch gleichsam auf den Stand »eingefroren« wird, der bei Erlass des Gesetzes bestand. Denn so wenig die Rechtspre­ 822 823 824 825 826

BVerfGE 92, 1–25 – juris Rn. 44: vgl. auch BVerfGE 126, 170–233 – juris Rn. 71. BVerfGE 126, 170, 197 f. – juris Rn. 70, m. w. N. BVerfGE 126, 170, 197 f. – juris Rn. 69. BVerfGE aaO. BVerfGK 16, 190–198 – juris Rn. 21.

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V. Die »Wortlautgrenze«

chung Straftatbestände strafverschärfend ändern darf, so wenig darf auch ein Sprachwandel dies bewirken. (1.2) Eine differenziertere Betrachtung erfordert der Sprachwan­ del unter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Schutzes des Normad­ ressaten. Dieser verlangt, dass ein Richter einen Sachverhalt weiter­ hin nur dann unter eine Strafnorm subsumieren darf, wenn dies »auch nach dem aktuellen Sprachverständnis der Normadressaten (Gesichtspunkt der Erkennbarkeit der Strafdrohung) möglich ist«.827 Wichtig ist dann allerdings auch die Differenzierung, die die 2. Kam­ mer des 2. Senats BVerfG anfügt: »Aus dem allgemeinen Grundsatz, dass es in Grenzfällen genügt, wenn das Risiko einer Bestrafung erkennbar ist, folgt allerdings auch, dass nicht jede Veränderung im tatsächlichen Sprachgebrauch sogleich die Erkennbarkeit der Straf­ drohung in Frage stellen kann. Vielmehr darf ein nach herkömmli­ chem Sprachgebrauch von einer Strafnorm erfasster Sachverhalt erst dann nicht mehr unter die Vorschrift subsumiert werden, wenn sich der ›neue‹ Sprachgebrauch so weit gefestigt und durchgesetzt hat, dass das Bewusstsein für das herkömmliche Verständnis nicht mehr als allgemein vorhanden vorausgesetzt werden kann. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Normadressaten, die den Sprachgebrauch des Gesetzes tatsächlich nicht mehr verstehen und daher bei einem Geset­ zesverstoß ohne Unrechtsbewusstsein handeln, im geltenden Straf­ recht durch die Vorschrift über den Verbotsirrtum (§ 17 StGB; vgl. Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 17 Rn. 8a zur Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums bei Sprachunkenntnis) ausreichend geschützt wer­ den.«828 (2.) Diese Ausführungen leiten unmittelbar zum zweiten Fra­ genkreis über. Neben dem Problem der zeitlichen Dimension stellt sich das Problem der Sprachebene: Ist der herkömmliche Sprachge­ brauch oder die fachsprachliche Bedeutung zu ermitteln? – Nimmt man die vom BVerfG immer wieder benutzte Formulierung, dass der Wortlaut »aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen ist«829, beim Wort, stellt das Gericht entscheidend auf den herkömmlichen Sprachgebrauch ab. Es verlangt aber nur, »dass die Normadressaten im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift BVerfGK aaO. BVerfGK aaO. 829 BVerfGE 126, 170, 197 f. – juris Rn. 71, mit Hinweis auf. BVerfGE 71, 108 ; 82, 236 ; 92, 1 ; 126, 170 . 827

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Kapitel 17: Rechtsprechung und Sprache

voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht«830. Wie oben beschrieben (I. 2. b), verweist das Gericht im Nachsatz oder jedenfalls im nächsten Absatz dann immer auch auf die Notwendig­ keit der Auslegung und Interpretation, also darauf, dass bei näherem Hinsehen die Wortverwendungsregel der Fachsprache zu entnehmen ist. Letztlich gilt dann doch nur der zitierte allgemeine Grundsatz, »dass es in Grenzfällen genügt, wenn das Risiko einer Bestrafung erkennbar ist«.831

b) Bestimmungskriterien Für die Bestimmung des »Wortsinns als Kompetenzgrenze« bedeuten diese Überlegungen zunächst, dass wir nicht entscheidend auf die Umgangssprache abstellen können. Die Frage, ob eine Inter­ pretation die Wortlautgrenze beachtet oder nicht beachtet hat, lässt sich insbesondere nicht davon abhängig machen, ob es in den allge­ meinen Wörterbüchern Belege für dieses Wortverständnis gibt oder nicht. Wörter und Begriffe beziehen ihre Bedeutung, wie immer wie­ der betont, aus dem Kontext, in dem sie stehen. Stehen sie im Kontext »Recht«, ist ihr Gehalt aus ihrem rechtlichen Zusammenhang heraus zu bestimmen. Und der Kontext, auf den es nach Art. 103 Abs. 2 GG ankommt, ist das »ursprüngliche(n) Sprachverständnis des Gesetzge­ bers«, das der Entscheidung über »Strafwürdigkeit oder Straffreiheit im demokratisch-parlamentarischen Willensbildungsprozess« zugrunde lag. Es handelt sich also nicht allein und nicht entscheidend um semantische Operationen, wenn von der »Wortlautgrenze« die Rede ist. Gemeint sein kann immer nur der »Wortsinn« in Abhän­ gigkeit von juristisch relevanten Kontexten (dem Normtext und den »Vortexten« der Entstehungsgeschichte). Nur in diesem Verständnis als juristische Operation kann die Wortlautgrenze auch ihre juris­ tisch-methodische Funktion erfüllen. Oder wie es die Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio in ihrer abweichenden Meinung zur Entscheidung »Rügeverkümmerung« formuliert haben: »Andernfalls wäre es für den Gesetzgeber angesichts der Schwierigkeit, textlich Eindeutigkeit herzustellen, nahezu unmöglich, sein Regelungsanlie­ BVerfGE 126, 170, 197 f. – juris Rn. 71; Hervorhebung d. Verf. Für BVerfGE 126, 170, 197 f. – juris Rn. 75 »trägt dies der Unvermeidbarkeit von Randunschärfen Rechnung«.

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V. Die »Wortlautgrenze«

gen gegenüber der Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum durchzusetzen.«832 Für die praktische Handhabung bedeutet dies ins­ besondere, dass die Eindeutigkeit der im Wege der Auslegung gewon­ nenen gesetzgeberischen Grundentscheidung nicht notwendig dadurch relativiert wird, »dass der Wortlaut der einschlägigen Norm auch andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet, soweit diese Deutun­ gen offensichtlich eher fern liegen oder von der ganz überwiegenden Praxis zu keinem Zeitpunkt ernsthaft erwogen worden sind«.833 Weil es in erster Linie um eine juristische und nicht um eine semantische Operation geht, hat es das BVerfG in seiner »Sitzblo­ ckade III«-Entscheidung deshalb auch mit dem Satz bewenden las­ sen, dass der Begriff der Gewalt »im allgemeinen Sprachgebrauch mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird«, ohne dem weiter nachzugehen, und dann entscheidend darauf abgestellt, dass der Begriff »im Zusammenhang des Normgefüges verstanden werden« muss.834 Kriterium war also nicht die Bedeutung des einzelnen Wor­ tes »Gewalt«, sondern der Kontext, der dadurch gekennzeichnet ist, dass über das Merkmal der »Nötigung« hinaus mit den Begriffen »Gewalt« und »Drohung« zusätzlich die Nötigungsmittel als Voraus­ setzungen normiert sind, die in der Interpretation auch ihr eigenes Gewicht beanspruchen.835 Für die Grenzziehung ist aber nicht nur der Kontext maßgebend, der sich aus dem Normgefüge ergibt. Da es entsprechend der Ratio des Art. 103 Abs. 2 GG – die Entscheidung über den Inhalt von Straf­ normen hat allein der Gesetzgeber zu treffen – bei der Interpretation wesentlich auf das »ursprüngliche(n) Sprachverständnis des Gesetzge­ bers« ankommt, kann auch kein Kompetenzverstoß vorliegen, wenn eine Auslegung auf dieses Sprachverständnis gestützt werden kann. – Zu prüfen bleibt dann nur, ob die Auslegung dem Sprachverständnis der Normadressaten noch angemessen ist. Ausgeschlossen ist jedoch eine Argumentation, die sich darauf beruft, dass Auslegung und Anwendung der Strafnorm auf ein in der Rechtsprechung seit langem gefestigtes Verständnis eines Tatbe­ standsmerkmals oder der Norm insgesamt beruhen836, wenn sie auf 832 833 834 835 836

BVerfGE 122, 248–303 – juris Rn. 100. BVerfGE 122, 248 aaO. BVerfGE 92, 1–25 – juris Rn. 56. Zur näheren Begründung vgl. Müller/Christensen 2004, Rn. 327 ff. Vgl. BVerfGE 126, 170 – juris Rn. 82.

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eine dynamische Ausweitung eines Straftatbestandes hinausläuft.837 Können Begriffsverwendungen am Anfang der Kette nicht an ein »ursprüngliche(s) Sprachverständnis des Gesetzgebers« anknüpfen, so genügen sie dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitserfordernis auch dann nicht, »wenn sie durch eine gefestigte Rechtsprechung eine Auslegung erfahren haben, die dem Normadressaten hinreichend verdeutlicht, was die Bestimmung strafrechtlich verbietet«.838 Art. 103 Abs. 2 GG ist eben nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Voraussehbarkeit zu sehen, sondern auch unter dem der alleinigen Kompetenz des Gesetzgebers.

3. Art. 20 Abs. 3 GG und die »Wortlautgrenze« Im Rahmen des allgemeinen Gesetzesvorbehalts, den Art. 20 Abs. 3 GG statuiert (»Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ord­ nung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.«), gibt es eine »Wortlautgrenze« nicht in glei­ cher Weise als Kompetenzgrenze wie bei Strafnormen. Die Rechts­ fortbildung ist im Rechtsprechungsauftrag der Gerichte eingeschlos­ sen.839 Dynamische Ausweitungen gesetzlicher Tatbestände und Rechtsetzung via Analogie bilden kein grundsätzliches Problem. Ein »Weihnachtsmann« kann, salopp formuliert, im Sinne des Gesetzes einem »Schokoladenosterhasen« durchaus gleichgestellt werden. Gleichwohl vermittelt sich Gesetzesbindung zunächst über den Text; anders ist die Regelbindung heute nicht zu denken. Es ist der in einem höchst formalisierten Verfahren festgestellte Text, in dem sich der Geltungsanspruch des Gesetzes manifestiert.840 Zwar markiert der »mögliche Wortsinn des Gesetzes« nicht mehr »die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation«, aber es gilt auch für den Bereich des Art. 20 Abs. 3 der Satz: »Da Gegenstand der Ausle­ gung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 103 Abs. II Rn. 46 (2. Aufl. 2008); Wortsinn und »anerkannte Rechtsprechung« sind keine gleichrangigen Erkenntnisquellen, SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 103 II Rn. 229 (Stand 1992). 838 So die abweichende Meinung in der »Sitzblockade III«-Entscheidung, BVerfGE 92, 1–25. – juris Rn. 79. 839 Näher Kap. 20. 840 Zum Grundgedanken vgl. U. Volkmann 2013, S. 300 f. 837

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kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium.«841 Die sich aus dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt ergebende Gesetzesbindung verlangt von dem Richter, dass er methodisch mit dem Gesetz umgeht – sonst handelt er willkürlich.842 Und der wesentlich erste Schritt in der methodischen Bewertung der rechtlichen Ausgangshypothese ist es, sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob man sich mit seinem Text­ verständnis noch im Rahmen des juristischen Sprachgebrauchs hält, d. h. sich noch im Bereich des »Hypertextes Recht« bewegt. Setzt sich der Richter hier über den Wortlaut hinweg, muss er für die weitere Argumentation gute Gründe haben, um seine Auslegung so abzusi­ chern, dass er sich nicht im Ergebnis zu Recht mit dem Vorwurf kon­ frontiert sieht, er habe die gesetzliche Regelung überspielt, weil sie ihm nicht gepasst habe. Es sind vor allem zwei Fallgruppen, in denen sich diese allge­ meinen Überlegungen auch verfassungsrechtlich konkreter fassen und erläutern lassen und die ohne den Gesichtspunkt der »Wortlaut­ grenze« methodisch nicht einmal greifbar wären. Sowohl die Grenzen »verfassungskonformer« und »europarechtskonformer« Ausle­ gung als auch die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung lassen sich nur bestimmen, wenn methodisch sinnvoll auch über den Gesetzes­ text und die Grenzen, die sein Wortlaut der Interpretation setzt, diskutiert werden kann.843 Mit diesen verfassungsrechtlichen Gren­ zen werden wir uns in Kapitel 20 ausführlich auseinanderzusetzen haben. Festzuhalten ist bereits in diesem Kapitel aber die prinzipielle Notwendigkeit und auch Möglichkeit, in der juristischen Argumen­ tation mit einer »Wortlautgrenze« zu arbeiten. Dass es dabei nicht um einen Wortsinn »an sich« gehen kann, sondern nur um einen »Wortsinn« in Abhängigkeit von juristisch relevanten Kontexten, insbesondere den »Vortexten« der Entstehungsgeschichte, ist bereits gesagt worden.844 Nicht zu bestreiten ist auch, dass es hier keine strenge Exaktheit geben kann, Randunschärfen also bleiben.845 Zu BVerfGE 92, 1–25 – juris Rn. 46. Das ist, wie die zunehmende Zahl von entsprechenden Entscheidungen des BVerfG zeigt, nicht nur eine theoretische Schlussfolgerung. 843 Zu den methodischen Grenzen der verfassungskonformen Auslegung vgl. BVerfGE 119, 247–292, Rn. 92 ff., st.Rspr.; zu denen der Rechtsfortbildung BVerfG, B. v. 19.05.2015 – 2 BvR 1170/14 –, m. N., juris Rn. 51 ff. 844 Vgl. auch M. Klatt 2005, S. 345 ff. 845 Bleiben müssen, wie die Exkurse zu Wittgenstein – Kap. 4 II. und in diesem Kap. – gezeigt haben. 841

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diskutieren ist aber, ob die Interpretation eines Gesetzestextes mit einem Wortverständnis operiert, das – bezogen auf den Kontext des Regelungszusammenhanges und auch seine Vor-Texte – eindeutig außerhalb des bisherigen Sprachgebrauchs liegt. Der prinzipielle Ein­ wand, dass gleichwohl eine Grenze zwischen einer möglichen und einer durch den Sprachgebrauch nicht mehr gedeckten, sondern höchst kreativen Interpretation sinnvoll nicht zu ziehen sei, würde letztlich jede Diskussion um Interpretation und Methode zu einem freien Spiel frei flottierender Argumentationen machen.

4. Zur Veranschaulichung: BAGE 137, 275–291 (sachgrundlose Befristung) Um diese Feststellungen nicht im Abstrakten zu belassen, sei im Fol­ genden ausführlicher ein Urteil des BAG vom 06. April 2011 zur zeitlichen Beschränkung des Vorbeschäftigungsverbots in § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG846 besprochen, an dem sich anschaulich darstellen lässt, dass es eine »Wortlautgrenze« gibt und wie man mit ihr methodisch nicht umgehen sollte: Das BAG kommt bei der Auslegung dieser Vor­ schrift zu dem Ergebnis: »Eine Vorbeschäftigung iSv. § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG ist nicht gegeben, wenn das frühere Arbeitsverhältnis mehr als drei Jahre zurückliegt.«847 a. Zunächst zum Gesetzestext selbst: Während Satz 1 regelt, wie ein Arbeitsverhältnis ohne Sachgrund befristet werden kann, bestimmt Satz 2: »Eine Befristung nach Satz 1 ist nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbe­ fristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat.« Das BAG und die über­ wiegende Meinung in der Literatur hatten dazu bislang immer die Auffassung vertreten, dass Satz 2 keine zeitliche Begrenzung ent­ halte;848 auf den zeitlichen Abstand zwischen dem früheren Arbeits­ verhältnis und dem nunmehr ohne Sachgrund befristeten Arbeits­ verhältnis komme es damit grundsätzlich nicht an.849 Demgegenüber meinte das BAG nunmehr, der Wortlaut »gebietet zwingend kein Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge. BAGE 137, 275 – juris Rn. 13 – ausdrücklich gegen diese Entscheidung etwa LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Februar 2014 – 7 Sa 64/13 – juris. 848 BAG – juris – aaO. Rn. 14 mit Nachweisen. 849 BAGE 108, 269. 846 847

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bestimmtes Auslegungsergebnis«, der Bedeutungsgehalt des Tatbe­ standsmerkmals »bereits zuvor« sei nicht eindeutig. »In seiner zeit­ lich-inhaltlichen Dimension ist das Adverb ›bereits zuvor‹ […] meh­ reren Deutungen zugänglich.«850 Nun kann man sich bei temporalen adverbialen Bestimmungen mit dem BAG beliebig unterschiedliche Zusätze hinzudenken, wie etwa »jemals zuvor« bzw. »irgendwann zuvor«, »unmittelbar zuvor«. Diese Zusätze machen aber auch eine Technik deutlich, wie man mit dem Spiel, einen Text durch mögliche Zusätze zu ergänzen, Unein­ deutigkeit zu erzielen sucht. Hier fragt man sich, wo im Ergebnis ein Unterschied liegen soll, wenn das Gesetz statt »bereits zuvor« die Wendung »jemals zuvor« oder »irgendwann zuvor« benutzt hätte. Nur die Wendung »unmittelbar zuvor« hätte der Gesetzgeber ins Gesetz schreiben müssen, wenn das denn gewollt gewesen wäre. Dass diese Variante nicht gemeint sein konnte, wird vom Senat auch durch­ aus erkannt, wenn argumentiert wird: »Der Umstand, dass sich zu § 14 Abs. 3 Satz 1 TzBfG – in der seit dem 1. Mai 2007 geltenden Fassung – die Formulierung ›unmittelbar vor Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses‹ findet, spricht zwar dagegen, die Worte ›bereits zuvor‹ in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG im Sinne von ›unmittelbar zuvor‹ zu verstehen. Er gebietet jedoch kein Verständnis, wonach ›bereits zuvor‹ gleichbedeutend mit ›jemals zuvor‹ sei.«851 – Aber was spricht dagegen, das Gesetz zunächst unmittelbar beim Wort zu nehmen? Die anderen ins Spiel gebrachten Varianten können demgegenüber zunächst jedenfalls nur als Spielmaterial zu Verdunklungszwecken verstanden werden. Gleichwohl sind zeitliche Beschränkungen denkbar, aber sie begründen als rein abstrakte, aus der Weite der Sprachwelt herbeige­ dachte Möglichkeiten keine konkrete semantische Unklarheit. Dazu bedarf es konkreter Anknüpfungspunkte aus der Systematik, den Kontexten und den Vor-Texten der Norm. Aber solche gibt es nicht. Typisch ist die Argumentation des Senats aus der gesetzessystemati­ schen Textvergleichung. Zwar spreche die Textgeschichte dafür, „§ 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG zeitlich unbegrenzt zu verstehen«852 ; es wird jedoch sogleich angefügt: »Zwingend ist dies aber nicht.«853 Ohne 850 851 852 853

BAG aaO. Rn. 17. AaO. AaO. Rn. 18. AaO. Rn. 18.

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eine solche Einschränkung räumt der Senat allerdings ein: die »Geset­ zesgeschichte des TzBfG spricht dafür, das Verbot der Vorbeschäfti­ gung in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG zeitlich unbeschränkt zu verste­ hen.«854 Und die Materialien sind hier in der Tat eindeutig, wenn der Gesetzestext wie folgt begründet wird: »Die erleichterte Befristung eines Arbeitsvertrages ist künftig nur bei einer Neueinstellung zuläs­ sig, d. h. bei der erstmaligen Beschäftigung eines Arbeitnehmers durch einen Arbeitgeber. Bei der nach neuem Recht nur einmaligen Möglichkeit der Befristung ohne Sachgrund wird der Arbeitgeber veranlasst, den Arbeitnehmer entweder unbefristet weiter zu beschäf­ tigen oder bei weiter bestehendem nur vorübergehendem Arbeits­ kräftebedarf einen anderen Arbeitnehmer befristet einzustellen.«855 b. Um ein Fazit zu ziehen: Nicht die Art, wie das BAG eine unliebsame Entstehungsgeschichte beiseiteschiebt856 und ein plasti­ sches Beispiel gibt, wie man mit der objektiv-teleologischen Ausle­ gung, auf die das Gericht sein Ergebnis stützt857 , nicht umgehen darf858 , war zu thematisieren. Vielmehr kam es darauf an, die Grenzen deutlich zu machen, die dem Richter bei dem Umgang mit dem Wort­ laut gesetzt sind. Zunächst: Die »Wortlautgrenze« verlangt nicht, das Wort in seiner unmittelbaren, üblichen, selbstverständlichen, nahe­ liegenden Bedeutung zu verstehen. Auch wenn der Wortsinn »bei unbefangener Bewertung« des Textes »fach- und umgangssprachlich […] eindeutig« erscheint,859 kann er in Zweifel gezogen und durch einen anderen ersetzt werden. Diese Zweifel können auch in einem freien Wortspiel generiert werden, wie es das BAG praktizierte. Es geht aber methodisch nicht an, diese Bedeutung dann als die gegebene und richtige zu setzen und im Gegenzug zu verlangen, dass AaO. Rn. 19. BT-Drucks. 14/4374 S. 14, auch aaO. Rn. 23 wiedergegeben. 856 AaO. Rn. 19. 857 AaO. Rn. 20 ff. 858 Man formuliere den Gesetzeszweck so, dass man alle anderen Auslegungsele­ mente, die dem gewünschten Ergebnis entgegenstehen, überspielen kann. Näher dazu Kap 20 IV. Hier wird der Zweck vom BAG darin gesehen, zu verhindern, dass eine sachgrundlose Befristung zu »Befristungsketten« bzw. »Kettenverträgen« miss­ braucht werden kann. Überspielt wird damit die aaO Rn. 23 ausdrücklich zitierte Stelle: »Die erleichterte Befristung [...] ist künftig nur bei einer Neueinstellung, bei der erstmaligen Beschäftigung eines Arbeitnehmers durch einen Arbeitgeber« zuläs­ sig. 859 LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Februar 2014 – 7 Sa 64/13,- juris Rn. 19. 854 855

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die selbst eingespielten Zweifel durch »eindeutige« Gegenbeweise ausgeräumt werden. Die Argumentationslast muss derjenige tragen, der behauptet, dass das nach dem üblichen Wortgebrauch Gesagte hier konkret nicht das Gemeinte ist. Insofern hat die Argumentation des BAG schon im Ansatz sehr viel mehr mit »Wortlautakrobatik« zu tun als mit »Ludwig Wittgensteins Erkenntnis, dass die Bedeutung von Wörtern abhängt von den ›Sprachspielen‹, in denen sie verwendet werden«.860 Erinnern wir uns an die Antwort, die Wittgenstein auf die Frage gab, wie Sprache Intersubjektivität herstellen soll: »Man sagt mir: ›Du verstehst doch diesen Ausdruck? Nun also, – in der Bedeutung, die du kennst, gebrauche auch ich ihn‹.«861 Das ist eben die Bedeutung, die »bei unbefangener Bewertung« des Textes »fachund umgangssprachlich« zunächst »eindeutig« erscheint, hier aber nicht nur »zunächst«: Aufgrund der Vor-Texte, der oben zitierten Stelle aus der Gesetzesbegründung, war auch das Gemeinte klar: »bereits zuvor« konnte nur unbefristet verstanden werden. Das BAG hat sich mithin über die semantische Grenze, die mit der Norm gesetzt war, ebenso hinweggesetzt wie über den gesetzgeberischen Willen.862

860 W. Linsenmaier 2012, S. 380 in einer Rechtfertigung der kritisierten Senatsent­ scheidung, die unter seinem Vorsitz getroffen wurde. 861 PU § 117. – Siehe oben II. 3. 862 Soweit der Senat in der Regelung eine Verletzung des Art. 12 GG sah, hätte er also vorlegen müssen. In diesem Sinne auch etwa: Clemens Höpfner NZA 2011, 893–899; Bastian-Peter Stenslik, Ralf Heine: Sachgrundlose Befristung trotz Vorbeschäfti­ gung?, DStR 2011, 2202–2205; Thomas Lakies: Verfassungswidrige Rechtsprechung zur Erleichterung sachgrundloser Befristung, AuR 2011, 190–192.

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Die Abhängigkeit der Methodenlehre von den jeweiligen zeittypi­ schen theoretischen und rechtsphilosophischen Vorstellungen, auf denen sie aufbaut, erschließt sich, wie wir gesehen haben, für den Zusammenhang Methode – Recht – Sprache erst dann, wenn man den Paradigmenwechsel in der Sprachphilosophie nachvollzo­ gen hat (die Stichworte waren: »linguistic turn«, »sprachanalytische Wende«). Für den Zusammenhang Methode Recht – System lag diese Abhängigkeit dagegen stets deutlicher zu Tage. Die Methoden­ lehre hat sie selbst immer wieder ins Zentrum ihrer Überlegungen gestellt. Paradigmatisch sind die Probleme dieses Zusammenhangs im Positivismus und in der Topik diskutiert worden. Um die Not­ wendigkeit eines veränderten Systemdenkens deutlich zu machen, soll in diesem Kontext eingangs die Funktion des Systemgedankens im Positivismus, in der Topik und in der Grundrechtsdiskussion (»Wertsystem«) skizziert werden (I.). Auch wenn Recht heute nicht mehr als axiomatisch-deduktives System vorstellbar ist, so kann doch eine Methodik des Rechts nicht ohne eine Vorstellung von System, jedenfalls Systematik gedacht werden. Erst wenn es gelingt, die wesentlichen Elemente juristischen Systemdenkens, nämlich juristi­ sche Theorien und Dogmatik, genauer zu fassen (II.), können wir auch auf das Problem des Zusammenhangs von semantischer Stabilität und System eingehen (III.), das im vorangegangenen Kapitel noch offen bleiben musste. Thesen zum methodischen Umgang mit juris­ tischer Dogmatik schließen das Kapitel ab (IV.).

I. Paradigmen des Systemdenkens: Positivismus – Topik – Wertsystem Für den Positivismus bildete das System die rechtstheoretische Grundlage der Methode; für die Topik war genau dieser nicht mehr akzeptable Kern der Grund, diesen Ansatz zu »dekonstruieren« und eine Methodik gegen den Systemgedanken zu entwerfen. Beide Posi­

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tionen folgten dabei philosophischen Zeitströmungen und werden, weil diese uns heute weitgehend fremd sind, nur mit Blick auf diese philosophischen Hintergründe verständlich. Ein Systemdenken ist immer im Spiel, wenn es um die metho­ dische Organisation und Darstellung von Wissen geht; in diesem Sinne ist die Frage des »äußeren Systems« für die juristische Methode auch immer ein Thema geblieben863. Der philosophische Systembe­ griff, an den Begriffsjurisprudenz und Gesetzespositivismus anschlie­ ßen, zielt jedoch auf mehr als ein bloßes Systematisieren; er zielt auf die Einheit und Totalität des Erkennbaren selbst.864 Hegel hat diesen Zusammenhang von System, Wissenschaftlichkeit und Ganzheit in § 14 seiner »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« mit folgenden – oft zitierten – Sätzen beschrieben: »Ein Philosophieren ohne System kann nichts Wissenschaftliches sein; außerdem, daß sol­ ches Philosophieren für sich mehr eine subjektive Sinnesart aus­ drückt, ist es seinem Inhalte nach zufällig. Ein Inhalt hat allein als Moment des Ganzen seine Rechtfertigung, außer demselben aber eine unbegründete Voraussetzung oder subjektive Gewißheit; viele philosophische Schriften beschränken sich darauf, auf solche Weise nur Gesinnungen und Meinungen auszusprechen.«

1. Die Begriffsjurisprudenz – Paradigma 1 Die Idee eines reinen Begriffssystems beherrschte nicht nur die Philo­ sophie, sondern als das Paradigma von Wissenschaft auch die Rechts­ wissenschaft. Prägend wurde es für die historische Rechtsschule. Bereits Savignys Marburger Methodenlehre von 1802/03 beruht in ihrer theoretischen Grundkonzeption auf der Wissenschaftstheorie der zeitgenössischen idealistischen Philosophie.865 Nicht anders sein großes dogmatisches Werk, sein »System des heutigen Römischen Rechts«, dessen 1. Band 1840 erschien.866 Einen ersten Kulminationspunkt erreichte dieses Paradigma in der Begriffsjurisprudenz. Formuliert wurde deren rechtstheoreti­ Vgl. C.-W. Canaris 1969, S. 19. K. Steinbacher, Art. »System/Systemtheorie«, Enzyklopädie (2. Aufl.), Bd. 3, S. 2669. 865 W. Wilhelm 1969, S. 123 ff. 866 W. Wilhelm 1969, S. 126 f. 863

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sche Konzeption vor allem durch Rudolf von Jhering (1818–1892)867 und Carl Friedrich von Gerber (1823–1891).868 Zur Veranschauli­ chung der »begriffsjuristischen Systemtheorie« sei hier aus dem Programm zitiert, das C. F. v. Gerber 1865 in seinen Grundzügen für das Staatsrecht formulierte: »Die Literatur des deutschen Staatsrechts hat eine Reihe von Werken aufzuzeigen, welchen nach verschiedenen Richtungen volle Anerken­ nung gebührt. Wenn ich gleichwohl der Ansicht bin, dass die wissen­ schaftliche Dogmatik dieser Lehre noch einer weiteren Ausbildung fähig und bedürftig sei, so glaube ich mit dieser Ansicht keineswegs vereinzelt zu sein. Ich denke mir, dass eine Förderung besonders nach folgenden Gesichtspunkten möglich ist. Zunächst besteht unläugbar das Bedürfniss einer schärferen und correcteren Präcisirung der dog­ matischen Grundbegriffe. Ein Theil unserer Schriftsteller scheint die Aufgabe der rechtlichen Bestimmung der durch unsere modernen Verfassungen gegebenen Begriffe nicht sowohl als eine juristische, denn als eine staatsphilosophische oder politische anzusehen; […] Sodann aber scheint mir, was freilich mit jenem ersten Punkte aufs Innigste zusammenhängt, ein dringendes Bedürfniss die Aufstellung eines wissenschaftlichen Systems zu sein, in welchem sich die einzelnen Gestaltungen als die Entwickelung eines einheitlichen Grundgedan­ kens darstellen. Erst durch Begründung eines solchen Systems, wel­ ches das eigenthümliche Wesen unseres modernen Verfassungsstaats zum anschaulichen Gesammtausdrucke brächte und die rechtlichen Verbindungen aller einzelnen Erscheinungen klar stellte, würde nach meinem Dafürhalten das deutsche Staatsrecht seine wissenschaftliche Selbständigkeit erlangen und die Grundlage sicherer juristischer Deduc­ tion gegeben sein.«869

Savigny hatte im Kampf um den »Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft«870 gegen die Kodifikationsidee die Autono­ mie der Rechtswissenschaft gesetzt871 – Autonomie nicht nur gegen­ über dem Gesetzgeber, sondern auch gegenüber anderen Wissen­ schaftsdisziplinen.872 Entsprechend konnte der »Rechtspositivismus« – dessen entscheidende Texte nach 1848 und vor der Reichsgründung 867 868 869 870 871 872

H. Coing 1969, S. 149 ff. W. Wilhelm 1958, S. 88 ff. – zu Jhering und Gerber. Gerber 1865, S. VII f. – Vorrede. Savigny 1814 in seiner berühmten Streitschrift gegen Thibaut. B. Lahusen 2013, S. 88 ff. W. Wilhelm 1958, S. 35 f.; B. Lahusen 2013, S. 91 ff.

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publiziert wurden – eine theoretische Rechtseinheit ohne einheitli­ chen Staat, ohne Gesetz und Gesetzgeber schaffen. Konstitutiv waren der axiomatisch verstandene Systembegriff und die damit verbundene Vorstellung, dass das Begriffssystem »eine Ordnung widerspiegelt, die mit dem Wesen des Rechts verknüpft ist«.873 – So sind denn auch in der zitierten Passage die entscheidenden Implikationen und Kon­ sequenzen dieses Positivismus angesprochen: Das Postulat der rein rechtlichen Betrachtung, also die Ablösung des Rechts von seinen kon­ kreten historischen, politischen, sozialen und ideologischen Voraus­ setzungen.874 »Rein rechtlich« konnte und sollte auf dieser Grundlage auch die juristische Konstruktion und die »sichere juristische Deduc­ tion« sein.

2. Der Gesetzespositivismus – Paradigma 2 Nach der Reichsgründung setzte sich die politisch im 19. Jahrhundert immer latente und in der juristischen Theorie zunächst nur antizi­ pierte Forderung nach Rechtseinheit auch als Rechtsetzungspraxis durch. So kam es zu einer spezifischen Verbindung der Kodifikations­ idee mit dem Positivismus – ein Zusammenhang, der sich nicht nur über seine geistesgeschichtlichen Hintergründe erschließt, sondern auch seine ganz konkreten Gründe hatte. Mit F. Wieackers Worten: »Die Justizgesetze des Bismarckreichs sind zwar meist nicht von Gelehrten oder nicht von ihnen allein redigiert worden, aber von hohen Richtern und Ministerialbeamten, die durch die Schule der Pandektenwissenschaft gegangen waren und deren Wertvorstellun­ gen in sich trugen, wenn auch ihr praktischer Sachverstand viel, oft entscheidend, zum Gelingen beitrug. Auch für sie blieben die Methoden und Postulate dieser Wissenschaft maßgebend: das wis­ senschaftliche System und der juristische Begriff, die Lückenlosigkeit der geschriebenen Rechtsordnung, die Bindung des Richters an die wissenschaftlichen Methoden und die politische Neutralisierung der Rechtspflege durch diese Wissenschaftlichkeit.«875 Zur Charakterisierung des Paradigmas »Gesetzespositivis­ mus« möchte ich aber nicht auf ein Beispiel aus der rechtstheoreti­ 873 874 875

H. Coing 1969, S. 153. Konkret zu Gerber vgl. W. Wilhelm 1958, S. 101 f. F. Wieacker 1967, S. 459 f.

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I. Paradigmen des Systemdenkens: Positivismus – Topik – Wertsystem

schen Literatur zurückgreifen, sondern auf einen Text Max Webers. Zu verstehen ist er als soziologischer Blick auf das Recht, aber nicht als Beschreibung rechtlicher Praxis, sondern als idealtypische Skizze einer rationalen Rechtsordnung, die, so sein Bezugspunkt, »unseren heutigen juristischen Denkgepflogenheiten«876 entspricht: »Wenn von ›Recht‹, ›Rechtsordnung‹, ›Rechtssatz‹ die Rede ist«, heißt es bei M. Weber einleitend zu dem Abschnitt »Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung«, »so muß besonders streng auf die Unterschei­ dung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise geachtet wer­ den.«877 Aus juristischer Sichtweise gelten für die Systematisierung des Rechts878 folgende Charakteristika: »Die juristische, genauer: die rechtsdogmatische, Betrachtung stellt sich die Aufgabe: Sätze, deren Inhalt sich als eine Ordnung darstellt, welche für das Verhalten eines irgendwie bezeichneten Kreises von Menschen maßgebend sein soll, auf ihren richtigen Sinn und das heißt: auf die Tatbestände, welche ihr und die Art, wie sie ihr unterliegen, zu untersuchen. Dabei verfährt sie dergestalt, daß sie die verschiedenen einzelnen Sätze jener Art, ausgehend von ihrer unbezweifelten empirischen Geltung, ihren logisch richtigen Sinn dergestalt zu bestimmen trachtet, daß sie dadurch in ein logisch in sich widerspruchsloses System gebracht werden. Dies System ist die ›Rechtsordnung‹ im juristischen Sinn des Wortes.«879 Und in der »Rechtssoziologie«: »Nach unserer heutigen Denkgewohnheit bedeutet sie: die Inbeziehungsetzung aller durch Analyse gewonnenen Rechtssätze derart, daß sie untereinander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses und, vor allem, prinzi­ piell lückenloses System von Regeln bilden, welches also beansprucht: daß alle denkbaren Tatbestände unter eine seiner Normen müssen logisch subsumiert werden können, widrigenfalls ihre Ordnung der wesentlichen Garantie entbehre.«880

3. Die Topik – Paradigma 3 Die bisherige Beschreibung von Begriffsjurisprudenz und Gesetzes­ positivismus als Paradigmen und Denkformen des Rechts vermitteln M. Weber 1964, S. 504. M. Weber 1964, S. 233. 878 »Sie ist in jeder Form ein Spätprodukt. Das urwüchsige ›Recht‹ kennt sie nicht«, M. Weber 1964, S. 506. 879 M. Weber 1964, S. 233. 880 M. Weber 1964, S. 506. 876

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– wie es solche Skizzen zwangsläufig tun – nur verkürzte Bilder. Es fehlen die Nuancen, Differenzierungen und Antithesen – die zeitge­ nössische Kritik, die es an dem Systemdenken immer gegeben hat. Zum Verständnis der weiteren Entwicklung ist jedoch wenigstens ein kurzer Blick auf deren Positionen und Gegenentwürfe notwendig; Gedanken, die dann auch die Oberhand über das Systemdenken gewonnen haben:

a) Antipositivistische Positionen In der Philosophie nach Hegel verliert der Glaube des Idealismus an das System als notwendige erkenntnisleitende Denkform sehr schnell seine zentrale Stellung. Es überwiegen stattdessen die Positionen der Skepsis, Kritik und Ablehnung. Genannt seien Novalis und F. Schlegel, die beißende Kritik Nietzsches (»Wille zum System« als ein »Mangel an Rechtschaffenheit«), N. Hartmanns Unterscheidung von »Systemdenken« und »Problemdenken« (auf das dann Th. Viehweg rekurrieren wird), Heideggers grundlegende Ablehnung und Gada­ mers Kritik an dem a-historischen Ansatz. Die Aufzählung ließe sich beliebig vertiefen und von Adorno (der seine Philosophie als »Antisystem« charakterisierte) bis zum Dekonstruktivismus Derri­ das verlängern.881 Von der »Freirechtsbewegung«882, bis zu den dekonstruktivis­ tischen Varianten der Rechtsrhetorik spiegeln und spiegelten sich Rechtstheorie und Methodendiskussionen auch in diesen philoso­ phischen Positionen und bezogen aus ihnen ihre entscheidenden Ansätze. Larenz nennt zur Beschreibung der Hintergründe der Frei­ rechtsschule zutreffend Schopenhauer, Nietzsche und Bergsons Lebensphilosophie883. Das, was wir »Die Moderne« nennen, ist in dieser Zeit vor dem Ersten Weltkrieg entstanden und die Freirechts­ schule ist insofern »nur« der juristische Aspekt dieser Umbruchszeit. 881 Statt Einzelnachweise vgl. die Nachweise im Art. »System« HWPh Bd. 10, S. 846 ff. und im Art. »System/Systemtheorie« in der Enzyklopädie (2. Aufl.), S. 1671 ff. 882 Vgl. insbesondere den auf dem Ersten Deutschen Soziologentag 1910 gehaltenen Vortrag von H. Kantorowicz »Rechtswissenschaft und Soziologie«, abgedr. In: Ders. 1962, S. 117–144; E. Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, Vor­ trag, Leipzig 1903, in: Ehrlich: Leben und Recht, 1967 S. 170–202. 883 K. Larenz 1991, S. 59 ff.; zu Bergson vgl. auch A. Kaufmann 2004, S. 121.

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Mit einer Stoßrichtung gegen den Primat der Logik im Positivismus war auch die »Interessenjurisprudenz« angetreten. Anknüpfend an »Jherings Wendung zu einer pragmatischen Jurisprudenz«884 hatte Ph. Heck die entscheidenden Grundgedanken schon vor 1914 formuliert.885 Statt um Begriffe und System ging es der Interes­ senjurisprudenz um die »Rechtsfindung auf realer Grundlage«.886 Nicht die »Rechtsidee« – im Sinne der damaligen rechtsphilosophi­ schen Diskussion887 – und natürlich auch keine Wertordnung – im Sinne der heutigen Diskussion – bildeten die Fluchtpunkte, sondern das »Gesetz als Kraftdiagonale ringender Interessen«888. Der vom Gesetzgeber gefundene pluralistische Interessenausgleich889 wurde zum »springenden Punkt« der Auslegung; auf die Auslegungsmetho­ den bezogen stand erst hier die »subjektive Methode« zum ersten Mal im Zentrum der Strukturierung des Auslegungskanons.890 In der Rechtspraxis hatte sich die Interessentheorie erstaunlich schnell durchgesetzt – Fikentscher sprach von »ihrem Sieg in der Praxis«.891 Die Vorstellung des Positivismus, Rechtsgewinnung und Rechtsanwendung seien logische Deduktionen aus einem logischen System, war so wohl schon lange obsolet; jedenfalls war sie 1953, als Viehwegs Schrift »Topik und Jurisprudenz« in der 1. Auflage erschien, sicher nicht mehr herrschende Doktrin. Gleichwohl hat nach 1945 keine theoretische Schrift in der Methodenlehre eine so kontroverse und nachhaltige Grundlagendebatte ausgelöst wie Viehwegs schma­ les Bändchen. Diese Diskussion genauer nachzuzeichnen wird mehr als 60 Jahre später kaum noch zu einem aktuellen Erkenntnisgewinn führen. Weiterführend scheint aber eine Antwort auf die Frage nach den Gründen für diese Wirkung. Es sind wohl drei Hauptgründe, die sich als Antwort ausmachen lassen:

K. Larenz 1991, S. 49. In: Das Problem der Rechtsgewinnung. Tübingen 1912. 886 So ein Aufsatz von Müller-Erzbach von 1906, Ders. 1974, S. 36 ff. 887 Vgl. hierzu Binder, Neuere Strömungen in der Rechts- und Sozialphilosophie, in: Jahrbücher der Philosophie 1927, S. 242 ff., insbes. 252 ff. mit Hinweis auf Max Weber. 888 G. Ellscheidt 1974, S. 3. 889 Vgl. Ellscheidt a.a.O. 890 Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht kann nicht bereits Savigny für die »sub­ jektive Methode« in Anspruch genommen werden; die »Absicht des Gesetzgebers« war für ihn gerade kein anerkanntes Auslegungselement, näher Kap. 20 III. 1. 891 K. Larenz 1991, S. 58, Fn. 57; konkret am Beispiel der RG-Rspr. dargestellt von R. Müller-Erzbach 1974, S. 126 ff. 884 885

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1.

2. 3.

Für die Methodenlehre wurde mit dieser Schrift deutlich, wie unzureichend ihre bisherige theoretische Basis war; die Sicher­ heit des positivistischen Systems war weggebrochen und für eine tragfähige Erneuerung dieser Basis fehlten die Voraussetzungen. Der Methodendiskussion wurden neue Perspektiven gegeben; die Schrift wurde entscheidend für die Rhetorische Rechtstheorie der so genannten »Mainzer Schule«.892 Vor allem aber: Viehweg gab der Methodenlehre mit dem Begriff der »Topik« eine Formel an die Hand, auch alle diejenigen argumentativen Operationen als methodisch relevant in die juristische Argumentation integrieren zu können, die nicht mehr als logisch-deduktive Ableitungen zu qualifizieren waren.

Über die »Interessen« im Sinne der Interessentheorie und die »Werte« der sie ablösenden Wertungsjurisprudenz893 hinaus bekamen so alle Argumente und Abwägungen, die als Topoi im juristischen Diskurs akzeptiert wurden, ihren methodischen Ort. Gefunden war mit der »Topik« ein »Schleusenbegriff«, der die Methode und die juristische Argumentation nicht nur für neue Gesichtspunkte und Topoi der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion eröffnete. Sie kam auch der Vorliebe der Juristen für das Denken in geisteswissenschaftlichen Bahnen entgegen und bereitete in diesen Bahnen »zugleich den Boden für die Rezeption der philosophischen Hermeneutik«.894

b) »Topik und Jurisprudenz« – Theodor Viehweg Am prägnantesten (und interessantesten) wurde die Verbindung von Gadamers Hermeneutik und der Topik in den Schriften von J. Esser.895 Aber darauf soll es an dieser Stelle nicht ankommen; auch nicht auf die Wandlungen des Topik-Begriffs und seine unterschiedlichen Verwendungen in der Methodendiskussion.896 Im Zusammenhang 892 Zur Rhetorischen Rechtstheorie siehe zunächst die Beiträge von Viehweg 1995, S. 191 ff. Zur Übersicht: J. Lege 1999, S. 434 f.; anschaulich das Sonderheft Rechts­ rhetorik, »Das Enthymem«, Rechtstheorie 2011, Heft 4, S. 377–619. 893 Vgl. dazu einerseits Larenz 1991, S. 119 ff, andererseits D. Rennert, Die verdrängte Werttheorie und ihre Historisierung, Der Staat, Bd. 53 (2014), Heft 1: S. 31–59. 894 R. Dreier 1995, S. 155, 157. 895 Vgl. etwa J. Esser 1972, S. 154 ff.; allgemein zu dieser Verbindung M. Frommel 1981. 896 Siehe dazu etwa M. Kriele 1967, S. 137 m. N.

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unserer Überlegungen zum juristischen Systemdenken können wir uns auf die Lehre Viehwegs als Paradigma konzentrieren – und dies auch nur unter einer besonderen Fragestellung: Welche Rolle genau spielt der Systemgedanke in dieser Lehre? Und bietet die Topik eine hinreichende Grundlage entweder für den Verzicht auf den Systemgedanken oder doch Ansätze, um ihn fortzuentwickeln? Dazu zunächst einen zentralen Textausschnitt: »Wenn es nun aber richtig ist, daß die Topik die Techne des Pro­ blemdenkens ist (vgl. oben § 3. I), dann muß die Jurisprudenz als eine Techne, die einer Aporie dient, in den wesentlichen Punkten der Topik entsprechen. Folglich muß man an der Topik ablesen können, welche Struktur der Jurisprudenz zukommt. Wir versuchen dies zu tun und stellen demgemäß drei Erforder­ nisse auf: 1. 2. 3.

Die Gesamtstruktur der Jurisprudenz kann nur vom Problem bestimmt werden. Die Bestandteile der Jurisprudenz, ihre Begriffe und Sätze, müs­ sen in spezifischer Weise an das Problem gebunden bleiben und können daher nur vom Problem her verstanden werden. Die Begriffe und Sätze der Jurisprudenz können deshalb auch nur in eine Implikation gebracht werden, die an das Problem gebunden bleibt. Eine andersartige ist zu meiden.«897

Um das Systemkonzept, das hinter diesen Feststellungen steht, deut­ lich werden zu lassen, ist einmal der Grundgedanke herauszuarbeiten, auf dem Th. Viehwegs Theoriekonzept aufbaut und das er im unmit­ telbaren Anschluss an die zitierte Textstelle auch konkretisiert. Das soll nachfolgend unter e) geschehen. Für unsere paradigmatischen Überlegungen zum juristischen Systemdenken ist zunächst jedoch die negative Abgrenzung wichtig. Sie ergibt sich, wenn man der (1.) Grundthese: »Die Gesamtstruktur der Jurisprudenz kann nur vom Problem bestimmt werden«, als Ergänzung hinzufügt: und nicht aus einem axiomatisch-deduktiven System. Betrachtet werden »Topik und Axiomatik«898, »Problemdenken« und »Systemdenken« wesent­ lich als alternative Denkstile.899 Gegen die Topik steht für Viehweg eine »Rechtswissenschaft, welche die Szientifizierung der juristischen 897 898 899

Viehweg 1974, S. 97. Viehweg 1974, S. 81 ff. Viehweg 1974, S. 81 ff.

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Techne zu entwickeln wünscht«.900 Deren Programm wird von ihm so beschrieben: »Erforderlich wären: Eine strenge Axiomatisierung des gesamten Rechts verknüpft mit einem strikten Interpretationsverbot innerhalb des Systems, was am vollständigsten durch Kalkülisierung zu errei­ chen wäre; strenge und zwar lediglich am Rechtssystem (oder Rechts­ kalkül) orientierte Interpretationsvorschriften für den Sachverhalt; unbehinderte Zulässigkeit von Non-liquet-Entscheidungen; fortge­ setztes Eingreifen eines systematisch (oder kalkulatorisch) exakt arbeitenden Gesetzgebers, um neu auftauchende, zunächst unlösbare Fälle schließlich lösbar zu machen, ohne die logische Perfektion des Systems (oder Kalküls) zu stören. Nunmehr würden einmal festgesetzte Rechtsaxiome in der bis­ her vollkommensten Form logisch entfaltet werden können, womit der optimale Grad der eindeutigen Nachprüfbarkeit erreicht wäre. Das Verfahren more geometrico, um in der alten Ausdrucksweise zu sprechen, wäre jetzt erst auf unserem Gebiete vollendet.«901

c) Axiomatisches System vs. Topik – eine schiefe Alternative Viehweg berief sich für seinen axiomatischen Systembegriff nicht von Ungefähr auf Hilberts »Grundlagen der Geometrie« (1913).902 Mit Hilberts Namen, dem damaligen Mathematiker-Papst, ist die Forderung und der Glaube an die umfassende Axiomatisierung der Mathematik verbunden. Doch Hilberts Theorieansatz war schon 1931 durch Kurt Gödel widerlegt worden. Nach Gödel gibt es auch in starken widerspruchsfreien Systemen immer unbeweisbare Aussagen und selbst hinreichend starke widerspruchsfreie Systeme können ihre eigene Widerspruchsfreiheit nicht beweisen.903 Die Topik wird mithin als Antithese zu einem Systembegriff und einem Denkstil entwickelt, die in den 60er Jahren aus juristisch-praktischer Sicht bereits obsolet Viehweg 1974, S. 93. Viehweg 1974, S. 92 mit Verweis auf D. Hilbert: »[…] verdient doch zur endgül­ tigen Darstellung und völligen logischen Sicherung des Inhalts unserer Erkenntnis die axiomatische Methode den Vorzug.« 902 Viehweg 1974, S. 82, Fn. 2. 903 Als verständliche Erklärung der beiden Unvollständigkeitssätze von Gödel und seinen Implikationen sei auf D. R. Hofstadter 1987, S. 17 ff. und passim verwiesen. 900

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waren und für die es auch theoretisch keinen angemessenen »wissen­ schaftstheoretischen Standpunkt«904 mehr gab. In der Überzeichnung des Systembegriffs wird zwar einmal mehr deutlich, dass sich die Rechtsordnung nicht mehr als axiomatischdeduktives System konstruieren und denken lässt. Die Frage aber ist, ob mit der »überzeichneten Alternative«905 von »Problem- und Systemdenken« der Topik und dem Problemdenken nicht Schwierig­ keiten aufgebürdet werden, denen sie nicht Herr werden können. »Topik und Jurisprudenz« ist ein Text, den man als Theoretiker mit Begeisterung lesen kann, für den Praktiker lässt er aber mehr Fragen offen als er beantwortet. Methode verlangt nach Regeln und diese nach Kriterien für eine richtige oder falsche Handhabung: Mindestens müssen aber Beurteilungen wie »vertretbar« oder »so kann man das nicht machen« intersubjektiv vermittelbar begründet werden können. Eine Auswahl solch offener Fragen: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Wenn nicht »jede Frage, die anscheinend mehr als eine Antwort zuläßt«, auch eine »ernstzunehmende Frage« ist,906 wann ist eine Frage dann ernst zu nehmen? Wann ist ein Problem relevant? Nach welchen Kriterien ist ein Gesichtspunkt, der zu dem Prob­ lem einfällt, auch ein relevanter Topos? Ist eine gesetzliche Norm nur ein Topos unter anderen? Gibt es so etwas wie eine Hierarchie der Topoi? Wenn das Problemdenken »situativ«907 ist, ist dann auch jede Gerichtsentscheidung in gleicher Weise situativ?

Rechtsprechung ist Urteilen nach Regeln: Die rechtliche Beurteilung darf also nie nur oder auch nur im Wesentlichen situativ sein. Die gestellten Fragen sind deshalb notwendig Fragen nach Regeln und einem systematischen Zusammenhang. Will die Topik nicht nur als Anti-Methodik verstanden werden, kann sie also letztlich nicht ohne einen positiv ausformulierten Systemgedanken auskommen.

Viehweg 1974, S. 81. L. Bornscheuer 1976, S. 142. 906 Viehweg 1974, S. 32. 907 Viehweg 1974, S. 111; zur Bedeutung der situativen Sichtweise für »Topik und Pragmatik« vgl. A. Launhardt 2004, S. 136 ff. 904

905

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d) Topoikataloge und System Man hat Viehweg oft »Systemfeindlichkeit« vorgeworfen908 – aus topischer Sicht allerdings zu Unrecht.909 Und bezieht man seine Veröffentlichungen im Anschluss an »Topik und Jurisprudenz«, insbesondere zur Dogmatik, mit ein, zeigt sich910, dass Viehweg auch klassische Elemente des juristischen Systemdenkens aufnimmt. Gleichwohl ist der Streit um die »Systemfeindlichkeit« der Topik nicht von ungefähr entstanden. Denn ein eindeutiges, in sich schlüssiges und für die praktische Anwendung taugliches Systemkonzept wurde von ihm nicht formuliert.911 Die Topoikataloge können diese Aufgabe nicht erfüllen. Viehweg unterscheidet in seiner Analyse der Topik eine Topik erster Stufe von einer Topik zweiter Stufe. In der ersten Stufe werden »mehr oder weniger zufällige Gesichtspunkte in beliebiger Auswahl versuchsweise« aufgegriffen. »Man sucht auf diese Weise sachlich passende und ergiebige Prämissen, um Folgerungen ziehen zu kön­ nen, die uns etwas einleuchtend erschließen.« Die zweite Stufe besteht dann darin, diese Gesichtspunkte »in einem stets bereiten Repertoire von Gesichtspunkten« zu sammeln: »So entstehen Topoikataloge, und wir nennen ein Verfahren, das derartige Kataloge benutzt, Topik zweiter Stufe.912 Viehweg hat solche Kataloge nicht aufgestellt, um zu demons­ trieren, ob und wie man mit solchen Katalogen methodisch arbeiten kann. Es gibt aber einen solchen Katalog von G. Struck mit 64 Topoi. Er beginnt mit dem Grundsatz: »Lex posterior derogat legi priori«913, und schon dieser Topos lässt die Grundproblematik deutlich werden: Ein Richter, der sich auf diesen Grundsatz beruft, um jemand für eine Tat zu bestrafen, für die erst nach der Tatzeit eine Strafnorm geschaffen Vgl. etwa Canaris 1969, S. 135 ff.; Diederichsen, NJW 1966, 698 ff.; K. Larenz 1991, S. 167; Röhl/Röhl 2008, S. 446. 909 Ausführlich gegen den Vorwurf der »Systemfeindlichkeit« A. Launhardt 2004, S. 77 ff. 910 Vgl. hier insb. den Aufsatz »Systemprobleme in Rechtsdogmatik und Rechtsfor­ schung«, Viehweg 1995, S. 97 ff. 911 Wie insbesondere M. Frommel 1981, S. 220 ff., herausgearbeitet hat: Anders als etwa J. Esser hat Viehwegs begrifflich-systematisches Denken und Topik vor allem als Gegensatz verstanden, aber nicht den Versuch gemacht, beide Argumentationsweisen zu verbinden. 912 Viehweg 1974, S. 35 f. 913 G. Struck 1971, S. 20. 908

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wurde, spricht ein Fehlurteil. Der Grundsatz nulla poena sine lege ist in dem Katalog nicht enthalten, und würde man ihn finden, gäbe es keine Regel, welcher Grundsatz vorgeht. Beide Grundsätze sind nur historische Etiketten für verfassungsrechtliche Normzusammen­ hänge. Diese wiederum zeigen, dass die Kompetenz des Gesetzgebers, die mit dem Topos »Lex posterior derogat legi priori« etikettiert wird, durch die Verfassung vielfältig eingeschränkt ist. Stichworte sind etwa Vertrauensschutz, Bestandsschutz, Rückwirkungsverbot. Dazu haben Rechtsprechung und Lehre wieder Untergruppen gebildet, um daraus Zulässigkeit oder Unzulässigkeit ableiten zu können. Auch kleine Kommentare zum GG bieten hier eine Fülle von Material. Darauf kommt es aber konkret nicht an, sondern auf das Fazit: Selbst ein so scheinbar eindeutiger Topos wie der als Beispiel gewählte, gewinnt seine juristische Bedeutung nur aus dem Kontext anderer Grundsätze und Regeln, in den er konkret eingebettet ist. Systemdenken ist aber das Denken in und mit solchen Kontexten. Nun erkennt auch Viehweg: »Hat sich ein Katalog zulässiger Topoi gebildet, ergibt sich für die weitere Gedankenführung […] eine logische Bindung.« Aber, so die sofortige Einschränkung: Die »Ablei­ tungszusammenhänge […] müssen im Hinblick auf das Problem zu jeder Zeit unterbrochen werden können. Jedes Problemdenken ist bindungsscheu.«914 Diese These, Topik sei wesensmäßig »bindungs­ scheu«, provoziert natürlich geradezu die Schlussfolgerung, Topik sei keine Methode, sondern Anti-Methodik. Allerdings würde damit übersehen, dass für Viehweg das topische Denken durchaus nicht bin­ dungslos ist, es keineswegs »gänzlich auf Bindungen verzichten«915 kann. Die Frage ist allerdings, ob die »Ordnung (System im weiteren Sinne)«916, auf die Viehweg in verschiedenen Formulierungen immer wieder rekurriert, mehr ist als eine vormoderne metaphysische Mys­ tifikation.

e) System – Topik – Gerechtigkeit Viehweg bezieht sich zur Erläuterung seiner Vorstellungen zu dieser Ordnung ausführlich auf Fritz v. Hippels Schrift »Zur Gesetzmäßig­ 914 915 916

Viehweg 1974, S. 41. Viehweg aaO. Viehweg 1974, S. 99.

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keit juristischer Systembildung« von 1930 und betont hier insbe­ sondere: »Das Auffallendste an diesem Entwurf ist, daß die hier angestrebte Ordnung (System im weiteren Sinne) nicht mehr auf der Seite des positiven Rechts gesucht wird. Zum positiven Recht wird vielmehr ein Gegenstück gefunden, welches sich als Fragengefüge erweist. Es ist ein Problemzusammenhang, der durch die Gerechtig­ keitsfrage als Grundfrage zusammengehalten wird.«917 Entsprechend sieht Viehweg die »Gesamtstruktur der Jurisprudenz« auf die »Frage nach der gerechten Ordnung« als »deren Grundaporie« ausgerich­ tet.918 – Die Antworten auf die Frage, »was denn hier und jetzt gerecht sei«919, sind dann freilich sehr abstrakt: eine »dem Gerechtig­ keitserfordernis entsprechende, historische Ordnungswahl«920 oder eine Anerkennung der Topoi, die »von der Überzeugung getragen (wird), daß sich in den tradierten Texten wie überhaupt im Ordo der Welt etwas Immergültiges enthüllt«.921 Auch was »überhaupt als eine ernstzunehmende Frage erscheint«922, also für die topische Erörterung als Problem relevant ist, soll sich »aus einem immer schon vorhandenen Verständniszusammenhang«923 ergeben. Die »Topik« ist folglich denn auch »nicht zu verstehen, wenn man nicht die hier angedeutete Eingeschlossenheit in eine wie auch immer zu bestimmende Ordnung, die nicht als solche erfaßt wird, annimmt, gleichgültig, wie man sie im einzelnen gedanklich ausgestaltet.«924 – Erst dieser – sehr zeitbedingte – weltanschauliche Hintergrund925 macht dann auch die Aporie oder »Weglosigkeit« deutlich, in die der Ordogedanke mit seinen Vorverständnissen eine juristische Metho­ Viehweg 1974, S. 99. Viehweg 1974, S. 100. – »Aporie«, eigentlich die »Weglosigkeit«, zu verstehen als Unmöglichkeit, zu einer philosophischen Lösung zu kommen. »Aporetik« ent­ sprechend: »Verfahren, die Probleme als solche ohne Rücksicht auf ihre mögliche oder unmögliche Lösbarkeit zu untersuchen.« 919 Viehweg 1974, S. 97. 920 Viehweg 1974, S. 98. 921 Viehweg 1974, S. 76 mit Hinweis auf »etwa Hans Meyer, Geschichte der abend­ ländischen Weltanschauung, III. Bd. (1948). S. 1–35«. 922 Viehweg 1974, S. 32. 923 Viehweg 1974, S. 34. 924 Viehweg 1974, S. 34. 925 Dessen näheres Verhältnis zur Philosophischen Hermeneutik (Gadamer, ausge­ hend von Heidegger) und der Figur des »hermeneutischen Zirkels« hier offen bleiben muss. Zum Zusammenhang dieser Grundgedanken mit dem Thema »Gerechtigkeit« ausdrücklich A. Kaufmann 2004, S. 145 f. 917

918

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dik zwangsläufig führen muss. Vor allem zwei zentrale Kritikpunkte liegen auf der Hand: Erstens: Viehwegs Theoriekonzept basiert in einem wesentlichen Teil – seinem Systemkonzept – auf einem Vorverständnis, das auf einem Konsens über eine historisch-ontologische Ordnung aufbaut, die in einer pluralistischen Gesellschaft selbst als kontrafaktische Fik­ tion nicht mehr tragfähig ist. Es kann deshalb auch ein frei floatendes topisches Denken nicht systemisch einbinden, keine Kriterien für relevante und nicht relevante Topoi bereitstellen.926 Zweitens: Rechtsprechung ist keine Veranstaltung zur Beförde­ rung des Problemdenkens, sondern zur Lösung sozialer Konflikte: Sie ist funktional zwingend auf Stabilität und Verlässlichkeit der Rechts­ ordnung ausgelegt. Unzweifelhaft geht es auch um Gerechtigkeit. Aber diese kann nicht nach den Maßstäben des Problem- und Gerech­ tigkeitsverständnisses des einzelnen Richters gewährleistet sein. Die Entscheidung über das, was gerecht ist, ist eine Entscheidung, die in einem demokratischen Rechtsstaat zunächst nur im und vom Rechts­ system (Gesetzgebung und Rechtsprechung) getroffen werden kann. Das gilt jedenfalls dann, wenn man weder von einem charismatischen Zugang des jeweiligen Richters zur Gerechtigkeit (Archetypus: der Richter Salomon) noch von einem prästabilisierten Verständnis eines jeden Richters ausgeht, schon zu wissen, was »eigentlich« gerecht ist; auch wenn dieser darauf verwiesen wird, sie »im Ordo der Welt« zu suchen.

4. Wertsysteme – Paradigma 4 Wie man in der Topik von Topoikatalogen spricht, so spricht man im Verfassungsrecht von Grundrechtskatalogen. Anders als dort gibt es in der Grundrechtstheorie jedoch eine intensive, inzwischen fast unübersehbare Diskussion um den Systemcharakter dieses Katalo­ ges927. Für unsere paradigmatische Betrachtung des Systemdenkens ist diese Diskussion aber nicht um der Grundrechte willen von Inter­ esse, sondern weil sie beispielhaft zentrale Gesichtspunkte, Struktu­ ren und Funktionen der Systembildung deutlich macht, auf die dann unter II. näher einzugehen ist. Vgl. dazu auch die Kritik von P. Schwerdtner 1971, Rechtstheorie 2, 83. Zur Übersicht vgl. etwa H. Dreier, in: Dreier Bd. I., Vorb. vor Art. 1, Rn. 82. (3. Aufl. 2013). 926

927

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Das BVerfG hat insbesondere in seinen früheren und grundle­ genden Entscheidungen zur Grundrechtsdogmatik immer wieder mit dem Topos des »grundrechtlichen Wertsystems«928 gearbeitet und dabei herausgestellt, »daß die verfassungsmäßige Ordnung ein Sinn­ ganzes bildet, ein Widerstreit zwischen verfassungsrechtlich geschützten Belangen mithin nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grund­ legenden Wertsystems zu lösen ist.«929 Die grundlegende Position ist bereits im Lüth-Urteil formuliert: »Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei ent­ faltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung emp­ fangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstver­ ständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vor­ schrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.«930 Spätestens mit dem Lüth-Urteil vollzog das BVerfG eine radi­ kale Abkehr von der in der Weimarer Republik gängigen Grund­ rechtsinterpretation.931 Entsprechend scharf war die Kritik, die die Entscheidung zum Teil auslöste.932 Auch der Gebrauch des Topos vom »Wertsystem« ist vielfältig kritisiert worden; Isensee sprach von »Begriffswolke« und scheint damit einen entscheidenden Punkt zu treffen: Es ist nicht einfach, sich über das zu verständigen, was mit »Wertsystem« eigentlich und genau gemeint ist.

BVerfGE 7, 198 (205). BVerfGE 49, 24–70, Beschluss vom 1. August 1978 – 2 BvR 1013/77 – mit Hin­ weis auf BVerfGE 28, 243 (261); 30, 1 (19); 30, 173 (193); 34, 269 (287); 35, 202 (225), juris Rn. 106. 930 BVerfGE 7, 198 (205). 931 Grundrechte als Ausformung spezieller Gesetzesvorbehalte. Dem positivisti­ schen Denken entsprechend wurde in der ersten Phase der Weimarer Republik (1919– 1924) den Grundrechten meist sogar die Rechtssatzqualität abgesprochen. Zum Über­ blick vgl. Stolleis 1999, S. 110 ff. und konkret. R. Smend 1968, S. 119, 262. Smend, aaO. S. 265, entwickelte dagegen seine Position eines »Wertsystems«. Diese war dann ein wesentlicher Ausgangspunkt für die »Werttheorie« des BVerfG – vgl. dazu etwa Böckenförde 1976b, S. 232 ff.; H. Dreier 1993, S. 14 ff. m. w. N. 932 Prominent Forsthoff 1964, S. 147 ff. und Böckenförde 1976b, S. 233 ff. 928 929

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a) Zum Systembegriff Beginnen wir mit einer ersten Annäherung und dem Versuch, zunächst die allgemeinen Momente des in der Philosophie, Umgangsund Wissenschaftssprache mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen gebrauchten Wortes herauszustellen. Ein allgemeines Moment zielt darauf, einen Komplex von Teilen (Dinge, Begriffe, Erkenntnisse etc.) zu einer Einheit (einer »Ganzheit«) zusammenzufassen; zu einer Einheit, der dann auch eine besondere Struktur und Funk­ tion zugesprochen werden kann, die dieses System von anderen unterscheidet bzw. sie mit anderen vergleichbar macht. »System« ist insofern ein Begriff für eine Menge von Elementen, aus denen das »Zusammengesetzte« (systemata) – die Einheit – besteht und deren Systemeigenschaft entscheidend durch die Art, Kontinuität und Intensität der Relationen geprägt werden, die der Komplex von Elementen zueinander aufweist.933 Stellt man auf diese Relationen ab, lässt dies die wesentlichen Unterschiede zwischen dem (nur) aus Begriffen konstituierten »Rechtssystem« und dem »grundrechtlichen Wertsystem« deutlich werden: C. W. Canaris nahm für seine einflussreiche Monographie zum »Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz« die Bestim­ mung des Begriffs durch den Kantianer R. Eisler zum Ansatz für die eigene Begriffsumschreibung.934 R. Eisler sah das »System« als »Anordnung einer Mannigfaltigkeit von Erkenntnissen zu einem Wissensganzen, zu einem in sich gegliederten, innerlich-logisch ver­ bundenen Lehrgebäude, als möglichst getreues Korrelat zum realen System der Dinge, d. h. zu dem Ganzen von Beziehungen der Dinge untereinander, das wir annähernd im wissenschaftlichen Fortgange zu reconstruieren suchen«.935 Was Eisler hier formuliert, ist, wie oben schon konstatiert (I. 1.), die Idee einer Wissenschaft als eines reinen Begriffssystems.936

Umschreibung im Anschluss an die Begriffserläuterungen von K. Steinbacher, Enzyklopädie (2. Aufl.), Art. »System/Systemtheorie«, Bd. 3, S. 2668. 934 Canaris 1969, S. 11. 935 R. Eisler 1910, S. 1478 f. 936 Noch plastischer wird dies in der Funktionsbeschreibung des von Eisler 1910, S. 1478 f., zitierten Philosophen Chr. Sigwart: Die Systematik hat die Aufgabe, »die Totalität der in irgend einem Zeitpunkt erreichten Erkenntnisse als ein Ganzes dar­ zustellen, dessen Teile durchgängig in logischen Verhältnissen verknüpft sind«. 933

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Das Begriffssystem ist das zentrale Strukturelement des posi­ tivistischen Paradigmas. Es bedeutet eine hierarchische, bildlich oft als Pyramide dargestellte Struktur der Elemente. Diese Struktur ist stabil bis starr und sie erlaubt sichere logisch-deduktive Ableitungen und Einordnungen. – Wenn aus herkömmlicher Sicht von »Rechts­ system« oder »Rechtsordnung« die Rede ist, dann sind diese Elemente noch heute oft »irgendwie« mitgedacht.937 Inwieweit dieses Denken noch heute wenigstens Systemelemente zutreffend erfasst, wird unter II. und III. zu analysieren sein. Sicher dürfte jedoch sein, dass das, was das BVerfG das »grundrechtliche Wertsystem« nennt, mit den für das positivistische Rechtssystem charakteristischen Strukturelemen­ ten nicht beschrieben werden kann: Die Grundrechte bilden keine »Wertpyramide«, geschweige denn eine Begriffspyramide. Sie sind nicht »durchgängig in logischen Verhältnissen verknüpft«938. Die Rela­ tionen zwischen ihnen sind weder durch Rangfolge noch durch das System selbst vorgegeben. Sie erweisen sich vielmehr oft als höchst »fluid« und erlauben keine sichere Ableitung aus dem System.

b) Zum Sinngehalt des »grundrechtlichen Wertsystems« Als Zwischenergebnis ist also festzuhalten: Wenn zum einen von einem »grundrechtlichen Wertsystem« die Rede ist und zum anderen (positivistisch verstanden) von dem »Rechtssystem«, wird, was Ele­ mente, Relation der Elemente und damit die Struktur des Systems betrifft, ein unterschiedlicher Systembegriff verwandt. Die Struktur eines (komplexen) Systems, die nicht über die logischen Relationen ihrer Elemente (Begriffe) definiert ist, kann aber, wie wir sehen werden (c), nur über die theoretischen Kriterien und Muster bestimmt werden, nach denen die Elemente ausgewählt und einander zugeord­ net werden. Um die Struktur zu verstehen, ist zuvor jedoch nach der besonderen Funktion des »grundrechtlichen Wertsystems« zu fragen. Eine Antwort soll in drei Thesen gegeben werden: 1. Was gemeint ist, wenn das BVerfG von »Wertordnung«, »wertgebundener« Ordnung« oder eben von einem »grundrecht­ 937 Die Selbstverständlichkeit, mit der Canaris an die Definition Eislers anknüpft und für seine Vorstellungen eines »objektiven Systems« aus der Bedingung des »möglichst getreuen Korrelats« Folgerungen zieht (vgl. aaO. S. 13), mag hier als Beispiel ausrei­ chen. 938 So der zuvor zitierte Sigwart.

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lichen Wertsystem« spricht, erhellt sich am besten aus den Ord­ nungsvorstellungen, die damit ausgeschlossen werden sollen. Eine konkrete Gegenthese formulierte das Gericht schon im SRP-Urteil vom 23.10.1952 sehr nachdrücklich: Die Grundordnung ist »eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt.«939 Ausgeschlossen wird generell die Vorstellung einer wertneutralen Methodik und Rechtsermittlung. »Das Grundge­ setz will keine wertneutrale Ordnung sein, sondern hat in seinem Grundrechtsabschnitt objektive Grundentscheidungen getroffen, die für alle Bereiche des Rechts, also auch für das Zivilrecht, gelten. Keine bürgerlichrechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu den Prinzipien stehen, die in den Grundrechten zum Ausdruck kommen«.940 2. Die Basisannahme einer durch die Verfassung statuierten »wertgebundenen Ordnung« hat sowohl für die Grundrechtsinterpre­ tation als auch für das Recht als Rechtssystem tief greifende Konse­ quenzen. Dem Paradigma eines Rechtssystems als (reines) Begriffs­ system ist damit ebenso die Grundlage entzogen wie der Vorstellung einer wertfreien Rechtsordnung. Folgt man der Rechtsprechung des BVerfG, kann die Rechtsordnung nur noch als ein System gedacht werden, in dem Rechtsbegriffe und die Wertungen der Grundrechte systemisch miteinander korrelieren. Anders ausgedrückt: Das »Rechts­ system« oder, schlichter, die jeweiligen Rechtsgebiete werden auch durch die Grundrechte als »wertentscheidende Grundsatznormen« strukturiert. Fritz Werner brachte es für das Verwaltungsrecht auf die klassisch gewordene Formel vom Verwaltungsrecht als konkreti­ siertes Verfassungsrecht.941 3. Für die Grundrechte selbst heißt das einerseits, dass sie – ent­ gegen ihrem historisch-politischen Entstehungsgrund – nicht mehr wesentlich als spezielle Freiheitsverbürgungen mit je eigener Genese und Dogmatik verstanden werden können. Darüber hinaus dürfen sie auch nicht allein innerhalb des Kontextes des »grundrechtlichen Wertsystems« ausgelegt werden, sondern müssen im Gesamtkon­ text »der allgemeinen Werteordnung der Verfassung«942 verstanden BVerfGE 2, 1 (12), Hervorhebung durch Verf. BVerfGE 81, 242–263 – juris Rn. 46 – unter Hinweis auf das Lüth-Urteil, BVerfGE 7, 198 (205 f.), st.Rspr. 941 DVBl. 1959, S. 527 ff.; Fritz Werner war von 1958 bis 1969 Präsident des BVerwG. 942 BVerfGE 10, 59 (81). 939

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werden. Klassisches Beispiel ist die Bezugnahme im Lüth-Urteil auf das Demokratieprinzip.943 Allgemeiner formuliert: »Eine Verfas­ sungsvorschrift darf nicht allein aus ihrem Wortlaut heraus isoliert ausgelegt werden. Alle Verfassungsbestimmungen müssen vielmehr so ausgelegt werden, daß sie mit den elementaren Grundsätzen des Grundgesetzes und seiner Wertordnung vereinbar sind.«944

c) Das »Wertsystem« – die Schöpfung einer Grundrechtstheorie Mit dem Versuch, zu klären, was es im Kontext der Rechtsprechung des BVerfG bedeutet, wenn von »Werteordnung« und »Wertsystem« die Rede ist, ist zunächst nur die Funktion dieser Begriffe beschrieben. Mit der Beschreibung wurden unausgesprochen aber auch zentrale Momente der (keineswegs unumstrittenen) Grundrechtsdoktrin des Gerichts übernommen. Im Anschluss an H. Dreier können deren Grundaussagen auf folgende Nenner gebracht werden: »1. Die Bedeu­ tung der Grundrechte geht nicht in ihrer subjektiven, auf direkte Staatsabwehr gerichteten Dimension auf. 2. Grundrechte beanspru­ chen prinzipielle (nicht überall identische) Geltung in allen Rechts­ bereichen; einen grundrechtsfreien Rechtsraum kann es demnach nicht geben«.945 Hinzufügen ist als 3. Punkt: Kollisionen mit anderen Werten und grundrechtlich geschützten Bereichen anderer sind durch Abwägung zu lösen. Interpretationen sind immer auch theoriegeleitet, und Grund­ rechtsinterpretationen sind in besonderem Maße von der Grund­ rechtstheorie abhängig, die sie leiten und bestimmen. Dabei wird Grundrechtstheorie hier mit E.-W. Böckenförde verstanden als »eine systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grund­ rechte. Sie hat ihren Bezugspunkt (die systematische Orientierung) in aller Regel in einer bestimmten Staatsauffassung und/oder Ver­ fassungstheorie.«946 Böckenförde unterscheidet fünf solcher Grund­ rechtstheorien: die liberale oder bürgerlich-rechtsstaatliche Grund­ rechtstheorie, die institutionelle Grundrechtstheorie, die Werttheorie BVerfGE 7, 198–230 – das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung – »Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend.« 944 BVerfGE 30, 1 – juris Rn. 70. 945 H. Dreier 1993, S. 12. 946 E.-W. Böckenförde 1976b, S. 221 f. 943

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der Grundrechte, die demokratisch-funktionale und die sozialstaatli­ che Grundrechtstheorie.947 Sie haben – und auf diesen Punkt kommt es für unsere Überlegungen entscheidend an – alle eine anders »systematisch orientierte Auffassung« über Inhalt und Bedeutung der Grundrechte und alle eine unterschiedliche »systematische Ori­ entierung« in ihren verfassungstheoretischen Ansätzen. Zur Erläu­ terung ein Beispiel: Wenn die h. M. zur Weimarer Verfassung in den Grundrechten »vor allem Spezialisierungen des ohnehin selbst­ verständlichen Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung« sah, wie es R. Smend formulierte948, oder Grundrechte im Wesent­ lichen nur als punktuelle Abwehrrechte mit je eigener Genese und Dogmatik verstanden werden, wird sich »eine systematisch orientierte Auffassung« in einer Systematisierung des Grundrechtskataloges und einiger allgemeiner Lehrsätze erschöpfen. Hier von einem System zu sprechen, führt zu keinem zusätzlichen Gewinn. Die Interpretationen des BVerfG stellen die Grundrechte dage­ gen in einen dreifachen systemischen Zusammenhang: untereinan­ der, zur Gesamtordnung der Verfassung und als prägende Struktur­ elemente zur Rechtsordnung insgesamt. Wie diese Systemstruktur, zum einen bezogen auf die Grundrechte, zum anderen auf die Rechts­ ordnung insgesamt, konkret zu beschreiben ist, ist eine Diskussion in der Sache um die »richtige« Grundrechtstheorie. Um die geht es hier nicht, sondern um die Mechanismen der Systembildung. Und hier führen unsere Überlegungen zu dem Ergebnis: Es sind die Grundrechtstheorien, die die Mannigfaltigkeit der Grundrechte, ihrer Bezüge, ihrer Wert- und Begriffsinterpretationen zu einem je ihnen eigenen System fügen. Daraus ergibt sich aber auch eine allgemeine These: Ein System ist nicht vorgegeben. Es sind unsere theoretischen Perspektiven, aus denen heraus wir die Elemente eines Systems auswählen, zueinander in Relationen setzen und so zu einem System strukturieren. Noch abstrakter gesagt: Der Mechanismus der Systembildung ist ein Mechanismus der Theoriebildung. Im Zusammenhang des Themas »System und Dogmatik« (III.) werden wir auf diesen Gedanken zurückgreifen.

947 948

E.-W. Böckenförde 1976b, S. 224 ff. R. Smend 1968, S. 119, 262.

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5. System und Gerechtigkeit – ein Fazit Die vier dargestellten Paradigmen verdeutlichen, idealtypisch darge­ stellt, vier völlig unterschiedliche Ansätze und Formen des juristi­ schen Systemdenkens. Rechtstheorie und Methode formulieren so aber nicht nur vier unterschiedliche Denkformen, um die krude Mannigfaltigkeit des Rechts zu ordnen. Sie geben auch vier unter­ schiedliche Antworten auf die Frage nach dem »richtigen« Recht, noch allgemeiner: auf die »Gerechtigkeitsfrage«. Vernunftrecht, Naturrecht und Gerechtigkeit galten nicht umsonst lange Zeit und immer wieder als Synonyme. Ein Rechts­ system, das das Recht in einem logischen System auf eindeutige Begriffe bringt und deshalb auf die Frage, was rechtens ist, eindeu­ tige Antworten gibt – so die Vorstellung, die dieser Gleichstellung zugrunde lag –, ist per se vernünftig und schließt per se Willkür aus. Als Reaktion auf den Positivismus hat die Topik demgegenüber auf ein dualistisches Schema gesetzt: auf der einen Seite das positive Recht, auf der anderen die Gerechtigkeitsfrage. Das Systemdenken wurde so zum Gegenbild eines topischen (= gerechten) Umgangs mit dem Recht. Nahm doch die Topik für sich in Anspruch, die entscheidende »Frage, was denn hier und jetzt gerecht sei«949, allein über das Problemdenken beantworten zu können. Eine theoretisch hinreichende Analyse oder auch nur plausible Erklärung, wie sich in einer pluralistischen Gesellschaft und unter sich stets verändernden Umständen »aus einem immer schon vorhandenen Verständniszu­ sammenhang«950 konkrete und nachvollziehbare Maßstäbe für eine gerechte Entscheidung ergeben können, ist die Topik dagegen schuldig geblieben. – Wie gesagt, die »Frage, was denn hier und jetzt gerecht sei«, kann in einem demokratischen Rechtsstaat nur durch eine Entscheidung beantwortet werden, die im und vom Rechtssystem (Gesetzgebung und Rechtsprechung) getroffen wird. Betrachtet man das Verhältnis Positivismus – Topik dialektisch, kann man dann im Wertsystem eine Synthese sehen: Das »Rechtssystem« und die jeweiligen Rechtsgebiete werden durch die Grundrechte als »wertent­ scheidende Grundsatznormen« strukturiert. Die Grundrechte bilden

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Viehweg 1974, S. 97. Viehweg 1974, S. 34.

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so als »positiviertes Naturrecht«951 gleichsam die »Schnittstelle«, um Gerechtigkeitsfragen im Rechtssystem als Rechtsfragen diskutieren zu können. Diese Wertungen für die Rechtspraxis in Rechtsbegriffe und Handhabungsschemata zu transformieren, ist dann Aufgabe der Rechtsdogmatik – wie auch die Anpassung der Rechtsordnung an einen Wertungswandel deren Aufgabe ist.952

II. Juristisches Systemdenken – Elemente und Funktionen Diskutiert man heute das Problem Recht und System, ist eigentlich nicht mehr streitig, dass es hier einen Zusammenhang gibt. Wie gezeigt, folgt selbst für die Vertreter der Topik aus dem antithetischen Widerspruch gegen die Vorstellung eines axiomatisch-deduktiven Systems keine grundsätzliche Negation jedes Systemdenkens. Nicht, dass es im Recht Systeme gibt, ist also das Problem, sondern wie der Systemgedanke in Bezug auf das Recht zu verstehen ist. Und die Antwort darauf hängt, wie am Beispiel der Grundrechte gezeigt, entscheidend von der Art, der Kontinuität und der Intensität der Relationen ab, die der Komplex von Elementen aufweist, die den Charakter eines Systems – seine systemische Eigenheit – ausmachen. Einer systematischen Behandlung des juristischen Systemden­ kens entspricht es, zunächst seine Elemente (1.) und Funktionen (2.) zu beschreiben. Die Frage nach der Struktur und den Mechanis­ men der Systembildung leitet dann über zur Rolle, die Theorien und Dogmatik bei der Konstituierung von Systemen (III). und damit auch für die Methodik spielen (IV.). Aufbauend auf diesen Überlegungen wird es dann im folgenden Kapitel darum gehen, über kohärenz­ theoretische Überlegungen eine zeitgemäße Vorstellung für einen juristischen Systembegriff zu entwickeln.

1. Elemente eines juristischen Systems Bei der Zusammenstellung der in Betracht kommenden Elemente denkt man auf Anhieb als Erstes an die Rechts-Normen selbst. Um 951 H. Dreier, in: H. Dreier, Grundgesetz. Kommentar, Bd. I, Vorb. vor Art. 1, Rn. 69; vertiefend zur Gerechtigkeitsordnung U. Volkmann 2013, S. 41 ff. 952 Aus systemtheoretischer Sicht und grundsätzlich zu dieser Aufgabe von Dogma­ tik N. Luhmann 1974, S. 58 und Di Fabio 2012, S. 75 f.

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diese Normen dreht sich ja das Systemdenken der Juristen. Aber es sind nicht die Normen, die das System schaffen. Es ist der Betrachter des Normbestandes, der sie in ein System zu bringen sucht. Die Bildung von Systemen ist – wie in den erkenntnistheoretischen Überlegungen dargelegt – ein Grundvorgang der Interpretation, mit der wir eine Mannigfaltigkeit von Erkenntnissen zu einem mehr oder minder großen Rechtsbereich für uns in einen Zusammenhang brin­ gen. Dabei stehen zunächst nicht die Normen (als Gegenstände des systematischen Erfassens) im Vordergrund, sondern die Denkformen und Elemente, mit denen wir im Recht Systeme konstruieren oder jedenfalls rekonstruieren. Zu nennen sind: Rechtsbegriffe, Rechtsfi­ guren und Rechtsformen, Interessen, Werte und Prinzipien. Diese Formen und Begriffe sind es, mit denen Juristen die Wirklichkeit (die Realität, das »Leben« oder wie wir es auch immer formulieren wollen) zu erfassen suchen und juristisch bewerten. Sie sind notwendiges Handwerkszeug eines rechtsstaatlichen Umgangs mit dem Recht. »Jede Jurisprudenz operiert mit Begriffen, juristisches und begriffliches Denken ist gleichbedeutend«, meinte 1884 Jhering in seiner Kritik der »Begriffsjurisprudenz«.953 Sie geben dem Recht eine begriffliche Struktur und damit die Möglichkeit des Einordnens, der Differenzierung und des Ableitens, mit anderen Worten: sie machen das Recht systemfähig. Doch es bleibt zu bedenken: Diese Formen und Begriffe kommen nicht aus dem Nichts und sie sind auch weder durch eine »Natur der Sache«, »die« Vernunft oder »die« Rechtsidee vorgegeben. Hinter ihnen stehen Welt- und Men­ schenbilder, lange sozio-kulturelle Entwicklungen. Man braucht sich nur die Geschichte einiger rechtlicher Grundbegriffe wie Anspruch, Verwaltungsakt, Kausalität, Schuld, oder die Differenzierung von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft zu vergegenwärtigen, um sich klarzumachen, dass die Selbstverständlichkeit, mit der wir diese Begriffe heute gebrauchen, »nur« eine durch mehr oder minder lange rechtsdogmatische Tradition gefestigte Konvention ist.

a) Rechtsbegriffe, Rechtsfiguren und Rechtsformen Schon über die genauere Fixierung der Begriffe Rechtsbegriff, Rechts­ figur und Rechtsform wird man lange Diskussionen führen können. Für unsere Zwecke reichen indessen weitgehend Erläuterungen durch 953

R. v. Jhering 1899, S. 347.

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Beispiele. So seien als Rechtsformen genannt: Vertrag, Verwal­ tungsakt, Gesetz, Realakt, Weisung, Verein, Gesellschaft, Beweis, Klage. Bei den Rechtsbegriffen sind hier nicht all die Begriffe rele­ vant, die Tatbestandsmerkmale definieren, sondern nur die Begriffe, denen eine strukturierende, systemrelevante Funktion zukommt. Es sind die Grundbegriffe des Rechts oder eines Rechtsgebietes, Termini wie Rechtsgeschäft, Kausalität, Verschulden, Abstraktionsprinzip, Frist, Irrtum, Fiktion etc. Systemische Bedeutung haben hier aber auch all die Begriffe, über die Abgrenzungen erfolgen (z. B. Öffentliches Recht – Privatrecht, der Begriff der »Wegnahme« zur Abgrenzung vom Betrug etc.). Besonders unscharf ist der Begriff der Rechtsfigur. Während Rechtsformen oft größere Normkomplexe auf einen dogma­ tischen Begriff bringen, geht es bei den Rechtsfiguren meist um das Etikett für eine – durch Rechtswissenschaft bzw. Richterrecht vielfach erst geschaffene – Rechtsregel. Der Begriff der »Rechtsfigur« ist ein nahezu selbstverständli­ cher Baustein in juristischen Argumentationen. Seine Wurzeln hat er (wenig überraschend) in der Konstruktionsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts.954 Man kann ihn als Allerweltsbegriff ironisieren955 und kann dies mit einer juris-Recherche belegen.956 Um Beispiele zu nennen: die »Rechtsfigur des Wissenserklärungsvertreters«957, die »haftungsbegrenzende Rechtsfigur des hypothetischen Kausal­ verlaufs bei rechtmäßigem Alternativverhalten«958, die »Rechtsfigur der natürlichen Handlungseinheit«959, der Rückgriff auf »die Rechts­ figur der actio libera in causa«960 die »Rechtsfigur des Handelns auf eigene Gefahr«961, die »Rechtsfigur des intendierten Ermessens«962 oder die »Rechtsfigur der planungsrechtlichen Abschnittsbildung«963. Aber die Beispiele erweisen auch, wie unverzichtbar diese Figuren für Sehr anschaulich dargestellt von M. Bors 2003, S. 221 ff. Vgl. M. Bors 2003, S. 219 ff. 956 Sie ergab im Nov. 2013 zum Stichwort über 360 BGH-Entscheidungen und 125 Entscheidungen des BVerwG. 957 BGH, Urteil vom 16. Oktober 2013 – IV ZR 390/12 –, juris Rn. 20. 958 BGH, Urteil vom 07. Februar 2012 – VI ZR 63/11 –, BGHZ 192, 298–305 – LS. 959 BGH, Urteil vom 29. März 2012 – 3 StR 422/11 –, juris Rn. 9. 960 BGH, Urteil vom 07. Februar 2012 – VI ZR 63/11 –, BGHZ 192, 298–305 – juris Rn. 17. 961 BGH, Urteil vom 17. März 2009 – VI ZR 166/08 –, juris Rn. 8, 10. 962 BVerwG, Urteil vom 20. Juni 2013 – 8 C 48/12 –, juris Rn. 46. 963 BVerwG, Urteil vom 24. November 2010 – 9 A 13/09 –, BVerwGE 138, 226– 243 – Rn. 69. 954 955

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die Praxis sind: Ein – oft sehr spezielles – Problem, für dessen Lösung man im Gesetz keine Regel findet, wird auf einen Begriff gebracht. So kann man das Problem ohne Missverständnisse kommunizieren und hat zugleich eine Entscheidungsregel.

b) Interessen, Werte und Prinzipien Die Rede von Interessen, Werten und Prinzipien ist in der juristischen Argumentation allgegenwärtig. Es ist die prinzipielle Unbestimmtheit dieser Begriffe, die zu dieser hohen Beliebtheit führt. Denn näher bestimmbar sind diese Begriffe allenfalls aus den theoretischen Kontexten, aus denen heraus sie gebraucht werden. So ergibt sich die juristische Bedeutung für den Begriff der »Interessen« wesent­ lich aus den Zusammenhängen der »Interessentheorie«. Mit dem Übergang von der »Interessentheorie« zur »Wertungsjurisprudenz« hat der Interessenbegriff seine Funktion aber weitgehend an den »Wertbegriff« abgegeben.964 – Gleichwohl tut der Richter gut daran, bei der Auslegung von Normen weiterhin nach den sehr konkreten, rhetorisch nicht durch Werte überhöhten und überhöhbaren Interes­ sen zu fragen, die bei der Normsetzung eine Rolle gespielt haben. – Wenn Larenz der »Interessentheorie« eine »unklare Verwendung des Ausdrucks ›Interessen‹“ ankreidet965 und man dem folgt, kommt man allerdings vom Regen in die Traufe. Der »Wertbegriff« ist zwar ein (historisch später) Grundbegriff der Philosophie; es ist aber bis heute nicht gelungen, eine anerkannte Definition für ihn zu finden.966 Wollte man in der Wertungsjurisprudenz nicht die je subjektive Einschätzung des Einzelnen über Wert oder Unwert entscheiden lassen, brauchte man einen objektiven Maßstab und Bezugspunkt.967 Ein solcher war der Ordo-Gedanke, wie er etwa von Viehweg auf­ gegriffen wurde, oder die (aus ähnlichen Ansätzen stammenden) Gedanken an »übergesetzliche« oder »vorpositive« Normen, die nach 964 Vgl. zu diesem »Übergang« Larenz 1991, S. 119 ff. und A. Kaufmann 2004, S. 127 f. 965 Larenz 1991, S. 119. 966 Einen guten Überblick gibt der Art. »Wert« von A. G. Wildfeuer in: Neues Hand­ buch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 3, hg. v. Petra Kolmer und Armin G. Wild­ feuer, Freiburg/München, S. 2484 ff. mit umfangreichen Nachweisen. 967 Zum Problem wieder beispielhaft K. Larenz 1991, S. 120 ff.

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1945 (bis ca. 1960) in der »vielgestaltigen Naturrechtsrenaissance«968 diskutiert wurden. Durchgesetzt hat sich die juristisch-pragmatische Bezugnahme auf den Grundrechtskatalog: das Grundrecht als Wert und als »wertentscheidende Grundsatznorm«.969 Auf grundrechtstheoretische Positionen bezogen ist auch ein bestimmtes Verständnis des Prinzipienbegriffs. Dieser spielt in der Grundrechtstheorie von R. Alexy eine zentrale Rolle und baut, ausgehend von der Rechtstheorie Ronald Dworkins, auf einer strikten analytischen Trennung von Prinzip und Regel auf.970 Der normtheo­ retische Unterschied führt auch zu unterschiedlichen methodischen Ansätzen: »Die Anwendung von Regeln erfolgt durch die Subsum­ tion eines Sachverhaltes unter ihren Tatbestand und Deduktion der Rechtsfolge. [...] Die Anwendung von Prinzipien erfordert demgegen­ über [...] eine Abwägung kollidierender Prinzipien.«971 So sind die Grundrechte keine Normen, die via Subsumtion handhabbar sind; als Prinzipien können sie nur im Wege optimierender Abwägung angewandt werden.972 Im herkömmlichen Verständnis ist den Begrif­ fen »Prinzip« oder »Grundsatz« diese scharfe Konturierung dagegen fremd; hier bezeichnen sie Rechtsprinzipien wie das Prinzip der Rechtssicherheit, den Grundsatz von Treu und Glauben, das Schuldoder das Verschuldensprinzip, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder einerseits das Prinzip der Formfreiheit für den einen Rechtsbe­ reich und im Gegenzug das Prinzip der Formenstrenge im anderen. Entwickelt haben sie sich zum Teil aus einer allgemeinen Rechtsidee. Andere sind induktiv abgeleitete Verallgemeinerungen, verstanden als Grundelemente einer gerechten Ordnung oder jedenfalls eines bestimmten Rechtsbereichs. So sind sie einerseits Ergebnis, d. h. Folgerungen aus dem Systemdenken. In ihrer Anwendung wollen sie andererseits immer die Werte, die sie als Prinzip formulieren, zur Geltung bringen. R. Dreier 1995, S. 156. Zu diesem Topos weist juris für die Zeit zwischen Mai 1970 und September 2013 insg. 83 Judikate des BVerfG aus. 970 Alexy 1986, S. 71 ff.; 77 ff. 971 J.-R. Sieckmann 1990, S. 18. 972 Vgl. Alexy 1986, S. 77 ff. Näher kann hier auf die immer noch sehr grundsätzlich geführte Diskussion nicht eingegangen werden. Zum Zusammenhang der Theorie mit der Grundrechtsdiskussion vgl. Überblick und Nachweise bei H. Dreier, in: Dreier, Bd. I, Vorb. vor Art. 1. Rn. 79 (3. Aufl. 2013); U. Neumann 2000, S. 138 ff.; grundsätzlich die Kritik von Poscher 2010; U. Volkmann 2013, S. 115 f. 968

969

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Kapitel 18: Recht – System – Kohärenz

c) Erste Folgerungen für die Systemstruktur Führt man die vorstehenden begrifflichen Unterscheidungen zusam­ men, ergeben sich für die weiteren Überlegungen zur Systembildung zunächst drei Thesen: 1. These: Rechtsbegriffe und Werte können zwar als isolierte Ele­ mente beschrieben werden; in juristischen Zusammenhängen treten sie jedoch nicht als isolierte Elemente auf. Die Bildung juristischer Begriffe erfolgt immer auch über Wertungen und in Bezug auf Rechts­ prinzipien. Da es somit den »reinen« Rechtsbegriff nicht gibt, gibt es im Recht auch das »reine« Begriffssystem nicht. – Zur Illustration nehme man das durch die Konstruktionsjurisprudenz im 19. Jahr­ hundert geschaffene Begriffsfeld Rechtsgeschäft, Vertrag, Willenser­ klärung. Im Ausgangspunkt bezeichnet die »Willenserklärung« dabei bekanntlich die Äußerung eines auf die Herbeiführung einer Rechts­ wirkung gerichteten Willens.973 Wie die §§ 116 ff. BGB zeigen, »wirkt« die Erklärung aber auch dann, wenn kein Geschäftswillen vorliegt. Und auch trotz »fehlenden Erklärungsbewußtseins (Rechts­ bindungswillens, Geschäftswillens) liegt eine Willenserklärung vor, wenn der Erklärende bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen und vermeiden können, daß seine Äußerung nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte als Willenserklärung aufgefaßt werden durfte, und wenn der Empfänger sie auch tatsächlich so verstanden hat.«974 – Was diese Grundsätze beispielhaft zeigen, ist, wie stark selbst Begriffe, die durch die Konstruktionsjurisprudenz im 19. Jahrhundert als »reine« Rechtsbegriffe geschaffen wurden, von Wertungen, Grundsätzen wie dem von Treu und Glauben und Inter­ essenabwägungen abhängig sind. 2. These: Auch wenn bei der Bildung von Rechtsbegriffen Wer­ tungen und Prinzipien eine entscheidende Rolle spielen, behalten die entsprechenden Begriffsfelder jedoch ihre begriffliche Struktur. Die Begriffe sind definierbar und das heißt auch: aus ihnen ergeben sich, wie die oben zitierten Grundsätze zeigen, Regeln, und unter diese Regeln gilt es, methodisch sauber zu subsumieren. Rechtsbindung und »begriffsorientierte Argumentation«975 bedingen sich.

973 974 975

Vgl. Palandt/Ellenberger Einf. V. § 116 Rn. 1. (74. Aufl. 2015). BGHZ 109, 171 (177) mit zahlreichen Nachweisen. Haverkate 1996, S. 24.

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II. Juristisches Systemdenken – Elemente und Funktionen

3. These: Werte und Prinzipien strukturieren nicht nur die Begriffsinhalte – Sinn und Bedeutung –, sondern auch die Systembil­ dung insgesamt. Auf die allgemeine Funktion, die Rechtsprinzipien dabei zukommt, ist später noch näher einzugehen. Hier interessieren die unterschiedlichen Funktionen von Werten und Prinzipien einerseits und von Begriffen andererseits. Während durch Begriffe wesentlich die logisch-statischen Relationen im System hergestellt werden, verhindern Werte und Prinzipien, wenn sie in dem ihnen eigenen Aggregatzustand agieren, dagegen gleichsam das »Aushärten« dieser Relationen; sie halten Systeme flexibel. Der Grund liegt in einer unterschiedlichen Struktur von Begriffen und Werten. Rechtsbegriffe werden definiert; sie sind handhabbar, weil sie in ihrer Bedeutung eingrenzbar sind und man sie (möglichst genau) von anderen abgren­ zen kann. Prinzipien sind dagegen wesensmäßig »unersättlich«.976 Für ihren Bereich stellen sie den Anspruch auf maximale Durchsetzung. Für die Glaubens- und Gewissensfreiheit etwa gibt es keinen Lebens­ bereich, in dem diese mit ihrem Geltungsanspruch nicht in einen Kon­ flikt mit anderen Werten und Prinzipien treten könnte. Einschränkbar sind solche Prinzipien dann nur auf zwei Wegen: entweder durch normative Regeln (Schranken) oder durch Abwägungsmechanismen. Schrankenziehung und Abwägung sind denn auch die Grund­ modelle des juristischen Umgangs mit Prinzipien. Ein Schulbeispiel zur Erklärung ist die Interpretation des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG. Eine klare Lösung des Abgrenzungsproblems müsste Schutzbereich und Schranken des Grundrechts klar definieren. Im Wortlaut des Abs. 2 sind diese Schranken auch klar vorgegeben: »Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetz­ lichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.« Man brauchte also nur zu subsumieren, um den Bereich des Freiheitsrechts klar ab- und damit eingrenzen zu können. Es wäre »positivistisch« handhabbar, ohne dass sich der Richter über Wert, Bedeutung und Funktion der Meinungsfreiheit noch nähere Gedanken machen müsste. Den Charakter eines Prinzips hätte es ver­ loren. Zuerst im Lüth-Urteil mit aller Deutlichkeit formuliert, hat das BVerfG demgegenüber sein Grundrechtsverständnis entscheidend auf dem Prinzipiencharakter der Grundrechte aufgebaut und es deshalb abgelehnt, die »gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht und 976 So treffend U. Neumann 2000, S. 144 ff., der in der Überschrift von der »Uner­ sättlichkeit« von Rechtsprinzipien spricht.

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›allgemeinem Gesetz‹ […] als einseitige Beschränkung der Geltungs­ kraft des Grundrechts durch die ›allgemeinen Gesetze‹ aufzufassen.« Stattdessen wird als methodische Vorgabe statuiert: »es findet viel­ mehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die ›allgemeinen Gesetze‹ zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung die­ ses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder ein­ geschränkt werden müssen.«977 Damit war die Wechselwirkungs­ theorie als zentraler Baustein der Grundrechtsrechtsprechung gebo­ ren, dem das BVerfG in ständiger Praxis folgt.978 Die methodischen Konsequenzen sind erheblich. Gefordert wer­ den eine Abwägung und die Orientierung dieser Abwägung am Ein­ zelfall. Diese Einzelfallorientierung lässt den Gesetzesvorbehalt im Ergebnis oft zu einem Richtervorbehalt werden.979 Die MephistoEntscheidung und der Fall Esra sind dafür höchst anschauliche Bei­ spiele aus der Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 3 GG; die Sondervoten kann man in beiden Fällen für überzeugender halten.980 Rechtstheo­ retisch ist dies das Gegenteil des Prinzips notwendiger Regelorien­ tierung. Dieses Prinzip verlangt und sucht wenigstens eine Regel­ struktur für die Abwägung. Die Dreistufentheorie zu Art. 12 GG ist eine solche Strukturierung. Für die Kommunikationsgrundrechte gibt es dagegen nicht mehr als »Leitlinien einer differenzierenden Ver­ hältnismäßigkeitsprüfung«981, die »angemessen nur nach Maßgabe bestimmter Fallgruppen erläutert werden« können.982 Erst aus sol­ chen Fallgruppen mögen sich dann gewisse Abwägungsmuster und aus diesen dann Abwägungsregeln herausschälen.983

d) Präjudizien In einem Systemdenken, das mit der Vorstellung arbeitet, Systeme seien vornehmlich durch logische Relationen zwischen ihren Ele­ BVerfGE 7, 198 (210 f.). Zur Übersicht vgl. etwa H. Schulze-Fielitz, in: Dreier Bd. I, Art. 5 I, II Rn. 158 ff. (3. Aufl. 2013). 979 Mit weiteren Nachweisen dazu H. Schulze-Fielitz, aaO. Rn. 160. 980 BVerfGE 30, 200 ff. (Stein) u. 218 ff. (Rupp-v. Brünneck) sowie E 119, 1, (59 ff.). 981 H. Schulze-Fielitz, in: Dreier Bd. I, Art. 5 I, II Rn. 161 ff. (3. Aufl. 2013). 982 So H. Schulze-Fielitz, in: Dreier Bd. I, Art. 5 I, II Rn. 169 (3. Aufl. 2013). 983 Ausführlich zum Abwägungsproblem Kap. 26 IV. 3. c. 977

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menten bestimmt, bleibt für die Rechtsprechung nur die Rolle des »Nutzers« eines solchen Systems. Urteile sind richtig oder falsch, je nachdem, ob die Ableitung aus dem System richtig oder falsch war. Eine Vorstellung, die heute allenfalls noch als Karikatur nachvollzieh­ bar ist. Die Rolle der Rechtsprechung im Prozess der Systembildung ist evident. Und Urteile, insbesondere Präjudizien, werden so zwangs­ läufig selbst zu bestimmenden Elementen. Dies soll an zwei Aspekten verdeutlicht werden. 1. Das Justizsystem ist auf die »Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung« angelegt (Art. 95 Abs. 3 GG; Kap. 6 II.) und hat »die Einheit der Rechtsordnung institutionell zu sichern. Denn die Einheit der Rechtsordnung ist im Kern bedroht, wenn gleiches Recht ungleich gesprochen wird.«984 Diese Aufgabe kann die Rechtsprechung nur erfüllen, wenn sie sich an die eigenen Leitentscheidungen hält und nur mit guten Gründen von ihnen abweicht. In der Praxis führt das zwangsläufig dazu, dass jedenfalls Gerichte mit den Funktionen der Rechtsfortbildung und der Wahrung der Einheitlichkeit in der Recht­ sprechung ihre Entscheidungsbegründungen in einer ständigen Bezugnahme und Auseinandersetzung mit ihren eigenen Urteilen formulieren müssen. Das Ergebnis dieser stetigen Verweisungen auf frühere Rechtsprechung (natürlich auch auf die »übergeordneter« Gerichte) ist oft ein selbstreferentielles Geflecht von Präjudizien und Detailentscheidungen. Gelingt es dem Gericht/Spruchkörper darüber hinaus, dieses Geflecht in »ständiger Rechtsprechung« auch kohärent zu halten, wird es, je nach Umfang und Bedeutung, zum Systemelement oder selbst zum System. Im Einzelnen kann man eine solche Systembildung und Umbildung am Beispiel der Recht­ sprechung von BGH und BVerfG zum Recht der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen anhand der Frage studieren: System, Systematik oder vielfach doch nur Kasuistik?985 2. Ein weiterer Aspekt liegt in der besonderen Funktion, die Leitentscheidungen bei der Systembildung oft zukommt und diese zum Element der Struktur machen. Gemeint sind die Entscheidungen, die nicht nur das System ergänzen, verfeinern und Fragen klären, sondern das System selbst oder seine Teile, etwa bestimmte Rechts­ figuren, in ihrer Struktur verändern oder neue schaffen. In diesem BVerfGE 54, 277–300. Eine nähere Analyse gibt F. Ossenbühl, Die Rechtsprechung des BGH zu den öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen, Beilage zu NJW Heft 14/2002.

984 985

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Sinne war vom Lüth-Urteil immer wieder die Rede. Die beiden Ent­ scheidungen des BVerwG zum Abwägungsgebot im Planungsrecht sind ein weiteres Beispiel,986 ebenso die Nassauskiesungsentschei­ dung des BVerfG für die Handhabung des Art. 14 GG und für die oben angesprochene Frage eines Systems der öffentlich-rechtlichen Ersatz­ leistungen. – Was aber macht diese besondere Funktion aus? Wenn man Präjudizien durch ihre Leitbildfunktion für ähnliche künftige Rechtsfälle definiert,987 dann liegt im »Bild« das Moment der Anschauung und diese hat für ein Systemdenken, das nicht nur mit Begriffen, sondern auch mit Werten und Prinzipien arbeitet, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung – für das Verstehen, die Erklärung und die Handhabung. »Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschau­ ungen ohne Begriffe sind blind«, ist das bekannte Diktum Kants, das sich hier assoziiert.988 Das Präjudiz gibt Anschauung. Es veranschau­ licht die Problemlage und lässt die neue Problemlösung und die dafür notwendigen neuen Kategorien und Wertungen plastisch werden. Zugleich gibt es ein Muster, wie zwischen den widerstreitenden Werten und Prinzipien praktische Konkordanz herzustellen ist.989 Das Problem, wie das Kräfteparallelogramm aus Werten, Begrif­ fen und Rechtsprinzipien von Fall zu Fall zu handhaben ist, bleibt damit freilich ungelöst. Es ist meist ein langer Prozess, bis sich aus Fallreihen eine oder mehrere hinreichend klare »Wenn-dannRegeln« bilden lassen, aber nicht selten sind solche Versuche auch zum Scheitern verurteilt.990 Als methodischer Weg bleiben dann nur »Annäherungsregeln«, Regeln nach dem Frageschema: Worin unterscheidet sich der vorliegende Fall A im Hinblick auf die vor­ zunehmende Wertung von den bisher entschiedenen Fällen? Und sodann: Ist der Unterschied geringfügig, unerheblich oder führt er zu den Einschätzungen »erst recht« – nicht übertragbar? Der methodischen Arbeit mit Fallgruppen liegen also Wertungsmuster zugrunde, Muster gelungener bzw. akzeptierter Abwägungen – seien es im Baurecht Baufreiheit/Nachbarschutz (Rücksichtnahmegebot), im Vertrags- und Eherecht Privatautonomie/Schutz des Schwächeren oder bei der Grundrechtsabwägung etwa die zwischen Kunstfreiheit BVerwGE 34, 301 und BVerwGE 45, 309. So etwa der Duden. 988 Zur Übertragbarkeit des Diktums auf Schemata und Muster H. Lenk 1991, S. 19. 989 Zur praktischen Konkordanz vgl. etwa BVerfGE 128, 1–90 – juris Rn. 147. 990 Anschauungsmaterial für beide Varianten bietet die Auslegungsgeschichte des § 242 BGB. 986

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und Persönlichkeitsrecht. Diese Muster sind konstituierende Ele­ mente ihrer jeweiligen Rechtsbereiche – oft das dynamische Moment in deren Systemen.

2. Zu den Funktionen juristischer Systeme Wir haben uns bei unseren bisherigen Darlegungen mit Selbst­ verständlichkeit an Luhmanns »virtuos-pragmatisches«991 Diktum gehalten: »Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt.«992 Doch gehen wir zunächst einen Denkschritt zurück: Das Systemdenken, das Arbeiten mit »Systemata«, ist nicht nur pragmatische Setzung eines theoretischen Ausgangspunktes. Die menschliche Vernunft ist, so hat es Kant formuliert, ihrer Natur nach »architektonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehö­ rig zu einem möglichen System«.993 Wir haben es – wie bei der Mustererkennung noch genauer zu zeigen sein wird (Kap. 23) – mit einem unhintergehbaren Mechanismus menschlicher Kognition zu tun. Wie anders könnten wir sonst aus der unendlichen Menge der auf uns einströmenden Umweltreize Informationen gewinnen und uns in dieser Flut Übersicht und Orientierung verschaffen? Ohne zu systematisieren und die Bildung von Systemen könnte sich auch im Recht niemand in der Vielfalt seiner Einzelheiten orientieren. Das Systemdenken ist mit anderen Worten mit dem juristischen Denken notwendig verbunden und es erfüllt dabei, je nach Perspektive, unter­ schiedliche Funktionen: 1. Die Ordnungs- bzw. Systematisierungsfunktion: Man systematisiert die Mannigfaltigkeit, indem man Kategorien (»Schub­ laden«) schafft, in die man sie einordnet. Einfachste Formen sind die Zusammenstellung von Material in Katalogen (etwa Topoikatalogen, das Linné’sche System in der Biologie) oder das Ordnen von Wissen in Enzyklopädien und Kommentaren. 2. Die Orientierungsfunktion: Kataloge, Enzyklopädien und Kommentare ermöglichen es dem Nutzer, seine Beobachtungen und Informationen, seine Fragen und Probleme in einen größeren Zusam­ 991 P. Fuchs http://www.velbrueck-wissenschaft.de/pdf_ausfuehr­ lich/978-3-938808-79-5.pdf. – abg. 2013–03–05. 992 N. Luhmann 1984, S. 30. 993 KrV A 474/B 502.

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menhang einzuordnen. Besteht zwischen den Elementen (jedenfalls partiell) entweder eine hierarchische Struktur (sei es durch Oberbe­ griff/Unterbegriff oder durch Vorrangregelungen) oder ein Verhältnis prinzipieller Gleichordnung, das durch Abwägungsregeln zu konkre­ tisieren ist, dann hat es auch eine inhaltliche Ableitungsfunktion. 3. Die Ableitungs- oder theoretisch-konstruktive Funktion juristischer Systeme – Systeme hier verstanden als kohärentes (näher dazu im folgenden Kapitel) Gefüge von juristischen Begriffen, Sätzen, Regeln und Prinzipien. Bestehen sie, wird »Rechtserkenntnis« weit­ gehend durch das System vermittelt994, d. h. über die theoretische bzw. dogmatische Gestalt, die das Recht durch sie angenommen hat und mit der der Rechtsanwender umgehen muss, wenn er es anwendet. Um dies wiederum am Beispiel der Grundrechtsdogmatik zu konkre­ tisieren: Ein Jurist, der Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden hat, kann heute nicht mehr an den Anfang zurückkehren und unbefangen von Inter­ pretationsansätzen aus der Zeit vor dem Elfes-Urteil von 1957995 ausgehen und nach Wortlaut und Vorstellungen des Parlamentari­ schen Rates fragen. Man kann die Entwicklung, die die Grundrechts­ dogmatik seit diesem Urteil genommen hat, für falsch halten. Aber man kann aus dem selbstreferentiellen Gefüge, das die Rechtspre­ chung seitdem geschaffen hat, keinen zentralen Baustein herausbre­ chen, ohne zugleich den systematischen Zusammenhang, in den Rechtsprechung und Literatur die Interpretation seit über 50 Jahren gestellt haben, zu zerstören. Im Gegenzug müsste eine Entscheidung, die einen solchen Baustein herausbricht, das Gefüge vielmehr so »umbauen«, dass auch neue und passende Antworten auf die Fragen des Wesensgehaltes der Handlungsfreiheit, der verfassungsrechtli­ chen Kontrolle hinsichtlich Verfahren und Zuständigkeit des Gesetz­ gebers und zu den Problemen Gesetzesvorbehalt und Verhältnis­ mäßigkeitskontrolle gegeben werden. Kann man das nicht, bleibt als methodisch akzeptabler Weg nur die Ableitung aus den durch Recht­ sprechung und Grundrechtslehren vorgegebenen dogmatischen Strukturen. – Folgt man diesen Überlegungen, vollzieht sich über das juristische Systemgefüge aber nicht nur »Rechtserkenntnis« – in anderer Terminologie: die Herstellung gerichtlicher Entscheidungen durch Kohärenz –, sondern auch die »Verifizierung«: Für die »Dar­ Wenn hier von »vermitteln« die Rede ist, dann ist es, wie oben in Kap. 12 II. dargestellt, erkenntnistheoretisch gemeint. 995 BVerfGE 6, 32–45.

994

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stellung« werden »kontrollierbare und einsehbare Maximen der Rechtsanwendung«996 geliefert. Und gerade das genannte Beispiel macht schließlich eine weitere Funktion deutlich: die Stabilisierungs­ funktion. 4. Die »Verifikationsfunktion«997 oder das System als Maß­ stab für die »richtige« Entscheidung: Das System ist nicht nur Instrument der Rechtsfindung, sondern auch Maßstab zur rationalen Verifizierung der getroffenen Entscheidung.998 Fügt sich eine Ent­ scheidung in die im System vorgegebene begriffliche Struktur nicht ein oder führt sie zu Wertungswidersprüchen, stellt sich unausweich­ lich die »Richtigkeitsfrage«: Entweder ist die Entscheidung mit guten Gründen nicht vertretbar oder der Fehler steckt im angenommenen System. Will der Richter bei seiner Entscheidung bleiben, weil er sie für richtig hält, dann gibt es, wie immer wieder betont wurde, nur einen methodisch »sauberen« Weg: Er muss mit den besseren Gründen das System ändern – es insoweit »nachjustieren« oder es entsprechend umbauen, bis es »passt«. 5. Die Stabilisierungsfunktion: Sobald Normen, Rechtsbe­ griffe und dogmatische Sätze in einem systematischen Zusammen­ hang stehen, werden Bedeutung und Inhalte dieser Begriffe und Sätze zwangsläufig auch durch ihre Stellung im System bestimmt. Das System ist der entscheidende Kontext. Besteht ein solcher Kon­ text, kann man über den »richtigen Gebrauch« eines Begriffs nur noch unter Berücksichtigung des systematischen Zusammenhangs, in dem er steht, entscheiden. Das System ist mit anderen Worten eine wesentliche Bedingung semantischer Stabilität. Auf die Grundrechtsdogmatik ist als Beispiel für die Funktions­ weise einer solchen Stabilisierung bereits hingewiesen worden. Sehr anschaulich beschreibt Jakobs diesen Stabilisierungseffekt für die Begriffe des Strafrechts: »Nicht nur die Deliktstypen insgesamt, sondern nahezu alle Kompo­ nenten, aus denen sie aufgebaut sind, werden deshalb im System wie die Knoten eines Netzes mehrfach miteinander verbunden. Bei dieser So F. Wieacker 1970, S. 322; dort für die Dogmatik – diese aber ist immer auch System. 997 »Verifizierung« ist auch an dieser Stelle nicht als Terminus i. S. der erkenntnis­ theoretischen Diskussion (Wiener Kreis, Popper) zu verstehen, sondern wie in Kap. 13 II. 2. schlicht als Überprüfung einer Aussage, Meinung etc. auf ihre »Richtigkeit«. 998 Im Anschluss an F. Wieacker 1970, S. 316. 996

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Lage ist die Möglichkeit, der Bezeichnung eines Deliktsmerkmals eine Bedeutung zu geben, der vom strafrechtlichen Usus abweicht, nicht nur durch das Erfordernis beschränkt, das Ergebnis systematisch einzupas­ sen (schon das schließt beliebige Vorannahmen des Interpreten aus), sondern auch die Begründung, mit der die Bedeutung festgelegt wird, darf nicht das System durcheinander bringen, wenn man sie auf die Lösung anderer Interpretationsprobleme überträgt. Die Begründung muß also ohne Schaden für das System generalisierbar sein.«999

Das Bild, das Jakobs gebraucht, wenn er davon spricht, dass im System die Elemente »wie die Knoten eines Netzes mehrfach miteinander verbunden« werden, verweist auf nichts anderes als den »Hypertext Recht«. Im vorigen Kapitel 17 IV. 2 haben wir dessen Funktion im Prozess semantischer Stabilisierung ausführlich besprochen und bereits ausdrücklich auf die besondere Rolle hingewiesen, die hier dogmatische Sätze und Begriffssysteme mit dogmatischer Qualität für die semantische Stabilität von Rechtsbegriffen spielen.

III. Systemdenken – juristische Theorien, Kohärenz und Dogmatik In dem Wortfeld System – Theorie – Dogmatik – Kohärenz sind die Überschneidungen, d. h. die gemeinsamen Begriffselemente so zahl­ reich, dass es schwierig ist, die genauen Unterschiede zu markieren. Für unsere Überlegungen zum Systemdenken sind zunächst aber auch die gemeinsamen Schnittmengen viel wichtiger als die Differenzen, die unterschiedlichen Annotationen, mit denen sie gebraucht werden. Das wesentlich Gemeinsame ist bereits mit der oben zitierten Feststellung H. J. Wolffs gesagt: »Rechtswissenschaft zumindest ist systematisch oder sie ist nicht!«1000 »Wissenschaft« steht hier einmal für die Dogmatik. Zutreffend qualifiziert F. Wieacker den »System­ begriff« als »das formale Konstituens der Dogmatik«.1001 Sie gilt aber auch für diejenige systematische Bearbeitung des Rechtsstoffs, die in der Rechtswissenschaft als Theorien bezeichnet und gehandhabt G. Jakobs 1993, Rn. 38. H.-J. Wolff 1952, S. 205. 1001 F. Wieacker 1970, S. 319, Fn. 22; vgl. zum begrifflichen Zusammenhang von Dogmatik und System: Alexy 1983, S. 310 ff. mit weiteren Nachweisen. 999

1000

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werden.1002 Wie die Dogmatik sind diese juristischen Theorien »Sys­ temnutzung und Systembildung zugleich«.1003 Sie schaffen Systeme.

1. Theorien Wenn Juristen von Theorien sprechen, dann bezeichnet das oft (nur) eine von der Wissenschaft oder Rechtsprechung zu einem Rechtspro­ blem oder auch einem Komplex von solchen Problemen entwickelte Meinung, einen Vorschlag, wie ein Rechtsproblem am besten zu lösen ist. Diese Lösung muss de lege arte argumentativ aus dem einschlägigen Normstand und in Bezug auf einen bestehenden – oder durch die Theorie eben erst zu schaffenden – Systemzusammenhang entwickelt sein. Beispiele lernt der Student schon zu Beginn des Studiums in großer Zahl. Theorien zu Täterschaft und Teilnahme, zum untauglichen Versuch, zur Kausalität, die Willens- und Erklärungs­ theorie zur Willenserklärung und schließlich, wie oben angesprochen, auch die verschiedenen Grundrechtstheorien. Diese Theorien sind die nahezu alltäglichen Produkte systema­ tischer Rechtswissenschaft. Sie sind die Anschauungsformen (griech. theorein = anschauen, betrachten), die »tools for handling«, mit denen Juristen Grundsätze, Normen und ihre Anwendungsprobleme handhabbar machen. Erarbeitet werden sie, um ein spezielles Rechts­ problem (Auslegungs- oder Handhabungsproblem, fehlende oder unklare Rechtsgrundlage) zu lösen. Sie sind Mittel der Rechtserkennt­ nis, haben also eine epistemische Funktion. Es geht dabei immer um unterschiedliche Perspektiven, von denen aus die Probleme gelöst werden. Ist eine Norm unstreitig klar, braucht es keine Theorie. Ob man einer Theorie folgt, hängt davon ab, ob man deren Ausgangs­ punkt, deren Prämisse(n) teilt. Diese partiellen Systeme sind also hypothetisch. Und sie sind plural; bei unterschiedlichen Prämissen gibt es unterschiedliche Theorien. Wir haben es also mit einem Systembegriff zu tun, der nicht wie der des Deutschen Idealismus in der Vorstellung wurzelt, im System stecke die Wahrheit, sondern in dem uns heute viel näheren Verständnis, das »Systemata« als 1002 Ich knüpfe den Systembegriff allerdings nicht an die Bedingung axiomatischer Reduzierbarkeit – vgl. dazu Ch. Möllers 2012, S. 158 f. –, sondern an die Bedingung von Kohärenz, siehe unter 2. und Kap. 18. 1003 E. Schmidt-Aßmann 2006, S. 5.

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»Meinung«, als eine theoretische Ansicht unter anderen, verdeutschte und gebrauchte. Bezogen war es zunächst auf die kontrovers disku­ tierten Lehrgebäude vom Bau der Welt (systemata cosmologica), also die Systeme des Ptolemaios und von Tycho Brahe sowie das koperni­ kanische Weltbild.1004 Letzteres setzte sich bekanntlich erst im 19. Jahrhundert endgültig durch und ließ die anderen auch als Hypothe­ sen obsolet werden. – Auch in der Rechtswissenschaft haben wir für eine solche Entwicklung eine Parallele, nämlich eine Entwicklung von der Konkurrenz mehrerer Theorien mit unterschiedlichen Lösungs­ ansätzen zur Konzentration auf eine, allein noch akzeptierte Theorie. In der Rechtswissenschaft ist das der Vorgang der Dogmatisierung (siehe dazu 3.). Am Beispiel der Grundrechtstheorien ist dieser Zusammenhang bereits dargestellt worden (I. 3.).

2. Kohärenz Wenn wir von »Theorien«, »Systemdenken« und »Kohärenz« spre­ chen, ist meist ein weitgehend identischer Begriffskern gemeint. Entsprechend sind im Duden »Struktur« und »System« als Synonyme zu »Kohärenz« aufgeführt; Kohärenz als »Zusammenhang; der rote Faden, Folge[richtigkeit]«. Belegt sei diese Feststellung zunächst anhand herkömmlicher Strafrechtstheorien: Bezeichnet werden sie zumeist als »objektive«, »subjektive« oder »vermittelnde« Theorien. Der Unterschied ergibt sich dabei aus den unterschiedlichen Perspektiven, aus denen das Strafrecht gesehen wird – als »Tat«- oder »Täterstrafrecht« – und aus denen der Rechtsstoff dann geordnet und die Anwendungspro­ bleme gelöst werden. Ergänzend oder überlagernd können außerdem weitere Momente eine Rolle spielen, z. B. wie skeptisch man der richterlichen Fähigkeit gegenübersteht, die »wirklichen« Absichten und Vorstellungen eines Täters erkennen zu können. Rechtsstoff und Anwendungsprobleme werden also bei den alternativen Theo­ rien unter einem bestimmten Prinzip systematisiert; bei den vermit­ telnden Theorien müssen darüber hinaus noch die Relationen und Gewichtungen der unterschiedlichen Prinzipien (evtl. je nach Falltyp) auf den Nenner einer Regel gebracht werden. 1004

Im Zusammenhang dazu G. Zöller 2001, S. 58 ff.

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In Bezug auf den Zusammenhang von System und Theorie ist mithin erstens nochmals zu konstatieren, dass es die Ausrichtung auf die Ausgangsprämisse(n) ist, über die der Rechtsstoff und die mit ihm verbundenen Anwendungsprobleme systematisiert werden. Das entspricht dem Befund, der sich bereits bei der Feststellung ergeben hat, dass es die zugrunde gelegten Grundrechtstheorien sind, die bestimmen, ob und inwieweit die Grundrechte als Wertsystem gese­ hen werden können. Ob und inwieweit eine Systematisierung gelun­ gen ist, ist dann eine Frage der Schlüssigkeit der Systematisierung. Einer strafrechtlichen Theorie etwa, die zwar die These diskutiert, rechts­ staatlich relevant könne allein das objektiv feststellbare Tatgeschehen sein, dann aber auf das Problem der Schutzfunktion von Strafnormen keine überzeugende Antwort hat, fehlt diese Schlüssigkeit oder mit anderen Worten die Kohärenz. Versteht man »Kohärenz« als einen »Begriff zur Bezeichnung des mehr oder weniger engen Zusammen­ hangs eines aus Teilen bestehenden Ganzen«,1005 würde einer so for­ mulierten subjektiven Theorie mit der inneren Schlüssigkeit auch die Kohärenz fehlen. Ein Zusammenhang von Elementen, der keine Kohärenz aufweist, ist kein System, sondern allenfalls eine Zusam­ menstellung von Elementen. Entsprechend waren wir oben davon ausgegangen, dass die Einheit eines Systems und deren Systemei­ genschaft entscheidend durch die Art, Kontinuität und Intensität der Relationen geprägt wird, die der Komplex von Elementen zueinander aufweist. Zusammenfassend kann man also sagen: Das System ist das Konstituens einer Theorie und einer dogmatischen Aussage und Kohärenz eine notwendige Eigenschaft von Systemen – eine Eigen­ schaft, die als »mehr oder weniger enger Zusammenhang« ein System dann allerdings auch unterschiedlich prägen wird. Darauf wird insbe­ sondere zurückzukommen sein, wenn im 19. Kapitel der Systemcha­ rakter des Rechts zu erörtern ist.

3. Dogmatik Setzt man nicht mit Larenz von vornherein Dogmatik mit der Rechts­ wissenschaft gleich,1006 gibt es auf die Frage »Was ist Rechtsdogma­ 1005 1006

EPhWTh (2. Aufl.), Bd. 4., Art. »kohärent, Kohärenz«, S. 250. K. Larenz 1991, S. 189.

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Kapitel 18: Recht – System – Kohärenz

tik?« vielfältige, sich freilich meist überschneidende Antworten.1007 Im Anschluss an A. Voßkuhle halte ich mit R. Alexy folgende Begriffs­ elemente für wesentlich: Es muss sich 1. 2. 3. 4. 5. 6.

um eine Klasse von Sätzen (Definitionen, Formulierungen von Grundsätzen etc.1008) handeln, die auf gesatzte Norm(en) und Rechtsprechung bezogen, aber nicht mit deren Beschreibung identisch sind, untereinander in einem Zusammenhang stehen, innerhalb des Rechtssystems von Rechtswissenschaftlern, Rich­ tern, Anwälten, Verwaltungsbeamten aufgestellt und diskutiert werden und in der Rechtanwendung sowohl eine methodische Funktion als auch normativen Gehalt haben.1009

Mit der Ziffer 3. – untereinander in einem Zusammenhang stehen – ist auf die Bedingung der Kohärenz verwiesen, die eine Dogmatik wie jede Theorie und jedes System erfüllen muss. Ziffer 4 ist die Umschreibung für eine »Interpretationsgemeinschaft«. Das Spezifi­ kum der Dogmatik gegenüber einer »Theorie«, auf das wir im Folgen­ den näher eingehen müssen, liegt dann aber in ihrem »normativen Gehalt«, Ziffer 6. Erörterungsbedürftig ist auch die unter Ziffer 5. von mir in das zitierte Schema eingefügte methodische Funktion (siehe dazu IV.). Zuvor ist aber noch das Verhältnis der Dogmatik zum Gesetz genauer zu beleuchten.

a) Dogmatik und »gesatzte Normen« Es entspricht einer wohl vorherrschenden Sicht, die Rechtsdogmatik »auf einer mittleren Höhe zwischen Gesetz und Fall« anzusiedeln.1010 Das leuchtet für das Strafrecht schon aus Gründen des Art. 103 Abs. 2 GG ein und es kann im Hinblick auf den Vorrang des Gesetzes auch im Übrigen nicht zweifelhaft sein, dass Rechtsdogmatik nur Einen guten Überblick über die in der Literatur vertretenen Ansichten gibt Ch. Waldhoff 2012, S. 21 ff. 1008 Näher R. Alexy 1983, S. 315 ff. 1009 A. Voßkuhle 2012b, S. 111 mit Verweis auf R. Alexy 1983, S. 314. Die Ziff. 5. wurde von mir ergänzend hinzugefügt. 1010 W. Hassemer, ZRP 2007, 217. 1007

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»rechtslagenabhängig«1011 entwickelt werden kann. Sie ist deshalb aber nicht »stets rechtsnormakzessorisch«.1012 J. Esser hat zu Recht auf die »Rolle der Dogmatik als Transformator topischen Denkens in Systemgesichtspunkte« hingewiesen.1013 Und es gehört zur Eigenart der Rechtsdogmatik, dass sie gerade dort Regeln schafft, wo sich Fälle mit dem »gesatzten Recht« nicht lösen lassen. Die Dogmatik hat ihren Wirkungskreis auch keineswegs nur auf der Abstraktionsebene unter­ halb der Gesetzgebung. Und das macht ihre weitere Eigenheit aus: Sie »überformt« auch das »gesatzte Recht.« – Aus der Vielzahl mögli­ cher Beispiele seien einige als Belege für diese besonderen Funktionen herausgegriffen: 1.

2.

3.

Die von Staub (1904) entwickelte Rechtsfigur der »positiven Vertragsverletzung«,1014 mit der verschiedene Lücken im Leis­ tungsstörungsrecht des BGB von 1900 geschlossen wurden. Sie wurde wie selbstverständlich nicht anders als eine gesetzliche Regel gehandhabt, bis man durch das Schuldrechtsmodernisie­ rungsgesetz 2001 (SchRG) mit § 280 BGB eine gesetzliche Regel geschaffen hatte. Der aus einzelnen Vorschriften des BGB (vor dem SchRG) und des HGB entnommene Rechtsgedanke, »dass ein in die Lebens­ betätigung der Beteiligten stark eingreifendes Rechtsverhältnis vorzeitig gelöst werden kann, wenn ein wichtiger Grund vor­ liegt«.1015 Auch der damit entwickelte Grundsatz, dass ein Dau­ erschuldverhältnis aus wichtigem Grund auch dann gekündigt werden kann, wenn dies im Gesetz nicht vorgesehen ist, galt bis zu seiner Kodifikation durch § 314 BGB (SchRG) nicht anders als geltendes Recht.1016 Das aus § 1 Abs. 4 und 5 BBauG entwickelte »Abwägungsgebot«, mit dem als Rechtsfigur zwischen Ermessen, Beurteilungsspiel­ raum und unbestimmtem Rechtsbegriff ein Schema für die

W. Hassemer, ZRP 2007, 217. Ch. Waldhoff 2012, S. 27 m. w. N. 1013 J. Esser 1979, S. 15. 1014 Dazu etwa K. Larenz 1991, S. 373 ff. 1015 BGHZ 157, 161 ff. 1016 Dazu und auch zur kontrovers diskutierten dogmatischen Ableitung näher K. Larenz 1991, S. 384 ff. 1011

1012

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4. 5.

Rechtskontrolle nicht nur der Bauleitplanung, sondern auch aller anderen vergleichbaren Planungsbereiche geschaffen wurde.1017 Das Allgemeine Verwaltungsrecht, das bis zum Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) am 1.1.1977 nur in der Form dogmatisch anerkannter Regeln galt.1018 Die Grundrechtsdogmatik. In der Form, in der sie durch das BVerfG seit dem Elfes- und dem Lüth-Urteil systematisiert und ausgeprägt wurde, hat sie inzwischen eine dogmatische Stabilität und Eigenständigkeit gewonnen, die ihre normative Funktion, die einzelnen Grundrechtsbestimmungen und ihre speziellen Regelungen zu Schranken und Gesetzesvorbehalt mit allgemeinen Kategorien und Interpretationsmustern zu überfor­ men, besonders deutlich werden lässt.

Systematisiert man diese Beispiele und lässt dabei mögliche Zwi­ schenstufen der Einfachheit halber beiseite, sind zwei Grundtypen dogmatischer Rechtsfiguren zu unterscheiden: zum einen dogmatische Sätze, die unmittelbar als normative Entscheidungsregeln eingesetzt werden können und eingesetzt werden müssen (Beispiele: Kündi­ gungsrecht und positive Forderungsverletzung). Sie sind das Recht. Zum anderen die dogmatischen Sätze, die Kriterien und Strukturen für Inhaltsbestimmungen, Wertungen und Prüfungsschemata von Normen oder Komplexe von Normen festlegen. Sie bestimmen nicht, was im konkreten Fall als das Recht gilt, sondern, viel allgemeiner, das Muster, nach dem die konkrete Entscheidung zu erarbeiten ist. Es ist die dogmatische Konstruktion, in die sich die Falllösung einfügen muss. Aus systemtheoretischer Sicht hat Luhmann diese Funktion auf den Nenner gebracht, dass die Rechtsdogmatik »die Bedingung des juristisch Möglichen« definiert. Auf einen Gesetzgeber ist sie dabei, wie etwa das Beispiel des Allgemeinen Verwaltungsrechts zeigt, nicht angewiesen. Zutreffend fügt Luhmann deshalb an: „›Bedingun­ gen des Möglichen‹ werden auf der jeweils höchsten Systemebene festgelegt. Die Rechtsdogmatik bildet demnach die höchste und abs­

1017 Entwickelt wurde das Abwägungsgebot durch das BVerwG in den Entscheidun­ gen von 1969, BVerwGE 34, 301 ff., und 1974, BVerwGE 45, 309–331. Näher dazu Kap. 26 IV. 2. b. 1018 Zur Systematisierung am Beispiel des Allgemeinen Verwaltungsrechts und ande­ rer »Allgemeinen Teile« anschaulich G. Haverkate 1996, S. 24 ff.

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trakteste Ebene möglicher Sinnbestimmung des Rechts im Rechts­ system selbst.«1019

b) Dogma – Dogmatik und das Münchhausen-Trilemma Mit »Dogmatik« assoziieren sich schnell »Dogma« und »dogma­ tisch«. Schnell wird Dogma dann im Sinne der Katholischen Kir­ che verstanden, als ein »Satz, der Gegenstand der fides divina et catholica ist, den also die Kirche ausdrücklich als von Gott offen­ bart so verkündigt, daß seine Leugnung als Häresie verworfen und mit Anathema belegt wird«.1020 Entsprechend lag die Annahme nahe, die Juristen hätten ihre Vorstellungen zur Dogmatik von den Theologen übernommen. Inzwischen ist jedoch nachgewiesen, dass diese Ableitung auf einem wissenschaftshistorischen Missverständ­ nis beruht.1021 Übernommen wurde das Dogmatikkonzept vielmehr aus der medizinischen Wissenschaftstheorie Galens. Für Galen war »Dogma« ein aus der Erfahrung durch Verallgemeinerung gewonnener Allsatz mit Wahrscheinlichkeitscharakter. Es war sowohl durch (neue) Erfahrungen zu überprüfen als auch auf Prinzipien zurückzuführen, »was dann umgekehrt einen Beweis für Dogmen durch Ableitung aus diesen Grundannahmen ermöglicht(e)«.1022 Dogmatik schreibt also keine Wahrheiten fest. Aber sie stellt fest, von was auszugehen ist. In der Rechtsdogmatik ist so die gesamte Bandbreite des griechischen Verbums »dokein« mitgedacht: meinen, aber auch eine Meinung annehmen, dafür halten und beschließen. Nicht mitgedacht ist die »episteme«, die sichere Erkenntnis und das unbezweifelbare Wissen. – Was ist dann aber der entschei­ dende Punkt? Man wird ihn in der Grundsituation sehen müssen, in die die Praxis Mediziner und Juristen alltäglich stellt: Sie müssen handeln und aufgrund eines Wissens entscheiden, von dem sie nicht sicher wissen können, dass es auch sicher ist. Sie müssen davon ausgehen können, dass … Für den Richter wird dies im Begründungsdilemma 1019 N. Luhmann 1974, S. 19. Die Grundrechtsdogmatik gibt ein anschauliches Bei­ spiel für diese These. 1020 K. Rahner, zitiert nach HWPh Bd. 2, S. 276 – Art. »Dogma«. 1021 Hierzu und zum Folgenden M. Herberger 1981 und Ders. in: HWPh Bd. 8, Art. »Rechtsdogmatik«, S. 266 ff. 1022 M. Herberger 1981; HWPh Bd. 8, S. 267.

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evident, er muss seine Entscheidung begründen, d. h. er muss den Grund angeben, warum er so und nicht anders, konkret, nicht zuguns­ ten der unterlegenen Partei entschieden hat. Idealerweise ist dies ein Grund, der außer Streit steht und nicht mehr in Zweifel gezogen werden kann, jedenfalls nicht mit vernünftigen Gründen. Damit führt die Begründungspflicht den Richter aber unweigerlich in das Münchhausen-Trilemma. Von H. Albert, einem der Hauptvertre­ ter des Kritischen Rationalismus, wurde es so benannt nach dem Lügenbaron von Münchhausen, dem gelang, was sonst nie gelingen will: sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Bezogen auf die richterliche Begründungspflicht, beschreibt es näher folgendes Problem: Der Richter muss für das Urteil einen Grund legen, muss aber auch für diesen Grund eine Begründung geben können. Er steht damit unausweichlich vor der Wahl zwischen 1. 2. 3.

einem infiniten Regress; jeder Grund löst die Notwendigkeit aus, auch diesen zu begründen (eine Situation, die jeder erleben kann, dessen Kinder nach jeder Antwort erneut »Warum?« fragen); einer Flucht in einen logischen Zirkel oder der Option, das Verfahren des Begründens an einem bestimmten Punkt abzubrechen.1023

Dem Problem einer »willkürlichen Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung«1024 entgeht nur, wer in dieser Situation entweder auf Evidenzen oder auf unanzweifelbares Basiswissen zurückgreifen kann. In der Diskussion um dieses Dilemma spricht man hier auch von »Fundamentalismus«. Typische Beispiele sind die Dogmen der katholischen Kirche oder die Philosophie Descartes‘, mit ihrem nicht bezweifelbaren Grund-Satz »cogito ergo sum«. Aber auch das Systemdenken der Begriffsjurisprudenz war in diesem Sinne »fundamentalistisch«; das axiomatische System gab eine sichere Basis für eine zureichende Begründung. Auf eine derart sichere Grundlage einer eindeutig »subsumier­ baren Welt« (so sie wirklich je geglaubt wurde) kann sich heute nie­ mand mehr stützen. Gleichwohl bleiben Entscheidungs- und damit Begründungszwang bestehen. Die Gerechtigkeit wartet nicht und sie muss sich so mit einer »dynamischen Dogmatik«1025 begnügen: Nur 1023 1024 1025

H. Albert 1980, S. 11 ff. H. Albert 1980, S. 13. Ch. Waldhoff 2012, S. 28.

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wenn eine solche überhaupt vorhanden ist, kann der Richter seine Argumentation auf wenigstens temporär stabile und kohärente Grund­ lagen stützen, nämlich entweder (1.) auf Normen, für deren Interpre­ tation, mit der sie angewendet werden sollen, eine gesicherte und sta­ bile Anwendungsroutine besteht, oder (2.) auf Sätze, die im Entscheidungszeitpunkt einem allgemein oder jedenfalls überwie­ gend als »richtig« akzeptierten Meinungsstand entsprechen. Kohä­ renztheoretisch gesehen, wird an dieser Stelle die Notwendigkeit, sich auf »anerkannte Sätze« zu stützen, auch für die konkreten Ent­ scheidungsbegründungen praktisch; bei dem Satzsystem, in das sich eine Aussage »einfügen« muss, muss es sich um »anerkannte Sätze« handeln (Kap. 8 IV. 2 ff.; VII.). Als allgemeine wissenschaftstheoreti­ sche These formuliert: »Jede Disziplin«, so der Wissenschaftstheore­ tiker H. Poser, »hat Grundaussagen, die vorderhand nicht mehr pro­ blematisiert werden«. Es bleiben zwar die Unsicherheiten von Akzeptanz und Konvention, diese »konventionelle Komponente« ist für jede Wissenschaft aber »von grundlegender, nicht eliminierbarer Bedeutung«.1026

c) Zur Unterscheidung von Theorien und Dogmatik Die »dogmatische Dichte« solcher Grundlagen ist allerdings unter­ schiedlich, was sowohl für die Frage ihres »normativen Gehaltes« als auch für die Konsequenzen von Bedeutung ist, die sich für die Methode ergeben. Wann eine solche Grundlage »dogmatisch« genannt werden kann, ist eine Frage der Zuschreibung. Verdeutlichen lässt sich das an der in der juristischen Argumentation eingespielten Unterscheidung von Dogma und Theorie. Nach der hier zugrunde gelegten Differenzierung unterscheiden sich beide Begriffe weder im Hinblick auf die notwendige Eigenschaft der Kohärenz noch der des Systematischen. Ihr Unterschied liegt nur in dem Grad ihrer Akzep­ tanz und somit auch ihrer Verbindlichkeit. Der Jurist trifft die Unterscheidung mit den bekannten Zusätzen: h. M., st.Rspr., inzwi­ schen gefestigte Rspr., str., unstr., verfehlt o. ä. Wenn es zu einer Rechtsfrage mehrere konkurrierende Theorien gibt, von denen sich, jedenfalls in der Rechtsprechungspraxis, keine durchgesetzt hat, dann fehlt ihnen genau die entscheidende Funktion von Dogmatik – näm­ 1026

H. Poser 2001, S. 129.

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lich die, eine Absicherung »gegen ein ständiges und schließlich gren­ zenloses rechtspolitisches ›Hinterfragen‹“ zu sein; Dogmatik also ver­ standen »als Stoppregel für Begründung suchendes Räsonnieren«.1027 Dogmatischen Charakter bekommt eine Theorie also dann, wenn und soweit ihre Sätze akzeptiert sind und sich als h. M. durchgesetzt haben. Dass sie dann oft auch noch weiterhin »Theorien« genannt werden (wie etwa die Dreistufentheorie zu Art. 12 GG), tut dabei nichts zur Sache. Für eine Begründung ist sie der hinreichende Grund, den man nicht mehr weiter zu begründen braucht, während bei alter­ nativen Theorien noch eine Begründung notwendig ist, warum man als Gericht dieser und nicht jener Meinung folgt. Nicht von ungefähr lesen sich insbesondere Übungsklausuren oft wie Parodien auf juris­ tische Argumentationen: Subsumtionen werden mit den gelernten dogmatischen Begriffen oder über ebenso gelernte dogmatische Kon­ struktionen vorgenommen; »Probleme« werden zunächst über die einschlägigen Theorien beschrieben und sodann »gelöst«, indem sie mit ebenso einschlägigen Topoi bewertet werden.

d) Das Problem des Geltungsgrundes »Rechtsdogmatiken haben normativen Gehalt« – R. Alexy stützt diese These auf ihre eben beschriebene Funktion in der gerichtlichen Argumentation.1028 Über ihren Rechtssatzcharakter ist damit unmit­ telbar aber noch nichts gesagt. Die Varianten, in denen Rechtsdogmatik auftritt, sind auch zu unterschiedlich, als dass man etwa die Gleichung aufstellen könnte: Dogmatik = normativer Gehalt = Richterrecht = Rechtssatz = Gesetz. Zunächst gilt es, sich einen wesentlichen äußerlich-formalen Unterschied in der Textgestalt von Gesetzesrecht einerseits und Richterrecht in Gestalt dogmatischer Sätze andererseits klarzuma­ chen. Die Textgestalt eines gesetzlichen Normtextes wird im forma­ lisierten Gesetzgebungsverfahren exakt fixiert (Art. 82 GG). Dogma­ tischen Sätzen und Sätzen des Richterrechts fehlt diese klare Textgestalt. Dogmatische Sätze sind meist Sätze, in denen man den oder die Grundgedanken eines Textzusammenhanges formuliert sieht 1027 N. Luhmann 1995, S. 387 im Anschluss an J. Esser, 1979; siehe auch Luhmann 1974, S. 15 ff. Siehe auch Esser 1972, S. 85 ff., 91 f. 1028 R. Alexy 1983, S. 314.

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und die als solche hervorgehoben werden. Auch ein Leitsatz ist kein amtlicher Text. Diesem äußerlich-formalen Unterschied entspricht ein proze­ dural-inhaltlicher. Rechtsdogmatik, so Voßkuhle, »verkoppelt die Rechtspraxis mit der Rechtswissenschaft«.1029 Aber die Gewichte in dieser Zusammenarbeit haben sich erheblich verschoben. Während die Ausbildung dogmatischer Sätze im 19. Jahrhundert die Domäne der (vornehmlich positivistischen) Rechtswissenschaft war, ist die Dominanz spätesten seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auf die Rechtsprechung übergegangen. Das hat Folgen: (1.) Ausgangspunkte für die Entwicklung dogmatischer Sätze sind nicht mehr entscheidend rechtswissenschaftlich begründete Positionen, sondern die höchst­ richterliche Rechtsprechung. Diese produziert gleichsam »fort­ laufend Dogmatik« und Dogmatisierung bildet so »geradezu den zentralen Arbeitsmodus«.1030 (2.) Entsprechend verschwimmen die Grenzen zwischen Dogmatik und Richterrecht, Rechtsdogmatik und Präjudizien. Es sind die Leitsätze, die zu dogmatischen Sätzen werden. (3.) Diese Dogmatik erblickt jedoch meist nicht als fertige Regel, in der alle wesentlichen Momente von Anfang an schon mitbedacht sind, oder gar als fertiger Regelungszusammenhang die Welt, sondern ent­ steht in einem Prozess. Manchmal wird sie mehr oder minder bewusst von Entscheidung zu Entscheidung entwickelt, oft entsteht sie erst von Fall zu Fall, im Wechsel zwischen Verallgemeinerung, Korrektur und Verfeinerung – tastend, »gleichsam experimentierend«.1031 (4.) Hat sich aber eine hinreichend bestimmte Regel herausgebildet und fügt sich diese Regel in den größeren dogmatischen Zusammen­ hang ein,1032 aus dem heraus sie entwickelt wurde, dann wächst ihr in dem Maße, in dem die höchstrichterliche Rechtsprechung verbindlich das geltende Recht bestimmt, auch »normativer Gehalt« zu. Typisch sind hier folgende Gruppen dogmatischer Sätze: 1. Dogmatische Sätze, die Rechtsbegriffe definieren und Aus­ legungen festlegen. Wenn der Gebrauch die Bedeutung von Worten bestimmt, entscheidet die Rechtsprechung darüber, was richtiger Gebrauch ist und welche Bedeutung dem Gesetzeswortlaut zukommt (Hypertext Recht). Anders als in der Konkretisierung durch die Rechtsprechung ist also Recht nicht zu haben. 1029 1030 1031 1032

A. Voßkuhle 2012b, S. 113. M. Eifert 2012, S. 83; dort auch zum Folgenden. So K. Larenz 1991, S. 431. In diesem Sinne ist wohl auch R. Alexy 1983, S. 318, zu verstehen.

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2. Dogmatische Sätze, die Normen formulieren, die dem Gesetz nicht zu entnehmen sind.1033 Ihren »normativen Gehalt« können sie also nicht aus dem Gesetz selbst beziehen. Meist sind solche Sätze zwar aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder verfassungsrechtli­ chen Vorgaben abgeleitet, aber soweit sie aus diesen nicht zwingend folgen, vermitteln diese Grundsätze der konkreten Regel allein noch keine normative Geltung. Die Ableitung muss als konkrete Regel auch als ständige Rechtsprechung akzeptiert sein. 3. Formulierungen von Prinzipien1034 und Vorgaben über den Umgang mit ihnen. Hier geht es um Regeln, mit denen der Vorrang und/oder das Verfahren sowie Vorgaben für die Abwägung von Prin­ zipien, Rechtsgrundsätzen und Wertungen erfasst werden und hand­ habbar gemacht werden sollen. Beispiele sind die Abwägungsregeln zu Art. 5 GG, die Dreistufentheorie zu Art. 12 GG, das Abwägungs­ gebot im Planungsrecht, aber auch etwa die Regeln zur notwendigen »Gesamtwürdigung«. Fragt man nach dem normativen Gehalt, so gilt auch hier: Die Regel muss als ständige Rechtsprechung akzeptiert sein.

e) Zur Rechtssatzqualität des Richterrechts (II) Die Rechtssatzqualität von dogmatischen Sätzen 1035, von Sätzen des Richterrechts ist heute immer noch umstritten. Einleuchtend ist das nur, solange man von der Gleichung Rechtssatz = Qualität einer gesetzlichen Norm ausgeht. Dass hier zu unterscheiden ist, ist aber bereits durch die Differenzierungen von »Gesetz« und »Recht« in Art. 20 Abs. 3; 97 Abs. 1; 103 Abs. 2 GG vorgegeben. Dass dem Rich­ terrecht die Qualität einer besonderen Rechtsquelle zukommt,1036 kann m. E. nur noch um den Preis eines dann in sich widersprüchlichen Rechts in Zweifel gezogen werden. Allein im Rah­ men der althergebrachten Alternative: entweder Gewohnheitsrecht Auch hierzu siehe R. Alexy 1983, S. 317 ff. R. Alexy 1983, S. 319. 1035 Zum Aspekt »Richterrecht und Regelbindung« – Richterrecht I – siehe Kap. 16 III.; zur verfassungsrechtlichen Problematik – Richterrecht III – Kap. 20 II. 3. b. 1036 Mit seiner pragmatischen Begründung immer noch überzeugend O. A. Germann 1967, S. 269 ff. 1033

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oder bloßer »Gerichtsgebrauch«1037 lassen sich die Wirkungsweisen des Richterrechts jedenfalls nicht erklären. In der Konsequenz wären etwa die Regeln des allgemeinen Verwaltungsrechts bis 1977 Regeln ohne Geltungskraft gewesen; die Verwaltung hätte sie ohne »Rechts«Verstoß jederzeit auch missachten dürfen. Man kann dieses Beispiel um Beispiele aus anderen Rechtsbereichen, die weitgehend durch die Rechtsprechung geprägt sind, nahezu beliebig vermehren. Ist also grundsätzlich von einer Rechtssatzqualität des Richter­ rechts auszugehen, so setzt doch nicht jedes Urteil, auch nicht jedes höchstrichterliche Urteil, über den Fall hinaus verbindliches Recht; es hat auch nicht die gleiche Verbindlichkeit wie eine Gesetzesnorm. Bereits unter d) wurde auf das »Bestimmtheitsproblem« hingewie­ sen, das sich beim Richterrecht im Gegensatz zum Gesetzesrecht stellt und das zu der Bedingung führte: Die Regel muss als ständige Rechtsprechung akzeptiert sein. Das Problem wird plastisch in der Praxis der Nichtanwendungserlasse,1038 mit denen die Finanzverwal­ tung angewiesen wird, eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs über den entschiedenen Fall hinaus nicht anzuwenden. Zulässig kann ein solcher Nichtanwendungserlass aber nur mit dem Hinweis sein, es handele sich um eine Einzelfallentscheidung. Bestätigt der BFH in solchen Fällen dann aber seine Rechtsprechung – mit Formulierungen wie: nach »mittlerweile ständiger Rechtsprechung«1039 oder mit dem Leitsatz: »Es ist geklärt, dass … (gegen BMF-Schreiben -Nichtanwen­ dungserlass- vom …)«1040 –, entspricht es der Praxis1041 und dem »normativen Gehalt« ständiger Rechtsprechung, einen Nichtanwen­ dungserlass auch aufzuheben. Das ist dann nicht nur eine Frage des Stils oder des Respekts vor der Dritten Gewalt, sondern eine Konsequenz aus der Rechtsbindung der Verwaltung. Dafür, dass es sich bei dem »Richterrecht« nur um eine faktische Bindungswirkung handelt, wird häufig darauf verwiesen, dass der

Siehe auch dazu O. A. Germann 1967, S. 268 ff. Zur Praxis siehe BT-Drs. 15/4614. 1039 BFH, Urteil vom 26. Juli 2012 – VI R 30/09 –, BStBl II 2013, 400 Fußnote des BMF zum Leitsatz: Hinweis auf BMF-Schreiben vom 16. Mai 2013 – IV C 5 – S 2334/07/0011 -/- 2013/0356883 –, BFHE 238, 371. 1040 So BFH, Beschluss vom 18. März 2010 – IX B 227/09 –, BFHE 229, 177, BStBl II 2010, 627. 1041 Als Beispiel etwa Bundesministerium der Finanzen, 16.05.2013, IV C 5-S 2334/07/0011, FMNR245000013 – BStBl I 2013, 729. 1037

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Richter an dieses Recht ja selbst nicht gebunden ist.1042 Ein zwingen­ des Argument ist dies aber keineswegs. Es ist allein das Recht, das entscheidet, wer wie gebunden ist: Wenn es gemäß der »kontinenta­ len Rechtstradition […] – solange nicht eine ausdrückliche Regelung wie § 31 BVerfGG etwas anderes anordnet – innerhalb der Willkür­ grenzen jedem Gericht jederzeit frei[steht], eine Vorschrift anders auszulegen, als andere Gerichte dies zuvor getan haben«,1043 und Gerichte also auch von einer gefestigten Rechtsprechung abweichen können, dann heißt das nicht, dass eine solche Rechtsprechung auch für alle anderen keine Verbindlichkeit haben kann. Es entspricht viel­ mehr einem allgemeinen Grundsatz: Jeder, der eine Norm setzen kann, hat in der Regel auch die Befugnis, sie in einem nämlichen Ver­ fahren wieder abzuändern oder aufzuheben.1044 Im Übrigen ist hier nicht nur die Willkürgrenze die Grenze ver­ fassungsrechtlicher Kontrollbefugnis. Das Willkürverbot steckt nicht allein den Bereich ab, in dem der Richter sonst frei mit »Präjudizien« umgehen könnte. So kann der Senat eines obersten Bundesgerichts zwar von seiner eigenen Rechtsprechung abweichen, will er aber von der Rechtsauffassung eines anderen Senats oder eines anderen Bun­ desgerichts abweichen, muss der Große Senat bzw. der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe (Art. 95 Abs. 3 GG) angerufen wer­ den. Im Interesse der Wahrung der Einheit der Rechtsprechung (Kap. 6 II.) – oder wie es der frühere Art. 95 Abs. 1 GG formulierte: »Zur Wahrung der Einheit des Bundesrechts« und damit ausdrücklich auf die Einheit des Rechts abstellte – steht es also keineswegs »jedem Gericht jederzeit frei, eine Vorschrift anders auszulegen, als andere Gerichte dies zuvor getan haben.« Diese Freiheit gilt nur für Gerichte, für die auch vergleichbare Vorlagepflichten nicht bestehen. Hier erge­ ben sich Einschränkungen jedoch daraus, dass Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit eine spezifische methodische Begrenzung des freien Umgangs mit Präjudizien fordern. Die methodische Bedeutung erschöpft sich aber nicht in dieser Begrenzung.

Vgl. etwa W. Hassemer 2004, S. 263 f. BVerfGE 128, 326–409 mit Hinweis auf BVerfGE 78, 123 ; 84, 212 ; 87, 273 ; zur Lit.: Müller/Christensen 2004, Rn. 539 f.; Alexy 1983, S. 334; Röhl/Röhl 2008, S. 565 ff. und G. Ress 2009, S. 289, 292 f. 1044 Vgl. oben Kap. 16 IV. 1. 1042

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IV. Rechtsdogmatik und Methode

IV. Rechtsdogmatik und Methode Die Stabilisierungsfunktion, die sich ergibt, sobald Normen, Rechts­ begriffe und dogmatische Sätze in einen systematischen Zusammen­ hang gestellt sind, ist unter dem Gesichtspunkt der Bindung des Richters an Gesetz und Recht die wesentliche Funktion juristi­ scher Systeme. Sprache und System sind Determinanten der Rechts­ erkenntnis. Sie verzahnen und vernetzen sich und dem Rechtssystem gelingt es so, im Fließgeschehen semantischer Kämpfe um den »rich­ tigen« Wortgebrauch und des Meinungsstreites um Rechtsansichten stabile Relationen, »Gebrauchsregeln« und Positionen oder doch jedenfalls stabilisierende Strukturen zu schaffen. Daraus resultieren dann aber nicht nur die Bindungsfunktion von Dogmatik und dem »Hypertext Recht«, sondern auch deren besondere methodische Bedeu­ tung. Rechtsdogmatik und Methode sind die konstitutiven Arbeits­ modi unseres Rechtssystems.1045 Dieser Zusammenhang wird zwar nicht bestritten und es besteht auch Übereinstimmung, dass Rechts­ dogmatik rechtsmethodisch entwickelt werden muss. Die Metho­ denlehre selbst hat das »Rückkoppelungsgebot«, das auch für sie hinsichtlich der Dogmatik besteht, jedoch meist nur unzureichend gewürdigt.1046 Konzentriert auf die Gesetzesauslegung, hat die Dog­ matik im Prüfungsschema der Auslegungsregeln keinen eigenstän­ digen Ort. Der methodischen Funktion der Dogmatik kann die Methodik jedoch nur gerecht werden, wenn sie ihr einen solchen eigenen Ort einräumt und sich von der herkömmlichen Vorstellung verabschiedet, auch die Rechtsermittlung über dogmatische Figuren sei nichts anderes als Auslegung. Um es wiederum am Beispiel der Grundrechtsanwendung zu verdeutlichen: Heute eine Grundrechts­ interpretation auf dem gleichen Wege vorzunehmen, auf dem man auch die Interpretation eines neuen Gesetzes angehen würde – näm­ lich über das Durchdeklinieren der Auslegungsregeln –, wäre im Standardfall nichts anderes als unprofessionell. Standardfall meint hier die Situation, dass die bisherige Interpretation – oder allgemei­ ner: dogmatische Sätze – nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden sollen (dazu 2.). Zu diesem Zusammenhang vgl. auch Ch. Waldhoff 2012, S. 19 ff. So sucht man etwa im Register der Juristischen Methodenlehre von Zippelius vergeblich das Stichwort »Dogmatik«. Expressis verbis thematisiert wird sie von Has­ semer 2004, S. 364.

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Kapitel 18: Recht – System – Kohärenz

1. »Stoppregel« – kein »Negationsverbot« Luhmann hatte dogmatische Sätze im Anschluss an J. Esser als »Stoppregeln« charakterisiert. Methodisch bedeutet dies, wie gezeigt, dass diese Sätze für den Richter eine ausreichende Begrün­ dunggrundlage darstellen. Der Strafrichter etwa kann auf den dogma­ tisierten Begriff der Wegnahme zurückgreifen und muss dazu keine Auslegungsregeln mehr bemühen. Methodische Vorgaben ergeben sich aber nicht nur aus mehr oder minder stabilen Wortverwendungs­ regeln, sondern aus der Dogmatik allgemein; Dogmatik verstanden als Organisation eines Zusammenhanges gesetzlicher, dogmatischer und richterrechtlicher Regeln – oft mit Fallbezügen, aus denen sich Einordnungskriterien oder Wertungsvorgaben ergeben –, durch die ein Rechtsstoff verwendungsfähig aufbereitet wird.1047 Diese zentrale Funktion der Dogmatik, Handreichungen für die Praxis zu liefern, erfüllt sie, so Voßkuhle in einem Leitsatz, »indem sie aus überzeugen­ den Problemlösungen wiederholt handhabbare Begriffe, Institute und Regeln erzeugt und über möglichst stabile Auslegungsroutinen gegen grenzenloses Hinterfragen absichert«.1048 Kennzeichnend für die Dogmatik ist so ihre Entlastungsfunk­ tion, die ihr hinsichtlich der richterlichen Begründungspflicht zukommt. Dagegen hat sie im Gegensatz zu einem wohl noch 1974 »gewohnten Verständnis« nicht die Funktion eines »Negationsver­ botes«.1049 Der Richter muss einen dogmatischen Satz, so er keine besondere normative Qualität hat, wie etwa durch § 31 BVerfGG, nicht zum Ausgangs- und Endpunkt seiner Argumentationskette machen. Ein Dogma repräsentiert nur einen temporär kohärenten und akzeptierten Meinungsstand.

2. Das »Berücksichtigungsgebot« und seine methodischen Regeln Wenn es auch kein »Negationsverbot« gibt, so gilt für Präjudizien und dogmatische Sätze doch ein methodisches Berücksichtigungsge­ 1047 1048 1049

Im Anschluss an N. Luhmann 1974, S. 16, 18. A. Voßkuhle 2012b, S. 112. N. Luhmann 1974, S. 15.

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IV. Rechtsdogmatik und Methode

bot.1050 Ein Gericht muss seiner Rechtsfindung nicht das Richterrecht und die Dogmatik zugrunde legen, die es vorfindet. Es darf diese aber auch nicht aus Ignoranz, Desinteresse oder richterlicher Omnipotenz unberücksichtigt lassen. Grundlage für dieses »Ignorierungsverbot« sind je nach Ableitungszusammenhängen, aus denen die jeweiligen dogmatischen Sätze entwickelt wurden: Art. 20 Abs. 3 GG, Rechts­ gleichheit und Rechtssicherheit sowie, ganz allgemein, die Regelbin­ dung. Methodisch führt dieses Ignorierungsverbot zu folgenden Regeln: 1. 2. 3.

4.

5.

Ihres normativen Gehaltes wegen muss der Richter die dog­ matischen Vorgaben als wesentliche Elemente im Prozess der Rechtserkenntnis berücksichtigen. Akzeptiert er die dogmatischen Vorgaben, müssen sich seine Entscheidung und Begründung stimmig in die dogmatische Struktur einfügen lassen, wenn sie »richtig« sein sollen. Akzeptiert er die dogmatischen Vorgaben (Sätze, Konstruktio­ nen oder Präjudizien) nicht, kann er sie insgesamt oder, soweit sie im Übrigen dann noch Bestand haben können, auch in Teilen unberücksichtigt lassen. Er muss dies aber mit Gründen tun. Diese Gründe dürfen sich nicht darauf beschränken, darzutun, warum man im vorliegenden Fall der Dogmatik nicht folgt. Der Grund muss entweder verallgemeinerungsfähig sein (5.) oder eine Ausnahmeregel formulieren, die sich im Übrigen in die dogmatische Systematik einfügt. Wird durch die eigene Auffassung der dogmatische Satz oder ein Komplex solcher Sätze insgesamt in Frage gestellt, muss der Richter auf die Anwendungs-, Interpretations- oder auch juristischen Konstruktionsprobleme, auf die die nicht akzeptierte Dogmatik eine Antwort gegeben hat, mit einer eigenen Lösung dieser Probleme antworten können. Die Regeln dieser Lösung müssen sich wiederum ohne prinzipielle Widersprüche in den größeren dogmatischen Zusammenhang einfügen lassen, aus dem heraus sie seinerseits entwickelt wurden und in den sie andererseits als »neue Dogmatik« implementiert werden sollen.

Mit diesen Grundsätzen sind nicht nur die Regeln bestimmt, wie mit dogmatischen Sätzen umzugehen ist. Wie sich im Schlusskapitel 26 zeigen wird, haben wir es vielmehr in der Struktur mit den gleichen 1050

Siehe auch Kap. 20 II. 3. b.

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Kapitel 18: Recht – System – Kohärenz

Regeln zu tun, die der Richter beachten muss, wenn es insgesamt darum geht, eine Falllösung kohärent in »das Recht« einzufügen. Es sind die Operationen, die methodisch notwendig sind, wenn Methode als Herstellung von Kohärenz gehandhabt wird. Zunächst ist im nächsten Kapitel jedoch die Frage zu klären, ob und inwieweit der »Hypertext Recht« und die dogmatischen Satzsysteme und Rechtsfi­ guren die Normtexte, die die Rechtsordnung bilden, überhaupt zu einem »System« zu strukturieren vermögen, oder genauer: Ist »das« Recht insgesamt so strukturiert, dass es auch als »Rechtsordnung« noch als kohärentes System gedacht werden kann?

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Kapitel 19: Kohärenz und die Einheit der Rechtsordnung

In einer Vielheit eine Einheit zu erkennen, ist der entscheidende Impetus des Systemdenkens und damit auch aller Versuche, das Recht als »Rechtssystem« zu denken. Man will Unübersichtliches ordnen. Etwas, was unübersichtlich ist, lässt sich nicht verstehen und nicht beherrschen. Hier »Ordnung zu schaffen«, darin liegt der episte­ mologische, aber auch der unverkennbar ästhetische Reiz des System­ denkens. Diese beiden Momente schwingen mehr oder minder stark auch in der theoretischen Diskussion um die »Einheit der Rechts­ ordnung« mit.1051 Seine Hauptrolle spielt dieser Topos jedoch auf der praktischen Ebene der Rechtsanwendung, d. h. als juristische Argu­ mentationsfigur, wenn es um die Regeln geht, wie in konkreten Fallkonstellationen mit Norm- oder Wertungswidersprüchen umzuge­ hen ist (II.). Vorgreiflich ist jedoch auf der theoretischen Ebene die Frage nach dem Systemcharakter der Rechtsordnung1052 (I.), d.h. die Frage, ob und inwieweit der Rechtsordnung auch jenseits historischer Paradigmen und unter kohärenztheoretischen Aspekten noch ein Systemcharakter zugesprochen werden kann und welche Rolle diesen Denkfiguren – der Einheit der Rechtsordnung und »dem« Rechtssystem – dann bei der Herstellung von Kohärenz zukommt.

I. Zum Systemcharakter des Rechts Es ist üblich, von »dem« Rechtssystem zu sprechen, etwa in der Systemtheorie, wenn es darum geht, das Rechtssystem von anderen gesellschaftlichen Systemen zu unterscheiden. Doch gibt es selbst Klassisch die Schrift K. Engisch 1935/1987. Grundlegend und zu den Nachweisen siehe D. Felix 1998, S. 5 ff.; dort auch zu dem Aspekt der Ästhetik, S. 11, 399. 1052 Zur theoriehistorischen Seite siehe insbes. M. Baldus 1995; dort, S. 132 ff., 181 ff., 196 ff., auch zur Diskussion um die Einheit der Rechtsordnung aus der Per­ spektive der Reinen Rechtslehre Kelsens, die hier nicht aufgenommen werden kann. 1051

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bei einem so verstandenen Systembegriff, wie wir gesehen haben, Phänomene, die auch anderen Systemen zugeordnet werden können (so wie Gesetz und Gesetzgebung auch dem politischen System) und sich jedenfalls nicht problemlos und ohne gewisse Unverträglichkei­ ten in das System einfügen (Kap. 16 IV.). Eine noch grundsätzlichere Veränderung in der Betrachtung ergibt sich aber spätestens dann, wenn das Rechtssystem nicht mehr von außen – aus einem nichtjuris­ tischen Blickwinkel – betrachtet wird, sondern der Betrachter selbst Teil des Systems ist oder anders ausgedrückt, wenn die Interpretati­ onsgemeinschaft der Juristen über ein System reflektiert, das sie in einer solchen Reflexion auch fortlaufend selbst konstituieren. Wer immer als Jurist ermittelt, was Recht ist, arbeitet mit einer Binnen­ perspektive im Recht. Das hindert jedoch nicht, die theoretische Position eines Betrachters einzunehmen, der das Recht von außen betrachtet. Aus diesem Blickwinkel ist es nicht mehr wesentlich, was das Recht von anderen Systemen unterscheidet, sondern ob es überhaupt Gesetzmäßigkeiten, Relationen oder Strukturen aufweist, die eine Systemeigenschaft begründen können. Der Positivismus sah »das« Rechtssystem noch, ohne damit grundsätzliche Probleme zu haben, als eine Einheit an; diese Einheit war die Prämisse. Doch C. F. v. Gerbers Hoffnung, man könne ein wissenschaftliches System aufstellen, »in welchem sich die einzelnen Gestaltungen als die Entwickelung eines einheitlichen Grundgedan­ kens darstellen«, ein System, mit dem dann auch »die Grundlage sicherer juristischer Deduction gegeben« sei, hat sich nicht erfüllen können. Es gibt kein wissenschaftliches System, das eine eindeutige Systemstruktur des Rechts begründen könnte. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass es nicht stattdessen gleichwohl Zusammenhänge und Verknüpfungen in dem Gefüge aus Normtexten und Auslegungs­ praxis gibt, die es erlauben, diesem Gefüge insgesamt eine Kohä­ renz zuzuschreiben.

1. Das Rechtssystem – ein kohärentes System? In einem ersten Schritt ist nach den Bedingungen zu fragen, die das Rechtssystem erfüllen müsste, um es als kohärentes System anspre­ chen zu können. Wie in Kapitel 8 dargelegt, sind es drei Elemente, die die Kohärenz ausmachen, also als Bedingungen gegeben sein müssen: Widerspruchsfreiheit, Umfassendheit und Stimmigkeit. Das

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bedeutet, dass zwischen den Elementen nicht nur keine Widersprüche auftreten dürfen, sondern darüber hinaus zwischen den Elementen Ableitungszusammenhänge bestehen (Stimmigkeit) oder jedenfalls hergestellt werden können. Das System selbst muss schließlich die Bedingung erfüllen, umfassend zu sein. D. h., das Rechtssystem müsste entweder ein geschlossenes System sein – was es sicherlich nicht ist – oder die Steuerungen und Einflussnahmen von außen dürften im System selbst jedenfalls zu keinen unauflösbaren Wider­ sprüchen führen. Stellt man diesen Bedingungen in einem zweiten Schritt auch nur einige Befunde gegenüber, zeigen sich sehr schnell die Schwie­ rigkeiten, der Gesamtrechtsordnung zu attestieren, dass sie diese Voraussetzungen erfüllt. Man braucht nur einen Blick auf einige typische Rechtsfiguren und Regelungszusammenhänge zu werfen: die Regeln zur Berechnung des nachehelichen Unterhalts etwa, die Bestimmung des Drittschutzes bei einem Bauvorhaben im unbeplan­ ten Innenbereich und demgegenüber das private Nachbarrecht,1053 die Haftungsregeln bei privaten WLAN-Netzen, die Durchgriffshaftung bei der GmbH oder die Parteifähigkeit des nicht rechtsfähigen Vereins und der GbR.1054 Gemeinsame, verbindende Prinzipien wird man in den Beispielen und ihren jeweiligen, oft umstrittenen, Lösungsansät­ zen kaum ausmachen können. Und soweit es sich demgegenüber um dogmatische, also nicht mehr umstrittene Satzsysteme handelt, wird diesen dann zwar ein mehr oder minder großes Maß an Stimmigkeit, also Kohärenz, nicht abzusprechen sein. Es bleibt aber die Frage, ob sich diese partiellen dogmatischen Strukturen zu einer in sich stimmigen Gesamtstruktur, d.h. zu einem kohärenten System ver­ knüpfen.

a) Das »grundrechtliche Wertsystem« als Matrix? In dem Maße, in dem sich Dogmatik und Begriffssystematik als ungeeignet erwiesen, die Rechtsordnung als System zu konstituieren, lag es nahe, die Idee einer »Wertordnung« und das »grundrechtli­ che Wertsystem« als systemkonstituierende Matrix zu nutzen.1055 Näher dazu D. Felix 1998, S. 85 ff. Zu dieser Problematik etwa A. Bruns 2014, JZ 168 f. 1055 Vgl. etwa K. Larenz 1991, S. 328; C.-W. Canaris 1969, S. 40 ff.; Rüthers/Fischer/ Birk 2015, Rn. 752 ff.

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Spricht man von einer »Wertordnung« des Grundgesetzes oder, noch deutlicher, von dem »grundrechtlichen Wertsystem«, wie es das BVerfG anfänglich ausgiebig tat, suggerierte das eine hierarchisch strukturierte Ordnung der Werte. Wie eine Begriffspyramide eignet sich auch eine hierarchische Wertordnung ideal als theoretische Vor­ gabe für eine Systemkonzeption. Es zeigte sich jedoch sehr schnell und wurde bereits im Kapitel 18 dargelegt, dass diese Vorstellung nicht gemeint sein kann. Eine Grundrechtsinterpretation, die mit der Matrix einer »Wertepyramide« arbeitet, würde ein System schaffen, das mit Grundtatbeständen einer pluralistischen Gesellschaft im Prin­ zip unverträglich wäre. – Gleichwohl hat die Werterechtsprechung des BVerfG die Gesamtrechtsordnung grundlegend verändert. Auch hier formulierte das Lüth-Urteil programmatisch die Vorgaben: »Die­ ses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentschei­ dung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse.«1056

b) Die Systemstruktur und die Unverträglichkeit der Werte Anders als ein Rechtssystem, das von einer Begriffshierarchie oder einer Wertehierarchie aus gedacht wird und damit auch die Relationen der Systemelemente (dogmatische Sätze, Rechtsbereiche) unterein­ ander hierarchisch strukturiert, führt die Interpretation der Grund­ rechte als »wertentscheidende Grundsatznorm(en)«1057 zu einer grundsätzlich anderen Systemstruktur. Das System verliert mit sei­ nem statischen Charakter an Stabilität und Kohärenz und demzufolge auch an rechtsstaatlicher Berechenbarkeit. Das Rechtssystem wird zu einem dynamischen Gefüge und zugleich wächst, wie die Entwicklung der letzten 50 Jahre gezeigt hat, seine Anpassungsfähigkeit. In Kapitel 18 sind im Abschnitt II. über die »Elemente des juristischen Systemdenkens« die Unterschiede in Strukturen und Funktionen von Rechtsbegriffen einerseits und Prinzipien und BVerfGE 7, 198 (205). Zu diesem Stichwort weist juris für die Zeit zwischen 1957 und Dez. 2014 durch das BVerfG 83 Judikate aus.

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Werten andererseits bereits grundsätzlich erörtert worden: Rechts­ begriffe werden definiert; sie sind handhabbar, weil sie in ihrer Bedeutung eingrenzbar sind und man sie (möglichst genau) von anderen abgrenzen kann. Prinzipien und Werte sind dagegen wesens­ mäßig »unersättlich«.1058 Für ihren Bereich stellen sie den Anspruch auf maximale Durchsetzung. Das führt zwangsläufig zu Konflikten mit konkurrierenden Werten und Prinzipien, die für den eigenen Geltungsbereich ebenfalls optimale Geltung beanspruchen. Dann stehen etwa die Kunstfreiheit gegen das Persönlichkeitsrecht, die Privatautonomie gegen den Schutz von wirtschaftlich Schwächeren und öffentlichen Interessen an diesem Schutz, Rechtssicherheit gegen materielle Gerechtigkeit usw. Der übliche Weg, auf dem der Gesetzgeber diese Konflikte löst, besteht darin, allgemeine Regeln zu formulieren, nach denen der Richter im konkreten Streitfall zu entscheiden hat. Das Mietrecht für Wohnraum, das Kündigungsschutzrecht für Arbeitnehmer, das öffentliche Baurecht oder das Unterhaltsrecht sind typische Beispiele für solche gesetzgeberischen Wertungsentscheidungen in der Form genereller, subsumtionsfähiger Normsetzungen. Vielfach kann der Gesetzgeber solche allgemeinen Regeln aber gar nicht vorgeben. Die Abwägung muss im Einzelfall erfolgen (Beispiel: Kunstfreiheit vs. Persönlichkeitsrecht). Oder die in der allgemeinen Regel getroffene Abwägungsentscheidung wird im Einzelfall nochmals einer Abwä­ gung unterzogen. Den rechtstechnischen Mechanismus, nach dem die Rechtsordnung durch das »Wertesystem des Grundgesetzes«1059 zu strukturieren ist, hat das BVerfG im Lüth-Urteil vorgegeben: »keine bürgerlich-rechtliche (sc. oder sonstige) Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.«1060 Aus dieser Maxime, dass jede Vorschrift der Rechts­ ordnung im Lichte der jeweils einschlägigen Grundrechte ausgelegt werden muss, folgt dann auch, dass eine Werteabwägung nicht nur bei der Normsetzung durch den Gesetzgeber erfolgt, sondern auch bei der Normanwendung vorzunehmen ist. Diese Ausrichtung der Rechtsetzung und der Rechtsanwendung an Prinzipien und Werten macht den Abwägungsmechanismus zu U. Neumann 2008, S. 144 ff. BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 – 2 BvR 1436/02 –, BVerfGE 108, 282– 340 – juris Rn. 124. 1060 BVerfGE 7, 198 (205). 1058

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dem zentralen Strukturmechanismus der Rechtsordnung.1061 Das bedeutet für die Teilbereiche der Rechtsordnung, die einzelnen Rechtsmaterien: Da Abwägungen in der Regel nur partiell und situa­ tiv sind, zielen sie schon ihrer Natur nach nicht auf gemeinsame inhaltliche Strukturen. Die Abwägungsentscheidungen müssen für den konkreten Regelungsbereich oder gar nur für die konkrete Ent­ scheidungssituation ein hinreichend kohärentes Muster ergeben; ob dieses Muster auf andere Bereiche der Rechtsordnung übertragbar ist, muss sogar grundsätzlich ausgeklammert bleiben. Anders ist Kohärenz nicht herstellbar. – Greifen wir wiederum auf die Grund­ bedingungen von Kohärenz zurück – auf Umfassendheit, Wider­ spruchsfreiheit und Stimmigkeit – dann kann jedenfalls ein hoher Grad an Kohärenz nur für partielle Satzsysteme und für diese meist auch nur temporär erreicht werden. Der graduelle Charakter der Kohärenz (Kap. 8 VII. 2.) wird mit anderen Worten gerade im gegebenen Zusammenhang besonders deutlich. Um nicht mit der »Unersättlichkeit« jeweils einschlägiger Werte in jeweils unlösbare Widersprüche zu geraten, muss die Relevanz der in Betracht kommenden Grundrechte für die einzelnen konkreten Rechtsbereiche unterschiedlich bestimmt werden. So kann die – nach dem Wortlaut ja unbeschränkbare – Kunstfreiheit den schlichten Beschränkungen des Baurechts nicht entgegengehalten werden1062; sie legitimiert auch keine eigenmächtige Inanspruchnahme fremden Eigentums1063. Die Meinungsfreiheit kann dagegen Boykottaufrufe legitimieren. Im Arbeitsrecht führt die Menschenwürde zwar zum Verbot von Peep-Shows1064; für die Frage der arbeitsrechtlichen Zulässigkeit von Kündigungen bleibt der Aspekt, dass eine Kündi­ gung den Betroffenen auch jenseits materieller Absicherungen zutiefst existenziell treffen kann, aber außen vor.1065 Die Wertungs­ 1061 Bezogen ist diese Feststellung auf die grundgesetzliche Perspektive. Sie gilt nicht anders auch für die Prinzipien und Werte, mit denen das EU-Recht und der EuGH arbeiten. Auf die Widersprüche, die sich daraus für das Mehrebenensystem ergeben, siehe unten d) u. II. 1062 Pernice, in: Dreier, Art. 5 Abs. 3 Rn. 40 (2. Aufl. 2004). 1063 Vgl. BVerwG, NJW 1995, 2648–2650; Stark, in: von Mangoldt/Klein/Ders. GG I, Art. 5 Abs. 3 Rn. 341, 348 ff.(6. Aufl. 2010). 1064 BVerwGE 64, 274–280. 1065 Vgl. BVerfGE 85, 360–385 – juris Rn. 76: »Die Beschwerdeführer werden durch die angegriffene Regelung auch nicht in ihrer Menschenwürde verletzt. Ihr wirtschaft­ liches Existenzminimum ist nicht bedroht.« (Auflösung der Akademie der Wissen­ schaften der DDR). – Anders hat dies früher das BAG gesehen, vgl. etwa BAGE 48,

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muster selbst sind auch nur temporär stabil. Sie können sich mit jeder Novellierung eines Gesetzes situativ verschieben oder aufgrund ver­ änderter Wertungsperspektiven auch durch ein grundsätzlich anderes Muster ersetzt werden. So hat die Rechtsprechung des BVerfG in zahlreichen Fällen bisher insgesamt stabile dogmatische Subsysteme »umgebaut«. Beispiele sind etwa die Entscheidungen zum Mietrecht, mit denen dem Mieter nicht nur ein aus der Sozialbindung des Eigen­ tums folgender Schutz gewährt wurde, sondern ein eigenständiger Grundrechtsschutz aus Art. 14 Abs. 1 GG.1066 Hierzu zählen auch die Bereiche, in denen das Gericht die Vertragsfreiheit durch Vorgaben für eine Inhaltskontrolle einschränkt und so neue Muster zur Her­ stellung von Konkordanz zwischen unterschiedlichen Interessen generierte.1067

c) Die »wertgebundene Ordnung« und die Kohärenz des Rechtssystems Auch die Grundrechte sind zunächst als partielle Gewährleistun­ gen entstanden, aus unterschiedlichen historischen Wurzeln, oft mit spezifischen politischen Zielrichtungen und eigenständigen Wer­ tungsmustern. Sie bilden zwar kein axiomatisch-deduktives System, wohl aber ein systemisches Gefüge mit mehr oder minder ausgepräg­ ten kohärenten Strukturen. Gebildet werden sie aus den grund­ rechtstheoretischen Positionen, die das BVerfG spätestens seit dem Lüth-Urteil seinen Entscheidungen zugrunde legt, vor allem aber über das selbstreferentielle Geflecht von Präjudizien und Detailent­ scheidungen, mit dem das Gericht seine eigene Rechtsprechungspra­ 122–129 oder BAGE 2, 221 – juris Rn. 5: »Die Achtung und Anerkennung des Arbeit­ nehmers als Mensch beruht auch nicht nur auf dem wirtschaftlichen Wert seiner Leis­ tung (die Höhe des Gehaltes), sondern weitgehend darin, wie er die ihm obliegenden Aufgaben erfüllt. [...] Deshalb muss der Arbeitgeber […] vor allem auch auf Grund der jedermann aus Art. 1 und 2 GG obliegenden Verpflichtung […] alles unterlassen, was die Würde des Arbeitnehmers und die freie Entfaltung der Persönlichkeit beein­ trächtigen kann. Eine solche Beeinträchtigung beider Grundrechtspositionen bedeutet es aber, wenn einem Arbeitnehmer zugemutet wird, nicht nur vorübergehend, son­ dern womöglich jahrelang sein Gehalt in Empfang zu nehmen, ohne sich in seinem bisherigen Beruf betätigen zu können.« 1066 BVerfGE 89, 1: »Das Besitzrecht des Mieters an der gemieteten Wohnung ist Eigentum iS von Art. 14 I 1 GG«. 1067 Vgl. Dreier, in Dreier, Art. 2 Abs. 1 Rn. 63 m. N. (3. Aufl. 2013).

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xis kohärent zu halten sucht. Mit jeder Entscheidung, die auf andere verweist, wird ja – um hier auf Neuraths »Richtigkeitskriterium« zurückzukommen – die Frage gestellt, ob sich die neue Entscheidung in die bestehenden Satzsysteme, d. h. die bisherige Rechtsprechung einfügt oder ob diese umgebaut werden müssen.1068 Entstanden sind auf diese Weise allgemeine Abwägungs-, Anwendungs- und Wer­ tungsmuster, die für die Rechtsordnung insgesamt gelten. Durch die Grundrechte als »wertentscheidende Grundsatznormen« werden den einzelnen Rechtsgebieten wie auch der Rechtsordnung als solcher all­ gemeine Muster vorgegeben, die dann nicht nur zu partiellen, sondern auch zu übergreifenden kohärenten Strukturen führen.

d) Widersprüchliche Wertungsmuster – Inkohärenz der Rechtsordnung(en) Im europäischen Mehrebenensystem1069 gilt aber nicht nur die grundgesetzliche »Wertordnung«. Entscheidungen darüber, welche Normen und Werte mit welcher Relevanz einen Rechtsbereich prägen, werden nicht nur von Parlamenten und Gerichten auf der Ebene der nationalen Rechtsordnung getroffen. Das Europarecht ist gegenüber dem deutschen Recht vorrangiges Recht oder setzt diesem – auch über die Richtlinien – entscheidende Vorgaben. Möglich werden damit – seit Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta – GRCh) in steigendem Maße – auch divergierende Interpretationen von Wertungsmustern. Auf der Ebene des »einfachen« Rechts ist dafür die Entwicklung des Urlaubsrechts paradigmatisch. Das BUrlG von 1963 und die Rechtsprechung des BAG hatten eine vergleichsweise klare dogmati­ sche Systematisierung geschaffen. Beginnend mit der Schultz-HoffEntscheidung vom 20.01.2009 (C-350/06) hat der EuGH Grund­ annahmen dieser Dogmatik verworfen und aufgrund der Richtlinie EGRL 88/2003 Art. 7 Abs. 2. in einer Reihe von weiteren Entschei­

1068 Zu demonstrieren etwa am Beispiel der Abwägung Pressefreiheit – Persönlich­ keitsrecht; vgl. dazu H. Schulze-Fielitz, in Dreier, Art. 5 Abs. I, II Rn. 278 ff. m. N. (3. Aufl. 2013). 1069 Siehe dazu bereits oben Kap. 16 IV.

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dungen jeweils punktuell durch eigene Wertungen ersetzt,1070 die auf einem grundsätzlich anderen Urlaubsverständnis beruhen als das deutsche Recht.1071 Diese Wertungsdifferenzen führen zwar dazu, dass ein Blick in das Urlaubsgesetz kaum noch eine Information über die Rechtslage ermöglicht; für die Rechtsordnung insgesamt bleiben solche Differenzen jedoch punktuell. Sehr viel grundsätzlicher sind dagegen die Auswirkungen auf das Gefüge der Gesamtrechtsord­ nung, wenn BVerfG, EuGH und EGMR in Grundpositionen des Grundrechtsverständnisses unvereinbare Auffassungen ver­ treten. Da es auch hier nicht um eine ausführlichere Erörterung dieser Unverträglichkeiten gehen kann, soll das Problem nur anhand von zwei Zitaten zur Menschwürde dargestellt werden: Für das BVerfG ist das GG eine »Verfassung, die die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihres Wertesystems stellt«.1072 Und für die Menschenwürde gilt, dass sie »jeder Abwägung von vornherein unzugänglich ist«.1073 »Die Menschenwürde als Fundament aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig.«1074 – Nimmt man den EuGH beim Wort, steht für ihn dagegen die Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs im Vordergrund. Entsprechend formuliert er im Anschluss an die Entscheidungen Schmidberger und Omega, dass »die Ausübung der dort betroffe­ nen Grundrechte, nämlich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Menschenwürde, nicht außerhalb des Anwendungsbereichs der Bestimmungen des Vertrags liegt. Sie muss mit den Erfordernis­ sen hinsichtlich der durch den Vertrag geschützten Rechte in Einklang gebracht werden und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspre­ chen«.1075 1070 EuGH Entscheidung vom 15.09.2011 – C-155/10 (Williams); EuGH Ent­ scheidung vom 08.11 2012 (Heimann); EuGH Entscheidung vom 13.06.2013 – C-415/12 (Brandes). 1071 Vgl. etwa Clemens Latzel, EuZA 2014, 80–94; Stephan Pötters, Tom Stiebert, Fallstricke im Urlaubsrecht – Weiterhin keine Rechtssicherheit für die Praxis?, NJW 2012, 1034–1039. 1072 BVerfG, Urteil vom 01. April 2008 – 1 BvR 1620/04 –, BVerfGE 121, 69–108) – juris Rn. 71. 1073 BVerfGE 129, 208–268 – juris Rn. 257 m. V. auf BVerfGE 109, 279 (318 f., 322). 1074 BVerfGE 107, 275–286 – juris Rn. 26. 1075 EuGH, Urteil vom 18. Dezember 2007, Rs. C-341/05, Laval, Slg. 2007, S. I-11767 Rn. 103 m. Hinweis auf Urteil vom 12. Juni 2003, Schmidberger, C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 74 und zur Dienstleistungsfreiheit. Urteil vom 14. Oktober 2004, Omega, C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 35.

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Wie weit reichend die Konsequenzen sind, die diese Formulie­ rungen nahelegen, kann beim derzeitigen Stand der EuGH-Recht­ sprechung nicht genauer beurteilt werden. Einerseits passt sie sicher nicht in das nationale Grundrechtsverständnis, für das die Menschen­ würde »abwägungsresistent« ist1076, andererseits hat das BVerfG in der Lissabon-Entscheidung die Laval-Entscheidung ausdrücklich auf­ gegriffen, ohne in der Relativierung der Menschenwürde ein Problem zu sehen.1077 In anderen Fällen sind Wertungswidersprüche zwischen beiden Gerichten dagegen bereits offen zu Tage getreten.1078. Für die unter II. noch zu erörternde »Einheit der Rechtsordnung« zeigen diese vorhandenen oder möglichen Wertungsdifferenzen mit besonderer Deutlichkeit, welche Rolle der Organisation und den Institutionen des Rechtssystems bei diesem Thema zukommt.

2. Das Rechtssystem – ein Gefüge partieller, temporär kohärenter Strukturen Als Ergebnis festzuhalten ist also, dass es »das« klar strukturierte Wertesystem, das als Matrix für »die« Rechtsordnung fungieren könnte, nicht gibt, sondern nur unterschiedliche, partielle Wertungs­ muster. Wie die Prinzipien, die ein Rechtsgebiet prägen, in bestimm­ ten konkreten Regeln austariert werden, kann logischen Ableitungen oder juristischen Abwägungen folgen, ebenso aber auch reinem politi­ schen Willen. Und von diesem kann man meist nicht eindeutig sagen, ob es ihm um einen fairen Ausgleich der Interessen oder um die ein­ seitige Durchsetzung partieller Interessen ging. Auch Gerichte folgen bei ihren Wertungen auf unterschiedliche Weise der Perspektive ihrer speziellen Rechtsprechungsfunktion: als Fachgerichte, als Hüter der Verfassung und der Grundrechte, als »Hüter der Verträge« oder gar als »Motor der Integration«. Um die Struktur verallgemeinernd zu beschreiben: Ein Krite­ rium/Prinzip P 1 gilt in einem bestimmten Rechtsbereich (im Sub­ system SS 1) mit prägender Wertigkeit, in einem anderen (SS 2) 1076 Zur Diskussion vgl. etwa Höfling, in Sachs (Hg.), GG, 5. Aufl. 2008, Art. 1, Rn. 10 ff. 1077 BVerfGE 123, 267–437 – juris Rn. 364, 398. 1078 Einen Überblick gibt W. Kahl, in: Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 3 Rn. 44 ff. (Stand Okt. 2014). Zur grundsätzlichen Position des BVerfG zu Fällen eines solchen Kompetenzkonfliktes zuletzt BVerfGE 134, 366–438.

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dagegen nur sehr eingeschränkt oder (in einem SS 3) gar nicht. Subsysteme können also partiell gleiche Strukturen haben. Doch nur weil sie – ihren unterschiedlichen Regelungsbereichen entsprechend – zugleich auch partiell ungleich sind, gewährleisten sie, dass Wider­ sprüche »neutralisiert« werden und »subsystem-intern« bleiben. Die Bedingung der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung liegt also entscheidend in der relativen Eigenständigkeit ihrer Subsysteme. Wenn dem Rechtssystem mit seinen mannigfaltigen komplexen Strukturen als Ganzes – im Gegensatz zu seinen Subsystemen (a) – mithin keine durchgehend kohärente Struktur zugesprochen werden kann, so hindert dies nicht, in der Gesamtrechtsordnung jedenfalls ein systemisches Gefüge aus Normtexten und Auslegungsroutinen zu sehen (b). Ob dieses Gefüge insoweit über kohärente Strukturen verfügt, als übergeordnete Wertungsmuster solche schaffen können, hängt letztlich von der Prägekraft dieser Wertungsmuster ab. a. Kohärent sind solche Subsysteme dann, wenn in einem Rechtsbereich die Relationen zwischen seinen Systemelementen (Normen, richterrechtlichen Sätzen, Rechtsbegriffen, Werten und Prinzipien) durch Wertungsmuster und begriffliche Zuordnungen so stabilisiert und strukturiert sind, dass folgende Bedingungen erfüllt sind: Es muss möglich sein, eine zu beantwortende Rechtsfrage so in das Satzsystem einzuordnen, dass die Antwort jedenfalls daraufhin überprüft werden kann, ob sie sich in den Zusammenhang akzeptier­ ter Sätze einfügt. Dabei müssen die Sätze des Satzsystems selbst untereinander »verträglich« sein, d. h. sich gegenseitig argumentativ stützen (Widerspruchsfreiheit und Stimmigkeit) und sie müssen in dem Sinne umfassend sein, dass kein Gesichtspunkt, der als Kriterium (Systemelement) hätte in den Blick genommen werden müssen, aus­ geklammert wurde (Umfassendheit). Typische Systeme dieser Art sind die dogmatischen Satzsysteme, die sich nicht zuletzt dadurch auszeichnen, dass dogmatisch akzeptiert ist, welche Systemelemente mit welcher Relevanz zu berücksichtigen sind und welche Kriterien und Werte außen vor bleiben können oder gar müssen. b. Die Gesamtrechtsordnung verfügt demgegenüber augen­ scheinlich kaum über Relationen (durchgehende strukturelle Muster und gemeinsame Kategorien), durch die ihre Elemente (nationale sowie europäische Normen und deren richterrechtliche Anwendungs­ regeln) zu einer in sich stimmigen Einheit verbunden wären. Hat man nur die nationale Rechtsordnung im Blick, vermag zwar die grundgesetzliche Wertordnung über ihre Wertungsmuster sol­

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che kohärenten Strukturen zu vermitteln, nach denen sich auch die partiellen Strukturen zu richten haben. Im europäischen Mehrebe­ nensystem nimmt die Prägekraft dieser Wertungsmuster jedoch tendenziell ab. Bis sich hier neue stabile Muster etabliert haben, verliert auch die Gesamtrechtsordnung an Strukturen, die sichere Grundmuster kohärenter Ableitungszusammenhänge gewährleisten könnten. – Deutlich wird so auch der Mechanismus, der einer Kohä­ renzlehre des Rechts prinzipielle Grenzen setzt: Der Umgang mit dem Recht ist immer auch ein Umgang mit Widersprüchen. Dort, wo schon das Verhalten des Einzelnen selten folgerichtig ist, gesellschaftliche Rollen und Interessen, propagierte und gelebte Werte, Idee und Wirklichkeit fast immer voller Widersprüche sind und das Recht (bei dem stets auch Macht im Spiel ist) im Streitfall für die eine oder andere Seite Partei ergreifen muss, ist der Befund zunächst zwangsläufig: Die Sätze, die das Recht bilden, können untereinander keine vorgegebene widerspruchsfreie Ordnung bilden. Gleichwohl bezeichnet die »Rechtsordnung« nicht nur die Summe der in einem Gebiet geltenden Normen. Zwischen ihren Tei­ len und Subsystemen besteht durchaus ein Zusammenhang; es ist aber nur ein systemischer. Die Rechtsordnung verfügt zwar nicht über Strukturen, die eine Vorhersage ermöglichen, welche Folgen eine Veränderung im Bereich X auf den Bereich Y haben werden, die aber als Gefüge derart systemisch funktionieren, dass solche Folgen ein­ treten und dann auch festgestellt werden können. Konkreter: Wenn etwa in einem Teilsystem eine dogmatische Struktur verändert wird, kann es dabei sein Bewenden haben; es kann aber auch mehr oder minder starke Auswirkungen auf die Gesamtrechtsordnung haben, ohne dass das im Moment der partiellen Änderung schon erkennbar wäre. Man kann die Systemkonsequenzen eben nicht vorab erkennen. Die Strukturänderungen, die das Elfes-Urteil mit seiner Interpreta­ tion des Art. 2 Abs. 1 GG und vor allem das Lüth-Urteil oder die Errichtung des EuGH für die Gesamtrechtsordnung gebracht haben, waren in Vielfalt, Tiefe und Dynamik nicht voraussehbar. Es gibt in der Systemstruktur eben keine Gesetze des Inhaltes: Wenn im Punkt A ein dogmatischer Satz geändert wird, führt das auch in den Punkten C und H bis Z zu Änderungen, während B, D und F unverändert blei­ ben. Im Nachhinein kann man solche Änderungen jedoch in der Regel nachvollziehen und das verweist auf das entscheidende Charakteris­ tikum: Die Rechtsordnung kann als systemischer Zusammenhang reagieren. Aber sie tut das dann als selbstreferentielles System, das

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II. Die Einheit der Rechtsordnung

den Strukturgesetzen der Evolution, nicht aber denen der Berechen­ barkeit folgt.1079 – Fassen wir zusammen, ergeben diese Überlegun­ gen folgendes Ergebnis: Die Rechtsordnung ist ein systemisches Gefüge. Sie hat keine vorgege­ bene Ableitungsstruktur. Ob und inwieweit Wertungsmuster diesem Gefüge eine kohärente Struktur verleihen können, hängt von der Akzeptanz ab, die solche Muster in dem europäischen Mehrebenen­ system gewinnen können. Die wesentlichen Elemente dieses Gefüges – seine Subsysteme – bestehen jedoch aus Sätzen und Satzsystemen mit – mehr oder minder dichten – kohärenten Strukturen.

II. Die Einheit der Rechtsordnung Der Richter, der für seinen Fall ermittelt, wie denn nach Gesetz und Recht zu entscheiden ist, arbeitet nicht mit, sondern in der Rechts­ ordnung – mit eben den Satzsystemen (»Subsystemen«), die für diesen Fall einschlägig sind oder sein können. Es ist diese Perspektive, unter der im Folgenden der Topos der Einheit der Rechtsordnung zu behandeln ist, nicht (mehr) die theoretische Frage nach der System­ eigenschaft. Es interessiert die Rolle, die dieser Topos, verstanden als »Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung«1080, auf der praktischen Ebene der Rechtsanwendung spielt, d. h., es geht darum, wie in konkreten Fallkonstellationen mit Norm- oder Wer­ tungswidersprüchen umzugehen ist.1081 Wie zuvor gesagt: Die Sätze, die das Recht bilden, können untereinander keine vorgegebene widerspruchsfreie Ordnung bilden. Dogmatische Satzsysteme können andererseits jedoch nur insoweit kohärent sein, als sie widerspruchsfrei sind. Auch Urteilsgründe, die widersprüchlich sind, können nicht kohärent und damit nicht »richtig« sein. Versteht man juristische Methode als Herstellung von Kohärenz, ist also Rechtsherstellung nicht zuletzt die Kunst, Kohärenz im Umgang mit Widersprüchen herzustellen.1082 Das Stichwort der Zum Recht als evolutionärer Prozess näher Kap. 26 V. 1. BVerfGE 125, 141–174 – juris Rn. 31; siehe auch BVerfGE 116, 164–202 – juris Rn. 84 m.w.N. 1081 Grundlegend dazu K. Engisch 1935/1987 und die Monographie von D. Felix 1998. 1082 Dazu konkret Kap. 26 IV. 3. 1079

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»Einheit der Rechtsordnung« formuliert unter diesem Gesichtspunkt nur das Postulat, mit der Vielzahl scheinbarer und wirklicher Wider­ sprüche so »zu Recht« zu kommen, dass Kohärenz möglich wird. Über die zahlreichen Regeln, mit denen die Juristen dies tun, soll zunächst ein Überblick gegeben werden (1.). Doch die »Einheit der Rechtsord­ nung« ist nicht nur eine juristisch-technische Argumentationsfigur; zu betonen sind auch ihre kaum zu unterschätzenden institutionellen Bedingungen (2.).

1. Widersprüche und Kollisionsregeln Von außen betrachtet, fallen zunächst die terminologischen Wider­ sprüche auf. Gleichlautende Begriffe haben in verschiedenen Geset­ zen, oft sogar im gleichen Normtext unterschiedliche Bedeutungen (die »verfassungsmäßige Ordnung« in Art. 2 Abs. 1, in Art. 9 Abs. 2 und in Art. 28 Abs. 1 GG). Engisch nennt sie die »technischen« Wider­ sprüche.1083 Solche Widersprüche tangieren das Ideal der Normen­ klarheit und den Bestimmtheitsgrundsatz. Aber es gibt keinen Ver­ fassungsgrundsatz, der für die Rechtsordnung eine einheitliche Verwendung von Begriffen vorschreibt.1084 Semantische Unbe­ stimmtheit und Unklarheiten liegen in der Natur der Sprache (Kap. 17) und sind durch Auslegung zu klären. Differenzierter und schwieriger sind die Probleme, die sich bei Normwidersprüchen oder besser: Normkollisionen1085 stellen. Hier ist zu unterscheiden: Zum einen ergeben sich Normwidersprüche bereits abstrakt und unabhängig von einem konkreten Verhalten daraus, dass die Rechtsordnung vielfach Normen enthält, die unter­ einander unverträglich sind. Meistens sind diese Widersprüche mit­ tels Hierarchisierung, Temporalisierung oder Spezialisierung lösbar.1086 – Die klassischen Kollisionsregeln sind bekannt: »Lex superior derogat legi inferiori«, »Lex posterior derogat legi priori«, »Lex specialis derogat legi generali«. Daneben gibt es eigene Regelwerke, die jeweils solche Kollisionen regeln: Übergangsvorschriften, das IPR, K. Engisch 1935/1987, S. 43 ff. Dazu näher D. Felix 1998, S. 189 ff. 1085 D. Felix 1998, S. 245. Normen sind keine Aussagen, die wahr oder falsch sein können. 1086 Näher D. Felix 1998, S. 154 ff. 1083

1084

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Doppelbesteuerungsabkommen; im EU-Recht etwa die spezifischen Regeln, nach denen den EU-Richtlinien Verbindlichkeit für die inner­ staatlichen Gerichte zukommt etc. Doch mit den genannten Regeln lassen sich nicht alle Normwidersprüche auflösen.1087 Es bleiben zum anderen Fälle, in denen eine Norm vom Normadressaten ein bestimmtes Verhalten verlangt und eine andere Norm genau dieses Verhalten als rechtswidrig qualifiziert oder jedenfalls missbilligt. Sol­ che Kollisionen sind mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar. Ent­ sprechend hatte das BVerfG eine kommunale Verpackungssteuer für verfassungswidrig erklärt und dazu ausgeführt: »Greift die steuerliche Lenkung auf eine Sachmaterie über, darf der Steuergesetzgeber nicht Regelungen herbeiführen, die den vom zuständigen Sachgesetzgeber getroffenen Regelungen widersprechen. Das Rechtsstaatsprinzip ver­ pflichtet alle rechtsetzenden Organe des Bundes und der Länder, die Regelungen jeweils so aufeinander abzustimmen, daß den Normad­ ressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsord­ nung widersprüchlich machen.«1088 Die Kollisionsregel selbst hat es der Kompetenzordnung des GG entnommen.1089 Ein anderer metho­ discher Weg liegt in einer Abwägung der konfligierenden Vorschriften und läuft dann über das rechtsstaatliche Gebot einer einschränkenden Auslegung.1090 So ist es mit »der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates, eine funktionsfähige Strafrechtspflege zu gewährleisten […] nicht vereinbar, wenn derjenige, der diese ihm gesetzlich auferlegten Pflichten erfüllt und nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig fal­ sche Angaben macht, dadurch zivilrechtliche Nachteile erleidet.«1091 Normwidersprüche muss der Richter auflösen – für Wertungs­ widersprüche gilt das nur eingeschränkt.1092 Wenn Gleiches ungleich behandelt wird, dann muss dieser Widerspruch zwar gelöst werden, wenn in ihm ein Verstoß gegen das Willkürverbot und den

Vgl. auch hier D. Felix 1998, S. 154 f. BVerfGE 98, 106–134 – juris Rn. 57 f. 1089 AaO. Rn. 59. 1090 Zu weiteren Fällen siehe D. Felix 1998, S. 247 ff. 1091 BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 02. Juli 2001 – 1 BvR 2049/00 –, juris Rn. 11, d. h. das Verhalten darf z. B. nicht als wichtiger Grund zur Kündigung nach § 626 BGB gewertet werden. 1092 Siehe hierzu bereits K. Engisch 1935/1987, S. 63. 1087

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allgemeinen Gleichheitssatz liegt.1093 Aber das Problem des Wer­ tungswiderspruchs betrifft nicht primär Art. 3 GG und den damit in Zusammenhang stehenden Grundsatz der Sachgerechtigkeit1094. Wird die Frage von Wertungswidersprüchen im Hinblick auf die Einheit der Rechtsordnung thematisiert, stehen im Hintergrund Fragen der inne­ ren Ordnung, der Werteinheit des Rechts. Und die entscheidenden Antworten auf diese Fragen sind bereits gegeben worden. Der Hin­ tergrund wurde in den vorhergehenden Überlegungen unter den Überschriften »Die Unverträglichkeit der Werte und Systemstruktur« und »Widersprüchliche Wertungsmuster – Inkohärenz der Rechts­ ordnung« weitgehend ausgeleuchtet. Man kann sie so zusammenfas­ sen: In der Ausdifferenzierung der Rechtsordnung spiegelt sich die Ausdifferenzierung der pluralistischen Gesellschaft. Entsprechend differenzieren sich auch die Wertungsmuster und das besagt: Es gehört zur Struktur unserer Rechtsordnung, dass die Wertungsmus­ ter in den Teilbereichen und Subsystemen dieser Rechtsordnung unterschiedlich sind – und sich damit auch widersprechen können. – Wie D. Felix überzeugend dargelegt hat, gibt es demgegenüber auch keine verfassungsrechtliche Grundlage für ein Postulat der Vermei­ dung von Wertungswidersprüchen.1095 Diese Überlegungen gelten jedoch nur für Wertungsdifferenzen, die sich ergeben, wenn der Gesetzgeber oder auch die Rechtsprechung dem einen Rechtsbereich dieses und dem anderen jenes Wertungs­ muster zugrunde legen. Rechtlich relevant sind demgegenüber natür­ lich all die Wertungswidersprüche, die sich zwischen diesen Mustern und grundgesetzlichen Wertungsvorgaben auftun. Zu lösen sind sie über die Regeln des Verfassungsvorranges. Für die »Einheit der Rechtsordnung« ergeben sich insoweit keine prinzipiellen Probleme. 1093 Ein Beispiel gibt BVerfGE 117, 1–70 – juris Rn. 161 – zur Erbschaftssteuer: Ver­ letzung, wenn »strukturell Brüche und Wertungswidersprüche« zu mit dem Gleich­ heitssatz kollidierenden Verwerfungen führen. 1094 Eine »vom Gesetz selbst statuierten Sachgesetzlichkeit […] kann zwar ein Indiz für eine objektiv willkürliche Regelung und einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz darstellen (vgl. BVerfGE 12, 151 ; 34, 103 ). Sie begründet aber für sich allein genommen noch keine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 59, 36 ). Aus einer solchen etwaigen Systemwidrigkeit lässt sich dann nichts für einen Gleichheitsverstoß herleiten, wenn sonst plausible Gründe für die abweichende Rege­ lung sprechen (vgl. BVerfGE 68, 237 ) und die Ungleichbehandlung dadurch gerechtfertigt wird.« – BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 16. September 2009 – 1 BvR 2275/07 –, juris Rn. 53. 1095 D. Felix 1998, S. 233 ff.

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II. Die Einheit der Rechtsordnung

Unter den Bedingungen des europäischen Mehrebenensystems lassen sich solche Wertungskonflikte jedoch sehr viel schwerer har­ monisieren und bekommen eine andere Dimension. Wertungswider­ sprüche ergeben sich nicht mehr nur im Hinblick auf grundgesetzliche Wertungsvorgaben, sondern auch aus den Vorgaben der Grundfrei­ heiten, der Unionsgrundrechte und der in das primäre Unionsrecht integrierten Charta der Grundrechte. Wertungswidersprüche können dann hier durchaus in dem Mehrbereichssystem eine Dynamik ent­ wickeln, die auch für die »Einheit der Rechtsordnung« gravierende Folgen haben kann.

2. Kohärenz und Kompetenzkonflikte – Gerichte und Rechtsordnungen im europäischen Mehrebenensystem Die Einheit einer jeden Rechtsordnung erfordert nicht nur Regeln darüber, wie und in welchen Fällen Norm- und Wertungswidersprü­ che aufzulösen sind. Die Kohärenz einer Rechtsordnung ist auch abhängig von der Kohärenz in der Organisation des Justizsys­ tems. Die wesentlichen Mechanismen zur Gewährleistung dieser Kohärenz sind ebenfalls bereits dargestellt worden1096 und müssen nicht mehr erörtert werden: das Rechtsmittelrecht, der Instanzenzug, die Vorlagepflichten an die Großen Senate und den Gemeinsamen Senat sowie an den EuGH; für den EuGH selbst der aufschlussreiche »Bericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften«. Grundlegend für diese Korrela­ tionen ist der Zusammenhang von Kognition und den Prägungen unseres Denkens durch Institutionen, an deren Organisationsper­ spektive es oft ausgerichtet ist. Das gilt auch für Richter und Gerichte. Aus der Analyse »Wie Institutionen denken« wird die Frage, wie Menschen in Institutionen denken (Kap. 8, 1. These). Einschneidende Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung erklären sich so aus den Perspektivwechseln, die mit dem Wechsel von der Fachgerichtsbarkeit zum BVerfG oder zum EuGH, vom BVerfG zum EuGH oder zum EGMR verbunden sind. Wenn mit dem Lüth-Urteil, der Nassaus­ kiesungsentscheidung oder der Entscheidung des EuGH zum Wehr­ dienst von Frauen bislang selbstverständliche Begründungs- und Akzeptanzrahmen grundlegend verändert und verschoben wurden, 1096

Siehe Kap. 6.

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Kapitel 19: Kohärenz und die Einheit der Rechtsordnung

dann geschah dies unter diesen kohärenztheoretischen Gesichtspunk­ ten nicht von ungefähr durch Gerichte mit spezifischer Rekrutierung der Richter, mit eigener Organisationsstruktur, Aufgabenstellung und entsprechend eigenen (kohärenten) Denkräumen. Die Fachgerichte, die Verfassungsgerichte, der EuGH, der Gerichtshof für Menschenrechte haben aber nicht nur ihre eigenen, ihnen speziell übertragenen Prüfungsperspektiven, die schon per se zu unterschiedlichen Wertungsmustern tendieren. Die Dynamik, die diese hoch differenzierte Organisationsstruktur mit sich bringt, trifft im europäischen Mehrebenensystem auf unterschiedliche Rechts­ ordnungen – die nationalen Rechtsordnungen und die Gemein­ schaftsrechtsordnung – mit unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Grundlagen (Verfassungen und Verträge) und unterschiedlichen Wertordnungen, den Grundrechten des GG und der Charta sowie den Grundfreiheiten der EU. Wie diese Wertungssysteme dogmatisch und in praktischer Konkordanz aufeinander abzustimmen sind, ist noch vielfach ungeklärt.1097 Die Gerichte arbeiten im europäischen Mehrebenensystem mit anderen Worten mit inhaltlich unterschied­ lichen »Prüfprogrammen«. Kompetenz- und Wertungskonflikte ins­ besondere auf der Ebene BVerfG – EuGH – EGMR sind mithin strukturbedingt und müssen durch Kollisionsregeln beherrschbar gemacht werden. Das BVerfG hat dazu folgende Grundregel formuliert: Das Bundesverfassungsgericht übt seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von Unionsrecht, das als Grundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesre­ publik Deutschland in Anspruch genommen wird, grundsätzlich nicht aus und überprüft dieses Recht nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes.1098 Es schränkt diese jedoch einmal durch die »Solange-Klausel« und zum anderen durch den Vorbehalt der »Ultravires-Kontrolle« grundsätzlich ein. Die Solange-Klausel besagt, dass das BVerfG seine Gerichtsbarkeit nur solange nicht ausübt, »solange die Europäische Union, auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, einen wirksamen Schutz der Grundrechte generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz jeweils als unab­ Zur Übersicht über die »sehr komplexe Rechtslage« aus der Perspektive der deutschen Grundrechtsdogmatik vgl. H. Dreier, in: Dreier Bd. I., Vorb. vor Art. 1, Rn. 31 ff. (3. Aufl. 2013). 1098 BVerfGE 129, 78–107 – juris Rn. 53. 1097

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dingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell ver­ bürgt.«1099 Auch die »Ultra-vires-Kontrolle«1100 verlangt zwar, dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen des Gerichtshofs grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu beach­ ten hat und deshalb vor »der Annahme eines Ultra-vires-Akts der europäischen Organe und Einrichtungen [...] dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte« geben muss. Das BVerfG behält sich mit diesem Vorbehalt aber seine Zuständigkeit für die Fälle vor, in denen »das kompetenzwidrige Han­ deln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechts­ staatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt.« Entsprechend gilt auch die Regel: »Verfassungsbeschwerden, die sich gegen die Anwendung unionsrechtlich vollständig determinierter Bestimmungen des nationalen Rechts richten, sind grundsätzlich unzulässig.« Sind dagegen die Vorschriften des nationalen Rechts unionsrechtlich nicht oder nicht vollständig determiniert, bleibt der Weg der Verfassungsbeschwerde offen und dabei unterliegt auch die Annahme eines Fachgerichts, dass die vollständige Bindung durch das Unionsrecht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH eindeutig sei, ohne Beschränkung auf eine bloße Willkürkontrolle der Überprüfung durch das BVerfG.1101 Zieht man ein Fazit, so hat sich das BVerfG zwar selbst Grenzen gesetzt, sich aber gleichwohl die Kompetenz vorbehalten, verbindlich darüber zu entscheiden, ob die Grenzen auch eingehalten sind. Kon­ sequent wird dann auch die Kompetenz beansprucht, zu bestimmen, wie ein Urteil des EuGH nicht ausgelegt werden darf: »Im Sinne eines kooperativen Miteinanders zwischen dem Bundes­ verfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof (vgl. BVerfGE 126, 286 ) darf dieser Entscheidung keine Lesart unterlegt wer­ BVerfGE aaO, Rn. 53 m. N. Siehe im Anschluss an die Honeywell-Entscheidung – BVerfGE 126, 286,303 f. – BVerfG, Vorlagebeschluss vom 14. Januar 2014 – 2 BvE 13/13 u. a. – juris Rn. 24; dieser Rn. sind auch die nachfolgenden Zitate entnommen. 1101 BVerfGE 129, 78–107 – juris Rn. 52. 1099

1100

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Kapitel 19: Kohärenz und die Einheit der Rechtsordnung

den, nach der diese offensichtlich als Ultra-vires-Akt zu beurteilen wäre oder Schutz und Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer Weise gefährdete (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG), dass dies die Iden­ tität der durch das Grundgesetz errichteten Verfassungsordnung in Frage stellte (vgl. BVerfGE 89, 155 ; 123, 267 ; 125, 260 ; 126, 286 ; 129, 78 ). Insofern darf die Entschei­ dung nicht in einer Weise verstanden und angewendet werden, nach der für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der Grundrech­ techarta niedergelegten Grundrechte der Europäischen Union jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbe­ reich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreiche.«1102

Dieses Zitat macht zugleich deutlich, wo das BVerfG den entscheiden­ den Schlüssel zur Lösung möglicher Kompetenzkonflikte sieht. Er kann nicht in klaren inhaltlichen Vorgaben oder im Ausreizen der eigenen Positionen liegen, sondern im »kooperativen Miteinander [...] zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof« – gegebenenfalls auch dem EGMR. Wie sich eine Kohä­ renz im europäischen Mehrebenensystem strukturieren wird, wird mithin entscheidend davon abhängig sein, wie das Bundesver­ fassungsgericht, der Europäische Gerichtshof und der EGMR in einem kooperativen Miteinander ihre unterschiedlichen Auffassungen auf einen Nenner praktischer – und praktizierter – Konkordanz bringen können. Nur so ist es derzeit denkbar, auch inhaltliche Kohärenz im europäischen Mehrebenensystem herzustellen.

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BVerfG, NJW 2013, 1499–1518 – juris Rn. 91.

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung – die verfassungsrechtliche Perspektive

Rechtsprechende Gewalt ist abgeleitete Staatsgewalt. Sie legitimiert sich nicht aus eigenem Recht (Art. 20 Abs. 2 GG); ihre verfassungs­ rechtliche Legitimationsgrundlage ist die Bindung an »Gesetz und Recht«. Diese gibt zugleich die Maßstäbe und Normen für die rich­ terliche Tätigkeit vor (Art. 20 Abs. 3 GG). Damit ist auch die Art und Weise, in der der Richter »Gesetz und Recht« anwendet, notwendig ein Problem verfassungsrechtlicher Vorgaben. Methodenfragen sind deshalb stets auch Verfassungsfragen.1103 Sie sind es in vielfältiger Weise: Die wesentlichen Strukturen des gerichtlichen »Erkenntnisverfahrens« werden durch verfassungs­ rechtliche Vorgaben bestimmt: die Gebote des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens, das Neutralitätsgebot und das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit sowie die Prozessmaximen (abgeleitet aus der Gesetzesbindung einerseits – der Privatautonomie anderer­ seits). Unmittelbare inhaltliche Maßstäbe für die Rechtsanwendung folgen etwa aus den Grundsätzen der verfassungskonformen Ausle­ gung und der Vorgabe, jede Rechtsnorm auch inhaltlich im Geiste der Verfassung auszulegen und kollidierende Grundrechtspositionen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz in Ausgleich zu bringen.1104 – Gegenstand dieses Kapitels soll jedoch nicht die ver­ fassungsrechtliche Analyse des richterlichen »Erkenntnisverfahrens« in allen seinen Aspekten sein, sondern nur die Frage nach den verfas­ sungsrechtlichen Determinanten, die die Bindung an »Gesetz und Recht« prägen und inhaltlich bestimmen. Im Zentrum wird also die Gesetzesauslegung stehen und die Überlegungen werden sich auf die Fragen konzentrieren, welche verfassungsrechtlichen Vorgaben hier Formulierung im Anschluss an B. Rüthers, vgl. etwa JZ 2006, 56. BVerfG, B. v. 23. Oktober 2013 – 1 BvR 1842/11, 1 BvR 1843/11 – juris Rn. 68 m. Hinweis auf BVerfGE 129, 78, 101 f. 1103

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

für Interpretation und Anwendung der Auslegungsregeln bestehen und beachtet werden müssen. Zu klären sind zunächst die Argumente, die für und wider die These eines verfassungsrechtlich vorgegebenen Rangverhältnisses zwischen den Kanones sprechen. Die Methoden­ lehre thematisiert dieses Problem als Kontroverse subjektive versus objektive Theorie (I.). Ausgehend von einer zunächst nur historischen Auslegung des GG (II.) sind in den folgenden Abschnitten dann die Grenzen richterlicher Auslegungsspielräume auszuloten (III. u. IV.) und dabei ist auch nach den erkenntnistheoretischen Bedingungen zu fragen, denen hier jede Auslegung unhintergehbar unterliegt. Ziel ist es die Regelstruktur zu bestimmen, die gilt, wenn der Richter mit Auslegungsregeln arbeitet (V.). Diese Überlegungen werden zu wichtigen Thesen für die Metho­ dik der gerichtlichen Praxis führen. Man sollte sich allerdings nicht zu viel versprechen. Methodenfragen sind Verfassungsfragen. Aber das heißt nicht, dass das Grundgesetz auf sie auch immer klare Antworten gibt. Und das liegt nicht nur daran, dass eine Verfassung in aller Regel und mit guten Gründen zu methodischen Fragen keine Aussagen trifft,1105 sondern auch an einem erkenntnistheoretischen Grunddilemma: Wir suchen in den Normen der Verfassung eindeutige Maßstäbe und Kriterien, nach denen wir bewerten können, ob wir bei einer Gesetzesanwendung die richtigen Maßstäbe und Kriterien angelegt haben – dies sind aber keine anderen Maßstäbe und Kriterien als die, mit denen wir mit unserer Interpretation die Vorgaben des Grundgesetzes ermitteln. Das heißt, wir können die Bindung an »Gesetz und Recht« selbst nur in Gestalt unserer tradierten und vielfach dogmatisierten Interpretationstechniken greifen – also just nur mit einem Spielraum und Instrumentarium, dessen verfassungs­ rechtliche Grenzen wir »an sich« überprüfen wollen. Wird aber die »Bindung an Gesetz und Recht« so zwangläufig selbst zum Gegen­ stand richterlicher Interpretation1106, wird auch die Rechtsprechung des BVerfG entscheidend für die Vorgaben, die es in diesem Abschnitt zu untersuchen gilt.

1105 1106

Zu den Gründen siehe etwa Ch. Waldhoff 2013, S. 85 f. N. Luhmann 1995, S. 303.

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I. Das Ziel der Auslegung – der traditionelle Ausgangspunkt

I. Das Ziel der Auslegung – der traditionelle Ausgangspunkt Der Richter hat einen Normtext vor sich – mit welchem Vorverständ­ nis kann oder muss er ihn auslegen? Muss er seine Auslegung an dem Willen des Gesetzgebers oder an dem Sinn des Gesetzes ausrichten oder hat er gar die freie Wahl zwischen der subjektiven und einer objektiven Auslegung? – Die Methodenlehre formuliert mit diesen Begriffen die traditionelle Frage nach dem Ziel der Auslegung. Aber schon die Begrifflichkeit ist bekanntlich strittig.

1. Zur Begrifflichkeit Zu analysieren sind Grundfragen der richterlichen Rechtsfeststellung: Wie und nach welchen Regeln hat der Richter aus der Gesetzesnorm oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen seine Entscheidungsnorm abzu­ leiten? Mit der Frage, wie diese Vorgänge zu verstehen und zu rekon­ struieren sind, steht man zugleich mitten in einer rechtstheoretischen Auseinandersetzung: Handelt es sich um Auslegung, für die die Kanones die Regeln zur Verfügung stellen oder ist die Ableitung als Konkretisierung zu verstehen? Die Konkretisierung wird wie­ derum in zwei konträren Positionen diskutiert1107 – zum einen als Vorgang der Individualisierung, als Konkretisierung einer allgemei­ nen Norm auf den konkreten Fall, zum anderen und im Sinne der konkretisierenden Rechtslehre1108 als »Normkonstruktion«.1109 Nach dieser Auffassung ist nur ein Normtext, nicht aber die Rechtsnorm dem Richter vorgegeben; diese entsteht vielmehr erst im Rechtsan­ wendungsprozess. Statt von »Auslegung« oder »Konkretisierung« zu sprechen, spricht viel dafür, für die folgenden Grundüberlegungen den Begriff »Ableitungsoperationen« und damit einen neutraleren Terminus zu verwenden. Diesem Begriff fehlt allerdings die vertraute Anschaulichkeit und er soll deshalb auch nicht mit sturem Schema­ tismus an die Stelle der üblichen Termini treten. Deutlich werden muss jedoch die Distanz zu dem angesprochenen Theorienstreit. Einen Überblick gibt A. Röthel 2004, S. 14 ff. Vgl. hier insbesondere die Schriften von F. Müller, etwa Müller/Christensen 2004, Rn. 314 ff. 1109 Müller/Christensen 2004, Rn. 330 ff. 1107

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

Gegenüber der konkretisierenden Rechtslehre und in der Konsequenz der im Kapitel 15 II. zur Regelbindung aus dem Toulmin-Schema vorgetragenen Überlegungen soll dieser Ausdruck den notwendigen Ableitungszusammenhang zwischen Gesetzesnorm und Entschei­ dungsnorm präsent halten. Und auch der Begriff der »Auslegung« gibt zu Missverständnissen Anlass. Das gilt jedenfalls dann, wenn sich eine Auslegungslehre – wie die von Rüthers – an der Vorstellung orientiert, es sei möglich, hinreichend genau zu bestimmen, was im buchstäblichen Sinne des Wortes »Auslegung« sei, und ihre Funktion wesentlich darin sieht, diejenigen Botschaften des Rechtssatzes zu ermitteln, die »die Normsetzer hineinlegen konnten und wollten«.1110 Man kann mit Rüthers die Gegenposition ironisieren und aus Goethes »Zahmen Xenien« zitieren: »Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr's nicht aus, so legt was unter.«1111 – Diese Ironie greift allerdings nur, wenn uns die Auslegungstheorie hinreichend taugliche Mittel der Auslegung zur Verfügung stellt, um zu unterscheiden, ob da etwas ausgelegt oder etwas untergelegt wurde und so eine eindeu­ tige Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung auch wirklich garantieren kann.1112

2. Zum Streitstand – die Grundpositionen Die Auseinandersetzung um die richtige Interpretationsperspektive beherrscht seit Ende des 19. Jahrhunderts als zentrales Problem die juristische Auslegungstheorie1113. Ob sie für die Methodenlehre einen entscheidenden Erkenntnisgewinn bringen kann, ist freilich erst zu diskutieren, wenn wenigstens die Streitpunkte dieser Auseinander­ setzung geklärt sind. K. Engisch hat sie in seiner Einführung in das juristische Denken sehr anschaulich als Frage formuliert: »Wird der Sachgehalt des Gesetzes und damit das letzte ›Auslegungs­ ziel‹ durch den vormaligen und einmaligen ›Willen‹ des historischen Gesetzgebers derart bestimmt und festgelegt, daß der Rechtsdogmati­ ker in die Spuren des Rechtshistorikers treten muß – zwar nicht um der Historie, wohl aber um der Sache selbst willen –, oder aber ruht der 1110 1111 1112 1113

Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 786. B. Rüthers, JuS 2011, 865, 866. Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 788. Zur Übersicht vgl. K. Larenz 1991, S. 316 ff.

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I. Das Ziel der Auslegung – der traditionelle Ausgangspunkt

sachliche Gehalt des Gesetzes in ihm selbst und in seinen ›Worten‹, als ›Wille des Gesetzes‹, als objektiver Sinn, der unabhängig ist von dem ›subjektiven‹ Meinen und Willen des historischen Gesetzgebers, dafür aber auch notfalls frei beweglich, entwicklungsfähig wie alles, was am ›objektiven‹ Geist teilhat?«

Angefügt ist die Feststellung: »Um diese Problematik tobt der Streit der juristischen Auslegungstheorien – man nennt sie kurz: die sub­ jektive und die objektive Theorie – bis auf den heutigen Tag.« Ob man allerdings wie 1956 den aktuellen Diskussionstand noch mit der Feststellung zusammenfassen kann: »Heute ist die objektive Theorie – wenngleich in vielen Spielarten – durchaus herrschend«1114, ist eher fraglich.1115 Die Rechtsprechung stellt in ihrer Interpretationspraxis weitgehend auf den in der Norm »zum Ausdruck kommenden objek­ tivierten Willen des Gesetzgebers« ab, eine Formel, die ursprünglich eine Auslegung im Sinne der »objektiven« Theorie meinte1116, heute aber nicht mehr so verstanden werden kann, sondern gerade meint, dass die richterliche Rechtsfindung in keinem Fall das gesetzgeberi­ sche Ziel der Norm in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder ver­ fälschen darf.1117 Noch deutlicher werden in der Literatur inzwischen – pointiert etwa von Rüthers – mit Vehemenz und eher zunehmend »subjektive« Gegenpositionen vertreten.1118 Wenn ein Theorienstreit weit über ein Jahrhundert so ausführ­ lich gepflegt wird, wie der zwischen »Subjektivisten« und »Objekti­ visten«, dann könnte es gute Gründe geben, ihn als unentscheidbar endlich beiseitezulegen. So fragt denn auch etwa Jan Schröder in seiner historischen Analyse der Interpretationstheorien: »Ist nun dieser Streit wirklich so wichtig oder lässt er sich irgendwie entschär­ fen?« – und meint, ausdrücklich mit Bezug auf Rüthers: »Manche Autoren stellen sich vor, sie könnten wissenschaftlich klären, welche Theorie die richtigere ist. Ich halte solche Bemühungen aber für hoffnungslos.«1119 Hoffnungslos, weil es sich um eine wissenschaft­ Engisch 1975, S. 89 m. N. auf S. 226 ff. Zum Überblick über den Meinungsstand aus der Sicht eher »subjektiver« Theo­ rieansätze etwa F. J. Säcker, in MüKoBGB, Bd. 1, Einl. Rn. 79 (6. Aufl. 2012); M. Hen­ sche 2001, S. 373f; Looschelders/Roth 1996, S. 45 ff. 1116 Vgl. etwa BVerfGE 11, 126–136; E 105, 135; BFHE 243, 287; BGH JZ 1974, 421. 1117 Den deutlichen Einschnitt markiert die Entscheidung BVerfGE 133, 168–241 – juris Rn. 66 st.Rspr. 1118 Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 796 ff. m. N. 1119 J. Schröder 2011, S. 29. 1114 1115

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

lich unlösbare weltanschauliche Streitfrage handele, eine Streitfrage, die in unterschiedlichen Grundvorstellungen zum Wesen des Rechts wurzele – Recht als empirisches, soziales Phänomen einerseits, als »Geistesprodukt, das auf ideale Werte ausgerichtet ist«1120 anderer­ seits. Methodik ist und bleibt allerdings, wie in den bisherigen Darle­ gungen immer wieder betont, unhintergehbar theorieabhängig. Die Methodenlehre darf sich also mit einem theoretischen »non-liquet« nicht zufriedengeben, sondern muss sich ihrer Grundlagen auch dort zu vergewissern suchen, wo diese im theoretisch-weltanschau­ lichen Streit bleiben werden. In der Kontroverse um das »richtige« Auslegungsziel und die zur Erreichung dieses Zieles »richtigen« metho­ dischen Instrumentarien verschränken sich rechtstheoretische, verfas­ sungsrechtliche sowie erkenntnistheoretische Fragestellungen und unterschiedliche Modellvorstellungen über die Gesetzgebungs- und Rechtsprechungspraxis. Diese Verschränkungen müssen geklärt wer­ den. Das verlangt aber keine umfassende Auseinandersetzung mit der bisherigen Methodendiskussion um das »richtige« Auslegungsziel. Zwar vermittelt diese manchmal den Eindruck, der Theorienstreit sei eigentlich immer der gleiche geblieben. Doch Fragestellungen und Antworten sind es nicht. Sie sind heute andere als vor 200 Jahren die von Savigny, als vor 100 Jahren die der Vertreter der objektiven Theorie und ihres Gegenspielers P. Heck oder als die der Philosophischen Hermeneutik vor 50 Jahren. Es hat deshalb auch keinen Sinn, das Für und Wider aller Argumente nochmals durchzuspielen. Doch gerade wenn eine Diskussion scheinbar nicht zu Ende kommen will, stellt sich die Gefahr spezifischer Fehlschlüsse besonders leicht ein. Der Philosoph G. Patzig hat sie mit dem Bild vom Maulwurfshügel beschrieben: Man sieht einen Maulwurfshügel und vermutet dort auch den Maulwurf. Aber wie man den Maulwurf selten unter seinem so schön sichtbaren Hügel antrifft, sondern nur sagen kann, dass er dort einmal gewesen sein muss, so ist auch ein metho­ disch-theoretisches Problem oft nicht mehr dort, wo die Diskussion ihre Hügel aufgeworfen hat. Gleichwohl muss man aber den Hügeln nachgehen und sodann die Gänge aufgraben, um zu sehen, wo ein Problem wirklich ist. Die Diskussion um die Auslegungsziele, die von den einen als längst unfruchtbar abgetan wird, während andere sich 1120

J. Schröder aaO.

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II. Die Vorgaben des GG aus der Perspektive historischer Auslegung

von ihr die Rückkehr zur Bindung an Recht und Gesetz versprechen, bietet hier ein typisches Beispiel. Es kann also kaum ausbleiben, dass mancher Gedankengang verschlungener und theoretischer geraten ist, als es zunächst nötig erscheint, um zu den pragmatisch entschei­ denden Ergebnissen zu kommen. Doch nur eine genauere Analyse kann hier zu einem veränderten Verständnis der unterschiedlichen Rollen der einzelnen Auslegungsregeln führen und es ermöglichen, immer wieder diskutierte Kriterien und Regeln möglichst konkret auf die Gegebenheiten und Probleme der Rechtsprechungspraxis hin zu fokussieren, theoretisch zu reflektieren und zu präzisieren. In diesem Sinn kommt es im Folgenden darauf an, die wesentlichen Grundpositionen der Kontroverse und deren Hinter­ grundvorstellungen und Denkfiguren herauszuarbeiten (III.), den Zusammenhang von Auslegungsmethode und den Methoden der Gesetzgebungspraxis näher zu analysieren (IV.) und schließlich nach einer Regelstruktur zu suchen, die einem topischen Umgang mit den Kanones Grenzen setzt (V.). – Zunächst ist aber zu klären, was es denn mit der von Rüthers immer wieder formulierten These: »Metho­ denfragen sind Machtfragen und damit Verfassungsfragen«1121, ver­ fassungsrechtlich genauer betrachtet, wirklich auf sich hat. Welches Ziel gibt das GG den Ableitungsoperationen vor, die die Methodik als »Auslegung« thematisiert?

II. Die Vorgaben des GG aus der Perspektive historischer Auslegung – welche Maßstäbe hat der Verfassungsgeber gesetzt? Mit der zitierten These richtet sich Rüthers ganz unmittelbar gegen die objektive Theorie. Sein Urteil: »Diese Methode verstößt gegen die Verfassungsgrundsätze der parlamentarischen Demokratie und der rechtsstaatlichen Gewaltentrennung (Art. 20 GG). Sie unterläuft die Normsetzungsprärogative des Parlaments.«1122 Aus dieser – durchaus polemischen – Stoßrichtung sollte man das Problem, ob und inwie­ weit Methodenfragen Verfassungsfragen sind, aber herauslösen. 1121 B. Rüthers JZ 2006, 56, ausführlich Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 640 ff.; 944 ff. 1122 B. Rüthers, JZ 2006, 60.

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Dann werden auch die zwei Ebenen deutlich, auf denen dieses Prob­ lem zu diskutieren ist. – Die erste Ebene gibt die Grundposition der historischen Auslegung selbst vor. In der Konsequenz müsste am Beginn der Nachweis stehen, dass der Regelungszweck der auszule­ genden Verfassungsbestimmungen – insbesondere der Art. 20; 97 Abs. 1; 103 Abs. 2 GG – eindeutig feststellbar nur so zu verstehen ist, dass der Verfassungsgeber selbst allein in einem auf den Willen des Gesetzgebers gerichteten Interpretationsansatz einen verfassungskon­ formen Ansatz gesehen, jedenfalls die Gegenposition der objektiven Theorie als mit seinen Vorstellungen unvereinbar abgelehnt hat. Ist dem nicht so, wäre die von Rüthers u. a. vertretene These der Verfas­ sungswidrigkeit der objektiven Theorie selbst also bereits keine »Aus­ legung« mehr, sondern »Rechtsfortbildung«.1123 Auf einer zweiten Ebene wäre dann aus einer »objektiven« Position heraus zu unter­ suchen, welche methodischen Ansätze ein größeres Maß an Bindung garantieren und deshalb sowohl dem Grundsatz der Gesetzesbindung als auch dem Rechtsstaatsprinzip besser entsprechen. Das setzt dann aber voraus, dass man auch die tatsächlichen Bedingungen unter­ sucht, die im Gesetzgebungsverfahren gegeben sein müssen, um eine Absicht des Gesetzgebers auch hinreichend eindeutig ermitteln zu können (IV). Die zentralen Bezugspunkte für die verfassungsrechtliche Ana­ lyse von Methodenfragen sind – beide unmittelbarer Ausdruck des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips – zum einen der Vorrang des Gesetzes und zum anderen das Gewaltenteilungsprinzip. Beide sind, etwa im Gesetzesvorrang, untereinander verschränkt. Beide setzen eine Bindung des Richters voraus, stellen also die Frage nach den Grenzen seiner Rechtsprechungskompetenz.

1. Erste Konsequenzen aus Art. 20 Abs. 3; 103 Abs. 2 GG (1.) Der Verfassungsgeber hat die Bindung der Rechtsprechung an »Gesetz und Recht« in Art. 20 Abs. 3 GG ausdrücklich statuiert. Unstreitig ist damit zugleich gesagt, dass die Ableitungsoperationen, mit denen der Richter »Gesetz und Recht« auf den konkreten Fall anwendet, methodisch sein müssen. Nach welchen Regeln dies zu 1123

Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 786.

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II. Die Vorgaben des GG aus der Perspektive historischer Auslegung

geschehen hat, sagt – kaum überraschend – Art. 20 GG allerdings nicht. Auch Art. 97 Abs. 1 GG, der den unabhängigen Richter nur dem Gesetz unterwirft, ergibt für unsere Fragestellung keine Anhalts­ punkte. Er entspricht in seiner Formulierung Art. 102 Weimarer Reichsverfassung, der für die WRV sedes materiae war, das Bindungs­ problem zu erörtern.1124 Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass der Richter nach der WRV stärker an das Parlamentsgesetz gebunden war, als er dies nach dem GG ist. Während ihm nach damals h. M. kein Prüfungsrecht zustand, ist er nach dem GG an die Verfassung und das Parlamentsgesetz gebunden. Auch wenn er für nachkonstitutionelles Recht keine Verwerfungskompetenz hat (Art. 100 GG), verfügt er über eine Prüfungskompetenz und ist damit gegebenenfalls mit Wer­ tungswidersprüchen konfrontiert, die ihm gegenüber dem Gesetz Entscheidungsspielräume einräumen. Die immer stärkere Bindung an das EU-Recht bringt dann eine weitere Lockerung. Die methodischen Stichworte hierzu sind die »verfassungskonforme« und die »europa­ rechtskonforme« Auslegung. Betrachtet man diese als nachgeordnete methodische Schritte, berühren sie die nach den herkömmlichen Regeln durchgeführte Auslegung zwar zunächst nicht. Im Verhältnis zur Gesetzesbindung sind die Bindungen an Verfassung und EURecht aber nicht nur komplementär, sondern auch »konkurrierende Bindungsformen«. (2.) Auch im Hinblick auf die herkömmlichen Regeln wird das Bild erst differenzierter, wenn Art. 103 Abs. 2 und 104 GG in die Betrachtung einbezogen werden. Die Verfassung begrenzt hier, wie schon näher dargelegt (Kap. 18 V. 2.), expressis verbis in mehreren Richtungen das richterliche Methodeninstrumentarium. Die richter­ liche Kompetenz zur Rechtsanpassung und zur Rechtsfortbildung wird rechtsgrundsätzlich eingeschränkt. Der Richter darf im Wege der Ana­ logie keine neuen Straftatbestände schaffen und bestehende nicht erweitern.1125 Art. 103 Abs. 2 GG setzt also nicht nur der Tatbestand­ sergänzung, sondern auch der tatbestandsausweitenden Interpreta­

1124 Vgl. G. Anschütz 1960, S. 474 ff. Textliche Hinweise darauf, dass das GG diese Frage demgegenüber anders beantworten wollte, könnten sich allenfalls daraus erge­ ben, dass man die ursprüngliche Fassung des heutigen Abs. 3 – »Rechtsprechung und Verwaltung stehen unter der Herrschaft des für alle gleichen Gesetzes« – u. a. deshalb nicht übernahm, weil man das Wort »Herrschaft« als »zu scharf« vermeiden wollte (JöR n. F., Bd.1, S. 195, 197). 1125 So schon Anschütz 1960, Anm. 4. zu Art. 116.

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tion Grenzen1126. Wenn hier der »mögliche Wortsinn des Gesetzes [...] die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation« mar­ kiert,1127 heißt das zugleich: Für die Interpretation von Strafnormen darf der Absicht des Gesetzgebers gerade keine ausschlaggebende, son­ dern von vornherein nur eine beschränkte Bedeutung zugesprochen werden. Hat diese Absicht im Gesetzestext keinen Niederschlag gefun­ den, soll der Richter seine Auslegung auch nicht auf sie stützen dürfen. Relevant ist die Entstehungsgeschichte, wie gezeigt, nur, um aus ihrem Kontext den Sinn des Gesagten zu ermitteln. Es liegt im Schutzzweck des Art. 103 Abs. 2 GG, dass das »Gemeinte« nur dann »gesetzlich bestimmt war«, wenn es der Gesetzgeber auch gesagt hat. Denn mit der Formel, der »Zweck der Vorschrift gebietet es auch«1128, ist sehr leicht und schnell jeder Wortlaut überspielt – und das gilt im Hinblick auf die rechtsstaatliche Funktion des Gesetzesvorbehalts auch, wenn dieser Zweck unmittelbar aus der Entstehungsgeschichte abgeleitet werden kann. (3.) Ergibt sich so aus dem strengen Gesetzesvorbehalt des Art. 103 Abs. 2 GG eher eine prinzipielle Begrenzung teleologischer Interpretationsansätze, folgt bei einer systematischen Interpretation des Zusammenhangs von Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 2 GG im Umkehrschluss aber gleichzeitig, dass die Bindung an »Gesetz und Recht« die mit dem Grundsatz nulla poena sine lege statuierten prin­ zipiellen Begrenzungen richterlicher Interpretationskompetenz im Allgemeinen nicht umfasst. (4.) Ein negativer Befund erscheint damit zunächst eindeutig. – Freilich sind auch die Vorstellungen eines Gesetz- oder Verfassungs­ gebers, die im Normtext, weil selbstverständlich, keinen unmittelba­ ren textlichen Niederschlag gefunden haben, nicht von vornherein unbeachtlich. Doch gerade wenn man mit Rüthers die Funktion einer »Auslegung« wesentlich darin sieht, diejenigen Botschaften des Rechtssatzes zu ermitteln, die »die Normsetzer hineinlegen

1126 BVerfGE 92, 1–25 – Sitzblockade III – juris Rn. 58. Konkretisierend zu den ver­ fassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen nach Art. 104 GG BVerfGE 134, 33–106. 1127 AaO. Rn. 46. 1128 BGHSt 18, 114–123 – juris Rn. 18. Die Rspr. des BGH zu § 142 StGB a. F. – siehe die zitierte Entscheidung BGHSt 18, 114–123 m. w. N. – zeigt geradezu beispielhaft, wie man sich mit dieser Formel über den Wortlaut hinwegsetzen kann; näher hierzu Herzberg, JuS 2005, S. 3 f.

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II. Die Vorgaben des GG aus der Perspektive historischer Auslegung

konnten und wollten«,1129 wird man für das GG vergeblich nach wei­ teren hinreichenden Anhaltspunkten für die Annahme suchen, der Verfassungsgeber habe dem GG eine eindeutige Präferenz für die subjektive Auslegungstheorie, zwar stillschweigend, aber doch als Selbstverständlichkeit, in die Wiege gelegt. Im Gegenteil: Aus der Sicht des Parlamentarischen Rates konnte es 1948/49 keine solche Selbstverständlichkeit geben. Bis 1933 wurden überwiegend objektive Auslegungsansätze vertreten; nach 1933 wurden diese dann weitge­ hend durch subjektiv-telelogische Auslegungsmethoden verdrängt. Sie entsprachen, wie K. Engisch 1935 zutreffend feststellte, dem »Füh­ rerprinzip«.1130 Auch P. Heck passte in seinem Aufsatz »Rechtser­ neuerung und juristischen Methodenlehre« von 1936 seine Interes­ sentheorie an und sah »in Führerwort und Parteiverlautbarungen neue und reiche Erkenntnismittel«.1131 (5.) Als Zwischenergebnis ist mithin festzuhalten, dass sich das Verdikt gegen die objektive Theorie jedenfalls auf eine historische Auslegung der Art. 20 Abs. 3; 97 Abs. 1 und 103 Abs. 2 GG nicht stüt­ zen lässt. – Und auch das Gewaltenteilungsprinzip führt hier zu kei­ nen anderen Ergebnissen.

2. Erste Konsequenzen aus dem Gewaltenteilungsprinzip Die subjektive Theorie ist nicht nur Auslegungstheorie. Mit der Wil­ lenstheorie liegt ihr, bezogen auf den Willen des Souveräns1132, ein spezifisch hierarchisch ausgerichtetes Steuerungsmodell zugrunde, ein Modell, das einzig den Gesetzgeber als entscheidenden und legi­ timierten Gestalter der Rechtsordnung ansieht. »Das Gesetz«, so for­ mulierte es Hillgruber in seiner Kommentierung zu Art. 97 GG, »ist der demokratisch legitimierte und vorgegebene, alleinige Entschei­ dungsmaßstab des Richters.«1133 Entsprechend wird eine Reserve­ kompetenz der Rechtsprechung auch dann verneint, wenn der Gesetz­ geber untätig bleibt. Gestützt auf das Gewaltenteilungsprinzip Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 786. K. Engisch 1935/1987, S. 87 m. w. N. 1131 P. Heck 1936, S. 13. 1132 Zur Problematik des »Willensarguments« M. Hensche 2001. 1133 C.Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Art. 97 Rn. 30 (Stand 2008); Her­ vorh. d. Verf. 1129

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wird der Gesetzesvorbehalt als umfassender Gestaltungsauftrag verstanden.1134 – Doch dieses Verständnis von Gewaltenteilungs­ prinzip und Gesetzesvorbehalt überzeugt nicht. (1.) Zunächst kann sich auch diese Position nicht auf eine histo­ rische Auslegung des GG stützen. Der Gesetzesvorbehalt wurde in der Weimarer Zeit nie als umfassender Gestaltungsauftrag verstanden, sondern immer nur bereichsspezifisch, als notwendig für »Eingriffe in Freiheit und Eigentum« – so die damalige Formel1135 – und als »institutioneller Gesetzesvorbehalt«.1136 Für die Erweiterung dieses Vorbehaltsbereiches um die »Wesentlichkeitstheorie« gibt es in der Entstehungsgeschichte keinerlei Grundlage. Es handelt sich, wie das Gericht selbst sagt, um eine »vom Bundesverfassungsgericht entwi­ ckelte Lehre«.1137 (2.) Das mithin nicht vom Verfassungsgeber vorgegebene, son­ dern via Richterrecht geschaffene Institut ist vom BVerfG auch nicht als umfassender Gesetzesvorbehalt gemeint und ausgestaltet, etwa des Inhaltes, dass alle wesentlichen Entscheidungen in der Demo­ kratie durch Parlamentsgesetz getroffen werden müssen. Wenn als Beispiel für eine notwendige gesetzliche Regelung immer wieder das Arbeitskampfrecht genannt wird,1138 dann hat das BVerfG gerade dies stets abgelehnt.1139 In seiner Entscheidung über die Rechtschreibre­ form hat das Gericht denn auch deutlich gemacht, dass der Wesent­ lichkeitsgrundsatz keine wirklich eigenständige dogmatische Funk­ tion zu erfüllen vermag: »Dieser Grundsatz verlangt, daß staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen durch förmliches Gesetz legitimiert wird. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, und darf sie nicht anderen Normgebern überlassen. Wann es danach einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetz­ geber bedarf, läßt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei den tragen­ C. Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Art. 97 Rn. 44 f. (Stand 2008). Vgl. etwa F. Fleiner 1913, S. 125 f. 1136 Eine allgemeine Übersicht zur Problematik gibt Schmidt-Aßmann 2006, S. 187 ff. 1137 BVerfGE 84, 212–232 – juris Rn. 40. 1138 C. Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Art. 97 Rn. 44. (Stand 2008). 1139 BVerfGE 84, 212–232; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26. März 2014 – 1 BvR 3185/09 –, juris. 1134 1135

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den Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den darin verbürgten Grundrechten, zu entnehmen [...] Danach bedeutet wesentlich im grundrechtsrelevanten Bereich in der Regel ›wesentlich für die Ver­ wirklichung der Grundrechte‹ [...]. Die Tatsache, daß eine Frage poli­ tisch umstritten ist, führt dagegen für sich genommen nicht dazu, daß diese als wesentlich verstanden werden müßte (vgl. BVerfGE 49, 89 ). Zu berücksichtigen ist im übrigen auch, daß die in Art. 20 Abs. 2 GG als Grundsatz normierte organisatorische und funktionelle Unterscheidung und Trennung der Gewalten auch darauf zielt, daß staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Orga­ nen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammen­ setzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Vorausset­ zungen verfügen. Dieses Ziel darf nicht durch einen Gewaltenmonismus in Form eines umfassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen werden (vgl. BVerfGE 68, 1 ).«1140

Der Gewaltenteilungsgrundsatz monopolisiert die Rechtsetzung also keineswegs bei der Legislative.1141 Er statuiert kein reines Trennungs­ prinzip.1142 Die Prärogative des Parlaments steht deshalb nicht zur Disposition. Sie ergibt sich aus Gesetzesvorbehalt, Gesetzesvorrang und – als umfassender Titel – aus dem parlamentarischen Zugriffs­ recht.1143 Diese setzen einer gerichtlichen Rechtserzeugung grund­ sätzliche Grenzen, schließen aber eine originäre Kompetenz der dritten Gewalt als »Reservegesetzgeber« nicht aus. Damit ist zugleich allerdings auch eine notwenige Differenzierung vorgenommen: Diese »Reservekompetenz« umfasst grundsätzlich auch eine Kompetenz zur (ergänzenden) Rechtsfortbildung, schließt keineswegs aber eine solche contra legem ein. Auf die Grenzen, die der Richter hier zu beachten hat und die für eine verfassungsadäquate Methodik entscheidend sind, ist erst im Abschnitt V. und nach der Auseinan­ dersetzung mit dem Streitstand um das »richtige« Auslegungsziel einzugehen. Mit dieser Differenzierung ist es auch keine fragwürdige These1144, wenn das BVerfG feststellt: »Rechtsfortbildung war in

Dazu näher Schmidt-Aßmann 2006, S. 191. Auch und gerade rechtsvergleichend gibt es für diese These keine Stütze, vgl. A. Bruns 2014, JZ 2014, S. 167 f. 1142 Schmidt-Aßmann 2006, S. 179 ff. m.w.N. 1143 Dazu auch hier näher Schmidt-Aßmann aaO. S. 185ff. 1144 So aber Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Art. 97 Rn. 66 (Stand 2008); sein Hinweis auf die durch den Aufwertungsstreit (Vgl. RGZ 107, 78) ausgelöste Dis­ kussion trägt seine generelle These nicht, da es sich hier eindeutig um das Problem 1140

1141

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

der deutschen Rechtsgeschichte nicht nur seit jeher eine anerkannte Funktion der Rechtsprechung; sie ist im modernen Staat geradezu unentbehrlich. Gewichtige Regelungen des gegenwärtigen bürgerli­ chen wie öffentlichen Rechts beruhen auf ihr.«1145 Das BVerfG begründet die Reservekompetenz auch zu Recht mit dem Grundsatz, dass die Gerichte aufgrund des aus dem Rechts­ staatsprinzip abgeleiteten Justizgewährleistungsanspruchs verpflich­ tet sind, wirkungsvollen Rechtsschutz zu bieten.1146 Soweit es sich um Maßnahmen der öffentlichen Gewalt handelt, für die es eines Geset­ zes bedarf, verlangt die Entscheidung keine Rechtsschöpfung. Die Maßnahme ist aufzuheben. Dort, wo kein Gesetzesvorrang besteht, muss der Richter ohne ein solches entscheiden, d. h. selbst eine Ent­ scheidungsregel entwickeln (Kap. 16).1147 Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG hat ein Gericht zwar das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn es ein Bundesgesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält – etwa weil das Gesetz den ver­ fassungsrechtlichen Anforderungen nicht entspricht, die sich aus dem Bestimmtheitsgrundsatz ergeben. Ein Gesetzgebungserzwingungsver­ fahren hat das GG aus guten Gründen aber nicht vorgesehen.

3. Konsequenzen aus der Bindung an »Gesetz und Recht« Wenn aber »gewichtige Regelungen des gegenwärtigen bürgerlichen wie öffentlichen Rechts« auf richterlicher Rechtserzeugung beruhen, kann es dann sinnvoll sein, dem Richterrecht gleichwohl seine Qua­ lität als »Recht« im Sinne der Formel »Gesetz und Recht« abzuspre­ chen? Diese Frage kann nicht isoliert beantwortet werden, sondern nur im Zusammenhang mit der bisher ausgeklammerten begrifflichen Klärung dieser Formel. Bereits ein oberflächlicher Versuch, durch Lektüre der Kommentarliteratur1148 herauszufinden, was mit der einer Entscheidung contra legem handelte; vgl. dazu G. Anschütz 1960, Art. 102 Anm. 4. 1145 BVerfGE 69, 188–209 – juris Rn. 51. 1146 Vgl. BVerfGE 85, 337, 345; 107, 395, 406 f.; Nichtannahmebeschluss vom 26. März 2014 – 1 BvR 3185/09 –, juris Rn. 39. 1147 Die Kritik etwa von C. Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Art. 97 Rn. 70 (Stand 2008), überzeugt also nicht. 1148 Zur Übersicht vgl. P. Hilbert, JZ 2013, S. 130 ff.

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Formel von »Gesetz und Recht« juristisch präzise gemeint ist, zeigt allerdings, wie problembehaftet eine klare Verankerung methodischer Vorgaben in dieser Norm ist. Man stößt auf einen reichlich dissonan­ ten Chor von Meinungen. Es lassen sich – unter Verzicht auf durchaus wichtige Schattierungen – immerhin vier Grundpositionen ausma­ chen: 1. In der Formel wird ein Ausdruck der »ewigen Spannung zwischen Recht und Gesetz« gesehen – mit der Tendenz, dass bei Widerspruch das Gesetz dem überpositiven Recht und dem Rechts­ empfinden weichen muss.1149 Es ist so eine Formel für ein »Recht-vorGesetz-Denken«.1150 2. Die Formel »Gesetz und Recht« sei eine rhetorische Paarfor­ mel. »Gesetz« sei jede Rechtsnorm im materiellen Sinn, die Bindung an »Recht« demgegenüber ein Pleonasmus.1151 3. Zwischen Gesetz und Recht wird differenziert. Die Zuordnun­ gen und Begriffsbestimmungen fallen allerdings unterschiedlich aus. Dem Gesetz wird als »Recht« das »Gewohnheitsrecht« gegenüberge­ stellt. Oder das »Gesetz« wird als Parlamentsgesetz verstanden; das »Recht« umfasst dann alle anderen Normen.1152 4. Die Diskussion über die Einordnung des Richterrechts verläuft unabhängig davon, ob man in der Formel »Gesetz und Recht« eine Paarformel sieht oder zwischen »Gesetz« und »Recht« differenziert. Nach der wohl überwiegenden Meinung wird das »Richterrecht« von der Bindung an »Gesetz und Recht« begrifflich nicht erfasst.1153 Das Fazit, das Huster/Rux ziehen – die von Anfang an umstrit­ tene und unklare, rhetorisch motivierte Formulierung lasse ein ein­

v. Mangoldt 1953, Art. 20, Ziff. 6. Oder nur Verweis auf einen überpositiven Normenbestand BVerfGE 34, 26,286; 95, 96, 130. 1151 So etwa W. G. Leisner, in H. Sodan GG, Art. 20 Rn. 44, 46 (2. Aufl. 2011). 1152 So insbesondere K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck. GG II, Art. 20 Abs. 3 Rn. 265 f. (6. Aufl. 2010). 1153 Vgl. etwa K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck. GG II, Art. 20 Abs. 3 Rn. 265 f. m. w. N. (6. Aufl. 2010), aber in dem Sinne, dass es Richterrecht als »eigenständige Rechtsquelle« nicht geben darf. Wie die Überlegungen zur Rechtsatz­ qualität dogmatischer Sätze (Kap. 18 III. 3. e) und die nachfolgenden Überlegungen zur Einordnung des Richterrechts zeigen, zielt ein solcher Einwand aber auf die unter­ schiedliche Bindungskraft von Gesetzesnorm und Richterrecht, die nicht zu bestreiten ist. 1149

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deutiges Auslegungsergebnis kaum zu1154 –, ist also kaum von der Hand zu weisen.

a) »Gesetz und Recht« Gleichwohl lassen sich aber für wesentliche Streitfragen hinreichend abgesicherte Feststellungen treffen, aus denen dann auch weitere Folgerungen gezogen werden können. (1.) Eine erste Feststellung betrifft die unter 1. aufgeführte Posi­ tion. Die Formel »Gesetz und Recht« eröffnet keine Möglichkeit, sich unter Bezug auf das »Recht« – sei es als überpositives Naturrecht, Gerechtigkeit oder ein wie auch immer gespeistes Rechtsempfinden – über das Gesetz hinwegzusetzen.1155 Der Richter hat zu prüfen, ob sich das Gesetz im Rahmen der »verfassungsmäßigen Ordnung« (Art. 20 Abs. 2 GG) hält; verneint er dies und sieht keine Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung1156, hat er die Norm dem BVerfG vorzulegen. Eine Auslegung im Sinne der Legitimation eines »Recht-vor-Gesetz-Denkens« bedeutete demgegenüber nichts ande­ res als eine Dekonstruktion des Rechtsstaates. Die These, nach der »die Formel auf die ewige Spannung zwi­ schen Gesetz und Recht« hinweise und sie es dem Richter auch ermöglichen solle, sich gegen das Gesetz »für das allgemeine Rechts­ empfinden zu entscheiden«, hatte v. Mangoldt in seiner Kommentie­ rung von 1953 auf eine OLG-Entscheidung gestützt.1157 Verständlich ist sie »auf dem Hintergrund von Unrechtserfahrungen«1158 – verfas­ sungsrechtlich begründet ist die These nicht. In den Materialien zu Art. 20 GG finden sich keine Hinweise auf ein solches Verständ­ nis.1159 Wichtiger als dieses Schweigen ist aber der Umstand, dass es in den Beratungen zu Art. 97 GG ausdrücklich abgelehnt wurde, zur Formulierung des Herrenchiemseer Entwurfs zurückzukehren und Huster/Rux, in Epping/Hillgruber GG, Art. 20 Rn. 169.1 (2. Aufl. 2013). Heute wohl die überwiegende Meinung. Vgl. H. Maurer 2010, § 8 Rn. 16; K. Hesse 1967, S. 78; K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck. GG II, Art. 20 Abs. 3 Rn. 266 ff (6. Aufl. 2010). 1156 In diesem Sinne muss man wohl auch in BVerfGE 34, 269 – juris Rn. 38 – den Verweis auf das Recht verstehen, das seine »Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt«. 1157 v. Mangoldt 1953, Art. 20 Ziff. 6. 1158 F. Ossenbühl 2007, in: HStR V, § 100 Rn. 18. 1159 JöR. n. F 1951, S. 195 ff. 1154 1155

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II. Die Vorgaben des GG aus der Perspektive historischer Auslegung

hinter den Worten »dem Gesetz« die Worte »und ihrem Gewissen« einzufügen.1160 Das GG hat dem Richter zwar ausdrücklich das Recht zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen eingeräumt (Art. 100 GG); man kann aufgrund dieser ausdrücklichen Ablehnung einer Gewissensprüfung aber nicht davon ausgehen, dass es dem Richter, anders als die WRV, gleichwohl die Befugnis geben wollte, einem Gesetz den Gehorsam zu verweigern, weil es nach seiner Mei­ nung gewissen Normen, die – wiederum nach seiner Meinung – über dem Gesetzgeber stehen (etwa: Sitte, Sittlichkeit, Treu und Glauben, »Naturrecht«) widerspricht oder gewissen Werturteilen (Gerechtig­ keit, Billigkeit, Vernunft) nicht standhält.1161 Wenn es in der SorayaEntscheidung heißt: »Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch«, dann wird damit auf das GG ver­ wiesen und nicht auf Normen, die außerhalb der Verfassung liegen. Der folgende Satz macht dies auch deutlich: »Gegenüber den positi­ ven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechts­ ordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag.«1162 (2.) Positiv umfasst die Formel »Gesetz und Recht« zunächst und unstreitig die Bindung an die klassischen Rechtsquellen, an Verfassungsrecht, förmliche Gesetze, Rechtsverordnungen, auto­ nome Satzungen, das Gewohnheitsrecht1163 sowie das EU-Recht.1164 Umstritten ist die Zuordnung der vielfältigen Regeln, die auf »pri­ vater Rechtsetzung« beruhen.1165 Anerkannt ist der Tarifvertrag als autonome Rechtsetzung.1166 Zu differenzieren ist hinsichtlich der allgemeinen Verwaltungsvorschriften (a) und des Richterrechts (b).

JöR. n. F 1951, S. 716 f.; näher dazu Hillgruber, Art. 97 Rn. 32. G. Anschütz 1960, Art. 102 Anm. 4. 1162 BVerfGE 34, 269, 286 f.; in diesem Sinn auch C. Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Art. 97 Rn. 38 (Stand 2008). 1163 BVerfGE 78, 214, 227; F. Ossenbühl 2007, in: HStR V, § 100 Rn. 15 f. 1164 Eine differenziertere Betrachtung erfordern nur die Richtlinien, Art. 288 Abs. 3 AEUV; vgl. dazu näher M. Ruffert, in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 47 ff. m. w. N. (4. Aufl. 2011). 1165 Vgl. F. Ossenbühl 2007, in: HStR V, § 100 Rn. 16; P. Hilbert, JZ 2013, S. 130, 133. 1166 BAG, Urteil vom 21. Februar 2012 – 9 AZR 461/10 –, juris Rn. 17; BAGE 133, 354–372. 1160 1161

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aa) Zur Einordnung allgemeiner Verwaltungsvorschriften Allgemeine Verwaltungsvorschriften sind grundsätzlich Gegen­ stand und nicht Maßstab gerichtlicher Kontrolle. Die Gerichte sind bei ihrer Kontrolltätigkeit gegenüber der Verwaltung an Verwaltungs­ vorschriften – etwa mit norminterpretierenden Vorgaben – grund­ sätzlich nicht gebunden.1167 Eine Ausnahme wird hier allerdings in ständiger Rechtsprechung bejaht, wenn den Verwaltungsvorschriften zum einen eine normkonkretisierende Wirkung zukommt1168 und ihrem Erlass zum anderen »ein umfangreiches Beteiligungsverfahren vorangeht, dessen Zweck es ist, vorhandene Erfahrungen und den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis auszuschöpfen« und dieser Stand im Entscheidungszeitpunkt noch nicht überholt ist.1169 Besteht für Beschränkungen, etwa der Berufswahlfreiheit, ein Gesetzesvor­ behalt, reichen normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften als Grundlage nicht aus.1170 ab) Zur Einordnung des Richterrechts (III)1171 Die Rechtsqualität des Richterrechts ist zwar immer noch prinzipiell im Streit,1172 heute aber wohl überwiegend anerkannt1173. Nach der hier vertretenen Auffassung lassen Regelbindung und Rechtspraxis auch kaum eine andere Qualifizierung zu. Damit wird freilich nicht die These vertreten, es seien »Legislative und Justiz […] letztlich mit prinzipiell gleichem Rang dazu berufen das Recht zu schaffen«.1174 Andererseits »macht« es keinen juristisch-dogmatischen Sinn und 1167 BVerfGE 78, 214–232 – juris Rn. 37; BVerwGE 107, 338–344 –, juris Rn. 15; BVerwG, Beschluss vom 01. Dezember 2009 – 4 B 37/09 –, juris Rn. 5. 1168 BVerwGE 129, 209–219 m. w. N. 1169 BVerwGE 107, 338–344 – juris Rn. 17. 1170 BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 09. März 2007 – 1 BvR 2887/06 –, juris. 1171 Zur Thematik »Richterrecht und Regelbindung« – Richterrecht I – siehe Kap. 16 III.; zur Rechtsatzqualität dogmatischer Sätze – Richterrecht II – Kap18 III. 3. Einen Überblick über den neueren Diskussionsstand gibt der von C. Bumke herausgegebene Band »Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsprechung«, Tübingen 2012. 1172 Pointiert etwa E. Picker 2012, S. 85 ff. 1173 Vgl. die oben zitierte Entscheidung BVerfGE 78, 214,227 – juris Rn. 37; BVerfGE 54, 100, 112; Ossenbühl 2007, in: HStR V, § 100 Rn. 50 ff.; dort auch eine Übersicht über den Streitstand. 1174 T. Raiser, Richterrecht heute, ZRP 1985, 111,116.

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geht sowohl an der Rechtspraxis als auch an der revisionsrechtlichen Aufgabe, Rechtsfragen von »grundsätzlicher Bedeutung« zu klären, vorbei, wenn »man jeder und also auch der innovativen richterlichen Entscheidung jegliche Normwirkung abspricht«.1175 Das verkennt auch verfassungsrechtliche Vorgaben. Eine Verfassung, die »zur Wah­ rung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung« ausdrücklich einen »Gemeinsamen Senat« vorsieht (Art. 95 Abs. 3 GG), formuliert damit genau das Gegenteil einer »Absage an jede fallübergreifende normative Wirkung des Urteils«.1176 Soweit Prozessordnungen das Kriterium »zur Fortbildung des Rechts« verwenden, lässt sich daraus auch nicht sinnvoll folgern, aus dieser »einfachgesetzliche(n) Ermäch­ tigung zur richterlichen Fortbildung des Rechts« lasse sich nur der Schluss ziehen, »dass alle übrigen Richter und Spruchkörper eine sol­ che Kompetenz nach dem Willen des Gesetzgebers gerade nicht besit­ zen sollen«.1177 Denn den Großen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes kann die Aufgabe der Rechtsfortbildung in der Regel nur zuwachsen, wenn zuvor eine Instanz eine entsprechende »rechtsfort­ bildende« Rechtsauffassung ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat. Da diese dann aber unter Verletzung der richterlichen Gesetzesbin­ dung formuliert worden wäre, hätte sie die Revisionsinstanz deshalb bereits zuvor als rechtsfehlerhaft zurückweisen müssen. Inhaltlich wird man nach unterschiedlichen Erscheinungsformen differenzieren können, etwa zwischen gesetzeskonkretisierendem, gesetzesergänzendem, gesetzesvertretendem und gesetzeskorrigie­ rendem Richterrecht. Die Kriterien, nach denen diese Unterscheidun­ gen zu treffen sind, variieren dann allerdings je nach methodischen Ansätzen; die »Subjektivisten« werden mit einem anderen Ausle­ gungsbegriff arbeiten als die »Objektivisten«. Ihre entscheidende Bedeutung gewinnen diese inhaltlichen Qualifizierungen jedoch erst bei der noch zu erörternden Frage der verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtserzeugung. An dieser Stelle zu klären ist aber die Einordnung des innerhalb der richterlichen Kompetenzgrenzen entwickelten Richterrechts in den Rahmen der Begrifflichkeit der Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG, also die Frage: Ist Richterrecht »Gesetz« oder »Recht« und welche Bindungsfunktion und Bindungskraft hat es? Dabei sollen Rechts­ 1175 1176 1177

E. Picker 2012, S. 116. E. Picker 2012, S. 117. Hillgruber, Art. 97 Rn. 71 gegen BVerfGE 54, 100, 112.

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wirkungen für den Einzelfall außer Betracht bleiben, auch wenn diese, wie die Feststellung der Nichtigkeit von Normen, eine unmittelbare normative Wirkung haben. Wesentlich für diese Einordnung sind immer noch die Kernsätze, die das BVerfG 1991 in dem Aussperrungsurteil formuliert hat; »Höchstrichterliche Urteile sind kein Gesetzesrecht und erzeugen keine damit vergleichbare Rechtsbindung [...]. Von ihnen abzuwei­ chen, verstößt grundsätzlich nicht gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Ihr Gel­ tungsanspruch über den Einzelfall hinaus beruht allein auf der Über­ zeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Es bedarf deswegen nicht des Nachweises wesentlicher Änderungen der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen, damit ein Gericht ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG von seiner früheren Rechtsprechung abweichen kann.«1178 Diese Feststellungen besagen, wie bereits in Kapitel 16 III. näher dargelegt, aber nichts gegen die Rechtsqualität des Richterrechts. Wie der Gesetzgeber sein von ihm gesetztes Recht grundsätzlich frei1179 ändern kann, ist auch die Rechtsprechung nicht an ihre Judikate gebunden.1180 Es gehört zur Offenheit unseres Rechtssystems und gewährleistet sie, dass der Richter seine Rechtsprechung (anders als nach den Regeln des case-law) nicht an Präjudizien ausrichten muss. Wie ebenfalls bereits ausgeführt, besagt dies aber nicht, dass die durch Art. 20 Abs. 3 GG ebenfalls gebundene vollziehende Gewalt gegen­ über einer ständigen Rechtsprechung in gleicher Weise frei wäre. Die Bindung an »Gesetz und Recht« ist nicht allein für das Innenrecht nur relational.1181 Es verhält sich hier nicht anders als bei einer Rechts­ verordnung, an die der Richter als Recht gebunden ist, die die voll­ ziehende Gewalt aus abgeleiteter Rechtsetzungsbefugnis heraus aber frei ändern kann. Jenseits dieser Grundsätze ist aber noch zu differenzieren: hin­ sichtlich des BVerfG (1.), des EGMR (2.) und einer »methodischen Bindung« an die höchstrichterliche Rechtsprechung (3.): 1178 BVerfGE 84, 212–232 – juris Rn. 42; vgl. auch BVerfGE 122, 248, 277: 126, 369– 400, st.Rspr. 1179 Unterschiede zwischen Gesetzesänderungen und Änderungen der Rspr. ergeben sich allerdings hinsichtlich des Vertrauensschutzes, vgl. dazu BVerfGE 126, 369–400 – juris Rn. 79. 1180 Die fallbezogene Bindung innerhalb von Instanzenzügen natürlich ausgenom­ men. 1181 Vgl. P. Hilbert, JZ 2013, 130, 135.

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(1.) Urteile des BVerfG binden, soweit die Bindungswirkung des § 31 BVerfGG reicht, auch den Richter. Ob diese Bindungswirkung allein den in der Entscheidungsformel ausgedrückten konkreten Streitgegenstand oder auch die tragenden Gründe der Entscheidung umfasst, soweit diese Ausführungen zur Auslegung der Verfassung enthalten, ist allerdings bislang noch nicht eindeutig geklärt. Die den Tenor tragenden Entscheidungsgründe sind dann aber nur »jene Rechtssätze, die nicht hinweggedacht werden können, ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfällt. Nicht tragend sind dagegen bei Gelegenheit der Entscheidung gemachte Rechtsausfüh­ rungen, die außerhalb des Begründungszusammenhangs stehen.«1182 (2.) Für Urteile des EGMR hat das BVerfG eine Bindungswir­ kung eigener Art entwickelt: Da der innerstaatliche Rang der Europä­ ischen Menschenrechtskonvention dem eines Bundesgesetzes ent­ spricht, kann eine Bindungswirkung von Entscheidungen des EGMR nicht mit einem unmittelbaren Vorrang des Rechts begründet werden, das der Gerichtshof anwendet und auslegt. Eine Auslegung der EMRK durch den EGMR ist aber »als Auslegungshilfe bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgeset­ zes heranzuziehen«.1183 Diese hat dann über den Einzelfall hinaus auch verfassungsrechtliche Bedeutung, denn – so das BVerfG – »das Grundgesetz will vor dem Hintergrund der zumindest faktischen Präzedenzwirkung der Entscheidungen internationaler Gerichte Kon­ flikte zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundes­ republik Deutschland und dem nationalen Recht nach Möglichkeit vermeiden«.1184 Grenzen einer solchen Auslegung ergeben sich aus dem Grundgesetz selbst. »Sie darf zunächst nicht dazu führen, dass der Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz eingeschränkt wird.« Zum anderen enden die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung dort, »wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr ver­ tretbar erscheint«.1185 (3.) Würden höchstrichterliche Urteile in gleicher Weise Rechtsbindung erzeugen wie Gesetzesrecht, wäre konsequent jede 1182 1183 1184 1185

BVerfGE 115, 97–118, – juris Rn. 29, 30. BVerfGE 128, 326–409 – juris Rn. 86. BVerfGE aaO Rn. 89., Hervorh. Verf. BVerfGE 128, 326–409 – juris Rn. 93.

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Abweichung als Verfassungsverstoß zu werten und könnte mit einer Verfassungsbeschwerde angefochten werden. Höchstrichterliche Urteile können auch nicht wie Urteile des EGMR als rechtlich zwin­ gend zu beachtende »Auslegungshilfen« qualifiziert werden. Ihr Gel­ tungsanspruch über den Einzelfall hinaus beruht in der Tat allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Da diese Urteile nach der hier vertretenen Auffassung jedoch zugleich integrale Bestandteile dessen sind, was »Gesetz und Recht« ausmacht, dürfen sie gleichwohl nicht ignoriert werden – d. h., es besteht methodisch ein Berücksichtigungsge­ bot. Methodisch gelten also die Regeln, die zur Konkretisierung die­ ses Gebots im Abschnitt »Rechtsdogmatik und Methode« bereits ent­ wickelt und erörtert wurden (Kap. 18 IV.). – Unmittelbare rechtliche Folgen können sich unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des Vertrauensschutzes aus der Missachtung solcher Regeln allerdings erst dann ergeben, wenn zusätzliche Umstände hinzutreten und eine Änderung einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht hinreichend begründet ist und sich nicht im Rahmen einer vorher­ sehbaren Entwicklung hält.1186

4. Konsequenzen aus der Konkurrenz unterschiedlicher »Gesetzgeber« – »konkurrierende Bindungsformen« Die Bindung an »Gesetz und Recht« ist heute – anders als nach der WRV – nicht nur eine ausschließliche Bindung an das Parla­ mentsgesetz. Der viel zitierte »denkende Gehorsam« des Interpreten wird nicht nur vom Gesetzgeber, sondern jetzt auch, bleiben wir bei der Sichtweise der Subjektivisten, vom Verfassungsgeber und den jeweils zuständigen Organen der EU und dem EGMR verlangt – dies teils als unmittelbare Bindung, teils als Verpflichtung, eine der Regelung gegenüber entweder konforme oder doch jedenfalls freundliche Auslegung anzustreben. Das bedeutet im Ergebnis, dass die Auslegung heute nicht mehr eindimensional auf die Normvorga­ ben nur eines Normgebers ausgerichtet sein kann oder allgemeiner: Ein Auslegungsmodell, das die Methodik auf eine, einem Rechtset­ zungssubjekt klar zurechenbare Normzwecksetzung ausrichten will, 1186

So im Umkehrschluss nach BVerfGE 122, 248–303 – juris Rn. 85.

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trifft die Auslegungssituation des Richters nicht mehr adäquat. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, die Rechtsquellenlehre gäbe hier doch klare Vorrangregeln. Wie im Kohärenzkapitel dar­ gelegt (Kap. 19), gibt es die eben nicht. Die Rechtsprechung des EuGH und der nationalen Arbeitsgerichte zum Urlaubsrecht zeigen sehr plastisch, was in der Praxis »konkurrierende Bindungsfor­ men«1187 bedeuten. Eine Rechtsprechung, die durch »konkurrierende Bindungsformen« gehalten ist, ihre Entscheidungen aus unterschied­ lichen Kohärenzzusammenhängen mit jeweils divergierenden Wer­ tungsperspektiven abzuleiten, kann diese Entscheidungen dann nur noch unter der Voraussetzung widerspruchsfrei begründen, dass sie ihre eigenen Kohärenzzusammenhänge schafft.

5. Zwischenbilanz Ziehen wir aus der bisherigen Analyse verfassungsrechtlicher Vorga­ ben eine Zwischenbilanz, lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: 1.

2.

3.

1187

Der Verfassungsgeber wollte nicht nur die Bindung des Richters an das Parlamentsgesetz, sondern auch an die verfassungsmä­ ßige Ordnung. Im Bereich des Strafrechts wollte er gegenüber der allgemeinen Gesetzesbindung eine engere Bindung und begrenzte deshalb das richterliche Rechtsfindungsinstrumenta­ rium. Sicher belegbar ist schließlich auch sein Wille, dem Richter das Recht zu nehmen, sich gegen das Gesetz auf sein Gewissen berufen zu können. Mehr lässt sich durch historische Auslegung mit hinreichender Eindeutigkeit nicht ermitteln. Insbesondere ergibt sich aus Wort­ laut und Materialien nichts dafür, dass sich der Verfassungsgeber Grundpositionen einer subjektiven Auslegungstheorie zu eigen machen und den Richter auf einen bestimmten Methodenkanon festlegen wollte. Die Frage nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine verfassungsadäquate Methodik wird damit zu einer Frage, auf die nur noch mit den Mitteln einer »objektiv-teleologischen Auslegung« eine Antwort gegeben werden kann – etwas iro­ nisch könnte man hinzufügen: Auch der »Subjektivist« müsste Schmidt-Aßmann 2006, S. 183.

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

einräumen, dass die Verfassung durchaus »klüger« sein kann, als es der Verfassungsgeber war. Der grundlegende Ansatz, der sich bei einer »objektiv-teleologi­ schen Verfassungsauslegung« ergibt, ist die rechtliche Vorgabe, dass eine Methodik des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens der Zweck­ setzungsprärogative des Gesetzgebers 1188 gerecht werden muss. Verankert ist dieser Ansatz im Demokratieprinzip und im Gewalten­ teilungsgrundsatz. Er ist gleichsam der »Probierstein«, an dem sich die Auslegungstheorien messen lassen müssen, bevor man auf ihrer Grundlage Methodenfragen weiter diskutiert.

III. Recht – ein Steuerungsinstrument oder ein selbstreferentielles System? Wie schon festgestellt, verschränken sich im Streit zwischen subjek­ tiven und objektiven Theorien ganz unterschiedliche rechtstheoreti­ sche und rechtspolitische Modelle mit z. T. ebenso unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Ausgangsannahmen. Konkreter formuliert, hängt die Suche nach dem »richtigen« Auslegungsziel von den Ant­ worten auf folgenden vier Fragen ab: 1. Was ist Recht? – 2. Wie wird es erkannt? – 3. Wie wird es gewonnen? – 4. Welche Grenzen setzt das Gesetz der richterlichen Rechtserzeugung? Die entscheiden­ den Grundkontroversen des Methodenstreites liegen also in den unterschiedlichen Vorstellungen über die Steuerungsfunktion des Gesetzgebers einerseits und die Aussagekraft und Funktion des Gesetzestextes andererseits. Diese lassen sich vereinfachend auf folgende Grundmodelle zurückführen: 1. 2. 3. 4.

Recht als Schöpfung des »Volksgeistes« (Savigny) Recht als »vernünftige« Ordnung (urspr. objektive Theorie) Recht als eine vom Gesetzgeber geschaffene Ordnung Recht als politisches Steuerungsinstrument und als »objek­ tive« Ordnung

Bereits diese Aufstellung legt aber auch die Vermutung nahe, dass man die Grundfrage nach dem »richtigen« Auslegungsziel nicht sinnvoll beantworten kann, wenn man die Problematik auf die Alter­ 1188

Formulierung im Anschluss an BVerfGE 96, 375, 395.

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III. Recht – ein Steuerungsinstrument oder ein selbstreferentielles System?

native subjektive oder objektive Auslegungstheorie verkürzt. Wie die überwiegende Zuordnung Savignys zu den »Subjektivisten« zeigt, verfehlen hier oft schon die im Meinungsstreit vorgenommenen Ein­ ordnungen den Kern der vereinnahmten theoretischen Aussage.

1. Recht als Schöpfung des »Volksgeistes« (Savigny) Recht war für Savigny nicht wesentlich das Ergebnis gesetzgeberi­ scher Willensentscheidungen; »das Gesetz ist das Organ des Volks­ rechts«.1189 Es ist Schöpfung des »Volksgeistes«, sprich der Rechtswis­ senschaft.1190 Interpretation als »Reconstruktion des dem Gesetze innewohnenden Gedankens«1191 zielte deshalb nie auf die Absicht des Gesetzgebers, sondern auf Inhalt und Kontext des Textes.1192 »Wer ein Gesetz also interpretiert, muß den im Gesetz liegenden Gedanken nachdenken, den Inhalt des Gesetzes nachfinden«, heißt es schon in der Juristischen Methodenlehre von 1802/03.1193 Entsprechend wird die historische Auslegung auch nur als objektiver Vergleich der alten mit der neuen Rechtslage verstanden.1194 Auslegungsziel war für Savigny auch nie der »ursprüngliche Sinn« des Gesetzes.1195 Der »Grund des Gesetzes« liegt für ihn »streng genommen außer den Gränzen« der Aufgabe, »den Inhalt des Gesetzes zum Bewußtsein zu bringen«.1196 Der Gebrauch des allgemeinen objektiven Gesetzes­ grundes »zur Auslegung des Gesetzes« sei »nur mit großer Vorsicht zulässig«.1197 Für Tatsachen, die »ein bloß subjektives Verhältnis zu dem Denken des Gesetzgebers haben«, heißt es dann aber mit aller Entschiedenheit: »müssen wir selbst den beschränkten Gebrauch gänzlich absprechen«.1198 Savigny 1840, S. 39. Siehe Savigny aaO. S. 14 ff. u. 45 ff. 1191 Savigny aaO. S. 213. 1192 Vgl. Savigny aaO, S. 216 f. 1193 Savigny 1802/03, S. 18. 1194 Savigny 1840, S. 214. 1195 Dazu M. Frommel 1981, S. 32 f., gegen Gadamers Interpretation in »Wahrheit und Methode« 1990, I., S. 309. 1196 Savigny 1840, S. 216 f. 1197 Savigny 1840, S. 220. 1198 Savigny 1840, S. 221. 1189

1190

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

Versucht man, die Position Savignys in den Theorienstreit zwi­ schen Subjektivisten und Objektivisten einzuordnen, verkennt man Eigenständigkeit und Kern seiner theoretischen Aussagen und seines Rechtsverständnisses.1199 Beide Theorien stellen teleologische Ausle­ gungselemente in den Mittelpunkt ihrer Interpretationstheorien. Für Savigny gehört aber die objektiv-teleologische Auslegung eindeutig nicht zu den »Grundregeln der Auslegung«1200 und noch eindeutiger verhält er sich zur subjektiv-teleologischen Auslegung; ihr spricht er, wie zitiert, »gänzlich« eine Gebrauchstauglichkeit ab. Gerade wenn Subjektivisten Savigny für ihre Position reklamieren, kann das also nur überraschen. Es macht m. E aber auch bereits exemplarisch deut­ lich, wie unterschiedlich selbst bei eindeutig erscheinender Textlage die Meinungen darüber sein können, was ein Autor mit einem Text wirklich gemeint und gewollt hat.

2. Recht als »vernünftige« Ordnung (urspr. objektive Theorie) Wird die objektive Theorie beschrieben und diskutiert, steht zu Recht auch deren schon 1851 von H. Thöl formulierte These zur Debatte, »dass das Gesetz einsichtiger sein kann, als der oder die Gesetzgeber«.1201 Wenn man in der aktuellen Diskussion diesen Gedanken als »auch kognitionswissenschaftlich drollige(n) These« charakterisiert,1202 scheint das witzig einleuchtend; man verbaut sich aber den Zugang zum Verständnis der theoretischen Hintergründe, aus denen die objektive Theorie erwachsen ist – und die dann auch die Ansatzpunkte für eine nicht nur ironisierende Kritik bilden. Eine Wurzel dieser Theorie ist die Formel vom »Besser-Verste­ hen«. Sie hat ihren Hintergrund in der Hermeneutik des deutschen Idealismus.1203 Es geht um den u. a. von Schleiermacher entwickelten Gedanken, dass jeder Text zwar als historisches Phänomen zu verste­ hen ist, ihm auf der anderen Seite aber auch ein objektiver Gehalt eigen ist. Ein Text ist also »nur zu verstehen aus der Totalität der Ausführlich und Nachweise bei S. Meder 2004, S. 135 ff. Zum Kanon siehe Savigny 1840, S. 212 ff. 1201 So bereits 1851 H. Thöl, zitiert nach S. Meder 2004, S. 121; siehe dort, S. 120 ff., auch zum Folgenden. 1202 E. Picker 2012, S. 85 ff.; siehe auch Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 722, 796 ff. 1203 Sie ist also nicht erst mit Radbruch üblich geworden, vgl. S. Meder 2004, S. 121. 1199

1200

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III. Recht – ein Steuerungsinstrument oder ein selbstreferentielles System?

Sprache« wie auch eine Rede nur »aus dem ganzen Leben, dem sie angehört«.1204 Diese Gedanken aufgreifend, hat dann H. Coing1205 von einer »Auslegung aus der Sachbedeutung« als viertem Kanon der Auslegung gesprochen.1206 Als Lehre der allgemeinen Hermeneutik hat er dieses Interpretationsprinzip zugleich verallgemeinert: »Wir werden hier zu der wichtigen Tatsache geführt, daß die Geistes­ wissenschaften es zwar zunächst mit Texten, mit Geisteswerken zu tun haben, die historisch entstanden sind und individuelle Schöpfun­ gen individueller Geister darstellen, daß diese Texte aber zugleich überhistorisch sind, indem sie auf einen bestimmten Sachzusammen­ hang verweisen wollen. Ein philosophisches Werk will ja nicht nur die Gedanken eines philosophischen Autors ausdrücken; er will eine Wahrheit aussprechen«.1207

Aus heutiger Sicht kann dieser Text als Argument zu Gunsten der objektiven Theorie kaum mehr überzeugen: Gesetze werden nicht mehr um einer überhistorischen Wahrheit willen gemacht, sondern weil der Gesetzgeber konkrete politische Regelungsabsichten hat, es als Instrument seiner Zwecksetzungsprärogative einsetzt. Die Vor­ stellung der Theoretiker der objektiven Theorie – Binding, Wach und Kohler – von Recht und Gesetz war jedoch durchaus eine andere.1208 Recht wurde als »vernünftige« Ordnung angesehen, das Gesetz als der »vernünftige Wille« der Rechtsgemeinschaft.1209 Inwieweit Hegels Vorstellung des Rechts als »objektiver Geist« in dieser Theorie mitschwingt, kann hier auf sich beruhen, eindeutig sind aber die Anknüpfungen an Savignys »Volksgeist«. Er wird als entscheidendes Auslegungselement angesehen.1210 Gesetzesinhalt ist, was der »ver­ nünftig auslegende Volksgeist« aus ihm entnimmt.1211

F. Schleiermacher 1999, S. 78. Siehe zu seiner Rezeption der Philosophischen Hermeneutik M. Frommel 1981, S. 41 ff. 1206 H. Coing 1959, S. 15 f. 1207 H. Coing 1959, S. 16. 1208 Zur Übersicht vgl. K. Larenz 1991, S. 32 ff., S. Meder 2004, S. 124, 135 ff. 1209 K. Larenz 1991, S. 33. 1210 S. Meder 2004, S. 124, 135 ff. 1211 K. Binding 1885, S. 451. 1204 1205

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

3. Recht als eine vom Gesetzgeber geschaffene Ordnung »Methodenfragen sind Machtfragen« – in zwei Varianten der subjek­ tiven Theorie wird dieser Zusammenhang geradezu evident: in der Auslegungstheorie der NS-Zeit, die am Führerprinzip orientiert war (oben II. 1.), und im Absolutismus in der Bindung des Richters an den Monarchen (»suprema lex regis voluntas«). Auf Näheres kommt es für eine Analyse der Grundpositionen heute nicht mehr an. Festzuhal­ ten ist aber das Scheitern eines Experiments im Übergang zu konsti­ tutionellen Machtdifferenzierungen: Die im Frühkonstitutionalismus vielfach unternommenen Versuche, durch Kommentierungsverbote und Vorlagepflichten an Gesetzeskommissionen die Herrschaft des souveränen Gesetzgebers über das Gesetz und seine Interpretation als immerwährende Bindung an den Willen des Gesetzgebers aufrecht­ zuhalten, sind alle misslungen; in die Rechtsgeschichte sind sie als »Denkmäler gesetzgeberischer Naivität« eingegangen.1212 Von Bedeutung für die aktuelle Diskussion sind heute allein diejenigen theoretischen Ansätze der »subjektiven Theorie«, denen es um die Ausrichtung der Methodenlehre auf die Wertungsprärogative des Gesetzgebers geht. Diese Ansätze haben sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts naturgemäß verschoben. P. Heck kämpfte mit seiner Interessentheorie zum einen gegen die Freirechtsschule und damit um die Bindung des Richters an das Gesetz und zum anderen gegen die Begriffsjurisprudenz und damit um eine Entbindung des Richters von den begriffsjuristischen Verengungen juristischer Beurteilungen auf das »rein Rechtliche«. Doch diese Schlachten sind längst geschlagen. Dass in Urteilen Werte- und Interessenkonflikte gelöst, entschieden oder vertagt werden, ist selbstverständliches Alltagsgeschehen der Rechtspraxis. Für die Rechtstheorie immer virulenter entwickelte sich dann aber die Frage, wer diese Wertungen vorzunehmen oder zu konkretisieren hat und wer die Maßstäbe setzt. Nicht, ob zu werten ist, ist das Problem, sondern die Kompetenzabgrenzung, die hier zwischen Rechtsprechung und Gesetzgeber vorzunehmen ist. Für die »subjektive Theorie«, wie sie etwa von Rüthers, Hillgru­ ber u. a.1213 vertreten wird, hat hier die Methodenlehre eine klare und eindeutige Antwort zu geben, indem sie durch verbindliche methodische Regeln die richterliche Interpretation an die vom Gesetz­ 1212 1213

K. Engisch 1975, S. 93. U. a. Looschelders/Roth1996, S. 45 ff.; M. Hensche 2001, S. 373 ff.

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III. Recht – ein Steuerungsinstrument oder ein selbstreferentielles System?

geber vorgegebenen Wertungen und intendierten Normzwecke bindet. Mit Rüthers’ Worten: »Wer wie die Obersten Bundesgerichte und die herrschende Lehre auf die Erforschung des historischen Normzwecks im Regelfall bewußt verzichtet, der will die Regelungsziele der Gesetzgebung entgegen den Prinzipien des demokratischen Rechts­ staates gar nicht kennen lernen. Er weiß dann nicht einmal, wann er von den Regelungsabsichten der Gesetzgebung abweicht oder ihnen zuwiderhandelt (›Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.‹). Wer in diesem Sinne angeblich ›objektiv‹ auslegt, will betrügen oder betrügt sich selbst. Unter dem Etikett einer wissenschaftlichen Methode werden die Verfassungsgrundsätze der Gewaltentrennung und des Demokratieprinzips unterlaufen.«1214

4. Recht als politisches Steuerungsinstrument und als »objektives« Ordnungssystem Eine genauere Analyse der Rechtsprechungspraxis, die diese Fest­ stellungen konkret belegen würde, gibt Rüthers nicht. Man kann diesen Feststellungen auch leicht eine nahezu unübersehbare Zahl von Entscheidungen entgegenhalten, in denen sich die Obersten Bun­ desgerichte mit der Entstehungsgeschichte auseinandersetzen.1215 Positionen, die, der älteren, rein objektiven Theorie entsprechend, die Heranziehung von Gesetzesmaterialien grundsätzlich ablehnen, spie­ len heute auch keine Rolle mehr: Vertreten wird die objektive Theorie seit langem nur noch in Gestalt der »vermittelnden« Theorie. For­ muliert wurde sie insbesondere von K. Larenz. Seine Ausgangsthese lautet: »Jeder der beiden Theorien liegt eine Teilwahrheit zugrunde; daher kann keine ohne Einschränkung akzeptiert werden.«1216 Maß­ gebend könne »nur die Ermittlung des heute rechtlich maßgeblichen, also eines normativen Sinnes des Gesetzes sein.« Dieser könne aber »keinesfalls« unabhängig von den Regelungsabsichten des Gesetzge­ bers festgestellt werden.1217 Das heißt, es wird prinzipiell eine dop­ pelte Perspektive eingenommen: Recht als die heute »vernünftige« Bedeutung des normativen Gesetzessinnes und Recht als politisches Rüthers JZ 2006, S. 58. Zur Information gebe man bei »juris« nur etwa die Suchbegriffe »Gesetzesbe­ gründung« und »BGH«, »BVerwG« etc. ein. 1216 K. Larenz 1991, S. 316. 1217 K. Larenz 1991, S. 318. 1214 1215

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Steuerungselement, das von der Zwecksetzungsprärogative des Par­ laments her auszulegen ist.

5. Zwischenergebnis Weder die »vermittelnd objektive« Theorie noch der Befund, dass die Rechtsprechung nun keineswegs grundsätzlich »auf die Erforschung des historischen Normzwecks im Regelfall bewußt verzichtet«, ist für die »Subjektivisten« allerdings entscheidend. Wesentlich bleibt für sie, dass gerade auch die »vermittelnde Theorie« dem Richter eine »Freiheit der Methodenwahl« einräumt und somit einen demokratisch illegitimen Entscheidungsspielraum. Und in der Tat gilt für sie: »Die Rationalität der Methodenwahl ist ein ungelöstes Prob­ lem.«1218 – Eine Methodenlehre, deren unterschiedliche Operationen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können, nach der der Richter diese Operationen aber frei wählen kann, hebt sich schnell selbst auf. Entscheidend ist nicht mehr das methodische Verfahren, sondern das jeweilige Sachargument.1219 Hält man den Gesetzessinn, der sich aus den Materialien ergibt, nicht mehr für angemessen, gibt die objek­ tiv-teleologische Interpretation1220 dem Interpreten das Instrument an die Hand, stattdessen mit einer heute »vernünftigen« Bedeutung des normativen Gesetzessinnes zu arbeiten. Selbst eine eindeutige Regelungsabsicht des Gesetzgebers kann so überspielt werden.1221 Wenn demgegenüber eine »klare, in den Grundzügen ver­ bindliche juristische Methodenlehre der Rechtsanwendung« – so Rüthers1222 – gefordert wird, entspricht dies einem Grundpostulat der Methodik. Doch nicht in der Zielsetzung, mit der Rüthers der histori­ schen Auslegung die Funktion eines tragenden Interpretationsprin­ zips zuschreibt, liegt die Problematik dieses Ansatzes, sondern in der Frage, ob dieser Auslegungsaspekt diese Aufgabe auch leisten kann. Wenn die historische Auslegung, d. h. die Auslegung, die sich auf die Absicht des Gesetzgebers stützt, nicht nur als ein Element der Rechts­ ermittlung (unter anderen) missverstanden werden darf, sondern aus dieser Perspektive grundsätzlich der Inhalt einer Gesetzesnorm 1218 1219 1220 1221 1222

G. Haverkate 1996, S. 20. Siehe auch hier Haverkate, aaO. Zu dieser ausführlicher unter V 2. b. Vgl. die oben, Kap. 17 V., besprochene BAG-Entscheidung BAGE 137, 275–291. JZ 2006, S. 53.

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bestimmt werden muss, dann kann dieser Ansatz diese Funktion nur erfüllen, wenn man das »Recht« im Wesentlichen mit der vom Gesetzgeber geschaffenen Ordnung gleichsetzt. Die Phänomene des »Richterrechts« und die Praxis »konkurrierender Bindungsformen« haben jedoch gezeigt, dass Recht und seine Auslegung (d. h. die konkretisierenden »Ableitungsoperationen«) nicht mehr nur aus der Perspektive des Parlamentsgesetzes erfasst werden können. Aus heutiger Sicht fügen sich Begriffe wie der des »Volksgeistes« kaum noch in gegenwärtige Theoriezusammenhänge ein. Nichts anderes gilt für die Vorstellung, angesichts der dem Gesetz innewoh­ nenden Vernünftigkeit sei auch die Vernünftigkeit seiner Auslegung kein grundsätzliches Problem. Andererseits ist die Rechtsordnung ein »systemisches Gefüge« (Kap. 19 I. 2.). »Recht« ist nicht nur ein Produkt des Gesetzgebers, sondern ein Produkt des Rechtssystems, das alle an Rechtsetzung, Rechtsprechung, Rechtsumsetzung und Auslegung beteiligten Subsysteme umfasst und das nur als Gefüge partieller, mehr oder minder kohärenter Strukturen erfasst werden kann. Insoweit führt zwar kein direkter Weg vom »Volksgeist« Savi­ gnys zur aktuellen Diskussion. Über die (autonome!) Funktion, die er der Rechtswissenschaft zugewiesen hatte,1223 führt ein solcher Weg aber sehr wohl zu der Funktion, mit der in diesem Buch immer wieder die Bedeutung von »Interpretationsgemeinschaften« heraus­ gestellt wird. Für die folgenden Erörterungen bedeutet dies: Die Methodik kann an dem Umstand nicht vorbeigehen, dass »Recht« auch als eine sich evolutionär entwickelnde Ordnung zu verstehen ist.1224 Sie darf deshalb aber die Zwecksetzungsprärogative des Gesetzgebers nicht zum Spielball freier Methodenwahl machen. Es bedarf also Regeln, die diese Freiheit begrenzen. Dabei kann es aber nicht darauf ankommen, diese Regeln am Ideal des für eine Methodenlehre Wünschbaren auszurichten. Entwickeln und bestimmen lassen sich solche Regeln deshalb am besten in einer kritischen Auseinandersetzung mit den Ansätzen der subjektiven Theorie. Denn Maßstab können die Absich­ ten des Gesetzgebers nur insoweit sein, als sie in der Gesetzgebungsund Rechtsprechungspraxis als solche auch erkenn- und feststellbar sind. Auch bei dem Problem, hier eine methodische Grenzlinie zu fixieren, werden wir also wiederum auf den in der Diskussion um sub­ 1223 1224

Savigny 1840, S. 14 ff.; 45 ff. Kap. 26 V.

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jektive oder objektive Auslegung oft übersehenen Umstand stoßen, dass Methodenfragen auch erkenntnistheoretische Fragen sind.

IV. Die Absicht des Gesetzgebers – zur Problematik und Tauglichkeit der historischen Auslegung Sicher hat es einen nahezu unwiderstehlichen Reiz, eine Methoden­ lehre aus der Idee eines klaren Systems von Grundprinzipien und Regeln heraus zu konstruieren und zu entwickeln. Diese Regeln müssen dann freilich in der Praxis als Handwerksregeln auch den Zugewinn an Berechenbarkeit erbringen, den sie versprechen; sie dür­ fen keine Methodensicherheit vorgeben, die es nicht gibt, und keine Auslegungsmaximen zugrunde legen, die nur allzu kurze theoretische Beine haben. – Skizzieren wir also zunächst die Ansätze der »histori­ schen Auslegung«, auf denen Rüthers seine Methodenkonzeption aufbaut (1.) und fragen in zwei weiteren Schritten, ob und inwieweit diese Ansätze auf hinreichend tragfähigen theoretischen Annahmen beruhen (2.) und inwieweit sie die Gesetzgebungspraxis adäquat zu erfassen vermögen (3. u. 4.). Das primäre Ziel liegt aber nicht in der kritischen Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen, sondern darin, möglichst konkret zu analysieren, auf welche Befunde sich die Methodenlehre überhaupt stützen kann, wenn sie mit dem Argument des Willens oder der Absicht des Gesetzgebers arbeitet. Die Grenzen einer genetischen Auslegung sind also generell zu thematisieren.

1. Rüthersʼ Methodenkonzeption Die Kontroverse zwischen subjektiver und objektiver Theorie wird oft auch mit der Frage umschrieben, ob es für die Auslegung ent­ scheidend auf das »entstehungszeitliche« oder nur auf das »entschei­ dungszeitliche« Verständnis des Gesetzes ankommt. Rüthers setzt an die Stelle eines solchen »Entweder-Oder« ein Stufenmodell der Rechtsanwendung.1225 Die erste Stufe umfasst das Auffinden der einschlägigen Normen und die Gesetzesauslegung im engeren Sinne. In der zweiten Stufe – im Anwendungszeitpunkt – ist dann zu prüfen, 1225

B. Rüthers JuS 2011, 865, 867 f.; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 730 b ff.

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ob der Normzweck noch gültig ist oder ob, etwa wegen grundlegender Veränderungen der Sach- oder Rechtslage, eine richterliche Rechts­ fortbildung (»Ersatzgesetzgebung«) geboten ist.1226 Von Bedeutung ist für unseren Gedankengang zunächst nur die erste Stufe: der Normzweck als Auslegungsziel. Was ist der Normzweck und wie hat der Richter ihn zu ermitteln? Für Rüthers steht hinter jeder Norm »ein rechtspolitischer Gestaltungswille des Normgebers, der auf bestimmte Zwecke und Ziele gerichtet ist«. Dieser Normzweck wird mit der Normsetzung verbindlich.1227 In der Konsequenz dieses Ansatzes kommt der Entstehungsgeschichte des Gesetzes und seiner Einzelnormen zentrale Bedeutung für die zutreffende Rechtsanwendung zu. »Wer einen Text zutreffend verste­ hen will, muß danach immer zuerst versuchen, dessen Entstehung zu verstehen, also zu ermitteln, was den Autor des Textes veranlaßt hat, seine Botschaft, beim Gesetz ein Gebot, zu formulieren. Jede Auslegung ist also in der ersten Stufe eine historische Forschungsauf­ gabe«.1228 Gerichtet ist diese Aufgabe darauf, »den vom Autor mit dem Normtext verbundenen Sinn und Zweck zu rekonstruieren«. Das kann zwar »oft nicht mit der erstrebten Genauigkeit gelingen. Wegen der vielfältigen Materialien, die mit Normsetzungsverfahren regelmäßig verbunden sind, sind aber in den meisten Fällen wichtige und verläßliche Informationen über den verfolgten Normzweck zu erlangen.«1229 Unverzichtbar sei die »historische Auslegung« – im sonst oft üblichen Sprachgebrauch: die genetische Auslegung1230 – aus drei Gründen1231: 1. 2.

Oft gibt die Entstehungsgeschichte über den genauen Rege­ lungszweck einer Norm die verlässlichere Auskunft als der Wort­ laut oder die systematische Stellung. »Der zweite Grund liegt in der Funktion der historischen Aus­ legung als Abgrenzungsinstrument von Auslegung und Rechts­ fortbildung. Durch Auslegung kann kein anderer Gebotsgehalt einer Norm ermittelt werden als der, den die Gesetzgebung hineingelegt hat.«

B. Rüthers JuS 2011, 865, 867 f.; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 730 c ff. Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 718. 1228 B. Rüthers, JZ 2006, 53. 58; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 787. 1229 Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 788. 1230 Unter der »historischen Auslegung« wird seit Savigny oft nur der Vergleich zwischen der jetzigen und der früheren Rechtslage verstanden. 1231 Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 792 ff. 1226

1227

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3.

»Die historische Auslegung erweist sich schließlich als ein ent­ scheidendes Kriterium der Methodenehrlichkeit. Nur die ver­ suchte Aufklärung der Entstehungsgeschichte und des histori­ schen Normzwecks schafft die mögliche Klarheit über einen objektiv vorgegebenen Gebotsinhalt.«

Wenn es im Folgenden darum gehen wird, die Ansätze kritisch zu analysieren, dann stehen, wie gesagt, nicht die Zielsetzungen zur Diskussion: die Ziele der Methodenehrlichkeit und der Metho­ denklarheit und das noch näher zu begründende Gebot, dass der Richter dort, wo »die Entstehungsgeschichte über den genauen Rege­ lungszweck einer Norm die verläßlichere Auskunft als der Wortlaut oder die systematische Stellung« gibt, dieses Auslegungsergebnis nicht unberücksichtigt lassen darf. Die Probleme, die wir zu erörtern haben, liegen auf der Ebene der Verlässlichkeit, Aussagekraft und Erkennbarkeit der Entstehungsgeschichte. Die Kontroverse subjek­ tive versus »vermittelnd objektive« Theorie muss sich zunächst ein­ mal ihrer Tatsachengrundlagen vergewissern: Geben Gesetzgebungsund Begründungspraxis wirklich »in den meisten Fällen wichtige und verläßliche Informationen über den verfolgten Normzweck«1232 oder ist die Entstehungsgeschichte im Gegenteil meist nur von begrenzter Aussagekraft? – Wird Auslegung entscheidend als »eine historische Forschungsaufgabe«1233 verstanden, führt das eben auch zum klassi­ schen Problem aller Historiker: Können wir wirklich wissen, wie es wirklich gewesen ist? Inwiefern können wir uns denn sicher sein, dass die von Rüthers geforderte Rekonstruktion des vom Autor mit dem Normtext verbundenen Sinnes und Zweckes nicht doch nur wesent­ lich eine Konstruktion aus den Vorverständnissen des Interpreten ist? An Methodensicherheit und -ehrlichkeit wäre dann wenig gewonnen.

2. Kritik der erkenntnistheoretischen Ausgangspositionen Für Rüthers ergibt sich die theoretische Notwendigkeit seiner »historischen Auslegung« nicht nur – verfassungsrechtlich – aus dem Demokratiegebot und dem Gewaltenteilungsgrundsatz, sondern auch aus seiner erkenntnistheoretischen Position, durch die er sich 1232 1233

Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 788. B. Rüthers, JZ 2006, 53, 58; Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 787.

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IV. Zur Problematik und Tauglichkeit der historischen Auslegung

der philosophischen Hermeneutik verpflichtet sieht. »Dort«, so sein Ansatz, »gilt ein fundamentaler Grundsatz, der in der Metho­ dendiskussion der Juristen bisher kaum beachtet wird: »Einen Text verstehen, das setzt voraus, die Frage oder die Lage zu verstehen, auf die der Text eine Antwort war.«1234 Er zitiert mit diesem Satz den englischen Philosophen und Historiker R. G. Collingwood und nimmt zugleich ausdrücklich auf Gadamers Grundlagenwerk »Wahrheit und Methode« Bezug.1235 Rüthers erreicht über diesen Satz auch eine scheinbare innere Schlüssigkeit seiner Konzeption. Denn wenn dieser Satz als fundamentaler Grundsatz aller Auslegung gilt, fehlt es der bekämpften »objektiven Theorie« bereits an der Grundvoraussetzung dafür, einen Text zutreffend verstehen zu wollen und zu können. Die Frage ist nur: Ist dieser Ansatz stimmig? a. Ging es bei dem im vorigen Abschnitt bereits zitierten Text von Coing um die (durchaus nicht unproblematische) These des zugleich überhistorischen Gehaltes eines jeden Textes, so liegt doch in seiner Fortsetzung eine überzeugende Begründung für die Selbstverständ­ lichkeit einer »objektiven Auslegung«: »Ein philosophisches Werk will ja nicht nur die Gedanken eines philosophischen Autors ausdrücken; er will eine Wahrheit ausspre­ chen. Der einzelne Satz kann infolgedessen sowohl aus dem inneren Formzusammenhang heraus wie aus seiner sachlichen Bedeutung heraus, – aus dem, was er meint, interpretiert werden: die Tragödie z. B. als Kunstwert bestimmter Struktur, aber auch als Aussage über den Menschen, der wissenschaftliche Satz als Teil eines individuellen Systems, aber auch als Erkenntnisaussage. Es ist von vornherein deut­ lich, daß diese Interpretation auch dann möglich ist – ob ein solches Vorgehen sinnvoll ist, ist eine andere Frage –, wenn man von der Person des Autors ganz absieht, wenn man also die Frage der Genese, der historischen Entstehung dieses Satzes, ganz dahingestellt sein läßt. Die Möglichkeit dieser Auslegung aus dem Sachzusammenhang heraus zeigt uns jedenfalls, daß ein Geisteswerk, ein Satz, der einen Gedanken ausspricht, selbständig angeeignet werden kann, ohne daß man dabei auf die Person des Autors, die historischen Umstände, aus denen es erwachsen ist, zurückgreifen muß.«1236 Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 787.; vgl. auch Rüthers JZ 2006, 58. AaO. Fn. 1059: »Vgl. R. G. Collingwood, Denken. Eine Autobiographie, Stuttgart 1955. S. 30 ff.; H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 6. Aufl., Tübingen 1990, S. 368 ff., 375 ff.« 1236 H. Coing 1959, S. 16. 1234

1235

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Der Grundtatbestand ist eigentlich auch ganz einfach: Wir werden in eine Sprache hineingeboren und verstehen sie, auch ohne ihre Ety­ mologie zu kennen. Die Interpretationen der Gesänge Homers, der Bücher der Bibel, der Digesten haben Jahrhunderte unserer Kultur geprägt, obwohl keiner der Interpreten jemals wirklich sicher wissen konnte, auf welche Fragen zu welchem tatsächlichen historischen Zeitpunkt welche Autoren oder Kompilatoren mit ihren Texten eine Antwort gegeben haben oder geben wollten. Jede Kultur hat ihre Texte, über deren Autoren meist nichts oder jedenfalls nichts Genaues überliefert ist, legt sie aus, entnimmt ihnen Antworten auf Fragen, die man für wichtig hält, und interpretiert sie auf diese Weise immer wieder neu oder doch etwas anders als zuvor. Entgegen einer allzu vordergründigen Ironie ist es so auch durchaus sinnvoll, einen Text für klüger zu halten als seinen Autor. Kein Geringerer als Kant hat das im Hinblick auf seine Platon-Lektüre mit der Anmerkung getan, »daß es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn so gar besser zu ver­ stehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte.«1237 Zu den Texten gehören auch ihre Inter­ pretationen. Juristische Texte losgelöst von ihren Interpretationstra­ ditionen interpretieren zu wollen, macht nur unter sehr speziellen wissenschaftlichen Fragestellungen Sinn. Jedes neue Problem, das ein Rechtssystem mit einem Normtext löst, jede bislang noch nicht gestellte Frage, die es mit der Norm beantworten muss, bedeutet, dass dieser Norm eine größere Informationsdichte und eine größere Pro­ blemlösungskapazität zuwachsen. Vereinfacht: der § 242 BGB oder § 34 BauBG sind heute »klüger«, als sie der Gesetzgeber seinerzeit geschaffen hat. b. Es kann mithin nicht überraschen, dass der »fundamentale Grundsatz«, den Rüthers von Collingwood übernommen hat, gerade aus der Sicht der Philosophischen Hermeneutik auch fundamental kritisiert wurde. »Collingwoods Theorie des Re-enactment«, schreibt Gadamer, »vermeidet zwar die Partikularität der Psychologie, aber die Dimension der hermeneutischen Vermittlung, die in allem Verstehen durchschritten wird, entgeht ihm dennoch.«1238 Und es liest sich wie eine unmittelbare Kritik an Rüthersʼ Theorie der historischen 1237 1238

Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 314, B 370. Gadamer 1986, Bd. II, S. 397.

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Auslegung, wenn Gadamer an anderer Stelle zu Collingwoods Den­ ken ausführt: »Unser Verständnis schriftlicher Überlieferung als solches ist nicht von der Art, daß wir die Übereinstimmung zwischen dem Sinn, den wir in ihr erkennen, und dem Sinn, den ihr Urheber dabei im Auge hatte, einfach voraussetzen können. Wie das Geschehen der Geschichte im allgemeinen keine Übereinstimmung mit den subjektiven Vorstell­ ungen dessen zeigt, der in der Geschichte steht und handelt, so reichen auch im allgemeinen die Sinntendenzen eines Textes weit über das hinaus, was der Urheber desselben im Sinne hatte. Die Aufgabe des Verstehens geht in erster Linie auf den Sinn des Textes selbst.«1239

Gadamer besteht gegenüber Collingwood darauf, »daß die Frage, um deren Rekonstruktion es geht, zunächst nicht die gedanklichen Erlebnisse des Verfassers, sondern durchaus nur den Sinn des Textes selbst betrifft.« »Es ist die Verführung des Historismus, in solcher Reduktion« – gemeint ist »die Rekonstruktion dessen, was der Verfas­ ser tatsächlich im Sinne hatte« – »die Tugend der Wissenschaftlichkeit zu sehen und im Verstehen eine Art von Rekonstruktion zu erblicken, die die Entstehung des Textes gleichsam wiederholt.«1240 c. Im Juristischen wäre es die Tugend des »denkenden Gesetzes­ gehorsams« des Subjektivisten, der sich bemüht, »den vom Autor mit dem Normtext verbundenen Sinn und Zweck zu rekonstruieren«.1241 Doch was ist gemeint, wenn man von »Rekonstruktion« spricht? Mit der älteren Hermeneutik konnte man noch vereinfacht davon ausgehen, dass die Texte einen ursprünglichen Sinn haben, welchen der Richter durch kongeniale Anverwandlung auch herausarbeiten kann. Doch heute können wir unter dem Begriff wohl nur noch eine Bezeichnung für in sich hochkomplexe kognitive Vorgänge verstehen, deren Ergebnis – eben die Rekonstruktion – immer auch ein Produkt der Kontexte ist, mit denen der Rekonstruierende sie erarbeitet hat. – Das Problem ist bereits eingehender thematisiert worden und soll hier nur, stark vereinfachend, nochmals am Beispiel einer archäologischen Rekonstruktion veranschaulicht werden. Deren Güte wird natürlich weitgehend von den Erfahrungen und dem Wissen des Archäologen abhängen. Wie viel sie mit dem Apollotempel zu tun hat, der da vor ca. 2400 Jahren tatsächlich stand, wird aber entscheidend von dem 1239 1240 1241

Gadamer 1990, Bd. I, S. 378. Gadamer aaO. Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 788.

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

Material und den Informationen abhängen, die der Archäologe an der Ausgrabungsstätte vorgefunden hat. Und nicht anders muss auch jede historische Auslegung unabdingbar die Frage beantworten, mit welchem Material und mit welcher substantiellen Informationsdichte der Richter rechnen kann, wenn er die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes oder einer Norm befragt, um die Absicht des Gesetzgebers zu rekonstruieren.

3. Die Befunde – Gesetzgebungs- und Begründungspraxis Über den Spielraum, den der Richter in der Auslegung eines Geset­ zes hat – man kann auch sagen: über Spielraum und Pflicht zur ergänzenden Rechtserzeugung – entscheidet zunächst und primär der Gesetzgeber selbst. Zwar kann auch der klarste Gesetzestext nichts daran ändern, dass die Anwendung einer abstrakt-generellen Regelung auf den konkreten Einzellfall auch durch den klarsten Text nicht mit voller Sicherheit programmierbar ist. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ein klares Regelungskonzept und ein präziser Gesetzestext auch zu einer prinzipiell stärkeren Regelbindung führen. Mit den Worten Savignys: Der Erfolg einer Auslegung »kann in ver­ schiedenen Graden erreicht werden, und es ist diese Verschiedenheit abhängig theils von der Kunst des Auslegers, theils aber auch von der Kunst des Gesetzgebers, in dem Gesetze viel von sicherer Rechts­ kenntnis niederzulegen, also von diesem Punkte aus das Recht so viel als möglich zu beherrschen. Es besteht also hierin eine Wechselwirkung zwischen trefflicher Gesetzgebung und trefflicher Auslegung, indem der Erfolg einer jeden durch die andere bedingt und gesichert ist«.1242

a) Über die Gründe für unpräzise und unklare Gesetze Lassen wir den radikalen Sprachskeptizismus, der eine Gesetzesbin­ dung schon im Ansatz für eine Illusion hält, beiseite und gehen von dem Grundsatz aus: je genauer und präziser der Gesetzgeber, desto stärker die Gesetzesbindung, so stellt sich die Frage, warum der Gesetzgeber gleichwohl vielfach die Regelungstechniken wählt, 1242 Savigny 1840, Bd. I, S. 216 als Resümee seines Kapitels über die »Grundregeln der Auslegung«; Hervorh. D. Verf.

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durch die der Rechtsprechung dazu wechselwirkend eine Kompetenz zur ergänzenden Rechtserzeugung eingeräumt wird. aa) Gründe juristischer Systemrationalität Von den Interpretationsspielräumen abgesehen, die aus handwerkli­ chen Fehlleistungen des Gesetzgebers folgen, sind hier die bekannten Regelungsmuster zu nennen: allgemeine Zielvorgaben, unbestimmte Rechtsbegriffe, offene Tatbestände und Generalklauseln. Und es sind vielfältige Gründe, die durchaus solche der juristischen Rationa­ lität sind, die hier zur Erklärung angeführt werden können. Es ist ein unhintergehbares Faktum, dass auch gesetzestechnisch aus­ gefeilte Detailregelungen weder Auslegungsprobleme noch Lücken ausschließen können. Oft gilt das Gegenteil: Je detaillierter eine gesetzliche Regelung ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf den konkret zu entscheidenden Fall nicht mehr passt, mithin zwangsläufig Interpretationsspielräume öffnet. (Savigny meinte mit »trefflicher Gesetzgebung« denn auch nicht die Detailversessenheit etwa des pr. ALR, sondern eine treffende juristische Begrifflichkeit.) Oft fehlt es für eine präzisere Regelung aber auch an der dazu nötigen Praxiserfahrung: Ein Problemkomplex ist bislang gesetzlich nicht geregelt; da man nicht wie die Autobauer erst einmal eine Testserie in die Lebenswelt schicken kann, bleiben zunächst nur offene und vage Regelungen. ab) Gründe politischer Systemrationalität Die Frage, warum ein Gesetz so und nicht anders ausfällt, ist jedoch nicht nur – und nicht einmal in erster Linie – eine Frage juristischer Rationalität. Der Gesetzgeber ist primär Teil des politischen Systems, Gesetzgebung also Teil des politischen Prozesses. Die Gesetzgebung folgt also wesentlich den Gründen politischer und nicht juristischer Rationalität. Analysiert man aus dieser Perspektive die Rolle, die der »Absicht des Gesetzgebers« für das Bindungsproblem zukommt, wird auch das prinzipielle Problem deutlich: Sinn und Zweck eines Gesetzes und die (immer auch politische) Absicht des Gesetzgebers werden auf unterschiedlichen Ebenen generiert. Nutzt man eine systemtheoretische Beschreibung, wird diese Differenz augenfällig: Ein Gesetz wird zwar im Code des Rechtssystems – Recht/Unrecht –

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geschrieben (Kap. 16 IV.), die mit ihm verbundenen Absichten werden aber nicht durch die Rationalität des Rechtssystem, sondern durch die des politischen Systems bestimmt. Und deren Rationalität ist an der Gewinnung und Sicherung von Chancen im politischen Macht­ kampf orientiert. Ob ein Gesetz gemacht oder novelliert wird und wieweit man dabei ins Detail geht, hängt nicht von der Einschätzung juristischer Notwendigkeit ab, sondern von der Einschätzung, ob ein gesetzgeberisches Tätigwerden politisch opportun ist. Ein konkretes Beispiel abstrakt geschildert: Ein Mitglied des Kabinetts besucht ein Oberstes Bundesgericht. In einer Diskussion mit Richtern weisen die Kollegen eines Senats darauf hin, dass für das Gesetz G ein dringender Novellierungsbedarf bestehe, da es in keiner Weise mehr die Rechtslage widerspiegele. Es kam aber nicht zu einer juristischen Diskussion. Das Kabinettsmitglied folgte der politischen Rationalität, zuckte mit den Achseln und verwies nur darauf, dass eine Änderung von Gesetz G im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen sei. Das muss nicht das letzte Wort gewesen sein, aber der Grund für eine Novellie­ rung wird auch dann nicht die rechtliche Notwendigkeit sein, sondern ein Umstand X, der politisch ein Tätigwerden als ratsam oder gar als notwendig erscheinen lässt. Diese Beobachtung ist durchaus verallge­ meinerungsfähig: Auch wenn juristische Rationalität ein Tätigwerden des Gesetzgebers gebietet, sind es in der Regel Gründe politischer Rationalität, die darüber entscheiden, ob eine Normierung auf die Agenda gesetzt wird oder nicht. Im Gegensatz zum Rechtssystem, das entscheiden muss und durch seine dezentrale Organisationsstruktur darauf angelegt ist, jederzeit – gegebenenfalls im Eilverfahren und durch einen Einzel­ richter – selbst politisch brisante Fragen auch entscheiden zu können, hat das politische System nahezu immer auch die Option, nicht zu entscheiden. In dieser Option ist dann natürlich auch immer die Möglichkeit eingeschlossen, gesetzliche Regelungstechniken zu wählen, die nicht nur Details, sondern auch wesentliche Fragen offen lassen. Gerade wenn man mit der Interessentheorie die »Rechtsnorm als Resultante eines Interessenkonflikts« (s. u.) versteht, werden die Gründe augenfällig: Hat man sich auf eine Grundsatzreglung geei­ nigt, ergeben sich daraus die weiteren Detailregelungen keineswegs automatisch. Der Satz vom Teufel, der im Detail steckt, kommt nicht von ungefähr. Jede Konkretisierung bedeutet also meist auch die Notwendigkeit, nach neuen politischen Kompromissen zu suchen, bindet jedenfalls politische Entscheidungskapazitäten. In den Geset­

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zesbegründungen heißt es dann etwa: »Die Entscheidung darüber, in welchen Fällen […] kann weiterhin der Rechtsprechung überlassen werden.«1243 Oder: »Aufgrund der Vielgestaltigkeit möglicher Fall­ konstellationen muss es aber letztlich der Rechtsprechung überlassen bleiben, weitere Einzelheiten im Rahmen der konkreten Rechtsan­ wendung zu entwickeln.«1244 Ob es für solche Delegationen an die Rechtsprechung gute juristische Gründe gibt, kann aus den Materia­ lien meist nicht mit hinreichender Sicherheit entnommen werden. Man wird aber sicher nicht erwarten können, dass ein Regelungsver­ zicht damit begründet wird, dass man sich in der Koalition nicht habe einigen können oder den Streit mit bestimmten Interessengruppen gescheut habe. Für die richterliche Auslegungskompetenz bedeutet dies: Hat der Gesetzgeber selbst die Rechtsentwicklung an die Rechtspre­ chung delegiert, hat er insoweit auch einen Gestaltungsauftrag erteilt. Die richterliche Entscheidungsnorm ist dann die Resultante einer eigenen Interessenabwägung. Es gibt dafür keinen konkreten Norm­ zweck, und wer zur Schließung dieser Lücke auf die Absicht des Gesetzgebers zurückgreift, wird dann oft allenfalls nur einen mehr oder minder allgemeinen Abwägungsrahmen ermitteln können. Wie die Regelung selbst, unterliegen auch die zur Begründung geäußerten Absichten und Überlegungen nicht primär juristischer, sondern politi­ scher Rationalität. Neben öffentlich geäußerten Absichten steht ein kaum entwirrbares Geflecht von nur in einem inneren Kreis disku­ tierten, kurzfristig taktischen und langfristig strategischen Absichten. Oder Absichten, die man nur vermuten kann, wenn sich etwa ein Minister der Juristen aus den Konzernzentralen von Energieversor­ gern zur Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes bedient oder Großkanzleien zur Schaffung von Regelungen zur Finanzmarktre­ gulierung. Absichten dieser Art sind gerade nicht dazu bestimmt, öffentlich zu werden.

b) Die Gesetzgebungsmaterialien in der Gesetzgebungspraxis Bevor der zünftige Historiker mit der Auswertung seiner Quellen beginnt, verlangen die methodischen Regeln historischer Auslegung 1243 1244

Als Beispiel: BT-Drs. 16/3945, S. 50. Als Beispiel: BT-Drs. 17/9695, S. 9.

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eine Vorphase: die Quellenkritik. Wie verlässlich sind die Quellen, welche Funktion hatten sie, mit welchen Absichten wurden sie ver­ fasst?1245 Objektivisten haben hier ihre Position immer mit den Argumenten mangelnder Aussagekraft, Ehrlichkeit und Ergiebigkeit der Gesetzgebungsmaterialien begründet. Die Gegenthese, dass es eben doch möglich sei, »in den meisten Fällen wichtige und verläßliche Informationen über den verfolgten Normzweck zu erlangen«,1246 wäre also nicht nur zu behaupten, sondern auch zu begründen.1247 Der Gesetzgebungsprozess ist nach dem GG ein kompliziert gestuftes Verfahren der Abstimmung und Kommunikation zwischen den Verfassungsorganen und ihren Teilorganen sowie auch Außen­ stehenden, für die sich nähere Regelungen in den Geschäftsordnun­ gen finden. Zu nennen sind hier etwa die Vorgaben der §§ 40 ff. der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien über die Unterrichtung des Bundeskanzleramtes, die »Interessenermittlung«, Beteiligungen u. a. von Verbänden und Fachkreisen sowie die Gestal­ tung der Gesetzesvorlagen der Bundesregierung. Gesetzesmateria­ lien sind insoweit zunächst also nichts anderes als Stellungnahmen der am Verfahren Beteiligten, mit denen sie ihre Interessen wahrneh­ men. Authentizität hinsichtlich des späteren Gesetzesverständnisses können sie also nicht beanspruchen.1248 Sie sind genuin politische Mittel. (1.) Das gilt natürlich auch für den klassischen Bezugspunkt der subjektiven Theorie, die »amtliche« Begründung zum Gesetzentwurf. Pointiert, aber zutreffend und vor allem anschaulich beschreibt U. Seibert die »Begründung als politisches Marketinginstrument« und damit auch die Tatsache, dass die primäre Fokussierung dieser Quelle nicht die juristische ist:

Konkret etwa: stand der Berichterstatter des zuständigen Ausschusses in einem wirtschaftlichen oder sonstigen Näheverhältnis zu Interessengruppen, die von dem Gesetz betroffen waren? 1246 Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 788. 1247 Das »Mysterium« Gesetzesmaterialien ist allerdings auch ein empirisch wenig bearbeitetes Feld. Von dem 2013 von H. Fleischer mit diesem Titel „›Mysterium‹ Gesetzesmaterialen« herausgegebenen Sammelband abgesehen, gibt es keine aktuel­ len Untersuchungen. Die folgenden Überlegungen stützen sich insbesondere auch auf den Beitrag von U. Seibert, der in diesem Band die »Gesetzgebungsmaterialien« in der Gesetzgebungspraxis aus seiner langjährigen Erfahrung als Leiter des Referats für Gesellschaftsrecht im Bundesministerium der Justiz thematisiert. 1248 Näher Ch. Waldhoff 2013, S. 88 ff. 1245

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IV. Zur Problematik und Tauglichkeit der historischen Auslegung

»Selbstverständlich sind Begründungen nicht neutral, sie grübeln nicht, zeigen keine Selbstzweifel, sie sprechen immer pro domo. Diese Texte stellen die vorgeschlagene Regelung stets positiv heraus, loben sich gewissermaßen selbst. Auch Gesetzgebungsvorhaben und die sie betreffenden Personen leben von Zuspruch und Anerkennung. Die Begründung dient der Werbung für das neue Produkt. Man wird die Bedeutung des Entwurfs mitunter auch werberisch übertreiben. Etwas ist z.B. tatsächlich schon lange herrschende Meinung auf der Basis des geltenden Rechts, das Gesetz möchte sich die ausdrückliche Regelung aber naturgemäß als Erfolg anheften und spielt den lediglich klarstellenden Charakter eher herunter. Die Begründung wird auch sehr sensibel auf unterschiedlichste Leser­ gruppen eingehen, insbesondere natürlich auf die Zielgruppen, die für die jeweilige politische Hausleitung oder Regierungsmehrheit von Bedeutung sind. Selbstverständlich werden ›Reizworte‹ für bestimmte politische Zielgruppen tunlichst vermieden, Befürchtungen, die im Zusammenhang mit einer Regelung bei einflussreichen Gruppen (z.B. Gewerkschaften) gehegt werden oder bereits von ihnen artiku­ liert worden sind, versucht man zu zerstreuen. Die Begründung zu einer Entwurfsregelung wird womöglich mit etwas mehr sozialem Öl beträufelt bei einer sozialdemokratischen Regierung und mehr mit marktwirtschaftlichen Argumenten unterlegt sein bei einer eher liberalen Regierung, wobei die geplante Gesetzesänderung inhaltlich identisch ist. Dies sind aber für den unbefangenen Leser kaum merk­ liche, feine Nuancen und insofern stellt die Kunst des Verfassens von Gesetzesbegründungen mit ihrem multiplen Empfängerhorizont ganz andere Anforderungen als das Verfassen von Gerichtsurteilen oder anwaltlichen Schriftsätzen.«1249

(2.) Wer in einer Gesetzesbegründung eine Erkenntnisquelle sucht, muss sich beim Lesen also immer bewusst sein, dass ein Regierungs­ entwurf »primär die politische Durchsetzbarkeit des Entwurfs und die politische Gestaltungsabsicht und nicht eine rechtsdogmatische wissenschaftliche Klärung der Rechtsfrage im Auge hat«. Was dann dazu führen kann, »dass Begründungstexte kompromisshaft sind« und dass das »politisch Schwierige oder Widerstände Provozierende [...] im Gesetzestext wie auch in der Begründung sorgfältig verwischt und mit glättenden Formulierungen unauffällig gemacht« wird.1250 In Koalitionsregierungen verhindert meist schon die notwendige Res­ 1249 1250

U. Seibert 2013, S. 113 f. U. Seibert aaO. S. 119.

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sortabstimmung, dass politisch eindeutige Absichten auch eindeutig und im Klartext dokumentiert werden. Das soll aber nicht heißen, dass den Gesetzgebungsmaterialien keine juristische Bedeutung zukommt. Zu nennen ist zuerst der generelle Einfluss der Begründung auf die spätere Auslegungspraxis: »Je vernünftiger und nachvollzieh­ barer die von ihr verbreitete Erläuterung der Neuregelungen ist, desto eher wird sie auch von den Kommentatoren und Rechtsanwendern aufgegriffen und kolportiert. Diese sind ja am Anfang, wenn es noch keine Rechtsprechung gibt, dankbar, einen ersten Anhaltspunkt, eine erste zitierfähige Quelle zu haben. Die amtliche Begründung ist damit oft die erste Meinung in der Kette der zur herrschenden Meinung führenden Äußerungen.«1251 Sie regt aber auch zur Methode des Rosinenpickens an: »Jeder Gesetzesausleger, der ein Ergebnis herbeiargumentieren will und dem dafür die Begründung zupass­ kommt, wird diese begierig aufgreifen und als wichtiges, ja geradezu zwingendes Auslegungsmittel herausstellen.«1252 Es gilt ferner einige spezifische Absichten zu registrieren, für die eine Gesetzesbegrün­ dung eben auch genutzt wird. Sie kann etwa der »Ort für kühne Rechtsbehauptungen sein«, weil man »die Gerichte und die Wissen­ schaft auf einen bestimmten Weg und auf ganz neues Terrain lenken möchte«.1253 Eine »häufig anzutreffende Strategie« liegt für Seibert darin, »eine bestimmte gesetzliche Neuregelung in der Begründung als ›Klarstellung‹ zu bezeichnen. [...] Die Neuregelung soll dadurch Rückwirkung erhalten, so dass man das alte Recht rückwirkend im Sinne der Neuregelung auslege oder es soll zumindest einer schon immer zum alten Recht bestehenden Auslegungsmeinung zum endgültigen Durchbruch verholfen werden«. Diese Technik erspare auch »umständliche Übergangsvorschriften, denn es gibt ja keinen Übergang von altem zu neuem Recht«.1254 Vorsicht kann wohl auch geboten sein, wenn in der amtlichen Begründung Dinge »klargestellt« werden, »die überhaupt nicht Gegenstand des Gesetzes sind«. – »Man will damit denen Futter geben, die sich in Aufsätzen, Schriftsätzen oder Urteilen genau auf diese Meinung berufen wollen. Sie werden 1251 U. Seibert aaO. S. 117 mit der Anm.: »Konsequenterweise wird den Materialien deshalb auch oft eine größere Bedeutung bei jungen Gesetzen zugemessen, während sie bei alten Gesetzen verblasst; Sachs DVBI, 1984, 73.« 1252 U. Seibert 2013, S. 117. 1253 U. Seibert 2013, S. 121. 1254 U. Seibert 2013, S. 122 m. N.

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diese Stelle freudig aufgreifen und zitieren. Genauso findet sich im Ausschussbericht mitunter eine Formulierung, die in etwa besagt, in den Beratungen sei die Frage xy erörtert worden, von einer Regelung des Komplexes habe man aber im Hinblick auf die geltende Rechtslage (die sodann affirmativ dargestellt wird) abgesehen. Auch so hofft man, Wissenschaft und Rechtsprechung auf die gewünschten Bahnen zu lenken.«1255 – Dieser quellenkritische Blick auf die Materialien mahnt: Den Gesetzgeber muss der Richter beim Wort nehmen, die Begründungen und Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren aber sollte er niemals unkritisch übernehmen.

4. Über die Tauglichkeit der Gesetzgebungsmaterialien als Auslegungsgrundlage Um keine Missverständnisse über die zentrale Fragestellung unserer bisherigen Auseinandersetzung mit dem »Mysterium« Gesetzesma­ terialien aufkommen zu lassen: Die Entstehungsgeschichte steht nicht als ein wesentliches Element der Auslegung zur Debatte, sondern als die Quelle, aus der der Richter die Regelungsabsicht des Gesetz­ gebers als das ihm vorgegebene Ziel seiner Gesetzesinterpretation zu entnehmen hat. Damit stehen auch die Bedingungen fest, die die Gesetzgebungsmaterialien prinzipiell erfüllen müssen: Die Ziele und Absichten des Gesetzgebers müssen in ihnen in aller Regel so klar und deutlich formuliert sein, dass sich aus ihnen auch hinreichend sichere Vorgaben für die Auslegung der konkreten Norm ableiten lassen. Nach den bisherigen Beobachtungen und Feststellungen kann man zwar schon im Grundsatz nicht erwarten, dass die Materialien Sinn und Zweck des Gesetzes prinzipiell gerade dann in einer größeren Klarheit zu Tage treten lassen, wenn der Gesetzestext selbst diese Klarheit vermissen lässt. Da hier die Tauglichkeit der Gesetzgebungs­ materialien als Auslegungsgrundlage jedoch sowohl als Grundsatz­ problem der subjektiven Theorie als auch als Frage der Tauglichkeit als Auslegungselement erörtert werden soll, soll die Diskussion über die historische Auslegung und ihre Grenzen nicht nur über eine generelle These, sondern kann nur über eine Typologie inhaltlicher Befunde geführt werden. 1255

U. Seibert 2013, S. 122.

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a) Die gesetzliche Regelung als gesetzgeberischer Regelungszweck Die subjektive Theorie bezieht ihre innere Schlüssigkeit aus einem Modell, das die Funktion von Gesetzen mit einem spezifischen Steue­ rungsmodell verbindet: Das Gesetz wird als Instrument verstanden, durch die Vorgabe von Entscheidungsmustern für typische Konfliktla­ gen die Entscheidung gesellschaftlicher Interessenkonflikte durch den Gesetzgeber auch inhaltlich zu steuern. In diesem Sinne hat Heck die immer wieder zitierte1256 Ausgangsthese der Interessentheorie formu­ liert: »Die Gesetze sind die Resultanten der in jeder Rechtsgemeinschaft ein­ ander gegenübertretenden und um Anerkennung ringenden Interessen materieller nationaler, religiöser und ethischer Richtung. In dieser Erkenntnis besteht der Kern der Interessenjurisprudenz«.1257

Eine Auslegungstheorie, die ein Gesetz oder eine Rechtsnorm nur als Resultante eines Interessenkonflikts begreift, greift jedoch prinzipiell zu kurz. Ein Gesetz ist immer auch, wenn nicht zuerst, ein juristischer Text. Als solcher ist er eben vornehmlich als Resultante aus den Vorgaben des Rechtssystems zu verstehen: aus Rechts­ sprache, Gesetzgebungstechnik, vorhandenen Regelungsmustern, juristischer Dogmatik und dem Hypertext Recht. Normen transfor­ mieren keineswegs nur die Inhalte politischer Gestaltungsaufträge; der Gesetzeszweck besteht oft schlicht darin, für einen bestimmten Bereich oder ein bestimmtes Problem eine gesetzliche Regelung zu schaffen. Damit ist nicht primär das Phänomen der Alibi-Gesetzge­ bung angesprochen, sondern die Fälle, in denen in der Sache durchaus Interessenkonflikte geregelt werden, man diese im Gesetzgebungs­ verfahren aber nicht thematisiert. Man handelt nach dem Grundsatz: »Der Gesetzgeber schuldet – nichts als das Gesetz«.1258 Einem Gesetzgebungsreferenten geht es oft ähnlich wie dem Richter mit einem neuen Fall oder einem Kommentator: Er sucht ein Simile, das er mehr oder minder abschreiben kann. Zum Teil kompiliert man aus unterschiedlichen Vorlagen und hat das seit dem Mittelalter auch immer schon so getan. Auf der Ebene der Ländergesetzgebung werden Regelungen vielfach in gemeinsamen Vgl. Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 526. P. Heck 1914, AcP 112 (1914), S. 1 ff., 17. 1258 Vgl. zu diesem Grundsatz und zu seinen notwendigen Einschränkungen näher C. Waldhoff 2013, S. 78 ff. 1256

1257

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Kommissionen erarbeitet und mit dem Argument notwendiger Ein­ heitlichkeit dann auch jeweiliges Landesgesetz. Eine andere Spielart zeigten die zahlreichen Fälle, in denen die neuen Bundesländer für ihre Gesetzgebung einfach Texte der in den alten Ländern geltenden Gesetze übernommen haben. Für die Wahl der Vorlage war dabei, so hatte man als Zeitzeuge den Eindruck, entscheidend, aus welchem »Partnerland« der zuständige Referatsleiter kam. Charakteristisch ist aber vor allem, dass die Quellen in den Gesetzgebungsmaterialien nicht genannt wurden. Um es am Beispiel des Thüringer Kommunalabgabengesetz vom 7. August 1991 (GVBl. S. 285) zu erläutern: Im Vorblatt zum Entwurf des ThürKAG (LT-Drs. 1/333) wird das »Problem« genannt: »In der geltenden Kommunalverfassung findet sich keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für das Erheben kommunaler Abgaben. Für die Kommunen, insbesondere für die Gemeinden, stellen Beitrags- und Gebühreneinnahmen jedoch einen wesentlichen Faktor der kommu­ nalen Finanzwirtschaft dar. Es erscheint daher dringend geboten, den Gemeinden und Kreisen im Land Thüringen diese Einnahmequelle zu erschließen«. Unter der Überschrift »Lösung« wird dann nur ausge­ führt: »Mit der Verabschiedung eines eigenen Thüringer Kommunal­ abgabengesetzes können den Gemeinden und Kreisen des Landes Thü­ ringen in dem Umfang weitere Einnahmequellen erschlossen werden, wie es das Grundgesetz zuläßt.«1259 Es folgt als Entwurf der Text des ThürKAG. Einzelbegründungen werden nicht gegeben, wie gesagt, nicht einmal ein Hinweis darauf, dass es sich um einen – in diesem Fall aus Bayern – übernommenen Text handelt.

Anhaltspunkte für die inhaltlich »hinter der Normsetzung stehenden Motive«1260 gibt es also nicht. Allein äußerlich feststellbarer Zweck der Regelung ist der, eine Regelung zu schaffen. Hat man als Rich­ ter herausgefunden, bei wem der »Gesetzgeber« abgeschrieben hat, kann man zur Auslegung der Vorschriften des ThürKAG natürlich ergänzend die Begründung zum Bayerischen Kommunalabgabenge­ setz – BayKAG – heranziehen, wie es das OVG Thüringen auch getan hat.1261 Methodisch ist das aber keine subjektive, sondern eine (rechtsvergleichend) objektive Auslegung.

LT-Drs. 1/333, S. 170. Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 789. 1261 Vgl. Urteil vom 28.10. 2013 – 4 KO 558/12 – juris, mit Bezug auf B. v. 08. 03. 2013 – 4 EO 369/11 – juris Rn. 46 ff. 1259

1260

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b) Gesetz als Resultante eines Interessenkonflikts – das Problem der Rekonstruierbarkeit des Normzwecks. In der Regel steht hinter einem Gesetz freilich mehr als der Wille, mit einem Gesetz eine fehlende Regelung oder Eingriffsgrundlage zu schaffen, die, weil anderswo bewährt und vom Rechtssystem akzep­ tiert, schlicht übernommen wird. Gibt es also eine Begründung und kann man nach den inhaltlichen Absichten, nach dem »Regelungs­ zweck« fragen, fällt der Blick dann als Erstes auf das im Vorblatt zum Gesetzentwurf zu nennende »Problem und Ziel«1262 und die Vorgabe, in der Begründung »die Zielsetzung und Notwendigkeit des Gesetz­ entwurfs und seiner Einzelvorschriften« darzustellen (§ 43 Abs. 1 Ziff. 1 GGO). Folgt man Rüthersʼ These: »Maßgebend für die Fest­ stellung des Regelungszwecks sind die hinter der Normsetzung ste­ henden Motive, die sich im Verfahren der Gesetzgebung durchgesetzt haben«1263, dann erscheint es auch nur folgerichtig, sich auf die Dar­ stellung dieser mit dem Gesetz verbundenen Zielsetzungen zu kon­ zentrieren. Eine solche Auslegung auf den Regelungszweck hin ist eine Argumentation aus dem Telos. Und darin liegt auch das entschei­ dende, zunächst zu erörternde Problem dieses Ansatzes. Werden die Zwecke als die »Wirkursachen hinter der Norm«1264 als »das eigentlich Entscheidende« betrachtet, werden »damit die Normen ›nur noch‹ als Mittel zum Zweck begriffen«.1265 Die Subjektivisten nehmen demgegenüber zwar in Anspruch, Sinn und Zweck des Gesetzes aus den Materialien präziser und »objektiver« bestimmen zu können als die Objektivisten. Aber ob es hier wirklich gravierende Unterschiede gibt, ist die eine Frage (1.). Die weitere Frage lautet dann, ob sich aus den gesetzgeberischen Zielsetzungen tatsächlich präzisere Auslegungsvorgaben gewinnen lassen als mittels einer objektiv-teleologischen Auslegung (2.). (1.) Man kann den Zweck eines Gesetzes zunächst sehr allgemein und im Singular bestimmen. Zum Beispiel, wie oben dargestellt, bei einem Kommunalabgabengesetz dahingehend, den Gemeinden und Kreisen Einnahmequellen zu erschließen. Ein paralleles Beispiel gab 1262 1263 1264 1265

Anlage 3 zu § 42 Absatz 1 GGO. Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rn. 789. G. Haverkate 1996, S. 35. G. Haverkate 1996, S. 36.

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Heck: »Der Zweck eines jeden Steuergesetzes ist die Mittelbeschaf­ fung für die Gemeinschaft.« Entscheidend ist freilich die Ergänzung: »Aber die Eigenart des einzelnen Gesetzes ergibt sich aus der Rück­ sicht auf die Steuerzahler.«1266 Wir müssten allerdings noch weitere Aspekte hinzufügen, die hier die konkrete Eigenart tatsächlich ausma­ chen: Rücksicht auf die Finanzmärkte, Nutzung der Steuergesetze als vielfältig einsetzbare Steuerungs- und Förderungsinstrumente, Steu­ ergerechtigkeit, Praktikabilität der Steuererhebung, Harmonisierung innerhalb der EU etc. Wenn man die Rechtsnorm oder ein Gesetz als »Resultante eines Interessenkonflikts« bezeichnet, dann ist es diese Vielzahl von Interessen, Werten, Absichten und Zielsetzungen, die konkret die Eigenart des einzelnen Gesetzes ergeben. Will man eine Normsetzung vom Regelungszweck her erfassen, muss man sich also immer im Klaren sein, dass man es nicht nur mit einer Vielzahl von Zwecken, Interessen, Prinzipien zu tun hat. Die Darstellung der Zielsetzungen wird in den Materialien auch kaum je vollständig sein; nicht allein, weil eine Gesetzesbegründung auch ein »politisches Marketinginstrument«1267 ist, sondern weil jeweils zunächst allgemein bezeichnete Interessen (der Arbeitneh­ mer, der Wirtschaft, der Vermieter, der Senioren usw.) sich bei jeweils genauerer Fokussierung in aller Regel wieder in unterschiedliche, oft gegenläufige Interessen aufspalten. Daraus ergibt sich ein erstes Fazit: Sinn und Zweck eines Gesetzes sind nie allein aus der Perspektive nur eines Normzweckes ableitbar. Zur Auslegung bedarf es aller Gesichtspunkte, die nach Lage der Dinge zu berücksichtigen sind, um Sinn und Zweck zu ermitteln. Die im »Vorblatt« formulierten Ziele sind im Übrigen meist so allgemein, dass sie auf der Hand liegen. Weil sie allgemein sind, kann man auch nicht davon ausgehen, dass sie bei der Interpretation von Einzelbestimmungen einen Vor­ rang beanspruchen können. Eine andere Wertung ist hier nur dann geboten, wenn ein Norminhalt konkret mit einem bestimmten oder mehreren Normzwecken begründet wird. Erst hier wird das subjektive Auslegungselement zum bestimmenden Argument, das nicht mehr ohne weiteres überspielt werden darf (s. u.). (2.) Für die zweite Frage ist der Zusammenhang zwischen Rege­ lungszweck, Rechtsnorm und Auslegung dieser Norm zu klären,

1266 1267

P. Heck 1914, AcP 112 (1914), S. 13. U. Seibert 2013, S. 113.

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insbesondere ob hier der Rückgriff auf die gesetzgeberischen Zielset­ zungen tatsächlich zu »gesetzestreueren« Auslegungsvorgaben führt. Von der Interessentheorie wird der Zusammenhang von Rege­ lungszwecken und Norm anschaulich in dem Bild von der Norm als »Resultante eines Interessenkonflikts« beschrieben. Doch während die »Resultante« in der Mathematik, vereinfacht, die Summe zweier (nach dem Kräfteparallelogramm addierter) oder mehrerer Vektoren ist, also das Ergebnis einer Rechenoperation, haben wir es bei einer Rechtsnorm keineswegs mit einem Ergebnis zu tun, das sich auf im Einzelnen bestimmbare Operationen zurückführen ließe. Die Norm ist das Ergebnis eines politischen Prozesses. Dieser Prozess ist zum Zwecke der Interessenanalyse nicht umkehrbar; der »Resultante« jedenfalls können wir in der Regel nicht entnehmen, welche Interessen mit welchen Wertungen zu ihrem Ergebnis geführt haben. Auch nicht, ob und inwieweit konfligierende Interessen gegen­ einander und untereinander abgewogen wurden oder ob schlicht politisch entschieden wurde. Gilt aber schon für die konkrete Norm, dass sie sich in ihrer konkreten Gestalt mittels logischer Ableitungen grundsätzlich nicht präzise auf genauer bestimmbare gesetzgeberi­ sche Zielsetzungen zurückführen lässt, lassen sich aus diesen auch keine hinreichend eindeutigen Vorgaben gewinnen, wie die Norm auszulegen ist, wenn sie unklar und strittig ist. Für die subjektive Theorie bedeutet das: Die in den Gesetzesma­ terialien formulierten gesetzgeberischen Zielsetzungen sind in der Regel nicht als abschließende Aufzählungen zu verstehen und sie sind selbst wiederum so weit gefasst, dass sich aus ihnen keine hinreichend eindeutigen Auslegungsvorgaben gewinnen lassen. Der Interpret kann mithin grundsätzlich nicht von der Tauglichkeit des Regelungszwecks als Auslegungsziel ausgehen. Anderes könnte nur gelten, wenn die Materialien ein Zweckprogramm ausweisen, aus dem sich eindeutig ergibt, welche Zwecke und Interessen Relevanz haben sollen und welche nicht. Damit wäre als Absicht des Gesetzge­ bers jedenfalls ein handhabbarer Abwägungsrahmen gegeben. Die teleologische Auslegung wäre dann auf die Argumente beschränkt, die sich aus diesem Rahmen ergeben.

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5. Die Entstehungsgeschichte als relevanter Auslegungsgesichtspunkt – eine Typologie Jede Auslegung aus dem gesetzgeberischen Regelungszweck ist mit der Problematik von Zweckprogrammen konfrontiert, die ja stets darin liegt, dem Adressaten Entscheidungsspielräume in eigener Verantwortung zu überlassen. Im Gegensatz dazu soll hier die Ent­ stehungsgeschichte den richterlichen Entscheidungsspielraum jedoch durch Begrenzung des Auslegungsspielraumes einschränken; es sol­ len dem Richter Direktiven vorgegeben werden. Die Ermittlung gesetzgeberischer Absichten darf dann aber nicht in einem offenen hermeneutischen Prozess – nicht im Wege »kongenialer Anverwand­ lung«1268 – erfolgen, sondern diese Absichten müssen konkret belegt werden können. Voraussetzung ist mithin, dass die Materialien durch ein Mehr an Informationen die Klarheit erbringen können, die der Gesetzestext selbst vermissen lässt. Als Regel formuliert: Aus den Gesetzgebungsmaterialien müssen sich zu der konkret zu beantwor­ tenden Auslegungsfrage mehr eindeutigere und spezifischere Informa­ tionen entnehmen lassen, als sich aus Gesetzestext, Systematik und »objektiven« Überlegungen zu Sinn und Zweck ergeben. – Nimmt man diese Kriterien als Maßstab, sind es insbesondere die folgenden drei Informations- und Begründungzusammenhänge, denen in den Materialien eine wesentliche Bedeutung für die Gesetzesauslegung beigemessen werden muss: 1. Der Gesetzgeber novelliert einen Regelungszusammenhang, lässt aber einige Bestimmungen unverändert. Man kann dann darüber diskutieren, ob der neue systematische Zusammenhang nicht auch für die »stehen gebliebenen« Vorschriften eine veränderte Interpreta­ tion verlangt. Diese Interpretation verbietet sich, wenn sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, dass man die alten Regelungen bewusst beibehalten hat1269 und insoweit also keine Veränderung der Rechts­ lage wollte. 2. Die vom Richter ins Auge gefasste Interpretation ist in den Materialien bereits diskutiert und verworfen worden. Wurde etwa die zeitliche Befristung eines Verbotes oder einer sonstigen Regelung abgelehnt, darf sie nicht über eine freie Argumentation mit einem der auch diskutierten Gesetzeszwecke durch die Hintertür einer teleo­ 1268 1269

E. Betti 1988, S. 35. Vgl. etwa BVerfGE 128, 193–224 – juris Rn. 61 ff.

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

logischen Auslegung doch eingeführt werden. Oder eine Gesetzes­ begründung setzt sich konkret mit der bisherigen Rechtsprechung auseinander. Auch hier dürfen Feststellungen, dass eine Neuregelung demgegenüber zu einer Änderung der bisherigen Rechtslage führen soll, nicht argumentativ überspielt werden. 3. Zu einer wesentlichen Argumentationsgrundlage werden die Gesetzesmaterialien nicht zuletzt dann, wenn und soweit sie doku­ mentieren, was mit einem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal gemeint oder jedenfalls nicht gemeint ist. Ein anschauliches Beispiel liefert hier die ausführlich besprochene Entscheidung des BAG zur sach­ grundlosen Befristung.1270 Die Bedeutung der Materialien für die Wortinterpretation ist jedoch nicht nur auf die Fälle beschränkt, in denen das, was gemeint ist, konkret erläutert und begründet wird. Sie liegt sehr viel allgemeiner in ihrer Rolle als Prä- und Kontext des späteren Gesetzes. Die Gesetzesbegründungen und Stellungnahmen im Gesetzge­ bungsverfahren sind, wie ausgeprägt die mit ihnen verfolgten politi­ schen Absichten auch sein mögen, immer auch juristische Texte, Texte, die (in der Regel) von Juristen für Juristen geschrieben wur­ den. Das Gesetz wird mit anderen Worten in einem gemeinsamen Sprach-, Denk- und Argumentationsraum diskutiert. Man spielt, wie schon dargestellt, ein Sprachspiel innerhalb einer Interpretationsge­ meinschaft. Die Materialien dokumentieren so den Sprachgebrauch und können so nach dem Sprachgebrauch befragt werden. Geben sie eine Antwort auf die an den Gesetzgeber gestellte Frage »Wie meinst du das?«1271, ist ein Griff oder gar Rückgriff auf den Duden, d. h. den allgemeinen Sprachgebrauch, im Zweifelsfall nur unter der Voraussetzung zulässig, dass auch eine richterliche Rechtsfortbildung zulässig wäre.

V. Gesetzesauslegung und ihre verfassungsrechtlich vorgegebene Regelstruktur Nach den Befunden, die wir in den vorangegangenen Analysen gewonnen haben, gilt es nun, die verfassungsrechtlichen Vorgaben der Gesetzesbindung zu bestimmen, d. h. die verfassungsrechtli­ 1270 1271

Kap. 17 V. 4. Wittgenstein PU § 353.

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V. Gesetzesauslegung und ihre verfassungsrechtlich vorgegebene Regelstruktur

chen Grenzen der richterlichen Interpretationskompetenz abzuste­ cken. Erst in diesem verfassungsrechtlichen Fokus lassen sich auch die in den Kapiteln 16 bis 19 erörterten Determinanten und Bausteine der Gesetzesbindung zu einem einheitlichen Konzept zusammenführen. Die bisherigen Ergebnisse zusammenfassend, seien als Wegmarken Ausgangsthesen vorangestellt: 1. 2. 3.

4.

5.

Ausgangsfeststellung: Das Gesetz ist ein Text. Der Text wird in einem formalisierten Verfahren beschlossen und gilt als Gesetz mit dem Wortlaut, mit dem es veröffentlicht wurde. Bindung des Richters an das Gesetz kann danach zunächst nichts anderes bedeuten als Bindung an den Wortlaut. Mit der Veröffentlichung hat das Parlament die Herrschaft über dieses Gesetz verloren. Man kann es von Rechts wegen nicht mehr befragen, was es mit dem Text gemeint hat. Es kann dies auch nicht durch Parlamentsbeschlüsse klarstellen. Einfluss auf die Rechtsentwicklung kann es nur durch ein neues Gesetz neh­ men. Das Gesetz gibt dem Richter die Entscheidungsregel (Kap. 16) vor. Wie er diese zu verstehen und anzuwenden hat, gibt ihm die Methodik vor. Gesetzesbindung definiert sich so als das Gebot, »den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen«.1272 Das Gesetz bindet als Entscheidungsregel, es programmiert aber die Entscheidung nicht, sondern räumt immer auch einen mehr oder minder großen Entscheidungsspielraum ein. Rechts­ anwendung bedeutet so stets auch methodisch argumentativen Umgang mit Spielräumen.

In der Konsequenz einer subjektiven Auslegungstheorie müsste nun als nächste These eine Zielvorgabe formuliert werden, die die rich­ terliche Methode auch inhaltlich auf die Steuerungsfunktion des demokratisch legitimierten Gesetzgebers bezieht. Doch wie die Kri­ tik an der subjektiven Theorie gezeigt hat, sind die »hinter der Normsetzung stehenden Motive«1273 weder theoretisch noch faktisch geeignet, um auf ihnen eine allgemeine und auch hinreichend sichere Auslegungslehre aufzubauen. Im Übrigen hat der Richter, der Recht BVerfGE 84, 212, 226; 96, 375, 395; 128, 193: das BVerfG gebraucht dabei allerdings z. T. unterschiedliche Formulierungen. 1273 So die Formulierung von Rüthers/Fischer/Birk 2015, Rd. 790. 1272

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

zu sprechen hat, mehr in den Blick zu nehmen als die Regelungsab­ sichten des Gesetzgebers. Recht ist nicht nur das Ergebnis bewusster politischer Steuerungsprozesse: 1.

Das Rechtssystem selbst schafft im Prozess regelgeleiteter Rechtsprechung ständig Recht. Wer Recht allein vom Steue­ rungsmodell Gesetzgeber – Gesetz her begreifen will, übersieht nicht nur das »Wechselspiel von Rechtsprechung und Rechtset­ zung«1274, in dem Recht verändert und angepasst wird, sondern den prinzipiellen Charakter des Rechtssystems als Mehrebenen­ system, auf das eine Vielzahl von Akteuren steuernd Einfluss nimmt. Recht entsteht bei evolutionären Differenzierungspro­ zessen ebenso wie in Prozessen »struktureller Koppelung« (Kap. 16) mit anderen Systemen, wie der Wirtschaft, der Wissenschaft (z. B. Dogmatik), der Technik (Stichwort etwa die juristischen Datenbanken) und, nicht zu vergessen, den Systemen medialer Erzeugung von Sinn und Akzeptanz.

Gleichwohl kann das nicht bedeuten, dass für die Praxis der Geset­ zesauslegung alles beim Alten bleiben kann. Für die herkömmliche Methodik hatte die Argumentation mit den Regeln der Auslegung immer wesentlich eine topische Struktur. Die Regeln stehen neben­ einander; sie dienen als »tools«, um ein angemessenes Verständnis von Normtexten zu bewerkstelligen. Dieser Sicht entsprechend haben wir diese Regeln als Determinanten der Rechtserkenntnis bisher auch jeweils in ihrer Eigenheit getrennt erörtert. Besprochen wurden: die Probleme der Wortauslegung (Kap. 17) die Probleme, mit denen sich eine systematische Interpretation auseinandersetzen muss (Kap. 18 u. 19) und jetzt die Grundfragen der historischen Auslegung und Schwierigkeiten, die es macht, Norminhalte teleologisch aus Werten, Ziel, Sinn und Zweck zu ermitteln. Offen blieb die Frage, ob die Freiheit der Methodenwahl wirklich mit dem Spielraum besteht, den die Lehre überwiegend annimmt und den die Rechtsprechung immer noch weitgehend und wie selbstverständlich praktiziert – oder ob nicht die besseren Gründe dafür sprechen, dass die Verfassung hier durchaus Vorrangregeln vorgibt und damit für den Auslegungs­ kanon eine Struktur dichterer Kohärenz fordert.

1274

BVerfGE 132, 99–133 – juris Rn. 74.

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V. Gesetzesauslegung und ihre verfassungsrechtlich vorgegebene Regelstruktur

Die gegenüber der bisherigen Auslegungspraxis inzwischen deutlich akzentuiertere Rechtsprechung des BVerfG1275 bietet für eine solche kohärente Strukturierung entscheidende Ansätze und Bau­ steine. Es ist zwar nicht die Aufgabe der Rechtsprechung, eine Metho­ denlehre zu formulieren. Wenn das BVerfG jedoch zu prüfen hat, ob eine zulässige oder unzulässige verfassungskonforme Auslegung vor­ liegt oder sich eine Interpretation noch im Rahmen zulässiger Rechts­ fortbildung bewegt, also die Grenzen des Art. 20 Abs. 3 GG einge­ halten sind, muss es für diese Prüfung auch Kriterien und Maßstäbe entwickeln. Dies hat das Gericht in den zitierten Entscheidungen auch getan und damit im Umgang mit den Auslegungskanones eine deut­ liche Abkehr von dem bisherigen Verständnis vollzogen. Da sie als Konkretisierung des Art. 20 Abs. 3 GG und des Gewaltenteilungs­ grundsatzes entwickelt wurden, sind sie zugleich auch als verfas­ sungsrechtliche Vorgaben zu verstehen. Das entscheidende Kriterium für diese Strukturierung ist, wie gesagt, aus der Zwecksetzungsprärogative des Parlaments abzuleiten; sie führt dort, wo sie im Kontext mit Wortlaut und Systematik eindeutige Aussagen ergibt, auch zu einem Vorrang der zugehörigen Auslegungselemente. Eng damit verbunden ist die Notwendigkeit, die Auslegung nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und System (2.) strikt von der objektiv-teleologischen Auslegung (3.) zu trennen.

1. Auslegung und ihre pragmatische Ausrichtung (Subsumtion und Rechtsfortbildung – Dogmatik und der Hypertext Recht) Zuvor ist jedoch zu klären, welche rechtspraktische Zielsetzung man eigentlich im Auge hat, wenn man die Auslegungsregeln diskutiert (a), wie das Verhältnis von Auslegung, Subsumtion und Rechtsfort­ bildung genauer zu bestimmen ist (b) und welche Rolle Dogmatik und der Hypertext Recht dabei spielen (c.).

a) Das Ziel der Auslegung aus pragmatischer Sicht Das unmittelbare Ziel richterlicher Auslegung ist es nicht, den Wil­ len des Gesetzes oder die Absicht des Gesetzgebers zu verstehen. 1275

Vgl. insbes. die Entscheidungen BVerfGE 128, 193 ff. u. BVerfGE 132, 99 ff.

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

Entscheidend ist für den Richter die Frage, nach welchen Kriterien er eine Handlung oder einen Umstand daraufhin beurteilen kann, ob sie einem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal entsprechen oder nicht entsprechen. Die Gesetzesauslegung – wie allgemein die Norm­ konkretisierung – hat also das Ziel, die Tatbestandsmerkmale einer Norm so auf Begriffe zu bringen, dass sie ihre Aufgabe der Differen­ zierung erfüllen können. Folgt man der Systemtheorie Luhmanns, ist dies die Differenzierung nach dem Code Recht/Unrecht; formulieren wir es rechtstechnisch, muss uns die Auslegung begriffliche Differen­ zierungen an die Hand geben, die es ermöglichen festzustellen, ob die Voraussetzungen eines Anspruchs, der Strafbarkeit, der Verjährung etc. gegeben oder nicht gegeben sind; »einen Begriff haben« heißt, ihn auch anwenden zu können.1276 Veranschaulicht sei dies an einem (nur auf den ersten Blick sehr speziellen) Beispiel: Zu entscheiden war, ob ein Anspruch auf Erstattung von Schü­ lerbeförderungskosten zu einer Waldorfschule statt zur näher gele­ genen Grundschule bestand.1277 Der Anspruch wäre nach § 4 Abs. 4 ThürSchFG a. F. zu bejahen gewesen, wenn man die Waldorfschule gegenüber der Grundschule als eigenständigen »Bildungsgang« hätte qualifizieren können. Im Unterschied zu den Begriffen »Schulart« und »Schulform« war der Begriff »Bildungsgang« gesetzlich nicht defi­ niert. Die entscheidende Differenz musste also durch Auslegung ermit­ telt werden. Natürlich stellten die Kläger auf die besondere fachliche, methodische, didaktische und pädagogische Schwerpunktbildung als entscheidendes Differenzierungskriterium ab. Bereits ein allgemeines Wortverständnis legte es aber nahe, ein wesentliches Kriterium auch im Moment einer rein formal zu verstehenden Differenzierung zu sehen („-gang« – etwa »Studiengang«). Der Vergleich mit den Rege­ lungen, in dem der Begriff auch sonst im Schulrecht verwendet wird, führt dann eindeutig dazu, den »Begriff des ›Bildungsgangs‹ [...] im Thüringer Schulrecht grundsätzlich in einem formalisierten, auf das Erreichen bestimmter Abschlüsse bezogenen Sinne zu verstehen.«1278 Soweit die Methodik in der Orientierung an Sinn und Zweck des Gesetzes ein entscheidendes Moment sieht – dazu näher unter 3. –, erhellt das zitierte Beispiel auch bereits eine allgemeine Regel zum Umgang mit der Argumentationsfigur der ratio legis: Der Sinn und Näher dazu – im Zusammenhang mit den Problemen der Kant’schen Urteilskraft – O. Höffe 2003, S. 151. 1277 VG Meiningen, ThürVBl. 2000, 258. 1278 ThürVBl 2002, 110–113, LS 1. 1276

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Zweck einer Regelung lässt sich methodisch sauber nur aus einer konkreten Auslegung dieser Regelung gewinnen. Allgemein betrach­ tet konnte man das Ziel des § 4 Abs. 4 ThürSchFG a. F. sicher darin sehen, dass man mit der Übernahme der Schülerbeförderungskosten auch für entfernter liegende Schulen dem Recht auf freie Schulwahl Rechnung tragen wollte. Erst die konkrete Auslegung zeigte dann aber, dass für die rechtlich relevante Zielsetzung zu differenzieren ist: Nicht die freie Wahl zwischen pädagogisch oder sonst inhaltlich unterschiedlichen Konzeptionen wird geschützt; relevant sind unter­ schiedliche Bildungsangebote nur, soweit sie auch zu unterschiedli­ chen Abschlüssen führen.

b) Auslegung, Subsumtion und Rechtsfortbildung Der Auslegungs- und Subsumtionsvorgang ist mit der Feststel­ lung bestehender oder nicht gegebener Tatbestandsmäßigkeit aller­ dings nur dann abgeschlossen, wenn die Regel (Norm) in der Aus­ legung, in der sie der Subsumtion zugrunde gelegt wurde, für den Richter »geklärt« ist – d. h. die Tatbestandsmerkmale durch die Aus­ legungstradition (Dogmatik und Hypertext Recht) in ihrer Bedeutung auf hinreichend stabile Begriffe gebracht sind oder (wie oben am Beispiel des »Bildungsganges« erläutert) durch ihre Verwendung in zugehörigen Kontexten bestimmt werden konnten. Doch in den Prozessen, die die Methodik mit den Vorgängen der Auslegung und Subsumtion beschreibt, verläuft die Vermittlung zwischen dem Allge­ meinen (der Rechtsnorm) und dem Besonderen des Falles nicht nur in der einen Richtung: Subsumtion des Falles unter die Norm. Von den für den Richter in der Auslegung klaren Fällen sind die besonderen Fälle zu unterschieden, in denen das aufgrund der Subsumtion unter die allgemeine Regel gefundene Ergebnis »nicht überzeugt«, ja ungerecht und unbillig erscheint, weil es der konkreten Sachverhaltsproblematik »nicht gerecht« wird. Der Vorgang kehrt sich dann um. Das Problem wird in der Regel oder in deren Auslegung gesehen. Aus dem Beson­ deren heraus muss ein neues Allgemeineres gefunden werden. Das Besondere des Falles kann aus zwei Gründen zum Problem werden: zum einen weil genau in diesem besonderen Einzelfall die Regel nicht angemessen erscheint – unbillig ist. Für diese Probleme der Aequitas hat die Rechtsordnung je nach Rechtsgebiet die unter­ schiedlichsten Rechtsfiguren parat: Ermessen, Verhältnismäßigkeit,

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Einstellung wegen Geringfügigkeit, § 242 BGB etc. Von diesen Fällen, in denen die allgemeine Regel im Einzelfall durch eine eigenständige »Aequitas-Regel« modifiziert werden kann, aber selbst unangetastet bleibt, sind zum anderen die Fälle zu unterscheiden, in denen die all­ gemeine Regel als solche betroffen ist, weil die Problemlösung, die sie allgemein vorgibt, nicht nur im konkreten Einzelfall, sondern allge­ mein oder jedenfalls für besondere Konfliktfälle nicht mehr als ange­ messen angesehen wird. Zur Veranschaulichung solcher Auslegungsund Rechtsfortbildungsprozesse findet man in der Auslegungsgeschichte gerade zentraler gesetzlicher Vorschriften eine unübersehbare Fülle von Beispielen: etwa die Erweiterung der »abso­ luten Rechte« in § 823 Abs. 1 BGB um das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb1279 oder die Erweiterung des Nachbar­ schutzes um Vorgaben des § 34 BauGB aus dem Gebot der Rücksicht­ nahme etc. Um die unterschiedlichen Strukturen beider Vorgänge auch theoretisch zu erfassen kann man mit guten Gründen auf eine Unterscheidung Kants zurückgreifen und für die Fälle der »einfa­ chen« Subsumtion unter eine Norm von der subsumierenden Urteilskraft sprechen und dieser die reflektierende Urteilskraft gegenüberstellen, bei der es um das Auffinden des Allgemeinen im Besonderen geht.1280 Diese reflektierende Urteilskraft kommt immer ins Spiel, wenn wir uns mit der Rechtsfortbildung und der richterlichen Rechtsschöpfung auseinandersetzen müssen. Methode hört dann auf, im Wortsinn ein bloßes »Nach-gehen« zu sein, wenn über die Regel selbst reflektiert und gefragt wird, ob sie in ihrer bisherigen Auslegung noch angemessen ist – erweiternd oder einschränkend auszulegen ist, durch eine Zusatzregel zu ergänzen oder gar zu ersetzen ist. Mit den kognitiven Prozessen, die hier in der reflektierenden Urteilskraft wirksam sind, werden wir uns im Teil E über die Mustererkennung näher zu beschäftigen haben. Unter dem Aspekt der Auslegung, die uns in diesem Kapitel interessiert, sind es die verfassungsrechtlichen Grenzen, die der Auslegung gesetzt sind, wenn die Rechtsfindung zur Rechtsfortbildung wird. Die Rechtsprechung des BVerfG gibt hier zahlreiche Beispiele für Fälle, in denen die Fachgerichte die Grenzen, die ihrer Auslegungskompetenz 1279 Zu den damit verbundenen Auslegungs- und Handhabungsproblemen vgl. etwa Wagner § 823 BGB, Rn. 205, 247 ff., (6. Aufl. 2013). 1280 Näher Kap. 23 II.

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gesetzt sind, überschritten haben. Wieweit sich daraus auch Struk­ turvorgaben für die Auslegungsregeln selbst ergeben, wird in den nächsten Abschnitten zu thematisieren sein.

c) Rechtsermittlung – Dogmatik und der Hypertext Recht Doch zunächst ist noch ein weiterer grundlegender Zusammenhang festzuhalten: Auslegung ist nicht nur das schulmäßige Durchspielen der Auslegungsregeln. Meist laufen Konkretisierung und Präzisie­ rung von Tatbestandsmerkmalen nicht auf diesem Wege und auch nicht über Begriffsbestimmungen, die über Wortgleichheiten in ande­ ren Bestimmungen der gleichen Rechtsmaterien gewonnen wurden, sondern wesentlich über Dogmatik und den Hypertext Recht. Man greift auf Grunddifferenzierungen zurück, die jeder Jurist als dogma­ tisches Grundwissen lernen muss, etwa die Grunddifferenzierungen des Strafrechts zwischen Diebstahl, Raub, Betrug und Erpressung. Oder man nutzt den Hypertext Recht. Wer eine althergebrachte Straf­ rechtsnorm anzuwenden und etwa zu prüfen hat, ob die entscheidende Handlung ein Akt der Wegnahme oder eine Verfügung war, wird die begriffliche Differenzierung damit auf anderen methodischen Wegen vornehmen als der Richter, der z. B. eine neue gesetzliche Mietpreisregelung anzuwenden hat. Gibt es zu dieser Regelung noch keine Rechtsprechung, an der sich der Richter zustimmend oder im Widerspruch orientieren kann, wird er u. a. wenigstens die Begrün­ dung des Gesetzentwurfes zur Auslegung heranziehen müssen, ein Weg, der dem Strafrichter, der über einen trickreichen Ladendieb zu befinden hat, aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht in den Sinn kommen würde. Er greift für seine Rechtsermittlung in der Regel gar nicht mehr unmittelbar auf die Textauslegung zurück, sondern ermittelt die notwendigen begrifflichen Differenzierungen über die Dogmatik und den Hypertext Recht, konkret über einen Kommentar oder eine Datenbank. Rechtsermittlung und Auslegung dürfen deshalb aber nicht als unterschiedliche methodische Wege verstanden werden, die streng zu trennen wären. Konkretisierung und Präzisierung von Tat­ bestandsmerkmalen finden, um wiederum das Bild des juristischen Denk- und Argumentationsraumes zu gebrauchen, in Erkenntnis­ strukturen statt, die sowohl durch Dogmatik, Rechtsbegriffe und Präjudizien als auch durch die Techniken der Rechtsermittlung (Datenbankrecherche und Kommentare) und der unmittelbaren Text­

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auslegung (Methodik der Gesetzesauslegung) geprägt sind. Rechts­ dogmatik und Methode sind die konstitutiven Arbeitsmodi unseres Rechtssystems. Dies wird auch nicht bestritten. Eine vereinheitli­ chende, in sich kohärente Theorie wird es aber wohl auch weiterhin nicht geben. Dogmatik und Normtext sind eben doch auf unterschied­ liche Legitimationsebenen bezogen. Das ändert aber nichts daran, dass dogmatisches Systemdenken, dogmatische Begrifflichkeiten und dogmatisches Begriffsverstehen – mindestens im Hintergrund – als Folie immer mitzudenken sind, wenn Auslegungsprobleme, sei es theoretisch, sei es rechtspraktisch, zu lösen sind. Wenn eine Ausle­ gung überzeugen soll, kann dies nicht ohne ausreichende Rückbin­ dung an Dogmatik und den Hypertext Recht gelingen.

2. Die Auslegungsregeln – Konzept einer kohärenten Regelstruktur Savigny sprach mit guten Gründen von Elementen der Auslegung, nicht von Arten, »unter denen man nach Geschmack und Belieben wählen könnte«.1281 Zum anderen zählte er, wie mehrfach betont, die teleologische Auslegung nicht zu den regulären Auslegungselemen­ ten. Für ihn war dieser Topos ein Instrument der Rechtsschöpfung. Larenz sah in dieser Differenzierung den Grund für die mangelnde Anschlussfähigkeit von Savignys Lehre für die damalige Methoden­ diskussion.1282 Im Folgenden soll dagegen genau diese Differenzie­ rung aufgegriffen werden, weil so der Raum, in dem der Richter sich das ihm passend erscheinende Auslegungselement nicht topisch wählen und gewichten darf, von dem Bereich unterschieden werden kann, in dem seine Interpretationskompetenz auch einen topischen Umgang mit den Kanones umfasst.

a) Auslegung nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht Unser Ansatz, unter Auslegung zunächst nur die Auslegung nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer 1281 1282

Savigny 1840, S. 215. K. Larenz 1991, S. 15 ff.

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Absicht zu verstehen, geht von einem Interpretationsverständnis aus, das eigentlich selbstverständlich sein sollte: Das, was das Gesetz mit seinem Text (dem Wortlaut) anordnet, ist auch das, was der Gesetzgeber gemeint und gewollt hat, und wenn sich das Gesagte und Gemeinte widerspruchsfrei in den Zusammenhang der anderen Regelungen des Gesetzes einfügt, macht es im Gesamtzusammenhang des Gesetzes auch Sinn. Wir haben damit ein Interpretationsergebnis, an das der Richter gebunden ist. Mit den Worten des BVerfG: »Hat der Gesetz­ geber eine eindeutige Entscheidung getroffen, darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar war«.1283 (1.) Ob der Gesetzgeber eine solche eindeutige Entscheidung getroffen hat, ist unter Berücksichtigung aller Informationen zu ermitteln, die zu den einzelnen Elementen vorliegen. Ergeben sich hier Widersprüche – etwa zwischen Wortlaut und konkreten Begrün­ dungen – fehlt es an dieser Eindeutigkeit. Ist sie gegeben, werden sich umgekehrt die Feststellungen zu den einzelnen Elementen ergänzen und auch gegenseitig stützen. Jede Gesetzesinterpretation hat mit dem Gesetzestext, dem Wortlaut, zu beginnen. Aber nicht jede Auslegung ist bekanntlich mit dem Wortlaut vorgegeben.1284 Umgekehrt wird die »Eindeutigkeit der im Wege der Auslegung gewonnenen gesetzgeberischen Grundent­ scheidung [...] nicht notwendig dadurch relativiert, dass der Wortlaut der einschlägigen Norm auch andere Deutungsmöglichkeiten eröff­ net, soweit diese Deutungen offensichtlich eher fern liegen. Ande­ renfalls wäre es für den Gesetzgeber angesichts der Schwierigkeit, textlich Eindeutigkeit herzustellen, nahezu unmöglich, sein Rege­ lungsanliegen gegenüber der Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum durchzusetzen.«1285 Offensichtlich eher fern liegen solche Deutungen insbesondere dann, wenn nur ein auch sonst denkbarer Sprachgebrauch ins Spiel gebracht wird, dieser aber in den Kontexten, die für die Interpretationen heranzuziehen sind – der gesetzliche Kontext ebenso wie die Prä- und Kontexte der Entstehungsgeschichte –, keine Anhaltspunkte für sie erbringt. Die ausführlich besprochene 1283 BVerfGE 82, 6, 12 – juris Rn. 20; vgl. auch BVerfGE 122, 248, 283 – juris Rn. 97, – abw. M. 1284 BVerfGE 133, 168–241 – juris Rn. 66. 1285 BVerfGE 133, 168–241 – juris Rn. 66.

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

Entscheidung des BAG zum befristeten Arbeitsverhältnis gibt ein anschauliches Beispiel für ein methodisch unzulässiges Spiel mit möglichen Deutungsvarianten.1286 Sie macht zum anderen auch die entscheidende Bedeutung anschaulich, die die Kontexte der Geset­ zesmaterialien und die dort konkret formulierten gesetzgeberischen Absichten für die Auslegung haben können. Haben sie genügende Aussagekraft, erlauben sie nicht nur eine genauere Bestimmung einzelner Tatbestandsmerkmale, sondern lassen – vor allem im Zusammenhang mit der Systematik des Gesetzes – auch die vom Gesetzgeber verfolgte Regelungskonzeption deutlich werden. Die systematische Interpretation umfasst mehr als nur die Auslegung aus der »Stellung im Gesetz« oder, zur Ermittlung eines Begriffsinhaltes, die Berücksichtigung des gesamten gesetzlichen Kontextes. Entscheidend ist: eine gefundene Auslegung muss sich so in die anderen gesetzlichen Regelungen einfügen, dass sie zu diesen nicht in Widerspruch gerät.1287 Letztlich ist mit der systematischen Interpretation ganz umfassend die Kohärenz angesprochen. Das gilt einmal hinsichtlich der Stimmigkeit der konkreten Auslegung und Rechtsermittlung, d. h., bei »der systematischen Auslegung ist darauf abzustellen, dass einzelne, kollidierende Rechtssätze, die der Gesetz­ geber in einen sachlichen Zusammenhang gestellt hat, grundsätzlich so zu interpretieren sind, dass sie miteinander vereinbar sind. Denn es ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber sachlich Zusammen­ hängendes so geregelt hat, dass die gesamte Regelung einen durchge­ henden, verständlichen Sinn ergibt«.1288 Aufgerufen ist aber, soweit durch die Interpretation unmittelbar berührt, auch die Wahrung der Kohärenz der Rechtsordnung insgesamt, hier verstanden als System, in dem Rechtsbegriffe und die Wertungen der Grundrechte systemisch miteinander korrelieren.1289 Entsprechend ist die systematische Ausle­ gung z. B. auch der Ort für die verfassungskonforme Auslegung. (2.) Diese Bindung entfällt allerdings zwangsläufig dann, wenn sich zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten Widersprüche zeigen oder beide keinen Widerhall in der Systematik des Gesetzes finden. Denn ein Gericht greift nur dann und nur insoweit unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers 1286 1287 1288 1289

Kap. 17 V. 4. Wie hier R. D. Herzberg, JuS 2005,1, 5 f. mit Nachweisen und Beispielen. BVerfGE 124, 25–43 – juris Rn. 50 m. H. auf BVerfGE 48, 246, 257. Vgl. Kap. 18 I. 4. b.

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ein, als es sich mit seiner Interpretation über dessen eindeutigen und »objektivierten Willen«1290 hinwegsetzt. Hat der Gesetzgeber in der Regelung, die Gegenstand der Interpretation ist, Raum für vernünftig begründbare Zweifel gelassen, was er mit dem Gesagten genau gewollt oder, noch deutlicher, nicht gewollt hat, bleibt nur die Feststellung, dass er insoweit von seiner Zwecksetzungsprärogative keinen Gebrauch gemacht hat; sie kann insoweit auch nicht verletzt sein. Die Zwecksetzungsprärogative des Parlaments fordert vom Richter keinen »dienenden Gehorsam« in dem Sinne, dass er ver­ suchen muss, nachzuvollziehen, was der Gesetzgeber »eigentlich« oder wahrscheinlich gemeint hat, wenn man seine mutmaßliche Intention nur richtig deutet. – Was sie allein fordert, ist mit einem gemutmaßten »Willen des Gesetzes« in den Fällen keine eigene Auslegung zu betreiben, in denen der Wille des Gesetzgebers klar und eindeutig ist. Für die verfassungskonforme Auslegung hat das BVerfG das entscheidende Kriterium für diese Auslegungsgrenze dementsprechend auch nie in einer mangelnden Übereinstimmung mit dem Willen des Gesetzgebers gesehen, sondern die Grenze dort gezogen, wo die Auslegung »zum Wortlaut der Norm und zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde«.1291 (3.) Als Faustregel formuliert: Der Richter überschreitet seine Auslegungskompetenz, wenn er »sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt«.1292 Dieser kann sich aus den Materialien ergeben. Ein Widerspruch zu dem gesetzgeberi­ schen Willen muss dann aber auch eindeutig sein, d. h., den Mate­ rialien müssen eindeutige Äußerungen zu entnehmen sein, welche Rechtslage man mit der Norm schaffen, festschreiben oder ändern wollte. Wie die zuvor beschriebene Typologie relevanter Auslegungs­ gesichtspunkt (IV.5.) gezeigt hat, sind derart eindeutige Festlegungen zu konkreten Auslegungsfragen aber eher selten, nicht die Regel. Zu prüfen ist eine solche Grenzüberschreitung aber nicht nur hinsichtlich konkret formulierter Absichten und Ziele, sondern vor allem auch hinsichtlich des Interpretationsrahmens. Der Richter darf BVerfGE 133, 168–241 – juris Rn. 66 m. w. N. st.Rspr. BVerfG, B. v. 11. Juli 2013 – 2 BvR 2302/11, 2 BvR 1279/12 –, juris Rn. 69 ff. m. Verweis auf BVerfGE 110, 226, 267, m. w. N.; Hervorh. D. Verf. 1292 So die vom BVerfG benutzte Formulierung, BVerfGE 132, 99–133 – juris Rn. 75 m. Verweis auf BVerfGE 118, 212, 243; 128, 193, 210. 1290

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sich mit seiner Interpretation nicht in Widerspruch zu der im Wege der Auslegung nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht gewonnenen »gesetzgeberischen Grundentscheidung«1293 setzen. Eine solche Grundentscheidung liegt etwa vor, wenn der Gesetzgeber eine Regelung schafft, die in ihrer Konzeption nur als eine abschließende Regelung verstanden wer­ den kann. Dann besteht eben kein Raum, Regelungslücken anzu­ nehmen, die durch den Richter geschlossen werden müssten. Klas­ sisch geworden ist die Entscheidung, mit der das BVerfG die Einordnung der Abfindungsansprüche aus einem Sozialplan in den Rang vor § 61 Abs. 1 KO a. F. – gleichsam als »Nr. 0« – durch das BAG als mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar angesehen hat. Begründet ist sie damit, dass der Gesetzgeber dem Richter hier keinen Auslegungs­ spielraum gelassen hat: »Eine gesetzliche Regelungslücke, die es dem Richter erlaubte, für bestimmte Forderungen eine Privilegierung außerhalb des geschlossenen Systems der Konkursforderungen vor der Rangstelle der KO § 61 Abs. 1 Nr. 1 zu begründen, besteht nicht«, lautet die entscheidende Feststellung.1294 Der breite Raum, den die Lückenproblematik früher in der Methodendiskussion eingenommen hat, hatte seinen Grund in der Vorstellung der prinzipiellen Lückenlosigkeit der gesetzgeberischen Kodifikationen. In dem Maße, in dem diese Vorstellung keine Über­ zeugungskraft mehr hatte, hat dann auch die Regelungslücke ihren Ausnahmecharakter verloren. Die Frage ist heute allein, ob der Gesetz­ geber ein Gesetz bzw. eine Norm als umfassende und abschließende Regelung formulieren wollte und im Gesetz auch formuliert hat und insoweit dem Richter eine Ergänzungskompetenz zur Rechtsfortbil­ dung entzogen hat oder ob davon nicht ausgegangen werden kann. Soweit das Gesetz dazu nicht selbst ausdrückliche Feststellungen trifft, etwa durch eindeutig abschließende Aufzählungen und Statuie­ rungen von Rangfolgen, die nicht geändert oder modifiziert werden können, ohne das System und die gesetzliche Interessenabwägung zu verändern, ist diese Frage allerdings meist nicht mit der notwen­ digen Eindeutigkeit zu beantworten. Insbesondere kann man nicht damit rechnen, dass die Materialien hier immer sichere Auskunft geben. Es gehört zum politischen Geschäft, einen Gesetzentwurf als durchdachtes Konzept zu präsentieren, in dem das angesprochene 1293 1294

BVerfGE 133, 168–241 – juris Rn. 66. BVerfGE 65, 182–195 – juris Rn. 36.

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Problem umfassend geregelt ist; es gehört nicht zu diesem Geschäft, offen auf die Fragen hinzuweisen, auf die man noch keine Antwort hat. Eine verdeckte Regelungslücke wird deshalb auch eher ver­ schwiegen denn als planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes the­ matisiert.1295 Gesetzgeberische Konzepte folgen, wie gesagt, oft nicht der juristischen, sondern einer politischen Rationalität. Selbst wenn eine in sich schlüssige Konzeption am Anfang stand, sind es oft Ausnahmen, Zugeständnisse an bestimmte Interessen oder Formel­ kompromisse1296, die es später in der Umsetzung schwierig machen, noch eine durchgehend kohärente Regelungsstruktur zu erkennen. Die Rechtsprechungspraxis muss dann eine solche Struktur »rekon­ struieren«, d. h. bei Lichte besehen: ein eigenes Interpretationskon­ zept entwickeln. Aber auch aus dieser Aufgabe erwächst ihr keine Kompetenz, sich über eindeutige gesetzgeberische Entscheidungen hinwegzusetzen. So erlaubt etwa eine Novellierung kein grundsätz­ lich neues Interpretationskonzept, wenn der Gesetzgeber bewusst eine bestimmte Norm und die in ihr enthaltene gesetzgeberische Grundentscheidung beibehalten hat, diese aber mit dem neuen Ansatz unvereinbar ist. Dass das judikative Modell demgegenüber ausgewo­ gener, zweckmäßiger oder sachgerechter als das gesetzliche Modell erscheint, darf kein Argument gegen die Gestaltungsprärogative des Gesetzgebers sein.1297

b) Der Nachrang der objektiv-telelogischen Interpretation – ein Gebot der Gesetzesbindung Für die Auslegungspraxis und den methodischen Umgang mit den Auslegungsregeln folgen aus den Vorgaben, die aus den bisherigen Überlegungen gewonnen wurden, zwei entscheidende Konsequen­ zen: 1. Die Auslegung muss als ein gestuftes Verfahren verstan­ den werden. Ergibt die Auslegung nach Wortlaut, Systematik, Ent­ stehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht, dass alle diese Elemente für eine bestimmte Auslegung sprechen, jedenfalls keine gewichtigen Gründe gegen sie, ist von dieser Interpretation auszuge­ hen. Siehe dazu anschaulich U. Seibert 2013, S. 121 f. Ein Beispiel zeigt BSGE 69, 25–66 – juris Rn. 95 – zum Kurzarbeitergeld an mittelbar von einem Arbeitskampf betroffene Arbeitnehmer. 1297 Vgl. BVerfGE 122, 248–303 – juris Rn. 103, Minderheitsvotum. 1295

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2. Mit Argumenten aus Sinn und Zweck des Gesetzes, aus der ratio legis darf dieses Ergebnis dann nicht mehr in Frage gestellt wer­ den. Für eine teleologische Auslegung ist nur Raum auf der zweiten Stufe, d. h. wenn der gesetzgeberische Normzweck hinsichtlich der strittigen Interpretationsfrage nicht hinreichend eindeutig feststellbar ist. – Ein Schwerpunkt der folgenden Überlegungen wird also darin liegen, die Grenzen der objektiv-teleologischen Interpretation genauer zu bestimmen.

3. Der teleologische Ansatz – Funktion und Problematik Werfen wir zunächst einen allgemeinen Blick auf die Rolle, die nach dem heute herrschenden Interpretationsverständnis dem »objekti­ ven Gesetzeszweck«, der im Entscheidungszeitpunkt wirksamen ratio legis, beigemessen wird. – »Der Zweck im Recht«1298 hat seine Bedeutung als nahezu selbstverständlicher Angelpunkt aller Ausle­ gungskunst1299 selbst erst als Ergebnis eines komplexen sozio-kultu­ rellen Prozesses gewonnen. Älteren, auf ritualisierte Förmlichkeit ausgerichteten Rechtskulturen ist dieses Denken ebenso fremd wie einem Rechtsverständnis, das Recht als Spiegel einer vorgegebenen Ordnung oder als göttliches Gebot ansieht. Wesentlich verbunden ist die teleologische Ausrichtung der Auslegungslehre mit den theoreti­ schen Ansätzen von v. Jhering und der Interessenjurisprudenz.1300 Entstanden ist sie als Antithese zu Begriffsjurisprudenz und zum Gesetzespositivismus. Zum entscheidenden Topos wurde die Ausle­ gung nach Sinn und Zweck in dem Maße, in dem diese positivistischen Vorverständnisse ihre Überzeugungskraft verloren. Die Dominanz, die der teleologische Ansatz in der theoretischen Diskussion wie in der Praxis zeigt, verdankt er aber keineswegs nur einer Eigengesetzlichkeit rechtstheoretischer Meinungsbildung. Sie entspricht, sehr viel allgemeiner, in ihrer Grundeinstellung dem zeitgenössischen Selbstverständnis, mit dem wir das Recht gehand­ habt sehen wollen. Unser Verständnis vom Recht ist ein weitgehend instrumentelles – wir wollen aber nicht nur Objekte dieses Instru­ »Der Zweck im Recht« – so der Titel des Werkes von Rudolf von Jhering, Leipzig 1877, in dem er seine begriffsjuristische Perspektive zugunsten einer soziologischen Betrachtung aufgab. 1299 Vgl. etwa E. A. Kramer 1998, S. 101 ff., 115. 1300 Zur Übersicht E. A. Kramer aaO. S. 115 ff. 1298

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mentes sein. Wir wollen von der Zweckhaftigkeit überzeugt sein, jedenfalls durch den Richter von ihr überzeugt werden. Richter und diejenigen, die vor ihm stehen (müssen), stellen also auch ganz selbstverständlich Fragen nach Sinn und Zweck gesetzlicher Regeln – warum sie zu einem bestimmten Tun oder Lassen zwingen oder Sanktionen auferlegen dürfen. Die Antwort könnte dann zwar ganz einfach lauten: »weil es so im Gesetz steht«. Doch selbst wenn es dort so klar steht, kann der Richter nicht damit rechnen, dass sich die Prozessbeteiligten mit einer solchen Antwort zufriedengeben. Man will wissen, aus welchen vernünftigen, nachvollziehbaren Gründen man verurteilt wurde. Der Richter braucht deshalb Gründe, warum er so und nicht anders entscheidet. So kommt es dann auch in den Fällen oft zu teleologischen Begründungen eines Urteils, in denen die Entscheidung eigentlich allein auf Wortlaut, Dogmatik und dem Hypertext Recht beruht, der Richter aber der größeren Akzeptanz wegen nach außen mit Sinn und Zweck argumentiert. Die teleologische Argumentation ermöglicht es an dieser Schnittstelle zwischen Rechtssystem und Lebenswelt, die richterliche Entscheidung als ein Urteil darzustellen, das nicht einfach auf »see­ lenlosen« formaljuristischen Folgerungen beruht – der Richter als »Subsumtionsautomat« –, sondern auf einer reflektierenden Schluss­ folgerung aus vernünftigen Gründen, Gründen, die aus einsichtigen Zwecken, Wertungen und Prinzipien abgeleitet sind. So können in der Sache auch die hinter den juristisch-technischen Argumenten liegenden Fragen nach der adäquaten Beurteilung und der »richti­ gen«, letztlich »gerechten«, Entscheidung verhandelt werden. Die Argumentation aus dem Telos ist mithin das methodische Instrument, über das »die Ergebnisverantwortung des Rechtsanwenders in das methodische Programm verlagert« wird.1301 Von einer »Ergebnisverantwortung des Rechtsanwenders« zu sprechen, macht freilich nur insofern Sinn, als die Bindung an Gesetz und Recht dafür auch entsprechende Freiräume lässt. Wir haben also nichts anderes als den Grundkonflikt zu konstatieren, der – zumeist im Gewand der Auseinandersetzung um das »eigentliche« Ziel der Interpretation – seit Savigny den Streit um die Auslegungs­ regeln bestimmt. Man kann ihn als Konflikt zwischen der Zweckset­ zungsprärogative des Gesetzgebers und der »Ergebnisverantwortung des Rechtsanwenders« beschreiben oder als Konflikt zwischen den 1301

M. Morlok 2012, S. 201.

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

Maßstäben, an denen der Gesetzgeber vor Zeiten seine Regelung ausgerichtet hatte, und den Wertungen, die aufgrund veränderter Umstände heute Geltung beanspruchen. Noch allgemeiner: Es geht einerseits um Bindung, Kontinuität und Rechtssicherheit, die der Richter zu gewährleisten hat, und andererseits um die Anpassungsfä­ higkeit des Rechts und seine Aufgabe, gegenwärtige Rechtskonflikte adäquat zu lösen. Wir haben es also bei diesem Streit mit einer Anti­ nomie zu tun, von der wir – keineswegs nur wegen unterschiedlicher philosophischer Positionen1302 – nicht hoffen dürfen, sie eindeutig und endgültig auflösen zu können. Denn strukturelle Antinomien sind für theoretische Konstruktionen desaströs; die Aussagen, die aus einer solchen Theorie folgen, können nur beliebig sein. Juristisch zeigt sich das sehr deutlich bei der Abwägung gegensätzlicher Werte und Interessen; sie führt zu Einzelfallentscheidungen ohne die Berechen­ barkeit einer verallgemeinernden Regel. In der Methodenlehre ist das Ergebnis die Freiheit der Methodenwahl. Die Methode hebt sich in dieser Freiheit selbst auf, wenn es nicht gelingt, diese Freiheit ein­ zuschränken. Damit kehren wir zu der Ausgangsfrage zurück: Durch welche verallgemeinernden Regeln lassen sich die Anwendungsbe­ reiche der Interpretationstopoi so strukturieren, dass der Interpret zwischen ihnen jedenfalls nicht mehr beliebig wählen kann?

a) Der Topos unbegrenzter Auslegung Die Auslegung nach Sinn und Zweck des Gesetzes steht nicht ohne Grund im Mittelpunkt des Streites um die Freiheit der Methodenwahl. Denn der Spielraum, den dieses Auslegungselement eröffnet, ist durch Regeln kaum einzugrenzen. Inhaltliche Bestimmungen und damit Grenzen setzt hier letztlich nur der Zeitgeist mit seinen jeweili­ gen Wertungsmustern und für überzeugend gehaltenen Überzeugun­ gen.1303 Insofern ist die Beliebigkeit eingeschränkt; davon abgesehen, ist die teleologische Interpretation das entscheidende Instrument, um im Gewand der Auslegung richterliche Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung zu betreiben Für die weiteren Überlegungen sind allerdings die zwei grund­ verschiedenen Perspektiven zu unterscheiden, aus denen man nach Sinn und Zweck einer Norm fragen kann: zum einen aus der Perspek­ 1302 1303

Siehe oben I. 2. die Äußerung von J. Schröder. Dazu näher Strauch 2005, S. 518 f.

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V. Gesetzesauslegung und ihre verfassungsrechtlich vorgegebene Regelstruktur

tive der konkreten Norm selbst. Es ist der Zweck, der der konkreten Regelung zugrunde liegt und der durch Auslegung dieser Norm nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht zu ermitteln ist. Eine grundsätzlich andere Perspektive ergibt sich, wenn allgemein nach Sinn und Zweck des Gesetzes gefragt wird und dieser dann zur Auslegung der konkret zu interpretierenden Norm herangezogen wird. In einem ersten Schritt ist in diesem Fall der Gesetzeszweck festzustellen. Im zweiten Schritt werden dann die ratio legis und die konkret auszulegende Norm in eine Zweck-Mittel-Rela­ tion gebracht. Beide Schritte sind methodisch höchst problematisch, weil sie weitgehend durch subjektive Setzungen bestimmt werden. Nicht von ungefähr spricht man von dem Zweck. Den Rege­ lungszweck gibt es aber nicht. Man hat eine Rechtsnorm oder ein Gesetz mit guten Gründen als »Resultante eines Interessenkonflikts« bezeichnet; man kann so deutlich machen, dass es eine Vielzahl von Interessen, Werten, Absichten und Zielsetzungen ist, die konkret »die Eigenart des einzelnen Gesetzes ergibt«. Wir haben daraus bereits im IV. Abschnitt das Fazit gezogen: Sinn und Zweck eines Gesetzes sind nie allein aus der Perspektive nur eines Normzweckes ableitbar (IV. 4 a). Einer teleologischen Interpretation muss also immer die Entscheidung vorausgehen, welchen Regelungszweck aus der Vielfalt der Zwecke, Interessen und Wertungen der Interpret zum Maßstab nehmen will. Denn die Operationen mit dem Zweckargument setzen, wie im Sprachgebrauch ja auch vorgezeichnet, die Fokussierung auf einen Zweck voraus. Ein Bündel sich zum Teil überschneidender, zum Teil widersprechender Zwecke zwingt zu einer Abwägungsentschei­ dung, aber man kann mit ihm nicht teleologisch argumentieren. So ist die Feststellung des Gesetzeszwecks in der Regel nicht das Ergebnis einer in den wesentlichen Schritten nachvollziehbaren Interpreta­ tion, sondern meist eine subjektive Setzung1304, das Resultat einer Auswahlentscheidung, die durch das für richtig gehaltene Ergebnis bestimmt wird. Als Interpretationstopos kann der so gewonnene Zweck in zwei Richtungen eingesetzt werden: 1.

1304

mit dem Ziel einer extensiven Auslegung; der Zweck der Rege­ lung gebietet es, die Regelung auch auf die Fälle y und z auszu­ dehnen, heißt dann die Formel; oder M. Morlok 2012, S. 203 ff.

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

2.

mit dem Ziel einer einschränkenden Auslegung (teleologische Reduktion); die Formel kann dann lauten: Sinn und Zweck entsprechend ist die Regelung auf die Fälle x zu beschränken; sie gebieten es nicht, sie auch auf die Fälle y und z anzuwenden.

Auf diese Weise kann der Interpret sowohl den konkreten Interes­ senausgleich, den der Gesetzgeber – eben als Resultante eines Interessenkonflikts – mit der konkreten Norm geschaffen hat, als auch die Bedeutung der einzelnen Tatbestandsmerkmale in die eine oder andere Richtung verschieben. Der übergeordnete Zweck wird zum übergeordneten Auslegungsziel der untergeordneten Norm. Hugo Preuss hatte diese Problematik des teleologischen Ansatzes schon 1900 in einem Beitrag über Methodik auf den Nenner gebracht: »Die Frage nach dem Zweck löst jeden juristischen Begriff in flüssiges Wachs auf.«1305

b) Der Bereich unzulässiger teleologischer Interpretation Die im Hinblick auf die Zwecksetzungsprärogative des Parlaments verfassungsrechtlich gebotene Begrenzung der richterlichen Interpre­ tationskompetenz verlangt also – so die Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen – eine Begrenzung der teleologischen Argumentation. Mit dem Bereich, der durch diese Zwecksetzungsprärogative ausge­ füllt ist, ist auch der Bereich eindeutig vorgegeben, in dem eine Argumentation mit einem nicht unmittelbar aus der Norm abge­ leiteten Gesetzeszweck unzulässig ist: Soweit die Auslegung nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und gesetzgeberischer Absicht – wie oben unter 2. a) dargelegt – zu einem eindeutigen und schlüssigen Normverständnis führen, darf der Richter dieses Ergebnis nicht mit teleologischen Erwägungen und Argumenten überspielen. Im Grundverständnis nicht anders hat auch das BVerfG gegenüber der teleologischen Auslegung die prinzipielle Grenze gesetzt und ausge­ führt: »Eine verfassungsrechtlich unzulässige richterliche Rechtsfort­ bildung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie, ausgehend von einer teleologischen Interpretation, den klaren Wortlaut des Gesetzes hint­ anstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und vom Gesetzgeber

1305

Zitiert nach G. Haverkate 1996, S. 43.

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nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird.«1306

c) Die notwendige Funktion teleologischer Auslegung Die Regel ist es aber bekanntlich nicht, dass der Gesetzgeber seine Absichten hinreichend unmissverständlich äußert und seinen Willen auch gesetzestechnisch entsprechend eindeutig formuliert. Er könnte so auch nur Normen mit beschränkter zeitlicher und sachlicher Regelungskraft schaffen. Fehlt einer Norm aber die Eindeutigkeit und führen die einzelnen unmittelbaren Auslegungselemente zu unterschiedlichen, ja widersprüchlichen Interpretationen, dann ist zum einen ganz selbstverständlich die richterliche Interpretations­ kompetenz – einschließlich der Kompetenz zur Rechtsanpassung und Rechtsfortbildung – aufgerufen und zum anderen stellt sich dann die Frage nach den nunmehr relevanten Maßstäben. Spätestens mit der Rechtsanpassung und Rechtsfortbildung wächst der Rechtsprechung dann auch die Ergebnisverantwortung zu und zugleich ist damit der bereits erörterte Zusammenhang von Ergebnisverantwortung und teleologischer Argumentation aufgeru­ fen. Wenn die klassischen Auslegungselemente kein einheitliches Auslegungsergebnis erbringen, bedarf es Kriterien, nach denen der Richter den offenen Konflikt löst und die er auch zu benennen hat. Sollen diese nicht nach freier politischer Entscheidung bestimmt werden, muss eine Rückbindung an das Gesetz erfolgen. Das bedeutet zunächst, dass Sinn und Zweck eines Gesetzes zunächst möglichst unmittelbar und konkret aus der Auslegung der anzuwen­ denden Norm zu ermitteln sind.1307 Erst wenn diese nichts erbringt, ist allgemein auf Sinn und Zweck des Gesetzes zurückzugreifen. Besteht etwa im Steuerrecht einerseits eine detaillierte Regelung über Inhalt und Umfang eines Verlustausgleichs, enthält sich die Norm aber andererseits jeder (ausdrücklichen) Aussage zur Frage der Zulässigkeit eines solchen Verlustausgleichs, dann muss das Gericht mit teleologischen Argumenten arbeiten, um die streitige Rechtsfrage BVerfG, Beschluss vom 26. 09. 2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 –, juris Rn. 56 m. H. auf BVerfGE 118, 212, 243. 1307 Zur Veranschaulichung siehe den oben – 1. a). – zitierten Fall »Schülerbeförde­ rungskosten«. Zu unterschiedlichen teleologischen Auslegungstechniken im Zivilund Verwaltungsrecht vgl. C. Möllers 2012, Rn. 25. 1306

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Kapitel 20: Grundfragen der Gesetzesauslegung

der Zulässigkeit zu klären; wenn es auf konkretere Zweckvorgaben nicht zurückgreifen kann, dann sind hierfür auch ganz allgemein »die Prinzipien und grundlegenden Wertungen des Einkommensteu­ errechts heranzuziehen«.1308 Das ändert nichts an der Problematik der teleologischen Methode. Wie bereits gesagt, kann die Rückbindung an das Gesetz, die hier gefordert wird, nicht als Bindung an eine objektiv eindeutige und als solche auch erkennbare ratio legis verstanden werden. Je uneindeutiger der Primärzweck einer Norm ist, je weniger dieser auf der Hand liegt, umso stärker werden die Zwecksetzungen durch die richterlichen Wertungsmuster bestimmt. Gleichwohl ist die teleo­ logische Argumentation nicht im Sinne des Willkürlichen subjektiv. Bindung vollzieht sich hier als Einbindung in den argumentativen und diskursiven Prozess der Rechtsprechung. Der Richter muss zum einen angeben können, aus welchen, dem normativen Zusammenhang entnommenen Gründen er den Zweck x und nicht die Zwecke y oder z in den Vordergrund stellt. Zum anderen muss er sich – je nach Streitstand – mit den Konsequenzen auseinandersetzen, die die unterschiedlichen Interpretationsansätze haben (können), sich also der Ergebnisverantwortung stellen.1309 Es geht auch hier um die Her­ stellung von Kohärenz. Die Ableitungs- und Wertungsmuster, durch die die Inhalte und Ergebnisse der teleologischen Argumentation ent­ scheidend bestimmt werden, müssen anschlussfähig sein, akzeptiert werden können. – Anders als bei den durch den Gesetzgeber festge­ schriebenen gesetzlichen Wertungsmustern können »Richtigkeit« und Angemessenheit der gerichtlichen Wertungsmuster im Widerspiel neuer Fälle, anderer Sachverhaltsperspektiven und unterschiedlicher Entscheidungen auch immer wieder in Frage gestellt werden; die Zwe­ cke werden dann anders gewichtet und das bisherige Wertungsmuster korrigiert. Das Rechtssystem sichert sich durch diesen Mechanismus also zugleich Anpassungsfähigkeit und Akzeptanz. Wie – ganz all­ gemein – solche Muster entstehen und wie Richter – jenseits aller Subsumtion – mit ihnen arbeiten, wird Thema des nächsten Teils E sein.

So – als Beispiel – BFH, Beschluss vom 17. Dezember 2007 – GrS 2/04 –, juris Rn. 64; BFHE 220, 129, BStBl II 2008, 608. 1309 Vgl. hier die im Grundgedanken parallele Überlegungen von M. Morlok 2012, S. 203 ff. 1308

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Teil E Das Erkenntnisverfahren – Mustererkennung und »Fallverstehen« – Entscheidungstheorien

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Kapitel 21: Mustererkennung und Subsumtion

Die Grundstruktur der herkömmlichen Methodenlehre wurde durch das Subsumtionsmodell geprägt. Wie schon mehrfach betont, war dieses Modell in eine Vorstellung von Sprache eingebettet, die dieser die Fähigkeit zutraute, die Welt so abzubilden, dass sich auch unsere Erkenntnis auf eine Subsumierbarkeit der Welt verlassen konnte. Das (idealtypische) Modell der Rechtsanwendung als Subsumtion, und damit auch als logische Operation, war, aus der Perspektive einer »realistischen Semantik« gesehen, mithin in sich schlüssig. Doch dieses Verständnis von Sprache ist heute obsolet und wir können für die Subsumtion nicht mehr von vorgegebenen und sicheren Rela­ tionen und Bezügen zwischen dem Tatbestand (= Sachverhalt) und den Tatbestandsmerkmalen ausgehen. Unabhängig davon sind auch wesentliche Teile richterlicher Fallarbeit, nämlich die Sachverhalts­ konstruktion, nicht mehr auf den Nenner einer richtigen Erfassung dessen, was »wirklich« gewesen ist, zu bringen. Weiterhin hat das mit dem Subsumtionsmodell eng verbundene Kodifikationsmodell seine prägende Kraft ebenfalls verloren und insoweit wurde auch die Vorstellung hinfällig, Rechtsanwendung sei Gesetzesanwendung und das Gesetz liefere – jedenfalls grundsätzlich – immer auch die auf den Fall passende Regel. Urteilen kann deshalb nicht mehr wesentlich als Sache der bestimmenden Urteilskraft und ihrer zwingenden Schlussfolgerungen aufgefasst werden. Man muss das weite Feld sehen, für das andere Erklärungsansätze und Regeln zu suchen sind, etwa Kants Gedanke der reflektierenden Urteilskraft oder eben eine Theorie der Mustererkennung. Denn aus den Phänomenen »schöpferischer Rechtsanwendungen« resultieren für die Methodik nicht nur die bereits erörterten Probleme der verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Interpretationskompetenz, sondern eben auch die nun zu beantwortende Frage, wie die kognitiven Prozesse eigentlich aussehen, über die Rechtsanpassung, Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung gesteuert werden. Um eine Antwort geben zu können, brauchen wir zunächst Klarheit, welche Vorgänge mit den Begriffen Subsumtion und Mus­

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Kapitel 21: Mustererkennung und Subsumtion

tererkennung bezeichnet werden, an welchen Punkten der Urteilsfin­ dung der Mustersuche und Mustererkennung eine entscheidende Bedeutung zukommt und welche Rolle dabei die Subsumtion spielt (I. u. II.). Gut veranschaulichen lässt sich diese Rolle am Modell des semiotischen Dreiecks (III.).

I. Mustererkennung – ein entscheidender Modus der Rechtserkenntnis Die herkömmliche Methodenlehre beschreibt die kognitiven Pro­ zesse der richterlichen Urteilsfindung wesentlich als Prozesse der Auslegung und der Subsumtion. Der Begriff der »Mustererken­ nung« ist demgegenüber kein Begriff des juristisch-methodischen Diskurses. Er stammt aus den Bereichen der Informatik und der Kognitionswissenschaften und meint die Fähigkeit, in einer Menge von Daten Regelmäßigkeiten, Wiederholungen, Ähnlichkeiten oder Gesetz­ mäßigkeiten zu erkennen.1311 Ruft man das Stichwort bei Google auf, erhält man mit Schwerpunkt und Präferenz Verweise auf die Verwen­ dung und Bedeutung in der Informatik: Mustererkennung als Suche nach Strukturen in Daten. Die Mustererkennung wird hier als ein Verfahren der künstlichen Intelligenz verstanden, um die Fähigkeiten der menschlichen Wahrnehmung nachzubilden. Beispiele sind die Spracherkennung, das maschinelle Lesen und Erkennen von Zahlen (etwa Postleitzahlen), Zeichen (Kontrolle von Autokennzeichen) und Bildern (etwa Gesichtern, Fingerabdrücken, Röntgenbildern). Ziel unserer Überlegungen ist allerdings nicht ein »Recht ex machina«1312, also ein unmittelbarer Einsatz von Verfahren der künstlichen Intel­ ligenz im Rechtsprechungsprozess. Wichtig ist aber der Grundge­ danke: Wenn sich Grundoperationen der menschlichen Erkenntnis maschinell und algorithmisch nachbilden lassen, gibt es auch entspre­ chende Erkenntnisstrukturen, die sich kognitionswissenschaftlich erfassen lassen. Von zentraler Bedeutung für die folgenden Über­ legungen wird deshalb der kognitionswissenschaftliche Ansatz Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Mustererkennung – 2014–09–12. So der Titel von O. Raabe / R. Wacker / D. Oberle / Ch. Baumann / Ch. Funk: Recht ex machina. Formalisierung des Rechts im Internet der Dienste. Berlin/Hei­ delberg 2012; vgl. dazu Kyriakos N. Kotsoglou, Subsumtionsautomat 2.0, JZ 2014, 451–457. 1311

1312

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I. Mustererkennung – ein entscheidender Modus der Rechtserkenntnis

sein. Es sind hier die alltäglichen Vorgänge unserer Wahrnehmungen, insbesondere die der Objekterkennung, die als Mustererkennungen zu beschreiben sind. Entsprechend alltäglich sind auch die »Muster«, über die der Richter im gerichtlichen Verfahren Sachverhalte und deren rechtliche Bedeutung erfasst. Durch diesen Ansatz wird auch der Grundgedanke bestimmt, von dem die folgenden Überlegungen ausgehen: Wenn wir uns vorzu­ stellen haben, wie wir Wirklichkeit erfassen, dann ist die Vorstellung, wir erarbeiteten uns diese Wirklichkeit jeweils aus einer Vielzahl von Reizen und Informationen in einer Vielzahl von logischen Sub­ sumtionsvorgängen, mit dem, was wir heute über Wahrnehmung wissen, kaum vereinbar. Das gilt auch für komplexe Wertungen. Der Ausgangspunkt für das Verstehen solcher Prozesse muss vielmehr in der Annahme gesehen werden, dass wir unsere Umwelt – und darunter auch juristische Sachverhalte – grundsätzlich ganzheitlich erfassen. Wir erfassen sie über Muster, die es uns ermöglichen, die unvorstellbar große Vielzahl von Sinnesreizen, über die wir wahrneh­ men, zu bewerten und dann auf Begriffe zu bringen.

1. Beispiel »Gesamtwürdigung« Die Problematik wird zum einen besonders augenfällig, wenn kom­ plexe Sachverhalte zu würdigen sind. Die »Gesamtwürdigung«, die dem Richter dann aufgegeben ist, kann, wie die bisherigen Analysen (Kap. 14 II.) bereits ergeben haben, nicht über deduktive Ableitungen bewerkstelligt werden, sondern läuft über Wertungs- und Wahrneh­ mungsmuster. Soweit ein richterliches Urteil eine »Gesamtwürdi­ gung aller Umstände« erfordert – etwa für die Prüfung einer Zeugen­ aussage auf ihre Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit hin oder für ein wertendes Tatbestandsmerkmal (»sittenwidrig«, »unwürdig« etc.) –, kann dieses nicht Schritt für Schritt als rational nachvollziehbare Reihe von deduktiven Schlüssen rekonstruiert werden. Es handelt sich deshalb aber keineswegs um nichts anderes als aus dem Unbe­ wussten gesteuerte Dezisionen, sondern, wie sich zeigen wird (Kap. 23 u. 24), um Umgang mit und Schlussfolgerungen aus durchaus rationalen Mustern.

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Kapitel 21: Mustererkennung und Subsumtion

2. Beispiel »Einordnungsmuster« Eine andere, aber ebenfalls ganz wesentliche Rolle spielen Muster bei der Hypothesenbildung. Gemeint sind die Muster, die als »Einord­ nungsmuster« am Beginn der Fallbearbeitung die Ausgangshypo­ thesen und damit insgesamt das Verstehen des Falles entscheidend bestimmen und – wenn sie falsch gewählt werden – zu Fehlurtei­ len führen. Der Jurist, der mit einem neuen Sachverhalt konfrontiert wird, muss – bevor er es unternehmen kann, unter eine bestimmte Norm zu subsumieren – in der Geschichte, die ihm vorgetragen wird, eine bestimmte rechtliche Grundstruktur erkennen: Welcher Delikttypus könnte es sein, welche Art des Vertrages, welches Recht des Nach­ barn könnte durch die erteilte Baugenehmigung verletzt sein, wie ist die Absprache, die zwischen den Beteiligten getroffen wurde, gesellschaftsrechtlich einzustufen usw. Entsprechend beginnt das juristische Gutachten oder das Votum mit Sätzen wie: »Der Anspruch könnte begründet sein aus …« oder: »Eine Strafbarkeit könnte sich ergeben aus …«. Die Ansätze, die als Normen oder Rechtsinstitute in diese Leer­ stellen einzusetzen sind, machen dabei meist keine Probleme. Anders als vielleicht zu Beginn des Studiums weiß man, welche juristische Schublade man öffnen muss. So wird dieser Vorgang in aller Regel nicht einmal als besonderer Schritt bewusst. Aber auch wenn der »Einstieg« selbstverständlich ist, müssen als notwendige Gedanken­ schritte – bevor man mit den konkreten Arbeitsschritten, Klärung der Rechtslage und Sachverhaltsermittlung, beginnen kann – die diesen Operationen vorgelagerten Phasen der Hypothesenbil­ dung stehen. Zur ersten Einordnung in den juristischen »Denk- und Argumentationsraum« müssen Muster aufgerufen sein, mit denen der Richter das von den Parteien/Beteiligten Vorgetragene erfassen und beurteilen kann. Zur Illustration soll der schon erwähnte Fall »Sportgate./.Boris Becker«1313 die Funktion der »Einordnungsmuster« an einem Prozess­ beispiel zeigen, in dem eine überzeugende Einordnung zunächst in charakteristischer Weise misslungen ist: Im Juli 2000, kurz nach Gründung der Sportgate AG, zu deren Gründern auch der frühere Tennisstar gehörte, unterschrieb dieser an 1313

Vgl. Kap. 13 III. 2. a.

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I. Mustererkennung – ein entscheidender Modus der Rechtserkenntnis

einer Bar in einem Washingtoner Hotel folgende Erklärung: »An die­ jenigen, die es angeht: Ich verpflichte mich hiermit gegenüber der S. AG i.G. sowohl unverzüglich jegliche Verluste, die während des Geschäftsganges eintreten, bis zu einer Summe von 1,5 Millionen Euro mittels geeigneter Maßnahmen auszugleichen, als auch die Ver­ sorgung der Gesellschaft in dieser Zeit mit flüssigen Mitteln sicher zu stellen, so daß die Gesellschaft jederzeit ihren finanziellen Verpflich­ tungen nachkommen kann. Diese Erklärung soll dem Recht der Bun­ desrepublik Deutschland unterfallen.« (Übersetzung). – Aus dieser Erklärung klagte der Insolvenzverwalter über das Vermögen der Sportgate AG. Das OLG München wies die Klage mit der Begründung ab, bei der Erklärung handele es sich um eine mangels Gegenleistung schenkweise eingegangene, aber mangels notarieller Beurkundung (§ 518 BGB) formunwirksame Verpflichtung.1314 Der BGH hat das Berufungsurteil mit der Begründung auf­ gehoben, das Urteil beruhe auf einer grundlegenden Verkennung der Rechtsnatur von Finanzierungsvereinbarungen zwischen Gesell­ schaftern und ihrer Gesellschaft. Wörtlich: »Das Berufungsgericht verkennt schon im Ansatz, daß der Beklagte die – unterstellt – gegen­ über der Gesellschaft abgegebene Erklärung in seiner Eigenschaft als (Gründungs-)Gesellschafter im Hinblick auf seine Mitgliedschaft (causa societatis) abgegeben hat«.1315 Fragt man nach den Gründen, warum das OLG die zitierte Erklä­ rung in das Muster »Schenkung« eingeordnet hat, lässt sich das nur dadurch nachvollziehbar erklären, dass der sachlich-wirtschaftliche Zusammenhang zwischen der Verlustübernahmeerklärung und der Gesellschafterstellung nicht in den Blick geraten war. Es ist wie meist bei einer Verkennung des Einordnungsmusters: Weil verkannt wurde, was Sache ist, wurde die Rechtslage verkannt – oder umgekehrt. Die Subsumtion als logische Operation mag in solchen Fällen in Ordnung sein. Gleichwohl kann das Revisionsgericht dann oft nur zurückverweisen, »weil die bisher unterbliebene Klärung des streiti­ gen Sachverhalts nachzuholen« ist.

Urt. vom 18.01.2006 – 18 U 1887/04. BGH Urt. vom 08.05.2006 – II ZR 94/05 = BB 2006, 1467–1468 = WM 2006, 1202–1204. 1314

1315

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Kapitel 21: Mustererkennung und Subsumtion

II. Subsumtion Anders als die »Mustererkennung« hat der Begriff der »Subsum­ tion« in der Methodik einen festen Platz und scheint demgegenüber auch klar bestimmt zu sein, bezeichnet er doch das Kerngeschäft des Juristen. Gleichwohl weiß man oft nicht so ganz genau, was gemeint ist, wenn von »Subsumtion« gesprochen wird, denn mit dem Begriff der »Subsumtion« wurden und werden, sieht man genauer hin, zwei sehr unterschiedliche Vorgänge bezeichnet. Es geht einmal um den Vorgang der Unterordnung des Falles unter die einschlägige rechtliche Regelung (Subsumtion im weiteren Sinn) und zum anderen um die Frage, ob die einzelnen konkreten Sachverhaltsfeststellungen auch den einzelnen Tatbestandsmerkmalen unterfallen (Subsumtion i.e. S. = Subordination). Wird sie als Unterordnung eines Sachverhaltes unter eine Norm verstanden, kann es den wesentlichen Teil des Vorganges bezeichnen, der die Rechtsfindung ausmacht; er schließt dann auch die Gesetzesauslegung mit ein. – Hat man dagegen hauptsächlich den »Subsumtionsschluss« – den »Justizsyllogismus« nach dem Schlussschema des Modus Barbara1316 – im Auge, meint Subsumtion in einem engeren Sinn die Unterordnung eines Begriffs von engerem Umfang unter einen weiteren (Gattungs-)Begriff: Der sprachlich gefasste Sachverhalt wird über seine konkreten Begriffe unter die abstrakteren Begriffe der Regel »subordiniert«. Es wird die Unterordnung des konkreten Sachverhaltsumstandes unter ein Tatbestandsmerkmal beschrieben.1317 Wird »Subsumtion« in dem (zuerst genannten) weiteren Sinn definiert und verknüpft man sie mit einer kohärenztheoretisch ver­ standenen Methodenlehre, wäre im folgenden »Subsumtion« als Herstellung von Kohärenz darzustellen. Es macht jedoch gerade ein zentrales Problem der Methodenlehre aus, dass es sich bei dem Vor­ gang der »Rechtsfindung« um höchst komplexe kognitive Erkenntnis­ prozesse handelt. Es gilt mithin zu differenzieren, und deshalb soll, Vgl. näher Klug 1966, S. 47 ff.; Neumann 2004, S. 299, 312 f. Von dem engeren Begriff gehen z. B. R. Zippelius 2012, S. 96 ff. und K. Larenz in der 1. Aufl. 1960, S. 210 aus, von dem weiteren etwa K. Engisch 1963, S. 13 ff. und Engisch 1975, S. 50 ff. und S. 202 f. Grundsätzlich zur Begrifflichkeit siehe G. Gabriel 2012, S. 1 ff. und R. Gröschner 2012, S. 422; vgl. auch den Art. »Subsumtion« von G. Otte 1998, S. 562 f. mit der wohl zutreffenden Feststellung, dass sich die terminolo­ gische Unterscheidung zwischen »Subsumtion« und »Subordination« nicht durchge­ setzt hat. 1316 1317

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II. Subsumtion

wenn in diesem Abschnitt von »Subsumtion« die Rede ist, dieser Begriff in dem engeren Sinn der »Subordination« verstanden wer­ den, also bezogen auf die Unterordnung eines Begriffes von geringem Umfang unter einen höheren Begriff. Nur so kann in dem Vorgang der Rechtsfindung zwischen »Subsumtion« und »Mustererkennung« differenziert und der Erkenntnisgewinn, der in dieser Differenzierung liegt, genutzt werden. Damit gibt diese Differenzierung den Weg frei, das Verhältnis von Subsumtion und Mustererkennung als Wechselspiel von »Begriffsarbeit« und Mustererkennung zu sehen. Diese Unterscheidung entspricht zugleich einer sehr viel grundlegen­ deren, die der Neurowissenschaftler G. Edelman als These so formu­ lierte: »Meiner Ansicht nach gibt es zwei Hauptformen des Den­ kens: Logik und Selektionismus (oder Mustererkennung).«1318 Wie wir uns die Mustererkennung – als Auslese aus Varianten – vorzu­ stellen haben, ist an den zwei folgenden Beispielen zu erläutern. Über diese Beispiele hinaus ist dann im nächsten Abschnitt (III) dieses Verhältnis am Modell des semiotischen Dreiecks als Wechselspiel zwi­ schen bestimmender und reflektierender Urteilskraft zu beschreiben. Ziel ist es, so den zentralen Vorgang richterlicher Kognition im Pro­ zess der Rechtsermittlung zu analysieren und sichtbar zu machen.

1. Von der »Begriffsarbeit« zur Mustererkennung Das schulmäßige Ziel der Auslegung ist die Gewinnung subsumti­ onsfähiger Begriffe. Die Subsumtion (= Subordination) kann dann unmittelbar an den durch eine Wortinterpretation gewonnenen Ober­ begriff ansetzen. Was aber, wenn man mit der herrschenden Aus­ legung zu Ergebnissen kommt, die der Normanwendung Grenzen setzen, die sinnwidrig erscheinen, weil die Regelung »an sich« – nach Normzweck und Interessenlage – doch eigentlich ganz gut und jedenfalls besser als andere auf den zu regelnden Fall passt? Der Blick geht dann vom Besonderen (dem Fall) zum Allgemeinen und sucht nach einem Muster, das sowohl wesentliche Elemente der konkreten Norm als auch des übergeordneten, abstrakteren Allgemeinen verbin­ det. Ins Spiel kommt das analogische Erkenntnisvermögen1319 – hier 1318 G. Edelman 2007, S. 145; dort S. 144 auch zur neurowissenschaftlichen Basis dieser Unterscheidung. Selektion meint hier allgemein die Auslese aus Varianten. 1319 Dazu G. Gabriel 2012, S. 17 ff.

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Kapitel 21: Mustererkennung und Subsumtion

insbesondere die Analogie aus dem Grunde,1320 die an die ratio legis anknüpft. – Dazu ein Beispiel: Das Reichsgericht hatte es bekanntlich abgelehnt, die Strafnorm des § 242 StGB auf den Energiediebstahl anzuwenden; eine Subsum­ tion unter den Begriff der Sache würde die Wortlautgrenze über­ schreiten.1321 Wenn »Strom«, weil kein körperlicher Gegenstand (§ 90 BGB), keine »Sache« ist, erscheint die Elektrizität auch als Gegenstand des Kaufrechts nicht subsumierbar. Gleichwohl besteht weitgehend Einigkeit, dass auf den Stromlieferungsvertrag die für das Kaufrecht geltenden Vorschriften Anwendung finden.1322 Zur Begründung heißt es zum Beispiel im Staudinger: »Wegen dieser Nähe zum Kaufvertrag und der Vergleichbarkeit mit Wasser- und Gaslieferungsverträgen (dazu § 433 Rn 9) wandte die hM auch unter Geltung alten Rechts auf Überlassungsverträge über Strom von jeher die kaufrechtlichen Vorschriften an«.1323 Analysiert man diese Argu­ mentation, dann erfolgt keine Auslegung über die Wortinterpretation eines Tatbestandsmerkmales mit Oberbegriff und Begriffsdefinitio­ nen, ja überhaupt keine semantische Erfassung des Problems. Die Überlegungen zur rechtlichen Einordnung der Stromlieferung und die dann gefundene Auslegungslösung gehen vielmehr vom Vorgang selbst aus. Gefragt wird nach dem »Muster«, danach, mit welchem der Vertragstypen, die das Schuldrecht als Regelungsmuster vorgibt, wir den Vorgang – ein Verbraucher bezieht von den Stadtwerken gegen Geld Strom – rechtlich am besten erfassen können. Aus diesem Blick­ winkel einer »Sachverhaltsanalyse« auf das Allgemeine des Vorgan­ ges erscheint es dann als geradezu selbstverständlich, in dem Vorgang der Stromlieferung rechtlich das Muster des Austauschverhältnisses »Kaufvertrag« zu erkennen.

2. Mustererkennung statt Subsumtion Vielfach fällt die Entscheidung über die Anwendbarkeit einer Norm aber bereits im Ansatz nicht mehr via Begriffsanalyse und Subsum­ Näher und zu den unterschiedlichen Rekonstruktionen des Analogieschlusses M. Herberger u. D. Simon 1980, S. 170 ff. 1321 RGSt 32, 165. 1322 Palandt/Weidenkaff 2011, § 433 Rn. 8, § 453 Rn. 6. 1323 R. M. Beckmann/Staudinger 2004, § 453 Rn. 39 mit Hinweisen u. a. auf BGHZ 23, 175.

1320

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III. Zum Wechselspiel von Subsumtion und Mustererkennung

tion; sie wird über den Einsatz von Mustern, insbesondere über Interpretationsmuster vorgenommen. Die Rechtsprechung des Bun­ desverfassungsgerichts bietet dafür eine Fülle von Beispielen. Eindrücklich zeigt sich in dem schon vielfach zitierten Paradigma des Lüth-Urteils1324 der Funktionsunterschied von Subsumtion und Mustererkennung. Hätte das Bundesverfassungsgericht traditionell subsumiert, hätte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg haben können. Nach der aus der Weimarer Zeit überkommenen Grund­ rechtslehre war die Norm, gegen die der Theaterkritiker Erich Lüth mit seinem Boykottaufruf gegen einen Veit-Harlan-Film verstoßen hatte, als ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG und damit eindeutig als Schranke für die Meinungsfreiheit einzustufen, denn das aus § 826 BGB abgeleitete Boykottverbot richtete sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche. 1325 Der Subsumtionsvor­ gang, der durch die Unterordnung eines Begriffes mit geringerem Umfang unter einen Oberbegriff gekennzeichnet ist, hätte bei der bisherigen Auslegung also zu einem eindeutigen Ergebnis geführt. Mit der Übernahme des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes veränderte sich demgegenüber der Umgang mit dem gesetzlichen Tatbestand grundsätzlich: Die logische Operation der Subsumtion wurde durch eine Rechtsanwendung nach einem Abwägungsmuster ersetzt.1326 Mustererkennung statt Subsumtion bedeutet mithin: Das Subsumti­ onsmodell, das wir traditionell als das Grundmuster der Norman­ wendung ansehen, ist nur ein Denkmodus neben anderen, die der Jurist bei der Handhabung von Normen verwendet.

III. Zum Wechselspiel von Subsumtion und Mustererkennung Wie bereits erörtert (Kap. 20), verläuft die Vermittlung zwischen dem Allgemeinen (der Rechtsnorm) und dem Besonderen des Falles im Rechtsfindungsprozess nicht nur in der einen Richtung: In der rechtlichen Beurteilung eines Falles treffen sich oft zwei gegenläufige BVerfGE 7, 198–230; vgl. dazu auch unten IV.2.2 und IV.2.3. G. Anschütz 1960, S. 454. 1326 LS 5: »Die ›allgemeinen Gesetze‹ müssen im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung für den freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt werden«, so die klassisch gewordene Formulierung. 1324 1325

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Kapitel 21: Mustererkennung und Subsumtion

kognitive Vorgänge, die dann zum »Urteil« führen: Einmal die Sub­ ordination (»Subsumtion« im engeren Sinn) mit ihren Schlussformen vom Allgemeinen zum Besonderen, also vom allgemeinen Rechtsbe­ griff zum konkreten Sachverhaltsumstand, aber zum anderen auch die gegenläufige Beurteilung vom Besonderen zum Allgemeinen. Dieser gegenläufige Beurteilungsmodus – bei dem sich die Rechtslage gleichsam aus einem genauen Blick auf den Fall oder einzelne Fall­ umstände erhellt – lässt sich, wie ebenfalls schon betont, nicht mehr als »Subsumtion« beschreiben, jedenfalls nicht ohne den Begriff kon­ turlos werden zu lassen. Es sind vielmehr kognitiv wesentlich anders strukturierte Vorgänge der »Mustererkennung«, mit denen wir in einzelnen Sachverhaltsumständen oder einer Fallkonstellation ein »Allgemeines« als Muster erkennen, die die Mechanismen dieses Beurteilungsmodus prägen.

1. Das semiotische Dreieck Bei genauerem Hinsehen bewegt sich der Rechtsfindungsprozess aber nicht nur zwischen den beiden Polen Norm und Fall. Wir haben es nicht nur mit einer zweipoligen, sondern mit einer dreistelligen Relation zu tun, und zwar zwischen: 1. 2.

3.

A – dem Normtext, dem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal, B – dem Fall. Es sind die mit dem Sachverhalt festgestellte Hand­ lung/Verhalten/Eigenschaft, die den Definitionselementen (C) subordinierbar sein müssen, um schlussfolgern zu können, dass der Fall der Norm/Regel unterfällt; und C – den Bedeutungen, mit denen die Worte des Textes zu verste­ hen sind bzw. verstanden werden, d. h. die »Wortgebrauchsre­ gel«, die Definition des Tatbestandsmerkmales, um den Norm­ text insofern »subordinationsfähig« zu machen.

Allgemeiner gesagt haben wir es mit A – dem Terminus/Zeichen (Wort, Ausdruck), B – dem Gegenstand (Referenz) und C – dem Begriff (Bedeutung, Sinn), dem Interpretant, zu tun. Damit bewe­ gen wir uns im Bereich der Semiotik – angesprochen bereits im Zusammenhang mit dem erkenntnistheoretischen Problem der Ver­

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III. Zum Wechselspiel von Subsumtion und Mustererkennung

mittlung1327 –, also der Lehre von den Zeichen, die diese dreistellige Relation üblicherweise in der Form eines Dreiecks anordnet.1328 Nach C. S. Peirce (1839–1914), dem amerikanischen Mathematiker, Philo­ soph und einem der Begründer der modernen Semiotik, hat dieses Dreieck, vereinfacht – doch ergänzt um die Buchstaben A-B-C, um die Orientierung im Text zu erleichtern – folgende Gestalt1329: $ *OUFSQSFUBOU #F[FJDIOFUFT #FEFVUVOH

3FQSÅTFOUBNFO #F[FJDIOVOH .JUUFM %FS 3FQSÅTFOUBUJPO

0CKFLU HFHFOTUÅOEMJDIFT 0CKFLU PEFS #FXV“UTJOTPCKFLU

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#

Der semiotische Ansatz, Begriffe über eine dreistellige Relation zu bestimmen, basiert auf den zwei Grundeinschätzungen, die auch bisher unsere Überlegungen zu Recht und Sprache entscheidend bestimmt haben: Begriffe werden weder durch ihr (unveränderliches) Wesen (Wesen der Ehe, Wesen der Untreue etc.) noch durch eine klare Zuordnung zu den Objekten dieser Welt bestimmt, wie es die »realis­ tische Semantik« annahm. Die Bedeutung eines Begriffes ist vielmehr »nichts anderes als die Praxis, die wir mit ihm verbinden«.1330 Bedeu­ tung entsteht in der Praxis der »Lebenswelt«. Wir haben es also, strukturell gesehen, mit dem gleichen Grundverständnis von Sprache zu tun, das wir mit Wittgensteins Gebrauchstheorie der Sprache im 17. Kapitel erörtert hatten.1331 Im Schema des semiotischen Drei­ ecks zeigt sich allerdings deutlicher, wie sich juristische Begriffe im Kap. 12 II. Zu den Grundlagen (der sehr ausdifferenzierenden) Diskussion vgl. als wesent­ lichen Vertreter U. Eco 2002, S. 28 ff.; dort auch zur vielfach unterschiedlichen Ter­ minologie. Zu Ecos Theorie vgl. D. Mersch 1993, S. 81 ff. 1329 U. Volli 2002, S. 27 ff. Vgl. zu Peirce in diesem Zusammenhang näher die Unter­ suchungen von J. Lege 1999, hier insbesondere S. 225 ff. 1330 So im Anschluss an Ch. S. Peirce die Formulierung von J. Lege 2012, S. 266. 1331 Zu der Parallele zwischen Peirce und Wittgenstein siehe J. Lege 2006, S. 1, 8. 1327

1328

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Kapitel 21: Mustererkennung und Subsumtion

praktischen Gebrauch der Rechtsprechungspraxis formen, sich in Fällen der Rechtsfortbildung verändern und wieder stabilisieren. Dabei gilt im Zusammenhang dieses Kapitels unser Interesse nicht mehr den verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung, sondern einer genaueren Beschreibung derjenigen Operationen, Denkformen und Mechanismen, die – gleichsam als Hintergrundprogramme – die Pro­ zesse der Rechtsfortbildung steuern und bestimmen.

2. Das semiotische Dreieck und der Prozess der Rechtsfortbildung Zunächst sollen diese Überlegungen aber nicht abstrakt weitergeführt werden, sondern die entscheidenden Schritte im Prozess der Rechts­ fortbildung am konkreten Beispiel der Entscheidung GS BGHSt 9, 384 zur korrigierenden Auslegung des Begriffes der »Heimtücke« in § 211 StGB dargestellt und analysiert werden. Überträgt man das Rechtsproblem, um das es dem BGH bei dieser Entscheidung ging, in die dreistellige Relation des semiotischen Dreiecks, lässt sich dessen Grundstruktur – nämlich die Abhängigkeit der Interpretation, d. h. der Bestimmung des entscheidenden Tatbestandsmerkmales, also des »Interpretanten«, von der Fallkonstellation – gut in folgendem Bild schematisieren:1332

A: Der Große Senat hatte mit seiner Entscheidung auf folgende Vorlagefrage zu antworten: »Setzt das Merkmal der Heimtücke bei Mord mehr voraus als die bewußte Ausnutzung der Arg- und Übernommen ist dieses Schema aus J. Lege 2012, S. 270 ff., dem ich auch in der Darstellung weitgehend folge.

1332

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III. Zum Wechselspiel von Subsumtion und Mustererkennung

Wehrlosigkeit des Opfers, insbesondere eine verwerfliche Gesinnung des Täters?«1333 B: Zu entscheiden war über folgenden Fall: Der Angeklagte veruntreute als städtischer Vollziehungsbeamter in den Jahren 1953 und 1954 etwa 400,– DM, weil er meinte, ihm sei zu Unrecht eine Zulage gestrichen worden. Als dies entdeckt wurde, wurde ihm untersagt, seine Dienstgeschäfte fortzuführen. Hierdurch geriet der Angeklagte, der an krankhafter Überempfindlichkeit litt, in tiefe Verzweiflung. Er versuchte, sich zu töten, indem er 20 Morphium­ tabletten einnahm und sich über den geöffneten Gashahn beugte. Dieser Versuch misslang, weil ihn die 11-jährige Tochter überraschte und ständiges Erbrechen einsetzte. Die große Menge Morphium steigerte seinen Zustand unbeherrschter Verzweiflung. So faßte er in schlafloser Nacht erneut den Entschluß, aus dem Leben zu scheiden und hierbei Ehefrau und Tochter, die er sehr liebte, mit in den Tod zu nehmen. Zu diesem Zweck öffnete er die Gashähne. Das ausströ­ mende Gas führte seine völlige Unzurechnungsfähigkeit herbei. Als seine Tochter den Gasgeruch spürte und sich an ihn wandte, erwürgte er sie. Auch seine Ehefrau versuchte er zu erwürgen, als sie erwachte. Dies gelang ihm jedoch nicht. Darauf floh er zur Polizei.1334 C: Die damals von der Rechtsprechung verwandte Gebrauchs­ regel für das Mordmerkmal »heimtückisch« lautete: »Heimtückisch tötet, wer die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers zur Tat bewusst ausnutzt [...] Arglos in diesem Sinne ist, wer sich – zumindest zu dieser Zeit – keines Angriffs des Täters auf sein Leben versieht.« – Diese Voraussetzungen waren im Fall des A gegeben: Er nutzte die »Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers« (Frau und Kind des A schlafen und versehen sich daher keines Angriffs) »bewusst« aus. Aus welchen Gründen genau der 5. Senat den Großen Senat angerufen hatte, ist in der Entscheidung nicht mitgeteilt. Eindeutig, wie die Vorlage zeigt, hielt er jedoch die Subsumtion (Subordination) mit der unkorrigierbaren Konsequenz: »Heimtücke«, also Mord mit lebenslanger Freiheitsstrafe, für fragwürdig. Diese schien ihm ange­ sichts des Umstandes, dass A Frau und Tochter, »die er sehr liebt«, »Entehrung und die Not« ersparen wollte, offenbar unbillig.1335

1333 1334 1335

BGHSt 9, 385 – juris Rn. 7. BGHSt 9, 385 – juris Rn. 4. So auch J. Lege 2006, S. 3.

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Kapitel 21: Mustererkennung und Subsumtion

3. Rechtsfortbildung – Rechtsgefühl, »reflektierende Urteilskraft« und Mustererkennung Will man eine solche Einschätzung, dass ein Ergebnis unbefriedigend, unbillig oder gar eindeutig ungerecht ist, fassen, erscheint diese zunächst nur als Einwand des »Rechtsgefühls«. Man kann auch von »Judiz« sprechen, ohne aber auch damit zunächst etwas Genaueres gesagt zu haben. Doch wenn sich dazu wirklich nichts Genaueres ausmachen ließe, dann wären mit »Rechtsgefühl« und »Judiz« auch die Endpunkte unseres Versuches bestimmt, die kognitiven Prozesse richterlicher Entscheidungsfindung im Rahmen einer juristischen Methodenlehre zu beschreiben. Es blieben dann allenfalls Analysen, wie sie die psychologischen Persönlichkeitstheorien1336 und neuro­ wissenschaftliche Studien zur Steuerung von Werturteilen durch das limbische System liefern könnten1337 (hier etwa durch die Amygdala oder den Hypothalamus1338). Die Prozesse, die hinter der »reflektierenden Urteilskraft« wirk­ sam sind, sind aber nicht nur solche des »Rechtsgefühls« und des »Judizes«. Gibt ein Fall Anlass, das bisherige Verständnis eines Tatbe­ standsmerkmales in Frage zu stellen, mag zwar der Anstoß dazu aus dem Rechtsgefühl kommen. Das ändert aber nichts daran, dass die Lösung dann in der Regel nicht rein subjektiv und zufällig ist und mehr oder minder beliebig auch anders ausfallen könnte. Man sucht vielmehr für das Besondere des Falles eine Lösung, indem man auf allgemeine Grundsätze und Denkfiguren oder auf parallele Lösungen zurückgreift, die im Kontext des Problems anerkannt sind, jedenfalls Aussicht haben, als Grundlage für eine solche Lösung Akzeptanz zu finden. Im Ergebnis geht es also wiederum um Stimmigkeit, d. h. Kohärenz. Der methodische Weg dorthin scheint bereits vielfach beschrieben: Er führt über die »Findekunst«, d. h. die ars inveniendi, die wir aus der Topik kennen, und wird von ihr als die Kunst des 1336 Konzentriert auf im Wesentlichen feststehende Eigenschaften und Einstellungen von Personen; vgl. R. Vaas 2001, Persönlichkeit und Personalität, in: Lexikon der Neurowissenschaft, Heidelberg, Berlin, Bd. 3, S. 53 ff.; anschaulich G. Gigerenzer 2008, S. 58 ff. 1337 Die Forschungen sind hier aber noch in den Anfängen; vgl. zum Überblick R. Vaas 2000, Emotionen, in: Lexikon der Neurowissenschaft, Heidelberg, Berlin, Bd. 1, S. 386 ff. 1338 Zum Zusammenhang Amygdala und Angst M. F. Bear u. a. 2009, S. 643 ff., zum Zusammenhang Amygdala, Hypothalamus und Aggression M. F. Bear aaO. S. 646 ff.

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III. Zum Wechselspiel von Subsumtion und Mustererkennung

Problemlösens auch thematisiert. Das Problem, wie wir uns das »Fin­ den« von Lösungsansätzen und sodann vor allem deren Bewertung vorzustellen haben, wird jedoch nicht näher analysiert.1339 Genau für diese Leerstelle der Methodik gilt es jedoch, mit der Musterer­ kennung einen theoretischen Ansatz zu entwickeln, mit dem wir den Mechanismus, wie der Jurist für das Besondere ein Allgemeines findet, beschreiben und erklären können. Wir kommen damit zurück zum Ausgangsfall. Er gibt ein Bei­ spiel für die Techniken, mit solchen Mustern umzugehen, soll zugleich aber auch aufzeigen, dass die dann gefundenen juristisch-konstruk­ tiven Lösungen nicht immer überzeugend sein müssen. Rechtlich ging es um eine eingrenzende Interpretation des § 211 StGB. Der Große Senat zog zunächst die in der Literatur diskutierte Ergänzung des § 211 Abs. 2 StGB durch ein zusätzliches allgemeines Tatbestands­ merkmal (»besondere Verwerflichkeit«) in Betracht, lehnte diese jedoch ab, weil es »nicht von einer richterlichen Wertung des Gesamt­ bildes der Tat abhängen (soll), ob der Täter wegen Mordes oder wegen Totschlags verurteilt wird«.1340 Er meinte stattdessen, die »Gesinnung des Täters kann [...] insofern bedeutsam sein, als sie dem Vorstel­ lungsbilde entsprechen muß, das dem Begriff der Heimtücke selbst zu Grunde liegt«. Entsprechend sei »die bisherige Auslegung des Merk­ mals der Heimtücke in folgendem Sinne fortzuentwickeln: Der Begriff ›Heimtücke‹ hat nach allgemeinem Sprachgebrauch eine feindliche Willensrichtung des Täters gegen das Opfer zum Inhalt. Diese feind­ selige Haltung des Täters gegen das Opfer« sei nach »dem Gesamt­ bilde der Tat« nicht gegeben.1341 Die Schwäche dieser Lösung liegt auf der Hand: Ein eindeutig tatbezogenes Mordmerkmal wird täterbezogen gewertet. Die Wür­ digung des »Gesamtbildes der Tat« bleibt in ihrer Struktur unklar und wird auch dem zu lösenden Problem nicht gerecht. Dieses liegt, wie der 4. Strafsenat zutreffend in einem Vorlagebeschluss von 1981 hervorhebt, darin, dass die Entscheidung des GS von 1956 »in einem kaum lösbaren Widerspruch zu der Entscheidung des Bundesverfas­ sungsgerichts« zur Zulässigkeit der lebenslänglichen Freiheitsstrafe steht. Diese fordert eine Auslegung, »die sicherstellt, daß auch in [...] Grenzfällen keine unverhältnismäßig hohe Strafe verhängt werden 1339 1340 1341

Kritisch hierzu L. Bornscheuer 1976, S. 115 ff. BGHSt 9, 385 – juris Rn. 20. BGHSt 9, 385 – juris Rn. 22 f.

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Kapitel 21: Mustererkennung und Subsumtion

muß«.1342 – Mit welchen rechtstechnischen Mitteln in diesem Sinn konkret Verhältnismäßigkeit herzustellen ist, hatte das BVerfG jedoch offen gelassen.1343 Das ist hier eine Frage strafrechtlicher Dogmatik.1344 Entschei­ dend für die weiteren Überlegungen ist aber zum einen, den Aus­ gangspunkt, den Auslöser für die Operationen der »reflektie­ renden Urteilskraft« festzuhalten: Die Subsumtion eines Falles unter eine Norm lässt stutzig werden, weil dieser Fall offenbar nicht in die Fallreihe passt (siehe im obigen semiotischen Dreieck die Pra­ xisbeispiele B); das Ergebnis der Subsumtion i.e. S. passt nicht, weil Wertungsmuster wirksam werden, die nahelegen, dass Ungleiches gleich behandelt wird, und die Rechtsfolge deshalb als ungerecht erscheinen lassen. Das ruft in weiteren Schritten Prozesse der Mus­ tererkennung auf zwei Ebenen auf: Zunächst muss ein Muster gesucht und gefunden werden, das geeignet ist, Judiz und Rechtsge­ fühl hier auf ein juristisches Muster, auf einen juristischen Begriff zu bringen – dieses Muster ist hier der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der zweite Schritt ist dann die Suche nach Lösungsmustern – also die Diskussion der rechtstechnischen Mittel, die es dem Richter ermögli­ chen, wie hier im Falle des § 211 StGB, »bei der Subsumtion konkreter Fälle unter die abstrakte Norm zu einer schuldangemessenen Strafe zu kommen«1345 oder – generell formuliert – eine Lösung zu finden, die als angemessen akzeptiert werden kann. – Welche Muster das im Einzelnen sind, und die unterschiedlichen Rollen, die ihnen in diesen Prozessen zukommen, sind Themen des nächsten Kapitels. Erst anschließend kann dann im Kapitel 23 der Versuch unternommen werden, die kognitiven Prozesse, die die Mustererkennung und Mus­ terbildung im Hintergrund steuern, näher zu erfassen.

BVerfGE 45, 187–271 – juris Rn. 246. BVerfGE aaO. – juris Rn. 264. 1344 So hat sich der GS der Auffassung des 4. Senats nicht angeschlossen, sondern die Lösung in der Möglichkeit gesucht, auf der Rechtsfolgenseite an Stelle der lebenslan­ gen Freiheitsstrafe den Strafrahmen des StGB § 49 Abs. 1 Nr. 1 zu nutzen, GS BGHSt 30, 105–122. Ein anschauliches Beispiel dafür, dass das Problem so nicht lösbar ist, gibt U. Neumann 2013, S. 253 ff. 1345 BVerfGE 45, 187, 261 – juris Rn. 228. 1342

1343

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Kapitel 22: Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

Wenn wir von »Mustererkennung« und »Mustern« als Denkfigu­ ren im juristischen Denkraum sprechen, stellen wir auf spezifische Erkenntnisvorgänge ab, die in allen Phasen des »Erkenntnisverfah­ rens« auftreten, jedenfalls auftreten können. Sie wurden zwar von der Methodenlehre bisher nicht speziell benannt, sondern eher allge­ mein und schlicht als Momente des Subsumtionsvorganges begriffen. Bereits in der Juristenausbildung war die Einübung von Musterer­ kennungen aber schon immer ein entscheidendes Element der juristi­ schen Sozialisation. In der Praxis ist dieses Eingeübtsein dann Voraus­ setzung dafür, dass im Prozess ein »Fallverstehen« gelingt (I.). Doch es geht bei dem hier vertretenen Ansatz nicht nur um die Differenzie­ rung zwischen Subsumtionsvorgang und Mustererkennung, sondern insbesondere auch um die Frage, mit welchen unterschiedlichen Mus­ tern dabei gearbeitet wird. Nach einer Diskussion terminologischer Fragen (II.) liegt deshalb ein besonderer Schwerpunkt dieses Kapitels in dem Versuch, eine entsprechende Typologie zu entwickeln (III.).

I. Phänomene der Mustererkennung und Musterbildung Im vorigen Kapitel habe ich die Funktionen von Mustererkennungen an Hand von Fallbeispielen erläutert. In ihrer grundlegenden Bedeu­ tung werden diese Funktionen aber erst deutlich, wenn sie auch im Zusammenhang der Ausbildung und der richterlichen Fallbearbei­ tung veranschaulicht werden.

1. Einübungen in der Juristenausbildung Ein wesentlicher – wenn nicht gar in praxi der zentrale – Bestandteil der Juristenausbildung besteht darin, in Übungen und Examenskur­

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Kapitel 22: Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

sen immer wieder Klausuren zu schreiben. Worum aber geht es bei diesem Klausurenschreiben? Es geht offenbar im Wesentlichen nicht um ein Einüben in das sichere logische Schließen, einen siche­ ren Umgang mit Ober-, Mittel- und Unterbegriffen im Modus Bar­ bara und/oder anderen logischen Schlussformen. Hört man nach den Klausuren den Studentinnen und Studenten beobachtend zu, ist von Problemen die Rede, die man gesehen oder dummerweise nicht gesehen hat, von Lösungen, die Zustimmung auslösen oder bedenkliche Gesichter. – Ein unbedarfter Beobachter könnte an das Spiel mit Vexierbildern denken: Kinder, die Tiere, Gesichter oder Hexen erkennen sollen, die in Zeichnungen von Wäldern, Wolken oder Gestrüpp verborgen sind, wie die juristischen Probleme im Sachverhalt. Zunächst gibt es ein »Hin- und Herwandern des Blicks«, dann hat sich das Kind die Konturen zusammengereimt und ein recht klares Bild des Tieres oder des Gesichts der Hexe gewonnen. Die Suchaufgabe ist gelöst und wenn das Kind wieder mit dem gleichen oder einem ähnlichen Bild konfrontiert wird, wird das Muster schnell (wieder-)erkannt sein. Um die Bedeutung von Mustererkennungen noch deutlicher zu betonen: Bei der Einübung in die Rechtsfindung – wie auch in der späteren Praxis – sind es nicht die Zuordnungsregeln, das heißt nicht die Regeln für die Zuordnung von Sachverhaltsmomenten und Tatbestandsvoraussetzungen, die als Probleme im Zentrum einer »Falllösung« stehen. Es sind, von Ausnahmen abgesehen, auch nicht die Auslegungsregeln. Was gelernt und geübt und in der Praxis beherrscht werden soll, sind vielmehr die juristischen Muster, mit denen Konfliktlagen, die Gegenstand des Rechtsstreites sind, rechtlich erfasst und gelöst werden sollen. Diese Mustererkennung – man sieht juristische Lösungsmöglichkeiten für Probleme, die man im Sachverhalt erkennen muss – geht logisch wie im tatsächlichen Kognitionsvorgang jenen Schritten voraus, in denen dann hinsichtlich der einzelnen Tatbestandsmerkmale analysiert und geprüft wird, ob die normativen Voraussetzungen eines bestimmten Rechtssatzes gegeben sind oder nicht. Anknüpfend an eine in der Informatik übliche Definition der Mustererkennung, lässt sich mithin festhalten: Mustererkennung ist die Suche nach der oder den rechtlich relevanten Strukturen in den konkreten Daten, die im Prozess zum Fall vorgetragen werden – Strukturen, die der Student und später der Richter nur »er-kennen« kann, wenn er sie als Muster schon »kennt«. Zur Veran­ schaulichung seien einige Beispiele angeführt:

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I. Phänomene der Mustererkennung und Musterbildung

Der Gedanke, Fälle, bei denen es um die Rückabwicklung nich­ tiger Vertragsverhältnisse geht, über die GoA, §§ 677 ff. BGB, zu lösen, wird sich auch bei einem sehr begabten Jurastudenten kaum beim subsumierenden Lesen des Gesetzestextes einstellen. Er setzt das Wissen um diesen möglichen Lösungsweg, Kenntnis des Musters – und auch, dass dieses umstritten ist1346 –, voraus. Oder eine Erfah­ rung, die jeder Jurist während des Studiums gemacht haben dürfte: Nur mit »richtiger Subsumtion« und ohne eine Vorstellung über die Muster zu haben, zu denen Lehre und Rechtsprechung die Kategorien und Grundelemente ihre Theorien zur Teilnahme konfiguriert haben, wird es auch kaum gelingen, eine etwas komplizierter angelegte Teil­ nahmeproblematik im Strafrecht zu lösen. Oder ein Beispiel aus dem öffentlichen Bau-Nachbarrecht: Wo und an welchen normativen Stel­ len genauer zu subsumieren ist, erschließt sich nur dem, der die oft recht komplexen Muster präsent hat, die hier das Verhältnis von Pro­ zessrecht, objektivem Baurecht und subjektiven Rechtspositionen bestimmen.

2. Mustererkennungen im Prozess des »Fallverstehens« Wie beginnt der Richter die Arbeit am Fall – womit beginnt sein »Erkenntnisprozess«? Sicher nicht mit der Subsumtion. Am Anfang steht nicht der Logos, die begrifflich-logische Deduktion. Die Arbeit am Fall beginnt in der Regel mit Fragen und Annahmen – mit Hypothesen über den Sachverhalt und möglichen rechtlichen Einord­ nungen. Wie gesagt, sind es diese Anfangshypothesen, an denen sich oft entscheidet, ob eine brauchbare Falllösung gelingt oder ob ein unbefangener Blick auf die Sach- und Rechtslage schon beim Einstieg verstellt wird – ein Fall etwa schlicht als Routinefall eingestuft wird und der Richter die entscheidenden Unterschiede zu diesen im kon­ kreten Sachverhalt nicht mehr wahrnimmt.

a) Zugriff auf den Fall Die Frage des »richtigen« Zugriffs stellt sich natürlich nicht nur beim Einstieg, sondern in allen Phasen der Fallbearbeitung. Wie 1346

Palandt/Sprau 2011, § 677 Anm. 4.

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Kapitel 22: Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

dargelegt (Kap. 9 II.), geht es um drei Erkenntnisprozesse – wie »erkennt« das Gericht den Sachverhalt, wie »erkennt« es das Recht und wie sind die beiden Erkenntnisprozesse verzahnt? –, Prozesse, die aber insgesamt nur zu verstehen sind, wenn sie als ein dynamisches Gefüge begriffen werden. Die Muster, die man Konfliktmuster nennen kann, geben dafür ein gutes Beispiel. Gerade Routinefällen liegen oft solche typischen Konfliktmuster zugrunde, etwa bei einer betriebsbedingten Kündigung, dem öffentlich-rechtlichen Nachbar­ streit wegen Verletzung des Rücksichtnahmegebotes im unbeplanten Innenbereich, einem Streit um Verwirkung des nachehelichen Unter­ halts oder bei der Geltendmachung von Baumängeln. Über solche Konfliktmuster findet der Richter nicht nur den Einstieg für die Sachverhaltshypothese und eine erste rechtliche Einordnung. Diese Orientierung setzt sich meist auch in der »Arbeitsphase« fort. Es wird nach Varianten dieser Muster und typischen Fallgruppen differenziert und dann eine Einordnung in die entsprechenden Fallreihen gesucht. Das soziale Konfliktmuster gilt es aber auch dann adäquat zu erfassen, wenn der Richter die Möglichkeit einer vergleichsweisen Erledigung des Rechtsstreites abschätzen will. Macht etwa der Bauherr die Bau­ mängel geltend, weil der Handwerker wohl gepfuscht hat oder will er nur den Preis drücken und weiß, dass sich sein Gegner schon aus finanziellen Gründen auf einen längeren Rechtsstreit nicht einlassen kann? Ein Richter, dem es nicht nur auf Erledigungen mit geringst­ möglichem Aufwand ankommt, wird in solchen Konfliktsituationen auch seine Vergleichsbemühungen nicht nur nach dem Grundsatz ausrichten dürfen, jeder Vergleich sei besser als ein Urteil.

b) Die drei Phasen des Fallverstehens Damit sind die Handlungsmuster angesprochen, denen Richter folgen. Es ist deshalb eine grundsätzliche Unterscheidung zu treffen zwi­ schen: einerseits den Mustern, nach denen Richter arbeiten, und ande­ rerseits den juristischen Mustern, mit denen gearbeitet wird (Muster im engeren Sinne). Nur auf diese Muster werden sich die folgenden Ausführungen konzentrieren.1347 Um die Arbeit mit Mustern näher analysieren zu können, müssen wir diesen in seiner Dynamik meist ungegliederten Arbeitsprozess allerdings in Phasen aufspalten. Legt 1347

Zu den Handlungsmustern vgl. Teil F Kap. 24 III.

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I. Phänomene der Mustererkennung und Musterbildung

man, sehr vereinfachend, ein Drei-Phasenmodell zugrunde, ergeben sich folgende Differenzierungen: 1. Phase: Das Fallverstehen beginnt – in einem ersten Schritt – mit einer gedanklichen Primärstrukturierung. In diesem Stadium geht es darum, einen Einstieg zu finden, eine rechtliche und tatsächli­ che Vorstrukturierung des Streites, zum Beispiel Einordnung in Ver­ tragstypen, mögliche Anspruchsgrundlagen oder Straftatbestände, Verwaltungsakt oder schlichtes Verwaltungshandeln etc. – eben in ein Muster, nach und mit dem der Fall strukturiert werden kann. Es kommt darauf an, in dem Vorgetragenen ein juristisches Muster, ein Einordnungsmuster zu erkennen. 2. Phase: Es ist die »Arbeitsphase«. Sie lässt sich so beschreiben: Der Fall entwickelt sich, indem er sowohl zum Sachverhalt als auch zur Rechtslage immer wieder Fragen erzeugt: Stimmen die Rechtsbe­ hauptungen? War es so? Stimmen die Tatsachenbehauptungen? Ist die vorgetragene Geschichte rund, stimmig? Diese Trennung von Tat- und Rechtsfragen ist, wie gesagt, analytisch notwendig; man muss sich jedoch bewusst bleiben, dass sie immer nur im Wechselspiel gestellt, beantwortet und durchdacht werden können; im Wechselspiel der Fragen: Welche Tatsachen sind relevant und welche rechtliche Rele­ vanz haben die vorgebrachten Tatsachen, bestätigen sie das Muster – oder verlangen sie ein rechtliches Umdenken, das heißt Prüfung eines anderen oder ergänzenden Musters? So stellt sich das Problem des richtigen Zugriffs nicht nur am Beginn der Falllösung, sondern immer wieder, wenn der Richter über Bilder oder Stichworte für das noch nicht genau Gedachte Einordnungs- oder Deutungsmuster sucht. 3. Phase: Die Antworten werden zur Falllösung, zur Entschei­ dung vernetzt. Sachverhalt und Gründe müssen nicht nur jeweils in sich kohärent sein, das Urteil muss auch zwischen Gründen und Sachverhalt einen kohärenten Zusammenhang herstellen. – Was das im Einzelnen – auch hinsichtlich Begründungs- und Argumenta­ tionsmuster – bedeutet, wird im Schlusskapitel näher darzustellen sein; darauf muss verwiesen werden. Auch für die 2. Phase können an dieser Stelle Verweise genügen. Da sind zum einen die Muster, die ihre entscheidende Rolle bei der Sachverhaltskonstituierung spielen und die in ihren Funktionen im Teil C bereits beschrieben sind. Genannt seien hier die »Gesamtschau« oder die »Gesamtwürdigung«, Erfahrungsmuster oder die Alltags­ theorien als Muster für typische Geschehensabläufe. Zum anderen sind es die speziellen Muster, über die die Rechtsfindung erfolgt.

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Kapitel 22: Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

Deren Typologie soll im übernächsten Abschnitt im Zusammenhang entwickelt werden.

II. Zur Terminologie Bisher war eher allgemein von »Mustern« die Rede. Nun gilt es, eine mögliche Typologie derjenigen juristischen Muster aufzustellen, die in dem gerichtlichen Erkenntnisprozess eine besondere Relevanz haben. Diese Relevanz kann in den einzelnen der genannten Phasen unterschiedlich sein, wichtig ist aber, dass es keine klare Zuordnung der Muster zu bestimmten Phasen gibt. Eine Methodik der richterlichen Praxis wird wesentlich dadurch bestimmt, dass auch die richterliche Operationsebene »Erkenntnis des Sachverhalts« nur als dynamischer Prozess zu erfassen ist. Der Sachverhalt wandelt sich mit jedem neuen Vortrag, mit jeder Beweisaufnahme, ja mit jeder Erwiderung, die unterbleibt. Mit ihnen wandeln sich die rechtlichen Gesichtspunkte – oder können sich jedenfalls wandeln, wie der Sachverhalt selbst unter neuen rechtlichen Gesichtspunkten eine (vielleicht völlig) veränderte Perspektive erhal­ ten kann. Das sind Vorgänge, die in ihren realen Vollzügen sinnvoll kaum trennbar sind. Denn ob der Richter einem bestimmten Vortrag oder – bei der Amtsermittlung – bestimmten eigenen Vermutungen darüber nachgeht, wie sich die Sache »wirklich« zugetragen hat oder was hinter ihr steht, hängt von der Relevanz ab, die er den Ansätzen beimisst, also von der rechtlichen Beurteilung. Umgekehrt kann die Konfrontation mit dem Lebenssachverhalt dazu führen, die rechtlichen Probleme in einem anderen Licht zu sehen, als dies die Rechtsprechung bisher getan hat. Das wiederum kann dann Anlass geben, nach anderen rechtlichen (Lösungs-)Mustern zu suchen. Diese Beschreibung lässt zugleich eine wesentliche Eigentüm­ lichkeit von »Mustern« deutlich werden: Sie oszillieren.1348 Ein neuer Sachverhaltsaspekt kann ein »benachbartes« oder ein völlig anderes rechtliches Muster ins Blickfeld rücken; ein Beispiel ist der zitierte »Boris-Becker-Fall«. Umgekehrt kann das Muster M1 ein Muster M2 »aufrufen« oder die Suche nach einem Muster X auslösen. Im »Oszillieren« liegt auch der Grund für die gewählte Terminologie: Zum kognitionswissenschaftlichen Hintergrund dieser Feststellung vgl. unten Kap. 23 V.1. c.

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II. Zur Terminologie

warum von »Muster« die Rede ist und nicht etwa von Schema und Schemata.

1. »Schema« und »Paradigma« Mit dem Wort Schema verbindet sich etwas fest Umrissenes, die Vorstellung von »schematisch«, »nach Schema« oder gar »Schema F«. Eine solch klare Kontur hat das »Muster« nicht. Um eine Parallele zur Medizin zu ziehen: Symptome werden zu Krankheitsbildern konfigu­ riert; sie bilden keine Schemata. Entsprechend werden Tatbestands­ merkmale etwa zu Vertragstypen oder Rechtsinstituten konfiguriert. Diese Konfigurationen haben ihre eigenen Kohärenzen1349 und oft keine genau begrifflich bestimmbaren Grenzen. Was eine »Sache« ist, ist jedenfalls bereichsspezifisch, um nochmals das Kaufrecht als Beispiel zu nehmen, in der Rechtssprache klar definiert, und die Lie­ ferung elektrischer Energie lässt sich kaum unter diesen Begriff fassen – gleichwohl macht es für die Verkehrsauffassung keine Schwierigkei­ ten, auch in der Energielieferung so etwas wie eine Warenlieferung zu sehen und in dem Austauschverhältnis insoweit das »Muster« Kaufvertrag. Andererseits kann eine schriftliche Erklärung, in der die einen ein Schenkungsversprechen sehen, in eine Patronatserklärung »kippen«, wenn die wirtschaftlichen Interessen des »Schenkenden« genauer in den Blick geraten. Statt an »Muster« könnte man auch an das Wort »Paradigma« denken. Abgesehen davon, dass der Ausdruck im Gefolge der Theorie vom »Paradigmenwechsel« des Wissenschaftstheoretikers Thomas Kuhn leicht in den Sog der mit seiner Theorie verbundenen Diskus­ sion geraten würde1350, wäre der Begriff auch in der Sache zu eng. Soweit ein Muster ganz eindeutig durch eine Leitentscheidung, etwa des Bundesverfassungsgerichts oder des Europäischen Gerichtshofs, geprägt ist und diese einen grundlegenden Wandel des Rechtsver­ ständnisses bewirkt hat, beschreiben »Paradigma« und »Paradigmen­ wechsel« zwar recht gut die Musterqualität von Leitentscheidungen.1351 Der Begriff umfasst aber auch Rechtsinstitute und Interpretations­ 1349 »Muster« sind keine »Wesenheiten«, es geht vielmehr auch bei ihnen um »tem­ porär kohärente Strukturen«; näher dazu Strauch 2005, S. 499 u. Strauch 2003, S. 4. 1350 Näher dargestellt bei Stegmüller 1987, S. 279 ff. 1351 Nicht von ungefähr zieht Thomas Kuhn ausdrücklich die Parallele zu anerkannten juristischen Entscheidungen: Kuhn 1973, S. 44: »Es ist vielmehr, einer anerkannten

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Kapitel 22: Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

muster und ist, wie die Typologie zeigen wird, insgesamt weiter als der des Beispiels, das man sich zum Vorbild nimmt.

2. Leitbilder Die Argumentation mit Leitbildern, etwa dem »Leitbild der christli­ chen Dienstgemeinschaft«1352 oder dem »verfassungsrechtliche(n) Leitbild des Abgeordneten in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG«1353, ist insbe­ sondere – aber keineswegs nur – in der Rechtsprechung des BVerfG zu einem selbstverständlichen Topos richterlicher Rechtsfindung bzw. Rechtsschöpfung geworden.1354 Leitbilder funktionieren in der Argu­ mentation als »normativ verfestigte Hintergrundvorstellungen zu Grundbegriffen, Prinzipien und Sätzen der Verfassung, die eine bestimmte Vorstellung davon zum Ausdruck bringen, wie ihre ein­ zelnen Institute richtiger- und vernünftigerweise beschaffen sein soll­ ten.«1355 Volkmann beschreibt sie weiter als »Spiegel des Idealen, Guten und Besseren«1356, als »der Ort, an dem die Verschränkung mit den Gerechtigkeits- und Angemessenheitsüberzeugungen der Gesellschaft, den vorhandenen moralischen Intuitionen oder auch den großen Entwürfen der politischen Theorie stattfindet; zugleich fließen über sie – in milde idealisierter Form – die Vorgegebenheiten des Realbereichs, also des in den Blick genommenen Wirklichkeits­ ausschnitts und der vorgefundenen Sachstrukturen, in die Verfas­ sungsanwendung ein. […] Von hier aus steuern sie diese Anwendung, deren Ergebnisse in vielen Fällen überhaupt nur von ihnen aus erklärt werden können.«1357 Aus dieser Beschreibung werden auch die grundlegenden funk­ tionalen Unterschiede deutlich, die zwischen Leitbildern und juristischen Entscheidung im allgemeinen Recht ähnlich, ein Objekt für weitere Prä­ zisierung und Spezifizierung unter neuen oder strengeren Voraussetzungen.« Vor­ stellbar ist, dass das Präjudiz für Kuhns Theorie sogar Pate stand. 1352 BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 –, Rn. 10, juris. 1353 BVerfGE 118, 277–401, juris Rn. 216. 1354 Juris wies im Febr. 2015 zum »Leitbild« insgesamt über 17000, für das BVerfG über 220 Nachweise aus. Zur Begriffsverwendung in der juristischen Diskussion vgl. C. Franzius 2012, § 4 Rn. 23 ff. 1355 U. Volkmann 2013, S. 148. 1356 U. Volkmann 2010, S. 86. 1357 U. Volkmann 2013, S. 148.

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III. Typologie

Mustern bestehen. Leitbilder geben inhaltliche Orientierungen, »Orientierungsraster«1358 vor; sie dienen als »Transfermedium zwi­ schen Absichten und Akzeptanz«1359 und wirken so als »Schleusen­ begriffe« (Böckenförde)1360. Methodische Regeln, Subsumtion und eben auch die Mustererkennung haben dagegen ihren Ort – und hier vergleichbar den Schemata – auf der Ebene der Denkformen und der formellen Denkoperationen. Es geht um die Fragen, wie der Richter einen Rechtsfall erfasst und löst – während es dann von den Leitbil­ dern abhängt, mit welchen Werten und Ordnungsvorstellungen inhaltlich und in der Sache entschieden wird. Diese inhaltliche Orientierungsfunktion von Leitbildern – oder auch von Prinzipien1361 – kann grundsätzlich immer ins Spiel kom­ men, wenn der Jurist bewusst oder unbewusst mit Mustern und im Denkmodus der reflektierenden Urteilskraft arbeitet. Um die besondere Rolle, die den juristischen Mustern bei der Herstellung von Kohärenz zukommt, wirklich erfassen zu können, werden wir deshalb am Ende dieses Teiles zwangsläufig wiederum auf dieses Grunddilemma der juristischen Methode stoßen: der Abhängigkeit des Rechts von Wertungen, Prinzipien, Leitbildern oder, allgemeiner, von wirkmächtigen gesellschaftlichen Anschauungen. Es ist die Frage, was dieses Dilemma für das Verständnis von Methode als »Herstel­ lung von Kohärenz« bedeutet, oder konkreter für die Voraussetzungen und Bedingungen einer kohärenten und damit einer »richtigen Ent­ scheidung«. Eine Antwort darauf kann aber erst im Schlusskapitel versucht werden.

III. Typologie Juristen arbeiten mit Normen, Begriffen, Rechtsgrundsätzen und Rechtsprechung. Dies ist auch das Material, aus dem sich die juristi­ schen Muster formen. Wenn nun im Folgenden der Versuch gemacht wird, eine Typologie dieser Muster zu entwickeln, dann kann diese 1358 S. Baer 2006, S. 85: dort, S. 85 ff., auch zu der Bedeutung von Leitbildern im Verwaltungsrecht – Neue Steuerungsmodelle – und aus dieser Sicht zur Begriffsab­ grenzung zu »Paradigmen«, »Modellen« und »Typen«. 1359 S. Baer aaO. S. 86. 1360 E.-W. Böckenförde 1976a, S. 65 f. 1361 Zur Abgrenzung von Leitbildern vgl. U. Volkmann 2010, S. 85.

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Kapitel 22: Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

keine nach Inhalten sein. Jede spezifische Form eines sozialen Kon­ fliktes braucht zwar ebenfalls ihr rechtliches Lösungsmuster, und Juristen arbeiten deshalb ständig auch mit inhaltlich bestimmten Mustern. Aber eine Typologie solcher Muster ergäbe eine Art Hand­ buch über die Rechtsinstitute der in der Bundesrepublik geltenden Rechtsordnung. Zu leisten ist hier mithin nur eine Typologie formaler Art, die an den unterschiedlichen Funktionen ausgerichtet ist, mit denen juristische Muster in dem Vorgang eingesetzt werden, der in unspezifischer Weise oft schlicht als »Subsumtionsvorgang« bezeich­ net wird.1362

1. Einordnungsmuster Die »Einordnungsmuster« sind schon eingangs ausführlich behandelt worden. So soll nur nochmals ihre Rolle hervorgehoben werden: Sie haben ihre Funktion dort, wo es darum geht, zum einen einen Zugriff auf das zu bekommen, »was Sache ist«, und zum anderen, die Muster aufzufinden, die es erlauben, soziales Handeln rechtlich zu qualifizie­ ren. Anschaulicher noch als im gerichtlichen Verfahren wird diese Rolle in der Situation eines ersten Mandantengesprächs. Wenn der Klient etwa mit unübersehbar vielen Details die Schikanen erzählt, mit denen ihm sein Nachbar immer wieder das Leben schwer macht – einem Treiben, dem er nun mit anwaltlicher und gerichtlicher Hilfe ein Ende machen muss und für das der Nachbar auch büßen sollte. – Wie ist die Rechtslage? – Vor einer solchen Situation steht der Richter zunächst meist nicht. Bescheide, Klageschrift oder Anklage geben die Einstiegsmuster in der Regel vor, sodass er mit der »Begriffsarbeit«, der Prüfung der Tatbestandsmerkmale beginnen kann. Doch auch der Richter steht spätestens dann vor der Situation, nach Mustern suchen zu müssen, wenn mit den bisherigen Annahmen, d. h. den vor­ gegebenen Hypothesen, die Sach- und/oder Rechtslage nicht mehr zu erfassen ist – der Konflikt also anders gesehen und eingeordnet werden muss, als mit den bisherigen Mustern angenommen.

Gegenüber meinem Beitrag von 2012, S. 335 ff. sind die folgenden Ausführungen zur Typologie – auch in der Terminologie – deutlich modifiziert.

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III. Typologie

2. Rechtsanwendungsmuster Die Norm, die der Richter anzuwenden hat, kann je nach Konstruk­ tion und Interpretation zwei unterschiedliche Anwendungsmuster intendieren: einmal mit (mehr oder weniger) strikten konditionalen Vorgaben eine (mehr oder minder) eindeutige Subsumtionsregel. Es ist das Muster einer Programmierung, die dem Richter klare Entscheidungsvorgaben setzt. Im Gegensatz zur schlussfolgernden Deduktion steht die »wägende Argumentation«. Wie ein sozia­ ler Konflikt zu lösen ist, wird nicht durch die gesetzliche Lösung bestimmt, sondern die Lösung ist vom Richter im Weg der Abwägung zu finden. Hierfür steht paradigmatisch die Grundrechtsanwendung über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, eingeleitet durch das als Muster oben schon besprochene Lüth-Urteil.1363 Als Rechtsanwendungsmuster lassen sich auch die Vorrangre­ geln der Rechtsquellenlehre und im europäischen Mehrebenensystem verstehen. Auch der klassische Methodenstreit um Kanon und Rang­ ordnung oder Stufenfolge der Auslegungsgrundsätze ist im Kern ein Streit um die Frage, inwieweit diese Regeln nach dem Muster topi­ scher Argumentationen zu handhaben sind oder, wie oben dargelegt (Kap. 20 V.), auch Vorrangregeln unterliegen.

3. Problemlösungsmuster Unter diesen Typus lässt sich das Arbeiten mit Mustern fassen, die für eine Problemlage X entwickelt wurden, dann aber auf die Lösung anderer, vergleichbarer Problemlagen übertragen werden. Zugrunde liegen hier Analogieschlüsse.1364 Es ist das Muster, über das auf die Vergleichbarkeit geschlossen wird. Ein geradezu klassisches Beispiel für diese Kategorie sind die Grundsätze zum »Planungsermessen«. In der wegweisenden Ent­ scheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Dezember 1969 sind sie aus dem BBauG entwickelt worden. Im Orientierungssatz zu dieser Entscheidung ist so auch nur zu lesen: »Zur Bedeutung von

1363 1364

BVerfGE 7, 198; vgl. dazu auch oben Kap 21 II. 2. und Kap. 18 I. 4. Siehe dazu oben Kap. 20 II. 1.

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§ 1 Abs. 4 und 5 BBauG als Schranke des Planungsermessens«.1365 Gleichwohl wurden die zentralen Sätze dieses Urteils zur allgemeinen Grundlage des heutigen Planungsrechtes und gaben das entschei­ dende Abwägungsmuster vor – völlig unabhängig von den unter­ schiedlichen Rechtsformen und meist gar nicht vorhandenen gesetz­ lichen Anknüpfungspunkten. Lag eine solche Musterübertragung beim Planungsrecht gleich­ sam auf der Hand, wird es schwierig, in ähnlichen Problemlagen gleiche Muster zu sehen und sie als solche anzuerkennen, wenn dogmatische Vorverständnisse zunächst nur Unterschiede erkennen lassen und den Blick auf das abstraktere Allgemeine und damit das gemeinsame Muster verstellen. Als Beispiel sei die Problematik genannt, die sich in den neuen Bundesländern bei der Frage ergab, wie mit Zweckverbänden umzugehen ist, bei denen etwaige Rechts­ verstöße im Rahmen des vorangegangenen Gründungsvorgangs oder Mängel der Verbandssatzung festgestellt wurden. Nach dem Nich­ tigkeitsdogma konnten sie bei fehlerhaften Rechtssätzen – obwohl sie jahrelang uneingeschränkt tätig waren – gleichsam nie rechtlich existent werden und viele Verwaltungsgerichte zogen diese scheinbar logische Konsequenz. Der Gedanke, dass es sich um eine Problemlage handelt, für die im Zivilrecht mit der Figur der faktischen Gesellschaft oder des faktischen Vereins eigentlich schon der Lösungsweg vorge­ geben war, brauchte offenbar erst seine Zeit, um als Lösungsmuster aufgegriffen zu werden.1366

4. Regelungsmuster Auch Regelungsmuster sind Problemlösungsmuster und auch sie sind Instrumente im Prozess analoger Rechtsfortbildung – nur führt hier der Weg nicht über dogmatische Problemlösungskonzepte, sondern über die Übernahme von Rechtsregeln aus einem oder mehreren anderen Regelungsbereichen. Regelungsmuster werden immer dann 1365 BVerwGE 34, 301; instruktiv dazu: J. Berkemann: Das »Abwägungsmodell« des BVerwG (BVerwGE 34, 301 [1969]) – Entstehungsgeschichte und Legendenbildun­ gen, DVBl 2013, 1280–1292; s. auch. Hoppe 2003, DVBl. 251–269. 1366 Vgl. Thüringer OVG, Urt. v. 18.12.2000 – 4 N 472/00, ThürVBl. 2001, 131– 135; LKV 2001, 415–425 mit ausführlichen Nachweisen und zuvor Beschluss vom 15.7.1999 – 4 ZEO 978/98, ThürVBl. 1999, 261; LKV 2000, 75.

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III. Typologie

gesucht und aufgerufen, wenn eine bestehende Regelung als lücken­ haft angesehen wird oder überhaupt fehlt. Für den Richter ist es dann eine Frage der notwendigen Rückbindung an das Recht (Kap. 16 III. 1.), diese Lücke nicht durch eine frei gesetzte Norm zu schließen. Er wird deshalb über das »argumentum a simili«1367 eine Regelung suchen, die »passt«, weil das Regelungsmuster, nach dem das Problem in einem anderen Bereich – oder, noch allgemeiner: sonst – geregelt ist, dort akzeptiert ist.1368

5. Muster und Sachverhaltskonstituierung Die Muster, die für die Ermittlung und die Feststellungen eines Sachverhaltes Relevanz haben können, waren im Teil C bereits Thema und wesentliche sind oben nochmals benannt worden. An dieser Stelle ist nur nochmals der unlösbare Zusammenhang zu betonen, der zwischen rechtlichen Mustern und Mustern bei der Sachverhaltskon­ stituierung besteht. Gerade die primäre rechtliche Einordnung gelingt nur, wenn der Richter auch sieht, »was Sache ist«. Auch dies zu sehen, ist Mustererkennung. Der Boris-Becker-Fall sei hier nochmals als Beispiel genannt. Die Mustererkennung erfordert, anders gesagt, in aller Regel sowohl rechtliches Wissen als auch Sachkenntnis und Erfahrungswissen – und zwar »im Verbund«.1369 – Wenn oben die zentrale Rolle des »Fallverstehens« hervorgehoben wurde, dann ent­ scheidet sich in diesem Zusammenspiel von »Tatsachen-Erkenntnis« und »Rechts-Erkenntnis«, ob dieses Verstehen auch gelingt. Insbe­ sondere sind hier zwei Aspekte hervorzuheben, auf die es dabei für die »Tatsachen-Erkenntnis« insbesondere ankommt: Im gerichtlichen Erkenntnisprozess sind die »Sachmuster« institutionell viel weniger vorgeprägt und vorgegeben als die juris­ tischen Wertungsmuster, die durch Lernen, Praxis, Dogmatik und Fallrecht eingeübt, geformt und insoweit bestimmt sind. Aber sie sind oft entscheidend. Ein Richter, der für das Arzthaftungsrecht zuständig Vgl. H. Coing 1980, Rn. 156. Siehe dazu etwa J. Lege 1999, S. 457 ff. am Beispiel der nichtehelichen Lebens­ gemeinschaft oder Larenz/Canaris 1995, S. 202 ff., 204 f. mit dem Beispiel BGHZ 9,157, 161 ff. zur Kündigung aus wichtigem Grund bei Dauerschuldverhältnissen. 1369 Zu den kohärenztheoretischen Zusammenhängen, die hier bestehen, habe ich mich an anderer Stelle geäußert: Strauch 2005, S. 504 ff. 1367

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Kapitel 22: Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

ist, wird dieses kaum richtig anwenden können, wenn ihm die Grund­ muster medizinischen Denkens fremd bleiben, und eine »richtige« Anwendung eines wirtschaftslenkenden Gesetzes wird dem Richter kaum gelingen, der keinen Zugang zu dem volkswirtschaftlichen Theoriemuster hat, das das Gesetz umsetzen will.1370 Ein viel größeres Problem bei der Konstituierung des Sachver­ haltes dürften allerdings die Muster sein, mit denen wir uns den Zugang zu dem verstellen, »was Sache ist« – also unsere Klischees, die Vorurteile und Vorverständnisse in der negativen Konnotation.1371 Positiv formuliert geht es um Offenheit und Unvoreingenommenheit bei der Entwicklung von Sachverhaltshypothesen, bei der Erkenntnis von Sachverhalts- und Handlungsmustern. Der Kriminalautor Arthur Conan Doyle hat seinen berühmten Helden Sherlock Holmes dazu sehr plastisch die wesentliche methodische Zugriffsregel so formulie­ ren lassen: »Ich weiß noch keine Einzelheiten. Ein Kardinalfehler besteht darin, Theorien aufzustellen, bevor man noch über weitere Angaben verfügt. Unbedacht beginnt man die Tatsachen zu verdre­ hen, um sie den Theorien anzupassen, statt die Theorien den Tatsa­ chen.«1372 Zahlreiche Beispiele, insbesondere aus dem Bereich der Beweiswürdigung illustrieren diese Regel.1373 Wegen der grundsätzli­ chen Bedeutung der »Offenheit« wird am Ende unserer Überlegungen 1370 In diesem Zusammenhang ist z. B. auch der »sachgesetzliche« Grund für die Einrichtung spezieller Spruchkörper oder, allgemeiner, der Fachgerichte zu sehen. 1371 Das, was wir »Intuition« nennen, ist ja oft nichts anderes als »Schlussfolgerun­ gen« aus unseren Vorurteilen. Vgl. dazu etwa Traufetter 2007, S. 142 ff., 194 ff. 1372 »Skandal in Böhmen«. Noch deutlicher in der Geschichte »Der Junker von Reigate«: »Nun mache ich es mir aber zum Prinzip, niemals irgendwelche Vorurteile zu haben …«. 1373 Zur Illustration eines solchen Kardinalfehlers sei hier kurz nochmals der oben (Kap. 13 III. 3.) bereits in anderem Zusammenhang herangezogene Pistazieneis-Fall (BGH-Entscheidung vom 19.01.1999 [1 StR 171/98] = NJW 1999, 1562–1564) zitiert, über den in der Presse unter dem Titel »Das falsche Bild von der teuflischen Tante« (so der Bericht der SZ vom 22.01.1999) berichtet wurde. Die Tante kam abends als Babysitterin und brachte Pistazieneis mit. Von diesem gab sie ihrer Nichte zwei Portionen mit Schokoladensoße, die im Haus war. Das Kind starb am nächsten Tag um 11.32 Uhr. Das Landgericht, das sich offenbar ein sicheres Bild von der Tante – in der Presse als »mondän« beschrieben – gemacht hatte, verurteilte sie, trotz einer ersten Zurückverweisung, auch im zweiten Anlauf wegen Mordes. Der BGH hob das Urteil auf und begründete den Freispruch u. a. wie folgt: »Das Tatgericht legt […] in einseitiger Weise verschiedene Maßstäbe an die Prüfung der Täterschaft der Eltern des Tatopfers einerseits und der Angeklagten andererseits an. Da Motive und tatnahe Indizien fehlen, zieht das Landgericht aus zahlreichen Verhaltensweisen und allgemei­ nen, aber nicht unmittelbar tatbezogenen Äußerungen der Angeklagten Folgerungen

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IV. Wechsel und Veränderung von Mustern

(V. 2.2) nochmals auf diese Bedingung eines »richtigen« Umgangs mit Mustern einzugehen sein.

IV. Wechsel und Veränderung von Mustern So wie Muster manchmal ihre Zeit brauchen, um sich durchzusetzen, haben sie meist auch nur eine begrenzte Zeit ihrer »Geltung«. Rechts­ fortbildungen und Rechtsänderungen, die auf veränderten Rechts­ auffassungen und dogmatischen Strukturen beruhen – sei es, dass sie eine bisher als gegeben angenommene Wortlautgrenze »sprengen«, sei es, dass man eine grundlegende Neuinterpretation vornimmt oder einen neuen Rechtssatz schafft –, lassen sich immer als Wechsel oder Veränderung von Mustern beschreiben. Auch hier kann wieder auf das Beispiel des Lüth-Urteils verwiesen werden1374; oder als weiteres Beispiel für eine grundlegende Neuinterpretation auf die Nassaus­ kiesungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts.1375 Bis zu die­ ser Entscheidung hatten sich für Ansprüche aus Art. 14 GG, insbe­ sondere über die Figuren des »enteignungsgleichen Eingriffs« und des »Bestandsschutzes«, spezifische Muster für die rechtliche Erfassung und Prüfung solcher Ansprüche herausgebildet.1376 Nach dieser Ent­ scheidung musste das System der Ersatzleistungen »umgebaut« wer­ den. Die Neuinterpretation des Art. 14 GG verlangte ein neues Inter­ pretations- und neue Lösungsmuster.1377 zu ihren Lasten. Demgegenüber wird Gleichartiges auf Seiten der Eltern als plausibel, nachvollziehbar u. ä. qualifiziert. Dabei handelt es sich jedoch nur um zahlreiche Spekulationen über innere Vorgänge oder Vermutungen zu allenfalls möglichen (oder auch näher liegenden) Sachverhalten, ohne daß dies durch (wesentlich) mehr als die,Überzeugung’ des Landgerichts gestützt wird.« 1374 BVerfGE 7, 198; einer der entschiedensten Gegner des neuen Interpretations­ musters war Ernst Forsthoff (vgl. 1964, S. 147 ff.); plastisch formuliert mit der These »daß sich die verfassungspolitische Funktion des Art. 5 gerade dann – und nur dann – erfüllt, wenn man den Artikel so auslegt, wie man ihn von jeher verstanden hat«; VVDStRL 22/1965, S. 189 f. (Diskussionsbeitrag). 1375 BVerfGE 58, 300–353. 1376 Vgl. zu dem alten »System der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen nach der Rspr. des BGH« Wolff/Bachof 1974, §§ 60, 63. 1377 Mit den Worten des BGH – BGHZ 133, 271–280: »Die Vorschrift […] kann, wenngleich sie auf dem früher vom Bundesgerichtshof vertretenen umfassenden Ent­ eignungsbegriff (Abgrenzung BGH, 1973–01–25, III ZR 118/70, BGHZ 60, 145) beruht, seit der Entscheidung BVerfG, 1981–07–15, 1 BvL 77/78, BVerfGE 58, 300

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Kapitel 22: Phänomene, Terminologie und Typologie methodisch relevanter Muster

Die beiden Beispiele müssen in diesem Rahmen genügen, um diesen wichtigen Aspekt einer Lehre von den juristischen Mustern anschaulich zu machen. Im Entstehen und in der Veränderung von Rechtsinstituten, rechtlichen Konstruktionen und Rechtsauffassun­ gen die Entwicklung und den Wechsel von Mustern zu analysieren, ist nicht zuletzt Aufgabe der Rechtsgeschichte. Ein wesentlicher Mecha­ nismus, der hinter dem Wechsel beziehungsweise der Veränderung von Mustern steht, ist jedoch hervorzuheben: Jede Norm ist in ihrer Funktion, soziale Konflikte zu regeln und zu lösen, auf die »Lebenswelt« bezogen. Hinter jeder Norm steht ein vom Gesetzgeber gewollter beziehungsweise vom Interpreten vorgestellter Wirkungs­ zusammenhang, der als wertbezogenes Funktions-Modell zu begrei­ fen ist1378, wie eben diese Norm die Wirklichkeit regulierend entweder ändern oder stabilisieren soll. Diese Zusammenhänge werden oft nicht sichtbar, das heißt, sie bleiben unbewusste Muster; in anderen Fällen müssen sie explizit gemacht werden, etwa wenn es um die Verhältnismäßigkeit geht1379 oder um gesetzliche Instrumente der Wirtschaftslenkung, die ohne das zugrunde liegende volkswirtschaft­ liche Modell nicht interpretierbar sind.1380 Es gilt jedoch allgemein: Die »Normarbeit« gewinnt an dieser Schnittstelle ihre Verankerung in den gesellschaftlichen Realitätsbezügen. Paradigmenwechsel und neue Leitentscheidungen – mithin neue Muster – haben so zumeist ihren Grund auch darin, dass bisherige Wirklichkeitsvorstellungen und Wirklichkeitsmodelle nicht mehr akzeptiert und durch zeitge­

wie alle vergleichbaren sog. salvatorischen Entschädigungsklauseln im Natur-, Land­ schafts-, Umwelt- und Denkmalschutzrecht nicht mehr als enteignungsentschädi­ gungsrechtliche Regelung im Sinne des GG Art. 14 Abs. 3 angesehen werden, sondern ist nach der neueren Rechtsprechung des Senats als Ausgleichsregelung im Rahmen der Inhaltsbestimmung des Eigentums nach GG Art. 14 Abs. 1 S. 2 auszulegen.« 1378 Typisches Beispiel ist die Funktionsbeschreibung der Freiheit der Berichterstat­ tung durch den Rundfunk gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG (Rundfunkfreiheit) und ebenso der Pressefreiheit, der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informations­ freiheit als »schlechthin konstituierend für die freiheitlich-demokratische Grundord­ nung« (BVerfGE 35, 202, 221 und E 7, 198, 208; 20, 56, 97 f.); in der Konsequenz ist deshalb auch zu untersuchen, ob Maßnahmen »geeignet sind, zu bewirken, was Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisten will«; E 57, 295, 320. 1379 Vgl. hier die Materialsammlung von Philippi 1971, S. 28 ff., 56 ff. 1380 Ein besonders anschauliches Beispiel war die Auseinandersetzung um das Tat­ bestandsmerkmal »volkswirtschaftlich besonders förderungswürdig« in § 1 Abs. 4 InvZulG 1969; vgl. dazu etwa einerseits VG Köln, BB 1972, 870, andererseits BVerwGE 48, 211.

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IV. Wechsel und Veränderung von Mustern

mäßere ersetzt werden. – Damit ist zugleich auch die Sachverhalts­ ebene angesprochen.

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Kapitel 23: Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung

Prozesse der Mustererkennung sind Prozesse, die bei der »Herstel­ lung« einer Entscheidung wirksam sind. In der »Darstellung«, d. h. in den Urteilsgründen, sehen wir nur die Ergebnisse und bei der Herstellung bleiben sie auf weiten Strecken verborgen, sie laufen unbewusst ab. – Aus dieser Sicht ergibt sich dann schnell die Fol­ gerung, dass »in der großen Mehrzahl der Fälle die Entscheidung aus irrationalen Quellen entsteht.«1381 H. Isay hat sie 1929 in der These formuliert: »Die Entstehung der Entscheidung vollzieht sich auf irrationalem Wege, die Kontrolle und Begründung erfolgt rational.«1382 Die Vorgänge der Rechtsfindung wären dementsprechend weitgehend Vorgänge in einer »Black Box« – gemeint in dem Sinne, dass uns solche Prozesse, weil eben in einer »Black Box« verschlossen, wissen­ schaftlich unzugänglich sind. Eine Methodenlehre, die im Gegensatz zu dieser Auffassung den Prozess der richterlichen Rechtsfindung als »Erkenntnisverfahren« versteht, muss also im Gegenzug belegen können, dass die Quellen, aus denen Entscheidungen entstehen, keineswegs so irrational sind, wie behauptet, und dass wir die Entstehungszusammenhänge auch nicht mehr als naturgegeben undurchschaubar hinnehmen müssen. Konkret wird also der Nachweis zu führen sein, dass wir die Entste­ hung und den Gebrauch juristischer Muster als kognitive Prozesse analysieren können und dementsprechend nicht nur die Subsumtion, sondern auch die Mustererkennung als Denkform zu verstehen haben. Dabei kann ich mich auf wesentliche Positionen, die schon in den vorangegangenen Teilen dargestellt sind, beziehen:

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H. Isay 1929, S. 338 f. H. Isay 1929, S. 335; S. 332 ff. auch zum damaligen Diskussionsstand.

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Kapitel 23: Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung

Die wissenschaftliche Entwicklung ist über die Erkenntnisgren­ zen, die sich etwa der Behaviorismus gesetzt hatte1383, hinweggegan­ gen.1384 Die Kognitionswissenschaften hatten das Modell der »Black Box« ihren Grundvoraussetzungen entsprechend immer abgelehnt oder haben, um im Bild zu bleiben, die »Black Box« längst »aufge­ brochen« und den Erkenntnisbegriff, den die Methodik zum Teil gleichsam behavioristisch eingegrenzt hatte,1385 entscheidend erwei­ tert. Er erfasst mehr als nur die streng schlussfolgernde Deduktion. Grundsätzliches ist dazu bereits im Kapitel 5 II. gesagt worden. Wie schnell hier Grenzen verschwimmen und Emotion in Denken überge­ hen kann, macht schon das Wort »Rechtsgefühl« deutlich. Es scheint wie selbstverständlich für »Irrationalität« zu stehen1386; sprechen wir stattdessen von »Judiz«1387, ist bereits das »Urteilsvermögen« mitgedacht. Was heißt »urteilen« anders als schlussfolgern? Was Juristen »Judiz«, also »Urteilskraft« nennen, steigt ja nicht grundlos und nicht von ungefähr aus einem weitgehend unfassbaren Ungewis­ sen hervor. Artikuliert man dieses Rechtsgefühl, erweist es sich auch meist als das, was es ist: das Ergebnis einer oft komplexen Kette von Schlussfolgerungen. Dass sie unbewusst ablaufen, verändert diese Qualität nicht.1388 Auch unsere Routinen laufen weitgehend ohne unser bewusstes Nachdenken ab – sind deshalb aber keine irrationalen Prozesse. Zu einer vergleichbaren Grundauffassung1389 führen die theore­ tischen Ansätze von C. S. Peirce, auf dessen Theorie zur Semiose (semiotisches Dreieck) wir uns bereits oben gestützt haben (Kap. 21 III.). Folgt man seiner semiotischen Grundthese – hier in der Interpretation durch J. Lege –, dass alles Denken »notwendigerweise in Zeichen verlaufen«1390 muss und im Zusammenhang des Zeichen­ Zum Behaviorismus vgl. J. R. Anderson 2001, S. 8 f.; F. Rösler 2011, S. 1 f. Dass diese Begrenzung nie Allgemeingut war, kann und soll hier nicht in Zweifel gezogen werden. Ein Beispiel, das unmittelbar die juristische Methodendiskussion betrifft, gibt J. Leges profunde Adaption des Pragmatismus, J. Lege 1999, S. 97 ff. 1385 Charakteristisch ist der enge Begriff von Logik bei K. Larenz; näher dazu J. Lege 1999, S. 416 ff. 1386 Isay 1929, S. 339, versteht das Rechtsgefühl ganz eindeutig und nur als eine der »irrationalen Quellen«. 1387 Zu Begriff Bedeutung und Begriffsgeschichte R. Gröschner, JZ 1987, 903–908. 1388 Erinnert sei an das Lichtenbergzitat: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt.« 1389 J. Lege 1999, S. 425 ff. 1390 Peirce 1986, S. 170; S. 160 ff. 1383

1384

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I. Vom »Hin- und Herwandern des Blicks« und dem hermeneutischen Zirkel

stroms schlussfolgernd geschieht1391, geschieht die entscheidende Vermittlung in der »Abduktion«, Abduktion als »der Vorgang, in dem eine erklärende Hypothese gebildet wird«.1392 Hypothetisches Fol­ gern, heißt es bei Peirce, »besteht darin, in das verworrene Durchein­ ander gegebener Tatsachen eine nicht gegebene Idee einzuführen, deren einzige Rechtfertigung darin besteht, dieses Durcheinander in Ordnung zu bringen«.1393 Wir können für »Idee« auch »Bild«, »Sach­ verhalts-/Normhypothese« – oder »Muster« – einsetzen. Von diesen Ansätzen ausgehend, soll in den Abschnitten III. bis V. der Versuch unternommen werden, die kognitiven Prozesse und Denkformen, die die Mustererkennung und Musterbildung aus­ machen, genauer zu erfassen. Zuvor ist jedoch auf die theoretischen Erklärungsmuster einzugehen, mit denen die Methodik bisher ver­ sucht hat, das Wechselspiel von Fall und gegebener Regel – gegebe­ nem Fall und Suche nach passender Regel – zu lösen (I. u. II.).

I. Vom »Hin- und Herwandern des Blicks« und dem hermeneutischen Zirkel Mit Stichworten wie Hypothesenbildung, Mustererkennung, Mus­ terfindung im Erkenntnisverfahren ist ein Problemfeld umschrieben, das von der Methodenlehre theoretisch bisher kaum genauer in den Blick genommen wurde.1394 Registriert wurde natürlich die Proble­ matik des Vorganges als solcher und hier stößt man immer wieder auf die Formel von K. Engisch vom »Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt«.1395 Man kann allerdings in dieser Formel den »Obersatz« nicht einfach mit »Muster« gleichset­ zen. Ein »Muster« mag sich bei der Fallbetrachtung einstellen, es ist selbst aber, anders als der »Obersatz«, kein wesentlich fallbezogenes Vgl. J. Lege 1999, S. 100 ff. Peirce 1991, S. 400. 1393 Peirce 1998, S. 333. 1394 Nachweise finden sich bei Zippelius 2012, § 14 unter den Überschriften »Methode des ›Zugriffs‹“ und »Die Funktion der Urteilskraft«. Die ausführlichste Darlegung ist wohl immer noch die von J. Hruschka 1965 (auf der Basis von Droysens Historik und hermeneutischen Ansätzen). Zur neueren Diskussion über die Bedeu­ tung, die der »Urteilskraft« hier zukommt, vgl. u. II. 1395 Engisch 1963, S. 15 sowie Engisch 1975, S. 206 Fn. 54. Ich werde am Schluss des Abschnittes V. auf diese Formel zurückkommen. 1391

1392

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Kapitel 23: Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung

Konstrukt. Es ist ein Drittes und wie dieses zu verstehen ist, erhellt am besten das von Engisch selbst zur Erläuterung verwendete Zitat: »Beim Aufsuchen der relevanten Tatsachen«, so zitiert er Beling, »ist stets die rechtliche Schablone zielweisend und umgekehrt ergibt nur das Tatsächliche, an welchen Rechtssatz zu denken ist«.1396 Die »rechtlich zielweisende Schablone« ist nicht der erst noch zu konstru­ ierende Obersatz und nicht der erst zu strukturierende Sachverhalt, sondern das strukturierende Muster. In dieser Perspektive trifft das Bild dann auch sehr gut die Situation, die am Beginn der richterlichen Rechtsfindung steht: Das passende rechtliche Muster ist weder a priori vorgegeben, noch lässt es sich im Vollzug eines linearen Prüf­ programms ermitteln. Wenn das Muster nicht schon parat liegt, ist es vielmehr ein geradezu klassisches Vorgehen (also Teil der Methode), dieses im Hin- und Herwandern des Blicks zwischen den von den Beteiligten vorgetragenen Geschichten, vorliegenden Tatsachen und möglichen rechtlichen Einordnungen in den Blick zu bekommen und so zu gewinnen. Engisch hatte, so seine spätere Anmerkung, mit der von ihm »nicht sonderlich strapazierte[n], auch nicht näher analysierte[n] Wendung« nur »logische Probleme des Zirkels« im Auge.1397 Ihre entscheidende Bedeutung für die Methodik wuchs ihr erst zu, nach­ dem Vertreter der hermeneutischen Methodenlehre im Anschluss an Heidegger und Gadamer1398 die Formel vom »Hin- und Herwandern des Blicks« in einen unmittelbaren theoretischen Zusammenhang mit den hermeneutischen Verstehensmustern und -figuren des »Vorur­ teils«, des »Vorverständnisses« und des »hermeneutischen Zirkels« brachten.1399 Folgt man diesem Zusammenhang, liegt der Gedanke nahe, auch die Phänomene der Mustererkennung in diesem Rahmen theoretisch zu erfassen. Das hieße dann: als das, was man als Jurist immer schon verstanden haben muss, um eine Rechtslage zu verste­ hen, müssen die Muster in Formen eines Vorverständnisses oder Vorurteils immer schon vor-verstanden sein. Engisch 1963, S. 15 Fn. 1. Engisch 1975, S. 206 Fn. 54. Engisch hatte dabei ein erkenntnistheoretisches und methodisches Problem im Auge, das sich zwangsläufig als logisches Problem ergibt, wenn gefragt ist, ob vom Sachverhalt oder vom Gesetz auszugehen ist. 1398 Zur Rezeption durch die Rechtswissenschaft vgl. M. Frommel 1981; A. Kaufmann 2004, S. 100 ff. Zum Verhältnis Heidegger – Gadamer einführend M. Jung 2001, S. 113 ff. 1399 Vgl. dazu die ausführliche Literaturzusammenstellung bei Engisch selbst (1975, S. 206 Fn. 54). 1396

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II. Subsumierende und reflektierende Urteilskraft

So grundsätzlich diese Feststellung ist – als Ausgangspunkt für konkretere und nähere Erklärungen, wie Mustererkennungen entste­ hen und funktionieren, das heißt, wie wir in Daten Strukturen suchen und finden, die ein Muster ergeben, führt sie kaum weiter. Theorien haben immer nur eine jeweils begrenzte Tiefenschärfe und einen begrenzten Kompetenzrahmen. Die Philosophische Hermeneutik ist hier, bildlich gesprochen, nicht auf den Nahbereich eines methodi­ schen Vorgehens einstellbar und will so auch nicht verstanden wer­ den; mit den klaren Worten Gadamers: »Die Hermeneutik […] ist […] nicht etwa eine Methodenlehre«.1400 Die Hermeneutik hat jedoch mit der zentralen Bedeutung, welche sie dem Vorverständnis beim Verstehen von Mustern einräumt, mit der kognitionswissen­ schaftlichen Erfassung der Mustererkennung den entscheidenden Bezugspunkt gemeinsam: die Schlüsselfunktion von »Vorwissen«. Gemeint ist dann aber nicht das Gedächtnis als allgemeines kulturel­ les Gedächtnis, das den hermeneutischen Verstehenshintergrund bil­ det, aber wegen seiner prinzipiellen Unbestimmtheit keinen Ansatz für eine hinreichend konkrete Analyse methodischer Probleme bieten kann. Der Schlüssel liegt vielmehr in den kognitionswissenschaftlich erfassbaren Funktionen und Leistungen unseres Gedächtnissystems; es wird zu zeigen sein, dass diese es sind, die die Prozesse der Mus­ terbildung und Mustererkennung entscheidend bestimmen.1401

II. Subsumierende und reflektierende Urteilskraft Mit der Formel von K. Engisch war das Problem der Vermittlung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen, vor dem jede Rechtsanwendung steht, benannt und als ein »Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt« auch anschau­ Gadamer 1990, in der Einleitung, S. 3. M. Heidegger hatte für sein Denken auf das Wort »Methode« ganz verzichtet, um einen Gleichklang mit dem modernen Methodenbegriff gar nicht erst aufkommen zu lassen; vgl. F.-W. v. Herrmann 1990, S. 14. 1401 Auf die informationstheoretische Ebene eines jeden »Verstehenshintergrundes«, d.h. die Kontextgebundenheit von Information und unserer Informationsverarbei­ tung, kann ich hier nicht eingehen; vgl. dazu Strauch 2005, S. 491 ff. Es geht um das allgemeine Prinzip, »daß das Verstehen von Information selbst wieder Information voraussetzt«; B. O. Küppers 2008, S. 372. 1400

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Kapitel 23: Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung

lich beschrieben. Die Ansätze, die demgegenüber von Gabriel1402 und Meder1403 ausgearbeitet wurden, gehen über eine solche Deskription des Vermittlungsproblems deutlich hinaus. Entscheidend angeregt durch Hannah Arendts Fragment »Das Urteil«1404, greifen sie auf das theoretische Instrumentarium zurück, das Kant in seiner »Anthro­ pologie in pragmatischer Hinsicht« (1798) und seiner »Kritik der Urteilskraft« (1790) vorgegeben hat. Wichtig sind folgende Begriffs­ bestimmungen und Differenzierungen Kants: »Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert [...] bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.«1405

Folgt man dieser Unterscheidung, sind die Fälle, die sich durch Subsumtion (i.e. S.) unter eine Norm entscheiden lassen, der subsu­ mierenden Urteilskraft zuzuordnen, während die reflektierende Urteilskraft dann gefordert ist, wenn sich auf diesem Wege adäquate Ergebnisse nicht bestimmen lassen und es um das Auffinden einer allgemeinen Regel im Besonderen des Falles geht. Diese kommt also ins Spiel, wenn die »Rechtsfindung« nicht mehr bloß subsumiert, sondern zur Rechtsfortbildung und richterlichen Rechtsschöp­ fung wird. In den bisherigen Überlegungen zur Rechtsfortbildung hat sich diese Unterscheidung auch als durchaus tauglicher Ansatz erwiesen, um zwischen den Denkvorgängen zu differenzieren, mit denen Juristen bei Auslegung, Subsumtion und Rechtsfortbildung arbeiten.1406 Für eine nähere Analyse dieser Vorgänge müssen wir allerdings genauer wissen, was die reflektierende Urteilskraft eigent­ lich ausmacht und wie wir uns die kognitiven Prozesse vorzustellen haben, in denen in der Praxis der Rechtsfindung die Urteilsbildung vom Rechtsgefühl über die Urteilskraft zur Mustererkennung erfolgt. Weiterführend ist an dieser Stelle ein Rückgriff auf Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, denn über sie erschließt sich, was die reflektierende Urteilskraft eigentlich ausmacht – es ist 1402 1403 1404 1405 1406

G. Gabriel 2012, S. 1–23 m. w. N. S. Meder 2012, S. 150–177 m. w. N. Vgl. S. Meder 2012, S. 164 ff. Kant, KrU, S. 179. Kap. 20 V. 1.

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II. Subsumierende und reflektierende Urteilskraft

für Kant der »Witz«. Aber in einem sehr spezifischen Sinn, in dem das Wort seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr gebraucht wird1407 und heute allenfalls noch in dem Wortgebrauch »Mutterwitz« oder »gewitzt« verstanden werden kann. »Gewitzt« etwa für eine Lösung, auf die man sonst nicht ohne Weiteres gekommen wäre. Und das trifft den entscheidenden Punkt, den auch Kant mit der reflektierenden Urteilskraft meint: »So wie das Vermögen zum Allgemeinen (der Regel) das Besondere auszufinden Urtheilskraft, so ist dasjenige zum Besondern das Allgemeine auszudenken der Witz (ingenium).«1408 Es ist der »productive Witz (ingenium strictus s. materialiter dic­ tum)«, dessen Spezifika Kant in dem Abschnitt »Von den Talenten im Erkenntnißvermögen« auch genauer beschreibt: »Der Witz ist entweder der vergleichende (ingenium comparans), oder der vernünftelnde Witz (ingenium argutans). Der Witz paart (assimilirt) heterogene Vorstellungen, die oft nach dem Gesetze der Einbildungskraft (der Association) weit auseinander liegen, und ist ein eigenthümliches Verähnlichungsvermögen, welches dem Verstande (als dem Vermögen der Erkenntniß des Allgemeinen), so fern er die Gegenstände unter Gattungen bringt, angehört. Er bedarf nachher der Urtheilskraft, um das Besondere unter dem Allgemeinen zu bestim­ men und das Denkungsvermögen zum Erkennen anzuwenden.«1409

Wesentlich definiert ist das Erkenntnisvermögen, das Kant hier »Witz« und in der »Kritik der Urteilskraft« »reflektierende Urteils­ kraft« genannt hat, also als »ein eigenthümliches Verähnlichungs­ vermögen«, als Vermögen »heterogene Vorstellungen«, auch wenn sie nur eine entfernte Ähnlichkeit haben, miteinander zu verknüp­ fen. Doch »Witz für sich allein ist der Quell der Einfälle« und es bedarf deshalb der Strenge der (bestimmenden) Urteilskraft (iudicium discretivum), »daß sie Unterschiede in ganz ähnlichen Dingen fin­ det«.1410 Nimmt man hinzu, dass zu den Fähigkeiten, die den »Witz« ausmachen, in der rationalistischen Tradition der »Psychologia empi­ rica« auch gehörte, Neues vorzustellen und im »Gedächtnis, viel zu

G. Gabriel 2004: Art. »Witz«. In: HWPh Bd. 12, S. 985 f. Kant, Anthropologie, S. 201. 1409 Kant, Anthropologie, S. 220. 1410 Kant, Anthropologiekolleg, in: Sabina Laetitia Kowalewski / Werner Stark (Hg.), Königsberger Kantiana, Kant-Forschungen 12. 2000. VIII, S. 183–454; hier 230.

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Kapitel 23: Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung

›behalten‹“ und sich leicht darauf zu besinnen,1411 sind mit dieser Beschreibung zugleich bereits wesentliche Stichworte genannt, die auch für die kognitionswissenschaftliche Betrachtung des Umgangs mit Mustern entscheidend sind.

III. Die Vermittlungsfunktion von Mustern Kant hat mit der Differenzierung der Urteilskraft eine Struktur aufge­ zeigt, in die wir die Rolle von Mustern im informationsverarbeitenden Prozess der Rechtsprechung auch erkenntnistheoretisch einordnen können. Es geht um ihre »Vermittlerrolle«. Jedes Urteilen muss eine Verbindung zwischen den Daten der Sinnesrezeption einerseits und deren begrifflicher Erfassung andererseits zustande bringen. Diese Verbindung wird über einen Vermittlungsprozess geschaffen, des­ sen grundlegende Bedeutung für den Erkenntnisprozess im Teil C (Kap. 12 II.) bereits dargestellt wurde. Hier ist festzuhalten: Wir denken nicht mit dem jeweiligen Begriff an sich. Wir arbeiten mit den Vorstellungen, die wir mit ihm verbunden haben – der Vorstellung von einem »Stuhl«, einem Vertragstypus, etwa dem »Kaufvertrag«, von Rechtsfiguren oder von Handlungsabläufen. Diese Vorstellungen bilden jeweils ein Muster, in dem bestimmte Merkmale, Charakteris­ tika, Eigenschaften in Abhängigkeitsrelationen verbunden sind. – Für Kant geht es bei der Funktion, die ich hier den »Mustern« zuschreibe, um das »Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen«. Er nennt es »das Schema zu diesem Begriffe« und erläutert dies durchaus in dem Sinne, wie ich die Muster als Mittel des Begreifens verstehe, mit der anschließenden Feststellung: »In der Tat liegen unseren reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemata zum Grunde.«1412 Dass es sich bei diesem Erklärungsmodell nicht nur um ein pra­ xisfernes theoretisches Konstrukt handelt, sondern zugleich um einen Problemzugang mit praktischer Relevanz, zeigt sich darin, dass auch 1411 G. Gabriel 2004: Art. »Witz«. In: HWPh Bd. 12, S. 985 f.; hier mit Bezug auf Ch. Wolff. 1412 Kant, KrV B 179 f. Wie H. Lenk 1995, S. 16 ff. und passim halte ich den Ansatz zur Erklärung des »Mechanismus der Verbindung zwischen Begriffen und Anschau­ ung«, S. 20, auch unabhängig von seinem transzendentalphilosophischen Zusam­ menhang für fruchtbar. Näher zum Schema-Begriff siehe W. Stegmaier, Art. »Schema, Schematismus«. In: HWPh Bd. 8, S. 1246.

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III. Die Vermittlungsfunktion von Mustern

die Rechtsprechung dieses Modell nutzt, indem sie zur Definition und Begriffsklärung ausdrücklich auf »Vorstellungsbilder« zurückgreift. Dazu Beispiele: So hat das BVerwG seine Entscheidung, dass Beamte der Zoll­ verwaltung, die als Zollverbindungsbeamte an einer deutschen Aus­ landsvertretung verwendet werden, keine vollzugspolizeilichen Auf­ gaben wahrnehmen, damit begründet, dass Bezugspunkt für die herausgehobene Funktion vollzugspolizeilicher Aufgaben und den damit einhergehenden Belastungen »nach dem Vorstellungsbild des Gesetzgebers« die Eingriffsbefugnisse bei der Anwendung unmittel­ baren Zwangs seien.1413 Oder man rechtfertigt eine Nutzungsunter­ sagung damit, dass die Nutzung »dem typisierten Vorstellungsbild, welches das Städtebaurecht von einer Vergnügungsstätte hat«, ent­ spricht.1414 In einer Entscheidung des OLG Hamm zur Gewährleis­ tung beim Wohnungskauf wird zur Auslegung eines in Anführungs­ zeichen gesetzten Textes ausgeführt: »Die Verwendung von Anführungszeichen bei einem Begriff ist ein sprachliches Anzeichen dafür, dass der Begriff in einem im Kern treffenden, aber von dem üblichen Vorstellungsbild vielleicht etwas abweichenden Sinn gebraucht wird.«1415 Im Baurecht wird diese Argumentationsfigur oft benutzt, um die juristische Begriffsbildung von einer »natürlichen« abzugrenzen. Zitat aus einer Entscheidung des VGH München: »Die Wertung als Außenbereich hat mit Vorstellungsbildern wie ›freier Natur‹ oder ›Stadtferne‹ nichts zu tun. Außenbereich im Sinne des Baugesetzbuches ist die Gesamtheit aller nicht von §§ 30 und 34 BauGB erfaßten Flächen.«1416 Ein besonders anschauliches Beispiel hatte ich bereits zur Illustration des semiotischen Dreiecks zitiert – die Entscheidung des GS BGHSt von 1956 zur korrigierenden Aus­ legung des Heimtückebegriffs: Der Große Senat sah sich vor das Problem gestellt, »zu prüfen, ob die bisherige Rechtsprechung das Merkmal der Heimtücke selbst richtig auslegt«. Die entscheidende Begründung, mit der er »die bisherige Auslegung des Merkmals der Heimtücke« fortentwickelte, erfolgte dann über die für uns hier zen­ BVerwG, Urteil vom 25. April 2013 – 2 C 39/11 –, juris Rn. 15. VG Köln, Beschluss vom 04. April 2012 – 2 L 401/12 –, juris Rn. 28. 1415 OLG Hamm, Urteil vom 18. Juni 2009 – I-22 U 136/08, 22 U 136/08 –, juris Rn. 29. 1416 Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30. Juli 1998 – 1 B 96.1428 –, juris Rn. 34. 1413

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trale Argumentation, dass »sie dem Vorstellungsbilde entsprechen muß, das dem Begriff der Heimtücke selbst zu Grunde liegt«.1417 Es sind derartige Vorstellungsbilder – seien es solche des Gesetz­ gebers, des Gesetzes, der Sprach- oder der Interpretationsgemein­ schaft – mit denen der Interpret arbeitet und die als Muster genutzt werden, um über Identität, Ähnlichkeit oder Nicht-Identität zu urtei­ len. Die Rollen, die Muster in diesen Urteilsprozessen spielen, können wie folgt schematisiert werden: 1.

Ein Vorstellungsbild braucht der Richter primär schon für den zu bewertenden Geschehensablauf (die Sachverhaltshypothese); er braucht es aber auch, um sich die subjektiven Tatbestände und Absichten (des Täters oder sonstiger Beteiligter) vergegen­ wärtigen zu können. Nur so kann er sie zum Gegenstand recht­ licher Wertungen machen. In diesem Sinn ist es auch meistens gemeint, wenn in strafrechtlichen Entscheidungen von dem »Vorstellungsbild des Täters« die Rede ist. Für dieses Vorstellungsbild muss dann ein rechtliches (Einord­ nungs-) Muster gefunden werden, d. h. eine Regel, nach der der Fall zu beurteilen ist. Ob er ein Fall dieser Regel ist, ist eine Sache der bestimmenden Urteilskraft, also der Subsumtion im Sinne der Subordination, was im Anschluss an Kant heißt: In aller Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff muss die Vorstellung des ersteren mit dem letzteren »gleichartig sein, d. i. der Begriff muß dasjenige enthalten, was in dem darunter zu subsumierenden Gegenstande vorgestellt wird; denn das bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand sei unter einem Begriffe enthalten«.1418 Ist das Ergebnis dieser Subsumtion Identität oder Nicht-Identi­ tät, ist das Geschäft der bestimmenden Urteilskraft zunächst been­ det und der Fall damit entschieden – es sei denn, es kommen in Gestalt von Vorstellungsbildern gegenstehende Wertungsmus­ ter ins Spiel und es melden sich so Zweifel an diesem Ergebnis an. Diese können sich zum einen auf die Identität beziehen. Man bemerkt Unterschiede; der zu entscheidende Fall ist »irgendwie« anders als die sonstigen Fälle. So unterschied sich die »Heim­ tücke«, die der GS in der zitierten Entscheidung zu beurteilen hatte, durch die besondere Motivationslage des Täters im Wer­

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3.

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1417 1418

BGHSt 9, 385 – juris Rn. 22. In dieser Zusammenfassung zitiert nach R. Eisler 1930/1964, S. 519.

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IV. Gründe für den gewählten kognitionswissenschaftlichen Ansatz

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tungsmuster so deutlich von »üblichen« Heimtückemorden, dass die Richter sich veranlasst sahen, »die bisherige Auslegung des Merkmals der Heimtücke [...] fortzuentwickeln«. Zum anderen sind es wiederum Muster, die im Ergebnis umge­ kehrt eine zunächst festgestellte Nicht-Identität in Frage stellen. Es sind die Muster, über die sich die Ähnlichkeit vermittelt. Sie können entweder dazu führen, die bisherige Auslegung zu erweitern: Auch X ist ein Fall der Regel (auch Strom kann »Gegenstand« eines Kaufvertrages sein). – Oder man geht den Weg der Analogie (die Regeln des Kaufrechts sind auf Stromlie­ ferungsverträge entsprechend anzuwenden). Schließlich bleiben die Konstellationen, in denen ein gegebener Fall auch über Analogien nicht mehr als ein Fall der Regel X beurteilt werden kann. Will sich das Judiz mit diesem Ergebnis nicht zufriedengeben, ist es auch hier der »Witz« als »ein eigen­ thümliches Verähnlichungsvermögen«, der eine Lösung sucht – die aber ebenfalls nur über Muster gefunden werden kann. Es geht hier dann um das Vermögen, für das Problem einer nicht vorhandenen oder defizitären Regelung1419 ein Muster zu finden, das für vergleichbare Problemsituationen bereits als Problemlö­ sungs- oder Regelungsmuster bestimmt und anerkannt ist.

IV. Gründe für den gewählten kognitionswissenschaftlichen Ansatz und zu den Grenzen der Analysierbarkeit kognitiver Prozesse Mit der Beschreibung der Rollen, die Muster im Erkenntnisverfahren spielen, wissen wir noch nichts darüber, wie Muster entstehen, wie sie Juristen in den Sinn kommen und wie sie mit ihnen arbeiten. Der transzendental-philosophische, der hermeneutische, der semiotische und der kognitionswissenschaftliche Ansatz nutzen zur Erfassung der Vermittlungsprobleme, die uns auf diese Frage nach dem »wie« eine Antwort geben könnten, Theorien und Beschreibungssysteme, die auf

1419 Früher die »Scheidungsprobleme« bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Ein inzwischen klassisches Beispiel ist das mit der Entscheidung BVerfGE 65, 1–71 geschaffene Recht auf »informationelle Selbstbestimmung«.

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Kapitel 23: Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung

unterschiedlichen Ebenen liegen.1420 Wenn für die folgende Analyse der kognitionswissenschaftliche Ansatz zugrunde gelegt wird, dann, weil der Vorzug dieses Ansatzes darin liegt, dass er nicht nur eine theoretische Einordnung ermöglicht, sondern mit größerer, auch empirischer Tiefenschärfe die kognitiven Bedingungen und Vorausset­ zungen für die Praxis der Mustergenerierung und Mustererkennung zu beschreiben vermag.

1. Der Richter – seine Vorurteile und Befindlichkeiten Auch dieser Ansatz hat freilich seine Grenzen. Unsere derzeiti­ gen, empirisch abgesicherten Erkenntnisse ermöglichen es zwar, die »Black Box« in Teilen »aufzubrechen«, lassen aber weiterhin wesentliche Momente der Rechtsfindung, wenn nicht im Dunkeln, so doch im Halbdunkel. Wir erfassen das Denken nicht, wenn wir meinen, wir könnten Gefühle und deren Abhängigkeit vom limbi­ schen System außen vor lassen. Ein Versuch, den Urteilsprozess als durchgehend rationalen Prozess abzubilden, muss also selbst ins Irrationale umkippen, wenn er nicht einräumt, dass die Richter ihn mit allen ihren Vorverständnissen, Vorurteilen, unbewältigten Vergangenheiten, situativen Befindlichkeiten und Schwankungen des Hormonhaushaltes und Voreingenommenheiten, die nicht zu Tage treten, betreiben. Die Einzeluntersuchungen, die zu diesen Themen vorliegen,1421 lassen sich derzeit sicher noch nicht in einem einheitli­ 1420 Je genauer man die Unterschiede analysiert, desto schneller wird man auf den erkenntnistheoretischen Grundsatzstreit zwischen Transzendentalphilosophie und empirischer Erkenntnistheorie stoßen und sich Gedanken machen müssen, inwieweit dieser Streit heute überhaupt noch fruchtbar ist. Es wäre aus dieser Sicht zwar ein interessantes Unterfangen, hier die Diskussion über »Kant und die moderne Kogni­ tionsforschung« aufzunehmen. Vgl. dazu Th. Leiber 1996, Kant-Studien Bd. 87, S. 1ff. Leiber bezieht sich dort auch ausführlich auf die Schema-Theorie der kognitiven Psy­ chologie. Die Ansätze vergleichend zu erörtern, würde jedoch den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. 1421 Die Diskussion kann hier nicht dokumentiert werden. Zur ersten Übersicht vgl. die Beiträge im Handbuch der Rechtspsychologie, Handbuch der Psychologie: Band 9, Hrsg. M. Steller u. R. Volbert. Göttingen 2008: J. Hupfeld-Heinemann, Margit E. Oswald, Richterliche Urteilsbildung: Strafentscheid und Strafzumessung, S. 477 ff. – Birte Englich, Urteilseinflüsse vor Gericht, S. 486 ff.- Susanna Niehaus, Glaubwür­ digkeitsattribution, S. 497 ff. – Günter Bierbrauer, Edgar Klinger, Verfahrensgerech­ tigkeit, S. 507 ff. Siehe ferner: Birte Englich 2005, Rechtsfindung und deren Auswir­

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IV. Gründe für den gewählten kognitionswissenschaftlichen Ansatz

chen theoretischen Konzept zusammenfassen (sollte dies überhaupt möglich sein). Ein erstes Desiderat wäre hier eine Art Reader, in dem die zu den aufgezählten Einzelaspekten gefundenen Ergebnisse zusammengeführt werden und der dann als »Richterspiegel« richter­ licher Selbstreflexion dienen könnte. Ein weiteres Desiderat betrifft die Frage, inwieweit die Befunde über typische individualpsychologi­ sche Verhaltensmechanismen und -muster durch institutionelle Ein­ bindung und professionelle Vorgaben korrigiert werden können. Untersuchungen zum so genannten Ankereffekt – der Richter orien­ tiert sich an einem mehr oder minder willkürlich vorgegebenen Zah­ lenwert, etwa an dem vom Staatsanwalt beantragten Strafmaß, wie er sich an einer anderen, niederen oder höheren Vorgabe auch orientiert hätte – lassen allerdings an der Wahrscheinlichkeit, solche Mecha­ nismen korrigieren zu können, erheblich zweifeln.1422

2. Unhintergehbare Subjektivität – rationale Struktur des analogischen Erkenntnisvermögens Für die Ebene der konkreten Entscheidung müssen wir also von einem Faktum unhintergehbarer Subjektivität jedenfalls insoweit ausgehen, als das Urteil in der Sachverhaltswertung, der rechtlichen Einzelfall­ bewertung, dem konkreten Strafmaß etc. Einzelfallentscheidung ist. Nichts anderes gilt dann zunächst auch für die Wahrnehmungen, Gedanken und Einfälle, durch die die Urteilskraft gesteuert wird. Um noch ein weiteres Mal mit Lichtenberg zu argumentieren: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt.« Wie ein Blitz ist auch der »Geistesblitz« nicht berechenbar, kommt aber nicht von ungefähr und ist als solcher, wenn der Gedanke, den er hervorbringt, als Rechtsgedanke taugt, auch nicht nur ein bloßer individueller Einfall. Fügt sich dieser Gedanke als Kategorie, Denkfigur oder brauch­ bare Problemlösung in den institutionellen juristischen Denkraum ein, wird sein zunächst scheinbar rein subjektiver Ursprung unwe­ sentlich; er bekommt einen inter-subjektiven Charakter. So wie kung im Spannungsfeld zwischen Gesetzestexten und psychologischen Einflüssen. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 36, 157–159. 1422 Vgl. B. Englich 2008, Interview in: Betrifft JUSTIZ Nr. 93, S. 210, 214 f.

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Kapitel 23: Juristische Muster – Theorie der Mustererkennung und Musterbildung

die Qualität eines naturwissenschaftlichen Gedankens nicht davon abhängt, wie er entstanden ist – ob beim Rasieren oder unter einem Apfelbaum –, sondern nur davon, ob er sich in den naturwissen­ schaftlichen Wissenszusammenhang kohärent einfügt, so hängt auch die Rationalität einer juristische Schlussfolgerung nicht von der Rationalität ihrer subjektiven Entstehung ab. Ein Rechtsgedanke wird für den (institutionellen) Rechtsprechungsprozess ja auch nur rele­ vant, wenn er sich in dessen Denk- und Argumentationsraum einfügt. Entsprechend geht es bei der Suche nach einer kognitiven Erklärung für die Entstehung und den Gebrauch juristischer Muster auch nicht um die Suche nach unergründlichen Quellen, sondern nach der ratio­ nalen Struktur »der Aktivierung des analogischen Erkenntnisvermö­ gens, nämlich des Witzes der reflektierenden Urteilskraft«.1423

V. Juristische Muster – Versuch einer kognitionswissenschaftlichen Erklärung Wenn der Richter bei einem neuen Verfahren stutzt und ihm in den Sinn kommt: »Ich hatte doch schon einmal einen vergleichbaren Fall«, und seine Aufmerksamkeit dabei auf die im alten und neuen Fall rechtlich gleich gelagerte Struktur gerichtet ist, ist dies ein typischer Fall von Mustererkennung. Der Vergleichsfall wurde im Gedächtnis offenbar als rechtliches Muster abgespeichert und mit diesem Muster wieder aufgerufen, nachdem die Beschäftigung mit dem neuen Fall das Gedächtnis entsprechend aktiviert hatte. Im Arbeiten nach der »Methode Simile« (Kap. 25 III.) tritt diese Funktion der Musterer­ kennung als Muster-Wiedererkennung ganz deutlich hervor. Für die Mechanismen der Mustererkennung, die es nun näher zu beschreiben gilt, ergibt sich daraus eine erste wesentliche Beobachtung: Musterer­ kennung und Musterbildung sind analoge Vorgänge, Vorgänge, bei denen Wahrnehmungsleistungen und Gedächtnisleistungen offenbar unmittelbar zusammenspielen. Wie verhält es sich aber, wenn der Richter/Jurist in seinem Gedächtnis kein sofort passendes Einordnungs- oder Lösungsmuster findet und auch eine Datenbankrecherche nicht weiterhilft? Mit der Erklärung einer Muster-Wiedererkennung scheint es dann offenbar 1423

G. Gabriel 2012, S. 18.

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kaum getan. Es liegen Situationen mit Problemen vor, deren Lösun­ gen kreative kognitive Leistungen verlangen – eben ein Vorgehen, das »Witz«, will sagen: reflektierende Urteilskraft, erfordert, eine Methode, die man auch als »Methode Sherlock-Holmes« beschreiben kann.1424 Gleichwohl beruhen auch die kognitiven Vorgänge, die bei der Bewertung neuer Situationen und Probleme zu einer Generierung bisher nicht gewusster Muster führen, nicht auf grundsätzlich anders zu bewertenden Denkvorgängen. Sowohl die »üblichen«, routinemä­ ßigen Phänomene der Musterbildung und Mustererkennung als auch die Phänomene der »Mustergenerierung« sind kreativ-assoziative Prozesse. Sie unterscheiden sich nur durch ihre mehr oder minder stark ausgesteuerten assoziativen oder analytisch-logischen Anteile. – Um die Vorgänge verstehbar zu machen, die als Mustererkennun­ gen bei einer »Gesamtschau« wirksam sind, sind die kognitiven Bedingungen dieses Prozesses bereits in Kapitel 14 II. c) – Exkurs II – dargestellt worden. Daran knüpfen die folgenden Überlegungen zu den kognitionswissenschaftlichen Grundlagen der Mustererkennung an, stellen nun aber entscheidend auf Prozesse der Rechtsermitt­ lung ab.

1. Kognitive Mechanismen (Exkurs III)1425 Um die Mechanismen der zu analysierenden kreativ-assoziativen Prozesse zu beschreiben, können wir nicht auf ausgearbeitete kogni­ tionswissenschaftliche Modelle zurückgreifen. Auf der Grundlage verallgemeinerbarer Erkenntnisse und Beobachtungen der Kogniti­ onswissenschaften lassen sich aber Erklärungsmodelle ableiten, um mit hinreichender Tiefenschärfe auf die Fragen, wie arbeiten wir mit Mustern, wie erkennen wir sie und wie entstehen sie, erste Antworten geben zu können. Als Einstieg kann die nachfolgende Abbildung dienen:

Näher zur »Methode Sherlock Holmes« unten Kap. 25 III. Ergänzt wird dieser Exkurs III durch den neurowissenschaftlichen Exkurs I im Kapitel 13 III 1 über Zeugenaussagen, den Exkurs II im Kap. 14 II. 3. – »Gesamtwür­ digung« – und den Exkurs IV im Kapitel 24 IV. über Entscheidungstheorien. 1424

1425

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Wer das Bild zum ersten Mal betrachtet, sieht zunächst wahrschein­ lich nur kleinere oder größere schwarze und weiße Flächen, vielleicht nur Tintenkleckse (was bereits eine Mustererkennung wäre). Es dau­ ert eine Weile, bis wir aus diesen zweidimensionalen Helligkeitsver­ teilungen Figuren extrahieren, in ihnen Muster, Objekte erkennen können. Wenn es gelungen ist, sehen wir – fast in der Mitte – einen Hund, genauer einen auf dem Boden (auf einem Weg?) schnüffelnden Dalmatiner. Und schauen wir noch genauer hin, können wir in der Rückpartie des Dalmatiners noch ein weiteres Muster erkennen: den Kopf einer Hyäne. Was hier an einem Bildbeispiel dargestellt werden sollte, hat der Neurowissenschaftler W. Singer in seiner allgemeinen Struktur wie folgt skizziert: »Ein erster und wichtiger Schritt bei der Mustererkennung ist die Szenenanalyse, die Zuordnung von Konturen zu bestimmten Objekten einerseits und zum Hintergrund andererseits. Objekte lassen sich nur als solche erkennen, weil ihre Eigenschaften es erlauben, sie als Einheit von anderen abzugrenzen. Eine Basisoperation aller Musterer­ kennungsprozesse besteht somit darin, das zu identifizierende Objekt

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von den umgebenden, nicht zu ihm gehörenden Konturen abzugren­ zen.«1426

Diese Basisoperation der Mustererkennung ist insbesondere für das visuelle System des Gehirns erforscht und beschrieben worden.1427 Diese Mustererkennungsprozesse gelten im Prinzip aber für alle Bereiche des kognitiven Erfassens. In einem Beitrag »Synergetik der Gehirnfunktionen« hat H. Haken dies so formuliert: »Ein Großteil menschlicher Wahrnehmung besteht in der Erkennung von Mustern. Es kann sich hierbei um die Erkennung von Gesich­ tern, von Gegenständen oder von Tieren handeln, also von mehr oder weniger statisch erscheinenden Objekten. Wir können aber auch Bewegungsmuster oder Verhaltensmuster in unserer sozialen Umge­ bung erkennen«.1428

Ob es sich nun um die Wahrnehmung unserer Umwelt handelt oder um Erkenntnisse im »Geistigen« – stets haben wir es mit Prozessen der Mustererkennung zu tun. Oft sind es assoziierende Übergänge: Bewegungsmuster werden als Verhaltensmuster verstan­ den und diese wiederum mit (im weitesten Sinn) normativen Mustern eingeordnet und bewertet (mit ästhetischen etwa die Drehung eines Tänzers, mit juristischen das Heben der Hand bei einer Versteige­ rung). – Immer wenn wir Daten, welch unterschiedlicher Qualität sie auch sein mögen, in einen Zusammenhang bringen – also Kohären­ zen schaffen –, ordnen wir sie nach einem Muster. Analysieren wir diese Prozesse auf ihre Bedingungen, so liegt eine notwendige Bedingung offensichtlich darin, dass entweder ein angeborenes1429 oder ein erworbenes Wissen darüber vorhanden sein muss, welche Differenzen, Elemente oder Merkmale das wahrgenom­ mene Objekt, das erkannte Muster kennzeichnen. Wir können nur

1426 Singer 2002, S. 129. – Eine vertiefende Analyse der neuronalen Resonanz- und Kohärenzbildungen, die hier die Wahrnehmung des Dalmatiners ausmachen – ohne dass sich dazu im Gehirn ein »Zentrum« für diese Erkenntnis ausmachen ließe –, findet sich bei T. Fuchs 2010, S. 164–170. 1427 Singer 2002, S. 87 ff. 1428 Haken 2004, S. 92 f. 1429 Singer 2002, S. 88 verweist hier auf die Gestaltpsychologie der dreißiger Jahre. Zu den Gestaltgesetzen der Wahrnehmungsorganisation vgl. Anderson 2001, S. 41 ff. und zu der damit zusammenhängenden visuellen Mustererkennung S. 49 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen S. 74. Wichtig für die Forschungen nach 1945: Metz­ ger 1986.

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erkennen, was wir – wenigstens irgendwie – kennen. Ohne ein Wis­ sen darüber, wie eine Hyäne aussieht, hätten wir sie in der Abbildung nicht sehen können. Mustererkennung basiert mithin notwendig auf »Prozessen assoziativer Gedächtnisse« (H. Haken).1430 Wesentlich für die bei der Mustererkennung entscheidenden Prozesse ist das Zusammenspiel von Wissen – Gedächtnis – Assoziation – Wahrneh­ mung. a. Zunächst zur Wahrnehmung1431: Um irreführende Vorver­ ständnisse erst gar nicht aufkommen zu lassen, ist es sinnvoll, sich zu Beginn aller Überlegungen klarzumachen, wie unsere Musterer­ kennung, etwa beim optischen Erkennen, nicht abläuft. Es ist eben nicht so, dass unser Gehirn das auf der Netzhaut abgebildete Bild mit einem genauso scharfen, identischen Bild aus dem Gedächtnis abgleicht, um dann dem Bewusstsein zu melden: identisch oder nicht gleich. Nach dem, was wir heute über den Sehvorgang wissen, kommt vielmehr nur ein minimaler Teil der Informationen, die auf das Auge treffen, überhaupt in den eigentlichen Erkenntnisprozess. In Zahlen: Kann man die Informationsmenge, die auf die Netzhaut gelangt, mit 10 Milliarden Bits pro Sekunde veranschlagen, reicht die Weiterleitungskapazität des Sehnervs nur für 6 Millionen Bits pro Sekunde und von dieser Informationsmenge gelangen nicht einmal 100 Bits zu den Gehirnregionen, die sich mit bewusster Wahrneh­ mung befassen!1432 Wir haben es bei diesem Prozess also stets mit Ergänzungen unvollständiger Datensätze durch unser – sehr komple­ xes – Gedächtnissystem zu tun.1433 Wahrnehmen ist mit anderen Worten Informationsverarbeitung, bei der entscheidend immer auch Vorstellungen, Bilder, Worte und Gedanken beteiligt sind, die unser Gehirn schon gespeichert hatte und mit denen die neuen Informatio­ nen abgeglichen, be-, er- und verarbeitet werden. Wahrnehmen ist also immer auch ein Sich-Erinnern – aber mit einem Gedächtnissys­ tem, das, um ein Bild zu gebrauchen, nicht wie der digitale Speicher einer Kamera oder eines Computers funktioniert, sondern assoziativ. Dass es sich bei den Mustern, mit denen wir arbeiten, nicht um starre Schablonen, um präzise fixierte Gedächtnisinhalte handeln kann, mag schon ein einfaches Zahlenbeispiel zeigen. Wir können die Zahl »1« in nahezu unzähligen Varianten schreiben und gleichwohl diese Zahl 1430 1431 1432 1433

Haken 2004, S. 93. Fortgesetzt wird hier der Exkurs I – Kap. 13 III. 1. Raichle 2010, S. 63. Haken 2004, S. 93, 97.

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in nahezu allen Varianten »wieder-erkennen«. Oder das Beispiel eines kleinen Kindes, das gelernt hat, was ein Stuhl ist. Es wird auch in dem größten Stuhlmuseum der Welt wahrscheinlich alle Exponate als Stühle erkennen. b. Die These, dass unsere »Mustererkennung auf Prozessen assoziativer Gedächtnisse beruht«1434 und »sich als Ergänzung eines Satzes unvollständiger Daten zu einem vollständigen Satz«1435 voll­ zieht, wird noch klarer, wenn wir dazu den neurowissenschaftlichen Hintergrund einen Schritt weiter ausleuchten: Das, was wir Gedächt­ nis nennen, ist (wie die Beispiele plausibel machen sollten) keinem festen Speicher, etwa einem Neuron oder einem stabilen Verbund von Neuronen, klar inhaltlich zugeordnet, sondern kann als »Gedächt­ nisspur« über sehr viele Verbindungen in einem ausgedehnten Neu­ ronenverbund verteilt sein. Dieselben Neuronen, die Träger eines so gespeicherten Gedächtnisinhaltes sind, sind aber auch an dem Prozess der Wahrnehmung beteiligt.1436 Wir unterscheiden zwar wie selbstverständlich zwischen Wahrnehmung und Vorstellung – wenn wir etwas wahrnehmen oder uns etwas vorstellen, dann beruht das aber auf denselben Hirnfunktionen. Dem entspricht es, »daß sich die Aktivitätsmuster, die auftreten, wenn sich Menschen etwas vorstellen oder das Vorgestellte tatsächlich vor Augen haben, kaum unterscheiden« (W. Singer).1437 c. Solche Aktivitäts- oder Erregungsmuster, an denen sich jeweils eine große Zahl von Nervenzellen in wechselnden Konstellationen beteiligen und die sowohl durch Wahrnehmungen als auch bloß durch unsere Vorstellungen hervorgebracht werden – sie aktivieren auch unsere Erkenntnis- und Denkmuster, und Muster assoziieren andere Muster.1438 Wie an den Beispielen der Typologie gezeigt, fallen uns etwa Lösungsmuster, die für bestimmte Fallgruppen gespeichert sind, für scheinbar völlig andere Problemsituationen ein. Einem Bild, einer Vorstellung oder einer Szene, die Gegenstand unseres Bewusstseins Haken 2004, S. 93. Haken 2004, S. 97. 1436 Bear u. a. 2009, S. 831; dort, S. 829 ff., auch zum »Modell für ein verteiltes Gedächtnis« und zur Frage, wie man sich die physische Repräsentation eines »Engramms« oder einer »Gedächtnisspur« als cell assembly vorzustellen hat. 1437 Singer 2005, S. 716. 1438 Hat man den kohärenztheoretischen Zusammenhang im Blick, liegt auch dem Muster eine »temporär kohärente Struktur« zugrunde: Strauch 2005, S. 499 u. Strauch 2003, S. 4. 1434 1435

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sind, können viele unterschiedliche neuronale Zustände und kontext­ abhängige Signale zugrunde liegen. Der Zusammenhang zwischen neuronalen Zuständen und unseren Vorstellungen kann nicht im Sinne einer »Punkt-für-Punkt-Wiedergabe« verstanden werden.1439 Wie bereits gesagt: Muster oszillieren.1440 Diese Art freier Assoziation ist als wichtiger Teil des mensch­ lichen Denkens die Grundvoraussetzung für das, was wir Kreativität oder auch Intuition nennen. Am Werk ist unser »eigenthümliches Verähnlichungsvermögen«, eben Kants »Witz«. Notwendig ist dann aber immer noch ein weiterer Schritt: Nachdem in freier Assoziation über Analogien Verknüpfungen hergestellt wurden, gilt es, diese Ver­ knüpfungen auch analytisch zu prüfen. Sie müssen auf ihre logische Stimmigkeit und Belastbarkeit hin bewertet werden, ein Vorgang, für den es, was auch nicht überraschend ist, offenbar ebenfalls eine neurowissenschaftlich feststellbare Entsprechung gibt.1441 Auf der Ebene der Methodik geben die bekannten Regeln, mit denen Juristen Analogieschlüsse abzuschätzen haben, dafür ein typisches Beispiel.

1439 G. M. Edelman 2007, S. 108; es entspricht auch der in diesem Buch vertretenen theoretischen Perspektive, wenn Edelman an dieser Stelle einen Bezug zu Wittgen­ steins »Spielen« herstellt, die ebenfalls weder durch einzig notwendige noch durch gemeinsam hinreichende Bedingungen definiert sind. 1440 Kap. 22 II. 1441 In einer Studie, die sich mit dem juristischen Entscheidungsfindungsprozess beschäftigte, legten die Forscher Anwälte und andere Akademiker in den Hirnscanner und zeichneten mittels funktioneller Magnetresonanztomographie deren Hirnaktivi­ tät beim Beurteilen folgenden Falles auf: Darf ein Arzt dem Wunsch eines 15-jährigen Mädchens nach einer Abtreibung auch ohne Kenntnis und Einwilligung der streng religiösen Eltern nachkommen? Die Probanden sollten eine Bewertung aus morali­ scher wie rechtlicher Perspektive treffen und angeben, wie sehr sie die Fälle emotional berührten. Dabei zeigte sich, dass moralische und juristische Urteile zunächst ähnliche Hirnregionen aktivieren. Nach kurzer Zeit jedoch setzt bei juristischen Urteilen eine stärkere Aktivierung des dorsolateralen präfrontalen Cortex (DLPFC) ein. Das legt nahe, dass auch juristische Entscheidungen zuerst von intuitiven und emotio­ nalen Prozessen vorbereitet, dann aber von logischem Denken begleitet werden. Nur bei Juristen trat ein für die Forscher unerwarteter und deshalb nicht sicher interpretierbarer Effekt auf: eine verstärkte Aktivierung im mit kognitiven Aufgaben betrauten dorsalen anterioren cingulären Cortex (dACC). In der veröffentlichten Notiz heißt es hierzu: »vielleicht die neuronalen Korrelate des Subsumierens?« Schleim u. a. 2010/11.

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2. Wir alle lernen Muster – aber nicht alle gleich gut Nachdem die These, dass unsere »Mustererkennung auf Prozessen assoziativer Gedächtnisse beruht«, näher erläutert und konkretisiert worden ist, ist es jetzt nur noch ein überraschend kleiner Schritt zur Beantwortung der Frage, wie die Muster denn eigentlich in unseren Kopf kommen, oder was, anders formuliert, bei näherer Beobachtung auf das Gleiche hinausläuft, worauf »Intuition« oder, wie Intuition bei Juristen meistens heißt, worauf »Judiz« eigentlich beruht: Sie beruht auf einem Mehr an Wissen, das man gespeichert hat1442 und zu dem das Denken freien und assoziativen Zugang hat. Der zentrale Ansatz der Expertenforschung – heute »ein blü­ hendes Forschungsfeld«1443 – kreist um die Fragen, woran es liegt, dass »Experten« Probleme besser lösen können als »Nichtexperten«. Die naheliegende und in Experimenten immer wieder bestätigte Ant­ wort ist die, dass Experten mehr Wissen über ein Gebiet besitzen als Nichtexperten. Anders gesagt, die aktualisierbare Problemlösungs­ kompetenz steigert sich durch Erfahrung, wobei das angeeignete Wissen eine zentrale Rolle spielt. Schon Beobachtungen des Alltags lassen aber sicher keinen Zweifel daran, dass die schlichte Anhäufung von Wissen nicht das allein Entscheidende sein kann. Vielmehr zeigen sich die Unterschiede vornehmlich in der Art und Weise, wie dieses Wissen organisiert ist. Während »Novizen« mit deklara­ tiven Wissensstrukturen arbeiten, nutzen Experten ihr Wissen in prozeduraler Form.1444 Wesentlich sind hier Mustererkennungs- und Lernprozesse und Lernen meint dabei kein bloßes Abspeichern von Die natürlich bestehenden und wesentlichen Unterschiede zwischen »Intuition«, »Judiz« und »Mustern« müssen hier ebenso auf sich beruhen wie die möglichen Ver­ bindungen zu dem semiotischen Erklärungsansatz von C. S. Peirce. Zum »Judiz« siehe grundlegend Gröschner 1987; von »Judiz« kann man nicht sprechen, ohne von »Rechtsgefühl« und »Gerechtigkeit« zu sprechen (S. 906 f.). Für die »Muster« ist die­ ser Zusammenhang, wenigstens zunächst, nicht wesensbestimmend. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Basis: Wissen und Erfahrung. »Judiz und Präjudiz« gehören in der Tat zusammen wie »Judiz und Erfahrung« (S. 904, 907). Für die »Intuition« kam der Sachbuchautor Traufetter entsprechend zu dem Fazit: »Intuition ist demnach das Ergebnis von Lernprozessen« (2007, S. 311). – Auf den Erklärungsansatz von Peirce kann ich nur verweisen – Strauch 2009, S. 404 f. –, ihn an dieser Stelle aber nicht weiter vertiefen. 1443 P. Reimann 1996, Art. »Expertise«, S. 180. 1444 K. Opwis 1996 in dem Art. »Problemlösen«, S. 521. Zu den Begriffen siehe Kap. 5 II. 3. 1442

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Wissen, von Erfahrungen, Fakten und Fällen. Diese werden vielmehr aufgenommen, um etwas zu lernen, das heißt, es kommt auf die »elaborative Verarbeitung des zu lernenden Materials« an.1445 Die kognitive Psychologie hat dies anhand vieler Belege näher konkreti­ siert: So arbeiten das Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis von Schach­ großmeistern mit Figurenkonstellationen sowohl schneller als auch mit größeren Datenmengen als die nur guten Schachspieler1446; in der Röntgendiagnostik etwa zeigte sich Expertenschaft darin, wie dif­ ferenziert Röntgenbilder decodiert und Probleme erkannt wurden.1447 Mit zunehmender Erfahrung auf einem Gebiet entwickelt man, allge­ meiner gesagt, eine bessere Fähigkeit, problembezogene Informatio­ nen im Langzeitgedächtnis zu speichern und wieder abzurufen1448 – also mit Mustern umzugehen, gegebenenfalls diese auch in Simula­ tionen zu erwerben. In seinem Buch »Intuition« beschreibt G. Traufet­ ter im Kapitel »Intuition erlernen«, dass und warum Piloten viele Stunden im Flugsimulator zugebracht haben müssen, bevor sie ein Passagierflugzeug fliegen dürfen.1449 Wenn auch nicht im Flugsimula­ tor, sondern in Klausurenkursen betreiben auch Juristen seit alters her solche Simulationen. Die Klausurenkurse dienen dem Juristen dazu, »möglichst im Zeitraffer seine Intuition zu schulen«.1450 – Zugleich »sozialisieren« sie den individuellen »Denk- und Argumentations­ raum« zu einem juristischen. Entscheidend ist die »Einspielung« und »Stabilisierung«1451 derjenigen (juristischen) Wahrnehmungsund Denkmuster, mit denen die Juristen als »Interpretationsgemein­ schaft«1452 arbeiten und auf denen diese Gemeinschaft auch gründet. – Damit aber wieder zurück zu dem, was den individuellen Umgang mit Mustern ausmacht: Diese Befunde beschreiben notwendige allgemeine Bedingungen von Expertentum. Sie lassen aber auch die Momente hervortreten, die man als Bedingungen von »Intuition« kennzeichnen kann. Damit sind freilich Prozesse angesprochen, in denen Phänomene Anderson 2001, S. 305, allgemeiner zur elaborativen Verarbeitung dort S. 192 ff. Anderson aaO. S. 302. 1447 Anderson aaO. S. 300. 1448 Anderson aaO. S. 304. 1449 Traufetter 2007, S. 282. 1450 Traufetter aaO. 1451 Lenk 1995, S. 238, hier bezogen auf Schemainterpretationen. Auf Lenks Ansatz selbst kann im Rahmen dieses Beitrages nicht eingegangen werden. 1452 Lenk 1995, S. 122. 1445

1446

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des Expertentums, der »Kreativität« und der »Intuition« ineinander übergehen. Zu diskutieren wäre eine Vielzahl von Momenten – etwa die Fähigkeit zum Wechseln-können der Bezugssysteme, zur Um- und Neuinterpretation gewohnter Dinge und Wege oder die Fähigkeit zum Querdenken. Eine solche Diskussion kann hier nicht geführt werden. Der für die Mustererkennung entscheidende Punkt tritt aus meiner Sicht aber in einem Streitgespräch klar zu Tage, das der Philosoph Karl Popper und der Biologe Konrad Lorenz 1983 über die Frage geführt hatten, auf welchem Wege wir Erkenntnis gewinnen. Während Popper ein deduktives, von Hypothesen ausge­ hendes, Erkenntnismodell vertrat, insistierte Lorenz darauf, dass »wir neue Erkenntnisse durch die Verallgemeinerung von Einzelbeobach­ tungen gewinnen, neue Erkenntnisse gleichsam schlagartig durch das Zusammenschalten unabhängig gewonnener Einzelerkenntnisse ins Bewusstsein treten«.1453 Genau dieser kognitive Vorgang, aus Einzelbeobachtungen, also Fällen, durch die Verallgemeinerung neue juristische Lösungen zu finden, ist es auch, der dem Konzept der Mustererkennung zugrunde liegt. Und aus diesem Grundgedanken ergeben sich dann auch die zwei wesentlichen Bedingungen, die für Musterbildung und die Mustererkennung konstitutiv sind. (1.) Der eine Schlüssel liegt in der »elaborativen Verarbeitung« des gelernten Materials. Ein Jurist, der nicht nur nach der Methode Simile arbeiten will, darf die Fälle also nicht wie in einer Aktenablage ins Gedächtnis aufnehmen und nicht wie ein Sachbearbeiter, der für einen gleichgelagerten Fall ein Muster haben will. Er muss sie so abspeichern, dass sie gleichsam zu einem »fluiden Wissen« werden. Nur wenn in dem vielen Verschiedenen das Gleiche erfasst ist, kann das Denken mit dem gespeicherten Material auch kombinatorisch arbeiten. Das Wissen muss mit anderen Worten in dogmatischen Kategorien aufgearbeitet und auf diese Weise analogiefähig sein. (2.) Den zweiten Gesichtspunkt habe ich oben bereits mit »Offenheit« und »Unvoreingenommenheit« umschrieben. Dabei geht es nicht darum, der Illusion einer theoriefreien Beobachtung 1453 B.-O. Küppers 2008, S. 483. – Zu dem Phänomen der »schlagartigen« Erkennt­ nis müssen die Gründe, warum die »abduktive Vermutung [...] wie ein Blitz« kommt (Peirce 1991, S. 404), unerörtert bleiben. Zum »Aha-Effekt« sowie zum »Inkubati­ onseffekt« siehe Anderson 2001, S. 273 ff. Auf welche Weise das Gehirn, für das Bewusstsein vielfach nicht fassbar, unbewusst neue Kohärenzen schafft, ist noch weit­ gehend offen. Zu den möglichen neuronalen Grundlagen der Kreativität vgl. Roth 2001, S. 181 ff.

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das Wort zu reden. Doch die Unmöglichkeit theoriefreier Beobach­ tung bedeutet nicht, dass die Brille mit begrenztem Gesichtsfeld, fester Brennweite und mit theoretisch satt eingefärbten Gläsern unhintergehbar ist. Nur eine Aufmerksamkeit, die so »gleichschwe­ bend« ist (um einen Ausdruck Freuds zu gebrauchen)1454, dass sie sich von Fixierungen lösen und Perspektiven und Bezugssysteme wechseln kann, taugt als Organ einer unvoreingenommenen Muster­ erkennung. Man könnte diese Art der Aufmerksamkeit »Vigilanz der Wahrnehmung« nennen. Sie beschreibt eine idealtypische Wahr­ nehmungshaltung des Richters bei dem, was er als Information im Prozess wahr- und aufnimmt. Diese Haltung impliziert zugleich auch eine »Offenheit durch Verfahren« – das heißt, die »Dialogik des Verfahrens«1455 als notwendiges Postulat zu akzeptieren. Die schon viel zitierte Wendung vom »Hin- und Herwandern des Blicks« ist so gesehen nur ein wesentlicher Aspekt und offenbar nicht zu Unrecht »strapaziert«1456 worden – erfasst sie doch den Mechanismus der Mustererkennung in dem entscheidenden Punkt: Wer seinen Blick hin und her wandern lässt, ist in einem Zustand, in dem er noch nicht fixiert ist, weder auf eine klare Vorstellung vom Sachverhalt noch auf eine eindeutige Rechtsansicht, noch auf einen analytisch-logischen Subsumtionsvorgang. Die Wahrnehmung ist noch im Zustand der Vigilanz und das Wissen für die juristische Hypothesenbildung arbeitet noch im Zustand eines fluiden Materials. In ebendiesem Zustand gelingt dann vielleicht auch der eigentlich entscheidende Blick: Wir sehen einen rechtlichen Gesichtspunkt oder einen Sachzusammenhang, der bisher außerhalb des Blickfeldes lag, aber nunmehr den Blick auf die »richtige« Lösung freigibt.

1454 Freud 1975, S. 171 f.; näher zur »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« Kap. 13 III. 2. 1455 Gröschner 1982, insbes. S. 235 ff. 1456 Engisch 1975, S. 206 Fn. 56.

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Kapitel 24: Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

Akzeptiert man die These, dass unsere »Mustererkennung auf Prozes­ sen assoziativer Gedächtnisse beruht«1457, löst das natürlich die Frage nach den Mechanismen aus, die die Richtung und damit letztlich das Ergebnis bestimmen, auf die diese Assoziationen hinauslaufen. Das Denken soll ja nicht zu einer unendlichen Assoziationskette führen. Der Richter muss entscheiden und das heißt in unserem Zusammen­ hang, das »richtige« Muster auswählen. Welcher Weg führt also von der Mustererkennung zum Urteil? Was führt den Richter dazu, diesem und nicht jenem Muster zu folgen und damit die letztlich getroffene Entscheidung anderen Entscheidungsmöglichkeiten vor­ zuziehen? Dafür kommt es auch nicht nur auf die Kausalität an, die dazu geführt hat, dass wir einen rechtlichen Gesichtspunkt oder einen Sachzusammenhang sehen, der bisher außerhalb des Blickfeldes lag, aber nunmehr den Blick auf die »richtige« Lösung freigibt. Es muss auch eine Verständigung – oder doch wenigstens eine Diskussion – darüber geben, wie und mit welchen Maßstäben wir eine Lösung oder die Entscheidung als »richtig« einstufen können.

I. Entscheidungstheorien Stellt man diese Frage, muss man sich darüber im Klaren sein, dass man sie nicht mit einer eindeutigen, exakten, wissenschaftlich abge­ sicherten Beschreibung der wesentlichen Mechanismen beantworten kann. Mehr als möglichst plausible Modelle zur Erklärung dieser Prozesse dürfen wir nicht erwarten. Die Suche nach tragfähigen kognitiven Modellen des Entscheidens beschäftigt mit besonderem Gewicht die Psychologie und die Neurowissenschaften ebenso wie die Organisationssoziologie, die Wirtschaftswissenschaften und die Kon­ 1457

H. Haken 2004, S. 93.

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Kapitel 24: Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

sumforschung. Deren erkenntnisleitendes Interesse liegt dann mit Schwerpunkt auf Untersuchungen über die Entscheidungsstrategien (erfolgreicher) Manager und die Entscheidungen von Marktteilneh­ mern etc. Ausgearbeitete Modelle über die Mechanismen des richter­ lichen Entscheidens gibt es nicht.1458 So bleibt nur, auf allgemeine Modelle1459 zurückzugreifen, die auch für die richterliche Arbeit Relevanz haben können. In Betracht kommen hier insbesondere drei Grundmuster: 1. die Theorien der »rationalen Wahl«; sie nehmen an, dass es immer eine korrekte bzw. beste Lösung des Entscheidungsproblems gibt und dass sich diese Lösung auch durch eine konsequent rationale Vorgehensweise finden lässt1460; 2. reduktionistische Entscheidungsstrategien; reduktionis­ tisch deshalb, weil man sich auf einige Heuristiken (Faustregeln) stützt und alle anderen Informationen dann beiseitelässt. Zu nennen ist hier vor allem das von G. Gigerenzer geprägte Konzept des heuris­ tischen Werkzeugkastens (adaptive toolbox)1461, nach dem Menschen über eine Reihe von Heuristiken verfügen, die ihnen die Anpassung an verschiedene Urteils-, Entscheidungs- und Problemlösesituatio­ nen erlauben. Eines der typischen Werkzeuge ist die Take-the-BestHeuristik. Sie besteht aus den folgenden drei Bausteinen: »Suchregel: Prüfe die Gründe in der Reihenfolge ihrer Bedeutung. Stoppregel: Beende die Suche, sobald sich die Alternativen hin­ sichtlich eines Grunds unterscheiden.

Bislang lässt sich nur auf Einzelstudien zurückgreifen, etwa über den Ankereffekt; siehe oben Kap. 23 IV. 1. und u. V. Da es die institutionelle Einbindung ist, die die jeweiligen kognitiven Prozesse wesentlich prägen, lassen sich empirische Untersu­ chungen, die im Kontext anderer Justizsysteme gemacht wurden, auch nicht ohne Weiteres unmittelbar übernehmen. Zu den Untersuchungen, die auf unser Justizsys­ tem bezogen sind, gehören der Forschungsbericht »Entscheidungsverhalten von Schöffen« von Andreas Glöckner u. a. o. J. – »Schöffenbericht« – Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern – https://www.coll.mpg.de/Download/ IntuitiveExperts/Schoeffenbericht.pdf -und A. Glöckner 2008 m. w. N. Im »Schöf­ fenbericht« S. 6, 17 ff. auch näher zum Ankereffekt. 1459 Zur Einführung in die »Psychologie der Entscheidung« vgl. allgemein H. Junger­ mann u. a. 2010. 1460 Eine typische Denkfigur dieses Ansatzes ist in der Ökonomie der »Homo oeco­ nomicus«. 1461 Vgl. G. Gigerenzer 2008, S. 71 ff. und passim; Ders. 2013, S. 46, 157 ff. passim. 1458

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II. Entscheidungsstrategie und richterliche Praxis

Entscheidungsregel: Wähle diejenige Alternative, die dieser Grund nahelegt.«1462 Ein weiteres Tool ist die auf dem Wiedererkennungsgedächtnis beruhende Rekognitionsheuristik, die besagt: »Wenn eines von zwei Objekten wiedererkannt wird, das andere aber nicht, dann schließe daraus, dass das wiedererkannte Objekt den höheren Wert hat.«1463 Eine Implikation dieser Heuristik ist der Weniger-ist-mehr-Effekt (Less-Is-More-Effekt), was heißt, dass unter bestimmten Umständen weniger Wissen – im Sinne von weniger erkannten Objekten – zu besseren Ergebnissen führen kann.1464 Im Gegensatz dazu stehen 3. die intuitiv-automatischen Strategien.1465 Grundannahme ist hier, dass auch bei komplexen Sachverhalten und Wertungen die Entscheidungsfindung nicht dadurch bestimmt wird, dass die Zahl der berücksichtigten Informationen radikal reduziert wird, sondern im Gegenteil eine Vielzahl von Informationen aufgenommen und verar­ beitet wird – die Prozesse dann aber weitgehend unbewusst ablaufen. Es kommen, so A. Glöckner, ein führender Vertreter dieser Position, »komplexe Denkprozesse zum Einsatz, die zum Teil auf bewussten Prozessen basieren, denen zu einem anderen Teil aber auch automatisch (unbewusst) ablaufende Prozesse zugrunde liegen. Diese Prozesse helfen dabei, die vorliegenden Informationen zu einem Fall in einer konsistenten Gesamtinterpretation zusammenzufügen und die Stimmigkeit dieser Interpretation sehr schnell einschätzen zu können [...] Diese Prozesse erklären zum Beispiel das Vorhandensein respektive die Entstehung eines Rechtsgefühls bzw. Judizes.«1466

II. Entscheidungsstrategie und richterliche Praxis Eine Vertiefung dieser Diskussion würde den Rahmen unserer metho­ dischen Überlegungen sprengen. Wir können eine Auseinander­ setzung mit diesen heute relevanten Entscheidungstheorien deshalb aber nicht übergehen. Sie betreffen ja – wenn auch zunächst aus einer G. Gigerenzer 2008, S. 158, 92 ff.; siehe auch Ders. 2013, S. 146, 164 f. G. Gigerenzer 2008, S. 119 ff., 123; siehe auch Ders. 2013, S. 146, 164 f. 1464 G. Gigerenzer 2013, S. 29 ff., 130 ff. und passim. 1465 Siehe die Kritik bei A. Glöckner 2006, S. 63 ff., 68 ff., 231 f.; vgl. auch T. Oster­ mann 2010, S. 58 ff. 1466 A. Glöckner u. a. Schöffenbericht, S. 6 mit ausführlichen Nachweisen. Vgl. ferner A. Glöckner 2006, S. 71 ff. 1462

1463

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Kapitel 24: Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

allgemeineren Perspektive – das gleiche Grundproblem: Wie lassen sich komplexe Entscheidungssituationen theoretisch modellieren? Und hier zeigen sich dann nicht nur Parallelen in den Nutzanwen­ dungen, sondern auch in den theoretischen Wurzeln. Sowohl die intuitiv-automatische Strategie als auch die eigene Grundkonzeption richterlicher Entscheidungsfindung haben ihre Grundlagen in den gleichen kohärenztheoretischen Ansätzen. Zunächst aber zu den unmittelbar auf die Praxis übertragbaren Strategien:

1. Theorien der »rationalen Wahl« und reduktionistische Entscheidungsstrategien Wenn sie auch nicht unter diesen Überschriften diskutiert werden, so wendet die Praxis doch beide Strategien wie selbstverständlich an. Lässt sich ein Problem mit einer Wahrscheinlichkeitsrechnung sicher entscheiden, muss die Wahrscheinlichkeit auch berechnet werden. Liegt zu einer umstrittenen Tatsache ein wissenschaftlich begründetes Gutachten vor, wird mit einer Entscheidung, die diesem folgt, eine rationale Wahl getroffen. Übernimmt der Richter eine h. M. oder eine obergerichtliche Entscheidung, ohne sich über Alternativen Gedan­ ken zu machen, folgt er einer reduktionistischen Heuristik. Wie groß deren praktische Relevanz ist, wird in dem Abschnitt »Methoden der Praxis« (Kap. 25 III.) ausführlicher zu thematisieren sein.

2. Intuitiv-automatische Strategien Ein Versuch, alle wesentlichen Prozesse richterlicher Entscheidungs­ findung mit den beiden genannten Strategien erklären zu wollen, kann jedoch augenscheinlich nur scheitern. Wenn etwa in einem Senat aufgrund divergierender Voten intensiv darüber diskutiert wird, ob man die bisherige Rechtsprechung aufrechterhält, modifiziert oder ändert, dann sind das keine Vorgänge, die sich unter der Perspektive der Verwendung einer »Take-the-Best-Heuristik« und dem »Less-IsMore-Effekt« erfassen lassen. Auch und insbesondere die ihrer Natur nach komplexen »Gesamtwürdigungen«, bei denen Informationen und ihre Relationen zueinander nicht quantifizierbar sind, sind mit »Faustregeln« nicht beschreibbar. Man muss deshalb auf Modelle

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III. Gemeinsame Bausteine eines kohärenztheoretischen Modells

zurückgreifen, die komplexere kognitive Prozesse wenigstens annä­ hernd adäquat erfassen können. A. Glöckner nutzt dafür Modelle, die »strukturell in Analogie zu neuronalen Verschaltungen aufgebaut sind« und die es erlauben, den »Prozess der automatischen Integration von Informationen in einem neuronalen Netzwerk konkret zu simu­ lieren«. Konzepte werden so »zu einer konsistenten Gesamtrepräsen­ tation zusammengefügt, in der die Widersprüchlichkeit zwischen den Konzepten minimiert wird«.1467 Mit der »konsistenten Gesamtrepräsentation« sind das »Prinzip der Konsistenzmaximierung« und dessen Konsistenzmechanismen angesprochen und Glöckner stellt damit auf »ein zentrales psycho­ logisches Prinzip« ab, »das sowohl den klassischen Arbeiten der Wahrnehmungspsychologie (Gestaltpsychologie, Koffka 1936; Köh­ ler 1947) als auch klassischen Ansätzen der Sozialpsychologie [...] zugrunde liegt.«1468

III. Gemeinsame Bausteine eines kohärenztheoretischen Modells Nun geht es hier um juristische Methodik und nicht darum, Simula­ tionsmodelle zu generieren, die für empirische Untersuchungen von Entscheidungsprozessen geeignet sind, indem sie die Vorgänge, die diese Prozesse ausmachen, hinreichend realistisch nachbilden. Doch auch die Methodik braucht zum Verstehen der Prozesse richterlicher Entscheidungsfindung adäquate Analyse- und Beschreibungsmodelle und für diese Zwecke hat sich das hier vertretene kohärenztheoreti­ sche Modell im Laufe der bisherigen Analysen durchaus bewährt. Lässt man die unterschiedlichen Zielrichtungen und Aufgaben beider Modelle beiseite, bestehen zwischen ihnen auch keine Widersprüche. Da beide Modelle im Grundsätzlichen die gleichen Prozesse erfassen wollen, müssen sie hier in ihren Grundstrukturen auch auf den glei­ chen Grundüberlegungen aufbauen. Ein Abgleich mit dem skizzierten und in der theoretischen Anlage sehr viel umfassenderen Modell der intuitiv-automatischen Strategien zeigt dann in der Tat auch eine weitgehende Übereinstimmung in den theoretischen Grundannah­ men beider Konzepte: 1467 1468

A. Glöckner 2006, S. 71 mit ausführlichen Nachweisen. A. Glöckner 2006, S. 74 ebenfalls mit ausführlichen Nachweisen.

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Kapitel 24: Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

1. »Konsistenz« ist weitgehend gleichbedeutend mit dem von mir durchgehend verwendeten Kohärenzbegriff. Das psychologische Prinzip der Kohärenz ist auch ein zentraler Baustein des kohärenz­ theoretischen Modells, das ich in dem Beitrag »Rechtsprechungstheo­ rie – Richterliche Rechtsanwendung und Kohärenz« entwickelt und dargestellt habe.1469 Ausgeklammert bleibt in diesem Zusammen­ gang zwar die philosophisch-theoretische Dimension dieses Kohä­ renzmodells; auf deren grundlegende Bedeutung wird jedoch am Schluss zurückzukommen sein (VI.). 2. Beiden Modellen ist weiterhin gemeinsam, dass sie sich unmittelbar auf die Neurowissenschaften beziehen und vom neu­ ronalen Netz ausgehen. Die Konzeption, die diesem Buch zugrunde liegt, geht dabei – zusammengefasst – von folgenden Überlegun­ gen und Annahmen aus: Wenn wir die Elementarvorgänge unseres Denkens, Erkennens und – übrigens untrennbar verwoben – auch unseres Fühlens beschreiben wollen, müssen wir die Frage beantwor­ ten, wie denn eigentlich aus der Flut von Reizen und den eigenen Kontexten kohärente Bilder, Gedanken, Vorstellungen, Wertungen und Handlungsentscheidungen entstehen. Und hier kommt dem Kohärenzbegriff in den Neurowissenschaften insofern eine ganz zen­ trale Bedeutung zu, als es um die gleiche Frage geht, nämlich wie aus der Flut von Reizen und den eigenen Kontexten kohärente Bilder, Gedanken, Vorstellungen und Handlungsanweisungen entstehen. Der Kohärenzbegriff beschreibt also einen Elementarvorgang.1470 Dem entspricht das Modell, den entscheidenden Mechanismus darin zu sehen, dass die Neuronen im Ensemble nicht nur gleichzeitig feuern, sondern in dieser Aktivität auch eine temporal kohärente Struktur1471 bilden. In dieser »temporal kohärenten Struktur« liegt

1469 Strauch 2005, S. 490 ff., 494 f.; zur Gestaltpsychologie in diesem Zusammen­ hang die Hinweise Strauch 2005, S. 498 und Strauch 2009, S. 408. Näher jetzt T. Fuchs 2010, S. 43 f.; 131 f.; 204. 1470 Grundlegend dazu G. M. Edelman 2007, u. a. S. 47 ff.; 58 f.; 111. 1471 T. Metzinger 1996, 595 ff., 609, unter Hinweis auf W. Singer. Hier insbesondere W. Singer, Hirnentwicklung oder die Suche nach Kohärenz, in: Sybille Krämer (Hrsg.) Geist – Gehirn – künstliche Intelligenz, Zeitgenössische Modelle des Denkens, Berlin 1994, 165 ff. = Ders. 2002.; ferner W. Singer: Binding by synchrony. Scholarpedia, 2(12):1657, 2007; – grundlegend: C. Gray, W. Singer: Stimulus-specific neuronal oscillations in the cat visual cortex: A cortical functional unit. In: Society of Neuro­ science Abstracts, 1987.

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IV. Gesicherte neurowissenschaftliche Grundlagen (Exkurs IV)

dann zugleich ein zentraler Schlüssel zum Verständnis unseres Den­ kens und unseres Erkennens.1472

IV. Gesicherte neurowissenschaftliche Grundlagen (Exkurs IV)1473 Der kohärenztheoretische Ansatz kann sich für seine Grundlagen auf allgemein als gesichert geltende Erkenntnisse stützen: Als gesichert können wir heute davon ausgehen, dass das »Nervensystem [...] mit grundlegenden Eigenschaften ausgestattet sein [muss,] die es ermöglichen, Kosten, Nutzen und Erfolgswahrscheinlichkeiten zu ›verrechnen‹“.1474 Ferner kann als gesichert angenommen werden, »dass beim Menschen Gebiete des frontalen Kortex systematisch bei der Optimierung von Entscheidungen aktiviert werden und dass bestimmte Areale (orbitofrontaler Kortex, dorsolateraler präfronta­ ler Kortex) an der Codierung entscheidungsrelevanter Variablen sowie an der Hemmung inadäquater Verhaltensweisen, die nega­ tive Konsequenzen zur Folge haben, beteiligt sind.«1475 Vereinfacht gesagt, es »blitzt« nicht nur (Lichtenberg), sondern es wird auch rational abgewogen, es finden Prozesse des Schlussfolgerns statt – es wird »gedacht«. Für unseren theoretischen Ansatz bedeutet das: »Optimales Entscheidungsverhalten lässt sich mithilfe neuronaler Netze modellieren. Entsprechende Modelle sind semirealistisch aus unterschiedlichen Funktionsmodulen aufgebaut, die Eigenschaften bekannter Strukturen, z.B. der Basalganglien, des orbitofrontalen Kortex und der Amygdala, repräsentieren. Die Module sind aus künst­ lichen Neuronen aufgebaut, die wechselseitig erregend und hemmend miteinander verschaltet sind und die aufgrund von qualitativem bzw. quantitativ abgestuftem Feedback lernen, d.h. deren synaptische Konnektivitäten sich aufgrund der Erfahrung ändern.«1476 Ausführlich dazu Strauch 2005, S. 485 ff., 489. Ergänzend wird auf den neurowissenschaftlichen Exkurs I, im Kapitel 13 III. 1. über Zeugenaussagen, den Exkurs II in Kapitel 14 II. 3. – »Gesamtschau« – und den Exkurs III im Kap 22 V. über die Mustererkennung hingewiesen. 1474 F. Rösler 2011, S. 225. 1475 F. Rösler aaO. S. 277. 1476 F. Rösler aaO.

1472

1473

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Kapitel 24: Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

Auf dieser Grundlage lässt sich dann auch der »Prozess der auto­ matischen Integration von Informationen in einem neuronalen Netz­ werk konkret […] simulieren«, d. h. ein entsprechendes Modell erstel­ len. Man spricht hier von sogenannten Parallel Constraint Satisfaction (PCS)-Netzwerken, bzw. PCS-Modellen.1477 Auch die intuitiv-auto­ matische Strategie Glöckners ist eine Entscheidungstheorie nach die­ sem PCS-Modell.1478

V. Die Entscheidungsfindung im Modell Die Prozesse, die erst beim »Fallverstehen« und dann bei der Falllö­ sung ablaufen, können in aller Regel nicht als das Abarbeiten linea­ rer Prüfprogramme verstanden werden. Es sind Rückkoppelungspro­ zesse, Prozesse im Wechselspiel des Hin- und Herwanderns des Blicks von rechtlichen Wertungen zu Tatsachen, von sehr konkreten Informationen zu sehr allgemeinen Argumenten, zwischen unter­ schiedlichen Mustern. In diesem Prozess bleiben auch Gewicht und Stellenwert von Informationen, Wertungen, Argumenten und Mus­ tern nicht gleich, sondern verändern sich. Bei jeder auch nur etwas kontroversen Senatsberatung wird man dieses Phänomen beobach­ ten können: Informationen und Gesichtspunkte, die am Anfang im Vordergrund standen, spielen im Verlauf keine Rolle mehr, werden verdrängt – oder tauchen am Schluss wieder auf und bestimmen die Entscheidung. Es sind diese Grundsituationen richterlicher Entscheidungsfin­ dung, die man versucht, mit dem PCS-Modell abzubilden. In der Studie „›Neurorecht‹ ohne Psychologie?« beschreibt Glöckner den Grundgedanken des Modells wie folgt: »Nach dem PCS-Modell beginnt jede Entscheidung mit der Wahrneh­ mung eines Entscheidungsproblems. Dies führt zur automatischen Aktivierung einer Vielzahl assoziierter Informationen, die ein tempo­ rär aktiviertes Netzwerk bilden. Umgehend nach Konstruktion dieses Netzwerks setzen automatische Prozesse der Konsistenzmaximierung ein, die eine möglichst widerspruchsfreie Interpretation der aktivier­ ten Informationen herstellen. Diese Konsistenzmaximierungsprozesse sind fundamentaler Bestandteil unseres Wahrnehmungssystems und 1477 1478

Zusammenfassend dazu T. Ostermann 2010, S. 32 ff. T. Ostermann 2010, S. 54 ff.

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V. Die Entscheidungsfindung im Modell

werden auch bei Entscheidungen genutzt. Mittels dieser Konsistenz­ maximierungsprozesse werden unbewusst die verschiedenen mögli­ chen Interpretationen einer Entscheidungssituation gegeneinander abgewogen und die wahrscheinlichste Interpretation wird hervorgeho­ ben. Dies wird realisiert durch die Abwertung von Informationen, die gegen diese Interpretationen sprechen, und die gleichzeitige Auf­ wertung von Informationen, die diese Interpretation stützen. Das Ergebnis ist eine mentale Repräsentation, welche die Entscheidung leitet. In vielen Alltagssituationen läuft dieser Prozess vollständig automatisch ab: Eine Situation wird wahrgenommen, eine komplett unbewusste mentale Repräsentation (primäres Netzwerk) gebildet und das bevorzugte Objekt gewählt.«1479

Im Zusammenspiel mit diesen automatischen Prozessen kommen aber auch Denkprozesse zum Einsatz, die auf bewussten Prozessen basieren. Sie greifen ein, »wenn keine, der Wichtigkeit der Situa­ tion angemessene, gute Interpretation gefunden werden kann.«1480 Ausdrücklich auf das Rechtssystem bezogen, konkretisiert Glöckner diesen Bereich mit folgenden Feststellungen: »Der Einsatz deliberater [= bewusster] Prozesse führt zur Prüfung und Abwägung verschiedener Interpretationen sowie zu einer Anreiche­ rung des Netzwerks mit Informationen. Dies erhöht die Wahrschein­ lichkeit, dass einerseits spontane Fehlinterpretationen vermieden und andererseits persönliche Werte und Einstellungen in der mentalen Repräsentation (adäquat) berücksichtigt werden.«1481 Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung bedeutet in diesem Zusammenhang dann, dass der Richter verpflichtet wird, »alle plausiblen alternativen Inter­ pretationen der Sachlage zu berücksichtigen. Die freie Beweiswürdi­ gung nutzt die menschlichen Fähigkeiten, viele Informationen zu integrieren und die Stimmigkeit der resultierenden Interpretationen (Konsistenz) gegen ein Kriterium (Schwellenwert) zu prüfen. Die Vor­ gabe zur Berücksichtigung alternativer Interpretationen verpflichtet Richter zum Einsatz bewusster Prozesse (deliberate Rekursion / freier Wille im weiteren Sinne), um global und nicht nur lokal optimale Lösungen zu identifizieren. Außerdem wird bewusst geprüft, ob alle

1479 A. Glöckner 2008, S. 19 f. »Neurorecht« ohne Psychologie? Die Rolle verhal­ tenswissenschaftlicher Betrachtungsebenen bei der Ableitung rechtspolitischer Emp­ fehlungen, Von der Neuroethik zum Neurorecht?, issue 2008/18, Bonn, Max Planck Institute for Research on Collective Goods, PDF. 1480 A. Glöckner 2008, S. 20 f. 1481 A. Glöckner 2008, S. 23.

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Kapitel 24: Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

Informationen in der Interpretation (mentale Repräsentation) enthal­ ten sind und die reale Situation adäquat abbilden.«1482

Die von Glöckner u. a. durchgeführte experimentelle Untersuchung des Entscheidungsverhaltens von Schöffen zeigt dann auch, wie not­ wendig eine Reflexion der intuitiv gefundenen Ergebnisse – für unsere Fragestellung: wie notwendig eine rationale Kontrolle der Musterfindung – ist. Die Untersuchungen ergaben hier folgende, auch konkret untersuchten, Urteilsverzerrungen: Informations­ verzerrungen mit dem Fazit »Schöffen verzerren die Interpretation von Informationen, so dass diese das bevorzugte Urteil stärker unter­ stützen. Diese Verzerrungen sind besonders stark bei Verurteilungen und sie steigen mit einer steigenden Präferenz für Konsistenz.«1483 Falscher Umgang mit Wahrscheinlichkeiten: »Fazit: Schöffen berücksichtigen Basiswahrscheinlichkeiten nicht ausreichend in ihren Entscheidungen. Ihre Leistungen sind vergleichbar mit denen der Studierenden.«1484 Ankereffekte: Um es nochmals in Erinnerung zu rufen, hier besteht die Urteilsverzerrung darin, dass Menschen ihre Urteile an vorgegebenen Werten »ankern«, d.h. dass sich Menschen an diesem vorgegebenen »Ankerwert« orientieren und somit ihr eigenes Urteil davon beeinflussen bzw. verzerren lassen. Hier zeigen die Befunde, »dass auch Schöffen bei der Festlegung des Strafmaßes auf relevante und irrelevante Anker reagieren«.1485

VI. Konsistenzmaximierungsprozesse vs. »richtige Entscheidung« Gewinn und Nutzen, die die entscheidungstheoretischen Ansätze erbracht haben, führen zunächst zu zwei Schlussfolgerungen: 1. Zur Analyse und Erklärung des richterlichen Fallverstehens und der methodischen Falllösung können wir nicht von Entschei­ dungsstrukturen ausgehen, die mit linearen Prüfprogrammen abge­ bildet werden könnten. Von konkreten Problemen abgesehen, die sich über reduktionistische Entscheidungsstrategien und solche der 1482 1483 1484 1485

A. Glöckner 2008, S. 24. A. Glöckner u. a. Schöffenbericht, S. 15. A. Glöckner u. a. Schöffenbericht, S. 17. A. Glöckner u. a. Schöffenbericht, S. 17 – vgl. dazu Kap. 23 IV. 1.

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VI. Konsistenzmaximierungsprozesse vs. »richtige Entscheidung«

»rationalen Wahl« entscheiden lassen, werden Informationen und Argumente vielmehr in einer Gesamtinterpretation zusammenge­ fügt. Das heißt, rivalisierende Argumente und Informationen werden im Entscheidungsprozess selbst verändert und nicht erst danach zur Reduktion von Dissonanz eingesetzt.1486 Dies gilt ebenso für das Suchen und Finden von Mustern wie für das Argumentieren mit Mustern und die Entscheidungsfindung über Muster. 2. Dieser Befund der Gesamtinterpretation führt zu der These, dass »Entscheidungen auf konstruktiven Prozessen basieren, in denen Informationen aktiv verändert und zu einem stimmigen Gesamtbild zusammengefügt werden«.1487 Dem Entscheidungsprozess liegen mit anderen Worten »Mechanismen zur Herstellung von Konsis­ tenz«1488 zugrunde. – Diese Formulierung kann jedoch eine falsche Assoziationskette auslösen und deshalb ist an dieser Stelle eine weitere Differenzierung geboten:

1. Die notwendige Unterscheidung von »Konsistenz« im Sinne intuitiv-automatischer Entscheidungstheorien und »Kohärenz« Den »Mechanismen zur Herstellung von Konsistenz« kommt in dem intuitiv-automatischen Modell die zentrale, struktur-bestimmende Bedeutung zu. Dieser Feststellung liegt jedoch nicht das gleiche Verständnis von »Konsistenz«/ »Kohärenz« zugrunde, das gemeint ist, wenn in dieser Methodenlehre Methode als Herstellung von Kohärenz verstanden wird. Die intuitiv-automatische Entscheidungstheorie hat vornehm­ lich die Funktion, Messverfahren für empirische Untersuchungen zu liefern. Der »Konsistenz-“ bzw. »Kohärenzbegriff« dient der Theorie dazu, die dafür entscheidenden kognitiven, psychologischen Mecha­ nismen zu erfassen. Entsprechend können beide Begriffe auch in der Methodenlehre als gleichbedeutend verwandt werden, soweit es um kognitive Prozesse psychologischer Natur geht. Prozesse der richterlichen Tatsachen- und Rechtsgewinnung laufen jedoch nicht allein auf dieser Ebene, auf der »Konsistenzmechanismen« als »enge 1486 1487 1488

A. Glöckner 2006, S. 76. A. Glöckner 2006, S. 221 mit Nachweisen. A. Glöckner 2006, S. 75.; Hervorh. D. Verf.

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Kapitel 24: Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

Anbindung an das eigene Wertesystem« und als »Aktivation des persönlichen Wertesystems«1489 funktionieren. Eine Methode des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens muss diese Ebene intuitiv-autonom ablaufender Prozesse zwar beschreiben und reflektieren, ihre ureigene Funktion ist es jedoch, diese Prozesse dann auch normativ zu steuern. Wesentlich auf dieser Ebene sind nicht nur die Vermeidung von Urteilsverzerrungen, sondern primär die Maßstäbe für das »richtige« Urteil. Im Mittelpunkt steht so zunächst die bewusste Entscheidung nach methodischen Regeln. Entscheidend für die »Kohärenz«, die auf dieser Ebene herzustellen ist, kann also nur die Anbindung an das Recht sein und nicht die »enge Anbindung an das eigene Wertesystem« des Richters. Anbindung an das Recht bedeutet aber, wie im Laufe der bisherigen Untersuchungen immer wieder betont, auch Anbindung an dessen Determinanten mit deren Elementen: dem Hypertext Recht, dogmatischen Sätzen, Prin­ zipien, Wertungen, Leitbilder etc. Das gilt für die Interpretation von Informationen und Tatsachen wie für die Auslegung und Handhabung von Normen und Rechtsgrundsätzen. Aber nichts anderes gilt auch für den Umgang mit Mustern und die Entscheidungen über Muster.

2. Von der Mustererkennung zum Urteil – zwei grundlegende Einsichten Was führt den Richter dazu, diesem Muster und nicht jenem Muster zu folgen und damit die letztlich getroffene Entscheidung anderen Entscheidungsmöglichkeiten vorzuziehen? – Dies war die Ausgangs­ frage dieses Kapitels. Dass uns die Entscheidungstheorien auf diese Frage mit einer klaren Beschreibung der wesentlichen Denkschritte oder doch wenigstens mit einem eindeutigen Modell antworten könn­ ten, war nicht zu erwarten. Im Ergebnis brachte die Diskussion der Entscheidungstheorien jedoch einen klareren Blick auf die Struktur richterlicher Entscheidungsprozesse und damit zugleich zwei grundlegende Einsichten in diese Prozesse. 1.

1489

Auch die Vorgänge, in denen Muster gebildet, wahrgenommen und präferiert werden, laufen nicht durchgehend bewusst, son­ dern weitgehend intuitiv-autonom ab. A. Glöckner 2006, S. 236.

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VI. Konsistenzmaximierungsprozesse vs. »richtige Entscheidung«

2.

Eine »richtige Entscheidung« kann jedoch letztlich nicht über automatische Prozesse der Konsistenzmaximierung gewonnen werden, sondern nur über die Herstellung von Kohärenz.

Es gilt deshalb, die besondere Rolle zu verstehen, die die juristischen Muster bei der Herstellung von Kohärenz spielen. Sie spielen diese Rolle in den kreativen Phasen des Rechtsermittlungsprozesses – sie sind wesentliche Strukturelemente des juristischen Denk- und Argumentationsraumes, d. h., sie stellen juristische Denkfiguren zur Verfügung, mit denen ein Zugang zu den Rechtsfragen gesucht und die Antworten auf sie gefunden werden sollen. Doch wie der »Witz« als »der Quell der Einfälle« der »Strenge der (bestimmenden) Urteils­ kraft (iudicium discretivum)« bedarf1490, ist das Muster daraufhin zu überprüfen, ob sich die rechtliche Position, die es vermittelt, auch in einen akzeptierten Norm- und Prämissenrahmen »einfügt« – oder man diesen mit dem gewählten juristischen Muster so »umbauen« kann, dass sich dieses seinerseits wieder in einen solchen Rahmen einfügt. Diese Prüfung muss in zwei Schritten erfolgen: 1.

2.

Zunächst ist zu fragen, ob die ins Auge gefassten Muster für das zu lösende Problem überhaupt einen brauchbaren Schlüssel bieten können (Geeignetheit, d. h. Verträglichkeit gegenüber dem Normen- und Prämissenrahmen; Vergleichbarkeit mit anderen Anwendungsfällen). Stehen nach dieser Prüfung mehrere Muster zur Auswahl, kommt es dann entscheidend auf die Inhalte und Präferenzen an, die sie rechtlich vermitteln (transferieren), d. h. auf die Zwecke, für die sie einsetzbar sind und die mit ihnen erreicht werden sol­ len und können. Die Prüfung auf »Stimmigkeit« muss auf dieser Ebene nach den »guten« und den »besseren Gründen« fragen.

»Richtig« ist dann das Muster, das sich unter Abwägung aller Umstände (Umfassendheit) als ein »Schluß auf die beste Erklä­ rung«1491 darstellt. Kohärenz kann in Fällen nicht zwingender Schlüsse nur graduell sein. Voraussetzungen und Bedingungen einer kohären­ ten Entscheidung fordern dann von dem Richter, abstrakt formuliert, 1490 Kant, Anthropologiekolleg, S. 230, in: Sabina Laetitia Kowalewski / Werner Stark (Hg.), Königsberger Kantiana, Kant-Forschungen 12. 2000. VIII, S. 183–454. Vgl. Kap. 23 II. 1491 Aus einer allgemeinen kohärenztheoretischen Perspektive in diesem Sinn vor allem Th. Bartelborth 1996, S. 10; näher Kap. 8 VII. 2.

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Kapitel 24: Von der Mustererkennung zum Urteil – Entscheidungstheorien

eine schlüssige Antwort auf die Frage, ob p allein oder zusammen mit p1, p2 usw. gute Gründe für (das Muster) q liefern oder nicht die besseren Gründe für non-q bzw. für q2 sprechen. Konkret ist auf diese Formel im Schlusskapitel zurückzukommen.

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Teil F Die »richtige Entscheidung« – Herstellung von Kohärenz

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Kapitel 25: Methoden der Praxis im Wandel

Versteht man unter Methode nicht nur einen Kanon feststehender Regeln – herkömmlich die Auslegungs- und Subsumtionsregeln –, sondern bestimmt sie von der Praxis her, haben wir es nicht mehr mit der juristischen Methode zu tun, sondern mit deren Pluralität, also den »Methoden der Praxis«. Diese Pluralität ist in einem ersten Abschnitt zu skizzieren (I.). Für eine Typisierung ergibt sich dann zunächst eine kaum übersehbare Vielfalt von Kriterien und sie kann deshalb mit Erkenntnisgewinn nur unter ausgewählten Perspektiven vorgenommen werden. Angesichts der prägenden Kraft, die heute der Informationstechnik und der Datenbanknutzung für den »Richterar­ beitsplatz« zukommt, ist dies auch der zentrale Gesichtspunkt, unter dem im Abschnitt II. die Methoden der Praxis konkreter diskutiert werden sollen.

I. Zur Typik methodischer Regeln Ein erster Schritt, die methodischen Regeln und den Umgang mit ihnen zu typisieren, wird nach dem hier immer zugrunde gelegten weiten Methodenbegriff von folgender Differenzierung ausgehen müssen: Zu unterscheiden ist einmal zwischen den Grundregeln selbst – nämlich zwischen Such- und Begründungsregeln – und zum anderen zwischen diesen und den Handlungsmustern1492, nach denen sie konkret angewandt werden – den Arbeits- und Anwen­ dungsregeln.

1. Such- und Begründungsregeln Zu den Suchregeln gehören insbesondere die Auslegungsregeln und die Regeln, nach denen der Sachverhalt zu ermitteln ist. An die 1492

Vgl. Kap. 22 I. 2.

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Kapitel 25: Methoden der Praxis im Wandel

Auslegungsregeln schließen sich die Rechercheregeln an, also die Regeln über die Nutzung von Rechtsprechung, Literatur und weiteren Erkenntnisquellen. Zugleich gibt es sowohl für die Rechts- als auch für Tatsachenermittlung Stoppregeln, Regeln, die bestimmen, dass der Richter nicht weiter ermitteln darf oder jedenfalls nicht weiter zu ermitteln braucht. Stoppregeln bestehen auch für die Begründungs­ regeln. »Klassische« Begründungsregeln sind die Subsumtionsre­ geln oder, allgemeiner, die Regeln, die sich daraus ergeben, dass der Richter seiner Entscheidung eine Rechtsregel zugrunde legen und sie aus dieser ableiten muss (Regelbindung – Kap. 16). Diese Begründung muss auch in sich und im Hinblick auf die Gegenargumente der Prozessbeteiligten nachvollziehbar sein; d. h., der Richter muss sich in der Entscheidungsbegründung mit ihnen auseinandersetzen. Hinzu kommt die Gruppe der Regeln, die einzuhalten sind, wenn eine Entscheidung Kohärenzkriterien genügen soll (Kap. 26).

2. Arbeits- und Anwendungsregeln Soweit hinter diesen Grundregeln nicht konkrete Rechtsnormen ste­ hen (z. B. Folgerungen aus dem Gebot des rechtlichen Gehörs), sind sie offene Regeln. Die Anwendung methodischer Regeln lässt sich, wie immer wieder betont, selbst nicht lückenlos in Regeln fassen und das heißt, darüber, wie diese gehandhabt werden, lassen sich keine allgemeinen Regeln aufstellen. Nutzt man das Bild einer linearen Skala, dann kann man die möglichen Handhabungsmuster auf ihr auftragen, indem man mit der rein situativ bestimmten Anwendung beginnt und auf der anderen Seite bei höchst stabilen Mustern endet. So sind etwa die Begründungstiefe und Intensität der Tatsachenund Rechtsermittlung jeweils ganz individuell fall- und situations­ abhängig. Andererseits gibt es Standards, die durch den »Stil« des Gerichts (»des Hauses«), des Gerichtszweiges und der Instanz bestimmt werden und sich oft in einem entsprechenden Habitus, in einem »Das-macht-man-so« niederschlagen. Sie wollen beachtet werden und bei Nichtbeachtung drohen Akzeptanz- und Reputations­ verlust. Der Richter am AG und der Richter am BGH wissen, dass sie insoweit unterschiedlichen Arbeits- und Anwendungsregeln unter­ liegen. Wie sich an der Informationstechnik deutlich zeigt, werden solche Standards – deren Vorgaben naturgemäß an sich schon inner­ halb einer großen Bandbreite variieren – auch unmittelbar durch die

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II. Wandel durch moderne Informationstechnologien

jeweils gegebenen Arbeitsmittel und Arbeitsbedingungen geprägt. Während ein Amtsrichter früher ohne erheblichen Zeitaufwand oft nicht einmal auf einen aktuellen Standardkommentar zurückgreifen konnte, hat er über Datenbanken heute leichten und schnellen Zugriff auf nahezu den gesamten »Hypertext Recht«, in immer stärkerem Ausmaß auch auf wenigstens die Kommentarliteratur. Entsprechend verändern sich auch die Suchregeln. Um es klar zu sagen: Weil ver­ meidbar, wird das Übersehen einer noch nicht überholten einschlä­ gigen höchstrichterlichen Entscheidung als Verletzung einer Suchre­ gel zum methodischen Fehler.

II. Wandel durch moderne Informationstechnologien Diese Veränderungen der Arbeitsregeln und richterlichen Hand­ lungsmuster gehen aber wesentlich tiefer, als die Beispiele des schnel­ leren und besseren Zugriffs auf Literatur und Rechtsprechung erken­ nen lassen, und sind nicht nur quantitativer, sondern auch qualitativer Art. Praxisnah von »Methoden der Praxis« zu sprechen, muss deshalb heute zu dem Versuch führen, verschiedene Grundtypen des metho­ dischen Umganges mit Datenbanken und Informationstechnik zu unterscheiden, zu beschreiben und sie sodann auf ihre Auswirkungen auf methodische Standards hin zu analysieren. Mit vier Typen – nennen wir sie die »Methode Simile«, die »Methode Stachelschwein«, die »Methode Collage« und die »Methode Sherlock Holmes« – soll ein solcher Erklärungs- und Analyseansatz gesucht werden. Ein idealtypisches Prüfprogramm – »Methode Akademicus« – soll im Kontrast dazu die Vorteile der Informationstechnik, aber auch die Gefährdungen bis zur Verdrängung methodischer Standards deutlich machen. Zuvor sind jedoch zusammenfassend die entscheidenden Veränderungen zu skizzieren: Der »Wandel des Rechts durch juristische Datenbanken«1493 ist ein Wandel des richterlichen Arbeitsplatzes und des Arbeitsumfeldes insgesamt durch die modernen Informationstechnologien. Wesent­ 1493 Strauch, Referat auf dem 15. Deutschen Verwaltungsrichtertag, Weimar 2007, DVBl 2007, 1000 (hinter dem Originaltitel stand ein Fragezeichen); veröffentlicht auch in: Dokumentation des Verwaltungsrichtertages 2007, Stuttgart 2008. Ferner Strauch 2009, S. 387 ff.; die folgende Darstellung folgt in den Grundgedanken diesem Beitrag.

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lich sind dabei nicht nur die grundlegenden Veränderungen durch die Datenbankrecherche,1494 sondern mehr noch: die Integration von Datenbanknutzung und Textproduktion (die Erstellung von Tatbestand und Gründen) am juristischen Arbeitsplatz. Dieser Wechsel vom Papier, Diktat und Buch zum Bildschirm ist weit mehr als (nur) ein Wechsel im Medium. Einerseits verbessert der in Datenbanken digi­ talisierte juristische Datenbestand in einer bisher nicht vorstellbaren Qualität den Zugriff auf die für die Entscheidung notwendigen juris­ tischen Informationen: Man bekommt die Informationen schneller und bequemer; sie sind in der Regel aktueller und man bekommt mehr Informationen – was sowohl für die Zahl der Quellen/Judikate als auch für die Erschließungstiefe gilt. Schließlich lassen sich die Informationen wesentlich schneller, sicherer und vor allem bequemer verarbeiten. Stichworte: markieren, kopieren, einfügen. Diese grund­ legende Verbesserung führt aber auch zu einem Sprung von der Quantität in eine andere (keineswegs immer bessere) Qualität. Es kommt zu einer Veränderung der juristischen Techniken der Problemund Falllösung. Es ändert sich die Art der Rechtsfindung – und damit auch das Recht selbst. Zum einen prägt sich die Hypertextstruktur des Rechts (Kap. 17 II. 2.) immer stärker aus. Die Fülle der Informationen, die relevant sein können, nimmt zu, während sich Regeln zum rationalen Umgang mit solchen Datenmengen erst noch herausbilden müssen (bei der Google-Recherche nennt man das »Mülltrennung«). Ein unmittel­ barer Blick vom Fall auf den Regelungsgehalt der Norm wird so leicht verstellt. Zum anderen gehen im Arbeitsprozess des »copy and paste« Herstellung und Darstellung von Entscheidungen – traditionell eher abgeschichtete Vorgänge – immer mehr ineinander über. Die generelle Einführung der elektronischen Akte wird diese Integration richterlicher Arbeit in Architektur und Strukturen der ein­ gesetzten Informationstechnik demnächst noch deutlich verstärken. Noch fehlen empirische Untersuchungen darüber, welche Aus­ wirkungen dieser Wandel genau und im Einzelnen auf das Recht und die Rechtsprechungspraxis hat. Es bleibt, wie gesagt, zur Auf­ hellung und Konkretisierung des Phänomens nur der Versuch, die Probleme mit Blick auf die Praxis anhand von Typen des methodischen Umgangs mit Datenbanken zu beschreiben. 1494

Vgl. dazu ausführlicher Strauch 2007, S. 1001 f.

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III. Informationstechnik und die Methoden der Praxis

III. Informationstechnik und die Methoden der Praxis Herkömmlich haben Richter ihre Fälle wohl schon immer auf zwei sehr unterschiedliche Weisen gelöst: einmal über das Votieren, d. h. die gutachterliche Prüfung der Rechtslage, oder nach der »Methode Simile«, also durch die Übernahme einer Entscheidung zu einem gleich gelagerten Fall. Die Falllösungsstrategien »Methode Stachel­ schwein« und die »Methode Collage« haben dagegen ihre beson­ dere Bedeutung erst durch die Informationstechnik bekommen. Bei der »Methode Sherlock Holmes« schließlich geht es, vereinfachend gesagt, um schöpferische Rechtsfindung und Judiz, ein altes Problem der Methodik, das aber durch die Informationstechnik neue Akzente bekommt. – Beginnen wir mit der klassischen Methode juristische Praxis, der

1. »Methode Simile« Diese Methode bedient sich ganz pragmatisch der Analogie. Es wer­ den konkrete Fälle »früherer, ähnlicher Probleme gesucht und deren Lösung übernommen oder, falls erforderlich, manipuliert«, wie es unter dem Stichwort »fallbasiertes Schließen« im Wörterbuch der Kognitionswissenschaft treffend formuliert ist.1495 Juristisch werden die Lösungen mithin auf der Ebene der Einordnung in konkrete Vergleichsfälle gesucht, d. h. indem man per Volltextrecherche in Datenbanken Fälle mit gleichen oder vergleichbaren Sachverhaltsele­ menten ermittelt. – Weniger allgemein: Der Richter ist eingearbeitet, er kennt sich in seinem Dezernat und in seiner Rechtsmaterie aus. Der Fachjurist hat die Rechtsprechung »im Griff«. Das kann auch durchaus bildlich verstanden werden: Der neue Fall wird mit einem Griff ins Regal zum Ordner mit den schon entschiedenen und vergleichbaren Fällen bearbeitet und gelöst. »Wiedervorlage mit Simile« lautete nach einem alten Amtsrichterwitz die entsprechende Verfügung an die Geschäftsstelle. In diesem Bild ergeben sich dann aber wesentliche Veränderun­ gen, wenn an die Stelle des Akten-Ordners die Nutzung elektroni­ scher Datenbanken tritt. Mit der bei Google eingeübten Suchtechnik 1495 G. Weber, Art. »Schließen, fallbasiertes«, in: Strube u. a., Wörterbuch der Kogni­ tionswissenschaft, Stuttgart 1996, S. 604 f.

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ermöglicht sie nämlich auch, in nicht bekannten Rechtsmaterien das Auffinden von Entscheidungen mit möglichst nahe verwandten, ver­ gleichbaren Sachverhalten. – Gibt es dagegen etwas zu erinnern? Im juristischen Alltag nicht. Denn wenn sich die Lösung eines Falles kohärent in die vorhandene Rechtsprechung einpasst, geht das in Ordnung.

2. »Methode Stachelschwein« Unter dieser Überschrift berichtete das Rechtshistorische Journal1496 von einer Redensart der Jurastudenten der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts, die da lautete: »Er arbeitet nach der Methode Stachel­ schwein« und den Juristen meinte, der »mangels geringer abstra­ hierender Denkkraft und fehlender Beherrschung der juristischen Systematik nicht in der Lage sein wird, die für einen Fall einschlägigen Normen zu finden. So würde er bei einem Streit zwischen zwei Personen über das Eigentum an einem Stachelschwein nicht nach dem Herausgabeanspruch fahnden oder bei einer Zusammenrottung von Stachelschweinen auf den städtischen Straßen nicht über öffentliche Sicherheit nachdenken, sondern in jedem Fall im Index seiner Geset­ zessammlung unter dem Stichwort ›Stachelschwein‹ nachsehen. – Vergebens natürlich.« Nun, dank digitaler Technik der Volltextrecherche im Hypertext ist eine solche Methode heute keineswegs mehr grundsätzlich vergeb­ lich. Wenn nicht über das Stichwort »Stachelschwein«, so vielleicht unter dem Suchwort »Igel«. Das Problem ist heute oft nur noch eines der Fülle der ausgewiesenen Informationen. Der Jurist muss unter diesen Bedingungen die Falllösung nicht mehr über dogmatische Strukturen und Kategorien erarbeiten, sondern kann es viel einfacher und schneller, indem er auf der konkreten Sachverhaltsebene die Stichworte sucht, mit denen sich der Konflikt auf der Sachebene beschreiben lässt. Die Datenbank führt ihn dann, so die meist nicht unbegründete Hoffnung, – ohne jede juristische Einordnung1497 – zu D. Simon; Bd. 20, 2001, S. 525. Nicht untypisch ist die Änderung der Suchmaske bei juris. War früher die Recherche über Suchbegriffe – also über juristische Einordnungen – vorgegeben, läuft die Suche jetzt – nach Google-Vorbild – über frei einzugebende Wörter, von denen man hofft, dass sie zu einem möglichst konkreten Link führen. 1496 1497

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einem »Simile«.1498 Effizient im Sinne eines geringeren Arbeitsauf­ wandes pro Fall ist diese Strategie sicher. Als heuristische Strategie verwandt, um den Fall möglichst schnell und konkret in juristische Problemfelder einordnen zu können, ist sie auch keinen methodischen Einwänden ausgesetzt. Je weniger man in einem Sachgebiet »zu Hause ist«, desto größer ist jedoch die Gefahr, einen falschen Fall zu entscheiden. Eine Kontrolle der juristischen Einschätzungen (im Prüfschema die Ebene 2.1. – Einordnung in Strukturen) ist also ebenso unumgänglich wie ein genauer Vergleich auf der Sachverhaltsebene, ob wirklich alle relevanten Sachverhaltsumstände vergleichbar sind. Unser »eigent­ hümliches Verähnlichungsvermögen«, von dem Kant sprach,1499 pro­ duziert sonst schnell eine Falllösung, die keine ist, weil Sachverhalt und Entscheidungsgründe nicht zusammenpassen oder die Gründe in sich nicht kohärent sind.

3. »Methode Collage« – »copy and paste« Wie die »Methode Simile« gehört auch die »Methode Collage« zu den Techniken der Entscheidungsfindung und -begründung, die auch ohne elektronische Datenbanken immer schon praktiziert wurden. Sie durfte sich nur als solche nicht allzu deutlich zu erkennen geben und machte sich das Halbdunkel zu Nutze – den Umstand, dass die Übergänge zwischen beiden oft fließend erscheinen. Ist der Fall »gleich« oder nur »ähnlich«, wo genau liegt die Vergleichbarkeit, wo geht die Analogie in Assoziation über? Das praktische und effiziente Zusammenspiel von Recherche und Textverarbeitung scheint diese Grenzen immer stärker zum Verschwimmen zu bringen. Die im Hypertextkonzept »angelegten modularen und assoziativen Strukturen«1500 schaffen auf einfachste Art die vielfältigsten Möglichkeiten, die Datenbank in den verschiede­ 1498 Ein Beispiel aus der Praxis: Eine Mandantin unterschrieb ein (bewusst) mehrdeu­ tig gestaltetes Formular für einen Insertionsauftrag und erhielt prompt eine Rechnung über 980 Euro. Die Eingabe der Stichworte: »Arzt«, »Verzeichnis«, »zugesandt«, »unaufgefordert« führte – ohne Verwendung irgendeiner juristischen Kategorie – zu Fundstellen, die mit der Funktion »copy and paste« einen Schriftsatz mit einem brauchbaren juristischen Argumentationsgang ergaben. 1499 Vgl. Kap. 23 II. 1500 Strauch 2009, S. 395.

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nen Stufen des Prüfungsschemas nach Begriffen, Definitionen, Argu­ menten und Fallbeispielen abzufragen, die »passen« könnten, und sie mit der Funktion »copy and paste« in den Argumentationsgang einzu­ fügen. Auf den wesentlichen Schritt – »Passt es wirklich?«, »Ergeben die gefundenen Informationen wirklich einen linear strukturierten, durchdachten Begründungszusammenhang?« – wird verzichtet. Was auf den ersten Blick assoziativ einleuchtet, wird auf Stringenz nicht mehr weiter geprüft. Problematisch ist das in zwei Richtungen: Zum einen wird auf diese Weise die Relevanz der übernomme­ nen Argumente – insbesondere aus Leitsätzen – nicht hinreichend reflektiert und überprüft. Für Gesetzesanalogie und Rechtsanalogie hat die Methodenlehre wohldefinierte Ähnlichkeitsbedingungen ent­ wickelt.1501 Ein Einstieg in solche Analogieschlüsse beginnt zwar, wie im Teil E gezeigt, oft mit assoziierenden Überlegungen, diese sind dann aber auf die notwendigen Ähnlichkeitsbedingungen hin zu überprüfen. Für den Vergleichsfall, das Präjudiz, fehlen – anders als im anglo-amerikanischen Recht – entsprechend ausgefeilte Kriterien und Anwendungsregeln. Wir übernehmen in unserer Rechts- und Methodentradition Leitsätze oder gar später redaktionell hinzuge­ fügte »Orientierungssätze« weitgehend mit methodischer Skrupello­ sigkeit. Nach unserer methodischen Schulweisheit scheint das kein Problem zu sein. Es ist aber ein Problem. Das leuchtet unmittelbar ein, wenn der Präzedenzfall die Qualität einer Rechtsquelle hat oder doch als solche behandelt wird. Denn ein nur ungefähr passender Rechtssatz passt eben nicht genau und mit einem nur ungefähr passenden Gesetz würde sich ein Gericht methodisch sicher nicht ohne Weiteres zufriedengeben. Aber gerade auch dann, wenn Feststellungen einer zitierten Entscheidung nur als Argumente verwandt werden, kommt es ent­ scheidend darauf an, wie die Argumentationskette aus den Zitaten aufgebaut wird. Werden sie zu Argumenten in einem eigenständig durchdachten Gedanken- und Ableitungszusammenhang, wird so im gleichen Zuge auch dokumentiert, dass und wie sich die Gründe in einen umfassenderen juristischen Argumentationszusammenhang einfügen. Das heißt meist aber auch, dass der Gedanken- und Ablei­ tungszusammenhang, soll er eigenständig durchdacht sein, auch eigenständig formuliert sein muss. Darin, dieses nicht zu tun, liegt die Gefahr der Integration von Recherche und Textverarbeitung. 1501

Vgl. etwa U. Klug 1966, S. 97 ff.; R. Zippelius 2012, § 11 II.

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Werden die Gründe in Collagetechnik aus Versatzstücken, die nach dem Motto »könnte passen« – »copy and paste« assoziiert werden, kompiliert, ist das Ergebnis dann meist ein Musterbeispiel für eine inkohärente Entscheidung.1502

4. »Methode Sherlock Holmes« Das Feld der üblichen Routinen mag mit den eben geschilderten Methoden im Wesentlichen typisiert sein. Doch es gibt methodische Situationen, die mit den üblichen Schemata und Techniken einer strukturierenden Problemlösung nicht erfasst werden: Der Jurist wird mit einem Lebenssachverhalt konfrontiert, für den er zunächst keinen oder jedenfalls keinen ihm brauchbar erscheinenden rechtlichen Ein­ stieg findet. Wo also mit der Subsumtion und Recherche beginnen? Wenn über einen solchen Lebenssachverhalt noch nicht entschieden ist, helfen auch die Methoden »Simile« und »Stachelschwein« nicht weiter. Und selbst wenn die Datenbanken Material liefern, greift auch dann das traditionelle Prüfungsschema zunächst nicht recht, wenn der zu lösende Fall nicht in die gefundene Fallreihe passen will – entweder weil die Sachverhalte »irgendwie« nicht vergleichbar sind oder das »Judiz« meint, dass das gefundene Lösungsschema dem Fall »irgendwie« nicht gerecht wird. Worum geht es bei diesem »Irgendwie« methodisch? Worum es bei diesem »Irgendwie« methodisch geht, ist im Teil E ausführlich erörtert worden. Es sollen Hypothesen oder Regeln generiert werden, die gleichzeitig ein Fallverständnis ermöglichen. Wir bewegen uns also in dem Bereich der von Peirce entwickelten Schlussweise der Abduktion.1503 Wenn ich auch in diesem Zusammenhang nochmals auf das Thema Mustererkennung, Muster- und Hypothesenbil­ dung zurückkomme, dann, weil sich im Bild der literarischen Figur des »Meisterdetektivs« Sherlock Holmes methodische Grundregeln der richterlichen Praxis anschaulich machen lassen, die zu den vorge­ nannten Methoden geradezu im Kontrast stehen. Es geht um die Situation, in der dem Richter zunächst weder Datenbanken noch unmittelbar anwendbare methodische Regeln 1502 Zur Illustration vgl. die in Strauch 2009, S. 399 ff. besprochene Entscheidung des VG Meiningen, ThürVBl. 2000, 258. 1503 Siehe dazu auch unten Kap. 26 IV. 2. b.

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weiterhelfen. Es ist auch die Situation, die den Reiz von Kriminalro­ manen ausmacht, nämlich den Detektiv zu beobachten, wie er seine Arbeit am Anfang mit keiner eindeutigen Spur beginnt und dann doch den Täter findet. Das Besondere der Romanfigur von Doyle ist nun, dass Sherlock Holmes seine Arbeitsweise – »Du kennst meine Methode« – mit seiner literarischen Kontrastfigur, Dr. Watson, nicht nur diskutiert, sondern dies auch auf einem theoretisch sehr reflek­ tierten Hintergrund tut.1504 Im Einzelnen habe ich das an anderer Stelle ausführlich dargestellt.1505 Hier sollen nur die zwei Regeln zitiert und herausgestellt werden, die für die Mustererkennung ent­ scheidend sind. (1.) Die erste Regel betrifft das Gebot der Offenheit: Sherlock Holmes formulierte dazu die folgende, oben in Kapitel 22 III. 5 schon zitierte, methodische Zugriffsregel: »Ich weiß noch keine Einzelhei­ ten. Ein Kardinalfehler besteht darin, Theorien aufzustellen, bevor man noch über weitere Angaben verfügt. Unbedacht beginnt man die Tatsachen zu verdrehen, um sie den Theorien anzupassen, statt die Theorien den Tatsachen.«1506 (2.) Eine zweite Regel folgt aus einer Bemerkung Watsons, in der nicht von Beobachtung und Deduktion die Rede ist, sondern in der zu lesen ist: »seine brillante Verstandesschärfe steigerte sich bis zur Intuition«1507. Das ist, wie im Kapitel 23 dargelegt, auch keine bloße literarische Leerformel. Ihr Sinn wird klar, wenn man sie auf den folgenden Dialog bezieht: Holmes erklärt dem, wie meist, verwunderten Watson seine Erkenntnis mit der Bemerkung: »Ich besitze Notizen von mehreren ähnlichen Fällen ...«, und auf den Einwand Dr. Watsons: »Aber ich hörte dasselbe wie Sie«, kontert er:

Vgl. T. Sebeok, Umiker-Sebeok 1982: Der Autor Doyle war Arzt und hat für die Figur des Sherlock Holmes seinen Lehrer, einen als hervorragenden Diagnostiker bekannten Mediziner, zum Vorbild genommen, a. a. O. S. 93, 97 ff. Auf den Zusam­ menhang: Diagnose – medizinische und juristische Hypothesenbildung kann hier leider nicht eingegangen werden. Über den Zusammenhang mit der Psychoanalyse vgl. R. A. Adler 2007, S. 137 ff.; ferner M. Shepherd, Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud, Rheda-Wiedenbrück 1986. 1505 Strauch 2009, S. 401 ff. 1506 Doyle 1989/2007, »Skandal in Böhmen«. Noch deutlicher in der Geschichte »Der Junker von Reigate« aus: Doyle 2007: »Nun mache ich es mir aber zum Prinzip, niemals irgendwelche Vorurteile zu haben«. 1507 »Die Liga der Rothaarigen«, Doyle 1989/2007. 1504

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IV. Der Referenzmaßstab – das idealtypische Prüfprogramm

»Ohne jedoch über das Wissen aus den vorausgegangenen Fällen zu verfügen, das mir so gute Dienste leistet.«1508 Nicht anders als in solchen Rückgriffen auf Erfahrungen und in dem professionellen Umgang mit gespeicherten Fällen und Beispielen vollzieht sich in der juristischen Praxis auch Wesentliches dessen, was man Intuition oder Judiz nennen kann und was die Fähigkeit der reflektierenden Urteilskraft zur Mustererkennung ausmacht. Für den Juristen setzt ein solches Expertenwissen aber einen Umgang mit juristischen Texten, insbesondere Entscheidungen voraus, der konträr zu einer Datenbanknutzung steht, die auf punktuelle, konkret verwertbare Feststellungen und Belege gerichtet ist – eben auf die Verwertung im Verfahren »copy and paste«. Um über »Wissen aus den vorausgegangenen Fällen zu verfügen, das mir so gute Dienste leistet«, müssen solche Entscheidungen im eigenen Wissen als Lösungsmuster gespeichert und verfügbar sein. Das nötigt zur Regel, Entscheidungen nicht punktuell, sondern in der Weise zu lesen, dass sich Wissen in systematischen und dogmatischen Strukturen so in Mustern aufbauen kann, dass es dem »eigenthümlichen Ver­ ähnlichungsvermögen« (Kant) auch zur Lösung bislang unbekannter Probleme verhelfen kann. Unter der Voraussetzung einer solchen Wissensstruktur eröffnet sich schließlich eine wichtige und sehr fruchtbare Funktion für die Datenbanknutzung. Denn auch wenn Nachdenken und Intuition zu einem Lösungs- oder Interpretationsmuster geführt haben, bleiben zwei Fragen zu beantworten, bevor diese Muster für die Entscheidung übernommen werden können: »Passen sie?« und »Haben sie sich in ihrem Rechtsbereich bewährt?« Es ist das »Wissen aus den vorausge­ gangenen Fällen«, mit dem die Antworten darauf zu begründen und zu belegen sind.

IV. Der Referenzmaßstab – das idealtypische Prüfprogramm Ob mit dieser – natürlich nicht ganz ernst gemeinten – Typologie alle typischen Handhabungsmuster der richterlichen »Gebrauchsme­ 1508

Fall des »adligen Junggesellen«, Doyle 1989/ 2007.

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Kapitel 25: Methoden der Praxis im Wandel

thodik« – »Methode hat man, über Methode spricht man nicht!«1509 – erfasst sind, ist nicht weiter von Bedeutung. Darzustellen ist aber – als notwendiger Referenzmaßstab – ein allgemeines, idealtypisches Prüfprogramm, das bewusst an das Ideal der Stringenz der traditionel­ len akademischen Methodenlehre anknüpft. Diese soll hier nicht im Einzelnen dargestellt werden; das gilt auch für die Regeln und Techni­ ken des Votierens. Es kommt an dieser Stelle nur auf die grundsätzlich andere Struktur an, die die methodische Rechtsermittlung gegenüber den eben beschriebenen Formen der »Gebrauchsmethodik« aufweist. Ausgehend von den Ergebnissen der Überlegungen in den Teilen D und E sind es hier vier Ebenen, die eine strukturierte, nicht nur mehr oder minder assoziativ und analogisch arbeitende Rechtsermittlung durchlaufen muss. Die notwendigen methodischen Schritte lassen sich, mit Zwischenstufen, wie folgt schematisieren1510: 1. 2. 3.

Ebene: Suchen und Finden der relevanten Norm(en), Muster­ erkennung und Bildung einer Normtexthypothese; dann im Übergang zur Ebene: Bildung des Obersatzes bzw. der »Entscheidungsnorm« (vgl. Toulmin-Schema, Regelbindung, Kap. 16 II.). Ebene: Konkretisierung der Rechtsnorm – Ausle­ gung/Rechtsermittlung 3.1. Einordnung in begriffliche und dogmatische Strukturen Hier geht es um Konkretisierung durch Auslegung und Rechtsermittlung. Stichworte sind u. a.: Gesetzesauslegung (Auslegungsregeln), Hypertext Recht, begriffliche Fassung der Tatbestandsmerkmale oder Paraphrasierung von Wert­ begriffen; Einordnung in dogmatische Strukturen und Fall­ typen. 3.2 Einordnung in konkrete Vergleichsfälle Hier geht es um Konkretisierung durch Fallvergleich – etwa bei Wertungsfragen; gesucht wird nach konkreten Sachver­ haltselementen, die vergleichbar sind oder Unterschiede deutlich machen.

A. Voßkuhle, 2002, S. 175; vgl. Einl. Auf die Differenzierungen und die Differenzen, die die Methodendiskussion hier nicht nur in terminologischen Unterschieden, sondern auch aus divergierenden Theo­ rieansätzen im Einzelnen zu bieten hat, kommt es dabei nicht an. Um dem Schema die Übersichtlichkeit nicht zu nehmen, wurde auch weitgehend darauf verzichtet, auf die Referenzstellen in den jeweiligen Kapiteln zu verweisen. 1509 1510

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IV. Der Referenzmaßstab – das idealtypische Prüfprogramm

4.

Ebene: Anwendung auf den konkret zu entscheidenden Fall, Subsumtion/Zuordnungen, Schlussfolgerungen.

Nicht dargestellt sind in diesem Schema das Wechselspiel zwischen Normhypothesen und Sachverhaltshypothesen sowie die Vorgänge, die ausgelöst werden, wenn sich bei Zwischenergebnissen oder der Schlussfolgerung Zweifel an deren Richtigkeit durchsetzen. Der »Erkenntnisprozess« muss dann jeweils wieder um die entsprechen­ den Stufen zurückgesetzt werden. Ziel des Schemas ist es jedoch nicht, möglichst alle Rückkoppelungsprozesse darzustellen, sondern für die Analyse der unterschiedlichen IT-Arbeitsmuster einen Refe­ renzmaßstab zur Hand zu haben. Es weist zugleich die Ebenen – nämlich 3.2. und 3.1. – auf, für die die Datenbanknutzung heute fast unverzichtbar sind.

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Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz

Aus soziologischer Perspektive ist Methode eine soziale Praxis – man kann auch sagen, ein robustes Geflecht sozialer Praktiken, das als integraler Bestandteil des Rechtssystems auf dessen Konti­ nuität und Systemstabilität ausgerichtet ist und nicht auf Verände­ rungen. Eine Methodenlehre muss diese »Methode, die man hat« nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern darf vor allem die normative Kraft des Faktischen, die von ihr ausgeht, nicht unterschätzen. Trotz­ dem muss sie auf ihrem Anspruch auf Beachtung methodischer Regeln und Richtigkeitskriterien beharren. Das heißt aber nicht, dass sie damit rechnen kann, dass methodische Konzepte von der Praxis übernommen werden, weil sie etwa eine größere Berechenbarkeit ermöglichen oder theoretisch eindeutig besser begründet sind. Wenn es zu Veränderungen kommt, dann liegt der Grund – wie im vorigen Kapitel gezeigt – in einer Veränderung der tatsächlichen Arbeitsbe­ dingungen, etwa durch die Informationstechnik, oder ein Paradig­ menwechsel wird durch die Rechtsprechung selbst herbeigeführt.1511 Interessant werden deshalb die Entwicklungen sein, die sich aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG zu den »Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung« ergeben können. Der Richter »hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu fol­ gen«,1512 wie das BVerfG ausdrücklich feststellt. Jedenfalls in den Fäl­ len, in denen der Richter diese methodischen Regeln eindeutig miss­ achtet, ist das Urteil wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aufzuheben.

Den meisten der in Kap. 21 III. in der Typologie aufgeführten Mustern liegen entsprechende Präjudizien zugrunde. 1512 BVerfGE 128, 193, 209 ff – juris Rn. 53. 1511

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Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz

Was insgesamt zu Tage tritt, ist eine Art struktureller Immunität der methodischen Praxis1513 gegenüber theoretischen Ansprüchen der Methodenlehre. Dieser Befund muss auch davor warnen, sich einen schnellen Fortschritt in der Methodik davon zu versprechen, die »anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung« durch weitere Regeln zu erweitern oder insgesamt durch qualifiziertere und bessere Prüfprogramme zu ersetzen. Ein Beispiel dafür ist etwa der Versuch, den Friedrich Müller ganz konsequent mit seiner »strukturierenden Rechtslehre« unternommen hat. Sie ist von der Praxis kaum rezipiert worden. Dies wird bereits durch einen Vergleich der Zitierhäufigkeit deutlich. Gibt man bei juris »Methode«, »Lehre« und »Larenz« ein, werden für den BGH 87, für das BVerwG 15 und für das BVerfG immerhin noch acht Zitate ausgewiesen1514. Im Vergleich zur Metho­ denlehre von Larenz, mit der sich die Praxis stets leicht in Überein­ stimmung sehen konnte, wird Fr. Müller kaum rezipiert; es ist nur eine Zitation durch das BVerfG zu finden1515. Dieser »Rezeptionsbefund« ist m. E. nicht nur als Feststellung eines Oberflächenphänomens zu verstehen.1516 Er stellt vielmehr zugleich nochmals klar, dass es auch bei der Rezeption einer Metho­ denlehre um nichts anderes als um Kohärenzprobleme geht. Eine Methodenlehre, die Einfluss auf die Praxis nehmen will, muss sich in deren Struktur »einfügen« können. Wesentliches Ziel dieses Schluss­ kapitels ist es deshalb, möglichst konkret zu machen, was Methode als Herstellung von Kohärenz praktisch bedeutet, d. h. die kohärenz­ theoretischen Grundgedanken so zu schematisieren, dass sie für den praktischen Gebrauch verwendbar sind (II.–IV.). Dafür müssen dann aber auch die Grenzen des methodisch nicht mehr Vertretbaren aufgezeigt werden – Grenzen, die sich auch bei einer evolutionären Struktur des Rechts aus der Grenzbedingung ergeben, dass sich ein Umbau des Normen- und Prämissenrahmens dann nicht mehr kohärent in das Recht einfügt, wenn er mit den für dieses Recht basalen Aussagen nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen ist (V.). (VI.). Um Missverständnisse zu vermeiden, sind jedoch zuvor 1513 Auf die wir bereits eingangs (Kap. 2 I.) hingewiesen haben, dort aber noch nicht weiter ausführen konnten. Zur Rolle des »Habitus« in diesem Zusammenhang Kap. 5 I.1. 1514 Stand 2015–08–25; Zahlen sind um die Doppelnennungen »bereinigt«. 1515 BVerfGE 128, 326–409 – juris Rn. 93. 1516 Zu den theoretischen und praktischen Gründen für die begrenzte Resonanz der »strukturierenden Rechtslehre« siehe U. Volkmann 2013, S. 159 f.

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I. Der theoretische Rahmen

(und ergänzend zur Vorauflage) die theoretischen Annahmen und Ausgangsvorgaben genauer zu fassen.

I. Der theoretische Rahmen Von »Kohärenz« ist, wie oben (S. 123 f.) schon gesagt, in ganz unter­ schiedlichen Wissenschaftsbereichen die Rede. In der philosophi­ schen Diskussion werden die theoretischen und philosophischen Implikationen des kohärenztheoretischen Ansatzes in den Begriffs­ feldern Wahrheitstheorien, Kontextualismus, Holismus, analytische Erkenntnistheorie, Fundamentalismus, Skeptizismus erörtert.1517 Entsprechend unklar sind dann auch oft die Konturen des Kohärenz­ begriffs. Deshalb muss der Begriff konturiert werden; insbesondere muss die Erkenntnisperspektive klargestellt werden. So ist die Kohärenztheorie in dem hier vertretenen Sinn nicht als Wahrheitsdefinition zu verstehen, sondern hat das Ziel, ein Wahr­ heitskriterium, »einen im allgemeinen funktionierenden Wahrheits­ test« zu liefern (N. Rescher).1518 Das Urteil »kohärent« bedeutet auch nicht, dass eine Aussage auch »aufs Ganze gesehen« unzweifelhaft »richtig« ist. Das »Ganze«, so die Ausgangshypothese, kann als »Ganzes« vielleicht empfunden, aber nicht wahrgenommen, nicht erkannt werden.1519 Erkenntnis ist immer perspektivisch. Ich knüpfe damit an den erkenntnistheoretischen Perspektivismus Ernst Cassi­ rers an - vor allem an seine Philosophie der symbolischen Formen.1520 Diese Formen – wie Mythos, Wissenschaft und auch das Recht – sind die von unserer Kultur geschaffenen Handwerkszeuge, die 1517 Zur Übersicht siehe den Artikel: »kohärent/Kohärenz«, in: Enzyklopädie Philo­ sophie und Wissenschaftstheorie. Hrsg. von J. Mittelstraß, 2.Aufl, 2010 ff. Bd. 4, 250 ff.; zum Diskussionsstand: A. Seide 2011; aus rechtstheoretischer Sicht: Lee, Kye IL, 2010, 287 ff. Zur eigenen Konzeption oben Teil B: Kohärenz und juristische Methode, 119-154 sowie Strauch 2005, 485-500. 1518 Rescher, Nicholas (1973): Die Kriterien der Wahrheit, in: Skirbekk, Gunnar (Hg.) ,1977, S. 369 f. 1519 Eindeutig hier Neuraths Grundposition: In seiner Schrift über die »Einheit der Wissenschaft als Aufgabe« formuliert er mit aller Schärfe: »Das ›System‹ ist die große wissenschaftliche Lüge«, Neurath 1931/1981, 620. Adornos Verdikt: »Das Ganze ist das Unwahre« hatte Neurath also schon 1934 vorweggenommen. So verzichtete er, um sich von der idealistischen, einer holistischen Kohärenztheorie abzugrenzen, auch ganz bewusst darauf, von »Kohärenz« zu sprechen, oben S. 134. 1520 Dazu siehe auch oben S. 188 f.

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Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz

zwischen Wahrnehmung und Erkennen vermitteln und so Erkenntnis erst ermöglichen.1521 Cassirer spricht deshalb auch von »Grundfor­ men der Weltauffassung.«1522 Ihr Charakteristikum ist jeweils die »Besonderheit des geistigen Blickwinkels« oder, anders gesagt, die jeweils (beschränkte) Perspektivität unserer Erkenntnis.1523 Damit ist zugleich ein holistisches Verständnis von Kohärenz ausgeschlossen. Eine »Kohärenz des gesamten Meinungssystems« lässt sich nicht herstellen;1524 es sei denn, man hätte den Stein der Weisen gefunden. Das Erkenntnisinteresse kann nur auf eine »lokale« oder »relationale« nicht auf eine »globale« oder (umfassende) »systematische« Kohärenz ausgerichtet sein, so die Diskussionsstichworte.1525 Es geht mithin um einen »kontextualistischen Kohärenzbegriff«1526. – Und die hier relevanten »Kontexte« sind ganz pragmatisch die Kontexte, in denen die Gerichte ihre Entscheidungen erarbeiten.1527

II. Das Postulat der »richtigen Entscheidung« Zuvor ist jedoch, noch genauer als bisher geschehen, der Frage nach­ zugehen, warum es sinnvoll und notwendig ist, mit der Vorstellung der »richtigen Entscheidung« zu arbeiten; zugleich ist aufzuzeigen, dass die Antworten darauf wiederum unmittelbar durch die jeweiligen Methoden-Konzeptionen bestimmt werden. Zu den Vermittlungsprozessen als Zentralproblem der Erkenntnistheorie – und damit auch des richterlichen Erkennens – siehe S. 187 ff. Zur »Erweiterung des Kriti­ zismus Kants zur Philosophie der symbolischen Formen« siehe Peter. Müller, 2010. 1522 E. Cassirer, Form und Technik, in: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, M. Lauschke (Hg.), 2009, 123-167, 144. 1523 E. Cassirer, Die Begriffsform im mythischen Denken (1922), in: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, Hrsg. M. Lauschke, 2009, 3-61, 28. 1524 Näher Peter Müller S. 14. 1525 A. Seide S. 221. 1526 Vgl. hier A. Seide S. 224 ff. Ausführlich und konkreter zum Problem der Pluralität in sich kohärenter Zusammenhänge oben S. 135-140. 1527 Konkret bedeutet dieser »kontextualistische Kohärenzbegriff« etwa, dass in einem theologischen Diskurs um die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruches ein moraltheologisches Argument ein »guter Grund« ist, während in einem rechtli­ chen Streit die Relevanz dieses Argumentes mit (verfassungs-)rechtlichen Gründen erst dargetan werden müsste; vgl. zu dem Problem BVerfGE 39, 1–95 – juris Rn. 133 und dazu oben S. 146 ff. m. N. 1521

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II. Das Postulat der »richtigen Entscheidung«

1. Die »richtige Entscheidung« – eine Frage im Kontext der Methodendiskussion Wenn man die Frage nach der »richtigen Entscheidung« stellt,1528 stößt man schnell auf sehr unterschiedliche Vorstellungen über das, was damit gemeint ist oder gemeint sein kann. Versteht man die Frage nach der »richtigen Entscheidung« als Frage nach der objektiven Richtigkeit, kommt es darauf an, ob man einem außenstehenden Beobachter einen »Probierstein«, einen objektiven Maßstab zur Hand geben kann, mit dem er feststellen kann, ob die Entscheidung richtig oder falsch ist. Anführungszeichen bedarf es dann nicht. Einen ganz anderen Charakter hat die »richtige Entscheidung« dagegen dann, wenn sie nicht für die im konkreten Fall materiell unzweifelhaft richtige Entscheidung steht, sondern »nur«, wie in der Einleitung bereits qualifiziert, als »regulative Idee« gemeint ist. a. Nun wird man sich für die Methodendiskussion heute schnell darauf einigen können, dass wir hinreichende Maßstäbe für die materiell unzweifelhaft richtige Entscheidung nicht haben und, wie es scheint, auch nicht entwickeln können. Aber der entscheidende Bezugspunkt, auf den die Methodik abstellen muss, ist nicht der des außenstehenden Beobachters und seiner inhaltlichen Maßstäbe.1529 Für die Methode ist die Frage der »richtigen Entscheidung« zuvörderst eine Frage der richtigen Anwendung methodischer Regeln. Hier ent­ sprach es den Grundkonzeptionen von Begriffsjurisprudenz und Posi­ tivismus, die »richtige Entscheidung« wesentlich als eine Frage der richtigen Ableitung anzusehen.1530 Die Analysen der Determinan­ ten der Rechtserkenntnis haben demgegenüber aber gezeigt, dass eine zeitgenössische Methodenlehre eine objektiv »richtige« Auslegung und eine objektiv »richtige« Subsumtion und damit grundsätzlich auch eine objektive Richtigkeit des Urteils nicht mehr gewährleisten kann. b. Folgt man demgegenüber kohärenztheoretischen Ansätzen, hängt die Antwort entscheidend von der Vorstellung ab, die man von der Struktur der Rechtsordnung hat. Versteht man die Gesamt­ 1528

Näher zur Figur der »richtigen Entscheidung« siehe L. Schulz 2008, S. 298 ff. m.

N. Anders etwa bei naturrechtlichen Positionen; Beispiel sind etwa die Positionen von H. Coing und G. Böhmer zur rechtlichen Bedeutung naturrechtlicher Grundsätze; vgl. I. Kauhausen 2007, S. 61 f. 1530 Kap. 18 I. 1529

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Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz

rechtsordnung in diesem Zusammenhang als eine vorgegebene, in sich kohärente Struktur, wäre Rechtserkenntnis wiederum als folge­ richtige (= richtige) Ableitung konstruierbar. Dass die Rechtsordnung eine solche Struktur nicht hat, ist in Kapitel 19 ausführlich dargelegt worden. Sie kann auch nicht als »kohärente Prinzipienmenge«1531 konstruiert werden, auf die ein allwissender, mit außerordentlichen Fähigkeiten ausgestatteter »Richter Herkules« zurückgreifen könnte, der so – wenigstens als Idealtypus eines Richters – ein sowohl gerech­ tes als auch unzweifelhaft richtiges Urteil sprechen könnte.1532 Doch: Kohärenz findet der Richter nicht vor. Er muss sie herstellen und kann sie nicht aus einer vorgegebenen Struktur ableiten.

2. Die »richtige Entscheidung« als »regulative Idee« a. Versteht man Methode als Herstellung von Kohärenz, kann sich die Frage nach der »richtigen Entscheidung« – so die Konsequenz aus den vorangegangenen Überlegungen – sinnvoll nicht mehr auf die objektive Richtigkeit einer konkreten Entscheidung beziehen. Wiederum Sinn bekommt die Idee der »richtigen Entscheidung« allerdings dann, wenn man sie im Anschluss an Kant als »transzen­ dentale Idee«1533 versteht. Als solche hätte »sie einen vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten«.1534 Wir dürfen sie in diesem Sinne allerdings nicht als Instrument zur »Bestimmung der Dinge«1535 auffassen, also etwa als Begriff, aus dem wir eine richtige Entscheidung ableiten könnten. Als »regulative Idee« hätte die »richtige Entscheidung« aber im »regulativen Gebrauch« die Aufgabe, Methode so auf diese Idee auszurichten, »als ob« dieses Ziel auch erreichbar wäre.1536 Die Funktion des regulativen Prinzips liegt also

R. Dworkin 1984, S. 204; zur prinzipiellen Unbegrenztheit von Prinzipien dem­ gegenüber Kap. 18 II. 1532 Zur Kritik an dieser Position etwa U. Neumann 2008, S. 271 ff.; K. I. Lee 2010, S. 295 ff. 1533 Kant KrV B 672. 1534 Kant KrV B 672. 1535 Kant KrV B 606, 608. 1536 Kant formuliert dieses »als ob« für die Naturwissenschaften, Kant KrV B 728. 1531

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II. Das Postulat der »richtigen Entscheidung«

darin, einem Ideal, das nur in Gedanken existiert, die Regel seiner stets nur unvollkommenen Verwirklichung an die Hand zu geben.1537 Mit dieser Funktion des »als ob« – also Methode so verstehen, »als ob« die »richtige Entscheidung« möglich wäre – ist dieser Begriff ein wesentliches Moment, um eine Methodenlehre, die nicht dem Motto »anything goes« folgt, überhaupt konstruieren zu können. Als »transzendentale Idee« zum »regulativen Gebrauch« ist sie die Bedingung der Möglichkeit juristischer Erkenntnis1538 – und somit auch ihrer Methode. Denn Methode ist die Art und Weise, wie man etwas tut, um ein Ziel zu erreichen. Das heißt, die Methode muss sich vom Ziel her bestimmen. Natürlich ist ein Ziel unzweifelhaft auch die Erledigung des Falles. Aber das gerichtliche Verfahren ist seiner – auch hier: regulativen – Idee nach nicht nur darauf angelegt, das Verfahren »irgendwie« zu einem Ende zu bringen. Sinn und Zweck des Verfahrens kann anders als über die Idee eines auch »richtigen« Urteils nicht gedacht werden. b. Die skeptischen Einwände gegen diesen Gedankengang liegen allerdings auf der Hand. Jedes richterliche Urteilen ist von einer Unzahl höchst subjektiver Momente beeinflusst, die meist unbewusst und nicht quantifizierbar und nicht genauer analysierbar sind: Vorurteile, Vorverständnisse, Falschverstehen, Aggressionen, Zuneigungen und nicht bewältigte Probleme, die den Blick verstel­ len. Welchen Sinn macht es da, von der Idee einer »richtigen Ent­ scheidung« auszugehen? Ist es da nicht Flucht in eine idealistische Methodenvorstellung, so die naheliegende Schlussfolgerung, mit einer »regulativen Idee« zu operieren und die empirischen Befunde überspielen zu wollen? Scheinbar ja. Aber die Einwände, die wir aus der Subjektivität richterlicher Kognition ableiten, sind keine anderen, als die, mit denen wir auch ganz allgemein die Möglichkeit gelingender (= rich­ tiger) menschlicher Kommunikation in Frage stellen müssten. Die Fehlerquellen sind prinzipiell keine anderen – sogar »ungebremster«, weil die professionellen Rationalisierungen fehlen. Und so zeigt sich schon bei einem ersten genaueren Nachdenken über die alltäglichen Phänomene der Kommunikation, dass es sich um eine Schlussfol­ gerung handelt, die mit der Realität menschlicher Kommunikation und der sie begleitenden Vorstellungen kaum etwas zu tun hat. 1537 1538

K. Lorenz, EPhWTh (1. Aufl.): Art. »regulativ«, Bd. 3, S. 539. J. Lege 1999, S. 525 f.

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Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz

Mit dem »regulativen Prinzip« bewegen wir uns nicht nur auf der hochtheoretischen Ebene einer »transzendentalen Idee«, sondern zugleich auf einer ganz alltäglichen, pragmatischen Ebene. Wir haben es auch mit einem pragmatischen Prinzip zu tun, ohne das menschliche Kommunikation gar keine realistische Chance hätte, überhaupt zu funktionieren. Neurowissenschaften, Psychologie und Linguistik können mit einer unübersehbaren Zahl wohlerwiesener Gründe aufwarten, warum Kommunikation zu Missverständnissen, Fehlwahrnehmungen und immer wieder zum Scheitern führen kann. Gleichwohl gehen wir beim Lesen eines Textes in der Regel davon aus, dass wir ihn – wie selbstverständlich und nicht nur wahrscheinlich oder gar zufällig – richtig erfassen. Wie wir auch in einem Gespräch von der »regulativen Idee« ausgehen, dass unsere Informationen mit dem richtigen Verständnis aufgenommen werden und wir den anderen auch prinzipiell richtig verstehen können. In der Regel ist »das« Urteil nicht das Ergebnis eines einzelnen – gar blitzartigen – Erkenntnisaktes, in dem das Urteil hergestellt wird, das dann nur noch einer einigermaßen plausiblen Begründung bedarf. Sondern es sind meist einzelne, eher punktuelle Prozesse, in denen Kohärenzen hergestellt werden. Es sind Erkenntnisschritte, die auf die Suche nach Kohärenzen ausgerichtet sind. Man sucht, wie sich die Information oder das Problem in Bekanntes einfügen kann, um es dort einzuordnen. Im »Hin- und Herwandern des Blicks« werden Informationen zu jeweils (vielleicht auch nur vorläufig) konsisten­ ten Interpretationen verknüpft; in Zwischenschritten ergeben sich so: Sachverhaltsfeststellungen, Tatbestandselemente, normative oder dogmatische Anknüpfungen, einstweilige Festlegungen im Hyper­ text Recht. Diese Prozesse laufen, wie modellhaft dargestellt1539, vielfach intuitiv-automatisch ab, indem rivalisierende Informationen und Argumente zu jeweils konsistenten Interpretationen generiert wer­ den. Im Zusammenspiel mit diesen automatischen Prozessen schalten sich aber immer wieder bewusste Denkprozesse ein. Sie greifen ein, wie es A. Glöckner formulierte, »wenn keine, der Wichtigkeit der Situation angemessene, gute Interpretation gefunden werden kann.«1540 Entscheidend sind dann nicht mehr die »automatischen Prozesse der Konsistenzmaximierung«. An dieser Stelle kommen 1539 1540

Kap. 24 V. A. Glöckner 2008, S. 20 f.

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III. Sachverhalt, Rechtsfeststellung, Urteil – Drei Aspekte der Kohärenz

Mechanismen ins Spiel, die auf bewussten Prozessen basieren.1541 Sie betreffen aber nicht nur Zwischenschritte und Zwischenergebnisse der Rechts- und Tatsachenarbeit, sondern wesentlich auch das Urteil, das aus ihnen generiert wird. Es sind die Prozesse, die im nächsten Abschnitt als »Herstellung von Kohärenz« zu beschreiben sind.

III. Sachverhalt, Rechtsfeststellung, Urteil – Drei Aspekte der Kohärenz Um es nochmals klarzustellen: Wenn in diesem Kapitel über die »Herstellung von Kohärenz« diskutiert wird, dann steht die stimmige Rechtsfeststellung hier zwar im Fokus der Überlegungen, »Kohärenz« meint aber keineswegs nur den rechtlichen Begründungszusammen­ hang. Das Kriterium gilt vielmehr für alle drei Ebenen, auf denen sich entscheidet, ob die Urteilsfindung insgesamt – also auch in ihrer Herstellung – methodisch »stimmig« ist. 1. Der Sachverhalt muss zunächst in dem Sinne kohärent sein, dass die festgestellten Tatsachen, die rechtlich zu beurteilen sind, »richtig« sind und einen in sich stimmigen Geschehensablauf erge­ ben. Der Sachverhalt muss sich mit seinen Feststellungen aber auch in die »Wirklichkeit« stimmig »eingliedern« lassen. Ob das gelingt, ist abhängig von der Frage, wie überzeugend die Vermittlungsprozesse sind, über die dieses »Einfügen« vollzogen wird. Stichworte sind: Alltagstheorie, wissenschaftlich gesichertes Wissen, Interpretations­ muster etc. – Dabei stehen die in Anführungszeichen gesetzten Begriffe »Einfügen« und »Wirklichkeit« hier nur als Chiffren für jeweils sehr komplexe Abläufe und komplex generierte Resultate. Wie diese Prozesse zu verstehen sind, ist im Teil C ausführlich erörtert worden1542 und die Probleme der Herstellung eines »kohärenten Sachverhalts« brauchen uns in diesem Kapitel deshalb nicht nochmals zu beschäftigen. 2. Auch die rechtliche Beurteilung verlangt sowohl für die ein­ zelnen Zwischenergebnisse, die der juristischen Rekonstruktion des Falles in der Regel zugrunde liegen, als auch für das »End-Urteil« jeweils kohärente rechtliche Feststellungen. Das heißt, eine rechtlichen Feststellung muss so abgeleitet werden, dass sie sich entweder in den für 1541 1542

Kap. 24 VI. Kap. 12 III. 2. b; Kap. 14.

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Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz

das entscheidungserhebliche Rechtsgebiet als hinreichend akzeptierten Norm- und Prämissenrahmen »einfügt« – oder diesen so »umbaut«, dass sich dieser seinerseits wieder in einen solchen Rahmen einfügt. Was im Sinne dieser These die Begriffe »einfügen« und »umbauen« konkret für die Arbeit am Fall bedeuten, wird in den beiden folgenden Abschnitten zu erörtern sein. Vorab ist nur festzu­ halten, dass »einfügen« nicht bedeuten kann: »passend machen«. Um dies an einer durchaus nicht untypischen Beratungssituation zu verdeutlichen: In der Beratung zeigte sich, dass der Fall schriftlich nicht präzise genug »durchvotiert« wurde. Man merkte nach Schluss der mündlichen Verhandlung, dass man einen wichtigen Punkt über­ sehen hatte. Das Urteil mag dann »rechtlich nicht zu beanstanden« sein, weil man doch noch einen Begründungsdreh gefunden hat, mit dem es sich in einen rechtlichen Rahmen »einfügt«. Es ist deshalb aber keine methodisch kohärent hergestellte Entscheidung. – So wie es methodisch fehlerhafte Sachverhaltsfeststellungen gibt, die gleichwohl »revisionsrechtlich nicht zu beanstanden« sind. 3. Im Urteil muss der Richter »Sachverhalt« und »Recht« zu einer Einheit zusammenfügen, die nicht nur konsistent im Sinne von widerspruchsfrei ist; »Sachverhalt« und »Recht« müssen auch kohärent sein, d. h. sich argumentativ gegenseitig stützen. Veran­ schaulichen lässt sich das auch hier mit dem Bild, dass Sachverhalt und rechtliche Beurteilung im selben, einheitlichen Denk- und Argumen­ tationsraum generiert werden müssen. Auch wenn wir es insofern mit keiner dritten, selbständigen Ebene zu tun haben, verdient es dieser Aspekt trotzdem, besonders hervorgehoben zu werden. Denn in dieser »Zwischenschicht« zwischen Tatsachenfeststellung und rechtlicher Einordnung finden die Prozesse statt, in denen sich die Urteilsfindung nicht im subsumierenden Einfügen des Falles in das Recht erschöpft. Es sind die Prozesse der Rechtsgewinnung, der Anpassung und Fortbildung des Rechts, die ausgelöst werden, wenn sich der Sachverhalt eben nicht mehr kohä­ rent ins Recht einfügt. Ausführlicher haben wir einen solchen Vor­ gang am Beispiel des Mordmerkmales der »Heimtücke« beschrieben; angesichts der konkreten Tatumstände erschien eine Qualifizierung als Mord unangemessen. Die Rechtsprechung veränderte deshalb im semantischen Dreieck die »Wortgebrauchsregel«, um zu einer

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IV. Die Kohärenzkriterien

»angemessenen« Definition des Tatbestandsmerkmales zu kommen und den Normtext so wieder »subordinationsfähig« zu machen.1543 Im Einzelnen sind diese Mechanismen bereits beschrieben wor­ den.1544 Wenn das Thema jetzt gleichwohl nochmals aufgegriffen werden muss, dann weil das rechtstheoretische Dilemma, das in die­ sen Mechanismen steckt, zugleich im kohärenztheoretischen Ansatz selbst deutlich zu Tage tritt. Denn in dem Maße, in dem Kohärenz über einen »als hinreichend akzeptierten Norm- und Prämissenrahmen« hergestellt wird, kommt es zu einer Koppelung zwischen dem Recht und gesellschaftlicher Akzeptanz, gesellschaftlichen Wertungen und Realitätsvorstellungen. Zu diskutieren ist (im Abschnitt V.) also nichts Geringeres als die Eigenständigkeit des Rechts; was zugleich das Problem aufwirft, welche Rolle der Methode dann überhaupt noch zukommen kann. Wenden wir uns zunächst aber den für die All­ tagspraxis viel entscheidenderen Kriterien zu, auf die eine Methodik abstellen muss, die sich als Herstellung von Kohärenz versteht.

IV. Die Kohärenzkriterien Bestimmt wird der Begriff der Kohärenz auch im folgenden Zusam­ menhang durch die drei bekannten Kriterien: Widerspruchsfrei­ heit, Umfassendheit und Stimmigkeit.1545 Als Kriterien für eine »richtige« Sachverhaltsermittlung haben sie sich auch bereits bewährt (Kap. 13). Selbst kohärent wird aber auch die eigene These, Methode sei Herstellung von Kohärenz, erst, wenn sie sich nicht nur als Maßstab für die Richtigkeit einzelner Feststellungen oder von Zwi­ schenergebnissen erweist, sondern auch für die Frage der »richtigen Entscheidung«. Erinnert sei an die in der Einleitung für eine solche Entscheidung vorgeschlagene Formel: »Richtig« ist eine Entscheidung, für die es nach den Umständen, die dem Richter bekannt sind und die von ihm zu ermitteln waren, keine Alternative gab, die im Entscheidungszeit­ punkt in sich stimmiger und damit »richtiger« gewesen wäre. Mehr als eine abstrakte Formel konnte einleitend nicht gegeben werden. Im Schlussteil ist sie nun auf die alltägliche Praxis hin zu konkretisieren. Kap. 21 III. 1. Vgl. insbes. in Kap. 23 II. und III. 1545 Die kohärenztheoretische Diskussion um diese Elemente ist ausführlich darge­ stellt bei S. Bracker 2000, S. 170 ff. 1543

1544

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Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz

1. Widerspruchsfreiheit Der Begriff der Kohärenz schließt den der Konsistenz im Sinne von Widerspruchsfreiheit ein. Sie ist ein selbstverständlicher Maßstab für die »Richtigkeitsbewertung« nicht nur des Sachverhaltes, sondern auch für das Urteil insgesamt. Weder Sachverhalts- noch Rechts­ feststellungen dürfen sich widersprechen. Gewonnen ist damit aber nur ein negatives Kriterium. Ist ein Urteil widersprüchlich, kann es methodisch nicht richtig sein; mit einer Widerspruchsfreiheit ist aber noch keine »Richtigkeit« gegeben. Die Praxis hat im Übrigen ihre einfachen Wege, eine Wider­ spruchsfreiheit zu erreichen. Tatsachen, Indizien, (abgelegenere) Normen, rechtlich möglicherweise relevante Entscheidungen oder Argumente, die nicht ins Bild passen und zu Widersprüchen füh­ ren würden, werden nicht wahrgenommen, übersehen oder schlicht unterdrückt. Es dürften in der Rechtspraxis nicht nur Ausnahmefälle sein, in denen die Relevanz von Gesichtspunkten – die Frage, ob man sie zur Sprache bringt oder nicht – danach beurteilt wird, ob sie sich widerspruchsfrei in eine Begründung einfügen lassen oder nicht. Das Kriterium der Widerspruchsfreiheit ist also als Richtigkeitskriterium nur sinnvoll, wenn es durch das der Umfassendheit ergänzt wird.

2. Umfassendheit Das Kriterium der Umfassendheit oder Vollständigkeit lässt sich zunächst uneingeschränkt wörtlich als all-umfassend begreifen und umschließt so jeden denkbaren Gesichtspunkt und auch jeden denk­ baren Gegeneinwand, der im Zusammenhang der Entscheidungsfin­ dung und Begründung nicht ausgeschlossen werden kann.1546 Mit dieser Definition wäre der Begriff freilich praktisch völlig unbrauchbar. Der Richter hat oft schon Schwierigkeiten genug, den Beteiligten klarzumachen, dass es für die Entscheidung nicht auf alle ihnen persönlich wichtigen Gesichtspunkte ankommt – geschweige denn, dass eine theoretische Totalität aller Gesichtspunkte »handle-

1546 Zu diesem Verständnis von Umfassendheit als umfassende Satzmenge näher bei S. Bracker 2010, S. 167 ff.

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IV. Die Kohärenzkriterien

bar« wäre.1547 Mit einem solchen Inhalt führt der Begriff auch theo­ retisch nicht weiter. Wirklichkeit und Theorien als tools for handling werden aus der jeweiligen geistigen, sozialen und kulturellen Situa­ tion perspektivisch konstruiert. »Gesichtspunkte« sind schon nach schlichtem Sprachverständnis immer nur selektiv. Entsprechend begrenzt sind unsere Argumentations- und Denkräume.1548 Das Kri­ terium der Umfassendheit oder Vollständigkeit des Interpretations­ materials kann in unserem Zusammenhang mithin nur auf die Unter­ menge derjenigen Normen und Interpretationsgesichtspunkte bezogen sein, die als die relevanten, »in Betracht zu ziehenden Gesichtspunkte« einzuschätzen sind.1549

a) Formel und Katalog Für die Sachverhaltsfeststellungen haben wir uns mit dem Problem, Kriterien für die Unterscheidung relevanter und nicht relevanter Gesichtspunkte zu bestimmen, bereits auseinandergesetzt.1550 Allge­ mein lässt sich der Grundsatz der Umfassendheit entsprechend der im Planungsrecht üblichen Formel so fassen: Es sind die Gesichtspunkte in die Argumentation einzustellen, die nach Lage des Falles in sie eingestellt werden müssen.1551 Um auf die Frage, welche rechtlichen Gesichtspunkte eingestellt werden müssen und welche nach Lage des Falles nicht, eine Antwort zu geben, bedarf diese Formel allerdings noch einer Konkretisierung. Sie lässt sich auch genauer bestimmen: Da es darum geht, den konkreten Fall in das zunächst vorgegebene systemische Gefüge von Rechtssätzen und rechtlichen Aussagen kohä­ rent »einzugliedern«, ergeben sich aus dieser Zweck-Mittel-Relation auch die Relevanzkriterien. Einzustellen sind all die rechtlichen Gesichtspunkte, die nach dem Diskussionsstand für die zu entschei­ denden Rechtsfragen und die Fragen des Sich-Einfügens eine Rolle spielen können. Das werden je nach dem, ob die Frage umstritten oder 1547 Zur idealistischen Kohärenztheorie mit ihrem Ansatz eines ganzheitlichen Abso­ lutismus vgl. Kap. 8 V. 1548 Das Gebot der Widerspruchsfreiheit ist deshalb auch nur innerhalb dieser Denk­ räume relevant. Von einem Begründungszusammenhang zu sagen, er sei kohärent, kann nur bedeuten, dass er in sich und in dem Denkraum, in dem er generiert wird, widerspruchsfrei ist. 1549 Hier BVerwGE 48, 56–70, – juris Rn. 21. 1550 Kap. 14. 1551 Vgl. die Grundsatzentscheidung BVerwGE 34, 301.

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Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz

geklärt ist, andere sein; wird das zunächst vorgegebene systemische Gefüge nicht akzeptiert und ist ein neuer Kohärenzzusammenhang zu schaffen, werden wieder andere, zum Teil ganz andere Gesichts­ punkte relevant. Die einzelnen Gesichtspunkte, die diese Prozesse des Einfügens bestimmen können und deshalb gegebenenfalls ins Auge gefasst wer­ den müssen, sind natürlich keine anderen als die, die üblicherweise als methodisches Instrumentarium diskutiert werden. In der einfachs­ ten, gleichsam reduziertesten Form sind es die Auslegungsregeln. Fr. Müller hat demgegenüber in seinem »Entwurf einer juristischen Methodik« den Versuch unternommen, eine umfassende Systematik möglicher Gesichtspunkte, d. h. der einzelnen Elemente der Norm­ konkretisierung, zu schaffen und diese auch in eine Rangfolge zu bringen.1552 Nicht in einem solchen systematischen Sinn, wohl aber der Funktion nach geht es auch der Topik bei den »Topikkatalogen« um Umfassendheit. Mit der »Techne des Problemdenkens« (Viehweg) ist im Sinne der rhetorischen Tradition genau die Phase des möglichst umfassenden Auffindens aller relevanten Argumente angesprochen, die die »ars inveniendi«1553 ausmacht. Als wesentliche Gesichtspunkte, die der Richter bei seiner »Rechtsfindung« nicht übergehen darf, seien hier – in abgestufter Reihung – aufgezählt: 1. 2. 3. 4.

Gesetzes- oder Normtext, Auslegungsnormen (z. B. Art. 103 Abs. 2 GG), die Auslegungsregeln, der Hypertext Recht,

1552 Fr. Müller/Christensen 2004, S. 163 ff. – Gl.Nr. 3 – 32: Elemente der Norm­ konkretisierung; GlNr. 33: Rangordnung der Konkretisierungselemente. – Ein ein­ deutiges Vorrangverhältnis der einzelnen Elemente zu formulieren, um so ein ent­ scheidendes Mehr an methodischer Berechenbarkeit zu erreichen, ist aber auch der strukturierenden Rechtslehre nicht gelungen. Überzeugend dazu U. Volkmann 2013, S. 158 f. 1553 Vgl. Th. Viehweg 1974, § 8 I. Es ist vielfach kritisiert worden, dass zwischen der Phase des Auffindens von Argumenten, der »ars inveniendi«, und der Phase des Bewertens, der »ars judicandi« (Ciceros Topica, § 6), zu differenzieren ist; vgl. hierzu insbesondere L. Bornscheuer 1976, 115 ff.; ferner J. Lege 1999, 432 ff. m. w. N. – Nach der hier vertretenen Konzeption hat die Phase des Bewertens, der »ars judicandi«, ihren Ort in der Phase, in der die Topoi auf ihre Tragfähigkeit als »Gründe« hin zu überprüfen sind, d. h. in der sie stimmig – kohärent – in die Argumentation eingepasst werden müssen.

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IV. Die Kohärenzkriterien

5. 6. 7. 8.

sonstige (normative) Auslegungsvorgaben (z. B. aus dem Gebot der Rechtssicherheit), die den konkreten Rechtsbereich betreffenden Dogmatiken und die übergreifende Dogmatik, Präjudizien und Vergleichsfälle, Lehrmeinungen.

Dieser »Gesichtspunktekatalog« kann nicht abschließend sein. Er wäre z. B. um die bereichsspezifischen Abwägungsmodelle zu ergän­ zen. Wichtig sind vor allem die Sachgesichtspunkte, die in die Argumentation einzustellen sind, wenn es bei der Auslegung und Anwendung einer Norm um die hinter ihr stehenden Wirklichkeits­ vorstellungen und Wirklichkeitsmodelle geht. Darauf ist noch näher und grundsätzlicher einzugehen (V.). Hier bereits festzuhalten ist jedoch: Diese Vorstellungen und Modelle zu kennen – und einzu­ schätzen, wie realistisch sie denn (noch) sind –, ist oft zwingende Voraussetzung, um teleologische Argumentationen, die mit Sachge­ sichtspunkten arbeiten, rational zu führen. Der Richter muss sie aus seiner Sachkenntnis gewinnen – und gleichgültig, ob er diese hat oder im Verfahren erwirbt: Er wird sie zum Gegenstand des Verfahrens machen müssen.

b) Umfassendheit und Verfahren Wird eine Entscheidung nicht im Wege der logisch-deduktiven Ope­ ration getroffen – und welche Entscheidung kann wirklich allein so getroffen werden? –, bedeutet diese topische Struktur eines offenen »Gesichtspunktekatalogs« auch, dass die Gesichtspunkte »ver­ handelt« werden müssen. Hier ist die Methodik unmittelbar mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens, des rechtlichen Gehörs, verklammert. Da es eben keinen numerus clausus der relevanten Gesichtspunkte gibt, muss auch und zumeist vor allem darüber verhandelt werden, was nach Lage des Falles als Gesichtspunkt in die Argumentation einzustellen ist und was nicht. Die »Umfassendheit« beantwortet sich mithin nicht nur materiell (nach Lage der Dinge), sondern auch prozedural: als Erkenntnis durch Verfahren.

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Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz

3. Stimmigkeit Die Formel Neuraths: »Richtig ist eine Aussage dann, wenn man sie eingliedern kann«, stellt auf das »Eingliedern« ab. Abgestellt wird damit zunächst auf das Ergebnis. Die rechtlichen Aussagen des Urteils müssen sich mit allen Gesichtspunkten, die für die Entscheidung relevant sind, in das Rechtssystem eingliedern lassen. Wir beurteilen so (von außen) das Gelungensein der »Eingliederung« – es ist der Blickpunkt der Rechtsmittelinstanz oder der der rechtswissenschaft­ lichen Urteilsanmerkung. Herstellung von Kohärenz ist aus dieser Sicht eine Frage gelungener Begründung, gehört also gleichsam von Hause aus in den »Zuständigkeitsbereich« der Argumentationstheo­ rie.1554 – Methode meint jedoch zuerst und vornehmlich – eben meta hodos – ein Nachdenken über den Weg.1555 Für die Methodik entscheidend muss also der Vorgang des »Eingliederns« sein, die Frage, wie Stimmigkeit hergestellt wird.

V. Herstellung von Kohärenz – Regeln und Operationen Dieser Vorgang der Herstellung von Kohärenz im engeren Sinne ist ein Prozess, in dem die Informationen, die ja »umfassend« sein sollen, verarbeitet werden: juristisches Wissen, das aus dem Gedächtnis oder aus Datenbanken und Literatur abgerufen wird, Argumente, die im Verfahren ausgetauscht werden, etc. Wie gezeigt, laufen sol­ che Informationsverarbeitungsprozesse, in denen divergierende wie auch sich unterstützende Informationen und Argumente jeweils zu kohärenten (Zwischen-) »Erkenntnissen« zusammengeführt werden, zu großen Teilen intuitiv-automatisch ab. Für sie gilt Lichtenbergs Beschreibung: »es denkt«. Doch diese Prozesse stehen immer auch im Wechselspiel mit Prozessen, in denen Kohärenz bewusst hergestellt wird. Genau beschreiben können wir diese Prozesse, wie gesagt, nicht. Es lassen sich aber typische Situationen skizzieren, um neben den intuitiv-automatischen Phasen auch die Phasen der bewussten Denkoperationen analysierbar zu machen: 1554 In meinem Beitrag, Strauch 2005, S. 513 ff. ist das Kriterium der »Stimmigkeit« auch weitgehend nur in diesem Sinne erörtert worden. 1555 G. Schäfer, Zeugnis von Scheitern und Verlust, in: Merkur 2000/08, S. 734.

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V. Herstellung von Kohärenz – Regeln und Operationen

1. Zum Vorgang des »Eingliederns« – Prozesse des Abgleichens Wird ein Zeuge vernommen, wird sich der Richter zugleich auch ein Bild über die Glaubwürdigkeit des Zeugen machen. Dieses Bild wird weitgehend intuitiv entstehen, wie es auch entscheidend von Reflexi­ onsprozessen bestimmt sein kann: Der Richter prüft sehr bewusst Glaubwürdigkeitskriterien durch oder muss sich mit Argumenten von Beteiligten zur Glaubwürdigkeit auseinandersetzen. Oder: ein erster Lösungsgedanke wird auf ein Präjudiz gestützt, das bei genauerem Lesen diesen Gedanken gerade nicht stützt. Oder: für eine Lösungs­ idee, die richtig erscheint, werden Argumente gesucht, wie man umgekehrt für ein Problem über eine mehr oder minder systematische Recherche versucht, stimmige Lösungen zu finden. Verallgemeinernd wird man sagen können: Wir haben es mit Prozessen des Scannens und des Abgleichens zu tun. Vorgetragene Positionen oder Gedanken, die sich einstellen, werden mit den Prüf- und Argumentationsge­ sichtspunkten, die nach Lage des Falles zu beachten sind, abgeglichen. Dieser Abgleich ist auch zentrale methodische Regel. Dabei kann zwar nicht zweifelhaft sein, dass die Intensität und Präzision, mit der ein Richter Informationen und eigene erste Wertungen und Gedanken auf ihre »Stimmigkeit« hin scannt und reflektiert, immer auch eine Frage seiner Erfahrung und seiner professionellen Routinen sowie seiner Fähigkeiten und seiner Persönlichkeit sein wird. Dass ein Ideal – und im Hintergrund ist es die Idee der »richtigen Entscheidung« – real nicht erreichbar ist, macht die Regel jedoch nicht unrichtig.

2. Kohärenz und ihre logischen Operationen Es sind vielfältige Denkoperationen und Denkformen, mit denen der Richter – auch bei den Prozessen des Scannens und des Abglei­ chens – arbeitet. Es ist die deduzierende Subsumtion in Gestalt der bestimmenden Urteilskraft; immer wieder ins Spiel kommt aber auch die reflektierende Urteilskraft, die sich (im Sinne Kants) auf »Witz« und unser »eigenthümliches Verähnlichungsvermögen« stützt.1556 Zur Ableitung der Entscheidungsnorm – der »Zurichtung« des Ober­ satzes – greift der Richter auf den Hypertext Recht, dogmatische 1556

Kap. 23 II.

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Konstruktionen und Vorstellungsbilder zurück.1557 Zugriff zu Ablei­ tungen und das Auffinden von Prämissen werden vielfach durch Pro­ zesse der Mustererkennung vermittelt. Wie meist auch Muster wirk­ sam sind, wenn man beim »Scannen« stutzig wird und sich fragen muss, ob denn die bisherigen Annahmen richtig sind. Wie die Gesichtspunkte, die »umfassend« zu berücksichtigen sind, wenn ihre Kohärenz ein taugliches Kriterium für »Richtigkeit« sein soll, stehen auch die genannten Operationen und Denkformen nicht per se in einer hierarchischen Ordnung, die vorgegeben wäre oder auch nur den Weg zu einer kohärenten Entscheidung vorzeich­ nen würde. Vorgegeben ist nur das systemische Gefüge von Rechts­ sätzen und rechtlichen Aussagen, in das die konkrete Entscheidung »eingegliedert« werden muss. Es ist dieses »Eingliedern-Müssen«, in dem der Richter die Bindung an Recht und Gesetz zu realisieren hat. Und deshalb muss die juristische Methodik hier das Postulat setzen, dass der Weg, auf dem diese »Eingliederung« vorgenommen wird, nicht beliebig sein darf, sondern »methodisch«, d. h. nachvoll­ ziehbar sein muss. Nachvollziehbar ist dieser aber nur, wenn der Zusammenhang jenseits assoziativer Koppelungen auch über logisch nachvollziehbare Verknüpfungen hergestellt wird.

a) Die Schlussformen Ist man den bisherigen Überlegungen zur Herstellung von Kohärenz gefolgt, kann nicht zweifelhaft sein, dass mit logisch nachvollziehba­ ren Verknüpfungen nicht nur logisch zwingende Schlussfolgerungen gemeint sein können. Wie oben1558 schon näher begründet: Kohärenz = Stimmigkeit ist nicht nur dann gegeben, wenn q aus p folgt. Die Bedingungen der »Stimmigkeit« sind vielmehr deutlich allgemeiner zu bestimmen: »Wenn ›p‹ ›q‹ unterstützt, kann man behaupten, ›p‹ und ›q‹ seien miteinander kohärent«.1559 Neben der Deduktion können also auch andere Formen des rationalen Schließens Kohä­ renz vermitteln: 1.

1557 1558 1559

die »Induktion«, bei der es sich um den Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine handelt, um die Verallgemeinerung eines Falles zu einer Regel; Kap. 23 III. Kap. 8 I. 2; VII. 2.; Kap. 11 III. 2.; Kap. 18 VI. 2. A. Peczenik 1983, S. 176 und im Zusammenhang dazu S. 170 ff.

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2.

3.

die »Abduktion«, also der Schluss von einer angenomme­ nen Regel auf den Fall.1560 Gearbeitet wird mit einer Als-obAnnahme: Wenn man die angenommene Regel A als gegeben unterstellt, dann wäre das Ereignis erklärbar oder das offene juristische Problem mit dieser Regel lösbar; die Analogie als Schluss von einem Gegenstand auf andere, ihm ähnliche Gegenstände.

Die bedeutende Rolle, die das Denken über Analogien bei der Bildung und Erkennung juristischer Muster spielt, ist im Teil E erörtert wor­ den. Analoges Denken wie dialektische Prozesse aus Deduktion und Induktion1561 wirken auch zusammen, wenn Juristen aus »Referenz­ gebieten« Normen eines Allgemeinen Teils entwickeln – typisches Beispiel ist die Entwicklung des Allgemeinen Verwaltungsrechts aus dem Fallmaterial und den Grundsätzen des Polizei- und Ordnungs­ rechts. Als Induktionsschluss kann die so genannte Gesamtanalogie beschrieben werden: Von mehreren ähnlichen Einzelregelungen wird auf ein Prinzip geschlossen.1562 Doch auch hier sind die Abgrenzungs­ probleme zur Analogie deutlich.1563 – Über die Abduktion schließ­ lich sollen Hypothesen oder Regeln generiert werden, die gleichzeitig ein Fallverständnis ermöglichen. Sie »sucht angesichts überraschender Fakten nach einer sinnstiftenden Regel, nach einer möglicherweise gültigen Erklärung, welche das Überraschende an den Fakten besei­ tigt«.1564 Mit der Beschreibung der »Methode Sherlock Holmes« ist im Übrigen schon deutlich gemacht, worin die Bedeutung der Abduktion für die Praxis liegt. Dafür, wie man sich die Abduktion konkret vorzustellen hat, gibt das vom BVerwG entwickelte »Abwä­ gungsmodell« ein anschauliches Beispiel; wir haben es bereits als typisches »Problemlösungsmuster« erörtert1565 und an ihm lässt sich auch demonstrieren, was »gute Gründe« sind.

1560 Beispiel für die Induktion: Diese Bohnen sind aus diesem Sack – diese Bohnen sind weiß – alle Bohnen in diesem Sack sind weiß. – Für die Hypothese: Alle Bohnen aus diesem Sack sind weiß – diese Bohnen sind weiß – diese Bohnen sind aus diesem Sack. Vgl. dazu Lege 1999, S. 32 f., 438; siehe auch S. 87, 128. 1561 A. Voßkuhle 2012a, § 1 Rn. 44. 1562 Beispiel: die Ableitung eines Rechts zur Kündigung eines Dauerschuldverhält­ nisses aus wichtigem Grunde vor der Einführung des neuen § 314 BGB. 1563 Vgl. dazu ausführlich K. Larenz 1991, S. 381 ff. 1564 J. Reichertz 2003, S. 43. 1565 Kap. 22 III. 3.

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b) »Gute Gründe« Induktion, Analogie und Abduktion führen, wie gesagt, nicht zu zwingenden Schlussfolgerungen. Ob die Fälle, Regeln, Interessen – also A, B, C, D, … – gleich sind, ist immer eine Frage, hinsichtlich welcher Vorstellungen, welcher Relationen sie gleich sind. Gegen die Annahme der Verallgemeinerbarkeit gibt es deshalb ebenso wie gegen die der Vergleichbarkeit immer ein argumentum e contrario. Die Abduktion will schon per se nicht mehr besagen, als dass etwas darauf hindeutet, dass etwas sein kann.1566 Die Formel: Wenn »p« »q« unterstützt, sind »p« und »q« miteinander kohärent, bedeutet also »nur«, dass die Aussage »p« ein guter Grund für »q« ist.1567 Mit dieser Bedeutung erfasst sie aber auch die meisten Operationen, auf die es in der juristischen Praxis der Herstellung von Kohärenz ankommt, nämlich die Differenzierung, ob p allein oder zusammen mit p1, p2 usw. gute Gründe für q liefert oder nicht die besseren Gründe für non-q bzw. für q2 sprechen. In diesen Operationen ist Kohärenz also immer auch graduell.1568 Damit stehen wir für die weiteren Überlegungen zwangsläufig vor der Frage: Was sind gute Gründe? Zu sagen, gute Gründe sind die, die zunächst den Richter und dann die Rechtsmittelinstanz überzeu­ gen, greift als Antwort sicher zu kurz; sie wäre aber nicht nur ironisch zu verstehen. Denn die Gründe müssen natürlich auch in der Sache überzeugen können, das heißt: auf Akzeptanz stoßen. Da eine Ablei­ tung über jeweils »anerkannte Sätze« als eine notwendige Bedingung von Kohärenz verstanden werden muss,1569 ergeben sich aus diesem Zusammenhang auch wesentliche Ansätze, um näher zu bestimmen, was mit »guten Gründen« gemeint ist (2.). Ein erster Ansatz (1.) folgt aus dem Zusammenhang von Kohärenz und »Umfassendheit«: (1.) Wie zur »Umfassendheit« ausgeführt, ist Kohärenz durch das »Eingliedern« des konkreten Falles in das ihm zunächst vorgege­ bene systemische Gefüge von Rechtssätzen und rechtlichen Aussagen herzustellen. Dieses Gefüge aus Normtexten und Anwen­ 1566 Mit den Worten von Peirce 1991, S. 400: »Deduktion beweist, dass etwas sein muss; Induktion zeigt, dass etwas tatsächlich wirksam ist; Abduktion deutet lediglich daraufhin, dass etwas sein kann.« – CP. 5.171. 1567 A. Peczenik 1983, S. 170. 1568 So bereits der LS 3 Kap. 8 VII. 2. 1569 Ausführlich dazu Kap. 8 VII.

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dungspraxis1570 ist zugleich auch ein Gefüge aus Argumenten, metho­ dischen Gesichtspunkten, dogmatischen Kategorien und Begriffen. Es stellt aber nicht nur einen Katalog von Topoi zur Verfügung, die zu diskutieren sind. Durch Dogmatik und den »Hypertext Recht« ist die­ ses Gefüge immer schon mehr oder minder strukturiert. Die Gründe, die in Erwägung zu ziehen sind, haben deshalb nie alle den gleichen Stellenwert, sondern sind in diesem Gefüge meist schon »bewertet« und haben in dessen Struktur ihren Stellenwert als mehr oder minder gute Gründe. Ob ein bestimmter Grund p allein oder zusammen mit p1, p2 usw. gute Gründe für q liefert oder nicht die besseren Gründe für non-q bzw. für q2 sprechen, ist dem Richter also meist weitgehend vorgegeben. Es ist kein Feld freier Gewichtung und Gestaltung. Das heißt nicht, dass es nicht die besseren Gründe für non-q bzw. für q2 geben kann. Die abweichende Gewichtung darf dann aber nicht im Widerspruch zu den Strukturen des Gefüges geraten, mit anderen Worten dem bisherigen Aussagesystem widersprechen. – Es sei denn, es gibt gute Gründe, den bisher als hinreichend akzeptierten Normenund Prämissenrahmen nicht mehr als solchen zu akzeptieren. (2.) Da in den »anerkannten Sätzen« eine notwendige Bedingung von Kohärenz liegt, ist es nur folgerichtig, dass es auch für die Frage des guten oder besseren Grundes letztlich auf den Bezug dieses Grundes auf den jeweils zu berücksichtigenden Normen- und Prä­ missenrahmen ankommt. Nur in Bezug auf diesen Rahmen kann Kohärenz hergestellt werden. Betrachten wir den Prozess jedoch zunächst nicht aus der Per­ spektive der Herstellung, sondern, wie eher üblich, aus der der Begründung: Der Richter muss in den »Gründen« den Grund angeben können, warum er so und nicht anders, konkret, nicht zugunsten der unterlegenen Partei entschieden hat. Idealerweise ist dies ein Grund, der außer Streit steht und nicht mehr in Zweifel gezogen werden kann, jedenfalls nicht mit vernünftigen Gründen. Der Richter muss jedoch auch dann entscheiden, wenn er auf unstreitige Gründe nicht zurückgreifen kann. In der gerichtlichen Praxis ist es dann eben der als hinreichend akzeptierte Normen- und Prämissenrahmen, von dem man ausgeht und ausgehen muss. Anders käme man, wie gezeigt, am Münchhausen-Trilemma1571 nicht vorbei.

1570 1571

Kap. 18 II. 2.; Kap. 19 I. 2. Kap. 18 III. 3.

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Der Weg, den der Richter bei der Herstellung der Entscheidung geht, hat demgegenüber zwar nicht die Folgerichtigkeit einer durch­ dachten Begründung, setzt aber gleichfalls ein Arbeiten mit genau den Gesichtspunkten voraus, die die Entscheidung be-gründen. Der Prozess des »Eingliederns« eines Falles in das zu berücksichtigende Gefüge aus Normtexten und Anwendungspraxis ist, wie analysiert, ein Prozess des Scannens und Abgleichens, der stets auch immer wie­ der Schritt für Schritt erfolgt. Und wenn sich in diesen Prozessen die Frage stellt, inwieweit ein Gesichtspunkt ein »guter Grund« ist, kann auch hier nur die Relation dieses Gesichtspunktes zu dem konkreten Normen- und Prämissenrahmen den Maßstab abgeben, nach dem sich »gut«, »besser« oder »irrelevant« beurteilen lässt. Je unverträglicher ein Gesichtspunkt, auf den eine rechtliche Feststellung gestützt wird, etwa mit dogmatischen Grundlehren eines Rechtsgebietes oder einer einschlägigen Entscheidung des BVerfG ist, desto eher wird er zu einer inkohärenten Entscheidung führen – jedenfalls dann, wenn nicht auch hier der Prämissenrahmen zugleich so »umgebaut« wird, dass sich dieser seinerseits wieder in einen hinreichend kohärenten Rahmen einfügt, der auch Aussicht hat, akzeptiert zu werden (dazu näher V.). Anschauungsmaterial für diese doch eher abstrakten Überle­ gungen bietet das vom BVerwG entwickelte »Abwägungsmodell« zum Planungsrecht. Die Leitentscheidung von 19691572 macht einmal deut­ lich, wie durch Abduktion ein Problemlösungsmuster geschaffen wird. § 1 BBauG vom 23.06.1960 war für die Rechtsprechung Neu­ land und die Fragen tauglicher Maßstäbe für die verwaltungsgericht­ liche Kontrolle waren umstritten.1573 Zu erörtern waren die bekannten Prüfprogramme: zum »Ermessen«, zum »Beurteilungsspielraum« und zum unbestimmten Rechtsbegriff. Das Planungsermessen ist offenbar anders strukturiert als das Ermessen bei polizeilichem Ein­ schreiten. Hinsichtlich der Grundregeln der Bauleitplanung verfügt die Gemeinde über keine »ausschließliche oder doch wenigstens her­ vorragende und deshalb bevorzugungswürdige Sachkunde«1574 – also schied die Annahme eines Beurteilungsspielraumes aus. Die Über­ einstimmung eines Bebauungsplans mit dem in BBauG § 1 Abs. 4 BVerwGE 34, 301; instruktiv dazu: J. Berkemann: Das »Abwägungsmodell« des BVerwG (BVerwGE 34, 301 [1969]) – Entstehungsgeschichte und Legendenbildun­ gen, DVBl 2013, 1280–1292; s. auch. Hoppe 2003, DVBl, 251–269. 1573 J. Berkemann aaO. S. 1285 f. 1574 BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 28.

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S. 2 enthaltenen Abwägungsgebot andererseits in vollem Umfang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zu unterstellen,1575 wäre mit der planerischen Gestaltungsfreiheit unvereinbar.1576 – Es musste also eine neue Regel generiert werden, die gleichzeitig auch ein ange­ messenes Fallverständnis ermöglichte. Und die Entscheidung findet für die neuen Regeln auch »gute Gründe«1577 : Das vom BVerwG geschaffene juristische Konstrukt hat drei Bezugspunkte: 1. den Nor­ menrahmen, § 1 BBauGB,1578 der ja ein Gebot, die »öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwä­ gen«, schon enthält; 2. das Abwägungsgebot, als »ein dem Wesen rechtsstaatlicher Planung innewohnender Grundsatz, dem deshalb die Bauleitplanung auch dann Rechnung tragen müßte, wenn § 1 BBauG das nicht ausdrücklich bestimmte«1579 , und 3. die Analyse und Strukturierung des Planungsprozesses selbst. So wird der Vorgang, den es rechtlich zu beurteilen gilt, derart strukturiert, dass man aus ihm auch ein Prüfprogramm entwickeln kann.1580 Das Grundmodell selbst baut dann wesentlich auf folgenden zwei Prämissen auf: Eine »Planung ohne Gestaltungsfreiheit [wäre] ein Widerspruch in sich«1581 – »dem Wesen einer rechtsstaatlichen Planung entspre­ chend«1582 , muss aber überprüft werden können, »ob im Einzelfall die gesetzlichen Grenzen der Gestaltungsfreiheit überschritten sind oder von der Gestaltungsfreiheit in einer der Ermächtigung nicht entspre­ 1575 So VGH Mannheim, Beschluss vom 22. Juli 1966 – I 131/65 –, juris; dazu Ber­ kemann aaO. S. 1285, 1289. 1576 BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 20. 1577 Was aber nicht heißen soll, dass die Entscheidung zugleich auch ein Schulbeispiel für ein methodisch vorbildliches Urteil wäre; vgl. auch dazu die Analyse von J. Berke­ mann aaO. S. 1280 ff. 1578 Mit dem die Entscheidung allerdings sehr kritisch umgeht – BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 26; auch dazu J. Berkemann aaO. S. 1288 ff. 1579 BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 26. 1580 Im Grundmodell lautet das Prüfprogramm: »Das Gebot gerechter Abwägung ist verletzt, wenn eine (sachgerechte) Abwägung überhaupt nicht stattfindet. Es ist ver­ letzt, wenn in die Abwägung an Belangen nicht eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muß. Es ist ferner verletzt, wenn die Bedeutung der betroffenen privaten Belange verkannt oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen wird, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht.« – BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 29. 1581 BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 26. 1582 BVerwG, Urteil vom 30. April 1969 – IV C 6.68 –, juris Rn. 17; zitiert von BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 26.

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chenden Weise Gebrauch gemacht [worden] ist«1583. Beide Prämissen können sich also auf »anerkannte Sätze« stützen, und da das Grund­ modell auch offen genug war, um es durch »Nachjustierungen […] flexibel zu halten«1584, bietet es für das Planungsrecht auch heute noch den als hinreichend akzeptierten Prämissenrahmen. Das Beispiel veranschaulicht so paradigmatisch den Zusammen­ hang von dem Finden einer neuen Regel zu ihrer Dogmatisierung über gute Gründe.

3. Subsumtion und Abwägung Die Subsumtion ist die eine Operation, um Kohärenz herzustellen; die andere ist die der »Einpassung durch Abwägung«. Das eben besprochene planungsrechtliche Abwägungsmodell ist hier nur ein markantes Beispiel für die Aufgabe des Rechts, widerstreitende Inter­ essen, konfligierende Zielsetzungen, widerstreitende Belange und Prinzipien »gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen«. Der Prozess ist dann das Verfahren zur Lösung dieser sozialen Kon­ flikte. Die Rechtsprechung hat es mithin in ihrer Grundfunktion mit dem Umgang mit Widersprüchen zu tun.

a) Hierarchisierung und Abwägung Das eine Verfahren, solche Widersprüche aufzulösen, liegt in der Hierarchisierung der Entscheidungskriterien. Hier hat die Sub­ sumtion ihre zentrale Aufgabe, vollzieht sich doch über sie die Unterordnung des konkreten Konflikts unter die Norm, die ihn abstrakt schon gelöst hat. Der Richter muss den Widerspruch nicht selbst lösen, sondern ordnet den Fall im Wege der Subordination der konkreten Fakten unter die Tatbestandsmerkmale nur in das einschlägige Gefüge rechtlicher Aussagen ein. Auch dieses Gefüge selbst hat eine hierarchische Struktur. Geschaffen wird sie durch die Rechtsquellenlehre und Kollisionsnormen – insbesondere die

1583 1584

BVerwGE 34, 301 – juris Rn. 20. J. Berkemann aaO. S. 1291.

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Grundsätze, dass die neue der alten, die spezielle der allgemeinen Norm vorgeht.1585 Der andere Weg ist der, den Widerspruch gleichsam in die Norm selbst hineinzunehmen und ihn als Abwägungsproblem zu hand­ haben. Hierfür steht paradigmatisch die Grundrechtsanwendung über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Doch weil im Recht stets konfli­ gierende Interessen und Wertungen im Spiel sind, die situativ oder jedenfalls fallspezifisch entschieden werden müssen, ist die Abwä­ gung nicht anders als die Subsumtion selbstverständlicher Teil der methodischen Praxis. Mit den Worten H.-J. Kochs: »Abwägung ist ein im Recht ubiquitärer Entscheidungsmodus.«1586 Normanwendung ist deshalb meist ein Prozess, in dem sich Subsumtion und Abwägung verzahnen. Typische Beispiele sind etwa die Prüfungsschemata für den Aufbau einer Grundrechtsprüfung: sachlicher und persönlicher Schutzbereich – Eingriff – Rechtfertigung oder für die Ermessens­ prüfung: tatbestandliche Voraussetzungen und sodann fehlerfreie Ermessensausübung. Aber nicht nur die Subsumtionsprozesse i.e. S., sondern auch die Auslegungsprozesse selbst sind mit Abwägungs­ prozessen verzahnt.1587 (1.) Das Ermessen ist daran gebunden, dass von ihm in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wird (§ 114 VwGO). Die Rede ist dabei zwar nur von »dem« Zweck; eingeräumt wird ein Ermessenspielraum jedoch nur, weil eine eindeutige Zielstellung durch eine eindeutige Wenn-dann-Regelung der zu regelnden Situation nicht angemessen wäre. Es geht also, wie immer wenn im Recht ein teleologisches Verstehen gefragt ist, nicht um nur einen Zweck, sondern um einen Plural konfligierender Zwe­ cke, Interessen und Werte, die zum Ausgleich gebracht werden müs­ sen.1588 Nichts anderes gilt auch für die Auslegung unbestimmter Die unterschiedlichen Lösungen des bekannten Schweinemäster-Falls (OVG Münster, OVGE 11, 250, DVBl 1957, 867) mögen das am Beispiel illustrieren – sehr gut nachvollziehbar etwa in der Abfolge der verschiedenen Auflagen des Lehrbuches zum Polizeirecht von Volkmar Götz, Allgemeines Polizei und Ordnungsrecht, vgl. 7. Aufl., Göttingen 1982, 108 ff., 8. Aufl. 1985, Rn. 218 ff., 10. Aufl. 1991, Rn. 218 ff.; sie kamen mit jeweils geänderten Kollisionsnormen und Wertungen zu anderen Ergebnissen. 1586 H.-J. Koch 2003, S. 236. 1587 H.-J. Koch aaO. S. 237 ff. 1588 Konkret zum Ermessen Koch aaO. S. 238; zu Ermessen und Regelbindung all­ gemein Kap. 16 I. 3. 1585

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Rechtsbegriffe, soweit ihre Unbestimmtheit darauf angelegt ist, dass sie in einer dem Zweck entsprechenden Weise angewandt wer­ den. Auch hier müssen unterschiedliche Zwecke abgewogen werden. Ein Beispiel aus dem Baurecht mag das verdeutlichen: So gehört etwa eine Jagdhütte zu den Gebäuden, die im Außenbereich privilegiert zulässig sind (§ 35 BauGB). Ob auch die konkrete Jagdhütte als ein solches Gebäude zulässig ist – als Ausnahme von der Regel, dass der Außenbereich von Gebäuden freizuhalten ist –, ist dann aber »nicht nur nach seiner Lage und Größe, sondern auch nach anderen Merk­ malen wie Zuschnitt, Raumaufteilung, Raumausstattung zu beurtei­ len, die Aufschluß darüber geben, ob es allein der ordnungsgemäßen Jagdausübung dient«.1589 (2.) Die Frage nach Hierarchisierung oder Abwägung macht auch den Kern des klassischen Methodenstreites um Kanon und Rangord­ nung der Auslegungsregeln aus. Versuchen, die Auslegung durch Prioritätsregeln berechenbarer zu machen, stehen die Positionen gegenüber, für die die Auslegungsgrundsätze nichts anderes als ein Katalog sinnvoller Interpretationstopoi darstellen. Das ist ausführlich diskutiert worden,1590 und es hat sich gezeigt, dass es bei genauerem Hinsehen nur sehr wenige normativ-hierarchische Strukturen gibt, die dem Richter vorgeben, wie er auszulegen hat. Neben der speziellen Vorgabe des Art. 103 Abs. 2 GG sind es nur die – alles andere als zahlreichen – Fälle, in denen Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systematik so eindeutig sind, dass sich eine Korrektur durch eine teleologische Interpretation verbietet.1591 Die Auslegung ist deshalb im Übrigen aber kein freies Spiel mit jeweils vernünftig erscheinenden Auslegungsgrundsätzen. Wie der Richter bei seiner Abwägung Fall­ gruppen, die sich in der Rechtsprechung herausgebildet haben, nicht einfach übergehen darf, darf er im Hinblick auf den Gleichheitssatz auch die vorangegangenen Interpretationen, d. h. den Hypertext Recht nicht außer Acht lassen, ohne dafür die besseren Gründe zu haben.

1589 1590 1591

BVerwG, BauR 1996, 828–830 – juris LS. Kap. 20. Kap. 20 V. 2.

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b) Abwägung und Kohärenz Die »Abwägung« als rechtliches und methodisches Problem war bereits vielfältig Gegenstand der bisherigen Analysen: als Problem der Regelbindung und des Gleichheitssatzes, als Problem des Umgan­ ges mit Prinzipien und Wertesystemen, als Problem der Metho­ denlehre – dort als Alternative: Regelwerk oder Topoikatalog? Die Aufgabe ist es nun, zu bestimmen, wann und wie wir bei Abwägungs­ prozessen von Herstellung von Kohärenz sprechen können. Zu fragen ist auch, wie diese Abwägungsprozesse zu strukturieren und welche Kohärenzkriterien so zu gewinnen sind. Ein erster Schritt ist schon damit gemacht, sich der gegenläufigen Positionen zu vergewissern, die den Entscheidungsmodus der Abwä­ gung selbst begründen: Da sind auf der einen Seite die Regelbindung, der Gleichheitssatz und die Rechtssicherheit; auf der anderen Seite bestehen keine ernsthaften Zweifel, dass sich komplexe Interessenund Wertungskonflikte ohne konkretere Fallbezüge nicht gerecht lösen lassen. Will man den Gesichtspunkt der Einzelfallgerechtigkeit gegenüber Rechtssicherheit und Klarheit nicht prinzipiell als unterge­ ordnet einstufen, wird man also von einer prinzipiellen Gleichheit beider Positionen ausgehen müssen. Sie müssen beide zu ihrem Recht kommen können. Und für unsere methodischen Überlegungen ist damit auch klargestellt, dass es keine übergeordnete, subsumierbare Regel wird geben können, aus der wir jeweils sicher ableiten könnten, wie man zu einer »gelungenen« Abwägung kommt. (1.) Ein lineares Prüfprogramm wird sich für die Abwägung also nicht finden lassen. Es kann nur um die Entwicklung von Abwägungsprogrammen1592 gehen, Programmen, die ein Verfah­ ren vorgeben, nach denen die Ermittlung und Gewichtung der Abwä­ gungsgesichtspunkte sowie die Bewertung der Abwägungsergebnisse vorzunehmen sind. Solche Abwägungsprogramme haben idealer­ weise die Aufgabe, den Abwägungsvorgang so zu strukturieren, dass überprüfbar wird, welche Gesichtspunkte gegebenenfalls mit welchen Vorrangrelationen in die Abwägung eingestellt werden müssen, ob sie auch eingestellt wurden und mit welchen Gewichtungen dies gegebenenfalls geschah. Zu gewinnen sind diese Gesichtspunkte und, falls möglich auch die Vorrangrelationen, im Wege der Auslegung. Da 1592 Üblich ist dieser Terminus etwa bei der Prüfung von Akteneinsichtsrechten, z. B. dem Abwägungsprogramm des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO.

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die Abwägung darauf zielt, eine der Situation angemessene Entschei­ dung zu ermöglichen, kann das Programm und das »nach Lage der Dinge einzustellende« Abwägungsmaterial nicht losgelöst von typi­ schen Fallsituationen und den ihnen innewohnenden Sachproblemen bestimmt werden. Es ist also auch die Sachstruktur in den Blick zu nehmen und zu analysieren. Das für das Planungsrecht entwickelte Abwägungsmodell ist dafür zum klassischen Beispiel geworden. Es ist auch ein typisches Beispiel für die Genese solcher Abwä­ gungsprogramme: Eine Norm statuiert einen Abwägungsauftrag, gibt aber keine, kaum oder nur unzureichend strukturierte Vorgaben für diese Abwägung. Es ist dann Sache der Rechtsprechung, oft über Fall­ gruppen, für den jeweiligen Abwägungsbereich handhabbare Abwä­ gungsmodelle zu entwickeln, die gegebenenfalls von Fall zu Fall ver­ feinert oder vom Gesetzgeber übernommen oder auch modifiziert werden. Wie verschieden solche Modelle ausfallen (müssen), zeigt dann schon ein kurzer Blick auf die unterschiedlichsten gesetzlichen Regelungen. Genannt seien die Auslegungsgeschichte des § 242 BGB, der rechtfertigende Notstand, § 34 StGB, die Strafzumessungsregeln, u. a. §§ 46 ff. StGB, das Prüfprogramm für die Rücknahme von Ver­ waltungsakten, § 48 VwVfG,1593 im Prozessrecht etwa die im einst­ weiligen Rechtsschutz notwendige Abwägung, die Abwägungspro­ gramme für Vorlage- und Auskunftspflichten, § 99 VwGO,1594 § 218 TKG, § 44 ff. KWG. (2.) Bestimmt wird die Diskussion um die »Abwägung im Recht«1595 aber nicht durch Auseinandersetzungen um die bereichs­ spezifischen Abwägungsmodelle, sondern durch das Problem, für die Konflikte zwischen Grundrechtsträgern, d. h. in den Fällen von Grundrechtskollisionen, Maßstäbe für die »praktische Konkor­ danz« zu finden. Es geht »um einen Ausgleich, bei dem die Frei­ heit der einen mit der Freiheit der anderen in Einklang zu bringen ist. Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und [...] nach dem Grundsatz der prak­ tischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle

1593 Als »ein für den Betroffenen berechenbares rechtsstaatliches Abwägungspro­ gramm«, BVerwG, Urteil vom 30. 06.2008 – 5 C 32/07 – juris Rn. 13. 1594 Anschaulich hier der Vergleich der Fassung vom 22.03.2005 mit § 99 VwGO in der Fassung vom 01.01.1964. 1595 So der Titel eines Symposions für W. Hoppe, hg. von W. Erbguth u. a., Köln 1996.

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Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden.«1596 Zu erfolgen hat das nach der st.Rspr. des BVerfG durch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Zu überprüfen ist mithin, ob 1. 2. 3. 4.

ein legitimer Zweck mit legitimen Mitteln verfolgt wird, die Maßnahme geeignet ist, diesen Zweck zu erreichen, sie auch erforderlich ist, und schließlich, ob das »Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn« gewahrt ist.1597

Während die Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit auf die Tatsachenebene bezogen sind, kommt es auf diese letzte Stufe – die Wertungsebene – entscheidend an1598, wenn »keine Lösung ersicht­ lich ist, die hinsichtlich Eignung und Erforderlichkeit für jedes der kollidierenden Rechtsgüter zu einem positiven Ergebnis kommt«.1599 Notwendig ist es dann, die verfassungsrechtliche Hinnehmbarkeit zu prüfen. Dies hat im Wege einer Abwägung zu geschehen, die die jeweiligen Vor- und Nachteile bei der Verwirklichung der ver­ schiedenen betroffenen Rechtsgüter in ihrer Gesamtheit einbezieht. Dabei ist zu klären, ob (a) Abstriche in der Eignung und Erforder­ lichkeit hinsichtlich des einen kollidierenden Rechtsguts angesichts der dadurch bewirkten Möglichkeit zum Schutz des anderen Guts in einem angemessenen Verhältnis stehen, insbesondere zumutbar sind, oder ob (b) die Angemessenheit eher erreicht wird, wenn Min­ derungen der Eignung und Erforderlichkeit hinsichtlich des anderen Rechtsguts in Kauf genommen werden. »Gegebenenfalls sind unter­ schiedliche Lösungsmöglichkeiten darauf zu überprüfen, welche aus beiden Sichtwinkeln zur größtmöglichen Sicherung des Schutzes der kollidierenden Rechtsgüter führt.«1600 Praktische Konkordanz, so hatte es K. Hesse formuliert, bedeutet, »beiden Gütern müssen Grenzen gezogen werden, damit beide zur optimalen Wirksamkeit gelangen können«.1601 Die Frage ist nur: Erfolgt diese Grenzziehung von Fall zu Fall oder bedarf es für sie auch BVerfGE 134, 204–239, – juris Rn. 68 m. w. N. So z. B. die Entscheidung zum Gentechnikgesetz – BVerfGE 128, 1–90 – juris Rn. 172–186. 1598 Grundlegend zum Zusammenhang von Prinzipientheorie und Verhältnismäßig­ keitsgrundsatz R. Alexy 1986, S. 100 ff. 1599 BVerfGE 115, 205–259 – juris Rn. 97. 1600 BVerfGE 115, 205–259 – juris Rn. 97. 1601 K. Hesse 1967, S. 29. 1596 1597

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Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz

normativer Fixpunkte? – Hier wird man unterscheiden müssen: Soweit Normen auf der Ebene des einfachen Rechts Abwägungen vorausset­ zen oder gar Abwägungsprogramme vorgeben, lassen sich aus dem Normenbestand und übergeordneten Prinzipien oft Gewichtungen und somit auch Vorgaben für die Abwägungen ableiten. Wenn es um Grundrechtskollisionen geht, stößt dieses Verfahren dagegen auf prin­ zipielle Schwierigkeiten. Grundrechte sind gleichrangig und lassen sich deshalb nicht abstrakt in ein Vorrangverhältnis bringen.1602 Unterhalb dieser abstrakten Ebene ist es dann meist die Aufgabe der Rechtsprechung, die durch die Grundrechte vorgegebenen Wertun­ gen »mit dem Blick auf den zur Regelung stehenden jeweiligen Lebensbereich und unter Herausbildung von Fallgruppen« zu kon­ kretisieren.1603 Das wird erleichtert, wenn das Grundrecht selbst Dif­ ferenzierungen vorgibt, wie Art. 12 GG für die Berufswahl und die Berufsausübung. Die »Stufentheorie« ist so zum Musterbeispiel für die Güterabwägung geworden. Für andere Grundrechte hat sich dage­ gen die Forderung, »praktische Konkordanz« müsse durch »fallgrup­ penspezifische Vorrangbedingungen hergestellt werden«,1604 nicht als einlösbar erwiesen. Typisches Beispiel sind hierfür die Kollisionen des Persönlichkeitsrechts mit der Meinungs- und Kunstfreiheit. Die geforderte Abwägung führt dann in der Tat dazu, dass »die Grenze zwischen erlaubter Ausübung der künstlerischen Freiheit und einem verbotenen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht […] regelmäßig nur schwer zu bestimmen ist«, wie es der BGH in dem nachgehenden Zivilrechtsstreit zur Esra-Entscheidung1605 formuliert hat.1606 Oder noch deutlicher: Die Einzelfallabwägung lässt den Gesetzesvorbe­ halt im Ergebnis zu einem Richtervorbehalt werden.1607 (3.) Die Probleme im Umgang mit Grundrechtskollisionen zei­ gen auch, dass es sich bei der Herstellung »praktischer Konkordanz« und der Herstellung von Kohärenz um Vorgänge auf unterschied­ lichen Ebenen handelt. Die Aufgabe, »praktische Konkordanz« herzu­ stellen, wird dem Richter durch die Grundrechtsdogmatik gestellt. Da die Grundrechte nicht in einer hierarchischen Relation zueinander 1602 1603 1604 1605 1606 1607

H.-J. Koch 2003, S. 244, 246. BVerfGE 109, 279–391, – juris Rn. 119 zu Art. 13 Abs. 3 GG. H.-J. Koch 2003, S. 246. BVerfGE 119, 1, 59 ff. BGHZ 183, 227–235. Kap. 18 II. 1. c; U. Volkmann 2013, S. 230.

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V. Herstellung von Kohärenz – Regeln und Operationen

stehen,1608 müssen die Grenzen der Autonomiesphären, die sie schaf­ fen, konfliktspezifisch ausgehandelt werden. Methode als Herstellung von Kohärenz hat demgegenüber nicht die Aufgabe, eine »bessere« Grundrechtsdogmatik – eine, die die Abwägung berechenbarer macht – auf den Weg zu bringen. Methode kann hier zunächst nichts anderes bedeuten, als den Grundrechtskonflikt im konkreten Fall so zu lösen, wie es die Grundrechtsdogmatik vorgibt. Wie es allgemein darum geht, den konkreten Fall in das zunächst vorgegebene syste­ mische Gefüge von Rechtssätzen und rechtlichen Aussagen kohärent »einzugliedern«, geht es auch bei der Abwägung um eine solche »Eingliederung«. Aus dem als hinreichend akzeptierten Gefüge der einschlägigen Normen und ihrer Anwendungspraxis hat der Richter das Abwägungsprogramm zu entnehmen oder gegebenenfalls zu entwickeln, um es anschließend »abzuarbeiten«. Die Frage, ob die Lösung des konkreten Falles, d. h. der zu ermittelnde Ausgleich zwischen den konfligierenden Prinzipien und Interessen, dann auch kohärent ist, beantwortet sich so auch folgerichtig (nur) danach, ob die Kriterien und Maßstäbe des Abwägungsprogramms beachtet worden sind. Doch diese Feststellungen und Regeln sollen den Richter nicht auf die vorgefundene Grundrechtsdogmatik oder, allgemeiner, auf den genannten Normen- und Prämissenrahmen festlegen. Sieht der Richter keinen gangbaren Weg, das von ihm für richtig gehaltene Abwägungsergebnis – oder generell seine Falllösung – in das bis­ herige Aussagesystem einzufügen, muss er allerdings die Hürde nehmen, die der amerikanische Philosoph N. Goodmans so beschrie­ ben hat: »Wir können Versionen nach Wunsch erzeugen« – schreibt er und meint damit das, was wir »Weltbilder« nennen würden –, »aber richtige Versionen (also Welten) zu erzeugen, erfordert wie das Erzeugen von Sofas und Soufflés Geschick und Sorgfalt. Denn eine Version wird nicht dadurch richtig, dass wir sie zu einer solchen erklären.«1609 Der Richter darf mit seiner Entscheidung also das bisherige Aussagesystem nicht schlicht auf sich beruhen lassen, wenn er sie in das System nicht einordnen kann. Er kann es auch nicht beliebig ändern. Kohärenz kann er nur dadurch herstellen, dass er das Aussagesystem selbst so »umbaut«, dass sich dieses seinerseits wie­ Zum Grundsätzlichen dieses Problems siehe U. Volkmann 2013, S. 230. N. Goodman, C. Elgin 1989, S. 74; näher zu Goodman siehe M. Plümacher, in: Enzyklopädie Philosophie, Hg. Sandkühler, 1999, Stichwort: Symbol/Symbolische Form, S. 1574. 1608

1609

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Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz

der in einen solchen Rahmen einfügt. – Wie frei oder wie gebunden die Rechtsprechung dann letztlich bei solchen »Umbauarbeiten« ist, wird im folgenden Schlussabschnitt zu erörtern sein.

VI. Methodik und ihre Grenzen – Offenheit und Kontingenz Mit der Frage nach Freiheit und Bindung ist das Problem der Grenz­ bedingungen angesprochen, die immer mitgedacht werden müssen, wenn Methodenfragen zu reflektieren sind. Thematisiert haben wir diese Bedingungen bisher unter folgenden Stichworten: 1. 2. 3.

Methodenfragen sind erkenntnistheoretische Fragen – nach den Grenzen, die das menschliche Erkenntnisvermögen der richterli­ chen Sachverhalts- und Rechtserkenntnis setzt; Methodenfragen sind Fragen der Sprachtheorie – nach dem Grad der Bestimm- und Verstehbarkeit von Normen, die die Sprache leisten oder nicht leisten kann; Methodenfragen sind Verfassungsfragen – nach den Vorgaben, die sich aus den Normen des GG für den Inhalt und die Handha­ bung methodischer Regeln ergeben.

Bisher nicht genauer analysiert sind demgegenüber die Grenzbedin­ gungen, die zum einen dem Verständnis von Methode als Herstellung von Kohärenz selbst immanent sind und die sich zum anderen aus dem inneren theoretischen Zusammenhang von Methode und Recht erge­ ben. Dazu vorab drei Thesen, die anschließend zu begründen sind: 1.

2.

3.

Konstitutiv für die Grundkonzeption einer jeden Methoden­ lehre ist das jeweilige Grundverständnis von Recht, das ihr zugrunde gelegt wird. Hier ist es ein evolutionäres Verständnis von »Recht«. Diesem Verständnis entspricht der kohärenztheoretische Ansatz. Die entscheidende Grenzbedingung, die mit diesem Ansatz dem methodischen Vorgehen gesetzt ist, ist die Notwen­ digkeit einer Anbindung an »anerkannte Sätze«. Die Grenze des methodisch Vertretbaren ist deshalb dann erreicht, wenn der neu zu schaffende Normen- und Prämissen­ rahmen so »umgebaut« wird, dass er sich mit den für das Recht bisher basalen Aussagen nicht mehr in Übereinstimmung brin­ gen lässt.

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VI. Methodik und ihre Grenzen – Offenheit und Kontingenz

Die Notwendigkeit einer Anbindung an »anerkannte Sätze« ist dabei nicht nur eine Notwendigkeit des kohärenztheoretischen Ansatzes, sondern auch eine notwendige Bedingung für die regulative Idee einer »richtigen Entscheidung«. Sinnvoll ist diese nur unter der Vorausset­ zung, dass es zwischen dem methodisch Vertretbaren und dem methodisch nicht mehr Vertretbaren bestimmbare Grenzüberschrei­ tungen gibt.

1. Die evolutionäre Struktur des Rechts Wenn Methode mehr sein will als eine Umschreibung für ein »Mach-was-Du-für-richtig-hältst«, muss sie auch Kriterien für das methodisch nicht mehr Vertretbare angeben können. Konkret bestim­ men lassen sich solche Kriterien aber nicht als Grenzen, die jeder Methode »an sich« eigen sind. Insbesondere am Beispiel der Aus­ legungsregeln hat sich erwiesen, dass man eine Methodenlehre theo­ riefrei weder formulieren noch reflektieren kann. Das gilt nicht nur für die jeweils unterschiedlichen sprachphilosophischen und erkennt­ nistheoretischen Hintergründe, mit denen sie verstanden und ange­ wandt werden. Das gilt vor allem auch für die rechtstheoretischen Grundvorstellungen über den Erkenntnisgegenstand selbst – über das, was »Recht« ist. Erst wenn diese Frage beantwortet ist, lassen sich auch die weiteren Fragen beantworten: Auf was kommt es bei seiner Anwendung im Kern an? Auf das, was der Gesetzgeber gewollt hat? Auf die den Normtexten vorausliegenden Werte? Oder auf das hinter den konkreten Regelungen stehende »innere und bleibende Wesen der Rechtsbegriffe« (Savigny1610)? Die Grundsatzdiskussionen hierzu sind bereits geführt.1611 Weder über begriffsjuristische noch über naturrechtliche und auch nicht über die Rechtsvorstellungen der so genannten subjektiven Auslegungstheorie lässt sich heute ein Rechtsbegriff entwickeln, der als Basis einer zeitgenössischen juristischen Methodenlehre geeignet wäre – und so auch dazu dienen könnte, Kriterien für das methodisch nicht mehr Vertretbare zu bestimmen. Auszugehen ist vielmehr von einem dynamischen Rechtsbegriff, einer evolutionären Struk­ tur des Rechts. Bestimmend für diese Struktur ist wesentlich das 1610 1611

Savigny 1840–49, Bd. 5, S. 184. Vgl. Kap. 15 I.; Kap. 18 I.; Kap. 20 III.

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»Wechselspiel von Rechtsprechung und Rechtsetzung«1612, in dem Recht verändert und angepasst wird.1613 Das, was als Recht gilt, ist das momentane Ergebnis eines Prozesses, das man zwar »dem« Rechtssystem zuordnen kann, von dem man aber kaum mehr genau sagen kann, wem damit eigentlich etwas zugeordnet wird. Es ist oft eine Vielzahl von Akteuren auf nationaler, supranationaler, auch internationaler Ebene, die auf »das« Recht Einfluss nehmen – sei es aufgrund ihrer Rechtsetzungs- oder Rechtsprechungskompetenz, sei es (in der Terminologie Luhmanns) in Prozessen »struktureller Kop­ pelung« mit anderen Systemen, wie der Wirtschaft, der Wissenschaft (z. B. Dogmatik) und der Technik (Stichwort etwa die juristischen Datenbanken) und, nicht zu vergessen, den Systemen medialer Erzeu­ gung von Sinn und Akzeptanz. Recht kann deshalb heute kaum mehr auf eine zentrale Steuerungsinstanz (und deren Gestaltungswillen), geschweige denn auf eine vorausliegende Ordnungs- oder Gerechtig­ keitsvorstellung zurückgeführt werden. In dieser Vielfalt von Differenzierungs- und Rückkoppelungs­ prozessen sind eine zielgerichtete Entwicklung oder gar ein steuern­ des Subjekt nicht mehr auszumachen.1614 Festzustellen sind allen­ falls Co-Evolutionen mit parallelen gesellschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen. Ohne hier die Dis­ kussion aufnehmen zu können, inwieweit sich die »Evolution des Rechts« deshalb auch theoretisch in die biologische Evolutionstheorie einfügen lässt,1615 haben wir es auch im Recht mit charakteristischen Eigenschaften eines evolutionären Prozesses zu tun: Er ist nicht beliebig, aber auch nicht determiniert. Man kann ihn nicht im Vor­ aus bestimmen; Rechtsänderungen beruhen nicht auf zwingenden Ableitungen, sind aber im Nachhinein nachvollziehbar. Wir haben also das gemeinsame Moment der Zufälligkeit: die Zufälligkeit der Mutationen und die Kontingenz von Entscheidungen, die sich in das bisherige Gefüge rechtlicher Aussagen nicht mehr einfügen, sondern BVerfGE 132, 99–133 – juris Rn. 74. Kap. 20 V. LS 6. 1614 Der Gedanke einer evolutionären Entwicklung des Rechts (evolutionär i. S. Dar­ wins) ist deshalb auch nicht zufällig aus einer systemtheoretischen Perspektive heraus entwickelt worden – siehe M. T. Fögen 2002; M. Amstutz 2002 sowie die Beiträge in dem von Rüdiger Voigt hg. Band »Evolution des Rechts«. Baden-Baden 1998. Zu den evolutionären Elementen in Luhmanns Theorie vgl. hier R. Stichweh 2000, S. 222. 1615 Vgl. K. Röhl: http://www.rsozblog.de/evolution-des-rechts-mehr-als-eine-me tapher-oder-nicht-einmal-das/ – Mai 2015. 1612

1613

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VI. Methodik und ihre Grenzen – Offenheit und Kontingenz

– durchdacht oder ins Blaue hinein – neue Prämissen setzen. Ob sich eine solche Entscheidung – worauf sie auch immer beruhen mag – durchsetzt, ist dann ein Vorgang, der durchaus mit der Selektion ver­ gleichbar ist. Sie wird sich in dem Maße durchsetzen, in dem die neue Einschätzung, die geänderte Prämisse oder gar ein neuer Prämissen­ rahmen von anderen Akteuren im Rechtssystem als »Recht« akzep­ tiert wird. Und wie sich eine Mutation in den Bauplan des Organismus einfügen muss, gibt es auch für den neuen Prämissenrahmen eine Vorbedingung: Er muss sich in die relevanten »anerkannten Sätze« des Rechtsgebietes eingliedern lassen, sich mindestens mit ihnen als »verträglich« erweisen. Wird Methode als Herstellung von Kohärenz verstanden, ist damit also ein evolutionärer Prozess immer mitge­ dacht: Die zu treffende Entscheidung muss sich in das bestehende Recht einfügen, aber sofern sie vorangegangene Entscheidungen nicht exakt übernimmt (= kopiert), verändert sie – mehr oder minder – zugleich den bisherigen Prämissenrahmen (= das Recht), den sie den folgenden Entscheidungen vorgibt. – Natürlich ist das auch eine Frage der Autorität der »Rechtsquelle«, also der Kohärenz, die durch die Organisationsstruktur des Rechtsprechungssystems hergestellt wird. Doch auch nicht alle Rechtsfeststellungen Oberster Bundesgerichte oder selbst des BVerfG erweisen sich als überlebensfähig.

2. Rechtsfindung und ihre gesellschaftlichen Realitätskoordinaten Herstellung von Kohärenz bedeutet damit in der letzten – und für das Methodenverständnis auch problematischsten – Stufe die Notwendigkeit, gesellschaftliche Akzeptanz herzustellen. Die grund­ sätzlichen Probleme, mit denen sich die Methodik auf der Stufe dieses Verhältnisses von Kohärenz und gesellschaftlicher Akzeptanz auseinandersetzen muss, sind bereits erörtert (Kap. 8 VIII.). Noch offen ist aber, über welche Mechanismen Akzeptanz im Prozess der Urteilsfindung konkret hergestellt wird. Zunächst ist davon auszugehen, dass Recht im Regelfall als akzeptiertes Recht gehandhabt wird. Die Rechtsprechung könnte ihre Aufgaben nicht erfüllen, wenn sie das Gefüge rechtlicher Aussagen, in das sie ihre Fälle jeweils einzuordnen hat, nicht in aller Regel als Basis für eine angemessene, juristisch richtige Konfliktlösung hinnehmen würde. Der Rahmen für die juristische Ableitung und Begründung

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des Urteils ist durch den Hypertext Recht, Dogmatik und Präjudizien hinreichend abgesteckt; Kohärenz wird immanent hergestellt. – Das ändert sich, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen oder Einschät­ zungen, die den bisherigen Prämissenrahmen geprägt oder getragen haben, durch veränderte Umstände weggefallen oder doch brüchig geworden sind, sie jedenfalls nicht mehr akzeptiert werden; damit wird auch das rechtliche Gefüge in Frage gestellt. Mit solchen Situationen sind in dem Prozess der evolutionären Rechtsentwicklung die entscheidenden Bedingungen für einen partiel­ len oder auch grundlegenden »Umbau« des bisherigen Prämissenrah­ mens gegeben. Wie und ob das Recht dann auf diese veränderten Umstände reagiert, ist zunächst auch von den Rechtstechniken abhän­ gig, mit denen es bisher soziale Konflikte gelöst hat: hierarchisch oder durch »Abwägungsaufträge«. Über Generalklauseln, Ermessen oder unbestimmte Rechtsbegriffe lassen sich konfligierende Zielstellungen und Interessen leichter an veränderte Verhältnisse anpassen als bei eindeutigen Normvorgaben. Verändert werden die Wertungen, gege­ benenfalls auch die fallgruppenspezifischen Differenzierungen, mit denen bislang die Ermessens- und Abwägungsspielräume strukturiert wurden. Besonders gut zu beobachten sind solche Werteverschiebun­ gen etwa im Bereich der Grundrechte: Bei gleicher Textgestalt ist unterhalb der Textebene »kaum etwas so geblieben, wie es ursprüng­ lich einmal gedacht sein mag«.1616 – Gibt die Norm dagegen die »richtige« Lösung des Konfliktes durch eine klare Wenn-dann-Rege­ lung selbst vor, kommt es zu den bekannten Problemen, die unter den Stichworten Rechtsfortbildung praeter oder contra legem disku­ tiert werden. Es zeigen sich an dieser Stelle alle drei Aspekte, unter denen das Problem evolutionärer Rechtsentwicklung zu sehen ist. Einmal die verfassungsrechtliche Zulässigkeit solcher Rechtsfortbildungen; diese ist bereits erörtert worden. Zum anderen die Bedingungen für die Rea­ lisierungschancen solcher Rechtsfortbildungen; doch diese sind eher Gegenstand rechtssoziologischer als methodischer Überlegungen. Der dritte und hier allein interessierende Aspekt liegt dann in dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem zu regelnden sozialen Konflikt, den Normen, die ihn lösen sollen, und den Vorstellungen über Ursachen, Sachstruktur und Wertmaßstäbe, die seiner Bewer­ tung zugrunde zu legen sind. 1616

U. Volkmann 2013, S. 220; dort und S. 229 f. auch zahlreiche Beispiele m. w. N.

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VI. Methodik und ihre Grenzen – Offenheit und Kontingenz

Dieser Zusammenhang fordert entsprechend der dritten Grund­ these zur Kohärenz1617 die Herstellung von Kohärenz auch für die »Zwischenschicht« zwischen Tatsachenfeststellung und rechtlicher Ein­ ordnung. Kann auf dieser Zwischenebene immanent keine Stimmig­ keit mehr hergestellt werden, ist die dann gegebene Inkohärenz auf der generellen Ebene von Norm und Wirklichkeit zu diskutieren. Oft wird sich das Recht, so wie es ist, durchsetzen. Ob und mit welchem Ergebnis eine bestimmte rechtliche Auffassung problematisiert und dann gegebenenfalls geändert wird, ist sicher auch eine Frage des Zeitgeistes, der hier den Selektionsprozess steuert – im Übrigen aber wohl im Einzelnen so wenig berechenbar wie es Evolutionsprozesse per se sind. Wird sie problematisiert, ist der Weg dazu durch den genannten Zusammenhang vorgegeben. Wie bereits zum Thema »Wechsel und Veränderung von Mustern« (Kap. 22 IV.) ausgeführt: Die Norm ist in ihrer Funktion, soziale Konflikte zu regeln und zu lösen, auf die »Lebenswelt«, nicht auf den Rechtsfall bezogen. Hinter jeder Norm steht ein vom Gesetzgeber gewollter bzw. vom Interpreten vorgestellter Wirkungszusammenhang, der als wertbezo­ genes Funktions-Modell zu begreifen ist, wie ebendiese Norm die Wirklichkeit regulierend entweder ändern oder stabilisieren soll. Man kann hier von Realitätskoordinaten des juristischen Argumentationsund Denkraumes sprechen. Sie werden oft nicht sichtbar, in anderen Fällen müssen sie explizit gemacht werden, etwa wenn es um die Verhältnismäßigkeit1618 geht oder um gesetzliche Instrumente der Wirtschaftslenkung, die ohne das zugrunde liegende volkswirtschaft­ liche Modell nicht interpretierbar sind.1619 Es gilt jedoch allgemein: Die »Normarbeit« gewinnt an dieser Schnittstelle ihre Verankerung in den gesellschaftlichen Realitätsbezügen. Paradigmenwechsel und neue Leitentscheidungen haben so zumeist ihren Grund auch darin, dass bisherige Wirklichkeitsvorstellungen und Wirklichkeitsmodelle nicht mehr akzeptiert und durch zeitgemäßere ersetzt werden. Diese gesellschaftlichen Realitätsbezüge dürfen umgekehrt aber nicht als »Rechtsquelle« missverstanden werden. Auch wenn ihr Veränderungsdruck groß sein kann, muss er auch vom Recht her akzeptiert werden können. Von einer juristischen Methode sollte man nur sprechen, soweit sie auf ein Recht mit einer autonomen Kap 8 II. 3. Vgl. hier die Materialsammlung von K. Philippi 1971, 28 ff., 56 ff. 1619 Vgl. zu dem Auslegungsstreit um das Tatbestandsmerkmal »volkswirtschaftlich besonders förderungswürdig« in § 1 Abs. 4 InvZulG 1969 Kap. 17 IV. 2. b. 1617

1618

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Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz

Systemstruktur bezogen wird. Entfällt diese, bleiben nur noch Dienst­ anweisungen für Vollzugsbeamte.

3. Die Grenze des methodisch nicht mehr Vertretbaren Paradigmatisches Beispiel für den grundlegenden Umbau eines Prä­ missensystems ist auch hier das Lüth-Urteil, weil sowohl die Begrün­ dung und die prägende Bedeutung als auch die grundsätzliche Kritik an dieser Entscheidung charakteristisch sind. Auf der Ebene der Wer­ tung von Sachzusammenhängen wird Kohärenz dadurch hergestellt, dass das BVerfG sowohl die »grundlegende Bedeutung der Mei­ nungsäußerungsfreiheit« demokratietheoretisch begründet als auch die Umformung der Grundrechtsdogmatik von einem formalen Schrankensystem zu einem Abwägungssystem demokratietheore­ tisch absichert. »Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung«, so der entscheidende Satz zum Grundrecht, »ist es schlechthin kon­ stituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinan­ dersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist (BVerfGE 5, 85 ff., 205).«1620 Die Basis dieser Argumentation liegt in der Grunderfahrung der Machtergreifung durch das NS-Regime und der Erkenntnis, dass Rechtsstaat und Demokratie strukturell unlösbar miteinander verbunden sind. Die Positionen in dem dogmatischmethodischen Streit um die Grundrechtsinterpretation hingen inso­ weit nicht zuletzt entscheidend davon ab, ob man diese Erfahrung teilte oder im Sinne des 19. Jahrhunderts an der Vorstellung einer Trennbarkeit, wenn nicht gar eines prinzipiellen Widerspruches von Demokratie und Rechtsstaat festhielt.1621 Um nochmals die Kritik Böckenfördes aufzugreifen:1622 »Dem Einströmen zeitgebundener und gegebenenfalls rasch wechselnder Wertauffassungen und Werturteile in die Grundrechtsinterpretation ist damit – bewusst – die Tür geöffnet«.1623 Der Einwand scheint auf BVerfGE 7, 198 ff., 208. Repräsentativ Ernst Forsthoff mit seiner These, »daß sich die verfassungspoliti­ sche Funktion des Art. 5 gerade dann – und nur dann – erfüllt, wenn man den Artikel so auslegt, wie man ihn von jeher verstanden hat«, in: VVDStRL 22 (1965) 189 f. (Diskussionsbeitrag). Vgl. auch Ders. 1964, S. 147 ff. 1622 Kap. 8 VII. 3. b. 1623 E.-W. Böckenförde 1976b, S. 221, 233. 1620

1621

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VI. Methodik und ihre Grenzen – Offenheit und Kontingenz

der Hand zu liegen; berechtigt ist er nicht.1624 Er verkennt, dass Recht und mit ihm die Grundrechte stets und nicht nur als Ergebnis der Rechtsprechung des BVerfG »dem Zugriff des jeweils vorherrschen­ den […] gesellschaftlichen Wertebewusstseins ausgesetzt« sind.1625 Zu konstatieren ist allerdings, dass Methode zwar ein Instrument ist, um einem Wertewandel Rechnung zu tragen, zugleich aber selbst einem solchen Wandel unterliegt. Der Wandel, den das BVerfG mit dem Lüth-Urteil von der »liberalen (bürgerlich-rechtsstaatlichen) Grundrechtstheorie« (Böckenförde1626) zur Werttheorie vollzogen hat, war entscheidend auch ein Wechsel in der Methode. Wenn die Methode aber selbst nur Teil des Prozesses evolutionärer Rechtsent­ wicklung ist, dem sie die Regeln vorgeben soll, hebt sie sich dann nicht auf, wenn sie selbst in diesen Prozess »eingeordnet« ist? Doch die Differenz, die zwischen unserem Methodenbegriff und dem besteht, was als »Wandel«, gesellschaftliche Wertungen, Zeitgeist und Realitätsbezüge unmittelbar Einfluss auf unser Metho­ denverständnis hat, ist damit nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Wie oben schon gesagt, ist diese Differenz solange gegeben, als die juristische Methode auf ein Recht mit einer autonomen Systemstruktur bezogen werden kann. Ist die Rede von »Einfluss« oder »Wertewan­ del«, setzt das immer eine Identität, d. h. Eigenständigkeit dessen vor­ aus, was sich ändert. Anders als bei einer »Umwertung aller Werte«, die mit der Machtergreifung durch das NS-Regime umgesetzt wurde. Und Juristen wie C. Schmitt, K. Larenz, E. Forsthoff und Th. Maunz war der damit verbundene Bruch mit dem zuvor geltenden Rechtsund Methodenbegriff nicht nur bewusst; er war auch gewollt.1627 Entsprechend konsequent haben sie Methodenfragen auch als Verfas­ sungsfragen beantwortet; berühmt-berüchtigt wurde der Aufsatztitel,

Vgl. auch hier die ausführliche Kritik von H. Dreier 1993, S. 54 ff. Böckenförde aaO. S. 234. 1626 AaO. S. 224. 1627 Schon die Titel – etwa C. Schmitt: »Staat, Bewegung, Volk«, Hamburg 1933; K. Larenz: »Über Gegenstand und Methode des völkischen Rechtsdenkens«, Berlin 1938; E. Forsthoff: »Der totale Staat«, Hamburg 1933; Th. Maunz: »Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts«, Hamburg 1934 – machen die bewusste Abkehr von der Weimarer Verfassung und ihren rechtsstaatlichen und demokratischen Grundlagen deutlich. Näher dazu M. Stolleis 1994, S. 126 ff.; B. Rüthers 1968. 1624

1625

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Kapitel 26: Methode als Herstellung von Kohärenz

mit dem C. Schmitt die von Hitler im Juni 1934 gegebenen Mordbe­ fehle legitimierte: »Der Führer schützt das Recht«.1628 Was das historische Beispiel nochmals veranschaulichen sollte: Methodenfragen sind Verfassungsfragen. Wie sich eine Metho­ denlehre nicht theoriefrei konstituieren lässt, kann sie auch nicht unabhängig von dem Rechts- und Verfassungssystem formuliert wer­ den, dessen fallbezogene Konkretisierung sie gewährleisten soll. Es gibt, anders gesagt, einen basalen Zusammenhang von Recht und Methode, der nicht hintergehbar ist, ohne beide von Grund auf zu verändern. Das Grundgesetz hat sein »Grundsätze« und Grundnor­ men, die den »Identitätskern der Verfassung«1629 bestimmen, in Art. 79 Abs. 3 ausdrücklich markiert.1630 Dieser »Kernbestand des Grundgesetzes« bildet eine »absolute Grenze« und die ihm »zugrunde gelegten Prinzipien [sind] einer Abwägung nicht zugänglich«.1631 Sie sind nicht verhandelbar – außer nach einer Revolution, die zunächst mit allem bisherigen Recht bricht. Die Grenze des methodisch nicht mehr Vertretbaren ist also so eng gezogen, dass es – so es nicht zu extremen Ausnahmesitua­ tionen kommt – nur schwer vorstellbar ist, dass in der Rechtspre­ chung Prämissen als »anerkannte Sätze« akzeptiert werden, die mit dem »unantastbaren und nicht abwägungsfähigen Kernbestands des Grundgesetzes«1632 nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen sind und auch vom BVerfG nicht mehr korrigiert werden. – Allerdings und um keine Missverständnisse aufkommen zulassen: Auch wenn die Grenze des methodisch nicht mehr Vertretbaren eingehalten wird, heißt das nicht, dass wir uns deshalb um eine Rechtsentwicklung zum Guten keine Gedanken machen müssten. Erinnern wir uns an Befunde, was Akzeptanz auch bedeuten kann: Sie hilft auch Werten und Normen zur Durchsetzung, die inhuman sind.1633 Eine akzep­ tierte Rechtsentwicklung lässt nicht den Schluss zu, dass das neue Recht auch ein Mehr an Gerechtigkeit bringt.

1628 DJZ 1934, 945–950; Anlass war die Ermordung von Röhm, anderen SA-Führern und auch konservativen Widersachern. 1629 BVerfGE 134, 366–438, juris Rn. 28. 1630 Zu dem Verständnis als »Kernverfassung« siehe U. Volkmann 2013, S. 94 ff. 1631 BVerfGE 134, 366–438, juris Rn. 29. 1632 Wiederum BVerfGE 134, 366–438, juris Rn. 29. 1633 Kap. 8 VII. 3.

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