Rechtliches Gehör und richterliche Entscheidung: Studie zur Verfassungsdimension des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens. Zugleich ein Beitrag zur verfassungsrechtlichen Problematik des Postulats effektiven Rechtsschutzes [1 ed.] 9783428466276, 9783428066278


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German Pages 178 Year 1989

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Rechtliches Gehör und richterliche Entscheidung: Studie zur Verfassungsdimension des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens. Zugleich ein Beitrag zur verfassungsrechtlichen Problematik des Postulats effektiven Rechtsschutzes [1 ed.]
 9783428466276, 9783428066278

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HANSGEORG FROHN

Rechtliches Gehör und richterliche Entscheidung

Schriften zum Prozessrecht Band 90

Rechtliches Gehör und richterliche Entscheidung Studie zur Verfassungsdimension des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens Zugleich ein Beitrag zur verfassungsrechtlichen Problematik des Postulats effektiven Rechtsschutzes

Von Hansgeorg Frohn Professor für Öffentliches Recht am Fachbereich Sozialversicherung der Fachhochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung

Duncker & Humblot * Berlin

CIP-Titelaufhahme der Deutschen Bibliothek

Frohn, Hansgeorg: Rechtliches Gehör undrichterliche Entscheidung: Studie zur Verfassungsdimension des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens; zugleich ein Beitrag zur verfassungsrechtlichen Problematik des Postulats effektiven Rechtsschutzes / von Hansgeorg Frohn. — Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Schriften zum Prozessrecht; Bd. 90) ISBN 3-428-06627-8 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Irma Grininger, Berlin 62 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-06627-8

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

9

Erster Teil Die verfassungsdogmatische Dimension des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens

13

1. Kapitel Rechtsschutzeffektivität als Verfassungsgebot

13

§ 1

Selbsthilfeverbot und Effektivitätspostulat

13

§ 2

Effektivität als Auslegungsprinzip

18

§ 3

Effektivitätsbegriff und Zweck-Mittel-Denken

19

§ 4

Die relationale Struktur des Effektivitätsbegriffs

23

2. Kapitel Rechtliches Gehör undrichterliche Entscheidung als grundrechtliche Strukturelemente des Effektivitätspostulats

28

§ 5

Rechtswegeröffnung als Effektivitätsbedingung

29

§ 6

Rechtliches Gehör als Recht im Verfahren

41

§ 7

Richterliches Entscheiden als Anspruchsinhalt

52

§ 8

Die Beziehung von rechtlichem Gehör und richterlicher Entscheidung als Problem praktischer Konkordanz

62

Zweiter

Teil

Verfassungsrecht und Verfahrensstruktur

68

§ 9

Materielle Wahrheit und Waffengleichheit im Strafprozeß

68

§ 10

Parteiverantwortung und richterliche Verhändlungswürdigung im Zivilprozeß

81

Gerichtsseitige Wahrheitsermittlung und Beweiserhebungsanspruch in den Erkenntnisverfahren der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten (Finanz-, Sozial-, Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsverfahren

98

§ 11

6

Inhaltsverzeichnis Dritter

Teil

Verfahrensstruktur und Verfahrensfunktion: Das Legitimationsproblem der richterlichen Entscheidung

108

1. Kapitel Das gerichtliche Erkenntnisverfahren als Form § 12

112

Rechtsbehauptung und Rechtsfeststellung: Zur Transformations Wirkung des gerichtlichen Erkenntnis Verfahrens

112

§ 13

Rechtsgewinnung als dialektischer Vorgang

118

§ 14

Rechtsfrage und Tatfrage als Sprechakte

125

2. Kapitel Das gerichtliche Erkenntnisverfahren als Medium

130

§ 15

Gerichtliches Erkenntnisverfahren und kommunikative Interaktion . . .

130

§ 16

Gesetzmäßigkeit und praktische Vernunft: Zur Bedeutung rationalen Argumentierens für die Rechtsgewinnung

135

§ 17

Kommunikationsformen des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens

140

Schluß

156

Thesen

162

Literaturverzeichnis

167

Abkürzungsverzeichnis AK

AZZOLA- u.a., Alternativkommentar zum Bonner Grundgesetz, 1984

ArchPsych

Archiv für Psychologie

BK

ABRAHAM- u.a., Kommentar zum Bonner Grundgesetz, ab 1950

DkP

Dikaio kai Politiki (Thessaloniki)

DVR

Datenverarbeitung im Recht

JRST

Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie

KK

PFEIFFER- u.a., Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordhung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 1982

KZfSS

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie

ZfbF

Zeitschrift für die betriebswirtschaftliche Forschung

ZfRs

Zeitschrift für Rechtssoziologie

ZfS

Zeitschrift für Soziologie

Im übrigen werden Abkürzungen entsprechend der Vorgabe von Kirchner, verzeichnis der Rechtssprache, 3. Aufl. 1983 verwandt.

Abkürzungs-

All denen gewidmet, die mich gelehrt haben, zu kämpfen, ohne Widerstand zu leisten.

Vorbemerkung 1. Die nachfolgende Arbeit dokumentiert die Ergebnisse einer intensiven Beschäftigung mit der Frage nach dem verfassungsrechtlichen Gehalt des Postulats effektiven Rechtsschutzes. Veranlassung, mich mit diesem Thema zu beschäftigen, gab mir die Einladung, im Jahre 1983 auf einem von den strafrechtlichen Lehrstühlen der Universität Thessaloniki und dem strafrechtlichen Lehrstuhl der Fernuniversität - Gesamthochschule - gemeinsam veranstalteten Seminar „Probleme der Strafverteidigung" einen Vortrag über das Thema „Rechtliches Gehör und Strafverteidigung" * zu halten; während der Vorarbeiten zu diesem Vortrag wurde mir nämlich sehr fraglich, ob die Formel von der Rechtsschutzeffektivität jedenfalls im Strafprozeßrecht bisher zu anderem gedient hatte, als die Verteidigungsrechte des Beschuldigten/Angeklagten um vorgeblich institutioneller Zwecksetzungen willen einzuschränken und diesen Vorgang mit dem Argument zu rechtfertigen, diese Verteidigungsrechte seien in institutionellen Garantien wie etwa dem strafprozessualen Objektivitätsgebot aufgehoben. Da mir das Phänomen derartiger institutioneller Umdeutungen bereits früher im Zusammenhang mit einem Vortrag vor dem öffentlich-rechtlichen Seminar am Fachbereich Rechtswissenschaft der Fernuniversität Gesamthochschule - zu dem Thema „Der Anspruch auf rechtliches Gehör in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts" aufgefallen war, drängte sich mir nunmehr der Verdacht auf, daß der Topos Rechtsschutzeffektivität nicht nur spezifisch im Strafprozeß, sondern vielmehr ganz allgemein dazu dienen könnte, institutionelle Umdeutungen des Prozeßrechts zu legitimieren, ein Verdacht, der durch eine ausführliche Analyse der Entwicklung des Prozeßrechts seit Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze bestätigt wird. Verfassungsrechtlich problematisch sind derartige Umdeutungen vor allem deswegen, weil der Effektivitätsbegriff im Kontext von Rechtsschutz selbst durchaus unklar ist und auch durch die Übernahme außerrechtlicher Effektivitätskonzeptionen wie etwa der Nutzenkonzeption allenfalls strukturell, nicht aber inhaltlich präziser gefaßt werden kann: seiner Struktur nach ist der Effektivitätsbegriff ein relationaler Begriff, d.h. ein Begriff, der zwei oder mehrere Größen in eine Beziehung zueinander setzt. Welche Größen dies sub * Abgedruckt in: Dikaio kai Politiki 7 (1983), Thessaloniki 1984, S. 185 ff.; siehe auch: GA 84, 554 ff.

10

Vorbemerkung

specie Rechtsschutz sind und in welcher Beziehung diese Größen zueinander stehen, beantwortet das Effektivitätspostulat allerdings nicht. 2. Angesichts der Tatsache, daß die Etablierung des staatlichen Gewaltmonopols notwendigerweise zu einer Trennung (materieller) Rechtsinhaberschaft einerseits und (formeller) Rechtsdurchsetzungsmacht andererseits führt, muß das Effektivitätspostulat in einer ersten Annäherung eine Beziehung zwischen dem materiellen Anspruch einerseits und dem Recht, zur Durchsetzung dieses Anspruchs die Tätigkeit staatlicher Institutionen in Anspruch zu nehmen (prozessualer Anspruch) andererseits beinhalten. Auch wenn das Verhältnis zwischen diesen beiden Ansprüchen allein auf begrifflicher Ebene nicht geklärt werden kann, liegt die Vermutung nahe, daß der materielle Anspruch dem gerichtlichen Erkenntnisverfahren nicht vorgegeben, sondern vielmehr in diesem selbst erst produziert wird; denn von der Existenz eines materiellen Anspruchs im Sinne eines subjektiven Rechts kann nur in dem Maße und in dem Sinne gesprochen werden, in dem zu seiner etwaigen Durchsetzung auch der Weg zu einer richterlichen (Sach-)Entscheidung offensteht. Auf der Grundlage dieser Vermutung aber steht der Wahrheits- und Gerechtigkeitsanspruch, wie ihn das Bundesverfassungsgericht und die traditionelle Methodenlehre erheben, insoweit in Frage, als das Gesetz nicht mehr als a priori unveränderlich feststehendes Rechtsschutzelement angesehen werden kann. Folglich liegt es nahe, das Subsumtionsmodell des justiziellen Entscheidens nicht dem Vorgang der Entscheidungsfindung, sondern eher dem der Entscheidungsrechtfertigung zuzuordnen, was bedeutet, daß der Justizsyllogismus nicht mehr als analytischer und dialektischer im Sinne der aristotelischen Syllogismuslehre aufgefaßt werden kann, sondern allenfalls als rhetorischer. Ein derartige Auffassung von Rechtsgewinnung als einer diskursiven Strategie beruht letztlich darauf, daß Recht im gerichtlichen Erkenntnisverfahren nicht unmittelbar, sondern nur in Form von Aussagen erscheint: der Kläger stellt in der Klageschrift die Behauptung auf, daß ihm aufgrund der Rechtsnormen Α, Β und C einerseits sowie des durch die Merkmale a, b und c gekennzeichneten Sachverhalts andererseits ein Anspruch auf einen bestimmten Rechtsfolgenausspruch gegen die hierfür zuständigen staatlichen Organe zustehe, wohingegen der Beklagte diese Behauptung antithetisch verneint und der Richter in seiner Entscheidung schließlich feststellend ausspricht, ob die eine oder die andere Behauptung ganz oder teilweise zutreffe. Formal gesehen weist Rechtsgewinnung insoweit eine dialektische Struktur auf, auch wenn sich diese nur in den sogenannten kontradiktorischen Verfahren sinnlich wahrnehmbar manifestiert. 3. In medialer Hinsicht schließlich muß das gerichtliche Erkenntnisverfahren wegen der Trennung von materieller Rechtsinhaberschaft und formeller Durchsetzungsmacht als ein auf Informationsverarbeitung zielendes Kommunikationssystem verstanden werden, innerhalb dessen Kommunikationsbeziehungen bestehen müssen einmal zwischen denrichterlichen und nichtrichterlichen Verfahrensbeteiligten und zum zweiten zwischen den nichtrichterlichen Verfahrens-

Vorbemerkung

beteiligten untereinander. Wenn aber Kommunikation ein für das gerichtliche Erkenntnisverfahren konstitutives Strukturelement ist, dann liegt es nahe, als eine der im Effektivitätspostulat zueinander in Beziehung gesetzten Größen den Anspruch auf rechtliches Gehör anzusehen. Würde man diesen Anspruch allerdings schrankenlos Platz greifen lassen, so hätte dies eine infinite Kommunikation zur Folge, womit das Ziel des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, die richterliche Entscheidung als Grundlage für die Möglichkeit staatlicher Zwangsanwendung nämlich, letztlich verfehlt würde. Infolgedessen bedarf es der Ermächtigung zum Kommunikationsabbruch durch den Richter, wobei im Hinblick auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings problematisch erscheint, daß prozeßordnungsrelevante Verfassungsnormen aus der Sicht des vorverfassungsrechtlich tradierten Gesamtbildes vom gerichtlichen Erkenntnisverfahren auszulegen sein sollen und nicht etwa umgekehrt das geltende einfach-gesetzliche Prozeßrecht aus der Sicht jener Verfassungsnormen. Macht man mit der Lehre vom Vorrang der Verfassung gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht ernst, dann kommt als funktionaler Gegenspieler von Art. 103 Abs. 1 GG weder eine vorkonstitutionelle Norm in Betracht noch eine solche, die zur Disposition des einfachen Gesetzgebers steht. Aus diesem Grunde wird in der vorliegenden Arbeit der Versuch unternommen, die Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK als Schranke von Art. 103 Abs. 1 GG fruchtbar zu machen. Die hieraus resultierende Zurückführung des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens auf eine verfassungsrechtliche Grundstruktur, in deren Rahmen sich der Anspruch auf rechtliches Gehör einerseits und der auf Entscheidung binnen angemessener Frist andererseits wechselseitig ergänzen und zugleich begrenzen, vermag nicht nur eine hinreichende Erklärung für die dem gerichtlichen Erkenntnisverfahren innewohnende zeitliche und damit auch sachliche Dynamik zu geben, sondern darüber hinaus auch die Frage zu beantworten, unter welchen Voraussetzungen dem im Prozeß unterliegenden Rechtsgenossen die Akzeptanz seiner Niederlage zugemutet werden kann: diese Zumutung ist nur in dem Maße legitim, in dem jeder der nichtrichterlichen Prozeßsubjekte die gleiche Chance der Einwirkung auf die richterliche Überzeugungsbildung gehabt hat. Daß nach Art. 103 Abs. 1 GG)tàtrmann Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht hat, kann folglich nur bedeuten, daß im Falle der Involvierung in ein gerichtliches Erkenntnisverfahren jedermann die gleiche faktische Einflußchance auf die richterliche Überzeugungsbildung einzuräumen und daß die Einräumung gleicher rechtlicher Handlungsmöglichkeiten hierzu zwar eine notwendige, nicht aber unbedingt hinreichende Bedingung darstellt. 4. Die hier vorgelegte Untersuchung hätte weder ohne die menschlichen Ermutigungen noch die fachliche Förderung entstehen können, die ich seitens meiner Kollegen am Fachbereich Rechtswissenschaft der Fernuniveristät, an dem ich 6 Jahre lang tätig war, erfahren durfte. Zu danken habe ich insoweit zunächst einmal dem Inhaber des Lehrgebiets für Deutsches und Ausländisches Staatsrecht und Staatslehre, Herrn Professor Dimitris Tsatsos: ohne seinen

12

Vorbemerkung

ermutigenden Zuspruch in verschiedenen Krisensituationen hätte ich kaum das Durchhaltevermögen aufgebracht, diese Arbeit gegen verschiedene Widerstände fertigzustellen. Für sehr intensive fachliche Kollegialität schulde ich meinem früheren Hagener Flurnachbarn, Herrn Professor Joachim Schulz, großen Dank: der zweite, also verfahrensrechtliche Teil dieser Untersuchung, geht in seinen Ansätzen auf die vielen geduldigen Gespräche zurück, in denen Joachim Schulz mich mit den normativen Feinheiten der strafprozessualen Kommunikationsstruktur vertraut machte. Nicht unerheblichen Anteil am Zustandekommen dieser Untersuchung haben auch meine besten Assistentenkollegen am Lehrstuhl von Professor Tsatsos; auch ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Für die „technische" Mitarbeit beim Verfassen dieser Untersuchung gebührt Frau Beate Sander, Frau Petra Kockel-Nagel sowie Herrn Rechtsanwalt Gerald Duvenbeck herzlicher Dank. Für die Anfertigung der Reinschrift schließlich ist Frau Ulla Hohmann zu danken.

Erster Teil

Die verfassungsdogmatische Dimension des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens 1. Kapitel Rechtsschutzeffektivität als Verfassungsgebot § 1 Selbsthilfeverbot und Effektivitätspostulat

1. Spätestens von dem Zeitpunkt an, in welchem der moderne Staat im heutigen Verständnis dieses Begriffes sich u.a. dadurch konstituierte, daß er die ehemals - jedenfalls in Teilbereichen - auf ein privates Selbsthilferecht gestützte Rechtsmacht zur Befriedigung vermeintlich oder gar tatsächlich verletzter Rechte1 aufhob, wurde die Gewährung von Rechtsschutz durch staatliche Gerichte eine seiner notwendigen Existenzbedingungen2. In dem Maße, in dem sich der Staat als Friedens- und Rechtsgemeinschaft begriff, erwuchs ihm als Folge der Aufhebung der Zulässigkeit privater Gewaltanwendung zur Rechtsdurchsetzung die Verpflichtung, „für die Sicherheit seiner Untertanen in Ansehung ihrer Person, ihrer Ehre, ihrer Rechte und ihres Vermögens"3 zu sorgen. Diese „Entprivatisierung" der Rechtspflege4 - dieser Begriff möge hier noch unpräzise, untechnisch und vage verstanden werden - beinhaltet notwendigerweise die Aufhebung der Identität von Rechtssuchendem und Rechtsgewährendem5,6 1 Zur mittelalterlichen Fehde als geordnetem Rechtsverfahren: Brunner, Land und Herrschaft, 5. Aufl. 1965; ferner: Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte I (1972) S. 43-56; II (1973) S. 159-169. 2 Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. (1979), Rz. 45, 46. 3 So wörtlich §§ 1 II 17, 3 II 17 ALR; vgl. auch: Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol (1975), S. 60. 4 Diese „Entprivatisierung" kann nicht an einem einzigen Ereignis - etwa dem allgemeinen Fehdeverbot aus dem Jahre 1498 - festgemacht werden, sie ist vielmehr ein „schleichender Erosionsprozeß" gewesen, in dessen Verlauf sich die landesherrliche Gerichtsbarkeit als ein Element des modernen Territorialstaates konstituiert hat; vgl.: Schmidt, Eb., Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsrecht - Teil I (1964), Rz. 1-6; ferner Binder, Prozeß und Recht (1927), S. 103 ff. - hier zitiert nach dem Neudruck 1969; Habscheid, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß und im Streitverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit (1956), S. 20 ff. 5 Literarisch ist diese Identitätsaufhebung fast archetypisch thematisiert in der Auseinandersetzung zwischen den Brüdern Fafner und Fasolt um die Verteilung des für die Freilassung Freias erpreßten Schatzes; siehe: Wagner, Richard, Rheingold, IV. Szene.

14

1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

und führt damit zwangsläufig zu der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ersterer einen - möglicherweise verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch daraufhat, daß letzterer tätig wird 7. Wenn also der Terminus „Rechtsschutzeffektivität" überhaupt einen Sinn machen soll, muß er dem Grundsatz nach mindestens einen Anspruch des Bürgers auf richterliches Tätigwerden beinhalten. 2. Infolgedessen kann es nicht verwundern, daß das Bundesverfassungsgericht das Effektivitätsgebot in erster Linie in Art. 19 Abs. 4 GG verortet 8. Nach Auffassung des Gerichts bedeutet Rechtsschutzeffektivität, daß der einzelne Bürger einen „substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle" hat9: Art. 19 Abs. 4 GG garantiere nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern gewährleiste auch - und dies in erster Linie - die umfassende und vollständige gerichtliche Überprüfung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht10 in dem Sinne, daß vor der erstmaligen Befassung eines Gerichts mit der Sache vollendete Tatsachen zu niemandes Lasten geschaffen werden dürften 11. Art. 19 Abs. 4 GG garantiere allerdings nicht einen bestimmten Rechtsweg, sondern nur, daß überhaupt irgendeine Möglichkeit gerichtlicher Kontrolle zur Verfügung stehe, deren Ausgestaltung im einzelnen Sache der jeweiligen einfachgesetzlichen Prozeßordnung sei12; lasse diese etwa - wie beispielsweise Art. 2 § 5 EntlG 13 bzw. § 128 Abs. 2, Abs. 3 ZPO - fakultativ die Durchführung des schriftlichen Verfahrens zu, so liege hierin ebensowenig eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG 14 wie in der 6 Diese Identitätsaufhebung ist ihrerseits wiederum Ausdruck der Tatsache, daß infolge der Etablierung des staatlichen Gewaltmonopols an die Stelle einer ehemals - mindestens idealiter vorhandenen - Einheit von Rechtsinhaberschaft und Durchsetzungs-/Befriedigungs-/Geltungsverschaffungskompetenz die Dualität von - um in heutigen Begriffen zu reden „materiellem" und „formellem" Recht tritt. 7 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa § 229 BGB, demzufolge private Rechtsdurchsetzung nur zulässig ist, soweit „obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist". Allgemein zu den Grenzen privater Rechtsdurchsetzungsmacht: Seelmann, ZStW 89 (1977), 36 ff.; siehe auch: Schünemann, Selbsthilfe im Rechtssystem, 1985. 8 BVerfGE 8, 274 (326); 10,264 (268); 15,275 (282); 22,49 (81); 24,367 (401); 31,364 (369); 35, 263 (274), 382 (401); 37, 67 (78), 93 (96); 40,95 (98), 272 (273); 41, 23 (26), 323 (326), 332 (334); 42, 128 (130); 43,95 (98); 44,302 (305); 46,166 (178); 49,220 (241), 252 (256), 329 (340); 51,176 (185); 53,115 (127); 54,39 (40); 61,79 (80), 119(121); ebenso: BVerfGE 16,289 (292); 17, 83 (85); 38, 322 (325); 57, 272 (274 ff); 59, 168 (169 f.); 67, 206 (209 f.); siehe auch: SchmidtAssmann NVwZ 82, 1 ff. 9 BVerfGE 35,263 (274); 40,272 (275); 41,23 (26); 42,128 (130), 44,302 (305): 49,329 (340); 53, 115 (128); 54, 39 (40 f.); BVerwGE 57, 242 (284 ff). 10 BVerfGE 15, 275 (282); 31, 364 (367); 35,273 (274); 37,93 (96); 40,272 (275); 41,23 (26), 323 (326); 42, 128 (130); 44, 302 (305); 49, 220 (241), 252 (256); 53, 115 (127); 54, 39 (40); BVerwGE 57, 272 (274 ff). 11 BVerfGE 22, 49 (81); 35, 382 (401); BVerwGE 16, 289 (292); 17, 83 (85); 59,168 (169 f.). 12 BVerfGE 31, 364 (368); BVerwGE 57, 272 (274). 13 Gesetz zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom 31. März 1978 - BGBl 1446; Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom 22. Dezember 1983 - BGBl I 1515.

§ 1 Selbsthilfeverbot und Effektivitätspostulat

15

Anforderung eines prozeßordnungsrechtlich zulässigen Kostenvorschusses15. Auch garantiere Art. 19 Abs. 4 GG weder die Existenz eines gerichtlichen Instanzenzuges16,17 noch etwa ein bestimmtes Beweisverfahren 18. 3. Derart dogmatisch konturiert erleidet das Effektivitätsgebot allerdings eine nicht ganz unbeträchtliche Schwächung dadurch, daß nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zu den „Maßnahmen der öffentlichen Gewalt" im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG solche der Gesetzgebung ebenso wenig zählen19 wie Judikativakte17, weil auf der Grundlage dieser Rechtsauffassung das Effektivitätsgebot eben nur gegenständlich beschränkt eingelöst werden kann20. Wenn dessen ungeachtet aber sowohl gegenüber Maßnahmen der Gesetzgebung21 als auch gegenüber Akten von Rechtspflegeorganen 22 an dem Postulat effektiven 14

BVerwGE 57, 272 (284 f., m.w.N.). BVerfGE 10, 264 (267). 16 BVerfGE 11, 263 (265); 15, 275 (280); 22, 106 (110); 25, 352 (365); 45, 363 (375); 49, 329 (340 f.); BVerwGE 50, 11 (14); BVerwGE 57, 272 (274 f., m.w.N.); zustimmend: Schenke-BK, Rz. 275 zu Art. 19 Abs. 4 GG; a.A.: Heydte, WDStRL 8 (1950), 163. 17 Daß von Verfassungs wegen ein Instanzenzug nicht gewährleistet sein soll, ist in der Rechtswissenschaft nicht völlig unumstritten; vgl. nur etwa: Gilles, JZ 85, 253 ff. Die herrschende restriktive Interpretation des Begriffs „öffentliche Gewalt" im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG ist nämlich - wie Schenke dargelegt hat (Rechtsschutz bei normativem Unrecht (1979), S. 28ff.) - weder in grammatisch-begrifflicher, noch in systematisch-teleologischer, noch auch nur in verfassungshistorischer Hinsicht überzeugend, zumal in sämtlichen gerichtlichen Erkenntnisverfahren mindestens bezüglich der Art. 101 bis 104 GG ein spezifisches Grundrechtsverletzungsrisiko besteht. Dieses spezifische Grundrechtsrisiko läßt sich nun nur dadurch abfangen bzw. vermindern, daß ein erstinstanzliches Urteil mindestens auf Verfahrensfehler hin der Überprüfung unterliegt. Dies sieht im übrigen auch das vom Ministerkommitee des Europarates angenommene 7. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention vor. Vgl. im übrigen: Gilles, JZ 85,253 ff.; Ziege, Die Rechtsmittel im Zivilprozeß - Einschränkung oder Erweiterung zur Entlastung der Gerichte?, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen der Bundesrechtsanwaltskammer (1984), S. 99 ff. 15

18

BVerwGE 38, 322 (325). BVerfGE 24,33 (49 ff.), 367 (401); 25,352 (365); 31,364 (368); 45,297(334); zustimmend: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl. (1984), § 10 IV 2; a.A.: BGH Ζ 22, 32 (33); Hamann-Lenz, Anm. Β 14 zu Art. 19 GG m.w.N.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland 1,2. Aufl. (1984), § 20IV 5; Wernicke, in: BK, Anm. I I 4 e zu Art. 19 Abs. 4 GG. Zum Rechtsschutz gegen nicht zur Gesetzgebung gehörende Akte von Legislativorganen: Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie (1973), § 24 (S. 151ff.); Schmelter, Rechtsschutz gegen nicht zur Rechtssetzung gehörende Akte der Legislative, 1977. 20 Die durch Art. 19 Abs. 4 Satz GG garantierte richterliche Kontrolle läuft auch dort leer, wo es dem Betroffenen nicht gelingt, den Sachverhalt zu klären und klagebegründende Umstände in Erfahrung zu bringen. Wegen Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG, §§ 5 Abs. 5,9 Abs. 6 erfährt der Betroffene zum Beispiel kaum je, ob sicherheitsbehördlicherseits personenbezogene Daten gesammelt, ausgewertet und übermittelt worden sind. Infolgedessen kann er - trotz der verfassungsgerichtlichen Anerkennung eines Grundrechts auf „informationelle Selbstbestimmung" (BVerfG EuGRZ 83,577 (588ff.)) - auch gegen derartige Maßnahmen kaum je gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen. Eingehender zu dieser Problematik: Schwan, DVR 11 (1982), 339 ff. (mit ausführlichen Nachweisen aus der einschlägigen Rechtsprechung). 21 BVerfGE 24, 367 (401). 22 BVerfGE 37, 132 (148); 46, 325 (333 f.); 49, 220 (225), 244 (247), 252 (256); 51,150 (156); BVerfG NJW 80, 1617. 19

16

1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

Rechtsschutzes nicht nur rhetorisch festgehalten, dieses vielmehr sogar wirksam zur Geltung gebracht wird, so läßt dies nicht nur Zweifel an der Stringenz der verfassungsgerichtlichen Theorie von der Gleichrangigkeit sämtlicher Rechtsaussagen von Verfassungsrang zu23 - ganz offensichtlich hat die Beachtung des Effektivitätspostulates Vorrang vor der Beachtung des mit dem Begriff „öffentliche Gewalt" umschriebenen Objektbereichs24 - , vielmehr zwingt dieser Vorgang vor allem dazu, eine Antwort auf die Frage zu suchen, was denn mit dem Begriff „Rechtsschutzeffektivität bzw. -effizienz" überhaupt gemeint ist: verortet man nämlich - wozu das Bundesverfassungsgericht in neuerer Zeit übergegangen ist - das Effektivitätspostulat (auch) in den materiellen Grundrechten der Art. 2 ff. GG 25 , dann erscheint es nicht ausgeschlossen, daß die Stabilität und die aus ihr resultierende Verläßlichkeit des gerichtlichen Verfahrensrechts zugunsten eines dezisionistisch an Einzelfallgerechtigkeit orientierten „aktionenrechtlichen Verfahrensgeflechts" aufgegeben werden26. Daß diese Befürchtung nicht aus der Luft gegriffen ist, erhellt zum einen die Tatsache, daß in der Konsequenz die materielle Verortung des Gebots effektiven Rechtsschutzes zur verfassungsrechtlichen Verbürgung gerichtlichen Schutzes auch für privatrechtliche Verhältnisse führt 27, ohne daß dies zwingend einen individuellen Rechtsgewinn bedeuten würde28; sie wird zum andern bestätigt durch das Schwanken der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung selber, die einerseits vor der Gefahr einer aktionenrechtlichen Auflösung des Verfahrensrechts warnt 29, andererseits aber eben dieser Auflösung weiter Vorschub leistet30,31. 23

BVerfGE 3, 231 ff.; 320 ff.; 4, 296 ff; 5, 137 ff; 12, 45 ff; 15, 143 ff; 30, 1 ff. Zu weiteren Ausgrenzungen aus diesem Objektsbereich unter dem Gesichtspunkt der „Öffentlichkeit" der Gewalt: BVerfG NJW 83,2569 ff; kritisch hierzu: Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl. (1983), S. 198 ff; siehe auch: Goerlich JZ 84, 221ff.; Schenke, Die verfassungsrechtliche Garantie eines Rechtsschutzes kirchlicher Bediensteter, in: Festschrift für H. J. Faller (1984), S. 150 ff. 25 BVerfGe 50, 1; 51, 146; 52, 203 (206): Art. 2 Abs. 1 GG; BVerfGE 53,30 (57,65): Art. 2 Abs. 2 GG; BVerfGE 39,276(294); 50,16(30): Art. 12 Abs. 1 GG; BVerfGE 37,132(148);46, 325 (333 f.); 49, 220 (225), 244 (8247), 252 (256); 51,150 (156); BVerfG NJW 80,1617: Art. 14 Abs. 1 GG; BVerfGE 52, 397 (401); 56, 216 (244): Art. 16. Ausführlicher. Goerlich, DVB178, 362 ff; Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981. 26 Insoweit kritisch etwa: Lorenz, Jura 83, 393 (395 unter II. 2). 27 Vgl. etwa: BVerfGE 37,132 (148); 49,220 (225), 244 (247); BVerfG NJW 80,1617. Wegen des „Tatbestands"merkmals „öffentliche" Gewalt kann die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG für derartige Verhältnisse nicht in Anspruch genommen werden. 28 Die materiellrechtliche Verortung des Effektivitätsgebots bietet im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Beurteilung der unvollkommenen zivilrechtlichen Verbindlichkeiten möglicherweise einen neuen Ansatzpunkt; siehe etwa: Gilles, JZ 72, 377 (380 f.); Gilles, NJW 83, 361 (363). In diesem Zusammenhang ist auch auf die Lorenzsche Theorie vom „umfassenden Verrechtlichungsgebot" hinzuweisen; vgl.: Lorenz (Fn. 19), §§ 5-10. 29 BVerfGE 60, 253 (287) = BVerfG JZ 82, 596 ff 30 BVerfGE 61, 79 (80), 119 (121). 31 In diesem Sinne auch die Kritik etwa von Gerhardt und Schumann, die zutreffend die Frage aufwerfen, ob es sich noch um die Auslegung „spezifischen Verfassungsrechts" oder nicht schon um die „einfachen Gesetzesrechts" handelt; vgl.: Gerhardt, ZZP 95 (1982), 467 ff; Schumann, ZZP 96 (1983), S. 137 ff. Der Grund dafür, daß es immer schwieriger wird, spezi24

§ 1 Selbsthilfeverbot und Effektivitätspostulat

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4. Gleichwohl ist die dogmatische Herleitung des Effektivitätsgebots auch aus den materiellen Grundrechten der Art. 2ff. GG sachlich nicht ungerechtfertigt. Siedelt man das Effektivitätspostulat nämlich ausschließlich im Regelungsbereich von Art. 19 Abs. 4 GG an, dann kann es sich nur insoweit entfalten, als Gegenstand eines gerichtlichen Erkenntnisverfahrens Handlungen oder Unterlassungen der öffentlichen Gewalt sind; Erkenntnisverfahren, in denen solche Handlungen oder Unterlassungen nicht zur Debatte stehen, sind vom Effektivitätspostulat ausgenommen. Ein rechtfertigender Grund für eine derartige unterschiedliche Behandlung ist aber nicht ersichtlich. Dies ergibt sich vor allem aus Art. 19 Abs. 4 Satz 2 GG, wonach bei Fehlen eines speziellen Rechtsweges auch Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt im ordentlichen Rechtsweg zu verhandeln ist, woraus zunächst einmal folgt, daß der Verwaltungsrechtsweg als solcher verfassungsrechtlich nicht garantiert ist32. Wollte man nun das Effektivitätspostulat nur für die von Verfassungswegen im ordentlichen Rechtsweg zu verhandelnden Rechtsverletzungen seitens der öffentlichen Gewalt gelten lassen, so hätte dies in gewissem Sinne eine Doppelgleisigkeit des Rechtsschutzes zur Folge: soweit Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt zu verhandeln wären, beanspruchte das Effektivitätsgebot Gültigkeit, soweit Rechtsverletzungen durch nicht-öffentliche Gewalt hingegen zur Debatte stünden, wäre das Effektivitätsgebot suspendiert. Damit würde dem nämlichen Richter eine unterschiedliche Orientierung seines Entscheidungsverhaltens insofern abverlangt, als er gegenüber rechtsverletztenden Maßnahmen der öffentlichen Gewalt intensiver grundrechtsgebunden wäre als gegenüber anderweitig verursachten Rechtsverletzungen. Eine derart unterschiedliche Grundrechtsbindung der rechtsprechenden Gewalt wäre aber - abgesehen von der Frage, ob sie überhaupt praktizierbar wäre - jedenfalls mit Art. 1 Abs. 3 GG unvereinbar 33. Infolgedessen kann rechtssystematischer Anknüpfungspunkt für das Effektivitätspostulat nur die Rechtsverletzung, der gegenüber Schutz zu gewähren ist, als solche sein, nicht aber die unterschiedliche rechtliche Qualität ihrer Ursache. fisches Verfassungsrecht von einfachem Gesetzesrecht abzugrenzen und damit die Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts einzugrenzen, dürfte weitgehend darauf beruhen, daß eine präzise Unterscheidung beider voneinander jedenfalls dann unmöglich ist, wenn man in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 3 GG das spezifische Verfassungsrecht auf das einfache Gesetzesrecht „ausstrahlen" läßt und postuliert, daß keine einfachgesetzliche Norm gegen geltendes Verfassungsrecht verstoßen dürfe; vgl. etwa: BVerfGE 7,198 (205); Denninger, JZ 75, 554 ff.; Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973. Zur Funktion der Formel „spezifisches Verfassungsrecht./. einfaches Gesetzesrecht" siehe etwa: Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: Festschrift für Ibsen zum 70. Geburtstag (1977), S. 129ff.; Papier, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „Einfaches Recht" als Argumentationsformel des Bundesverfassungsgerichts, in: Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts II (1976), S. 342 ff.; Steinwedel, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „Einfaches Recht", 1976; Wank, JuS 80, 545 ff. 32 BVerfGE 31, 364 (368); BVerwG NJW 78, 335 (337) m. Anm. Rupp; Dürig, in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz, Rz. 6 f. zu Art. 19 Abs. 4 GG. 33 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: BVerfGE 24, 367 (401); Häberle, JZ 71, 145 (154); a.A. Bauer, Gerichtsschutz als Verfassungsgarantie (1973), S. 178 ff. 2 Frohn

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

§ 2 Effektivität als Auslegungsprinzip

1. Einer solchen Verfassungsauslegung auf Effektivität hin, wie sie das Bundesverfassungsgericht auch anderweitig praktiziert 34, wird von Teilen des Schrifttums 35 allerdings entgegengehalten, daß sie mit den üblicherweise anerkannten Auslegungsregeln kollidiere36: die Forderung Thomas, bei der Auslegung von Verfassungsnormen gebühre derjenigen der Vorrang, „die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfalte" 37, beziehe sich lediglich auf die Frage, ob eine Verfassungsbestimmung einen politischen oder einen rechtlichen Satz beinhalte, nicht aber darauf, was als Inhalt eines etwaigen Rechtssatzes anzusehen sei38. Infolgedessen komme dem Effektivitätsgedanken der ihm vom Bundesverfassungsgericht zugemessene heuristische Wert keineswegs zu39, seine Anwendung im Rahmen der Normexegese könne nichts zur Gewinnung von Aussagen über den konkreten Inhalt einer Verfassungsnorm beitragen40. 2. So richtig der Hinweis von Ehmke auch ist, daß der Effektivitätsgedanke als Auslegungsprinzip in einem engen Zusammenhang mit der in der Weimarer Staatslehre aktuellen Diskussion der Frage, ob die Grundrechte der Reichsverfassung bloße politische Programmsätze oder darüber hinausgehend aktuell geltende Rechtsnormen enthielten41, steht42, so wenig läßt sich allein hieraus ein Argument gewinnen, das zu seiner Verwerfung als einer Richtlinie der Verfassungsrechtsinterpretation nötigen würde43. Der von Ehmke und Leisner formulierten Kritik ist nämlich entgegenzuhalten, daß sie auf einer Trennung von 34 Etwa: BVerfGE 8, 274 (324); 10, 264 (268); 24, 367 (401); 25,325 (364); 31,364 (369); 32, 305 (309); 35, 348 (362), 382 (401); 37,67 (77), 93 (96), 132 (148); 40,95 (98), 272 (274); 41, 332 (334); 42, 64 (69), 128 (130); 43,95 (98); 46,166 (178); 49,220 (225 ff.), 244 (247), 252 (256); 51, 176 (185); 53, 115 (127). 35 Im Schrifttum hat sich dieses Auslegungsprinzip - soweit ersichtlich - ausdrücklich nur zu eigen gemacht: v. Mangoldt-Klein, Vorbemerkung Β VII 3. 36 Schneider/Ehmke, W D S t R L 20 (1963), 1 (102). 37 Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der Deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: Nipper dey u.a., Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung - Band 1 (1929 - hier zitiert nach dem Nachdruck 1975), S. 1 (9). 38 Schneider/Ehmke, W D S t R L 20 (1963), 1 (87); kritisch ebenfalls: Leisner, Effizienz als Rechtsprinzip (1971), S. 10 ff. (12). 39 Schneider/Ehmke, W D S t R L 20 (1963), 1 (88). 40 Schneider/Ehmke, W D S t R L 20 (1963), 1 (87). 41 Zum besseren Verständnis sei daran erinnert, daß die dem jetzigen Art. 1 Abs. 3 GG entsprechende Vorschrift des Art. 107 des Entwurfs der Weimarer Reichsverfassung - „Die Grundrechte und Grundpflichten bilden Richtschnur und Schranke für die Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung im Reich und in den Ländern." - nicht Verfassungsnorm wurde. Näheres bei: Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 1. August 1919,13. Aufl. (1930), S. 453. 42 Schneider/Ehmke, W D S t R L 20 (1963), 1 (87). 43 Hierzu könnte schon eher die mangelnde inhaltliche Präzision des Effektivitätsbegriffs Anlaß geben; dazu ausführlicher weiter unten §§ 3, 4.

§ 3 Effektivitätsbegriff und Zweck-Mittel-Denken

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Rechtsform und Rechts^eAöft beruht, die in ihrer Schärfe über das berechtigte Anliegen, auch die Verfassungsinterpretation an intersubjektiv noch nachvollziehbare Auslegungsmethoden zu binden, hinausgeht: als Rechtssätze - wenn auch solche bestimmten Ranges - haben Grundrechts- und Verfassungsnormen wie Rechtssätze ganz allgemein bestimmte Funktionen, d.h. sie dienen konkret benennbaren Zwecken44, haben also in einem ganz allgemeinen Sinn instrumentellen Charakter 45. Infolgedessen erweist sich Effektivität als ein allen Rechtsnormen - und damit auch Verfassungsrechtsnormen - funktionsnotwendig innewohnendes Merkmal: jede normative Aussage steht notwendigerweise in irgendeiner Beziehung zu ihrer außernormativen Umwelt, die sie entweder zu verändern intendiert bzw. deren Veränderungen sie ausgleichend entgegenwirken will. Infolgedessen kann der Rechtssatzcharakter einer Verfassungsaussage erst dann als anerkannt gelten, wenn weder ihre formale Geltung als Rechtsw/z noch ihre materiale als Rechtsssiz in Frage gestellt wird 46. Erweisen sich dergestalt Form und Gehalt als einander ergänzende, ja sogar bedingende Merkmale der Geltung einer Aussage als Rechtssatz, dann ist es unmöglich, den Aspekt der Effektivität nur - wie Thoma dies tut - für die Bestimmung der formalen Geltung heranzuziehen, ihn bei der Bestimmung der materialen Reichweite aber unberücksichtigt zu lassen; der volle Sinn einer Aussage von Verfassungsrang erschließt sich vielmehr erst dann, wenn die Aussage sowohl formal wie material auf Effektivität, d.h. auf größtmögliche Wirkungskraft hin entfaltet wird.

§ 3 Effektivitätsbegriff und Zweck-Mittel-Denken

1. Der Umstand, daß sich Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgericht in den allermeisten der einschlägigen Entscheidungen47 darauf beschränken, den Begriff „effektiver Rechtsschutz" durch die Formel von der „tatsächlich wirksamen gerichtlichen Kontrolle" 48 bzw. der „umfassenden und vollständigen Überprüfung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht"49 zu ersetzen, läßt deutlich erkennen, daß beiden Gerichten die Notwendigkeit, den Begriff „(Rechts44

Ihering, Der Zweck im Recht I, 4. Aufl., 1904. Etwa: Noll, Gesetzgebungslehre (1973), S. 69; ähnlich auch: Pawlowski, Methodenlehre für Juristen (1981), S. 194. 46 Zum theoretischen Hintergrund etwa: Fikentscher, Methoden des Rechts I I I (1976), Kap. 29. 47 BVerfGE 8,274 (326); 10,264(268); 15,275 (282); 22,49 (81); 24,367 (401); 31,364(369); 35, 263 (274), 382 (401); 37, 67 (78), 93 (96); 40,95 (98), 272 (274); 41,23 (26), 323 (326), 332 (334); 42, 128 (130); 43,95 (98); 44,302 (305); 46,166 (178); 49,220 (241), 252 (256), 329 (340); 51,176 (185); 53,115 (127); 54,39 (40); 61,79 (80), 119 (121); ebenso: BVerwGE 16,289 (292); 17, 83 (85); 38, 322 (325); 57, 272 (274 ff); 59, 168 (169 f.); 67, 206 (209 f.). 48 BVerfGE 15,275 (282); 31,364 (8367); 35,273 (274); 37,93 (96); 40,272 (275); 41,23 (26), 323 (326); 42, 128 (130); 44, 302 (305); 49, 220 (241), 252 (256); 53, 115 (127); 54, 39 (40); BVerwGE 57, 272, 8274 ff. 49 BVerfGE 22, 49 (81); 35, 382 (401); BVerwGE 16, 289 (292); 17, 83 (85); 59,168 (169 f.). 45

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

schutz-)Effektivität" inhaltlich-lexikalisch zu präzisieren, Schwierigkeiten bereitet: denn mehr als den Rückgriff auf ein intuitives Vorverständnis leistet die von beiden Gerichten vorgenommene Begriffssubstitution schon deswegen nicht, weil sie den einen erklärungsbedürftigen Begriff („effektiver Rechtsschutz") lediglich durch einen anderen („tatsächlich wirksame Kontrolle" bzw. „umfassende und vollständige Überprüfung") ersetzt, der aber ebenso erklärungsbedürftig ist: welches ist der Maßstab für die tatsächliche Wirksamkeit der Kontrolle bzw. die Vollständigkeit der Überprüfung? Insoweit spiegelt die Rechtsprechung also nur den prinzipiell leerformelhaftigen Charakter des Effizienzbegriffs 50 wider, ohne daß die Rechtswissenschaft den Anspruch erheben könnte, diesen Begriff prinzipiell geklärt zu haben51. Gleichwohl gibt die kritisierte Rechtsprechung einen ersten Aufschluß über die Richtung, in der die Begriffspräzisierung und -explizierung geleistet werden muß: insofern die Einschaltung eines unbeteiligten Dritten etwas bewirken soll, beinhaltet der Effektivitätsbegriff Orientierung auf Zukunft, d.h. finale Handlungsauslegung und als solche Antizipation von Kausalität52: die Einschaltung des Richters soll das Recht schützen, d.h. sie wird als Mittel zur Erreichung eines Zieles/Zweckes53 aufgefaßt 54. 50 So etwa: Lorenz, Jura 83, 393; siehe auch: Arndt, Praktikabilität und Effizienz (1983), S. 151. In seinem „Traktat über die gute Arbeit" (3. Aufl., Wroclaw-Warschau-Krakau, 1965, S. 127; hier zitiert nach: Gasparski, kommunikation 1969,81 (86)) weistKotarbinski daraufhin, daß „. ..(.·.) Effizienz die allgemeine Bezeichnung einer jeder praktischen Valenz (ist)", woraus folgt, daß Genauigkeit ebenso eine Effizienz wie Ergiebigkeit, Einfachheit usw. ist. Als weitere Fälle von Effizienz führt Gasparski (S. 87) dann noch Vorteilhaftigkeit und Wirtschaftlichkeit an. 51 Degenhart, DVB1 82, 872 ff; Mutius, NJW 82, 2150; Schenke, VB1BW 82, 313; WahlPietzcker, WDStRL 41 (1983), 151 (162f.), 194ff.; früher schon: Krüger, Das Leistungsprinzip als Verfassungsgrundsatz, 1975. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, daß Kopp in seinem Gutachten zum 54. DJT auf den Versuch einer begrifflichen Klärung ganz verzichtet hat; vgl.: Kopp, Gutachten; Sitzungsbericht L des 54. DJT. Andererseits auch: Kopp, Verfassungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht, 1971, S. 200 ff. Neuestens zum Thema „Effektivität": Ingram, ARSP 69 (1983), 200 ff. 52 Husserl, Recht und Zeit, in: Husserl, Recht und Zeit - Rechtsphilosophische Essays, 1955, 7 (42 ff); Krametz, Das positive Recht und seine Funktion (1967), S. 76 if.\Luhmann, JRST 1 (1970), 175 (185ff.); Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik (1974), S. 31 ff.\Maihofer, Rechtstheorie (1971), 430 (455 ff); Schelsky, Planungsbegriff, S. 127 f. (zitiert nach: Dzykonsky-Loose, StuR 1969, 1619 (1630 f.); Weizsäcker, Naturgesetz und Theodizee, in: Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, 10. Aufl. (1963), 158 (164 ff). 53 Da es in diesem Kontext nur auf die Zukunftgerichtetheit ankommt, bedarf der Umstand, daß zwischen „Ziel" und „Zweck" ein Unterschied besteht, der in der englischen Sprache durch „objective" einerseits und „goal" andererseits ausgedrückt wird keiner vertieften Erörterung; vgl. etwa: Websters Collegiate Dictionary, 5. Aufl., Springfield/Mass., 1946. 54 In diesem Sinne z.B. Franz Klein anläßlich der Beratung und Beschlußfassung über die sich auf die Einführung einer neuen ZPO in Österreich beziehenden Gesetzentwürfe mit der Aussage, eine Prozeßordnung sei nichts weiter als die bloße Methode, wie die Prozeßsubjekte zusammenzuwirken hätten, um zum richtigen Urteil zu gelangen; vgl.: Steno. Prot. AH, IX. Sess., 15.600. Ferner: Stein, Grundriß des Zivilprozeßrechts und des Konkursrechts, 3. Aufl. (1928), S. III (hier zitiert nach dem Nachdruck Aalen 1970); Lüke, Der Streitgegenstand im Zivil- und Verwaltungsprozeß (1955), S. 136; neuestens: Costede, Studien zum Gerichtsschutz

§ 3 Effektivitätsbegriff und Zweck-Mittel-Denken

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2. Problematisch an einer derartigen, das Effektivitätspostulat auf eine eindimensionale Zweck-Mittel-Relation reduzierende Konzeption ist weniger der Umstand, daß in ihrem Kontext aus der semantischen Reichweite des Begriffs „Schutz" die präventive Dimension weitgehend ausgegrenzt wird 55 , als vielmehr die Tatsache, daß die aus ihr notwendigerweise resultierende Leugnung eines eigenständigen Gerechtigkeitswerts verfahrensrechtlicher Normen nicht zu überzeugen vermag: daß sich sowohl in dem zu schützenden (materiellen) Recht Zweckmäßigkeitserwägungen wie in dem den Ablauf des schützenden Verfahrens regelnden (formellen) Recht Gerechtigkeitserwägungen nachweisen lassen56, macht deutlich, daß Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit keine einander ausschließenden Orientierungen beinhalten57. Mit dieser Erkenntnis aber ist die Leistungsfähigkeit eines auf der Entgegensetzung von Zweck/Ziel und Mittel, von Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit beruhenden Verständnisses des Effektivitätspostulats in Frage gestellt58. 3. Über dieser grundsätzlichen Berechtigung der Kritik an einem das Effektivitätspostulat aufs bloß Instrumentelle reduzierenden Verständnis darf jedoch die dem instrumenteilen Denken zukommende heuristische Funktion nicht übersehen werden: daß eine sachgerechte Zuordnung von „Recht", „Schutz" und „Effektivität" problematisch geworden war, nachdem Windscheid den „prozessualen" Anspruch als einen gegenüber dem materiellen selbständigen „publizistischen" begründet hatte59, konnte nämlich erst erkannt werden, wenn man fragte, was denn Ziel und was Mittel sein sollte. Erst auf der Grundlage der Ver(1977), S. 17 ff. Im historischen Überblick: Picker, Die Drittwiderspruchsklage in ihrer geschichtlichen Entwicklung als Beispiel für das Zusammenwirken von materiellem Recht und Prozeßrecht, 1981; Simshäuser, Zur Entwicklung des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozeßrecht seit Savigny (1965), S. 109 ff. 55 Die Frage, ob der Begriff „Rechtsschutz" tatsächlich eine präventive Dimension denotiert, wird ausführlicher im 3. Teil der Arbeit erörtert. 56 Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht (1970), S. 4 ff; Michael, Der Grundsatz „in dubio pro reo" im Strafverfahrensrecht (1981), S. 67ff .\Peetz, Die materiellrechtliche Einordnung der Rechtsfolge und die materielle Rechtskraft der Sachentscheidung im Zivilprozeß (1976), S. 9 ff. Zum eigenständigen Gerechtigkeitswert verfahrensrechtlicher Normen ausführlich: Henckel, Vom Gerechtigkeitswert verfahrensrechtlicher Normen, 1966; auch: Arzt, Der Einfluß von Beweisschwierigkeiten auf das materielle Strafrecht, in: Strafrechtliche Probleme der Gegenwart - Referate des 8., von der Vereinigung österreichischer Richter veranstalteten Fortbildungsseminars aus Strafrecht und Kriminologie (1980), S. 77 ff; Lüderssen, ZStW 85 (1973), 288ft.;Marxsen, Straftatsystem undStrafprozeß, \9U\Schumann, Die materiellrechtsfreundliche Auslegung des Prozeßgesetzes, in: Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag (1983), S. 571 ff. 57 Merk, WDStRL 15 (1957), S. 76; Meessen, DöV 70, 314 (315). 58 Unter soziologischen Aspekten zur Interdependenz von Zielen und Mitteln: Luhmann, Der Staat 3 (1964), 129 (136); Luhmann, Politische Planung, in: Luhmann, Politische Planung (1971), 60 (69). 59 Windscheid Die Actio des römischen Civilrechts vom Standpunkt des heutigen Rechts (1856), S. 2 ff; Windscheid, Die Actio. Abwehr gegen Dr. Theodor Muther (1867), S. 25; ausführlicher zur historischen Entwicklung: Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozeß (1970), S. 16ff.; Simshäuser, Zur Entwicklung des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozeßrecht seit Savigny (1965), S. 72 ff.

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

selbständigung des prozessualen Anspruchs gegenüber dem materiellen konnte eine Rechtsfigur wie die des „subjektiven Rechts" entstehen, die das zum materiellen Anspruch erstarkte Individualinteresse60 mit der zum „Klagrecht" 61 weiterentwickelten Durchsetzungsmacht rechtstheoretisch so miteinander verklammert 62, daß einerseits der unterschiedliche Adressatenbezug deutlich erkennbar blieb, andererseits aber die funktionelle Zuordnung dieser beiden Bezüge aufeinander nicht verloren ging 63,64 : das zum materiellen Anspruch erstarkte Individualinteresse regelt das Verhalten der Rechtssubjekte untereinander, soweit sie sich ohne die Vermittlung eines zu einem Rechtspflegeakt aufgerufenen Rechtspflegeorgans begegnen, die zum Klagerecht entwickelte Durchsetzungsmacht dagegen das rollenmäßige Verhalten von und vor Rechtspflegeorganen im Rahmen eines auf einen Rechtspflegeakt zielenden Verfahrens65. Letzteres ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts dann als effektiv anzusehen, wenn es das Hervorbringen gesetzmäßiger und unter diesem Blickwinkel richtiger, im Rahmen dieser Richtigkeit aber auch gerechter Entscheidungen gewährleistet66, was nichts anderes bedeutet, als daß der Zielerreichungsgrad Maßstab der Produktionseffektivität ist67. So verstanden erweist sich der Effektivitätsbegriff seiner Struktur nach als ein Relationsbegriff, ein Begriff also, der das Ausmaß der Zielerreichung in Beziehung setzt zu dem erforderlichen Produktionsaufwand. 60

Ihering, Der Zweck im Recht - Band 1, 4. Aufl., 1904. Degenkolb, Einlassungszwang und Urteilsnorm (1877), S. 41 Degenkolb, Beiträge zum Zivilprozeß (1905), S. 44 ff.; ferner: Goldschmidt, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. (1932), S. 52 ff. (hier zitiert nach dem Neudruck 1969); Simshäuser, Zur Entwicklung des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozeßrecht seit Savigny (1965), S. 113 ff. 62 Bühler, Die subjektiv öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der Verwaltungsrechtsprechung (1914), S. 48; Jelllinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. (1919), S. 51, 79, 127; Fleiner, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, 4. Aufl. (1919), S. 176. 63 Achterberg, Die Rechtsordnung als Rechtsverhältnisordnung, 1982; Adomeit, JRST 2 (1972), 503 ff.; Aicher, Das Eigentum als subjektives Recht, 1915\Bucher, Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis, 1956; Henke, DöV 80, 621 ff.; Luhmann, JRST 1 (1970), S. 321 ff.; Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, 1977; Schmidt, J., JRST 1 (1970), S. 99 ff.; Wiedenbrügg, Der Einfluß des Sozialstaatsprinzips auf die Zuerkennung subjektiver öffentlicher Rechte, 1978. Kritisch mit Theorie und Funktionsweise des subjektiven Rechts setzen sich auseinander Kölz, Die Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde und das subjektive öffentliche Recht, in: Mélanges André Grisel (1983), 739 (745 ff.); Preuss, Zur Internalisierung des Subjekts, 1979. 64 Infolge seines Adressatenbezuges läßt sich das subjektive Recht seiner Struktur nach als „Relation" begreifen; vgl.: Klaus-Liebscher, Wörterbuch, Stichwort „Relation". Ob aufgrund der Tatsache, daß sich das Signifikat des strafrechtlichen Rechtsgutsbegriffs ebenfalls als „Relation" deuten läßt (vgl.: Sina, Zur Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut", 1962; Marx, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut", 1972), Rechtsgut und subjektives Recht identisch sind, kann hier nicht weiter untersucht werden. 65 Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht (1970), S. 23 f. 66 König, Konformität, Aktenwidrigkeit und offenbare Gesetzwidrigkeit im zivilprozessualen Verfahren (1975), S. 27 m.w.N. in Fn. 1. 67 Leisner, Effizienz als Rechtsprinzip (1971), S. 36 ff.; dazu ergänzend: Häberle, AöR 98 (1973), 625 ff. 61

§ 4 Die relationale Struktur des Effektivitätsbegriffs

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§ 4 Die relationale Struktur des Effektivitätsbegriffs

1. Daß sich Rechtsprechung und Rechtswissenschaft schwertun, dieser Relation begrifflich-lexikalisch präzisen Ausdruck zu verleihen, d.h. die Frage, welcher Verfahrensaufwand die Gesetzmäßigkeit und in ihrem Rahmen die Gerechtigkeit derrichterlichen Entscheidung sicherstellt68, exakt zu beantworten, dürfte seine Ursache nicht zuletzt darin haben, daß sich im Bezug auf die Gewährung von Rechtsschutz das Verhältnis von Zielerreichungsgrad und Zielerreichungsaufwand einer quantitativen Erfassung weitgehend entzieht: während nämlich die naturwissenschaftlichen Disziplinen in der glücklichen Lage sind, Effektivität im Bezug auf die von ihnen betrachteten Systeme und Phänomene mit Hilfe mathematischer Formeln - sogenannter „Algorithmen" 69 - quantitativ ermitteln und ausdrücken zu können - etwa als „Quotient von Nutzenergie und Anfangsenergie" 70 - , aber schon die Aussagekraft sozialwissenschaftlicher Algorithmen - „Nutzenfunktionen" genannt71 - deswegen erheblich in Zweifel gezogen werden muß, weil selbst im Kontext rein ökonomiewissenschaftlichen Argumentierens weder die Nutzenkonzeption als solche unumstritten ist72 noch Einigkeit über die Methode der Nutzenmessung besteht73, erweist sich eine wie auch immer geartete Nutzenkonzeption zur Präzisierung des Begriffs der Rechtsschutzeffektivität sachlich unangemessen, die Vorstellung einer algorithmischen Struktur des justiziellen Entscheidens hingegen unzutreffend. 2. Daß die Vorstellung einer algorithmischen Struktur des justiziellen Entscheidens unzutreffend ist, beruht darauf, daß - wie ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt habe74 - justizielles Entscheiden weit mehr ein Gemenge aus Deduktion, Induktion, vorverständnishaftem Wissen und Dezision unter Wert-, Plausibilitäts- und Arbeitsentlastungsgesichtspunkten ist als ein streng deduktiver Prozeß der Aussagengewinnung. Zwar kann man - wie etwa Luhmann dies tut 75 - auch diese Art des Entscheidens noch als „Algorithmus" auffassen, man muß sich dann aber über die metaphorische Verwendung dieses Begriffes klar sein: allein der Umstand nämlich, daß der Justizsyllogismus als Kern des juristi68

Nach BVerfGE 42, 64 (73) ist der staatlicherseits vermittelte Rechtsschutz als effektiv anzusehen, wenn er das Hervorbringen gesetzmäßiger und unter diesem Blickwinkel richtiger, im Rahmen dieser Richtigkeit aber auch gerechter Entscheidungen gewährleistet. 69 Fiedler, JuS 70, 432 (434); Klaus-Liebscher, Wörterbuch, Stichwort „Algorithmus". 70 Weitere Beispiele bei Gasparski, kommunikation 1969, 81 (83 f.). 71 Gäfgen, Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung, 3. Aufl. (1963), S. 153 et passim; Kirsch Entscheidungsprozesse I (1970), S. 31 f. 72 Kirsch, Entscheidungsprozesse I (1970), S. 31 ff.; 43 ff.; 115 ff. 73 Dazu ausführlicher: Gäfgen (Fn. 71), S. 144 ff. 74 ARSP 69 (1984), 204 ff. 75 Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, JRSTI (1970), S. 175 ff.; Luhmann, Rechtssoziologie I I (1972), S. 207 ff.

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

sehen Entscheidens wie jede andere Entscheidung als Entscheidungsprämissen fungierende Ziele bzw. Werte sowie Tatsachen einerseits und hieraus gewonnene Schlußfolgerungen andererseits enthält, macht ihn noch nicht zu einem Algorithmus im Sinne der entsprechenden mathematischen Theorie; dieser Status kommt ihm vielmehr schon deswegen nicht zu, weil weder die „Anfangsworte" noch die die Aussagenumformung strukturierende Regeln so beschaffen sind, daß man den auf ihnen beruhenden Kalkül als eine Deduktion im Sinne der Wissenschaftsdisziplin „Logik" bezeichnen könnte76. Hieran ändert auch nichts die Tatsache, daß jede justizielle Entscheidung als eine bestimmte Regeln folgende Abarbeitung einer (endlichen) Sequenz einander ausschließender Aussagen begriffen werden kann. 3. Demgegenüber ist die Nutzenkonzeption dem justiziellen Entscheiden nicht erst wegen der Schwierigkeiten einer angemessenen Quantifizierung durch Zuerkennung von Nutzenzahlen77 inadäquat, sondern vielmehr schon wegen des Umstandes, daß sie mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben über die Richterrolle unvereinbar ist: eine Konzeption, die - wie die Nutzenkonzeption - davon ausgeht, daß ein beliebiger Aktor - also auch ein Richter - von mehreren zur Verfügung stehenden Verhaltensalternativen die für ihne vorteilhafteste realisieren wird 78 , steht quer zu der Tatsache, daß gerade die Entkopplung von individueller Nutzenrealisierung einerseits und Entscheidungsträgerschaft andererseits eine notwendige Funktionsvoraussetzung für die staatliche Vermittlung von Rechtsschutz darstellt: nur wenn der Richter als Träger sanktionsbewehrter Entscheidungsmacht im gerichtlichen Verfahren keinen eigenindividuellen Nutzen realisieren darf 79, kann den nichtrichterlichen Verfahrenssubjekten die Unterwerfung unter eben diese Entscheidungsmacht und deren Sanktionsbewehrtheit zugemutet werden. Und umgekehrt: nur weil den Rechtsgenossen die gewaltsame private Durchsetzung ihres Rechtes untersagt ist, bedarf es überhaupt der Institutionalisierung eines derartigen Verfahrens. Beinhaltet also das Verbot privater Rechtsdurchsetzung notwendigerweise die Einschaltung eines Dritten in den Streit der Parteien, so stellt dies zwar eine notwendige, keineswegs aber eine hinreichende Bedingung dar; denn als Dritte in einen in Form des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens ausgetragenen Rechtsstreit verwickelt sind auch weitere Personen wie etwa der Zeuge oder der Sachverständige80, doch fehlt diesen im Unterschied zu den streittragenden Personen 76

ARSP 69 (1984), 204 ff. Musto, Soziale Welt 1970/71, 268 ff. 78 Bitz, Entscheidungstheorie (1981), S. 153 ff.; Gäfgen (Fn 71), S. 105f.; Krelle, Präverenzund Entscheidungstheorie (1968), S. 24 ff.; Weber-Streissler, Artikel „Nutzen", in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 8. Aufl., Stuttgart-Tübingen-Göttingen, 1964. 79 In aller Schärfe gilt dies allerdings nur im Hinblick auf das „offizielle" Zielsystem der Organisation, nicht aber für die zulässigen individuellen Ziele der in der Organisation Tätigen bzw. sie Benutzenden; ausführlicher hierzu: Barnard, The function of the executive, 1956; Kirsch, ZfbF 21 (1969), S. 665 ff.; Kirsch Entscheidungsprozesse III (1971), S. 110 ff. 80 Kininger, Theorie und Soziologie des gerichtlichen Verfahrens (1979), S. 21 ff. 77

§ 4 Die relationale Struktur des Effektivitätsbegriffs

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weitgehend die Fähigkeit, das prozessuale Geschehen durch eigene Handlungen aktiv zu gestalten. Infolgedessen sind sie bloße Verfahrensbeteiligte, jene streittragenden Personen hingegen Verfahrenssubjekte 81. Zum Richter - und damit ebenfalls zum Verfahrenssubjekt - wird ein in einen Rechtsstreit involvierte Dritte nur infolge der ihm staatlicherseits verliehenen Befugnis, einen solchen Streit verbindlich, d.h. mit staatlichen Zwangsmitteln durchsetzbar entscheiden zu können, eine Kompetenz, die sich - um es mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts auszudrücken - darauf gründet, daß den Begriffen „Richter" bzw. „Gericht" die Vorstellung von Neutralität und Unparteilichkeit immanent ist82. Demzufolge sind die vorerwähnten Begriffe nichts anderes als Kurzformeln für diejenigen Verhaltenserwartungen, deren Erfüllung demjenigen zugemutet wird, der einen Rechtsstreit verbindlich soll entscheiden können. Das Wort „Richter" bezeichnet eine Rolle83 oder - was das gleiche ist - den Inbegriff der kognitiven Informationen über eine Position84'85. Da sich die Rollen im gerichtlichen Verfahren zueinander komplementär verhalten86, dürfte am ehesten die Rollenkonzeption ermöglichen, die Forderung von Hagen nach einer organisationstheoretischen Analyse des justiziellen Entscheidens87 einzulösen88. 81 Blomeyer, Zivilprozeßrecht (1963) § 4-10; Goessei, Strafverfahrensrecht (1979) § 19 A I.; Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. (1983), Rz. 6ff. Problematisch ist die Unterscheidung zwischen Prozeßsubjekt und Prozeßbeteiligtem allerdings im Hinblick auf die §§ 57 FGO, 69 SGG, 63 VWG, da diese die streittragenden Personen, d.h. also die Verfahrenssubjekte im Sinne des obigen Textes ausdrücklich als „Beteiligte" bezeichnen. 82 Vgl.: BVerfGE 3,377 (382); 4. 331 (346); 14,56 (69); 18,241 (255); 21,139 (145 f.); weiterführend: Bettermann, AöR 92 (1967), 496 (506). Daß die in Art. 97 Abs. 1 GG garantierte Unabhängigkeit nur ein Spezialfall richterlicher Unparteilichkeit ist, wird in BVerfGE 4, 331 (346) deutlich herausgearbeitet; siehe ergänzend: Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem (1960), S. 44 f.;Riedel, Das Postulat der Unparteilichkeit des Richters, 1980; Roy er, Etre juge demain (1983), S. 177 ff; Sendler, NJW 83, 1449ff.; Vescovi, Die Unabhngigkeit der Gerichte in der modernen Rechtsentwicklung, in: Habscheid, Generalberichte zum 7. Internationalen Kongreß für Prozeßrecht (1983), S. 161 ff. 83 Zur „Rollenkonzeption" der richterlichen Tätigkeit: Arndt, Das Bild des Richters, 1957; Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, 1959; Bett er mann, Der Richter als Staatsdiener, 1967; Brüggemann, Die rechtsprechende Gewalt (1962), S. 41-100; Holtwick-Mainzer, Der übermächtige Dritte - eine rechtsvergleichende Untersuchung über den streitschlichtenden und streitentscheidenden Richter, 1975; Wagner, Der Richter, 1959; Wassermann, Der soziale Zivilprozeß (1978), S. 131 ff; Wassermann, Die richterliche Gewalt, 1985. 84 Eckhoff, Die Rolle des Vermittelnden, des Richtenden und des Anordnenden bei der Lösung von Konflikten, in: Hirsch/Rehbinder, Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, 2. Aufl. (1968), S. 243ff.; Lautmann, Rolle und Entscheidung des Richters - ein soziologischer Problemkatalog, JRST 1 (1970), S. 381 ff.; Rott leuthner, Richterliches Handeln-Zur Kritik der juristischen Dogmatik (1973), S. 126 ff; kritisch: Horn, Rechtssprache und Kommunikation (1966), S. 9-20. 85 Allgemein zur Bedeutung der Rollentheorie für die Analyse des organisational Entscheidens: Kirsch Entscheidungsprozesse III (1971), S. 99 ff. Generell kritisch zur Rollenkonzeption: Haugg, Kritik der Rollentheorie und ihrer Anwendung in der bürgerlichen deutschen Soziologie, 1972. 86 Wassermann, Der soziale Zivilprozeß (1978), S. 132; Winter-Schumann, JRST 3 (1972), S. 529 ff. 87 Hagen, JRST 4 (1976), S. 138 (140).

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

4. Daß die Rollentheorie bisher noch nicht allzu häufig zum Ausgangspunkt für eine Analyse der Kommunikationsstruktur des gerichtlichen Verfahrens gemacht worden ist89, bestärkt nur den Verdacht, daß über das, was als Signifikat des Begriffs „Rechtsschutz" fungiert, weder Klarheit noch Einigkeit besteht, ein Verdacht, der bei einem Blick in das einschlägige Schrifttum bestätigt wird: - Soweit die Art. 92- 104 GG in der Vergangenheit Gegenstand verfassungs rechtlicher Erörterungen waren90, stand im Mittelpunkt der Überlegungen mehr oder weniger deutlich das Bemühen, eine dem herkömmlichen Verständnis des Gewaltenteilungstheorems entsprechende rechtstheoretisch „saubere" Abgrenzung der rechtsprechenden von der gesetzgebenden Gewalt einerseits und von der vollziehenden andererseits zu erarbeiten, d.h. das erkenntnisleitende Interesse war gerichtet auf das Auffinden von Merkmalen, die qualitative Unterschiede zwischen den drei in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 erwähnten Erscheinungsformen von Staatsgewalt bezeichnen sollten91, so daß das gerichtliche Verfahren und seine (Kommunikations-)Struktur als Problem (auch) des Verfassungsrechts kaum je in den Blickpunkt des Erkenntnisinteresses rückte92. 88

Nach Kirsch (Entscheidungsprozesse III (1971), S. 101) ermöglicht es die Rollentheorie vor allem, bei dieser Analyse individuelle Verhaltensnuancen (hierzu ausführlicher: Wassermann, Der soziale Zivilprozeß (1978), S. 130) außer Acht zu lassen. 89 Peters, Strafprozeßlehre- zugleich ein Beitrag zur Rollenproblematik im Strafprozeß, in: Gedächtnisschrift für Hans Peters (1967), S. 891 ff.; Peters, Strafprozeßlehre im System des Strafprozeßrechts, in: Festschrift für Reinhard Maurach zum 70. Geburtstag (1972), S. 453 ff.; Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz I, 2. Aufl. (1964) Rz. 75-112. Den Petersschcn Ansatz „Strafprozeßlehre" weiterentwickelt hat vor allen Dingen Kühne; vgl.: Kühne, Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem, 1978; Kühne, Strafprozeßlehre, 2. Aufl., 1982. Zu rollenanalytischen Ansätzen in der Zivilverfahrenstheorie siehe etwa: Firsching, Die Aufgabe des Richters in familiengerichtlichen Konflikten, in: Gilles, Effektivität des Rechtsschutzes und verfassungsmäßige Ordnung - Deutsche Landesberichte zum 7. Internationalen Kongreß fur Prozeßrecht in Würzburg (1983), S. 259 ff.; Nakamura, Die Aufgabe des Gerichts in familienrechtlichen Konflikten, in: Habscheid, Effektiver Rechtsschutz und verfassungsmäßige Ordnung - Generalberichte zum 7. Internationalen Kongreß für Prozeßrecht in Würzburg (1983), S. 467 ff. 90 Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, 1970; Eichenberger, Dierichterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, 1960; Habscheid/ Schlosser, Dierichterliche Unabhängigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in: Gilles, Effektivität des Rechtsschutzes und verfassungsmäßige Ordnung - Deutsche Landesberichte zum 7. Internationalen Kongreß für Prozeßrecht Würzburg (1983), S. 239 ff.; Kern, DV 1949, 330; Werner, JurJb 1960,68 ff.; vgl. auch: Meyer, Sozialgerichtsprotokolle (1981), S. 39-43. Zur rechtssoziologischen Sicht der Dinge: Luhmann, Funktionen der Rechtsprechung im politischen System, in: Luhmann, Politische Planung, 2. Aufl. (1975), S. 46 ff.; Luhmann, Gesellschaftliche und politische Bedingungen des Rechtsstaats, in: Luhmann, Politische Planung, 2. Aufl. (1975), S. 53 ff. 91 Die von mir (Gesetzesbegriffe und Gewaltenteilung (1981), S. 65 ff.) formulierte Kritik an diesen Bemühungen bedarf der folgenden Ergänzung: wenn man als Ausgangspunkt das Axiom von der Einheit der Staatsgewalt akzeptiert und dementsprechend gesetzgebende, rechtsprechende und vollziehende Gewalt als drei Erscheinungsformen ansieht, dann ist es ganz offensichtlich ein Ding der Unmöglichkeit, diese drei Erscheinungsformen qualitativ voneinander unterscheiden zu wollen. 92 Bis etwa Mitte der 70er Jahre wurde das Recht des gerichtlichen Verfahrens im Schrifttum nur ausnahmsweise einmal unter dem Blickwinkel einer möglichen Ausstrahlung des Verfas-

§ 4 Die relationale Struktur des Effektivitätsbegriffs

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- Soweit sich auf der anderen Seite das Schrifttum mit dem gerichtlichen Verfahren als solchem beschäftigte 93, wurde der IX. Abschnitt des GG entweder überhaupt nicht94 oder nur am Rande95 erwähnt. Zwar soll und kann hier nicht bestritten werden, daß - legt man Art. 92 ff. GG aus der Perspektive des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG aus - der IX. Abschnitt des GG auch die organisatorische Dimension der in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG funktionell gegliederten Staatsgewalt anspricht96 - wobei an dieser Stelle offen bleiben kann, ob die in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG angesprochenen „besonderen Organe der Rechtsprechung" die „Richter" (Art. 92, 1. Halbsatz GG) oder „die Gerichte" (Art. 92,2. Halbsatz GG) sind97 - bestritten werden soll und muß allerdings, daß sich die Bedeutung der Art. 92 ff. GG in dieser Aussage erschöpft 98. Denn so richtig es auch ist, den Zusammenhang zwischen Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG und dem IX. Abschnitt des GG für dessen Auslegung heranzuziehen, so deutlich muß auch sein, daß hierdurch mit einem den Blick verengenden „Vorverständnis" operiert wird. Bleibt man sich dieser Blickverengung bewußt, dann tritt eine zweite - zuvor durch Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG gleichsam verstellte - Aussage des Art. 92, 1. Halbsatz GG in das Gesichtsfeld: wenn nämlich die Rechtsprechung den Richtern anvertraut ist, ist sie nicht nur dem Kompetenzbereich der Organe der legislativen bzw. der exekutiven Gewalt, sondern in gleichem Maße auch dem der um das Recht streitenden „Parteien" entzogen99. sungsrechts erörtert (etwa: Bettermann, öJBl 72, 57 ff; Böckenförde, Der allgemeine Gleichheitssatz und die Aufgabe des Richters, \951;Bötticher, Die Gleichheit vor dem Richter, 1953; Trocker, Processo Civile e costituziome. Problemi di diritto tedesco ed italiano, 1974; Walter, Verfassung und Gerichtsbarkeit, 1960). Seither allerdings beschäftigt sich auch das Schrifttum immer stärker mit den Einwirkungen des Verfassungs- auf das Verfahrensrecht (vgl. etwa: Benda/ Weber, ZZP 96(1983), 285 ff.; Gerhardt, ZZP 95 (1982), 467 ff; Gilles, JuS 81,402 ff.; Lorenz, NJW 77, 865\Lorenz, AöR 105 (1980), 263ff.;Lorenz, Jura 83,393ff.; Schneider, E., MDR 79,617 ff; Schumann, NJW 82,1609 ff.; Schumann, ZZP 96(1983), \31ff.; S türner, NJW 79, 2334), wohl auch deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht die Theorie von der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das einfache Gesetzesrecht nicht nur rhetorisch zelebriert, sondern auch praktisch anwendet. 93 Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl., 1974; Wolf, Gerichtliches Verfahrensrecht, 1978. 94 So bei Grunsky, der allerdings (S. 226-235) eine relativ ausfuhrliche Darstellung der Verpflichtung zur Gewährung rechtlichen Gehörs gibt. 95 So etwa bei Wolf, Gerichtliches Verfahrensrecht (1978), S. 42 f. 96 Nach Herzog (in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Rz. 4-12 zu Art. 92 GG) spricht der IX. Abschnitt des Grundgesetzes allerdings nur folgende Problembereiche an: (1) Bundesstaatliche Kompetenzverteüung, (2) Gewaltenteilungskomponente, (3) Bindung an Normen Unabhängigkeit gegenüber Exekutive, (4) Gerichtsorganisation und „Richterrecht"; ähnlich auch: Meyer, in: Münch, Kommentar, Rz. 3 zu Art. 92 GG. 97 Einerseits: Meyer, op. cit., Rz. 5 zu Art. 92 GG; anders möglicherweise: Herzog, op. cit., Rz. 72 ff., 114ff. zu Art. 92 GG, der die in Art. 92,2. Halbsatz GG erwähnten Gerichte als die in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG angesprochenen Organe anzusehen scheint. 98 Bettermann, AöR 92 (1967), S. 496 f. 99 Was übrigens nicht zwingend das Verbot privater „Konfliktregelung" beinhaltet. Nur sollte man insoweit nicht von „privater Gerichtsbarkeit" sprechen. Hierzu ausführlicher: Herzog; op. cit., Rz. 145 ff. zu Art. 92 GG; ferner: Westermann, JZ 72, 537 ff

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

5. Angesichts der historischen und zugleich auch systematischen Fundierung des Effektivitätspostulats im Selbsthilfeverbot gerät damit die Ausgestaltung der Beziehung zwischen denrichterlichen und den nichtrichterlichen Verfahrenssubjekten durch die lex lata zum notwendigen Gegenstand der weiteren Untersuchung. Diese ihrerseits muß dabei zweispurig ansetzen und zwar zum einen auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechts, darüber hinaus aber auch auf der des Verfassungsrechts; denn angesichts der vom Bundesverfassungsgericht mehrfach ausgesprochenen Ausstrahlungswirkung des Verfassungs- auf das einfache Gesetzesrecht100 kann die Verfassungsrelevanz auch allgemeinster Verfahrensmaximen selbst dann kaum in Abrede gestellt werden, wenn man den Satz vom Verfahrensrecht als angewandtem Verfassungsrecht 101 nicht für besonders aussagekräftig hält.

2. Kapitel Rechtliches Gehör undrichterliche Entscheidung als grundrechtliche Strukturelemente des Effektivitätspostulats Aufgrund der Unangemessenheit sowohl der Nutzenkonzeption wie auch des Algorithmusgedankens kann die Effektivität von Rechtsschutz nicht quantitativ erfaßt werden. Infolgedessen verbleibt als einziges, die im Effektivitätsbegriff in Beziehung zueinander gesetzten Größen qualitativ zu bestimmen. Geht man insoweit davon aus, daß die Forderung nach wirksamem Rechtsschutz am vollkommensten erfüllt wird, wenn eine Rechtsverletzung mit ex-tunc-Wirkung durch Richterspruch gestaltend beseitigt1 bzw. die Verpflichtung zu ihrer Beseitigung statuiert wird 2, dann wird deutlich, daß diese Größen ihrer rechtlichen Natur nach die Fähigkeit beinhalten müssen, vom Richter ein positives Tun bzw. aus der Sicht der mit dem Rechtsschutzbegehren überzogenen Partei ein Unterlassen - verlangen zu können, d.h. es muß sich um Ansprüche handeln und zwar zunächst einmal um einen Anspruch auf richterliche Entscheidung. Angesichts der Tatsache allerdings, daß ein gerichtliches Erkenntnisverfahren nicht von Amts wegen, sondern nur auf Anstoß von außen3 eröffnet wird, kann der 100

BVerfGE 7, 198 (205); 28, 243 (260 f.). Sax, Die Sicherung der Grundrechte in der Strafrechtspflege, in: Bettermann/Nipperdey /Scheuner, Die Grundrechte III/2 (1959), S. 910 (967); auch: BGH St 19, 325 (330). 1 Zum actus contrarius gegenüber rechtsverletzendem hoheitlichem Tun siehe allerdings: BVerwG BayVBl 70, 374. 2 Diese Primärverpflichtung bedarf gegebenenfalls der Ergänzung durch die Pflicht zur Beseitigung etwa eingetretener tatsächlicher Sekundärfolgen; siehe etwa: BVerwG BayVBl 85, 155. 3 Hierbei kann es sich - wie bei der Klageerhebung nach §§ 64,65 GFO, 53,92 SGG, 151 f., 200 StPO, 81,82 VwGO, 253 ZPO - um einen förmlichen, aber auch - wie im Falle der Amtsverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit (siehe etwa: Bärmann, Freiwillige Gerichtsbarkeit und Notarrecht (1968), § 13 I) - um einen formlosen Anstoß handeln. 101

§ 5 Rechtswegeröffnung als Effektivitätsbedingung

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Richter das an ihn gestellte Rechtsschutzansinnen aber nur erfüllen, wenn ihm hierzu seitens der nichtrichterlichen Verfahrensbeteiligten die erforderlichen Informationen an die Hand gegeben werden4. Infolgedessen bedarf der Anspruch auf Entscheidung der Ergänzung um ein Recht der nichtrichterlichen Verfahrenssubjekte auf Vorbringen, dem eine Pflicht der richterlichen Verfahrenssubjekte zur Kenntnisnahme und zum In-Betracht-Ziehen entsprechen muß. Somit bildet die Verteilung von Richtermacht einerseits und nichtrichterlicher Mitwirkungsbefugnis andererseits den Kern des Effektivitätsproblems, was nicht verwundert, wenn man sich dessen historischen und gleichzeitig systematischen Ausgangspunkt - das Selbsthilfeverbot nämlich - vor Augen führt. Ihr Thema trifft diese Untersuchung infolgedessen nur, wenn sie analysiert, wie die constitutio lata bzw. die lex lata die Handlungsbefugnisse/-pflichten der richterlichen und der nichtrichterlichen Verfahrenssubjekte gegeneinander abgegrenzt und in dieser Abgrenzung zugleich in Beziehung zueinander gesetzt hat. Allerdings darf sich diese Analyse nicht auf das rein Verfahrensimmanente beschränken; denn hiermit würde die Effektivitätsrelevanz der Frage der Rechtswegeröffnung, d.h. des Zugangs zum Richter, fälschlicherweise völlig in Abrede gestellt. § 5 Rechtswegeröffnung als Effektivitätsbedingung

1. Was die Antwort des Grundgesetzes auf die sich spätestens seit dem Verbot privater Rechtsbefriedigung stellende Frage nach einem Anspruch auf das Tätigwerden der staatlichen Rechtspflegeorgane und seiner etwaigen normativen Grundlagen angeht, so wird angenommen, daß sich eine allgemein - d.h. sowohl für privatrechtliche wie für strafrechtliche wie für öffentlichrechtliche Streitigkeiten gleichermaßen - gültige Aussage insoweit allenfalls dem Rechtsstaatsprinzip entnehmen lasse5. Zur Begründung dieser Auffassung wird angeführt: - daß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG schon von seinem Wortlaut her die Inanspruchnahme staatlicher Gerichtstätigkeit nur gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt zulasse6, zu denen jedenfalls Streitigkeiten zwischen Privaten nicht zu rechnen seien7; 4

Die richterliche Entscheidung kann in Beziehung zu den nichtrichterlichen Verfahrenssubjekten als Leistung des auf die Gewährung von Rechtsschutz spezialisierten staatlichen Teilsystems angesehen werden. Derartige Leistungen kann dieses System aber nur erbringen, wenn die nichtrichterlichen Verfahrenssubjekte hierzu selbst einen Beitrag leisten; sogenannte „Anreiz-Beitrags-Theorie". Vgl. im einzelnen etwa: Simon/Smithburg/Thompson, in: Public Administration, New York 1950, S. 38 ff. Zum richterlichen Informationsverhalten ausführlicher: Schneider, J., Information und Entscheidung des Richters (1980), S. 55 ff. 5 Ausfuhrlicher: Bettermann; JB1 72, 57 (64 unter VIII); Halbach, Die Verweigerung der Terminsbestimmung und der Klagezustellung im Zivilprozeß, Diss. Köln 1980. 6 Daß das Bundesverfassungsgericht unter öffentlicher Gewalt i.S.v. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nur die vollziehende Gewalt versteht (etwa BVerfGE 15,275 (280); 24,33 (49)) engt natürlich den Anwendungsbereich dieser Vorschrift weiter ein. Siehe auch oben § 1.3.

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

- daß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, auf den sich das Bundesverfassungsgericht in einigen Entscheidungen8 zur Begründung eines Anspruchs auf Tätigkeit der Rechtspflegeorgane berufen hat, in Wirklichkeikt nur manipulative Eingriffe in die Gerichtsorganisation untersage9; - daß sich aus Art. 92 GG lediglich ablesen lasse, welchen Personen und Institutionen die Ausübung richterlicher Tätigkeit vorbehalten sei, nicht aber, unter welchen Voraussetzungen ein Tätigwerden dieser Personen/Institutionen von Rechts wegen verlangt werden könne10; - daß Art. 3 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG 1 1 einen allgemeinen Anspruch auf das Tätigwerden der staatlichen Rechtspflegeorgane allenfalls dann begründen könne, wenn andernfalls eine von der Sache her nicht mehr zu rechtfertigende Ungleichbehandlung im Kern gleichartiger Sachverhalte zu gewärtigen sei12; - und daß Art. 103 Abs. 1 GG schließlich nur den an einem Verfahren Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren gebiete, ohne die Beteiligtenstellung selbst zu begründen13. Angesichts dieses Meinungsstandes wird die „Flucht" in das Rechtsstaatsprinzip zwar verständlich, mit Rücksicht auf ihre dogmatischen - und das heißt in letzter Konsequenz den rechtsuchenden Bürger betreffenden - Auswirkungen14 allerdings erst dann hinnehmbar, wenn die Möglichkeit der Herleitung eines Anspruchs auf Rechtspflegetätigkeit aus einer Verfassungswörm definitiv ausgeschlossen ist. Und im Hinblick hierauf erscheint eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juni 197215 nachgerade bemerkenswert, weil das Bundesverfassungsgericht in ihr erstmalig16 Art. 103 Abs. 1 GG - wenn auch 7 Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht (1970), S. l\\Lerche, ZZP78(1965), 3 (8); Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie (1973), S. 127 f.; ebenso: Baur; AcP 153(1954), 393 (397); a.A.: Bötticher, ZZP 74 (1961), 314; Bötticher, ZZP 15 (1962), 28 (49). 8 Etwa: BVerfGE 3, 359 (364); 10, 302 (306). 9 Leibholz-Rinck, Rz 6 zu Art. 101 GG; Bettermann, Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzliche Richter, in: Bettermann u.a., Die Grundrechte III/2 (1959), 523 (558 ff.). 10 Baur, AcP 153 (1954), 393 (397). 11 Vgl. etwa: Habscheid, ZZP 67 (1954), 188 (195 ff.). 12 Halbach (Fn. 5), S. 69 m.w.N. 13 So wörtlich etwa BVerfGE 49, 217 (219). 14 Die Verletzung des Rechtsstaatsprinzips kann mit der Verfassungsbeschwerde nicht gerügt werden; daher gelten die Ausführungen von hier sinngemäß. 15 BVerfGE 40, 46 ff. 16 Vgl. auch BVerfGE 40,42 (46), 88 (91), 95 (99); 42,128 (131); 53,148 (151); 54,80(83),94 (97). Zwar hat das BVerfG in E 49,217 (219) ausdrücklich ausgeführt, daß Art. 103 Abs. 1 GG den an einem Verfahren Beteiligten Anspruch auf rechtliches Gehör gewährt, jedoch nicht die Stellung als Beteiligter begründe, doch steht dies in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der in.ständiger Rechtsprechung wiederholten Aussage, der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasse auch das Recht, Anträge zu stellen (etwa: BVerfGE 54, 43 (45), 86 (91), 94 (97)); der Widerspruch ergibt sich daraus, daß das, was durch Art. 103 Abs. 1 GG als Recht im Verfahren gewährleistet ist zugleich notwendige Voraussetzung dafür ist, die Beteiligten Stellung zu

§ 5 Rechtswegeröffnung als Effektivitätsbedingung

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im Zusammenhang mit Art. 19 Abs. 4 GG - heranzieht, um einen Anspruch auf erstmaligen Zugang zu Gericht zu begründen. Zum besseren Verständnis sei die entscheidende Passage der Entscheidung vom 3. Juni 1972 hier wörtlich wiedergegeben (Hervorhebung vom Verf.):

„Im Bußgeldverfahren kann der von einem Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde Betroffene sein in Art. 19 Abs. 4 G G gewährleistetes Recht, gegen einen ihn belastenden Akt der öffentlichen Gewalt ein Gericht anzurufen, nur durch den befristeten Einspruch wahrnehmen. Versäumt e r . . . die Einspruchsfrist, so hängt die Verwirklichung der Rechtsweggarantie davon ab, daß ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Fristversäumnis gewährt wird. Zugleich eröffnet ihm nur die Wiedereinsetzung die Möglichkeit, daß durch Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte rechtliche Gehör in der Sache selbst zu erlangen. In diesem Fall des „ersten Zugangs" zu Gericht dient also die Wieder einsetzung unmittelbar der Wahrung verfassungsrechtlicher Rechtsschutzgarantien Daher verbietet sich bei der Anwendung und Auslegung der die Wiedereinsetzung regelnden prozeßrechtlichen Vorschriften eine Überspannung der Anforderungen daran, welche Vorkehrungen der Betroffene gegen eine etwa drohende Fristversäumnis getroffen und er nach dennoch eingetretener Fristversäumnis getan haben muß, um Wiedereinsetzung zu erlangen

Die Aussage, daß der Bürger ein Recht darauf habe, seine Sache gegen den Staat vor ein Gericht zu bringen, gewinnt das Bundesverfassungsgericht dadurch, daß des Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG „hintereinander schaltet, d.h. nicht die Anhängigkeit/Rechtshängigkeit eines Verfahrens zwingt zur Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern umgekehrt das rechtliche Gehör zur Rechtshängigkeit via Wiedereinsetzung. Also nicht: Jedermann hat vor Gericht Anspruch auf rechtliches Gehör", sondern jedermann hat Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht". 2. Daß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG den Rechtsweg expressiv verbis gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt eröffnet, beinhaltet selbst dann, wenn man nicht nur Exekutiv-, sondern auch Legislativ- und Judikativakte hierunter für subsumierbar hält17, keine verfassungsfeste Rechtsschutzgarantie für die in § 13 GVG angesprochenen „bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten": denn auch die z.B. von Bauer18 und Dütz 19 in Erwägung gezogene Ausdehnung des Begriffs der öffentlichen Gewalt auf die Fälle des hoheitlichen Fiskal- bzw. Verbandshandelns20 beläßt die Rechtsstreitigkeiten zwischen Personen des Privatrechts außerhalb der Verfassungsgarantie von Art. 19 Abs. 4 GG 21 . Infolgedessen kann sich im Hinblick auf diese Streitigkeiten eine Rechtsschutzgarantie auf Verfaserlangen: ohne einen Antrag kommt ein gerichtliches Erkenntnisverfahren in der Regel überhaupt nicht zustande. Wenn also der Anspruch auf rechtliches Gehör auch das Recht umfaßt Anträge zu stellen, dann begründet er insoweit auch ein Recht auf Zugang. 17 Hierzu ausführlicher oben § 1.3. 18 Gerichtsschutz als Verfassungsgarantie (1973), S. 67 ff. 19 Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, S. 61 ff. (70). 20 Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie (1973), S. 93-126; Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht (1979), S. 29. 21 Pieck, Der Anspruch auf ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren (1966), S. 68-71.

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

sungsstufe nur noch aus Art. 6 Abs. 1 Satz EMRK oder aus Art. 103 Abs. 1 GG ergeben. 3. Angesichts der Tatsache, daß Art. 6 Abs. 1 EMRK seinem Wortlaut nach unbezweifelbar einen Anspruch auf Zugang zu Gericht gerade für die von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht erfaßten Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen statuiert, erscheint der Versuch, einen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt wie auch bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten umfassenden Rechtsschutzanspruch aus Art. 103 Abs. 1 GG herzuleiten insoweit überflüssig, als eine Lücke in der grundrechtlichen Rechtsgewährleistung jedenfalls dann nicht feststellbar ist, wenn man - wie etwa Echterhölter dies tut 22 - den Bestimmungen der Konvention den Charakter materiellen Verfassungsrechts zuerkennt23. Allerdings würde auch die Echterhöltersche Auffassung nichts daran ändern, daß eine lediglich Art. 6 Abs. 1 Satz EMRK verletzende Justizverweigerung 24 mit einer wirksamen Beschwerde i.S.v. Art. 13 EMRK nicht in jedem Fall 25 und mit der Verfassungsbeschwerde in keinem Fall gerügt werden könnte: Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG weder ausdrücklich aufgeführt noch gehört er zu den Grundrechten im dort gemeinten Sinne26. Daß ungeachtet dessen Individualbeschwerde nach Art. 25 EMRK erhoben werden kann, beinhaltet demgegenüber keinen gleichwertigen Rechtsschutz, kann und darf doch auch der nach Art. 50 EMRK entscheidungsbefugte Gerichtshof die die Konvention verletzende nationale Maßnahme nicht aufheben noch sonstwie suspendieren27. Infolgedessen hat die Erörterung der Frage, ob sich aus Art. 103 Abs. 1 GG nicht möglicherweise doch ein Anspruch auf Zugang zu Gericht ergibt, einen durchaus praktischen Hintergrund: sollte sich ein derartiger Anspruch nämlich aufweisen lassen, dann könnte - über den Rahmen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG hinaus - jede Justizverweigerung im Wege der Verfassungsbeschwerde28 gerügt werden, weil Art. 103 Abs. 1 GG die Stellung als Verfahrensbeteiligter nicht nur voraussetzt, sondern sie zugleich auch begründet. 22

JZ 55, 689 (692). Dagegen neuestens mit beachtlichen Argumenten: Silagi, EuGRZ 80, 632 ff. 24 Beispiele für derartige Justizverweigerungen etwa bei: Pieck (Fn. 21), S. 95 ff.; siehe auch: Halbach (Fn. 5). 25 Halbach, op. cit., S. 183-190. 26 Vgl. etwa: BVerfGE 10 271 (274); 34,385 (395);41,88 (105), 126(149). Zum Grundrechtsbegriff des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG: Maunz, in: Maunz/Dürig /Herzog/Scholz, Rz. 65 zu Art. 93 GG; Meyer, in: von Münch Rz. 58 zu Art. 93 GG; Rinken-AK, Rz. 43 zu Art. 93 GG. 27 Zu Art. 50 EMRK ausführlicher: Golsong, JöR 10(1961), 23 S. 55 f.; Guradze, Anm. 3 zu Art. 50 EMRK; Matscher, EuGRZ 82,489, 517 (525 ff.); vgl. ferner: EGMR EuGRZ 82,489, 517 (525 ff.); vgl. ferner: EGMR EuGRZ 82, 59 ff., 108 ff.; weiterführend: Schellenberg, Das Verfahren vor der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, 1983; Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983. 28 Bereits die Wiener Schlußakte von 1820 kannte eine „Verfassungsbeschwerde wegen Justizverweigerung"; vgl.: Scheuner, Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Starck, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz 1 (1976), S. 1 (23 ff.). 23

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4. Geht man vom Wortlaut des Art. 103 Abs. 1 GG aus, so scheint zunächst einmal dessen Satzbau für die vom Bundesverfassungsgericht vertretene Auslegung zu sprechen: die beiden Worte „vor Gericht" werden beim Lesen vor den Worten „Anspruch auf rechtliches Gehör" wahrgenommen, so daß es aus grammatischen Gründen durchaus gerechtfertigt scheint, in Anlehnung an die generelle Tatbestands-Rechtsfolgenstruktur anspruchsbegründender Normen wie folgt zu lessen: Wenn jemand vor Gericht steht (Tatbestand), dann hat er Anspruch auf rechtliches Gehör (Rechtsfolge). Die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs wäre also rechtliche Folge des Umstandes, daß jemand vor Gericht steht, und könnte infolgedessen den Anspruch, mit seinem Begehren vor Gericht ziehen zu dürfen, schon aus Gründen der Logik nicht stützen: die Folge eines Umstandes kann nicht zugleich dessen notwendige Bedingung sein. Angesichts der bereits aufgezeigten Folgen einer derartigen Auslegung drängt sich allerdings die Frage auf, ob die Anwendung eines Auslegungsverfahrens, welches üblicherweise für Rechtsnormen unterverfassungsrechtlichen Ranges gilt, auch dem Rang von Verfassungsnormen angemessen ist; Zweifel hieran erscheinen schon deswegen begründet, weil Normen, die - wie Art. 103 Abs. 1 GG - ein Grundrecht bzw. ein grundrechtsgleiches Recht29 beinhalten, in der Regel nicht in einen Tatbestand auf der einen und eine Rechtsfolge auf der anderen Seite zergliedert werden können30, sondern vielmehr ganzheitlich als Beoder Umschreibungen eines staatlichem Zugriff nicht - mindestens nicht unbeschränkt - offenstehenden Raumes individueller Selbstverwirklichung begriffen werden müssen. Ein zweites kommt hinzu: selbst wer sich die im Vorstehenden formulierte Kritik an der Auslegungsmethode nicht zu eigen machen kann, wird einräumen müssen, daß die dargelegte klassische Auslegung von Art. 103 Abs. 1 GG auf der einen und von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG auf der anderen Seite zu einer nur schwer zu rechtfertigenden Lücke im Rechtsschutzsystem führt 31, die durch den Hinweis auf die gegenüber dem von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG erfaßten Bereich ehrwürdigere Tradition des Zivilprozesses32 allenfalls erklärt, nicht aber gerechtfertigt werden kann. Daß andererseits aus der Angemessenheit einer Auslegung von Art. 103 Abs. 1 GG im Sinne eines allgemeinen Justizanspruchs noch nicht deren methodische Zulässigkeit folgt, macht es erforderlich, nach einem Auslegungsverfahren zu suchen, daß diese Zuständigkeit begründen könnte.

29 Ständige Rechstprechung des BVerfG zu Art. 103 Abs. 1 ; vgl. etwa: BVerfGE 9,89 ff.; 53, 219 (222); 55, 1 (5 f.); 58, 353 (356); 60, 120 (122), 247 (249), 250 (252). Die Aussage von BVerfGE 21, 362 (373) Art. 1Ó3 Abs. 1 GG enthalte seinem Inhalt nach kein Individualrecht, sondern lediglich einen objektiven Verfahrensgrundsatz ist vereinzelt geblieben und daher nicht verallgemeinerungsfähig. 30 Vgl. etwa: Bleckmann, Allgemeine Grundrechtslehren (1979), S. 227 ff. 31 So auch: Baur, AcP 153 (1954), 393 (398). 32 Vgl. in diesem Zusammenhang: Unruh, Jura 82, 113 ff.

3 Frohn

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

5. Auch wenn man die Kritik des Schrifttums an einer Verfassungsauslegung auf Effektivität hin für unbegründet hält33, so zieht gleichwohl der „Satz"Charakter einer jeden Aussage, die rechtliche Geltung beansprucht, der Auslegung Grenzen jenseits derer es sich um Analogie, Rechtsfortbildung oder dergleichen, nicht aber mehr um Auslegung handelt34,35. Diese Grenzen ergeben sich daraus, daß jede Aussage in Zeichen irgendwelcher Art fixiert ist, die ihrerseits nach bestimmten allgemein anerkannten Regeln miteinander kombiniert werden, und daß Auslegung nicht anderes bedeutet als auf Grund der Kenntnis dieser Regeln einerseits sowie der Zeichen und ihrer Bedeutungen andererseits den Informationsgehalt der auszulegenden Aussage zu (re-)konstruieren. So verstanden muß Auslegung ihren Ausgang vom - allerdings bereits vorausgelegten36 - Wortlaut nehmen, aber auch zu ihm zurückkehren 37, d.h. von Auslegung kann sensu strictu nicht mehr die Rede sein, wenn entweder (1) unter Beibehaltung sämtlicher Zeichen einer Aussage bei einem oder mehreren von ihnen 33 Siehe hierzu oben § 2. Im übrigen sei daraufhingewiesen, daß das hier angesprochene Problem der Auslegung von Grundrechtsnormen, d.h. Rechtsnormen spezifischen Ranges, im Folgenden keinesfalls umfassend diskutiert werden kann; es würde nämlich den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die hierzu erforderliche Einordnung der Auslegungsproblematik in den Kontext einer Theorie der Rechtsgewinnung auf Verfassungsstufe zu leisten, da dies nicht allein ein rechtswissenschaftliches Problem darstellt, sondern nur bei Berücksichtigung von sprachwissenschaftlichen, aber auch allgemein verhaltenswissenschaftlichen Implikationen möglich wäre. Da ein derartiges „Abschweifen" vom Erkenntnisinteresse dieser Arbeit nicht gedeckt wäre, müssen die nachfolgenden Gedanken notwendigerweise lückenhaft bleiben und zwar sowohl hinsichtlich der Argumentation als auch hinsichtlich der wissenschaftlichen Nachweise. Es mag daher bei den nachfolgenden Hinweisen sein Bewenden haben: Aarnio, Denkweisen der Rechtswissenschaft, 1979; Coing, Juristische Methodenlehre, 1972; Dreier-Schwegmann, Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976; Kelsen, Zur Theorie der Interpretation, in: Internationale Zeitschrift für die Theorie des Rechts 8 (1934), S. 9-\l\Koch, Über juristischdogmatisches Argumentieren im Staatsrecht, in: Koch, Die juristische Methode im Staatsrecht (1977), S. 15 ff.; Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. (1984), S. 345 ff.; Müller, Fr., Juristische Methodik, 2. Aufl., 1976; Müller, Fr., Die Einheit der Verfassung 1979; Rhinow, Rechtssetzung und Methodik, 1979; Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Stark, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II (1976), S. 22 ff.; Schneider, P. /Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, WDStRL 20 (1963), 1 ff.; Stein-AK, Einleitung II.; Stern, Gesetzesauslegung und Auslegungsgrundsätze des Bundesverfassungsgerichts, Diss. München 1956; Stern, Da Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland I, 2. Aufl. (1984), S. 102 ff. 34 Was nicht bedeutet, daß eine derartige Grenzüberschreitung unzulässig wäre; denn allein die Tatsache, daß ein bestimmtes methodisches Vorgehen nicht mehr mit einem bestimmten Begriff bezeichnet werden kann, sagt noch nichts über die Zulässigkeit dieses Vorgehens aus. 35 Der Unterschied zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung/Analogie besteht nach dem herrschenden Methodenkanon darin, daß ein durch Auslegung gewonnenes Ergebnis keiner weiteren rechtfertigenden Begründung bedarf, wohl aber ein solches, daß durch Rechtsfortbildung/Analogie gewonnen wird. 36 Diese Vorauslegung ergibt sich daraus, daß Auslegung ihrerseits nur möglich ist, wenn eine allgemeine Kenntnis von den Zeichen und ihren Signifikaten sowie den Kombinationsregeln vorhanden ist. 37 Zu dem hier angesprochenen Problem des Wortlauts als Ausgangspunkt und Grenze der Auslegung etwa: BVerfGE 8, 38 (41); Fikentscher, Methoden des Rechts, III (1976), S. 670 ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl. (1984), § 2 I I I (Rz. 60-78).

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das Signifikat ausgetauscht wird oder (2) die bei der Konstruktion der Aussage verwandten Kombinationsregeln durch andere ersetzt werden oder schließlich (3) die vorgegebene Kombination durch eine andere der gleichen Zeichen ersetzt wird. Hieraus folgt, daß das anstehende Vorhaben, Art. 103 Abs. 1 GG im Sinne eines umfassenden Anspruchs auf Rechtspflege zu verstehen, nicht mehr aufohne weitere Begründung zulässiger - Auslegung beruht, wenn die Verletzung einer oder mehrerer der genannten Bedingungen festzustellen ist. 6. Da das verfassungsgerichtlichen Verständnis von Art. 103 Abs. 1 GG, das den Anspruch auf rechtliches Gehör sich nur im Rahmen allgemeiner Verfahrensvorschriften entfalten läßt38, d.h. nur soweit solche39 den Zugang zu Gericht eröffnen 40, auf einer im wesentlichen grammatisch-syntaktischen Auslegung beruht, liegt es nahe, anzunehmen, ein allgemeiner Justizanspruch ließe sich aus Art. 103 Abs. 1 GG nur herleiten, wenn die vorgegebene Zeichenkombination durch eine andere Kombination dergleichen Zeichen ersetzt wird; denn im Sinne eines allgemeinen Justizanspruches müßte Art. 103 Abs. 1 GG dem Sprachgefühl, also den verinnerlichten Regeln über den richtigen Sprachgebrauch entsprechend, wie folgt gelesen werden: „Jedermann hat Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht." Allerdings steht der Umstand, daß in Art. 103 Abs. 1 GG vom „rechtlichen" Gehör die Rede ist, einer allzu schwergewichtigen Berücksichtigung dieses Einwandes entgegen, ergibt sich doch hieraus zunächst, daß es sich bei dem zu gewährenden Gehör um ein solches handeln muß, daß sich irgendwann einmal rechtlich, d.h. in einer Rechtsform muß auswirken können. Infolgedessen kommt als Anspruchsverpflichteter nur eine Institution in Betracht, deren Äußerungen in Rechtsform ergehen, woraus folgt, daß ohne die Beifügung „vor Gericht" Art. 103 Abs. 1 GG einen umfassenden Anhörungsan38

BVerfGE 15, 219 (222); sinngemäß gleichartig: BVerfGE 9, 89 (95 f.); 15, 303 ff.; 20, 280 ff.; 24, 56 (62). 39 Die Frage, nach welchen Kriterien sich allgemeine und besondere Verfahrensvorschriften voneinander unterscheiden lassen, wird von der verfassungsgerichtlichen Judikatur allerdings nicht beantwortet. 40 BVerfGE 49, 218 (219) wörtlich: „Dieses Grundrecht (gemeint ist Art. 103 Abs. 1 GG; HGF) gewährt den an einem Verfahren Beteiligten Anspruch auf rechtliches Gehör, verschafft jedoch nicht die Stellung als Beteiligter." Im Hinblick auf diese Aussage ist allerdings auf BVerfGE 21, 133 hinzuweisen, in der das Bundesverfassungsgericht aus Art. 6 Abs. 2 GG gefolgert hat, in dem nach § 1595 a.F. BGB vom Staatsanwalt gegen das Kind geführten Anfechtungsprozeß müsse dem „Vater" rechtliches Gehör gewährt werden - sogenannte „Sachverhaltsbeteiligung" - obwohl er nach der einschlägigen verfahrensrechtlichen lex lata kein Prozeßbeteiligter bzw. - im Sinne der in dieser Arbeit verwandten Terminologie - kein Prozeßsubjekt sei; vgl. zu dieser Spezialfrage auch: Ter Beck, Die Beteiligung des potentiellen außerehelichen Erzeugers am Prozeß über die Anfechtung der Ehelichkeit, in: Damrau u.a., Festschrift für Otto Mühl zum 70. Geburtstag (1981), S. 85 ff.; BGH NJW 82,1652. Zur prozessualen Behandlung der sogenannten Sachverhaltsbeteiligung auch: BVerfG JZ 67,442 mit Schlosser JZ 67, 431 ff.; BVerfGE 23, 33 (40 f.) mitHäberle, JZ 76, 377 (379 Fn. 31); ferner: Calavros, Urteilswirkungen zu Lasten Dritter, 1978; Wolf, JZ 71,405 ff.; Zeuner, Rechtliches Gehör, materielles Recht und Urteilswirkungen, 1974. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des schweizerischen Bundesgerichts, mitgeteilt in NZZ - Fernausgabe Nr. 117 - vom 25./26. Mai 1986, S. 32. 3*

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

spruch durch Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsorgane beinhalten würde. Das aber wiederum bedeutet, daß dieser Beifügung nur die Einschränkung des Kreises der Verpflichteten zu entnehmen ist, nicht aber, daß die Gewährung rechtlichen Gehörs nur innerhalb bereits anhängiger Verfahren zu erfolgen hätte: die Pflicht, Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, ergibt sich aus Art. 103 Abs. 1 GG nur für Rechtsprechungs-, nicht aber für Verwaltungs-41 und Gesetzgebungsorgane42. Hinzu kommt ein zweites: Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beinhaltet der Anspruch auf rechtliches Gehör u.a. das Recht, Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen, bezüglich derer das Gericht die Pflicht zur Kenntnisnahme und zur Erwägung hat43. Ein sachlicher Grund dafür, dieses Recht nur innerhalb eines bereits anhängigen Verfahrens zu gewähren, ist nicht ersichtlich, dies umso weniger, als das Ingangkommen eines Verfahrens einen entsprechenden Antrag notwendigerweise voraussetzt. Wenn also das rechtliche Gehör das Recht auf Antragstellung umfaßt, dann ergibt sich hieraus geradezu zwingend, daß hiermit auch der den Rechtsweg eröffnende Antrag gemeint ist. Dies aber bedeutet nichts anderes, als daß Art. 103 Abs. 1 GG eine Doppelfunktion hat: zum einen eröffnet es für alle die Streitigkeiten, die nicht schon unter Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG fallen, den Zugang zu Gericht 44 und ist insoweit lex generalis gegenüber Art. 19 Abs. 4 Satz 1, zum zweiten umfaßt es einen verfahrensinternen Anspruch auf Äußerung, dem eine Reaktionspflicht der richterlichen Verfahrensbeteiligten korrespondiert 45. 7. Daß Art. 103 Abs. 1 GG demzufolge ein Recht zur Rechtspflege beinhaltet45®, besagt allerdings noch nichts darüber, ob dieses Recht nur dann besteht, wenn Rechtsprechung im materiellen Sinne, d.h. eine kontradiktorische Streitentscheidung in Rede steht, oder ob dieser Anspruch auch diejenigen Fälle 41 Zu Recht wird daher der Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren nicht in Art. 103 Abs. 1 GG verortet; vgl. etwa: BVerwG NJW 76,588; OVG Hamburg DöV 76,174; ferner: Schmidt-Assmann, Jura 79, 505 (507). 42 Im Hinblick auf die Gesetzgebungsorange ist es wichtig, daß sie nicht zur Reaktion auf irgendwelches Vorbringen rechtlich verpflichtet sind. Daß unabhängig hiervon ihnen gegenüber das Recht besteht, Ausführungen zu machen, folgt nicht aus Art. 103 Abs. 1 GG, sondern vielmehr aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. 43 BVerfGE 6,19 (20); 11,218; 14,320; 18,380 (383); 21,46 (48), 102(103 f.); 22,267; 24,203 (213); 27,248 (251); 28, 378 (384); 29,166 (173); 34,344 (346); 36,298; 40,101 (104); 42,367; 46, 315 (319); 53, 219 (222); 54, 43 (45), 86 (91), 94 (97); 60, 1 (5); 63, 80 (85); 66, 260 (263). 44 So z.B. auch: BFH JZ 54, m\Baur, AcP 153 (1954), 393 (396 ff. X A W W , ZZP 79 (1976), 99 (109 ff.); Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz I, 2. Aufl. (1964) Rz. 17 ff.; Kirch, Das subjektiv-öffentliche Recht auf Anrufung der staatlichen Gerichte, Diss. Würzburg (1967), S. 74 ff.; Kolb, Das rechtliche Gehör als verfassungsmäßiges Recht, Diss. München (1963), S. 57 f.; Lerche, ZZP 78 (1965), 3 (8); unentschieden: Pieck (Fn. 5), S. 68 ff. 45 Ausführlicher unten § 6. 45a Zum Problem der Korrektur von gehörwidrigen Entscheidungen von Fachgerichten siehe beispielsweise: BVerfG NJW 86, 2305: 87, 1319 ff.; VGH Kassel NJW 86, 209; OLG Frankfurt NJW 86, 1052; Kahlke NJW 85, 2231 ff.; Weis, NJW 87, 1314 ff.

§ 5 Rechtswegeröffnung als Effektivitätsbedingung

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umfaßt, in denen kraft gesetzlicher Anordnung ein Gericht bzw. ein Richter entscheidungsbefugt ist46; denn nicht in jedem Falle, in dem ein Richter oder gar ein Gericht tätig wird, wird auch ein Streit entschieden47. Daß Art. 103 Abs. 1 GG einen Anspruch auf richterliches Handeln beinhaltet, besagt des weiteren nichts darüber, welches Tun, Dulden bzw. Unterlassen im Einzelfall aufgrund dieses Anspruchs verlangt werden kann. Mit der ersten der beiden hier aufgeworfenen Fragen hat sich das Bundesverfassungsgericht zwar bisher noch nicht beschäftigt - und weil es einen auf Art. 103 Abs. 1 GG gestützten Justizanspruch nicht anerkannt, ist auch nicht damit zu rechnen, daß es zu dieser Frage je wird Stellung nehmen müssen-, doch hat es in verschiedenen Entscheidungen48 Gedanken entwickelt, die ihre Beantwortung zulassen. Der Grundgedanke dieser Entscheidungen ist folgender: soweit staatlicherseits durch positives Tun oder Unterlassen in die Rechte des Bürgers eingegriffen wird, fallen Kontrolle, zum Teil aber auch schon die ursprüngliche Anordnung entsprechender Maßnahmen in den Kompetenzbereich des Richters, um insbesondere zu gewährleisten, daß die rechtlichen Voraussetzungen derartiger Eingriffe genauestens beachtet werden49. Ohne richterliche Entscheidung in die Tat umgesetzt werden dürfen also nur solche Akte, bei denen die Möglichkeit der Verletzung individueller Rechtspositionen ausgeschlossen ist50. In allen anderen Fällen muß das Erlangen einer richterlichen Entscheidung möglich sein, bevor eine Maßnahme irreversiblen Charakter annimmt, und dies unabhängig davon, ob das zu einer solchen Entscheidung führende Verfahren adversatorisch strukturiert ist oder nicht. Und Maßnahmen, die wegen „Gefahr im Verzug" auch nichtrichterliche Justizorgane treffen können - also vernehmlich Anordnungen nach §§ 81 a Abs. 2, 81 c Abs. 5, 98 Abs. 1, 100 Abs. 1, 100 b Abs. 1, 105 abs. 1, 111 Abs. 2,127 Abs. 2,132 Abs. 3 StPO - müssen auch im Falle ihrer „prozessualen Überholung" einer nachträglichen richterlichen Rechtmäßigkeitsprüfung zugeführt werden können51, weil ein Freispruch im Hauptverfahren nicht notwendigerweise besagt, daß staatsanwaltschaftliche Ermittlungshandlungen rechtswidrig waren wie umgekehrt aus einer Verurteilung keineswegs auf die Rechtmäßigkeit der entsprechenden Ermittlungsmaßnahmen geschlossen werden kann52. Festzuhalten bleibt damit, 46

Löwe, Das rechtliche Gehör, Diss. Hamburg (1957), S. 279. Vgl.: Pieck (Fn. 5), S. 13 ff. 48 Etwa: BVerfGE 8, 253 (255 f.); 9, 89 (93, 98); 17, 356 (362). 49 BVerfGe 9, 89 (93). 50 Vgl. etwa: BVerfGE 46, 166 (178); BVerfwGE 16, 289 (292); 17, 83 (85); 48, 271 (277). 51 Zu dieser Frage siehe einerseits: Fezer, Jura 82,18 ff., 126 ffSchäfer, in:Löwe-Rosenberg, Rz. 34, 34 a zu § 23 EGGVG; andererseits: Meyer, K., Zur Anfechtung der durch Vollzug erledigten Maßnahmen der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, in: Festschrift für Karl Schäfer (1980), S. 118 ff. 52 Dem Umstand, daß die Überholung bzw. Erledigung einer Maßnahme häufig, aber nicht immer, die in ihr enthaltene Rechtsverletzung vollständig gegenstandslos macht, kann durch 47

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

daß der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht identisch ist mit einer adversatorischen bzw. kontradiktorischen Verfahrensstruktur 53 bzw. den Zugang zum Richter als Entscheidungsinstanz nicht nur zu derartig strukturierten Verfahren verfassungsrechtlich verbürgt. Der aus Art. 103 Abs. 1 GG resultierende Zugangsanspruch ist vielmehr unabhängig von der Struktur der jeweiligen Erkenntnisverfahren angelegt. So gesehen beinhaltet Art. 103 Abs. 1 GG sogar eine in ihrer Wirkung über Art. 20 Abs. 2 Satz 2,92 GG hinausgehende Institutionsgarantie: denn wenn jedermann Anspruch auf Gehör durch ein Gericht hat, dann setzt dieser Anspruch die Existenz der Institution Gericht/Richter denknotwendig voraus54. Daß sich die verfassungsrechtlichen Zugangsgarantien nicht auf adversatorische Parteiverfahren beschränken55, vielmehr umgekehrt die jene Verfahren kennzeichnende kontradiktorische Struktur eine von mehreren zulässigen Verfahrensformen ist, beruht im Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG darauf, daß der materiellen Rechtsschutzvoraussetzung „Verletzung eigener Rechte durch die öffentliche Gewalt" ein adversatorisches Verfahren am angemessensten korreliert. Im Hinblick auf die zugangsrechtliche Dimension von Art. 103 Abs. 1 GG kann aber nichts anderes gelten; denn mit Rücksicht auf Art. 2 Abs. 1 GG muß auch insoweit die Möglichkeit einer Verletzung eigener Rechte als - wenn auch ungeschriebene - Voraussetzung des Zugangs angesehen werden. Daß auch ihr eine adversatorische Verfahrensstruktur am weitestgehenden entsprechen würde, ergibt sich unmittelbar aus dem Vorausgeführten; daß nur eine solche Struktur ihr entsprechen würde, kann schon deswegen nicht behauptet werden, weil die Frage nach den materiellen Voraussetzungen des Zugangs zu Gericht auf ein anderes Bezugsobjekt zielt als die Frage nach der Struktur des gerichtlichen Erkenntnisgewinnungsverfahrens. Festzuhalten bleibt damit, daß durch Art. 19 Abs. 4,103 Abs. 1 GG der Zugang zu Gericht und zum die Sachentscheidungsvoraussetzung eines „besonderen" Feststellungsinteresses Rechnung getragen werden; vgl. insoweit: §§113 Abs. 1 Satz 4 VwGO, 28 Abs. 1 Satz 4 EGGVG. 53 Hierzu ausführlicher unten im 2. Teil. 54 Diese Institutionsgarantie geht in ihrer Reichweite über die der Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, 92 GG hinaus, besagen letztere doch nur, daß, wenn Rechtsprechungsaufgaben wahrgenommen werden, dies durch Richter/Gerichte zu erfolgen habe. Die verfassungsrechtliche Pflicht, Rechtsprechungsaufgaben auch tatsächlich wahrzunehmen, ergibt sich demgegenüber - wie gezeigt - entweder aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG oder aus Art. 103 Abs. 1 GG. Siehe in diesem Zusammenhang auch: Bettermann, AöR 96 (1971), S. 528 ff. 55 Nach ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung gilt Art. 103 Abs. 1 GG zwar nur für gerichtliche Verfahren (BVerfGE 27, 88 (103); 46, 17 (26)), insoweit aber unabhängig von den Prozeßmaximen (BVerfGE 7, 53; 13, 132). Zur Geltung im Rechtsmittelverfahren: BVerfGE 7,95,109,275; im Verfahren nach § 42fStGB: BVerfGE 17,139 mit BayVGHE 27 I I 87; im Kostenfestsetzungsverfahrenß BVerfGE 17, 265, 19, 148; siehe auch: SMID, MDR 85, 189 ff.; im Verfahren nach£ 172StPO: BVerfGE 17, 356; 18, 399; 19, 32; imFGG-Verfahren: BVerfGE 19, 49; im Befangenheitsablehnungsverfahren: BVerfGE 24, 56 (zum rechtlichen Gehör bei der Selbstablehnung: ZZP 84, 196); im Verfahren vor dem Truppendienstgericht: BVerfGE 32, 195; im Wiedereinsetzungsverfahren, das seinerseits wiederum Ausfluß des rechtlichen Gehörs ist: BVerfGE 53, 109; 67, 154 ff.; im schriftlichen Verfahren: BVerfGE 64, 203 (207). X

§ 5 Rechtswegeröffnung als Effektivitätsbedingung

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Richter für alle die Fälle garantiert ist, in denen die Rechtsposition, die Bezugsobjekt der begehrten richterlichen Entscheidung ist, als subjektives Recht qualifiziert werden kann; nicht abhängig hingegen ist die Zulassung zu Gericht davon, ob der zu treffenden Entscheidung nun ein kontradiktorisches Verfahren zugrunde liegt oder nicht. Stellt man dies in Rechnung, so rechtfertigt sich die weitgehende Abdrängung des durch eine Straftat Verletzten in prozessuale Randpositionen56 allein aufgrund der Tatsache, daß ihm weder gegenüber dem Verletzer ein subjektives Recht auf Bestrafung 57 noch gegenüber der Staatsanwaltschaft ein solches auf Justizgewährung58 zusteht; infolgedessen fallen weder das Privat- noch das Nebenklagerecht59 noch das Klageerzwingungsrecht60 unter die verfassungsrechtlichen Zugangsgarantien. Einzig beim Adhäsionsverfahren bildet ein subjektives Recht - hier: ein vermögensrechtlicher Anspruch (§ 403 Abs. 1 StPO) - den Bezugspunkt einer etwaigenrichterlichen Entscheidung61. Gleichwohl erübrigt sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit eine gesonderte Erörterung dieses Verfahrens, zum einen aus dem Grund, weil es von der Rechtspraxis so gut wie nicht angenommen worden ist 62 , zum andern aber auch, weil es lediglich zu einer Erledigung eines zivürechtlichen Anspruchs im Strafverfahren, d.h. im wesentlichen nach strafprozessualen Grundsätzen63 führt. Gerade hierin aber dürfte der wesentlichste Grund für die mangelnde Akzeptanz des Adhäsionsverfahrens durch die

56 Hierzu ausführlicher etwa: Geerds, JZ 84,786 ff.; Jung, ZStW 93 (1981), 1147 ff., Maiwald, GA 70,33 ff.; Riess, Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren, Gutachten C zum 55. Deutschen Juristentag, 1984; Deutscher Juristentag, Sitzungsbericht L zum 55. Deutschen Juristentag, 1984; Weigend, ZStW 96(1984), 761 ff. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die Beschlüsse der Strafrechtlichen Abteilung des 55. DJT (zu IV. 1 und V.l), die deutlich machen, daß die Verdrängung des Verletzten aus dem Strafprozeß durch eine Stärkung seiner zivil(prozeß-)rechtlichen Situation kompensiert werden soll. Unter kriminalpsychologischem Aspekt hierzu kritisch: Hellmer, in: DIE ZEIT Nr. 18 vom 26. Aprü 1985, S. 87. 57 Zum Problem der strafrechtlichen Privatgenugtuung grundlegend und ausfuhrlich: Dohna, Die Privatgenugtuung, in: Birkmeyer u.a., Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts - Allgemeiner Teil Band 1 (1908), S. 225 ff. 58 a.A. z.B. Kalsbach, Die gerichtliche Nachprüfung von Maßnahmen der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren (1967), S. 100, der eine allgemeine Justizgewährungspflicht der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Verletzten postuliert. Demgegenüber weist allerdings Peters (Strafprozeß, 3. Aufl. (1981), S. 21 (unter 1.1 a.E)) zutreffend darauf hin, daß eine derartige allgemeine Pflicht allenfalls gegenüber der Rechtsgemeinschaft als solcher existiere; gegenüber dem Verletzten könne sich eine derartige Pflicht nur Kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung ergeben. 59 Insoweit: Riess, Gutachten, Rz. 40 f. m.w.N. 60 Nach einhelliger Auffassung dient das Klageerzwingungsverfahren nicht der Wahrung subjektiver Rechte des Verletzten, sondern der Einhaltung des Legalitätsprinzips; ausfuhrlicher: Riess, Gutachten, Rz. 27. 61 Zu den weiteren expliziten Verletztenpositionen des StrafVerfahrensrechts: Riess, Gutachten, Rz. 11. Die von Riess erwähnte typische Zeugenposition des durch eine Straftat Verletzten (dazu auchß Jung, ZStW 93 (1981), 1147 (1155 f.); Dahs NJW 84,1921 ff.', Riess, Gutachten Rz. 155 ff.) ist zugangsrechtlich insofern irrelevant, weil die mit ihr verbundenen Möglichkeiten der Verletzung subjektiver Rechte durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG abgedeckt werden. 62 Riess, Gutachten, Rz. 43; zur Reform des Adhäsionsverfahrens: Brause, ZRp 85, 103. 63 Wendisch in: Loewe-Rosenberg, Rz. 9 zu § 404 StPO.

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens Rechtspraxis insoweit liegen, als die Voraussetzungen strafrechtlicher richterlicher Entscheidungen einerseits und zivilrechtlicher andererseits sachlichrechtlich wenig übereinstimmen64. Insgesamt gesehen wird man daher das Adhäsionsverfahren im Vergleich zum „normalen" Zivilverfahren als „quantité négligeable" ansehen dürfen.

8. Auch mit der zweiten der hier aufgeworfenen Frage - der nach dem Inhalt des Anspruchs auf Rechtspflege - hat sich das Bundesverfassungsgericht bisher nicht beschäftigt und wird sich wohl auch nie mit ihr zu beschäftigen haben, obwohl sie auf die Klärung derjenigen Gegebenheiten zielt, die die Struktur des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens bestimmen. Erforderlich ist diese Klärung vor allem in Richtung auf das, was den zwischen dem ein solches Verfahren in Gang setzenden Input und dem es abschließenden Output bestehenden Unterschied ausmacht; denn daß ein solcher Unterschied besteht, kann angesichts des Umstandes, daß allein die am Abschluß eines gerichtlichen Erkenntnisverfahrens stehende richterlicher Entscheidung, nicht aber das an seinem Beginn stehende klägerische Begehren den Einsatz staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigt 65 , schwerlich geleugnet werden. Auch wenn allein die richterliche Entscheidung den Einsatz staatlicher Zwangsgewalt im Rahmen einer sich anschließenden Zwangsvollstreckung rechtfertigt, so tut sie dies gleichwohl nicht abstrakt, sondern nur im Hinblick auf das vom Kläger bzw. der Anklagebehörde konkret benannte Streitprogramm und das aus diesem abgeleitete sachliche Begehren66: erfüllt das Streitprogramm sämtliche gesetzlichen Voraussetzungen des Begehrens67, was in „objektiver" Hinsicht, also unter Berücksichtigung der gegen den einseitigen Vortrag der Klage- bzw. Anklageschrift gerichteten Einwände, zu klären gerade Sache des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens ist, ist dem Begehren stattzugeben andernfalls nicht. Rechtfertigt aber die richterliche Entscheidung den Einsatz staatlicher Zwangsgewalt nur im Hinblick auf das aus einem konkreten Streitprogramm abgeleitete sachliche Begehren68, dann sind dieses Begehren und seine gesetzlichen Voraussetzungen diejenigen Gegebenheiten, die die Struktur des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens determinieren. 64 Wendisch, in: Loewe-Rosenberg, Rz. 9 vor § 403 StPO; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Beschlüsse der Strafrechtlichen Abteilung des 55. Deutschen Juristentages (Sitzungsbericht L 192 ff., insbesondere IV. 1, 2, 6). 65 Der Grund hierfür liegt darin, daß jeder Einsatz staatlichen Zwangs mindestens den Normbereich von Art. 2 Abs. 1 GG berührt und infolgedessen verfassungsrechtlicher Legitimation bedarf; ausführlicher unten § 13.1, 2. 66 Vgl. §§ 65, 95 ff. FGO; 92, 123 ff. SGG; 151, 199 Abs. 2, 200, 264 StPO; 81, 82, 107 ff. VwGO; 253, 300 ff. ZPO. 67 Auf die Kontroverse, ob und wodurch sich materiellrechtliche Sachentscheidungsvoraussetzungen und prozessuale voneinander unterscheiden lassen, einzugehen, ist hier nicht der Ort. Siehe insofern jedenfalls: Berg, JuS 69,123 ff\\Blomeyer, ZZP ( 1968), 20 ff. ; Grunsky, ZZP 80 (1967), S. 55 ff.; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl. (1974), S. 318 ff.; Olroth, JurA 2 (1970), 708ff.; Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozeß, 1966; Sauer, Die Reihenfolge der Prüfung von Zulässigkeit und Begründetheit einer Klage im Zivilprozeß, 1974; Volk, Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht, 1978; Wieser, ZZP 84 (1971), S. 304 ff. 68 Vgl. etwa: §§ 151 FGO, 199 SGG, 499 StPO, 168 VwGo, 704 ZPO.

§ 6 Rechtliches Gehör als Recht im Verfahren

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Infolgedessen wird der Anspruch auf Rechtspflege inhaltlich nur ausgeschöpft, wenn man ihn von der stattgebenden Sachentscheidung und ihren prozessualen Voraussetzungen her begreift 69, die wegen der grundrechtlichen Natur des Anspruchs als Grundrechtsbegrenzungen verstanden werden müssen70. § 6 Rechtliches Gehör als Recht im Verfahren

1. Nach neueren Untersuchungen rügen rund 75 % aller derzeit beim Bundesverfassungsgericht eingehenden Verfassungsbeschwerden neben der Verletzung „sonstigen" Verfassungsrechts auch die Nichtgewährung rechtlichen Gehörs innerhalb eines anhängigen gerichtlichen Erkenntnisverfahrens 71. Auch wenn man in Rechnung stellen muß, daß die Zahl der Beschwerden, bei denen diese Rüge Erfolg hat, relativ gering ist, so wird doch deutlich, welche überragende Bedeutung dem Anspruch auf rechtliches Gehör seitens nichtrichterlicher Verfahrenssubjekte beigemessen wird. Angesichts dessen erscheint es erforderlich, anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Frage nachzugehen, welche „objektive" - d.h. losgelöst von der subjektiven Einschätzung der nichtrichterlichen Prozeßsubjekte - Bedeutung dem rechtlichen Gehör für die Struktur rechtsstaatlicher Erkenntnisverfahren zukommt. 2. Angesichts der Tatsache, daß Art. 103 Abs. 1 GG von einem „Anspruch" auf rechtliches Gehör spricht, liegt es nahe, unter Bezugnahme auf § 194 Abs. 1 BGB die inhaltliche Reichweite dieses Anspruchs mit Hilfe der Frage zu ermitteln: wer kann was von wem verlangen?72 Analysiert man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 103 Abs. 1 GG 7 3 vor dem Hintergrund dieser Frage, so beinhaltet der Anspruch auf rechtliches Gehör 74 ein 69 Die Gültigkeit dieser Aussage wird durch § 322 Abs. 2 ZPO nicht in Frage gestellt, handelt es sich hierbei doch um eine gegenüber §§ 322 Abs. 1 ZPO, 110 Abs. 1 Satz 1 FGO, 141 Abs. 1 SGG, 121 VwGo nicht verallgemeinerungsfähige Anordnung; vgl. etwa: Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl. (1974), S. 517 f.;Hartmann, in:Baumbach u.a., Anm. 3 zu §322 ZPO; Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, S. 572, 872 f. 70 In diesem Sinne z.B.: Buermeyer, Rechtsschutzgarantie und Gerichtsdverfahrensrechts, 1975. 71 Hübsch, DRiZ 80, 140 ff.; vertiefend: Schumann, NJW 85, 1134 ff. 72 Zum Anspruchsbegriff ausführlicher: Okuda, AcP 164 (1964), 536 ff. 73 Hierzu vor allem: Kopp, AöR 106 (1981), 604 ff. 74 Das wissenschaftliche Schrifttum, das sich mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG befaßt, ist kaum noch zu überschauen. Infolgedessen muß auf seine vollständige Dokumentation an dieser Stelle verzichtet werden. Hingewiesen sei nur auf folgende Veröffentlichungen: Baur, AcP 153 (154), 393 ff.; Behrendt, Recht auf Gehör Grundrecht und Grundwert, 1978; Borck, MDR 88, 908 ff.; Braun, NJW 81, 425, 1196; 83, 1403\Däubler, JZ 84,355\Deubner, NJW80,263\Doehring, NJW83,851 \Frohn, DkP7(1983Thessaloniki 1984), Ì&5; Frohn, GA 84, 554\Herr, NJW 83,2131; ATo/Z?, Das rechtliche Gehör als verfassungsmäßiges Recht, Diss. München, 1963; Kopp, AöR 106 (1981), 604 ff.; Lerche, ZZP 78 (1965), 3; Löwe, Das rechtliche Gehör, Diss. Hamburg, 1957; Niemöller-Schuppert, AöR 107 (1982), 389; Ortlieb, Der Anspruch auf rechtliches Gehör und seine Bedeutung im Strafverfahren, Diss. Freiburg, 1964; Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

zweifaches: auf Seiten derer „vor" dem Richtertisch ein Recht zur Äußerung, dem auf Seiten derer „hinter" dem Richtertisch eine Pflicht zur Anhörung entspricht. Um den für eine konkrete Beschwerdeentscheidung jeweils maßgeblichen Entscheidungsgesichtspunkt zu kennzeichnen, bedient sich das Bundesverfassungsgericht in den Entscheidungsgründen zweier unterschiedlicher sprachlicher Formeln: - Der Anspruch auf rechtliches Gehör gibt den Prozeßbeteiligten das Recht, Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen, die das Gericht zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen hat 75

und - Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung war aufzuheben, weil sie auf Tatsachen und Beweisergebnissen beruht, zu denen das Gericht den Beteüigten Gelegenheit zur Äußerung nicht gegeben h a t 7 6 ' 7 7 .

3. Beschäftigt man sich eingehender mit diesen beiden Formeln und ihrer weiteren Konkretisierung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, so ergibt sich, daß das geforderte „in Erwägung ziehen" nicht als Bescheidungspflicht in dem Sinne zu verstehen ist, daß das erkennende Gericht sämtliches tatsächliche und rechtliche Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich abhandeln und zu ihm Stellung nehmen müßte78. Somit beinhaltet nicht jedes Unterlassen der ausdrücklichen Erörterung eines Vorbringens bereits eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG; zur Feststellung einer derartigen Verletzung gelangt das Bundesverfassungsgericht vielmehr immer erst dann, wenn die „besonderen Umstände des einzelnen Falles" hierzu Anlaß geben, d.h., wenn entsprechende Umstände die grundsätzliche Vermutung, ein Fachgericht habe Bedeutung im Strafverfahren, \916;Rüping, NVwZ 85,304 ff.; Schleicher (1988); Schlosser, JZ 71, 431, Schwartz, Gewährung und Gewährleistung des rechtlichen Gehörs durch einzelne Vorschriften der Zivilprozeßordnung, 1977; Seetzen, NJW 83, 2337; 84, 347; Stackelberg, MDR 83, 364; Sprung-König; öJBl 76,1; Waldner, Aktuelle Probleme des rechtlichen Gehörs, Diss. Erlangen-Nürnberg, 1983; Wassermann, Zwischen Labyrinth, Paukenhöhle und Schneckengang - oder: zur Anatomie des rechtlichen Gehörs, in: Umbach u.a., Das wahre Verfassungsrecht - Festschrift für Friedrich Nagelmann (1984), S. 97 ff.; Winter-Schumann, JRST 3 (1972), 529; Zeuner, Der Anspruch auf rechtliches Gehör, in: Dietz-Hübner, Festschrift für Hans Karl Nipperdey zum 70. Geburtstag I (1965), 113; Zeuner, Rechtliches Gehör, Materielles Recht und Urteilswirkungen, 1974. 75 BVerfGE6,19(20); 11,218; 14,320; 18,3780(383);21,46(48), 102(103f.):22,267;24,203 (213); 27,248 (251); 28, 378 (384); 29,166 (173); 34,344 (346); 36,298; 40,101 (104); 42,367; 46, 315 (319); 53, 219 (222); 54, 43 (45), 86 (91), 94 (97). 76 BVerfGE 6, 12 (14); 7, 239 (240), 340 (341); 8, 184, 208 (209); 9,231 (236), 261 (266), 303 (304); 10,274 (281); 13,132 (145); 14,195; 15,215 (218), 226; 16,283 (285); 17,86,194; 18,49, 147 (150); 9,142 (144), 198 (200); 20,280 (282), 347; 24, 56 (61); 25,40 (43); 25,137 (140), 352 (357); 26, 37 (40); 29, 340 (344), 345; 30, 112 (122); 32, 195 (197); 50, 381 (385); 55, 95. 77 Die Gelegenheit zur Äußerung muß den Beteiligten in der Regel vor einer entscheidungsmäßigen Berücksichtigung der Tatsachen/Beweisergebnisse gegeben werden, eine nachträgliche Anhörung reicht nur ausnahmsweise aus: BVerfGE 9,89 (95 f.); 17,139 (144); 34,1 (6); 57, 347 (358). 78 BVerfGE 5,22 (24); 13,132 (149); 22,267 (270); 25,137(140), 336 (351); 40,101 (104); 51, 126.

§ 6 Rechtliches Gehör als Recht im Verfahren

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das Vorbringen in seinem gesamten Umfange zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen79, widerlegen80. 79 Diese Vermutung ist ausdrücklich ausgesprochen in: BVerfGE 22,267 (273); 25,137 ( 140); 28, 378 (384); 42, 364 (368); 51, 126 (129). Die Fachgerichte tragen dieser Vermutung im allgemeinen mit Hilfe der „Saslvatorischen Klausel" Rechnung: „Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Parteien Bezug genommen." Angesichts der Vorbereitungspraxis der mündlichen Verhandlung in Kollegialgerichten ist allerdings die Wahrheitsgehaltigkeit dieser Klausel durchaus anzweifelbar, vgl. etwa: Doubler, JZ 84, 355 ff.; Doehring, NJW 83, 851 ff.; Herr, NJW 83, 2131 ff.; Schneider, E., DRiZ 84, 361 ff.; Stackelberg, MDR 83, 364 ff. 80 In BVerfGE 22, 267ff. wurde ein landgerichtliches Berufungsurteil aufgehoben, weil das Berufungsgericht entgegen dem aktenmäßigen Vorbringen des Berufungsklägers die Kinderlosigkeit von dessen zweiter Ehe im Tatbestand des Urteils als unstreitig behandelt hatte. In BVerfGe 25, 137 ff. hielt ein oberlandesgerichtliches Berufungsurteil der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung nicht stand, weil ein im Wege der Bezugnahme zum Berufungsprozeßstoff gemachtes Vorbringen nicht berücksichtigt worden war, was sich in diesem Falle daraus ergab, daß - eine Berücksichtigung dieses Vorbringens unterstellt - bestimmte Ausführungen des Gerichts in seinem Urteil nicht verständlich gewesen wären. In BVerfGE 36, 92(99) hat das BVerfG dann allerdings „klargestellt", daß eine globale Bezugnahme auf das Vorbringen erster Instanz das Berufungsgericht nur in Ausnahmefällen verpflichtet, den gesamten Vortrag erster Instanz zur Kenntnis zu nehmen. Dies wird man allerdings nicht als bloße Klarstellung zu BVerfGe 25, 137 (141) gelten lassen können, weil es dort ausdrücklich heißt, daß der Prozeßstoff erster Instanz „kraft Gesetzes" - also gerade nicht durch Bezugnahme in der Berufungsbegründungsschrift - in vollem Umfange der zweiten Instanz anfalle. Vgl. im übrigen: BVerfGE 36, 315 = NJW 78, 413 m. Anm. Jekewitz. In BVerfGE 28, 378ff. sah das BVerfG den Anspruch auf rechtliches Gehör als verletzt an, weil das Berufungsgericht anstatt über den von ihm im Tatbestand seines Urteils korrekt wiedergegebenen erstinstanzlichen Antrag zu entscheiden über einen gar nicht von den Parteien gestellten befunden hatte. Zur verfassungsrechtlichen Dimension des „ne-ultra-petita" Verbots: Klette, ZZP 82 (1969), 93 (94 ff.); Melissinos, Die Bindung des Gerichts an die Parteianträge nach § 308 Abs. 1 ZPO, 1982. In BVerfGE 40,101 ff schließlich war es im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens zu einer Namensverwechslung gekommen, die ihrerseits dazu führte, daß Schriftsätze der Verteidigungen vertauscht wurden, so daß rechtserhebliches Vorbringen rein tatsächlich nicht berücksichtigt werden konnte, weil es sich nicht in den Akten befand. Diese Fallgestaltung hat das BVerfG zum Anlaß genommen klarzustellen, daß das Gericht insgesamt, d.h. also als Organisationseinheit, die mehrere Informationsinstanzen (Geschäftsstelle, Kanzlei, Kosten etc.) umfaßt und nicht etwa nur der „gesetzliche Richter" für die Gewährung rechtlichen Gehörs verantwortlich sind. Ergänzend zu BVerfGe 40, 101 ff. vgl.: BVerfG NJW 82, 1453; BVerfGE 57, 117 ff.; 67, 199 ff.; BVerwG NJW 87, 1125; BGH L M Nr. 25 zu § 41 ρ PatG. BVerfGe 42, 364 ff. zugrundeliegende landgerichtliche Berufungsurteil beruhte auf einer offensichtlichen Verweigerung rechtlichen Gehörs insofern, als das Berufungsgericht im Tatbestand seiner Entscheidung als Klägervortrag genau das Gegenteil von dem wiedergegeben hatte was die Klägerin tatsächlich vorgetragen hatte. Mit seinem Beschluß vom 3. April 1979 {BVerfGe 51, 126 = NJW 80,287) schließlich hat das BVerfG ein landgerichtliches Berufungsurteil in einer Unterhaltssache aufgehoben, weil die Berufungskammer bei der Erörterung der Erwerbs- und Vermögensverhältnisse der Parteien ein zwischen ihnen unstreitiges Vorbringen übergangen hatte. Inwieweit die vorerwähnten Entscheidungen des BVerfG „spezifisches Verfassungsrecht" oder nur „einfaches Gesetzesrecht" betreffen, soll hier offen bleiben; hingewiesen werden soll allerdings darauf, daß dem BVerfG aus den Reihen der Zivüprozeßrechtslehre die Überschreitung der seiner Judikatur gezogenen funktionellen Grenzen vorgeworfen wird. Vgl. etwa: Gerhardt, ZZP 95 (1982), 467 ff.; Schumann, NJW 82, 1609 sowie ZZP 96 (1983), 137 ff.; Waldner, ZZP 98 (1985), S. 200 ff.

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

Daß das Nicht-in-Erwägung-Ziehen erheblichen Sachvortrags - und nur solcher kann sinnvollerweise als Gegenstand prozessualer Präklusion in Frage kommen - als Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nur dann mit Erfolg gerügt werden kann, wenn es willkürlich, d.h. durch die Vorschriften der jeweils in Betracht zu ziehenden Prozeßordnung nicht gerechtfertigt war, wird bestätigt durch die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, die Präklusion von Vorbringen verstoße nicht gegen Art. 103 Abs. 1 GG 81 , auch wenn das Bundesverfassungsgericht sich vorbehält, zu prüfen, ob die entsprechenden Rechtsgrundlagen „richtig", d.h. unter Beachtung der „Ausstrahlungswirkung"82 des Art. 103 Abs. 1 GG ausgelegt worden sind83. 4. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht durch die von ihm praktizierte Überprüfung der Auslegung der Präklusionsvorschriften die ZPO-Novelle von 197684 im wesentlichen entschärft hat, erscheint seine Judikatur gleichwohl problematisch; denn in keiner der insoweit einschlägigen Entscheidungen unternimmt das Gericht den Versuch, sein Judikat argumentativ zu begründen, vielmehr tritt an die Stelle des Arguments der monotone Verweis auf die erstmalig in einem Beschluß vom 16. Februar 196585 auftretende Formel, Art. 103 Abs. 1 GG biete keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des materiellen oder formellen Rechts unberücksichtigt ließen. Selbst in den Entscheidungen, in denen aufgrund entsprechender Vorlagebeschlüsse gemäß Art. 100 Abs. 1 GG 8 6 Veranlassung bestanden hätte, sich mit dieser Frage eingehender zu beschäftigen, wird Art. 103 Abs. 1 GG - im Gegensatz zu Art. 3 GG etwa87 - als „quantité négligeable" behandelt88. Das Fehlen einer entsprechenden Begründung erscheint umso problematischer, als der Ausschluß von Vorbringen wegen Verfristung immer nur erhebliches Vorbringen betreffen kann und damit das rechtliche Gehör mindestens partiell auf einen Mitwirkungsakt der Prozeßbeteiligten beschränkt, dem eine über die bloße „rhe81 BVerfGE 18, 380 (383); 21,191 (194); 22,273; 24,213; 30,172 (187); 36,92; 40,101 (104); 47,182; 51,126,188; 53,219(222); 54,117 (124); 55,72 (93). Verfassungsrechtlich unzulässig ist allerdings eine Präklusion im frühen ersten Termin gemäß § 275 ZPO; vgl. BVerfG NJW 85, 1149; Deubner, NJW 83, 1026; 85, 1140; a.A. BGH NJW 83, 575. 82 Zur Lehre von der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte (BVerfGe 7,198 (205); 28,243 (260 f.); kritisch etwa: Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973;Denninger, JZ 75,554 ff. 83 BVerfGe 54,117 (124); 55,72 (93); des ferneren auch: BVerfGE 69,126 ff., 144 ff., 248 ff.; BVerfG NJW 87,1621, 2733 m. Anm. Deubner; BGH NJW 86,134 ff\\Deubner NJW 87,465 ff., 1583 ff ; Franke NJW 86,3049 ff ; Lange, NJW 86,3043 ff. Eine sehr fundierte Behandlung auch der verfassungsrechtlichen Probleme findet sich bei Weth, Die Zurückweisung verspäteten Vorbringens im Zivüprozeß, 1988. 84 Art. I Nr. 29, 66 des Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren (Vereinfachungsnovelle) vom 3. Dezember 1976 - BGBl 76 I 3281 ff. 85 BVerfGE 18, 380 (383). 86 OLG Düsseldorf NJW 79,1719; LG Kiel - unveröffentlichter Beschluß vom 25, Oktober 1979 - 14S58/79. 87 Zum Verhältnis von Art. 3 GG zu Art. 103 Abs. 1 GG etwa: Kopp, AöR 106 (1981), 604 (610 ff.). 88 Vgl. etwa: BVerfGe 36, 92 (97); 55, 72 (93 f.).

§ 6 Rechtliches Gehör als Recht im Verfahren

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torische" Mitwirkung als solche hinaus keinerlei verfahrenssteuernde Funktion zukommt89. Angesichts der Tatsache, daß Art. 103 Abs. 1 GG für den Normalfall vom Bundesverfassungsgericht dahingehend verstanden wird, daß eine seiner Funktionen die Gewährleistung inhaltlicher Richtigkeit der erkenntnisverfahrensmäßigen Entscheidung, bewerkstelligt auf dem Weg über eine Verfahrenssteuerung auch durch die nichtrichterlichen Verfahrenssubjekte ist 90 , wäre es erforderlich gewesen, diejenigen Umstände darzustellen, die es rechtfertigen, im Falle der Verspätung ein inhaltliches Fehlurteil mindestens mit „dolus eventualis" in Kauf zu nehmen91. 5. Die Tatsache, daß diese Umstände angesichts des grundrechtlichen Charakters des Anspruchs auf rechtliches Gehör92 ihrerseits nicht lediglich auf der Stufe des einfaches Gesetzesrechts angesiedelt sein können, weist auf eine auslegungsmäßige Problematik von Art. 103 Abs. 1 GG in seinem Verhältnis zum einfachgesetzlichen Prozeßordnungsrecht hin; angesichts der Tatsache nämlich, daß die bei Inkrafttreten des Grundgesetzes und damit auch des Art. 103 Abs. 1 GG geltenden Verfahrensordnungen des Zivil- und Strafprozesses in einer Vielzahl von Vorschriften ein Äußerungsrecht der nichtrichterlichen Verfahrenssubjekte beinhalteten, stellt sich die Frage, welche Folgerungen aus der Rangerhebung des der Sache nach nicht neuen Grundsatzes vom rechtlichen Gehör93 für Stellenwert und Reichweite des Anspruchs in seinem Verhältnis zum einfachen Gesetzesrecht zu ziehen sind. Macht man sich die durch die Materialien94 gestützte Auffassung des Bundesverfassungsgerichts 95 zu eigen, die „Konstitutionalisierung" des Grundsatzes vom rechtlichen Gehör habe Mißbräuchen in gerichtlichen Verfahren, wie sie unter dem nationalsozialistischen Regime vorgekommen seien96, unmöglich machen und das Vertrauen des Volkes in die Unparteilichkeit der Rechtsprechung wieder herstellen sollen, dann kann sich diese Konstitutionalisierung sinnvollerweise nicht - wie der Bayerische Verfas89 Zur verfassungsrechtlichen Würdigung der Präklusionsvorschriften der Vereinfachungsnovelle von 1976 siehe unten § 3 (2) 2., 5 ff. Zur verfahrensrechtlichen Kritik an den Präklusionsvorschriften der Vereinfachungsnovelle von 1976 siehe: Deubner NJW 77,921 ff.; 83,1026 ff.; JuS 82, 289 ff.; Hermisson, NJW 83, 2229 ff.; siehe auch unten § 10.2, 7. 90 Vgl. etwa: BVerfGe 50, 32 (35); 53, 219 (222); 55, 1 (5), 72 (93). 91 Dies jedenfalls formuliert Bruns als schwerwiegendsten Einwand gegen die Zivilprozeßreform des Jahres 1976; vgl.: Bruns, Die Frist als gesetzgeberisches Mittel der deutschen Zivilprozeßreform zur Beschleunigung der Verfahren, in: Studi in onore di Enrico Tulio Liebmann, Tome 1, Mailand 1979, S. 123 (130 unter I I I 2). Zu diesem Problem auch: Pieper, Eiljustiz statt materieller Richtigkeit? Zu den Grenzen einer Präklusion verspäteten Vorbringens im Zivüprozeß, in: Wassermann-FS (1985), S. 773 ff. 92 Ständige Rechtsprechung des BVerfG; vgl. etwa: BVerfGE 58,353 (356 m.w.N.); 60,120 (122), 247 (249), 250 (252). 93 Rüping (Fn. 74), S. 13-84. 94 JöR n.F. Band 1, S. 471 m.w.N. 95 Vgl. etwa: BVerfGE 9, 89 (95). 96 Diese Mißbräuche sind dokumentiert bei: Ortlieb (Fn. 74), S. 35 ff.; Rüping (Fn. 74), S. 90

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

sungsgerichtshof zeitweilig angenommen hat97 - darin erschöpfen, der jeweils gültigen einfach-rechtlichen Ausprägung des rechtlichen Gehörs Verfassungsrang zu verleihen, weil dies im Ende auf eine „gesetzeskonforme Verfassungsauslegung" hinaus liefe. Allerdings ist im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG die Figur einer verfassungskonformen Gesetzesauslegung ungleich schwieriger zu handhaben als im Hinblick auf andere Grundrechtsnormen: denn anders als etwa Art. 2 Abs. 1 GG bzw. Art. 5 Abs. 1 GG beinhaltet der Anspruch auf rechtliches Gehör ein „rechtserzeugtes Grundrecht" 98 in dem Sinne, daß die Normen vornehmlich des einfachen Verfahrensordnungsgesetzesrechts eine beliebige Lebenssituation als eine solche „vor Gericht" definieren und damit als eine, in der rechtliches Gehör zu gewähren ist. Von Art. 2 GG bzw. Art. 5 GG unterscheidet sich der Anspruch auf rechtliches Gehör infolgedessen dadurch, daß im Hinblick auf ihn das einfache Gesetzesrecht - wie Lerche es ausgedrückt hat99 „grundrechtsprägende Funktion" insofern hat, als der Bereich, in dem ein Rechtsfolge von Verfassungswegen eintreten soll, erst durch das einfache Gesetzesrecht in seinen tatbestandlichen Konturen aufgebaut wird. 6. Die exegetischen Schwierigkeiten, die aus dieser Normstruktur erwachsen, treten am deutlichsten erkennbar hervor, wenn man einmal die allgemeinen grundrechtsmethodischen Gedanken des Bundesverfassungsgerichts - wie es sie etwa in seinem Urteil vom 15. Januar 1958100 sowie in seinem Beschluß vom 26. Mai 1970101 niedergelegt hat - mit den speziell Art. 103 Abs. 1 GG betreffenden methodischen Aussagen konfrontiert. Nach dem Urteil vom 15. Januar 1958 empfangen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung vom Verfassungsrecht und dem im Grundgesetz, insbesondere in den Grundrechten, zum Ausdruck gebrachten Wertsystem Richtlinien und Impulse dergestalt, daß keine unterkonstitutionelle Vorschrift im Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen stehen darf, vielmehr jede im Sinne und getreu dem Buchstaben der Verfassung „verfassungskonform" ausgelegt werden muß. Das bedeutet, daß nicht das System von Normen, Instituten und Institutionen im Rang unter der Verfassung den Maßstab für die Auslegung verfassungsrechtlicher Bestimmungen liefert, sondern vielmehr umgekehrt letztere die Grundlage und den Rahmen, an den sich die übrigen Rechtsäußerungen und -erscheinungen anzupassen haben; mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr insgesamt geschützte Wertordnung sind nur kollidierende Grundrechte Dritter und anderer mit Verfassungsrang ausge97

BayVGHE 4, 21; 9, 123. Majewski, Auslegung der Grundrechte durch einfaches Gesetzesrecht (1971), S. 101; ergänzend: Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964; Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 ff. 99 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht (1961), S. 98(107 ff.). 100 BVerfGE 7, 198 (205). 101 BVerfGE 28, 243 (260 f.). 98

§ 6 Rechtliches Gehör als Recht im Verfahren

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stattete Rechtswerte ausnahmsweise imstande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen. Mit dieser generellen Position kaum in Einklang zu bringen ist der methodische Ausgangspunkt der Entscheidungppraxis des Bundesverfassungsgerichts zum Anspruch auf rechtliches Gehör, wie ihn das Gericht in seinem Beschluß vom 8. Januar 1959102 formuliert hat: „Der in Art. 103 Abs. 1 G G zum Grundrecht erhobene Grundsatz des rechtlichen Gehörs ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens. Die Aufgabe der Gerichte, über einen konkreten Lebenssachverhalt ein abschließendes rechtliches Urteil zu fallen, ist in aller Regel ohne Anhörung der Beteüigten nicht zu lösen. Diese Anhörung ist daher zunächst Voraussetzung einer richtigen Entscheidung. Darüber hinaus fordert die Würde der Person, daß über ihr Recht nicht kurzer Hand von Obrigkeits wegen verfugt wird; der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluß auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (Nachweise).

Das Recht des Beschuldigten auf Gehör ist im Verfahrensrecht seit langem grundsätzlich anerkannt und weitgehend berücksichtigt worden, die einzelnen Verfahrensordnungen haben diesen Grundsatz nach Umfang und Form konkretisiert. Dabei mußte er mit anderen, aus der inneren Sachgerechtigkeit der einzelnen Verfahrensart sich ergebenden Grundsätzen abgestimmt werden. Eine Legitimität solcher Gegeninteressen und an der Notwendigkeit, zwischen ihnen und dem Interesse des Betroffenen an sei Anhörung zu vermitteln, kann die Erhebung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs zu Grundrecht nichts geändert haben. Seine Aufnahme in das Grundgesetz sollte Mißbräuchen in gerichtlichen Verfahren, wie sie unter dem nationalsozialistischen Regime vorgekommen waren, unmöglich machen und das Vertrauen des Volkes in eine unparteiische Rechtspflege wieder herstellen. Es kann aber nicht Sinn des Art. 103 Abs. 1 GG sein, sorgfältig überlegte Abwägungen zwischen den verschiedenen, in den einzeln Verfahrensarten zu berücksichtigenden Interessen und darauf beruhenden Einschrä kungen des rechtlichen Gehörs schlechthin zu beseitigen.

Art. 103 Abs. 1 G G geht also davon aus, daß die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs den einzelnen Verfahrensord(96)nungen überlassen bleiben muß. Da die bei Inkrafttreten des Grundgesetzes geltenden Verfahrensordnungen im allgemeinen rech staatlichen Forderungen hinsichtlich der Gewährung des rechtlichen Gehörs genügten, bei der Auslegung des Art. 103 Abs: 1 GG - ... - von dem vorverfassungsrechtlichen Gesamtbild des Prozeßrechts auszugehen. Der bayerische Verfassungsgerichtshof hat daraus den Schluß gezogen, daß die Aufnahme des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs in die Verfassung lediglich der verfahrensrechtlichen Ausformung dieses Grundsatzes Verfassungsrang verleihe (...). Das Bundesverfassungsgericht ist weiter gegangen. Es hat sich von der Erkenntnis leiten lassen, daß sowohl das geltende Prozeßrecht wie seine Anwendung in der Praxis der Gerichte das rechtliche Gehör zwar weitgehend, aber doch nicht immer in ausreichendem Maße gewährleisten. Das Bundesverfassungsgericht hat demzufolge Art. 103 Abs. 1 G G sowohl für die Auslegung des geltenden Verfahrensrechts herangezogen wie auch unmittelbar aus diesem Grundrecht Anhörungspflichten hergeleitet (...)."

102

BVerfGE 9, 89 (95 f.).

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

Verfassungsinterpretatorisch zweifelhaft erscheint diese Aussage vor allem deswegen, weil die Behauptung, daß sowohl das geltende Prozeßrecht als solches wie dessen aktuelle Handhabung durch die Fachgerichte das rechtliche Gehör zwar nicht immer in ausreichendem Maße so doch weitgehend gewährleiste, in den Rang einer quasi-verfassungsrechtlichen Zusatznorm erhoben wird, die es ermöglicht, das vorverfassungsrechtlich tradierte Gesamtbild des Prozeßrechtes, daß ja wohl nur zufällig, nicht aber planmäßig verfassungskonform im Sinne von Art. 103 Abs. 1 GG sein kann, mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör zu harmonisieren. In praxi läuft dies darauf hinaus, daß dem einfachen Gesetzesrecht a priori ein weitgehender Vorrang gegenüber dem Verfassungsrecht eingeräumt wird 103 , und dies, obwohl sich dem Wortlaut von Art. 1031 GG weder ein ausdrücklicher Regelungsvorbehalt noch eine ausdrückliche Grundrechtsschranke entnehmen läßt. Begreift man also Art. 103 Abs. 1 GG und seine Art. 19 Abs. 4 GG sowohl in funktioneller 104 wie auch in struktureller Hinsicht ergänzende Dimension von der richterlichen Sachentscheidung her 105, dann ergibt sich hieraus nicht nur, daß der Richter das für die Gewährung von Rechtsschutz zuständige Staatsorgan ist, sondern darüber hinaus auch, daß der Zugang zu diesem Organ und seiner Sachentscheidung für den rechtsschutzbegehrenden Bürger frei und ungehindert sein muß106. Daß mit Rücksicht auf die „Einheit der Verfassung" 107 auch verbal schrankenlos garantierte Freiheitsrechte immanenten Begrenzungen unterliegen, kann trotz großer Differenzen in methodischen Fragen als allgemeine Auffassung angesehen werden108; daß dies insbesondere bei Grundrechten gilt, die - wie Art. 103 Abs. 1 GG - auf die Inanspruchnahme staatlicher Leistungen zielen, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner numerus-clausus-Entscheidung vom 18. Juli 1972109 deutlich ausgesprochen: Ansprüche auf derartige Leistungen stehen auch dann unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann, wenn der Staat bezüglich der in Rede stehenden Leistung ein rechtliches oder faktisches Monopol für sich in Anspruch nehme; der Einzelne müsse diejenigen Begrenzungen seiner Freiheitssphäre hinnehmen, die erforderlich seien, damit jeder Anspruchsberechtigte auch in den Genuß der ihm zustehenden Leistungen kommen könne. Demzufolge kann die Verfassungsgarantie des Art. 103 Abs. 1 103

Was ja schon im zugangsrechtlichen Bereich beobachtet werden konnte; siehe oben § 5. Siehe oben § 5. 105 Siehe oben § 5.7 a.E. 106 Vgl. hierzu auch: Buermeyer, Rechtsschutzgarantie und Gerichtsverfahrensrecht (1975), S. 5 ff. 107 Zu diesem Topos siehe etwa: Müller, Fr., Die Einheit der Verfassung, 1979. 108 Grundlegend etwa: BVerfGE 28,243 (260 f.); siehe des ferneren zum Beispiel: Bleckmann, Allgemeine Grundrechtslehren (1979), S. 242 ff. m.w.N.; Rohrer, Beziehungen der Grundrechte untereinander (1982), S. 16 ff., 69 ff. 109 BVerfGE 33, 303 (331 ff.). 104

§ 6 Rechtliches Gehör als Recht im Verfahren

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nur so weit reichen, wie die Inanspruchnahme der in den staatlichen Rechtspflegeorganen Tätigen und ihrer Arbeitskraft erforderlich ist, um den Zweck gerade dieser Inanspruchnahme ohne Gefährdung des gleichgerichteten, also konkurrierenden Rechts anderer zu erreichen. Als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen werden müßten demnach alle diejenigen Beschränkungen des rechtlichen Gehörs, die diesen Anspruch des einen gerade mit Rücksicht auf den gleichen des anderen begrenzen, um zu verhindern, daß die Arbeitskraft des richterlichen und nichtrichterlichen Justizpersonals ungleich in Anspruch genommen wird. Denn über seine staatsgerichtete freiheitsrechtliche Dimension hinaus weist der Anspruch auf rechtliches Gehör eine gleichheitsrechtliche Dimension auf, die nur mittelbar staatsgerichtet ist: gerade weil Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, jedermann Gehör zu gewähren, gebietet er zugleich eine gegenstandsmäßige Gleichbehandlung der Gehörsuchenden. 7. Daß der Anspruch auf rechtliches Gehör den nichtrichterlichen Verfahrenssubjekten (1) das Recht gibt, Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen, die das Gericht zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen hat, und (2) als Grundlage einer Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse in Betracht kommen dürfen, zu denen das Gericht den nichtrichterlichen Subjekten Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat, nötigt dazu, die Frage zu untersuchen, ob Art. 103 Abs. 1 GG ein Recht - oder möglicherweise sogar eine Pflicht - zu einer unterschiedlichen Behandlung tatsächlichen bzw. rechtlichen Vorbringens beinhaltet. Auf den ersten Blick ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierzu nicht sehr ergiebig, weil die weitaus meisten seiner Erkenntnisse Fälle betreffen, in denen tatsächliches Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in Erwägung gezogen wurde; soweit sich das Gericht überhaupt mit der Frage der Existenz einer Berücksichtigungspflicht in Bezug auf Rechtsausführungen äußert, tut es dies nur „bei Gelegenheit" der Prüfung des Übergehens von tatsächlichen Äußerungen und auch dann nicht mit der gewünschten Klarheit und Deutlichkeit110. Dessen ungeachtet läßt sich aus den wenigen Äußerungen, die zu dieser Frage vorliegen, der Schluß ziehen, daß sich die Pflicht zur Kenntnisnahme und zum Erwägen auch auf Rechtsausführungen der nichtrichterlichen Verfahrenssubjekte bezieht. Demgegenüber umfaßt das ebenfalls aus Art. 103 Abs. 1 GG entspringende Verbot, eine gerichtliche Entscheidung auf Umstände zu stützen, zu denen sich die nichtrichterlichen Verfahrenssubjekte nicht äußern konnten, nur Tatsachen und Beweisergebnisse, nicht aber Rechtsansichten des erkennenden Gerichts: die Pflicht, die Beteiligten auf rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen und derartige mit ihnen zu erörtern, ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nur im Fall von § 265 StPO nl , nicht aber im Falle von §§ 139 Abs. 1S. 2,278 Abs. 2S. 2, Abs. 3 ZPO 112 110 BVerfGE 9, 231 (235); 17, 356; 19, 32 (36); 25,352 (357), 49,325; 55,1 (6); 65,227 (234); BVerfG MDR 87, 290; BVerwG NVwZ 83, 607; NJW 86,445; OLG Frankfurt NJW 86,855. 111 BVerfGE 8, 197 (206), 112 BVerfGE 42, 64 (85) m. abw. M. Geiger = NJW 76, 1391.

4 Frohn

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

verfassungsrechtlichen Ranges113. Entscheidungen, die die nichtrichterlichen Verfahrenssubjekte mit ihnen unbekannten, wenn auch offenkundigen 114 Tatsachen oder Beweisergebnissen konfrontieren, widersprechen Art. 103 Abs. 1 GG unabhängig von der jeweiligen Verfahrensart, die Konfrontation mit überraschenden Rechtsauffassungen hingegen nur im Strafprozeß 115. 8. In ihrem Kern spiegelt diese Rechtsprechung eine aus dem „klassischen" Zivilprozeß liberal-rechtsstaatlicher Prägung tradierte Rollenverteilung von Gericht und nichtrichterlichen Verfahrenssubjekten wider, die in Sätzen wie „da mihi facta, dabo tibi ius" bzw. „iura novit curia" ihren Ausdruck gefunden hat. Auch wenn bezweifelt werden muß, daß die Vorstellung einer solch rigiden Rollenverteilung der heute geltenden zivilprozessualen lex lata entspricht116, so bleibt dennoch festzuhalten, daß sie eine der Ursachen dafür sein dürfte, daß das Bundesverfassungsgericht die „Rechtsgesprächstheorie" von Adolf Arndt 117 weitgehend ablehnt118. Konsequent ist dies allerdings, wenn man - wie es das Bundesverfassungsgericht tut 119 - die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verfassungsrechtlich nicht für geboten erachtet; denn wie sich ein Rechtsgespräch anders als in einer mündlichen Verhandlung durchführen ließe, 113 Siehe in diesem Zusammenhang auch: BVerfG NJW 76,1391;80,1093; BGH JZ84,191 m. Anm. Peters; weiterhin: Peters, E., Richterliche Hinweispflichten und Beweisinitiativen im Zivilprozeß, 1983; auch: Weber, JuS 76, 746 ff. 114 BVerfGE 10, 177; 12, 110 (112); 48, 206; BSG NJW 79, 1063. 115 Zum Problem der Überraschungsentscheidungen: BVerfG MDR 87, 290; BVerwG NWwZ 83, 607; NJW 86, 445; OLG Frankfurt NJW 86, 855; Heibig, Das Verbot von Überraschungsentscheidungen nach § 278 Abs. 3 ZPO, Diss. Freiburg 1979; Kettembeil, Juristische Überraschungsentscheidungen als Probleme von Logik un Strukturen im Recht, 1978. Zur Bedeutung von § 265 StPO für die strafprozessuale Kommunikationsstruktur siehe weiter unten § 9.4. 116 Siehe unten § 10. 117 Arndt, NJW 59, 6 (8), 1297 (1300). Unter einem Rechtsgespräch versteht Arndt, daß die nichtrichterlichen Verfahrenssubjekte „auf das Entstehen derrichterlichen Überzeugung von Wahrheit und Recht insgesamt mitberatend Einfluß nehmen", weil „ein inquisitorisch-obrigkeitlicher Alleingang des Richters nicht jenen Grad an Gewißheit der Wahrheit verbürgt, der unerläßlich ist, um eine Feststellung nur als Überzeugung des Gerichts erscheinen zu lassen, sondern als für Dritte verbindlich und als tragfahige Grundlage für die damit verbundene Rechtskraftwirkung". Zur Vertiefung: Hensen, Zum Rechtsgespräch im Zivilprozeß, in: Festschrift für Walter Reimers zum 65. Geburtstag (1979), S. 167 fï.;Laumen, Das Rechtsgespräch im Zivilprozeß, 1984 (krit. bespr. von: Häsemeyer, ZZP 98 (1985), 351 ff.Schäfer, L., BayVBl 78, 454; Sprung-König, öJBl 76, 1 (4 Fn. 30, 35). 1.8 BVerfGE 31, 364 (367); 54 100 (116). 1.9 BVerfGE5,9(11);6,19(20);9,231; 11,232(234); 15,249(256);21,73(77);22,232(234); 25, 352 (357); 31, 364(370); 36, 85 (87); ebenso: BayVerfGHE 23 II 177 (179 ff.); a.A.: BayVerfGHE 24 II 178 (180); BAG AP Nr. 1 zu § 45 ArbGG = RdA 70, 255. Soweit es sich allerdings um eine nach Art. 104 GG zu beurteilende Freiheitsentziehung handelt und das hierzu ermächtigende Gesetz die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vorschreibt, erwächst aus Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ein Anspruch auf mündliche Verhandlung; vgl. hierzu: BVerfG NJW 82, 691 (692); AG Langenfeld NJW 82,2609; Neumann, NJW 82, 2588 (2591 ff.). Zum Zusammenhang von rechtlichem Gehör und Mündlichkeitsprinzip: JRSTIV, S. 9 Fn. 1-3 sowie unten § 17.

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bedürfte noch der Darlegung. Unabhängig hiervon kann aber das gerichtliche Erkenntnisverfahren auch schon deswegen nicht als Rechtsgespräch im Arndtschen Sinne einer effektiven prozessualen Arbeitsgemeinschaft der richterlichen und der nichtrichterlichen Verfahrenssubjekte gestaltet werden, weil nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Verpflichtung zur Gewährung rechtlichen Gehörs einen Anspruch auf anwaltliche Vertretung bzw. anwaltlichen Beistand nicht gewährleistet120. Dieser Judikatur gegenüber ist im Hinblick auf die Rechtsgesprächsidee nämlich zu fragen, wie der Recht suchende Bürger eine sorgfältige, auf Förderung des Verfahrens bedachte Prozeßführung 121 sicherstellen soll, d.h. wie er sich ohne Gefahr von Rechtsverlusten in der Gemengelage von ÄußerungsrecA/ und Mitwirkungs/T/7/cAr122 orientieren soll, wenn die Mitwirkung jener Personen, deren professionelle Spezialisierung genau jene Orientierung zum Gegenstand hat, gesetzlicher bzw. richterlicher Disposition123 unterliegt124.

120 BVerfGE 9, 124 (132); 14, 195; 31, 297 (301), 306 (308); 38, 105 (118); 39, 156 (168); BVerfG NJW 71,2301; 82,545; BVerwG NJW 86,206 f., 1057 f.; BVerwG FEVS 23,363; Β FH BB 75,911; zusammenfassend: Schier, AnwBl 84,410 ff. Vgl. demgegenüber allerdings auch: Gusy, AnwBl 84, 225 ff.; Schneider, R., NJW 77, 873 ff. Zur Funktion und Stellung des Rechtsanwalts im Zivil- bzw. Strafprozeß: Birk, NJW 85, 1489 ff.; Hartwieg, ZZP 96 (1983), 37 ff.; Gössel, ZStW 94(1982), 5 ff.\Lüderssen, Die Funktion der Strafverteidigung in einer freien Gesellschaft, in: Festschrift für Werner Sarstedt zum 70. Geburtstag (1981), S. 145 ff.; Schneider, B., Notwendige Verteidigung und Stellung des Pflichtverteidigers im Strafverfahren, Diss. Bonn 1979; Schneider, R., Der Rechtsanwalt - ein unabhängiges Organ der Rechtspflege, 1976; Vollkommer, Die Stellung des Anwalts im Zivilprozeß, 1984; Welp, ZStW 90 (1978), 101 ff., 805 ff. Durch das Inkrafttreten des Beratungshilfegesetzes (BerHG) im Jahre 1980 (BGBl 801689) hat sich an den Restriktionen, denen die nichtanwaltliche Rechtsberatung aufgrund des RBerG unterliegt, nichts geändert; zur Verfassungsmäßigkeit des RBerG: Altenhoff-Busch-Kampmann, Rz. 2 ff. zu Art. I § 1 RBRG m.w.N. Zum BerHG siehe etwa: Blankenburg, ZRP 83, 39 ff.; Derleder, MDR 81, 448 ff.; Finger, MDR 82, 361 ff.; Lindemann, NJW 81, 1638 ff. 121 Leipold, ZZP 93 (1980), S. 237 ff. 122 Als Beispiel für diese Gemengelage sei nur daraufhingewiesen, daß eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nicht mit Erfolg geltend machen kann, wer es versäumt, sich das rechtliche Gehör zu verschaffen (BVerfGE 5,9 (10); 15,214 (218), 256 (267); 18,147 (150); 28,10(14); 32, 195 (197); 33,192 (194); 42 (243), daß dies aber andererseits nicht bedeutet, daß ihn z.B. eine Erkundigungspflicht danach träfe, ob vom Gericht von Amts wegen eingeholte Auskünfte eingegangen sind (BVerfGE 15, 214 (218); 32, 195 (197)). 123 Zur Verfassungsmäßigkeit des Anwaltszwangs siehe etwa: Hertel, Der Anwaltszwang, Diss. Hamburg 1979. 124 Interessant in diesem Zusammenhang ist die - wenn auch nur in einem Minderheitsvotum (BVerfGE 42, 64 (87) ff.) - zu findende Aussage, daß es den Anspruch auf rechtliches Gehör verletze, wenn ein gerichtliches Verfahren fortgesetzt werde, obwohl einer oder mehrere Verfahrensbeteiligten dem prozessualen Geschehen geistig offensichtlich nicht mehr folgen könnten; ähnlich auch: BayVerfGHE 27 II 119 ff.

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

§ 7 Richterliches Entscheiden als Anspruchsinhalt

1. Ungeachtet dieser kritischen Anfragen zu Einzelheiten der verfassungsgerichtlichen Judikatur betreffend den Anspruch auf rechtliches Gehör bleibt festzuhalten, daß auch das Bundesverfassungsgericht den Sinn des Anspruchs auf rechtliches Gehör darin sieht, durch die Ermöglichung von Kommunikation zwischen richterlichen und nichtrichterlichen Verfahrenssubjekten die für die begehrte richterliche Entscheidung maßgeblichen Entscheidungsgrundlagen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht abzuklären125. Als einer der grundrechtlichen Bezugspunkte des Effektivitätspostulats steht damit das „prozessuale Urgrundrecht" des rechtlichen Gehörs126 in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der verfassungsmäßigen Verpflichtung auch derrichterlichen Gewalt zum Schutz und zur Achtung vor der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG 127 ; denn diese gebietet es, demjenigen, der sich in einer derart schwerwiegenden Lage wie einem gerichtlichen Verfahren befindet, die Möglichkeit zu eröffnen, sich mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten behaupten zu können. Aus dem Gebot des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG folgt also unmittelbar das Recht nichtrichterlicher Verfahrenssubjekte, auf das Ergebnis und den Ausgang eines ihre Rechte betreffenden gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, also die entsprechende richterliche Entscheidung, inhaltlichen Einfluß zu nehmen. Damit erweist sich die richterliche Entscheidung als das funktionelle Pendant zum rechtlichen Gehör und muß aus diesem Grund als zweite Dimension des Effektivitätspostulats angesehen werden. Zu klären bleibt, ob und gegebenenfalls in welcher Norm sich dasrichterliche Entscheiden als Inhalt eines grundrechtlichen Anspruchs128 verorten läßt: Art. 103 Abs. 1 GG läßt sich ein derartiger Anspruch jedenfalls unmittelbar nicht entnehmen, und Art. 6 Abs. 1 Satz 1EMRK kommt nach überwiegender Auffassung 129 nur der Rang einfachen, also zur Disposition 125 BVerfGE 9,89 (95); 50,32 (835); 53,219 (222); 55,1 (5 f.); 58,353 (356); 60,120(122),247 (249), 250 (252). Nachdem das BVerfG in BVerfGE 21, 362 (373) ausgeführt hatte, Art. 103 Abs. 1 GG gewährleiste seinem Inhalt nach kein Individualgrundrecht sondern enthalte lediglich einen objektiven Verfahrensgrundsatz, ist die durch BVerfGE 55, I (5 f.) erfolgte Klarstellung sehr begrüßenswert. In Bezug auf die Informationsfunktion des Anspruchs auf rechtliches Gehör sind allerdings BVerfGE 50, 32 (35); 53, 219 (222) und 55, 1 (5) insoweit nicht ganz verständlich, als es ausdrücklich heißt, die Verpflichtung zur Gewährung rechtlichen Gehörs solle sicherstellen, daß eine gerichtliche Entscheidung frei von Verfahrenstehlern ergehe, die ihre Ursache in der Nichtberücksichtigung von Parteivorbringen habe, ohne daß das BVerfG deutlich macht, um was für einen Verfahrensfehler es sich dann handeln soll. Da die Nichtberücksichtigung von Parteivorbringen, also die Verweigerung von rechtlichem Gehör, selbst ein Verfahrensfehler ist, dürfte es sich eher darum handeln, die Freiheit einer gerichtlichen Entscheidung von materiellen Fehlern zu garantieren; in diesem Sinne dann auch BVerfGE 55, 72 (93). 126 BVerfGE 50, 32 (35); 53, 219 (222); 55, 1 (6); 58, 353 (356); 60, 120 (122), 247 (249), 250 (252). 127 BVerfGE 7, 275 (279); 9, 89 (95 f.); 55, 1 (6). 128 Siehe oben vor § 5. 129 Zwar hat sich das BVerfG zum Rang der EMRK-Normen noch nicht abschließend geäußert, doch läßt sich aus der in ständiger Rechtsprechung vertretenen Auffassung, Ver-

§ 7 Richterliches Entscheiden als Anspruchsinhalt

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des Gesetzgebers stehenden, Bundesrechts zu. Dies wird damit begründet, daß die EMRK gemäß Art. 59 GG zu innerstaatlichem Recht transformiert worden sei130 - sogenannte Transformationstheorie- und daß eine derart transformierte Norm keinen höheren Rang als die transformierende beanspruchen könne; hinzu komme, daß die EMRK ausdrücklich „mit Gesetzeskraft" verkündet worden sei131. 2. Dieser Gedankenführung ist allerdings bereits von Klug zu Recht entgegengehalten worden, daß der Schluß vom Rang der transformierenden auf denjenigen der transformierten Norm schon aus Gründen der normimmanenten Logik nicht zwingend sei132, einmal ganz abgesehen davon - und hierauf macht Münch zutreffend aufmerksam -, daß Art. 59 Abs. 2 GG, auf den sich die Vertreter der Transformationslehre berufen, zwar Voraussetzung und Form, nicht aber die Wirkung der Transformation regelt 133'134. Schließlich - und auch dies darf nicht unberücksichtigt bleiben - sind auch die rechtssystematischen Folgen der Transformationslehre jedenfalls im Hinblick auf die EMRK als unbefriedigend anzusehen, insbesondere insoweit, als sie die Bundesrepublik in die Lage versetzen würden, der Konvention widersprechendes Recht zu setzen, ohne daß dieses in foro domestico auf seine Vereinbarkeit mit der Konvention geprüft werden könnte135. Dies wie auch die von Klug aufgezeigten methodischen Probleme ließen sich vermeiden, wenn man die Bestimmungen der Konvention insgesamt - mindestens aber teilweise, d.h. wenigstens den 1. Abschnitt bzw. einzelne in ihm enthaltene Artikel - als nach Art. 25 Satz 1 GG inkorporierte „allgemeine Regeln des Völkerrechts" ansehen könnte: derart inkorporierte Rechtsnormen gehen nämlich den Gesetzen vor, d.h. sie können durch den einletzung der Konvention könnten im Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht gerügt werden (BVerfGE 10, 271 (274); 34, 384 (395); 41, 88 (105), 126 (149) schlußfolgern, die EMRK habe keinen Verfassungsrang. Vgl. im übrigen: Schmid, Rang und Geltung der europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 3. November 1950 in den Vertragsstaaten (1984), S. 23 ff. 130 Gesetz vom 7. August 1952 - BGBl 52 II, 685 ff. Allgemein zur Transformationslehre: BVerfGE 1, 396 (410); 6, 290 (294); kritisch etwa: Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht (1965), S. 13 ff.; 32 ff.; 41 ff.; Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht - Überprüfung der Transformationslehre (1964), S. 41 ff. Trotz seiner Kritik kommt auch Boehmer zu dem Ergebnis, die Konvention habe innerstaatlich lediglich den Rang eines einfachen Bundesgesetzes (S. 67). 131 Art. II Abs. 1 des Gesetzes vom 7. August 1952 - BGBl 52 II, 685. 132 Klug, Das Verhältnis zwischen der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Grundgesetz, in: Gedächtnisschrift für Hans Peters (1967), 434 (440 ff). 133 Münch, JZ 61, 153. 134 Vgl. insgesamt auch: Menzel, Verfassungsrang für die Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland, in: Recueil d'études de droit international en hommage à Paul Guggenheim (1968), S. 573 (582). 135 S. ausführlicher: Geck, DVB157,41 ff; Guradze, DöV 60,286ff.;61,12ff ^Herzog, DöV 59,44 ff; Münch, JZ 61,153ff.; Partsch, Die Anwendung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht (1964), S. 49 ff.

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

fachen Gesetzgeber nicht geändert werden, was nicht gleichbedeutend mit einem etwaigen Rang als Verfassungsrecht oder gar Überverfassungsrecht ist. 136 ' 137 ' 138 . 3. Daß die Rechtssätze der Konvention Völkerrecht sind, kann sinnvollerweise nicht bestritten werden und ist auch im Rahmen der Kontroverse um das Verhältnis der Konvention zum innerstaatlich-bundesdeutschen Recht - soweit ersichtlich - nie bestritten worden 139; problematisch und auch kontrovers diskutiert worden ist dagegen die Frage, ob es sich bei den Rechtssätzen der EMRK auch um „allgemeine Regeln" im Sinne des Art. 25 Satz 1 GG handelt. Daß dem so sei, begegnet nämlich zum einen den Bedenken, daß es sich bei der EMRK um Völkerveriragrecht und nicht um Vöikzrgewohnheitsxzcht handelt140, und zum anderen den Bedenken, daß die Konvention allenfalls regionales, keinesfalls aber universelles Völkerrecht enthalten kann.141 Demgegenüber ist allerdings darauf 136

Eine Inkoiporation von Teilen der Konvention auf dem Weg über Art. 25 GG ist im Rahmen der parlamentarischen Beratungen angenommen worden, ohne daß allerdings heute noch klar nachvollziehbar wäre, auf welche Teile der Konvention sich diese Inkorporation beziehen sollte; vgl. Stenografische Berichte der 217. Sitzung der 1. Wahlperiode des Deutschen Bundestages vom 10. Juni 1952, S. 9535 A ff.; BT-Drs. 1/338; eine Gesamtdarstellung der parlamentarischen Vorgänge findet sich bei Partsch, ZaöRV 17 (1956/57), S. 93 (100 ff.). 137 Ob das nach Art. 25 Gg inkorporierte Recht Überverfassungs- oder Verfassungsrang hat oder nur „bevorzugtes Bundesrecht" ist, ist zwar umstritten (vgl. etwa: Guradze, Kommentar, §6; Partsch (Fn. 135), S. 56 ff.; Pigorsch, Die Einordnung völkerrechtlicher Normen in das Recht der Bundesrepublik Deutschland (1959), S. 32 ff.; Schneider, H., Rang und Rangänderung von Rechtsnorm in der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Kutscher (1981), S. 385 ff.; Wäsche, Die innerstaatliche Bindung des deutschen Gesetzgebers an die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Diss. Köln 1961), S. 6-20), kann hier aber auf sich beruhen; dem Erkenntnisziel dieser Arbeit genügt es, wenn die zeitliche Begrenztheit der Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs der Disposition des einfachen Gesetzgebers nicht zugänglich ist. Unabhängig hiervon lassen allerdings die von Silagi (EuGRZ 80, 632 (635 ff.) aufgezeigten Perspektiven eine gewisse Vorsicht im Hinblick auf die Annahme des Überverfassungs-/Verfassungsranges angezeit erscheinen; vgl. insoweit auch den Diskussionsbeitrag von Tomuschat; in: W D S t R L 32 (1974), S. 120 ff. Erwogen werden könnte allenfalls, den durch Art. 15 Abs. 2 EMRK „notstandsfest44 ausgestalteten Rechten Überverfassungsrang zuzuerkennen; zu Art. 15 EMRK ausführlicher: Kitz, Die Notstandsklausel des Art. 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1982. 138 Der Versuch von Echterhölter (JZ 55,689 ff.), den Verfassungsrang des 1. Abschnittes der EMRK aus Art. 1 Abs. 2 GG herzuleiten, überzeugt nicht; vgl. auch: Geck, DVB157,41 (43); Herzog, DöV 59,43 (44); Klein, Fr., Die Europäische Menschenrechtskonvention und Art. 25 des Bonner Grundgesetzes, in: Festschrift für Rudolf Laun zu seinem 80. Geburtstag (1962,149 (152 f.); Partsch, Die Rechte und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention (1966), S. 48. 139 Diese Kontroverse ist ausführlich dokumentiert bei: Klein (Fn. 138). 140 Nach der staatsrechtlichen Doktrin zu Art. 4 WRV - dem Vorläufer von Art. 25 GG war nur Völkergewohnheitsrecht inkorporationsfahig; vgl.: Pohl, Völkerrecht und Außenpolitik in der Reichsverfassung, 1929; Wenzel, Juristische Grundprobleme, 1920; im Überblick: Pigorsch (Fn. 137), S. 9 ff m.w.N. 141 Mit diesem Argument verneinen das OVG Münster (NJW 56, 1374 = MDR 56, 572 = DöV 56, 438), Berber (Lehrbuch des Völkerrechts I, S. 99), Morvay (ZaöRV 21 (1961), 89 (93 f.)) und Pigorsch (Fn. 137, S. 18 ff.), daß es sich bei den Rechtssätzen der Konvention um allgemeine Regeln im Sinne des Art. 25 handelt.

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hinzuweisen, daß Art. 25 GG - anders als sein Vorläuer: Art. 4 WRV- die Inkorporation weder von der Form, die eine allgemeine Regel des Völkerrechts hat, noch von der Quelle, kraft derer sie gilt, abhängig macht.142 Auch wenn die Entstehungsgeschichte des Art. 25 GG den Schluß nahezulegen scheint, daß auf dem Weg über diese Vorschrift lediglich Völkergewohnheitsrecht inkorporiert werden sollte143, so hat dieser Wille doch im Wortlaut der Norm hinreichend deutlichen Ausdruck nicht gefunden. 144 Infolgedessen wird man davon auszugehen haben, daß allgemeine Regeln des Völkerrechts zwar mit Schwergewicht kraft Völkergewohnheitsrechts gelten, ohne daß Völkervertragsrecht als Inkorporationsobjekt von vorneherein ausschiede145, einmal abgesehen davon, daß für die Annahme, die schriftliche Kodifizierung nehme einer allgemeinen Regel des Völkerrechts ihren generellen Charakter, jede einleuchtende Begründung fehlt. 146 Kommt es also nicht darauf an, kraft welcher Form bzw. Quelle ein Völkerrechtssatz gilt, ist nunmehr zu klären, welche Bedingungen ein solcher Satz erfüllen muß, um als nach Art. 25 GG inkorporationsfähige „allgemeine Regel" angesehen werden zu können. In diesem Zusammenhang weist Maunz zu Recht daraufhin, daß es keinen Sinn mache, zwischen Völkerrechtsregeln allgemeinen und solchen speziellen Inhalts zu unterscheiden, weil sich die Allgemeinheit des Inhalts einer „Regel" bereits aus dem Begriff der „Regel" als solchem ergebe.147 Erweist sich damit der Inhalt eines Völkerechtssatzes als ungeeignet, um seinen Charakter als einer allgemeinen Regel im Sinne des Art. 25 GG zu begründen, so kann es lediglich darauf ankommen, ob ein Rechtssatz von der überwiegenden Mehrheit der Staaten, die durch eine gemeinsame Rechtstradition verbunden sind, anerkannt und praktiziert wird. 148 Und Zweifel daran, daß der in Art. 6 142 Vgl. insoweit etwa: Scholtissek, Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG (Diss. Mainz 1953), S. 49 ff. 143 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die Äußerung des Abgeordneten Dr. Schmid in der 5. Sitzung des Hauptausschusses, Stenographischer Bericht S. 65: „Das ist es doch praktisch, was wir unter allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstehen: ein stillschweigendes Übereinkommen ..." 144 Scholtissek (Fn. 142). 143 In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, daß sich das BVerfG zu der hier diskutierten Frage bisher sehr zurückhaltend geäußert hat; vgl. etwa: BVerfGE 15, 25 (34); 16,27 (33); 23,288 (317). Diese Zurückhaltung wird allerdings vom Schrifttum nicht geteilt; vgl. etwa: Jellinek, W., Kritische Betrachtungen zur Völkerrechtsklausel in den deutschen Verfassungsurkunden, in: Festgabe für Erich Kaufmann zu seinem 70. Geburtstag (1950 - hier zitiert nach dem Neudruck Aalen 1981), S. 181 (\&6), Rojahn, in: v. Münch Kommentar, Rz. 8 zu art. 25 GG. Ähnlich zurückhaltend wie das BVerfG allerdings: Maunz, in: Maunz-DürigHerzog-Scholz, Rz. 15 zu Art. 25 GG; Partsch (Fn. 138), S. 30 f. 146 Guradze, Kommentar, § 5 IV 1 (S. 15). 147 Maunz, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Rz. 17 zu Art. 25 GG; ähnlich: Guradze, Kommentar, § 5 IV 2 (S. 15) unter ausdrücklicher Aufgabe seiner früheren gegenteiligen Auffassung (Guradze, Der Stand der Menschenrechte im Völkerrecht (1956), S. 174; Guradze, DöV 60, 286 (287)); Rojahn, in: v. Münch Kommentar, Rz. 6 zu Art. 25 GG, m.w.N. 148 Maunz, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Rz. 17 zu Art. 25 GG; Menzel-BK, Anm. I I 2 zu

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Abs. 1 Satz 1 EMRK ausgesprochene Gedanke Bestandteil zeitgenössischer europäischer Rechtskultur ist und infolgedessen im europäischen Rechtskreis „allgemein" gilt 149 , scheinen mir angesichts der gemeinsamen Tradition des europäischen Rechtskreises schwerlich begründbar 150. Daß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK als allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 Satz 1 GG anzusehen ist 151 , wird schließlich auch dadurch bestätigt, daß die Vorschrift ein "general principles of law recognized by civilized nations" im Sinne von Art. 38 Abs. 1 Buchst, c des IGH-Statuts zum Ausdruck bringt und daß derartige allgemeine Prinzipien nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit zu den von Art. 25 Satz 1 GG gemeinten allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehören152. 4. Ebenso wenig wie über den Rang der weiteren Sätze von Art. 6 der Konvention oder gar weiterer Artikel sagt der Umstand der Inkorporation gemäß Art. 25 GG etwas über die sachlich-inhaltliche Reichweite von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK. Und seinem Wortlaut nach sagt auch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nichts über die richterliche Entscheidung als Inhalt eines grundrechtlichen Anspruchs aus, sondern nur etwas darüber, daß jedermann vor Gericht binnen angemessener Zeit 153 angehört werden muß. Erwähnt wird das Urteil, also eine Form der richterlichen Entscheidung, nur in Art. 6 Abs. 1 Satz 2 EMRK, hier allerdings nicht als eigenständiger Regelungsgegenstand, sondern nur im ZusamArt. 25 GG; Meyer-Lindenberg, Die Menschenrechte im Völkerrecht (1961), S. 38 ï.\Rojahn, in: v. Münch, Kommentar, Rz. 6 zu Art. 25 GG m.w.N., der allerdings regionales Recht nicht als „allgemeines" gelten lassen will; Scholtissek (Fn. 142), S. 61 ff. 149 In diesem Sinne auch: Echterhölter, JZ 55, 689 ff.; Partsch (Fn. 138), S. 48; a.A.: OVG Münster NJW 56,1374; ein guter Überblick über den Meinungsstand findet sich bei: Guradze, Kommentar, § 5 III 3 (S. 16). 150 Zum völkerrechtsgeschichtlichen Hintergrund insoweit: Ago, Die pluralistischen Anfänge der internationalen Gemeinschaft, in: Festschrift für Verosta (1980), S. 54 ff.; Stadtmüller, Geschichte des Völkerrechtes (1951), S. 47 ff.; siehe auch: Grewe, ZaöRV 42 (1982), 449 ff.; Sandermann, „Waffengleichheit" im Strafprozeß, Diss. Köln (1975), S. 60 ff. 151 Im Ergebnis ebenso: Pieck, Der Anspruch auf ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren 61966), S. 9. Differenzierend: Wäsche (Fn. 137), S. 32; des weiteren: Klein, Fr. (Fn. 138), S. 174 f. m.w.N. 152 Etwa: BVerfGe 15, 25 (34); 16, 27 (33); 23, 288 (217); zustimmend: Doehring, Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts und das deutsche Verfassungsrecht (1963), S. 129 ff.; ablehnend: Maunz, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Rz. 19 zu Art. 25 GG; Pigorsch (Fn. 137), S. 11 ff. 153 Vgl. insoweit den Überblick bei Pieck (Fn. 151), S. 9 f.; des weiteren: Guillén, Einige prozessuale Probleme im Zusammenhang mit Art. 6 der EuropäischenMenschenrechtskonvention, in: Festschrift für Fritz Baur (1981), S. 365 ff.; Peukert, EuGRZ 79,261 ff.; 80,247 ff.; Priebe, Die Dauer von Gerichtsverfahren im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Grundgesetzes, in: Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht (1983), S. 287 ff.; Trechsel, JR 81, 133 ff.; Ulsamer, Art. 6 Menschenrechtskonvention und die Dauer von Strafverfahren, in: Festschrift für Hans Joachim Faller (1984), S. 373 ff.; Ulsenheimer, WiStra 83,12 ff.; Vollkommer, Der Anspruch der Parteien auf ein faires Verfahren im Zivilprozeß, in: Gedächtnisschrift für Rudolf Bruns (1980), S. 195 ff.; schließlich auch: Klopfer, JZ 79, 209 ff.

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sammenhang mit der Frage der Ausschließbarkeit der Öffentlichkeit: während nach dem 2. Halbsatz die Öffentlichkeit von der Verhandlung154 bzw. dem Verfahren 155 ganz oder teilweise ausgeschlossen werden kann, muß nach dem 1. Halbsatz die Urteilsverkündung öffentlich erfolgen. Dieses ausdrückliche Herausnehmen der Urteilsverkündung aus der Regelung des 2. Halbsatzes macht nur dann Sinn, wenn die Urteilsverkündung „an sich" integraler Bestandteil der im 2. Halbsatz erwähnten Verhandlung bzw. des dort angesprochenen Verfahrens ist; wäre dies nämlich nicht so, so wäre der 1. Halbsatz von Art. 6 Abs. 1 Satz 2 EMRK überflüssig, weil der die Zulässigkeit des Öffentlichkeitsausschlusses statuierende 2. Halbsatz sich dann schon von der Natur der Sache her nicht auf die Urteilsverkündung beziehen könnte. Bestätigt wird dieses auslegungsergebnis dadurch, daß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, der das Öffentlichkeitsgebot des Satzes 2 aufnimmt, seinerseits das Recht, in billiger Weise und binnen angemessener Frist gehört zu werden in Beziehung setzt zu der Entscheidungsbefugnis derjenigen Instanz die Gehör zu gewähren hat und diese Instanz eben als Gericht bezeichnet: „Jedermann hat Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen Anklage zw entscheiden hat" Semantisch unklar ist diese Aussage allerdings insofern, als sich die angesprochene gerichtliche Entscheidungsbefugnis nur im Falle der strafrechtlichen Anklage auf den Jedermann, dem Gehör zu gewähren ist, beziehen muß, nicht hingegen im Kontext der angesprochenen zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen: hier scheint die Entscheidungsbefugnis des Gerichts nur allgemein, nicht aber gerade im Hinblick auf den Jedermann postuliert zu werden. Dieser aus dem deutschen Text resultierende Zweifel daran, ob sich aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK eine Entscheidungspflicht und damit zugleich ein entsprechender individueller Anspruch oder nur eine entsprechende Entscheidungsbefugnis ergibt, läßt sich auch durch einen Rückgriff auf den englischen Konventionstext nicht beseitigen; denn der englischen Fassung zu Folge "... (is) everyone (...) entitled to a fair and public hearing within a reasonable time by an independent and impartial tribunal established by law." Und diese Formulierung gibt für die Klärung der hier aufgeworfenen Frage überhaupt nichts her. Deutlicher dagegen im Sinne einer Entscheidungspflicht ist demgegenüber die französische Fassung des Konventionstextes156. An Stelle von „... zu entscheiden hat..." heißt es hier zunächst klarer „... décidera..." - also: entscheiden wird-, und zum andern bezieht sich dieses Verb auf die „... contestation de ses droits..." bzw. auf eine „... accusation ... contre elle...", wobei sich die jeweili154

So die bundesdeutsche Fassung; vgl.: BGBl 52 II, 685. So die schweizerische Fassung; vgl.: SR 0.101. 156 Nach der Schlußformel der Konvention sind deren französische und englische Fassung gleichermaßen verbindlich. 155

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gen Pronomen auf die als Träger des „droit à etre entendue" angegeben „toute personne" beziehen: diese hat also ein Recht darauf, daß ihre Sache öffentlich und binnen angemessener Frist von einem Gericht gehört und auch entschieden wird. Obwohl die Konvention mit diesem Anordnungsgehalt ihrer französischen Fassung erheblich deutlicher und klarer ist als in ihrer englischen Version, kann die sich aus der Anordnung der Schlußformel über die gleiche Verbindlichkeit beider Versionen ergebende Frage nach dem „garantierten Minimum" 157 auf sich beruhen: denn auch die englische Version nimmt in Art. 6 Abs. 1 Satz 2 den Gedanken des "public hearing" wieder auf und läßt den Ausschluß der Öffentlichkeit nur für das "trial", nicht aber für das "pronouncing of judgement" zu. Daß es dieser unterschiedlichen Anordnung aber nur deswegen bedarf, weil das "judgement" ein integraler Bestandteil des "trial" ist, ist bereits gezeigt worden158. Stellt man dies in Rechnung, so garantiert die französische Fassung der Konvention nicht mehr als die englische, sie bringt vielmehr nur deutlicher zum Ausdruck, was von beiden Fassungen garantiertes Minimum ist. Zum Problem könnte die Frage nach dem garantierten Minimum aber nur dann werden, wenn der Regelungsgehalt einer der beiden gleichermaßen verbindlichen Konventionsfassungen über den der anderen hinaus ginge. Da dies aber - wie gezeigt - gerade nicht der Fall ist, läßt sich Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK durchaus als der Disposition des einfachen Gesetzgebers entzogene Rechtsgrundlage für einen individuellen Anspruch auf richterliche Entscheidung binnen angemessener Frist und damit als struktureller Gegenspieler des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG begreifen. 5. Angesichts des eindeutigen Wortlauts von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK („... zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder die Stichhaltigkeit (einer) ... erhobenen strafrechtlichen Anklage ...") stellt sich allerdings die Frage, ob dieser Anspruch institutionell gesehen über die angesprochene streitige Zivügerichtsbarkeit einerseits bzw. die Strafgerichtsbarkeit andererseits Geltung beanspruchen kann. Maßgebend auch hierfür sind nach der Schlußformel der Konvention deren gleichberechtigte französische bzw. englische Fassung, nicht aber der deutsche Konventionstext, auch wenn er mit Gesetzeswortlaut veröffentlicht worden ist 159 . Infolgedessen ist hier nicht zu diskutieren, ob dem 157

Hierzu etwa: Rasenack, Révue de Droits des l'Homme 1970, 51 (72 ff.). Oben § 7.4. 159 Siehe Art. II Abs. 1 des Gesetzes vom 7. August 1952 - BGBl 52 II, 685. In diesem Zusammenhang ist im übrigen daraufhinzuweisen, daß auch die drei deutschsprachigen Konventionstexte zum Teil erheblich voneinander abweichen. Der österreichische Konventionstext ist veröffentlicht in öBGBl 58/210; dazu ergänzend: Art. II des Bundesverfassungsgesetzes öBGBl 64/59 sowie die Entscheidungen des öVfGH JB1 61, 352 f. m. Anm. Golsong (öJBl 61, 530 ff.), Pfeifer (öJBl 61, 527 ff.). Der schweizerische Konventionstext ist veröffentlich in der „Bereinigten Sammlung des Bundesrechtes - SR" unter Ziff. 0.101. Allgemein zur Problematik der Konventionsübersetzungen; Guratze, Kommentar, Anm. 3 zu Art. 6 EMRK m.w.N.; Sperduti, Anm. zu EGMR EuGRZ 78,406, in: EuGRZ 79, 300 f. 158

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deutschen Text des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Konvention z.B. auch das verwaltungsgerichtliche Verfahren oder das FGG-Verfahren subsumiert werden kann160, zu untersuchen ist vielmehr, was unter "civil rights and obligations" bzw. unter „droits et obligations de caractère divil" im Sinne der Konvention zu verstehen ist 161 . Allerdings führt der Rückgriff auf das spezifisch fachwissenschaftliche linguistische Müieu der beiden authentischen Konventionssprachen - wie insbesondere Burgenthal-Kewenig162 und Rasenack157 gezeigt haben - nicht zu einem eindeutigen Auslegungsergebnis: während für die englische Rechtssprache aufgrund der dem englischen Rechtssystem weitgehend fremden Unterscheidung von „öffentlichem" und „privatem" Recht die Betonung im Hinblick auf den Begriff "civil rights" weniger auf dem qualifizierenden Adjektiv "civil" und stärker auf dem Substantiv "rights" im Sinne einklagbarer Rechte - im Gegensatz zu den nichteinklagbaren "civil liberties" - liegen dürfte 163, denotiert in der französischen Rechtssprache der Begriff der „droits civils" spätestens seit 1789 als terminus technicus „droit privé", Privatrecht also, d.h. Rechtsbeziehungen unter sich gleichberechtigt gegenüberstehenden Bürgern. 164 Die somit auf begrifflicher Ebene festzustellende Divergenz der beiden authentischen Konventionstexte165 kann auch durch eine Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte nicht bereinigt werden, da weder die Materialien noch die sonstigen „travaux préparatoires" eindeutig erkennen lassen* in welchem Sinne die hier auszulegenden Wendungen verstanden werden sollten166. Schließlich und letztlich läßt sich der festgestellte Widerspruch auch nicht dadurch ausräumen, daß man ie Entscheidungspraxis der Konventionsorgane zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK 1 6 7 ' 1 6 8 bei der Bestimmung des Norminhaltes berücksichtigt. Zwar hat sich der Gerichtshof der ursprünglich restriktiven Auffassung der Kommission, es müsse sich um 160

Einen guten Überblick über den Meinungsstand gibt: Pieck (Fn. 151), S. 14-34; ergänzend: Guradze, Kommentar, Anm. 5-10 zu Art. 6 EMRK; Partsch (Fn. 138), S. 124 ff. 161 Im Überblick: Peukert, EuGRZ 79, 261 ff. (m.w.N. aus der Rechtsprechung der Konventionsorgane) sowie neuestens EGMR EuGRZ 88, 20 (26 ab Ziff. 60); dazu ergänzend: österrVfGH EuGRZ 88, 166 ff. 162 AVR 13 (1966/67), 393 ff. 163 Ausführlicher Rasenack (Fn. 157), S. 57-62; vgl. auch: Konvitz (The Constitution and Civil Rights, 1947), der schon im Vorwort auf den Unterschied zwischen "political rights", "civil rights" und "civil liberties" hinweist. 164 Vgl. etwa: Rippert-Boulanger, Traité de Droit Civil 1 (1956), S. 31; ähnlich auch: Velu, Revué de Droit International et de Droit Comparé 38 (1961), S. 129 (136 ff.). 165 Diese Differenz wird allerdings von Schäffer (öJBl 65, 205 (208 f.)) geleugnet. 166 Hierzu sehr ausfuhrlich: Schäffer, ÖJBl 65, 502 (506 ff.); Velu (Fn. 164), S. 129 (140 ff.). 167 Etwa: EGMR EuGRZ 65, 91 ff. (Fall „Golder"); EGMR EuGRZ 78,406 ff. m. Anm. Sperduti EuGRZ 79,300 ff. (Fall „König"); EKMR EuGRZ 80,590 ff. (Fall „Le Compte"); vgl. ferner die in den Rechtsprechungsberichten Bleckmann, EuGRZ 81, 88 ff. angeführten Entscheidungen Nr. 4046 zu Art. 6 EMRK. 168 Zur Bedeutung der Entscheidungen der Konventionsorgane für die Auslegung der Konventionsartikel: Berka, öJZ 79, 365 (366 ff.).

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Ansprüche zwischen Privatleuten handeln, nicht angeschlossen, doch läßt sich dessen ungeachtet ein konsistentes theoretisches Verständnis der beiden hier zu untersuchenden Termini nicht feststellen 169: nach Auffassung des Gerichtshofs verweisen beide Begriffe nicht auf nationale Rechtsordnungen, d.h. es ist unmaßgeblich, wie geltend gemachte Ansprüche durch die nationale Rechtsordnung qualifiziert werden, vielmehr soll es sich um „autonome" Begriffe handeln, deren Inhalt allerdings aus dem Charakter der entscheidungserheblichen Rechtsnormen doch nach der näheren Bestimmung der nach nationalem Recht entscheidungsbefugten Instanzen zu beurteilen ist; maßgebend ist dabei, ob der Ausgang des Verfahrens Rechte und Pflichten privatrechtlicher Natur beeinflussen könne.170 Ob dies der Fall war, hat der Gerichtshof bisher immer nur für den zu entscheidenden Einzelfall geprüft, ohne daß sich ein allgemeiner theoretischer Zusammenhang zwischen den Einzelfallentscheidungen erkennen ließe. 6. Angesichts dieser Lage der Dinge stellt sich unter „taktischen" Gesichtspunkten171 tatsächlich die Frage, ob nicht dem französischen Textverständnis als dem Ausdruck des „garantierten Minimums" gegenüber dem weiteren englischen Verständnis der Vorzug zu geben ist. Hiergegen ist jedoch m.E. einzuwenden, daß - betrachtet man die beiden authentischen Konventionsfassungen im englischen Text zwar von "civilrights and obligations" die Rede ist, im französischen Text aber keineswegs der entsprechende Fachausdruck „droits et obligations civils" gebraucht wird, sondern an seiner Statt die - wesentlich neutralere und rechtstechnisch unpräzisere - Wendung „droits et obligations de caractère civil" auftaucht. 172 Selbst wenn dem nicht so wäre, würde aufgrund des Umstandes, daß inzwischen in der französischen Rechtssprache selbst der rechtstechnisch präzise Begriff der „droits civüs" auf eine Vielfalt rechtlicher Tatbestände Anwendung findet, die nicht alle dem „droit privé" zugerechnet werden können, sondern eher in einem umfassenden Sinne „subjektive Rechte" darstellen173, wie umgekehrt auch im angelsächsischen Raum sich die Unterscheidung von „öffentlichem" und „privaten" Recht allmählich durchzusetzen beginnt174, das von Buergenthal-Kewenig vorgeschlagene Verständnis von Art. 6 Abs. 1 Satz EMRK 175 der ratio dieser Vorschrift am ehesten entsprechen, ein Verständnis, das durch die jüngst ergangene Entscheidung des Gerichtshofs im Fall „Deumeland"175a bestätigt wird: 169

Ausführlicher: Peukert, EuGRZ 79, 261 (266 ff.). Was übrigens zu einer tautologischen und folglich nichts erklärenden Bestimmung des Begriffs „... zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen ..." führt. 171 Dazu: Rasenack (Fn. 157), S. 73. 172 Auf diesen von Rasenack (Fn. 157) und Velu (Fn. 164) übersehenen Umstand machen Buergenthal-Kewenig (Fn. 162), S. 409 aufmerksam. 173 Hierzu: Goossens, in: Annales de la Faculté du Droit de Liège 5 (1960), S. 149 (186). 174 Rasenack (Fn. 157), S. 82; siehe neuestens: Glaser, DVB1 88, 672 ff. 175 Buergenthal-Kewenig (Fn. 172), S. 410; a.A. z.B.: BVerwGE 73, 361 m.w.N. 1758 EGMR EuGRZ 88, 20 (26 ab Ziff. 60) m. Anm. Weh EuGRZ 88,433. In vorgenannter Entscheidung hatte sich der Gerichtshof u.a. mit der Frage auseinanderzusetzen, ob Streitig170

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„Jedermann hat in einem Verfahren, in dem über seine Rechte und Pflichten oder über die Stichhaltigkeit einer gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage eine Entscheidung getroffen wird, Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem unabhängigen und auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird."

7. Der Umstand, daß die Entscheidung darüber, was im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK als „Recht" anzusehen ist, auch nach dem dargelegten Verständnis der Vorschrift durch das nationale Recht festgelegt wird 176 , trägt dem während der Vorbereitungsarbeiten für die Konvention deutlich erkennbar gewordenen Gedanken, die Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK müßten „irgendwie" eingeschränkt werden177, hinreichend Rechnung; denn nach dem hier erarbeiteten Verständnis besagt Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nur, daß jedermann, der behauptet, in seinen Rechten verletzt zu sein bzw. die Unrechtmäßigkeit einer Inpflichtnahme rügt, von Konventions wegen ein Verfahren zur Verfügung gestellt werden muß, in dem die Wahrheit dieser Behauptung durch ein unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht geprüft wird. Dies aber bedeutet nichts anderes, als daß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK jedermann einen Anspruch auf Zugang zu Gericht garantiert mit dem Ziel, die Wahrheit einer über Rechte aufgestellten Behauptung zu beweisen; nicht aber läßt sich aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK - wie auch Art. 19 Abs. 4 G G 1 7 8 - eine Aussage über keiten, für die nach nationalem deutschen Recht der Verwaltungsrechtsweg in Gestalt des Sozialrechtswegs begründet ist (§ 51 Abs. 1 SGG), konventionsrechtlich Streitigkeiten „de caractère civil" sein können oder nicht. Der Gerichtshof hat dies nach einer ausfuhrlichen Würdigung der rechtlichen Elemente der entscheidungserheblichen Streitfrage bejaht, wobei die nationalrechtlice Qualifikation der Streitigkeit als einer öffentlich-rechtlichen letztlich nicht von ausschlaggebender Bedeutung war. Dies aber läßt vom begrifflichen Ansatz her durchaus den oben referierten Schluß zu. Auf den wohl kaum zufälligen Umstand, daß in der nationalrechtlich-judikativen, aber auch -literarischen Diskussion der Frage nach dem Umfang des verfassungsrechtlichen Schutzes sozialrechtlicher Positionen bemerkenswert ähnliche „Privatisierungserwägungen" festzustellen sind vgl. etwa: RGZ 129,246 (250 f.); BGHZ 6,271 (278); BVerfGE 1, 264 (277); 2,380 (399ff.); 4,219 (240); BSGE 5,40 ff.; 9,127 ff.; BVerfGE 11,221 (226); 14,288 ff.; 16,94(111); 17,1 (9); 21,329 (352 f.); 32,110 (129/141); 48,346 (358); 51,1 ff.; 53, 257 ff. (= NJW 80, 692 ff.); BVerfG SGb 84, 407 ff.; BVerfG NJW 86, 1159 ff., 2697 ff.; BVerfGE 58, 81 (120); 69, 202 ff., 272 ff.; 70, 101 ff. Zu vorerwähnten Entscheidungen ergänzend und weiterführend etwa: Schneider, Hans, Der verfassungsrechtliche Schutz von Renten der Sozialversicherung, 1980; Katzenstein, DRV 82, 177 ff.; Papier, Die Differenziertheit sozialrechtlicher Positionen und der Anspruch der Eigentumsgarantie, in: Deutscher Sozialrechtsverband, Der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz sozialer Rechtspositionen - 2. Sozialrechtslehrertagung Bielefeld 1982 (1982), S. 193 ff.; Rüfner, Wolfgang, Die Differenziertheit sozialrechtlicher Positionen und die Reichweite der Eigentumsgarantie, in: Deutscher Sozialrechtsverband, Op. Cit., S. 169 ff.; Badura SGb 84, 398 ff.; Platzer, SGb 84, 181 ff.; Rüfner, Jura 86,473 ff.; Moritz, Jura 87,643 ff.; Kaltenbach, Helmut, Der Eigentumsschutz des Grundgesetzes in der Rentenversicherung, in: Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, 14. Presseseminar (1987), S. 51 ff.; Michaelis-Knaut, DAngVers 88,218 ff., sei hier nur „colorandi causa" hingewiesen, da es den Umfang dieser Untersuchung sprengen würde und auch von ihrem Erkenntnisziel nicht gedeckt würde, der Frage nach dem Ausmaß einer etwaigen inhaltlichen Kongruenz von subjektiv-öffentlichen und subjektiv-privaten Rechten, wie sie durch die vorstehend mitgeteilten Beobachtungen nahegelegt wird, nachzugehen. 176 177

Hierzu ausführlicher: Rasenack (Fn. 157), S. 73; Schäffer (Fn. 166), S. 508. Hierauf weisen Buergenthal-Kewenig ausdrücklich in; op. cit. (Fn. 172), S. 410.

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

den möglichen Inhalt behauptungsfähiger Rechte entnehmen. Die Frage, wie sich dieser Anspruch auf richterlichen Entscheidung binnen angemessener Zeit in eine grundrechtliche Beziehung zum Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG setzen läßt, ist Gegenstand der nun folgenden Ausführungen.

§ 8 Die Beziehung von rechtlichem Gehör undrichterlicher Entscheidung als Problem praktischer Konkordanz

1. Daß die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, der zufolge der Grundsatz des rechtlichen Gehörs mit anderen, aus der inneren Sachgerechtigkeit der unterschiedlichen Verfahrensarten resultierenden Gegeninteressen harmonisiert werden muß179, deswegen nicht zu überzeugen vermag, weil diese Gegeninteressen, deren Legitimität mit dem Bundesverfassungsgericht für unabweisbar zu halten ist, normativ nicht benannt werden, ist bereits ausführlicher dargelegt worden 180. Sind aber das rechtliche Gehör einerseits und die richterliche Entscheidung andererseits grundlegende funktionelle Strukturelemente des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens 181, so erweist sich di e Ergänzung des rechtlichen Gehörs durch den Anspruch auf richterliche Entscheidung verfassungsrechtlich jedenfalls insoweit als unproblematisch, als die Ergänzungssituation durch die Parallelität beider Ansprüche, und d.h. die Identität des Anspruchsinhabers gekennzeichnet ist. Verfassungsrechtlich problematisch hingegen gestaltet sich die Beziehung beider Ansprüche zueinander, wenn man den Anspruch auf richterliche Entscheidung binnen angemessener Frist als jenes vom Bundesverfassungsgericht nicht ausdrücklich benannte Gegeninteresse deutet: dann nämlich stellt sich die Frage, wie dieser Anspruch so in denjenigen auf rechtliches Gehör inkorporiert werden kann, daß er dessen Begrenzung durch die Vorschriften des einfachgesetzlichen Verfahrensrechts 182 verfassungsrechtlich zu legitimieren in der Lage ist. Angesichts der Tatsache, daß Art. 103 Abs. 1 GG das Recht auf Gehör wortlautmäßig schrankenlos garantiert, kommt als Methode einer derartigen Inkorporation des Anspruchs auf Entscheidung nur die Figur der ungeschriebenen, „immanenten" Grundrechtsschranken - etwa aus Art. 2 Abs. 1 GG - in Betracht183. 178

a.A. allerdings zum Beispiel Gilles, JZ 72,377 (380 f.); Gilles, NJW 83,361 (363). Unklar Lorenz mit seiner Theorie vom Verrechtlichungsgebot; vgl.: Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie (1973), § 5, 6. 179 BVerfGE 9, 89 (95 f.). 180 Siehe oben § 6.4, 6. 181 Siehe oben §7.1. 182 Siehe oben § 6.4. 183 Zur Figur der immanenten Grundrechtsschranken grundlegend: BVerfGE 28, 243 (260 f.); siehe auch: Bleckmann, Allgemeine Grundrechtslehren (1979), S. 242 ff. m.w.N.; Kriele, JA 84, 629 ff.; Rohrer, Beziehungen der Grundrechte untereinander (1982), S. 16 ff.; 69 ff.

§ 8 Die praktische Konkordanz von Art. 103 I GG und 6 I 1 EMRK

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2. Einem derartigen Vorgehen wird allerdings zum Beispiel und insbesondere von Dürig und Hesse entgegengehalten, daß das Fehlen ausdrücklicher Schranken bzw. Regelungsvorbehalte ein „beredtes Schweigen" im Sinne einer Unbeschränkbarkeit darstelle: das bewußt differenzierende System der Beschränkbarkeit grundrechtlich garantierter Freiheiten dürfe nicht dadurch gleichgeschaltet werden, daß man das jeweilige positivrechtlich unbeschränkte oder nur begrenzt beschränkbare Grundrecht denjenigen Schranken unterwerfe, die dem eigenständigen Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG beigefügt seien, weil auf diese Weise das bewußt differenziert ausgestaltete Grundrechtsschrankensystem nivelliert werde184. Insoweit dieser Einwand darauf abhebt, daß das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG gegenüber den nachfolgenden Freiheitsgarantien eigenständig sei, muß zur Beantwortung der hier aufgeworfenen Frage das Verhältnis von Art. 2 Abs. 1 GG zu den anderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes thematisiert werden. 3. Soweit die Grundrechtsqualität von Art. 2 Abs. 1 GG nicht überhaupt geleugnet wird 185 , wird der in dieser Bestimmung186 garantierten allgemeinen Handlungsfreiheit 187 gegenüber den weiteren Freiheitsgarantien des Grundgesetzes entweder die Funktion eines „Muttergrundrechtes" oder die eines ,Auffanggrundrechtes" zugewiesen188. Mit beiden Funktionsbeschreibungen soll zum Ausdruck gebracht werden, daß Art. 2 Abs. 1 GG einerseits und die weiteren Freiheitsrechte des Grundgesetzes andererseits nicht beziehungslos nebeneinander, sondern jedenfalls insoweit in einem zumindest „ideellen" Zusammenhang zueinander stehen, als die Art. 2 Abs. 1 GG nachfolgenden Freiheitsrechte Konkretisierungen jener allgemeinen Handlungsfreiheit beinhalten189: auf normativer Ebene erscheinen die Art. 2 Abs. 1 GG nachfolgenden Freiheitsrechte 184

Dürig, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Rz. 8 zu Art. 2 Abs. 1 (Anm. I I 2b cc); Hesse, E., Die Bindung des Gesetzgebers an das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG bei der Verwirklichung einer „verfassungsmäßigen Ordnung" (1968), S. 63 ff.; siehe auch: Berg, Konkurrenzen Schranken divergierender Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes (1968), S. 9 ff., 30 ff., 65, 86 ff. 185 So etwa: Mangoldt-Klein, Anm. I I I 5b zu Art. 2 Abs. 1 GG; Wehrhahn, AöR 82 (1957), 250 (272); Wertenbruch, DVB1 58, 481 ff. 186 Deren grundrechtlicher Charakter allerdings allgemein anerkannt ist; vgl. etwa: Dürig, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Rz. 5 zu Art. 2 Abs. 1 GG; BK-Wernicke, Anm. I I lazu Art. 2 Abs. 1 GG; Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl. (1984), Rz. 425 ff.; Münch, in: v. Münch, Rz. 1 zu Art. 2 Abs. 1 GG; Schmidt-BleibtreuKlein, Rz. 1 zu Art. 2 Abs. 1 GG; Stein, Staatsrecht, 6. Aufl. (1978), § 20 II. 187 BVerfGE 6, 32 (37 f.); a.A. vor allem: Peters, H., Die freie Entfaltung der Persönlichkeit als Verfassungsziel, in: Festschrift für Rudolf Laun (1953), S. 669 ff.; siehe auch: Peters, H., Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in: Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen - Heft 109, 1963. 188 Einen guten Überblick gibt: Rohrer (Fn. 183), § 9 I, II. * 189 So etwa ausdrücklich: Bachof, Die Freiheit des Berufs, in: Bettermann u.a., Die Grundrechte I I I / l , 2. Aufl. (1972), S. 155 (168). Ob dieser ideelle Zusammenhang allerdings im normlogischen Sinne ein Spezialitätsverhältnis ist, darf fuglich bezweifelt werden; vgl. insoweit: Berg (Fn. 184), S. 127 ff.

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

zwar als grundrechtliche Sicherungen gegenständlich begrenzter Handlungssegmente190 und damit als voneinander unabhängige, selbständige Gewährleistungen individueller Freiheit, doch würde das Abstellen auf diesen Umstand alleine übersehen, daß das Grundgesetz in Art. 2 Abs. 1 GG einen bedeutenden Schritt über diese historisch bedingte Sonderung191 und die mit ihr notwendigerweise Hand in Hand gehende Lückenhaftigkeit jeder enumerativen Aufzählung von Grundrechten tut 192 . Dieser Schritt selbst stellt nichts weiter dar als die normative Realisierung einer im Gebot des Art. 1 Abs. 1 GG angelegten Vorgabe: weil die Menschenwürde vornehmlich in der freien Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit besteht, muß sie in dem gleichen Maße unteilbar - und d.h. zugleich auch: nicht abschließend aufzählbar - sein wie jene193. Infolgedessen läßt sich die grundrechtliche Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit auf die nämliche ideelle Grundlage zurückführen wie die durch ausdrückliche Benennung bewirkte Sicherung individueller (Teil-)Freiheiten: den Menschen und seine durch Art. 1 Abs. 1 GG staatlicher Achtung und staatlichem Schutz ausdrücklich unterstellte Würde 194. Aufgrund dieser Nämlichkeit der ideellen Grundlagen stellt die Verfassungsgarantie der allgemeinen Handlungsfreiheit im Bezug auf die nicht ausdrücklich benannten Handlungsweisen, die sogenannten „Innominatrechte"195, das Auffanggrundrecht, gegenüber den durch ausdrückliche Benennung geschützten Betätigungen individueller Handlungsvollzüge hingegen zwar nicht in genetischer196, so doch in systematischer Hinsicht das Mutter- bzw. Stammgrundrecht dar. Für die hier aufgeworfene Schrankenfrage bedeutet dies, daß die Schrankentrias von Art. 2 Abs. 1 2. Halbsatz GG eine den benannten Freiheitsrechten zumindest normlogisch vorgängige Grenzziehung markiert 197: soweit benannte Freiheitsrechte ihrerseits ausdrücklich mit Schranken versehen sind, ist diesen die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG immanent, jene ausdrücklichen Schranken sind nichts weiter als deren Konkretisierung. Als 190

Müller, Fr., Juristische Methodik (1976), S. 38. Vgl. hierzu die grundlegenden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 6,32 (36 f.); ergänzend: Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, 2. Aufl., 1978; Rimscha, Zur Entstehung und Bedeutung der Grundrechtsartikel in den ersten Verfassungsurkunden von Bayern und Baden-Württemberg, 1973; Voigt, Geschichte der Grundrechte, 1948. 192 Siehe etwa: Dürig, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Rz. 3 a.E. unter I 2b. 193 So etwa: Dürig, in: Maunz-Herzog-Dürig-Scholz, Rz. 1 ff. zu Art. 2 Abs. 1 GG. 194 a.A. vor allem: Müller, Fr. (Fn. 190). 195 Zum Begriff des Innominatrechts: Berg (Fn. 184), S. 127. Vgl. im übrigen: BVerfGE 65, 1 ff. Bemerkenswert auch: Dürig (in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Rz. 3 zu Art. 2 Abs. 1 GG), der unter ausdrücklicher Bezugnahme auf G. Jellinek (Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. (1914), S. 419 f.) den ausdrücklich benannten Handlungsweisen lediglich den Status von Erscheinungsformen menschlichen Handelns und der ihm zum Ausdruck gebrachten Freiheit zuerkennt.· Die Parallelität der hier aufgeworfenen Streitfrage zur Frage des Verhältnisses „Einheit der Staatsgewalt ./. Gewaltenteilung" wird deutlich sichtbar. 196 Hiergegen auch: Hesse, E. (Fn. 184), S. 51. 197 Siehe in diesem Sinne auch: Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie (1966), S. 118 ff. 191

§ 8 Die praktische Konkordanz von Art. 103 I GG und 6 I 1 E M R K 6 5

solche transponieren ausdrücklich benannte Grundrechtsschranken das in Art. 2 Abs. 1 GG leitbildhaft thematisierte Verhältnis von Freiheit und Bindung198 in den Kontext des jeweiligen Handlungsvollzuges und sind damit zugleich spezieller Ausdruck eines allgemeinen Prinzips: gerade weil die in Art. 1 GG angesprochene Menschenwürde jedem Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes zukommt, muß die Freiheit des einen mit der des anderen harmonisiert werden199, und diesem Zweck dienen die Grundrechtsschranken. Soweit diesem allgemeinen Prinzip praktischer Konkordanz 200 nicht durch auf den jeweiligen Handlungsvollzug spezifisch bezogene Konkretisierungen Ausdruck verliehen ist, muß der unmittelbare Rückgriff auf seine leitbildhafte Formulierung in Art. 2 Abs. 1 2. Halbsatz GG für zulässig erachtet werden. 4. Gewonnen scheint hiermit allerdings nicht all zu viel; denn wenn das Bundesverfassungsgericht die Formel von der Einschränkbarkeit des rechtlichen Gehörs durch Bestimmungen des materiellen bzw. formellen Rechts anführt 201, so handelt es sich hierbei um eine mehr als deutliche Bezugnahme auf die Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung", die ja seit der Entscheidung vom 16. Januar 1957202 gleichgesetzt wird mit der „verfassungsmäßigen Rechtsordnung"203. Um diese extensive Auslegung des Begriffs der verfassungsmäßigen Ordnung für nicht zutreffend zu erachten, braucht man nicht unbedingt die weite Auslegung von Art. 2 Abs. 1 1. Halbsatz GG, wie sie das Bundesverfassungsgericht praktiziert 204, für ebenfalls fehlerhaft zu halten205, es genügt vielmehr schon, darauf hinzuweisen, daß eine derart extensive Schrankenziehung das Bindungsgebot des Art. 1 Abs. 3 GG jedenfalls für die allgemeine Handlungsfreiheit leerlaufen läßt, weil diese nicht mehr Richtschnur staatlichen Handelns wäre, sondern vielmehr trotz Wesensgehaltssperre206 und Verhältnismäßigkeitsgrund198

Erbel op. cit., S. 120 f. Dürig, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Rz. 4 zu Art. 2 Abs. 1 GG. 200 Zum Prinzip praktischer Konkordanz: Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl. (1984), Rz. 317 ff. 201 BVerfGe 18,380 (383); 21,191 (194); 22,273; 24,213; 30,172 (187); 36,92; 40,101 (104); 47, 182; 51, 126, 188; 53, 219 (222); 54, 117 (124); 55, 72 (93). 202 BVerfGE 6, 32 ff. 203 Siehe etwa: BVerfGE 50, 256 (262); BVerfG NJW 81, 673. 204 BVerfGE 6,32 (37 f.) heißt es hierzu wörtlich: „Wird... in Art. 2 Abs. 1 GG mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit die allgemeine Handlungsfreiheit gewährleistet, ... so kann unter diesem Begriff (gemeint ist hier der der verfassungsmäßigen Ordnung; HGF) nur die die allgemeine Rechtsordnung verstanden werden, die ... eine verfassungsgemäße sein muß." Zwingend an diesen Ausführungen ist lediglich, daß die allgemeine Rechtsordnung eine verfassungsmäßige sein muß, nicht aber, daß unter dem Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung die allgemeine Rechtsordnung zu verstehen ist, weil mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit die allgemeine Handlungsfreiheit gewährleistet ist. 205 So aber etwa: Erbel (Fn. 197), S. 122. 206 Zur Bedeutung der Wesensgehaltssperre im Rahmen der immanenten Schrankenproblematik: BVerfGE 6,32(41); siehe auch: Haberle, Die Wesensgehaltssperre des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl., 1983. 199

5 Frohn

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1. Teil: Die Verfassungsdimension des Erkenntnisverfahrens

satz207 in großen Teilen zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stünde208: der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vermag - wie Grabitz deutlich gemacht hat 209 nur Auskunft über Art und Weise der Verwirklichung gesetzgeberischer Ziele zu geben, nicht aber Kriterien für die Beurteilung von deren verfassungsrechtlicher Zulässigkeit zu liefern. Infolgedessen kann mit Hüfe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Frage nach der Legitimität des mit der Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit verfolgten Zweckes210 - hier also konkret: der des rechtlichen Gehörs - nicht beantwortet werden. Und was die Wesensgehaltssperre des Art. 19 Abs. 2 GG angeht, so läßt sie sich - wie Krüger eindrücklich gezeigt hat - zwar rhetorisch als absolut wirkende Grenze formulieren, kaum aber als solche praktizieren 211. Kann aber die Wesensgehaltssperre nur als relative Grenze praktiziert werden, dann geht sie in ihrer Aussage nicht über diejenige des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hinaus212 und gibt infolgedessen ebensowenig wie dieser Kriterien für die Beurteilung der Legitimität gesetzgeberischer Zielsetzungen. Hinzu kommt, daß die Gleichsetzung von verfassungsmäßiger Ordnung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG und verfassungsmäßiger allgemeiner Rechtsordnung für eine Schrankenziehung durch „Rechte anderer" keinen Raum läßt; denn die Existenz von Rechten anderer außerhalb der allgemeinen verfassungsmäßigen Rechtsordnung ist schlechterdings nicht vorstellbar. Angesichts dessen kann man nun - wie etwa Stein dies tut - die Schranke der Rechte anderer sowie des Sittengesetzes für überflüssig erachten213, man kann aber auch den Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung restriktiv interpretieren und hierunter nur die „Grundlagen unseres Verfassungslebens" verstehen214. Letzterem dürfte der Vorzug nicht zuletzt deswegen zu geben sein, weil sich nur so vermeiden läßt, daß die allgemeine Handlungsfreiheit in ihren sämtlichen Schattierungen nur noch nach Maßgabe des einfachen Gesetzesrechts bestünde, die dem einzelnen Bürger zustehende Sphäre privater Lebensgestaltung also nicht mehr verfassungskräftig 215 , sondern nur noch gesetzeskräftig garantiert wäre. Zur verfassungsmäßigen Ordnung in diesem Sinne dürften im wesentlichen diejenigen Verfassungsele207

Siehe etwa: BVerfGE 17, 306 (313 f.); 27, 344 (352); 38, 312 (321); BVerfG JZ 81, 926. Berg (Fn. 184), S. 88 m.w.N.; des ferneren: Nipperdey, Die freie Entfaltung der Persönlichkeit, in: Bettermann u.a., Die Grundrechte IV/2 (1962), S. 741 (797 ff.). 209 AöR 98 (1973), S. 568 (600 ff.). 210 Zur Bedeutung des Zwecks für die Legitimität staatlichen Handelns neuestens eindrücklich: BVerfGE 65, 1 (46 et passim). 211 Krüger, DöV 55, 597 ff.; Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. (1966), 536 ff.; siehe auch: Maunz, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Rz. 1-29 zu Art. 19 Abs. 2 GG. 212 Hippel, E., Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte (1965), S. 47 ff. 213 Stein, Staatsrecht, 6. Aufl. (1978), § 20 I I 4. 214 Berg (Fn. 184), S. 88 m.w.N.; Dürig, in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Rz. 18 ff. zu Art. 2 Abs. 1 GG; Erbel (Fn. 197), S. 121 f. m.w.N. 215 BVerfGE 6, 32 (41). 208

§ 8 Die praktische Konkordanz von Art. 103 I GG und 6 I 1 EMRK

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mente zu rechnen sein, die durch Art. 79 Abs. 3 GG einer Änderung durch Verfassungsgesetzgebung entzogen sind. Für die hier in Frage stehende Inkorporation des Regelungsgehaltes von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK in denjenigen von Art. 103 Abs. 1 GG hat dies zur Folge, daß der Anspruch auf Entscheidung binnen angemessener Frist nur insoweit als Schranke des rechtlichen Gehörs in Betracht kommt, als er sich als Recht eines anderen im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG verstehen läßt. Auf den ersten Blick scheint dies nur im Rahmen einer adversatorischen Verfahrensstruktur möglich zu sein. Inquisitorisch strukturierte Verfahren hingegen, also solche, deren rollenmäßige Ausdifferenzierung der dialektischen Struktur des in ihnen sich vollziehenden Rechtserkenntnisvorganges nicht entspricht216 scheinen dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit anheimfallen zu müssen. Dies aber stünde in offenbarem Widerspruch zu der Aussage, daß der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht identisch ist mit einer adversatorischen bzw. kontradiktorischen Verfahrensstruktur 217. Daß die Begrenzung von Art. 103 Abs. 1 GG durch Art. 6 Abs. 1 Satz EMRK i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG nicht zu einem derartigen Widerspruch führt, läßt sich allerdins ohne sorgfältige Analyse der inquisitorischen Verfahrensstruktur einerseits und der adversatorischen andererseits nicht zeigen.

216 Zur Dialektik als allgemeinem (Rechts-)Erkenntnisprinzip: Meyer, J., Dialektik im Strafprozeß (1965), S. 81-90. 217 Siehe oben § 6.7.

5*

Zweiter Teil

Verfassungsrecht und Verfahrensstruktur § 9 Materielle Wahrheit und Waffengleichheit im Strafprozeß

1. Die Auffassung, daß die im Vorstehenden skizzierte Verfassungsdimension des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens nur durch eine adversatorische Verfahrensstruktur 1 eingelöst zu werden vermöchte, wäre zutreffend, wenn „anderer" im Sinne des nach Maßgabe von Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK begrenzten Anspruchs auf rechtliches Gehör nur derjenige sein könnte, der mit dem jeweiligen Träger dieses Anspruchs durch das nämliche konkrete Prozeßrechtsverhältnis2 verbunden ist. Zu einem solchen Verständnis der grundrechtlichen Dimension des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens zwingt aber weder der Wortlaut der einschlägigen Rechtsnormen noch sonst irgendein Grund: historisch gesehen liegt dem Anspruch auf rechtliches Gehör zwar der Gedanke des „audiatur et altera pars" zugrunde3, doch beinhaltet Art. 103 Abs. 1 GG die Etablierung von Rechtsbeziehungen auch der nichtrichterlichen Verfahrenssubjekte zueinander im Sinne einer notwendigen Gegenseitigkeit oder Wechselbezüglichkeit des Gehörs gerade nicht4, vielmehr begnügt er sich mit der Festlegung einseitiger richterlicher Pflichten und ihnen entsprechender Rechte der nichtrichterlichen Subjekte5. Und auch der Anspruch auf richterliche Entscheidung binnen angemessener Frist nach Art. 6 Abs. 1 EMRK ist kein notwendigerweise wechselbezüglicher. „Anderer" im Sinne des nach Maßgabe von Art. 6 Abs. 1 1 Als adversatorisch bzw. kontradiktorisch im Sinne der obigen Ausführungen soll jede Verfahrensstruktur angesehen werden, in deren Rahmen ein nichtrichterliches Verfahrenssubjekt Tatsachenbehauptungen eines anderen nichtrichterlichen Verfahrenssubjekts bestreiten und gegebenenfalls durch Beweisantritt widerlegen muß. Vgl.: Hagen, Allgemeine Verfahrenslehre und verfassungsgerichtliches Verfahren (1971), S. 37; Hagen, Elemente einer allgemeinen Prozeßlehre (1972), S. 128 ff. 2 Auf die Kontroverse um die Struktur des adversatorischen Prozeßrechtsverhältnisses kann im folgenden nicht ausführlich eingegangen werden; stattdessen mag es bei dem Hinweis auf die Ausführungen und weiteren Nachweise z.B. bei Blomeyer (Zivilprozeßrecht (1963), §11) sein Bewenden haben. 3 Hierzu ausführlicher: Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren (1976), S. 13 ff. 4 Vgl. hierzu Illustrandi causa die strukturelle Bestimmung des Prozeßrechtsverhältnisses etwa durch Bülow (ZZP 27 (1900), 224 (233)) und Wach (Handbuch des Deutschen Civilprozeßrechts I (1885), § 4 V). 5 Vgl. zunächst oben § 6; des ferneren Rüping (Fn. 3), S. 98 ff. Illustrandi causa sei auf die Bestimmung des Prozeßrechtsverhältnisses durch Heltwig (System des deutschen Zivilprozeßrechts I (1912), § 138 II) verwiesen.

§

Der

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Satz 1 EMRK i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG begrenzten Anspruchs auf Gehör ist also nicht allein der nichtrichterliche Verfahrensgegner, dessen Tatsachenbehauptungen bestritten und gegebenenfalls beweismäßig widerlegt werden müssen, sondern darüber hinaus jeder, gegen den eine strafrechtliche Anklage erhoben ist6 bzw. dessen Rechte und Pflichten Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens bilden7. Aus verfassungsrechtlicher Sicht kann infolgedessen nicht beanstandet werden, daß das strafrechtliche Erkenntnisverfahren, in dessen Rahmen es wegen § 264 Abs. 1 StPO die verfahrensrechtliche Lage des Angeklagten nicht notwendigerweise verbessert, wenn es ihm gelingt, die Tatsachenbehauptungen der zugelassenen Anklage in jedem einzelnen Punkt zu widerlegen8, nicht als adversatorisches Parteiverfahren ausgestaltet ist9. Daß gleichwohl Anlaß besteht, die Rollen- und Kommunikationsstruktur des strafprozessualen Erkenntnisverfahrens kritisch zu würdigen, hängt mit der verfassungsrechtlichen Verbürgung des Prinzips prozessualer Waffengleichheit 10 zusammen; 6 Zur Einbeziehung es staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK: Kohlmann, Der Anspruch des Beschuldigten auf schnelle Durchführung des Ermittlungsverfahrens, in: Festschrift für Reinhart Mäurach zum 70. Geburtstag (1972), S. 501 ff. 7 Vgl. insoweit oben § 7.6. a.E. 8 Vgl. etwa: Schulz, DkP 7 (83), S. 163 ( 166 ff.). Gemäß § 264 Abs. 1 StPO ist Gegenstand der Urteilsfindung die in der - zugelassenen (§§ 199 f., 203 StPO) - Angeklagte bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlungen darstellt. Aus dem Umstand nun, daß § 264 Abs. 2 StPO das erkennende Gericht ausdrücklich von einer Bindung an die rechtliche Beurteilung der Tat durch den Eröffnungsbeschluß freistellt, folgt, daß selbst dann, wenn die Verteidigung den Tatvorwurf der zugelassenen Anklage in jedem einzelnen Punkt widerlegt, nicht etwa notwendigerweise Freispruch erfolgen muß; ist nämlich das Gericht aufgrund der Hauptverhandlung davon überzeugt, daß der Angeklagte eine Straftat begangen hat, so ist es im Rahmen identischer Prozeßgegenstände selbst dann zur Verurteilung verpflichtet, wenn die gerichtliche Beweisführung in jedem einzelnen Punkt von der staatsanwaltschaftlichen abweicht. Und selbst übereinstimmende Freisprechungsanträge von Staatsanwaltschaft und Verteidigung hindern eine gerichtliche Verurteilung nicht. Vgl. im einzelnen: Gollwitzer, in: Loewe-Rosenberg, Rz. 20 ff. zu § 264 StPO. 9 Zur teilweise rechtspolitischen Diskussion um die Struktur des Strafverfahrens siehe etwa: Liszt, JW 18,786 ff.; Goldschmidt, Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen, 1920; Dohm, ZStW 52 (1932), 587 ff.; Exner, ZStW 55 (1935), S. 1 ff.; Henkel, DStR 1935, 129 ff.; Peters, ZStW 57 (1937), S. 34 ff.; Schmidt, Eb., Staatsanwalt und Gericht, in: Bockelmann-Dahm, Festschrift für Eduard Kohlrausch zum 70. Geburtstag (1944), S. 263 ff.; des ferneren: Geisler, ZStW 93 (1981), 1109 ff.; Müller, I., Leviathan 5 (1977), 522 ff.\Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177 ff.; Riess, Der Beschuldigte als Subjekt des Strafverfahrens in Entwicklung und Reform der Strafprozeßordnung, in: Bundesministerium der Justiz (HrsG), Vom Reichsamt zum Bundesministerium der Justiz (1977), 373 ff. Rechtsvergleichend etwa: Moos, Die Parteistellung der Staatsanwaltschaft im österreichischen Strafverfahren, in: Kaiser-Vogler, Strafrecht und Strafrechtsvergleichung (1975), S. 37 ff.; Volkmann-Schluck, Der spanische Strafprozeß zwischen Inquisitions- und Parteiverfahren, 1979. 10 BVerfGE 26, 66 (71); 38, 105 (111); einschränkend allerdings: BGH St 12, 136 (139); 18, 369 (371); siehe auch: EKMR NJW 63,2247; EGMR 1,181 ff.; 2,94 f. Im Schrifttum haben sich speziell mit dem Waffengleichheitsprinzip befaßt, z.B.: Dörr, Faires Verfahren (1984), S. 74 ff., 128 f.; Kohlmann, Waffengleichheit im Strafprozeß, in: Baumann-Tiedemann, Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag (1974), S. 311 ff.; Müller, E., NJW 76, 1063 ff.; Plötz, Die gerichtliche Fürsorgepflicht im Strafverfahren (1980), S. 117 ff.; Sandermann, Waffengleichheit

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denn Waffengleichheit im Verhältnis zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft zu fordern, liegt offensichtlich neben dem Problem, weil auch im reformierten Strafprozeß die Staatsanwaltschaft gerade nicht prozessuale Gegenspielerin der Verteidigung ist11. Und den Gedanken der Waffengleichheit auf das Verhältnis von Gericht und Verteidigung zueinander anzuwenden erweist sich als unsinnig, weil - wie Schulz es ausgedrückt hat - „zwischen Gegnern, von denen einer darüber befindet, wer den Kampf gewonnen hat, Waffengleichheit nicht - auch nicht ansatzweise - hergestellt werden kann"12. Demgemäß bildete dann auch die das Strafverfahren schlechthin kennzeichnende strukturelle Asymmetrie der Kommunikation zwischen Gericht und Verteidigung13 ist dann auch derjenige Punkt gewesen, an dem die neuere Diskussion um eine Reform der strafprozessualen Hauptverhandlung14 entscheidend ansetzte. 2. Die Kritik, die im Rahmen dieser Diskussion um die aus der gegenwärtigen lex lata resultierende Struktur der strafprozessualen Hauptverhandlung geübt wurde, bezog sich im wesentlichen auf zwei Punkte: moniert wurde zunächst, daß dem Strafrichter wegen der Amtsermittlungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO nicht nur die Würdigung des entscheidungsrelevanten Tatsachenmaterials, sondern auch - wenn auch nur innerhalb der durch die Anklageschrift gezogenen Grenzen - dessen Ermittlung und Sammlung obliege; dies berge nicht nur wegen der prinzipiellen Identität von eröffnendem und urteilendem Richter15, sondern auch wegen der unerläßlichen Aktenkenntnis des erkennenden im Strafprozeß, Diss.-Kölnö 1976; Schulz (Fn. 8); Tettinger, Fairness und Waffengleichheit, 1984; siehe des weiteren: Goessei, Strafverfahrensrecht, 1. Aufl. (1977), § 20 Β I b; KleinknechtMeyer, Einl. Rz. 85 a, Rz.4zu Art. 6EMRK;Peters, Strafprozeß, 3. Aufl.(1981), S. 94URoxin, Strafverfahrensrecht, 16. Aufl. (1980), § 11 V; Schäfer, in: Loewe-Rosenberg, Einl. 6 Rz. 13 ff. 11 Dies ergibt sich daraus, daß - wie gezeigt (Fn. 8) - es die verfahrensrechtliche Lage des Angeklagten nicht notwendigerweise verbessert, wenn es ihm gelingt, die Tatsachenbehauptungen der zugelassenen Anklage in jedem einzelnen Punkt zu widerlegen. Vgl. schon: Alsberg, Verhandlungen des 35. DJT - 1. Band (1928), S. 440 (443); Henkel, Das deutsche Strafverfahren (1943), S. 145; Mayer, H., GerS 104 (1934), 302 (321 ff.). Infolgedessen trifft die Behauptung, die Einführung der selbständigen Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde (dazu ausführlicher: Schweichel, Vom „ministère public" zur Staatsanwaltschaft, in: Festschrift zum 150. Bestehen des Oberlandesgerichts Köln (1969), S. 265 ff.) habe den Inquisitionsprozeß abgelöst (so etwa: Coing, Epochen der Rechtsgeschichte in Deutschland, 2. Aufl. (1977), S. 98 f.) nicht zu; vgl. auch Blankenburg-Treiber, Leviathan 6 (1978), S. 161 ff. 12 Schulz (Fn. 8), 168. 13 Rottleuthner, KJ 70, 283 ff.; 71, 60 ff. 14 Vgl. etwa: Dahs, Reform der Hauptverhandlung, in: Festschrift für Hubert Schorn zum 75. Geburtstag (1966), S. 14 ff.; Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens, 1971 \Roxin, Die Reform der Hauptverhandlung im deutschen Strafprozeß, in: Lüttger, Probleme der Strafprozeßreform (1975), S. 52 ff.;Roxin, Fragen der Hauptverhandlungsreform im Strafprozeß, in: Festschrift für Erich Schmidt-Leichner (1977), 145 ff.; früher schon ähnlich: Schmidt-Leichner, NJW 51, 7 ff.; Stackelberg, Gedanken zur Reform des deutschen Strafverfahrens unter besonderer Berücksichtigung des anglo-amerikanischen Parteiprozesses, in: Gedenkschrift für Josef Küppers (1955), S. 122 ff. 15 Roxin/Lüttger (Fn. 14), S. 61 m.w.N.; ergänzend: Schmidt, Eb., NJW 63, 1081 ff.

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Richters16 die Gefahr einer „Fehlerkenntnis aufgrund Vorbefangenheit" in sich17. Hinzu komme eine psychologische Überforderung des Vorsitzenden, der nicht nur die Beweisaufnahme durchzuführen (§ 238 Abs. 1 StPO), Beratung und Abstimmung zu leiten (§ 194 GVG) und das Urteil zu verkünden habe, sondern darüber hinaus auch noch die Funktion der Sitzungspolizei ausüben müsse (§ 176 GVG) 18 . Zur Abmilderung der aus diesen rechtlichen Vorgaben resultierenden kommunikativen Asymmetrie der strafprozessualen Hauptverhandlung wird eine Übernahme des Beweisverfahrens der anglo-amerikanischen Hauptverhandlung, die ja in den Händen von „Parteien", und nicht des Gerichts liegt19, empfohlen unter Beibehaltung einzelner Grundsätze des deutschen Strafverfahrensrechts: erst wenn die Zeugen nicht vom Gericht, sondern von einer „Partei" aufgerufen und vernommen und anschließend von der Gegenpartei ins Kreuzverhör genommen würden, wenn auch der Angeklagte nicht einer inquisitorischen Befragung durch den Richter unterliege, sondern wie ein normaler Zeuge der Verteidigung behandelt würde, erst wenn also insgesamt der Richter sich aus der Prozeßarena weitgehend zurückziehe und dadurch entlastet und von Vorurteilen bewahrt wäre, sei er neutral genug, um die sich aus dem dialektischen Kampf der Parteien herausschälende Wahrheit 20 objektiv beurteilen zu können. Beibehalten soll demgegenüber vor allem das materielle Inquisitionsprinzip des deutschen Strafprozesses: das Gericht soll weiterhin eine Aufklärungspflicht haben und zu diesem Zweck Aktenkenntnis behalten sowie zur Stellung von Ergänzungsfragen und zur Ladung von Ergänzungszeugen berechtigt und verpflichtet sein. Und auch an der Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft soll sich nichts ändern21.

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An der Aktenkenntnis des erkennenden Gerichts halten die Kritiker der derzeitigen Verfahrensstruktur übereinstimmend fest; vgl. etwa: Dahs (Fn. 14), S. 33, 35; Herrmann (Fn. 14), S. 393 ff.; Roxin/Lüttger (Fn. 14), S. 59 ff.; des ferneren: Tröndle, DRiZ 68, 123 (125). 17 Etwa: Herrmann (Fn. 14), S. 361 ff.; Roxin/Lüttger (Fn. 14), S. 54 ff. 18 Vgl. demgegenüber die Überlegungen von Schünemann, GA 78, 159 (165 ff.). 19 Herrmann (Fn. 14), S. 152 ff.; ergänzend: Hirschberg, Das amerikanische und das deutsche Strafverfahren in rechtsvergleichender Sicht (1963), S. 33 ff. 20 In dieser Dialektik, d.h. der Idee einer durch den Parteienantagonismus gewissermaßen automatisch hervortretenden Wahrheit als Synthese, liegt der Grundgedanke des angloamerikanischen Modells, das infolgedessen letztlich ebenfalls an der Wahrheitsfindung ausgerichtet ist, nur hierfür den Parteienprozeß als das am besten geeignete Medium ansieht; vgl. etwa: Herrmann (Fn. 14), S. 167 f. Der verfahrensmäßige Grund hierfür (zum verfassungsmäßigen Hintergrund siehe: Damaska, ZStW 87 (1975), 713ff.) dürfte darin zu sehen sein, daß sich in Verfahren wie dem strafprozessualen, dessen Rollenstruktur nicht der dialektischen Erkenntnisgewinnungstriade entspricht, mit besonderem Nachdruck die Frage nach der institutionellen Absicherung des aus der Unschuldsvermutung resultierenden Objektivitätsgebots stellt; vgl. etwa: Frohn, DkP 7 (1983), S. 185 (191 f. unter Ziff. 5) unter ausdrücklicher Bezugnahme auf: Meyer, J., Dialektik im Strafprozeß (1965), S. 74,90 ff. Zum Zusammenhang von Unschuldsvermutung und Objektivitätsgebot siehe etwa: Trechsel, SJZ 77 (1981), 317 (322 ff. unter Ziff. 2 b). 21 Siehe die Einzelheiten bei: Dahs (Fn. 16); Herrmann (Fn. 14), S. 372 ff., 393ff; Roxin/ Lüttger (Fn. 14), S. 59 ff.; Tröndle (Fn. 16).

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3. Mit diesem Grundgedanken läuft die vorgetragene Konzeption auf ein Mischmodell hinaus: der in einem reinen Inquisitionsverfahren strukturell angelegten Gefahrdung der richterlichen Unbefangenheit soll durch einen formellen Parteiprozeß vorgebeugt werden, der einem reinen Parteiverfahren inhärenten Gefährdung der Wahrheitsfindung durch die Beibehaltung des Prinzips gerichtlicher Inquisition entgegengewirkt werden. Obwohl die modernen Reformvorschläge gerade wegen dieser Modellmischung dem gegen eine Totalübernahme der anglo-amerikanischen Verfahrenskonzeption immer wieder vorgebrachten Argument, entgehen, daß die „»materielle4 Wahrheit" in einem reinen Parteiverfahren niemals ermittelt werden könne22 und daß der allein die Verurteilung des vielleicht zu Unrecht Beschuldigten betreibende Ankläger ein „Niemandsinteresse" vertrete 23, ist das referierte Modell nicht nur Zustimmung24, sondern auch auf - zum Teil herbe Kritik gestoßen25. Die Kritiker des Roxin-Hermannschen Reformmodells weisen vor allem darauf hin, daß (1) der Vorwurf einer „Vorbefangenheit aufgrund von Aktenkenntnis" mit der Beibehaltung eben jener Aktenkenntnis16 unvereinbar sei26, und monieren (2), daß eine Verlagerung der Beweisaufnahme auf die Staatsanwaltschaft einerseits und die Verteidigung andererseits den erkennenden Richter in die Rolle des im wesentlichen passiven Beobachters abdränge und daß gerade hierdurch die Qualität der Sachverhaltsfeststellung negativ beeinflußt werde, weil die Aufmerksamkeit eines solchen „Passivrichters" notwendigerweise geringer sein müsse als die des Aktivrichters, der unter dem Zwang stehe, die Beweisaufnahme durch eigenes Fragen zu fördern 27. Selbst wenn man den zweiten Einwand durch das Modellexperiment von Schöch/Schreiber 2* für widerlegt ansieht29, läßt sich die monierte immanente 22 So z.B.: Schmidt, Eb., Lehrkommentar I, 2. Aufl. (1964), Rz. 365; Kleinknecht, GA 61, 45 ff. Für die Behauptung, daß die gegenwärtige Strafprozeßstruktur im Hinblick auf die Wahrheitsermittlung der adversatorischen Struktur überlegen sei, bleiben allerdings sämtliche Autoren die Begründung schuldig. Vgl. daher auch: Krauss, Das Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafprozeß, in: Jäger, Kriminologie im Strafprozeß (1980), S. 65 ff.; Müller, I. (Fn. 9). 23 Dahm, Deutsches Recht, 2. Aufl. (1963), S. 540. 24 Zustimmend etwa der Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer (siehe: Dahs (Fn. 14), S. 14) sowie der Strafrechtsausschuß des Deutschen Richterbundes (siehe: Tröndle, DRiZ 68, 123 ff.). 25 Etwa: Gössel, JA 75, 732 ff. (dazu die Antikritik bei Roxin (Fn. 14), S. 147 ff.); Schünemann, GA 78, 159 ff.; früher schon: Stock, Zur Frage der Übernahme anglo-amerikanischer Strafprozeßgrundsätze in das deutsche Strafprozeßrecht, in: Festschrift für Theodor Rittler zum 80. Geburtstag (1957), S. 305 ff.; siehe auch: Sessar, ZStW 92 (1980), S. 698 (703 ff.). 26 So vor allem: Schünemann (Fn. 75), 171ff., der allerdings (S. 112)Roxin darin zustimmt, daß die Vorstellung von der kognitiven und emotionalen Unbefangenheit des zugleich eröffnenden und erkennenden Richters eine psychologisch unhaltbare Fiktion sei, die dringend der organisationalen Abhilfe bedürfe. 27 So vor allem ebenfalls Schünemann (Fn. 25), S. 166; ergänzend: Sessar (Fn. 25), S. 708 unter 1.2. 28 Siehe etwa: Schöch, Die Reform der Hauptverhandlung, in: Schreiber, Strafprozeß und

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Widersprüchlichkeit des Roxin-Hermannschen Reformmodells im Hinblick auf die beibehaltene Aktenkenntnis des erkennenden Gerichts nicht aufheben, wobei hinzu kommt, daß derartige richterliche Aktenkenntnis unabdingbare informationelle Voraussetzung für richterliche Erkenntnis- und damit Entscheidungstätigkeit überhaupt ist30. Daß die strukturelle Asymmetrie der strafprozessualen Hauptverhandlung genau hieraus resultiert, wird deutlich erkennbar, wenn man sich klar macht, daß die strafprozessuale Informationsverarbeitungwie übrigens alle Informationsverarbeitung - selektiv erfolgt und dieser Sektion das „Redundanzprinzip" zugrunde liegt, welches besagt, daß Aussagen mit hohem Informationsgehalt das Kurzzeitgedächtnis weitaus mehr belasten als solche mit niedrigem Informationsgehalt 31. Wegen der begrenzten Informationsverarbeitungskapazität des Kurzzeitgedächtnisses32 resultiert hieraus, daß von zwei Nachrichten diejenige mit geringerem Informationsgehalt (1) besser und aufmerksamer aufgenommen und (2) intensiver erinnert wird, weil nur dies dem Kurzzeitgedächtnis „informationellen Streß" infolge zu hohen Informationsgehaltes erspart. Auf dieser Grundlage nun läßt sich für die strafprozessuale Hauptverhandlung die Hypothese formulieren, daß mit den Akten übereinstimmende, insoweit also bereits „bekannte" Ermittlungs- und Beweisergebnisse in weitaus stärkerem Maße wahrgenommen und der Erkenntnisgewinnung zugrunde gelegt werden als dem Akteninhalt widersprechende. Die empirische Verifikation dieser Hypothese steht allerdings ebenso aus wie ihre etwaige Falsifikation; denn soweit zu der hier angeschnittenen Frage überhaupt - wenn auch methodisch unzulängliche33 - empirische Untersuchungen vorgenommen worden sind34, widersprechen deren Ergebnisse einander: während die Göttinger Pilotstudie28 den Vorwurf einer „Vorbefangenheit aufgrund von Aktenkenntnis" nicht zu rechtfertigen in der Lage ist 35 , kommt Haisch in seinen Untersuchungen zum entgegengesetzten Ergebnis36. Ein Grund hierfür läßt sich möglicherweise darin erblicken, daß der Unterschiedlichkeit des Reform - eine kritische Bestandsaufnahme (1979), S. 52 ff.; Weissmann, Die Stellung des Vorsitszenden in der Hauptverhandlung, 1982. 29 In diesem Sinne wohl: Sessar (Fn. 25), S. 703. 30 Ausführlicher und m.w.N.: Schünemann (Fn. 25), S. 167 ff. unter Ziff. 2. 31 Vgl. etwa: Attneave, Informationstheorie in der Psychologie, 3. Aufl. (1974), S. 5 ff.; Herrmann, in: Handbuch der Psychologie 1/2 (1966), S. 653 f.; Kohler, in: Meili-Rohracher, Lehrbuch der experimentellen Psychologie, 3. Aufl. (1972), S. 101; Reimann, Kommunikationssysteme, 2. Aufl. (1974), S. 100 f.; Seiffert, Information über die Information, 3. Aufl. (1971), S. 65 ff. 32 Hierzu ausführlicher und m.w.N.: Kirsch, Entscheidungsprozesse I (1970), S. 76, 81 f., 83 ff., 94 f., 103 f.; III (1970), S. 66, 172. 33 Vgl. insoweit die Kritik von Schünemann (Fn. 25), Fn. 94 a. 34 Etwa: Walker-Thibaut-Lind, Harv. Law Rev. 86 (1972/73), S. 386 ffHaisch, ArchPsych 129 (1977), 110 ff.; Haisch, MSchrKrim 62 (1979), 157 ff.; Schöch/Schreiber (Fn. 28); Weissmann (Fn. 28). 35 Weissmann (Fn. 28), S. 228. 36 ArchPsych 129 (1977), 110 (113); MSchrKrim 62 (1979), 157 (158).

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„Aufmerksamkeitswerts" von informationsgehaltigen Nachrichten37 nicht genügend Beachtung geschenkt worden ist: daß von zwei Nachrichten die subjektiv informationsärmere besser und aufmerksamer rezipiert und intensiver erinnert wird, soll nicht in Abrede gestellt werden, vielmehr soll darauf hingewiesen werden, daß diese Selektion möglicherweise durch einen höheren Aufmerksamkeitswert der subjektiv informationsreicheren Nachricht kompensiert werden könnte38. Für die Praxis der strafprozessualen Hauptverhandlung würde hieraus resultieren, daß ein derart schwerwiegender Eingriff, wie ihn die Realisierung des Roxin-Hermannschen Reformmodells darstellen würde, entbehrlich wäre, weil sich das angestrebte Ziel - die Verbesserung der Kommunikationsstruktur des strafgerichtlichen Erkenntnisverfahrens im Sinne einer früheren und präziseren Erkennbarkeit der richterlichen Relevanzhypothesen39 - durch weniger tiefgreifende Umgestaltungen erreichen ließe. Notwendig erscheint lediglich eine Neufassung von § 273 Abs. 2 StPO einerseits und die Einfügung eines vierten Absatzes in § 257 StPO andererseits. Schünemann hat hierfür folgenden Wortlaut vorgeschlagen40: - § 273 Abs. 2: Außerdem sind die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufzunehmen und von dem Vernommenen zu genehmigen. Meinungsverschiedenheiten über vom Vorsitzenden für erforderlich gehaltene Zusätze entscheidet das Gericht. 41 - § 257 Abs. 4: Das Gericht hat den Staatsanwalt, den Verteidiger und den Angeklagten rechtzeitig vor Schluß der Beweisaufnahme durch einen oder mehrere Beschlüsse auf die wesentlichen qualitativen Gesichtspunkte für die Würdigung der Beweise hinzuweisen. Eine Veränderung dieser Gesichtspunkte ist ebenfalls durch Gerichtsbeschluß mitzuteüen.

4. Daß Schünemann in der Begründung seines Vorschlags allerdings nur auf § 273 Abs. 2 StPO in der geltenden Fassung sowie § 244 Abs. 6 StPO Bezug nimmt, verwundert insofern, als zum Beispiel auch und gerade insbesondere § 265 StPO geeignet ist, seine Auffassung zu stützen, schon das geltende Strafverfahrensrecht enthalte verallgemeinerungsfähige - und aus verfassungsrechtlicher Sicht auch verallgemeinerungsbedürftige - Ansätze zu einer „waffengleichen"42 Kommunikationsstruktur 43. 37

Vgl. insoweit fur die Bereich der Gesetzgebung: Noll, Gesetzgebungslehre (1973), S. 73. Mit dem Begriff des Aufmerksamkeitswertes ist gemeint, daß eine subjektiv informationsreichere Nachricht gerade wegen dieses Informationsreichtums aufmerksamer analysiert wird; denn um den skizzierten Selektionsmechanismus in Gang zu setzen, muß für das Kurzzeitgedächtnis zunächst feststehen, daß eine subjektiv informationsreichere Nachricht vorliegt. Im Zusammenhang hiermit steht übrigens die kommunikationstheoretisch nach wie vor ungeklärte Frage des primacy- bzw. recency-Effekts: ob die zuerst oder die zuletzt präsentierten Informationen besser erinnert werden, ist nach wie vor kontrovers; vgl.: Schünemann (Fn. 25), Fn. 94 a. 39 Schünemann (Fn. 25), S. 177 ff. 40 Schünemann (Fn. 25), S. 183; ähnlich auch: Baumann, NStZ 87, 157 (161 f.). 41 Zu § 273 StPO siehe auch: Ulsenheimer, NJW 80, 2273 ff.; OLG Bremen NJW 81,2827; Siess, NJW 82 1625; Rebmann, NStZ 84, 241 (247 unter Ziff. 8). 38

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§ 265 StP0 43a gibt darüber Auskunft, wie zu verfahren ist, wenn sich die in § 264 StPO angelegte Möglichkeit zu realisieren droht, daß die „Tatschilderung" des Urteils mit der des Eröffnungsbeschlusses nicht übereinstimmt44: nach Abs. 1 und 2 darf ein Angeklagter ohne vorherigen förmlichen und protokollierungspflichtigen 45 Hinweis nicht aufgrund eines anderen als des in der zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden; nach Abs. 3 ist eine Hauptverhandlung auf Antrag des Angeklagten auszusetzen, wenn dieser unter der Behauptung, auf die Verteidigung nicht genügend vorbereitet zu sein, neu hervorgetretene Umstände bestreitet, welche die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes zulassen oder die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung rechtfertigen würden. Und nach Abs. 4 schließlich kann die Hauptverhandlung bei einer Veränderung der Sachlage ausgesetzt werden, falls dies dem erkennenden Gericht zur genügenden Vorbereitung der Anklage oder der Verteidigung angemessen erscheint. Würdigt man diese Architektonik von § 265 StPO, so öffnet sich innerhalb seines Regelungsbereiches eine merkwürdige unter Umständen verfassungsrelevante - Lücke46: für den Fall einer bloßen Änderung des faktischen Materials, also für solche im Rahmen des § 264 Abs. 1 StPO zulässigen Verschiebungen des tatsächlichen Materials, die nicht zugleich dessen rechtliche Bewertung betreffen 47, regelt das Gesetz nur die Aussetzung, d.h. die gegenüber einem bloßen Hinweis auf die Veränderung schärfere Reaktion auf die Umgestaltung der Strafklage. Diese „Lücke" wird in Rechtsprechung 42 So gesehen bedeutet Waffengleichheit nicht formale Identität der Handlungsmöglichkeiten, sondern vielmehr Gleichgewicht der faktischen Möglichkeiten, auf die richterliche Überzeugungsbildung Einfluß nehmen zu können; vgl. Frohn, DkP 7 (1983), 185 (194); Frohn, GA 84, 554 (570 f.). 43 Schünemann, GA 78, 159 (183 f.). 43a Neuestens: Neuhaus, JR 88, 1012 ff. 44 Gemäß § 264 StPO ist das erkennende Gericht von Amts wegen verpflichtet, das prozeßgegenständliche Verhalten des Angeklagten unter allein denkbaren rechtlichen Gesichtspunkten zu würdigen und alle in der Hauptverhandlung hervorgetretenen tatsächlichen Umstände in Betracht zu ziehen. An die zugelassene Anklage ist es hierbei nur insoweit gebunden, als es den geschichtlichen Vorgang, der ihr zugrunde liegt, nicht völlig verlassen oder einen damit nicht zusammenhängenden Vorgang in das Verfahren einbeziehen darf, es sei denn, der Angeklagte ist mit einem solchen Vorgehen einverstanden (§ 266 StPO); vgl. etwa: BGH NStZ 84, 469 = MDR 84, 799; Bertel, Die Identität der Tat, 1970. Diese Variante des Anklageprinzips trennt also scharf zwischen der im Anklagesatz enthaltenen Schilderung der Tat einerseits und der durch diese Schüderung bezeichneten Tat und setzt damit voraus, daß ein- und dieselbe Tat auf verschiedene Weise geschildert werden kann. Zur hieraus resultierenden Umgestaltungsbefugnis ausführlicher Gollwitzer, in: Loewe-Rosenberg, Rz. 20 ff. zu § 264 StPO; Hürxthal-KK, Rz. 14 ff. zu § 264 StPO. 45 Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 5. Aufl. (1983), Rz. 587ff.; Gollwitzer, in:LoeweRosenberg, Rz. 50 ff., 74 ff. zu § 265 StPO; Hürxthal-KK, Rz. 16, 23 zu § 265 StPO; SarstedtHamm, Die Revision in Strafsachen, 5. Aufl. (1983), Rz. 316, 510. 46 Alsberg, JW 22, 811 \Ditzen, LZ 1917, 1213. 47 Bei der weiten Auslegung, die der Tatbegriff des § 264 Abs. 1 StPO durch die Rechtsprechung erfahren hat, dürften derartige Abweichungen von den tatsächlichen Angaben der zugelassenen Anklage in nicht unerheblichem Ausmaße vorkommen; vgl. etwa: Gollwitzer, in: Loewe-Rosenberg, Rz. 45 ff. zu § 264 StPO, 87, 99 zu § 265 StPO.

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und Schrifttum - entweder in ausdehnender Analogie zu § 265 Abs. 1, Abs. 2 StPO oder aber im Wege des argumentum a fortiori aus § 265 Abs. 4 StPO durch die Annahme einer ausdrücklichen, aber formfreien verfassungsunmittelbaren48 Hinweispflicht geschlossen49. Allerdings erscheint diese Lösung in zweifacher Hinsicht nicht bedenkenfrei: (1) wegen der Formfreiheit, also insbesondere der Protokollierungsfreiheit dieser verfassungsunmittelbaren Hinweispflicht gerät die Verteidigung im Revisionsverfahren unter Umständen in Beweisnot, weil alles das, was nicht der Protokollierungspflicht unterliegt, vom Revisionsgericht im Wege des Freibeweises festgestellt wird 50 , der dem Protokollbeweis des § 274 StPO an Präzision und Qualität erheblich unterlegen ist. Hinzukommt (2) - und dieser Einwand scheint gewichtiger - daß die Annahme einer verfassungsunmittelbaren Hinweispflicht auch für Fälle der bloßen Sachlageänderung dem von § 265 Abs. 4 StPO bezweckten Schutz der Verteidigung entgegenzulaufen scheint: wird das Verfahren nämlich ausgesetzt, so steht der Angeklagte so, als wäre gerade ein Eröffnungsbeschluß nach Maßgabe des § 207 Abs. 1 Nr. 3 StPO ergangen, d.h. er kann seine Verteidigungslinie für die Hauptverhandlung völlig neu bestimmen und braucht sie nicht - wie im Falle einer Unterbrechung oder eines bloßen Hinweises - an den bisherigen Ergebnissen der Hauptverhandlung auszurichten. Daß ausgesetzt wird, stellt also für den Angeklagten nicht nur prozeßtaktisch, sondern auch prozeßrechtlich den Zustand wieder her, der unmittelbar nach Zulassung der Anklage bestand. Diese Situation herbeizuführen, wird der Angeklagte allerdings durch einen §265 Abs. 1 StPO nachgebildeten Hinweis nicht gehindert, da in den Fällen des § 265 Abs. 4 StPO eine Aussetzung nicht nur von Amts wegen, sondern auch auf Antrag erfolgen kann. Von seiner Antragsbefugnis sinnvoll Gebrauch machen kann aber nur der Angeklagte, der (1) die Veränderung der Sachlage erkennt und (2) abschätzen kann, ob er zur genügenden Vorbereitung seiner Verteidigung einer Aussetzung bedarf. Der gerichtsseitige Hinweis informiert ihn darüber, daß er mit einer veränderten Sachlage konfrontiert ist, daß das Gericht aber in der Veränderung keinen Anlaß zur amtswegigen Aussetzung sieht. Infolgedessen verbessert die verfassungsunmittelbare Hinweispflicht in den Fällen bloßer Sachlageänderung seine Verteidigungsposition in zweifacher Hinsicht: er 48 Diese Hinweispflicht ist insoweit verfassungsunmittelbar, als aus Art. 103 Abs. 1 GG das Recht entspringt, sich zu den für dierichterliche Entscheidung in concreto maßgeblichen Umständen zu äußeren (vgl. oben § 6), was voraussetzt, daß er diese Umstände kennt. Demgegenüber ist es verfassungsrechtlich irrelevant, ob sich eine tatsächliche Veränderung auch rechtlich auswirkt. Vgl. hierzu eingehender: Lachnit, Voraussetzung und Umfang der Pflicht zum Hinweis auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes nach § 265 StPO, Diss. München (1965), S. 35 ff., 181 ff. 49 Vgl.: Dahs (Fn. 45), Rz. 587 ff; Gollwitzer, in: Loewe-Rosenberg, Rz. 81ff. zu § 265 StPO; Hürxthal-KK, Rz. 24 zu § 265 StPO; Kleinknecht-Meyer, Rz. 21 zu § 265 StPO; Meyer, GA 65, 257 (263 ff). 50 Hierzu ausführlicher: Sarstedt-Hamm (Fn. 45), Rz. 316, 510; Wessels, JuS 79, 1 (9).

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wird einerseits in die Lage versetzt, von seiner Antragsbefugnis Gebrauch zu machen, und zum andern darüber informiert, daß das Gericht eine Aussetzung von Amts wegen nicht für erforderlich hält. M.a.W.: Die Notwendigkeit der verfassungsunmittelbaren Herleitung einer Hinweispflicht in den Fällen bloßer Sachlageänderung besteht also nur in den Fallkonstellationen, in denen das Gericht von seiner amtswegigen Aussetzungsbefugnis nicht Gebrauch zu machen gedenkt; denn wenn das Gericht von Amts wegen aussetzt, so erhält der Angeklagte hierdurch einen deutlichen Hinweis darauf, daß sich die Sachlage derart verändert hat, daß das Gericht von sich aus eine Neuorientierung der Verteidigung für notwendig erachtet. Und was schließlich die Protokollierungsfrage angeht, so wird man sich entgegen der herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum mit der Protokollierungsfreiheit nicht einverstanden erklären können, erweist sich doch der pflichtgemäße Hinweis als unter Umständen notwendige Voraussetzung für die Ausübung eines verfassungsmäßigen Rechts, nämlich des Rechts, einen Antrag stellen zu dürfen 51. 5. Warum Schünemann in der Begründung seines Vorschlags auch auf § 244 Abs. 6 StPO abhebt, wird verständlich, wenn man sich klar macht, daß der einen Beweisantrag ablehnende Gerichtsbeschluß gemäß § 34 StPO begründungspflichtig ist. Und da ein Beweisantrag materialiter nur unter den Voraussetzungen der §§ 244 Abs. 3 bis 5 StPO abgelehnt werden darf 52, muß das Gericht in seiner Beschlußbegründung notwendigerweise einen der dort aufgeführten Umstände als die Ablehnung im konkreten Fall rechtfertigenden Grund angeben. Und hieraus wiederum kann die Verteidigung die gerichtsseitige Würdigung der bisherigen Beweisaufnahme erschließen, so daß sowohl die Ausführung einer beantragten Beweiserhebung wie auch deren Ablehnung die richterlichen Relevanzhypothesen offenlegt 53. Voraussetzung für diese informationelle Rückkopplung ist allerdings, daß es dem Antragsteller gelingt, zu einem konkreten Beweisthema54 eines oder mehrere dem numerus clausus des Strengbeweises unterfallende Beweismittel55 51

Siehe oben § 6.2. Zu den Ablehnungsgründen im einzelnen etwa: A Isberg-Niise-Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. (1983), S. 371 ff.; Gollwitzer, in: Loewe-Rosenberg, Rz. 151 zu §244 StPO; Nierwetberg, Jura 84, 630 (634 ff.); Schmidt-Hieber, JuS 85, 291 ff., 458 ff. 53 Herdegen, NStZ 84, 97 (99 ff.); Schulz, GA 81, 301 (308). 54 RGSt 54, 239 ff.; 64,432 f.; BGH St 6,128 f.; 8,76; OLG Köln, NJW 55,275; Berkholz; Der Beweisermittlungsantrag, Diss. Köln (1967), S. 3; Dahs (Fn. 45), Rz. SIT, Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Aufl. (1968), S. 340 (Fn. 7); Koenninger, Die Hauptverhandlung in Strafsachen (1966), S. 261, 266; Gollwitzer, in: Loewe-Rosenberg, Rz. 101 zu § 244 StPO; Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. (1982), S. 258 f., 266;Roxin, Strafverfahrensrecht, 17. Aufl. (1984),S. 239; Simader, Die Ablehnung von Beweisanträgen in der Hauptverhandlung (1933), S. 86; Zipf, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. (1976), S. 189. 55 BGH bei Dallinger, MDR 74, 725; 76, 17; BGH NJW 60, 2156 f.; OLG Köln, NJW 55, 275; Gollwitzer, in: Loewe-Rosenberg, Rz. 103 f. zu § 244 StPO; Kleinknecht-Meyer, Rz. 31,37 52

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anzugeben, d.h. einen protokollierungs- und bescheidungspflichtigen Beweisantrag zu formulieren. Dies aber setzt - wie Schulz gezeigt hat56 - voraus, daß die Sache bereits im Vorverfahren ausermittelt ist; denn nur in diesem Fall ergeben sich aus dem Ermittlungsakten genügend Anhaltspunkte, konkrete Beweisthemen und dem Strengbeweis unterfallende Beweismittel zu benennen. Soweit wegen mangelnder Ausermittlung der Sache oder aus sonstigen Gründen ein konkretes Beweisthema oder dem Strengbeweis unterfallende Beweismittel nicht benannt werden können, liegt lediglich ein sog. Beweisermittlungsantrag vor, der weder für protokollierungs- noch für nach §§ 244 Abs. 6, 34 StPO bescheidungspflichtig gehalten wird 57. Zwar dispensiert nach h.M. die Unanwendbarkeit von §§ 244 Abs. 6,34 StPO nicht davon, spätestens im Urteil Stellung zu einer etwaigen Nichtberücksichtigung der beantragten Sachverhaltsermittlung zu nehmen58, doch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß durch die prozessuale Behandlung des Beweisermittlungsantrages der Verteidigung - anders als im Bereich des Beweisantrages - die Leitlinien amtswegiger Sachverhaltsaufklärung bis zum erstinstanzlichen Urteil unbekannt bleiben59. Stellt man dies in Rechnung, dann wird die Effektivität der Verteidigung und damit die Effektivität des Rechtsschutzes durch die h.M. erneut und entscheidend geschwächt; denn die Unerkennbarkeit der Leitlinien amtswegiger Sachverhaltsaufklärung addiert sich zu dem a priori schwächeren Sachverhaltszugriff der Verteidigung60, statt ihn zu kompensieren. Und daß hierdurch der Gefahr Vorschub geleistet wird, daß sich Fehler des Ermittlungsverfahrens zu solchen des Hauptverfahrens auswachsen, die dann erst - wenn überhaupt - in einem zweitinstanzlichen Verfahren bereinigt werden können61, liegt auf der Hand.

zu § 244 StPO; KMR, Anm. 7a zu § 244 StPO; Schmidt, Eb., Lehrkommentar - Nachtragsband I, Rz. 8 vor § 244. 56 Schulz, GA 81, 301 (310 f.). 57 Siehe etwa: BGH St 6, 128 f.; BGH GA 81,228 f.; BGH StrafVert 83,183; KG StrafVert 83, 195 f.; Alsberg-Nüse-Meyer (Fn. 52), S. 65 ff. (75-92)\Dahs (Fn. 45), Rz. 577; Gollwitzer, in: Loewe-Rosenberg, Rz. 95 ff. zu § 244 StPO; Herdegen-KK, Rz. 57 ff. zu § 244 StPO; Kleinknecht-Meyer, Rz. 44 zu § 244 StPO; Schwerin, StrafVert 81, 631 ff. 58 Vgl. etwa: Alsberg-Nüse-Meyer (Fn. 52), S. 89 f.; Gollwitzer, in: Loewe-Rosenberg, Rz. 101 zu § 244 StPO; Herdegen-KK, Rz. 61 zu § 244 StPO. 59 Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang, daß auch eine Beweisvorfuhrung nach § 245 Abs. 2 StPO seit dem Strafverfahrensänderungsgesetz '79 (BGBl 7811645) einen Beweisantrag voraussetzt; vgl. § 245 Abs. 2 Satz 1 StPO. Zu §245 StPO siehe im übrigen: Alsberg-Nüse-Meyer (Fn. 52), S. 814 ff.; Köhler, Inquisitionsprinzip und autonome Beweisvorführung, 1979; Marx, NJW 81, 1415 ff.; Riess, NJW 79,2265 (2270 unter lV3)\Riess, GA 80, 273 f. 60 Selbst bei Anerkennung eines „Rechts auf eigene Ermittlungen" (vgl. etwa: Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung (1979), § 10, S. 95 f.) ist der Sachverhaltszugriff der Verteidigung schon deswegen weit weniger intensiv, weil sie Zwangsmittel weder androhen noch gar anwenden kann. Außerdem wird das Anstellen eigener Ermittlungen durch einen Verteidiger gebührenmäßig nicht gerade honoriert; vgl. Dahs (Fn. 45), Rz. 255,1127; neuestens: Dahs, NJW 85, 1113 ff. 61 Zu dieser Gefahr ganz allgemein: Schünemann, G A 78 159 (178 f.).

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6. Eine überzeugende Begründung für ihre Auffassung, dem Beweisermittlungsantrag sei die sowohl von § 273 Abs. 1 StPO wie die von § 34 StPO vorausgesetzte Antragsqualität abzusprechen62, ist die h.A. bisher allerdings schuldig geblieben. Allgemein wird ohne nähere Begründung - zum Teil unter ausdrücklicher Berufung auf die „Leitentscheidung" des Bundesgerichtshof vom 7. Mai 195463 - lediglich darauf verwiesen, daß der Beweisermittlungsantrag primär nicht auf eine den Regeln des Strengbeweises entsprechende Beweiserhebung ziele, sondern vielmehr amtswegige Sachaufklärung i.S. von § 244 Abs. 2 StPO bezwecke54,55. Dieses Argument dürfte aber allenfalls geeignet sein, die unmittelbare Beweisintention, nicht aber die Antragsqualität zu leugnen. Infolgedessen wird man davon ausgehen müssen, daß zwar die Absätze 3 bis 6 von § 244 StPO nicht zum Zuge kommen, dessen ungeachtet aber sowohl die Protokollierungspflicht des § 273 Abs. 1 StPO wie die Bescheidungspflicht nach § 34 StPO64. Aus dem Aufwand, der mit der Protokollierung eines Beweisermittlunsgantrages notnotwendigerweise verbunden ist, läßt sich kaum ein durchgreifender Einwand gegen diese Protokollierung gewinnen, jedenfalls dann nicht, wenn man in Rechnung stellt, daß nach Auffassung des Bundesgerichtshofs der Verteidigung bei Erhebung der entsprechenden Aufklärungsrüge der Beweis dafür obliegt, daß sie alles Erforderliche unternommen hat, um der gerügten Lückenhaftigkeit der Sachverhaltsaufklärung entgegenzuwirken65. Und genau an diesem für sie so wichtigen Punkt kann die Verteidigung in Beweisnot geraten, weil das, was-wie nach h.M. der Beweisermittlungsantrag - nicht der Protokollierungspflicht unterliegt, vom Revisionsgericht im Wege des Freibeweises festgestellt wird 50 , der dem Protokollbeweis des § 274 StPO an Präzision und Qualität jedoch erheblich unterlegen ist. M.a.W.: die im Rahmen einer erhobenen Aufklärungsrüge zu diskutierende Frage, ob die Verteidigung alles Erforderliche unternommen hat, kann infogledessen nur bei einer § 273 Abs. 1 StPo entsprechenden Protokollierung auch des Beweisermittlungsantrages beantwortet werden. Und was die Bescheidungspflicht angeht, so dient ihre Vorverlagerung vom tatsacheninstanzlichen Urteil in die mündliche Verhandlung66 sowohl der Ermittlung des „wahren Sachverhalts" als zugleich auch der Prozeßökonomie67; 62 Insoweit allerdings differenzierend: OLG Saarbrücken VRS 49,41; Schmidt, Eb., Lehrkommentar I (1964), Rz. 7 zu § 273 StPO; siehe auch die in Fn. 58 erwähnten Autoren. 63 BGH St 6, 128 f. 64 Alsberg-Nüse-Meyer (Fn. 52), S. 87 ff.; siehe zusätzlich zu den in Fn. 62 Benannten:MaulKK, Rz. 5 zu § 34 StPO. Das OLG Saarbrücken und Eberhard Schmidt (Fn. 62) leiten die Protokollierungspflicht daraus ab, daß sonst der Nachprüfung des Revisionsgerichts entzogen sei, ob das Tatgericht Beweisantrag und Beweisermittlungsantrag zutreffend abgegrenzt habe; einschlägig ist also hier dann § 273 Abs. 3 StPO und nicht Abs. 1. 65 Vgl. etwa: BGH St 4,125; 17,352\ Alsberg-Nüse-Meyer (Fn. 52), S. 855ff.; Gollwitzer, in: Loewe-Rosenberg, Rz. 288 m.w.N. 66 Nach h.M. dispensiert die Unanwendbarkeit von §§ 244 Abs. 4,34 StPO ja nicht davon, spätestens im Urteil Stellung zur Nichtberücksichtigung der beantragten Sachverhaltsaufklärung zu nehmen; vgl. die in Fn. 58 Genannten.

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denn die auch vom Strafrichter praktizierte „alltagstheoretische" Technik der Sachverhaltserforschung 68 verliert erst dann ihre Bedenklichkeit, wenn alle einschlägigen Hypothesen vor seiner Entscheidung zur Sprache kommen und in einer von allen Verfahrenssubjekten getragenen Kommunikation auf Richtigkeit und Vollständigkeit überprüft werden konnten69. Infolgedessen kann der Umstand, daß der Anspruch auf richterliche Entscheidung binnen angemessener Frist das Recht auf Gehör begrenzt, keine Verfahrensbeschleunigung 70 rechtfertigen, die die Sachverhaltsermittlung zu Lasten individueller Mitwirkungsrechte verkürzt; zulässig ist lediglich jene zeitliche Optimierung der Sachverhaltsaufklärung, die ohne Verkürzung individueller Mitwirkungsrechte ins Werk gesetzt werden kann. Dies bedeutet in concreto, daß die dem Beweisantragsrecht und den ihm annexen Antragsbegründungs-, Frage- und Erklärungsrecht immanente „informationelle Rückkopplung" weder in strafprozessualen Großverfahren noch im Bereich des Verwaltungsunrecht bewältigenden Ordnungswidrigkeitenverfahren beschnitten werden darf. Daß dem so ist, resultiert weniger daraus, daß die Befürworter einer derartigen Beschneidung71 die rechtstatsächliche Untermauerung von deren Notwendigkeit weitgehend schuldig geblieben sind72, es ergibt sich vielmehr daraus, daß - wie gezeigt - die „informationelle Rückkopplung" zwischen richterlichen und nichtrichterlichen Verfahrenssubjekten das verfassungsrechtliche Kernstück des strafprozessualen Beweisantragsrechts73 ausmacht. 7. Nach alledem läßt sich das Ergebnis der verfassungsrechtlichen Überprüfung der Kommunikationsstruktur des strafprozessualen Erkenntnisverfahrens wie folgt zusammenfassen: 67 Ausführlicher zum Zusammenhang von Sachverhaltsermittlung und Prozeßökonomie: Schulz, GA 81, 301 (319). 68 Hierzu siehe etwa: Bürkle, Richterliche Alltagstheorien im Bereich des Zivilrechts (1984), S. 65 ff.; Kasper, Freie Beweis Würdigung und Kriminaltechnik (1975), S. 32 ff. Zur Psychologie derrichterlichen Überzeugungsbildung siehe aus neuerer Zeit etwa: Bendix, Zur Psychologie der Urteilstätigkeit des Berufsrichters, 1968; Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, 1969; Weiss, Die Theorie derrichterlichen Entscheidungstätigkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1971. 69 Vgl. Gutmann, JuS 63,369 (372); Krauss (Fn. 22), S. 73,77; zur Beweiskraft des Protokolls neuestens: BGH NJW 85, 1782. 70 Zum Thema Beschleunigung des Strafverfahrens siehe etwa: Berz, NJW 82, 729 ff.; Glasenapp, NJW 82, 2057 ff.; Kiing-Hofer, Die Beschleunigung des Strafverfahrens unter Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, 1984; Peters, Beschleunigung des Strafverfahrens und die Grenzen der Verfahrensbeschleunigung, in: Schreiber, Strafprozeß und Reform (1979), 82 ff.; Schmidt-Hieber, Beschleunigung des Strafverfahrens durch Kooperation?, in: Justiz und Recht (1983), S. 193ff.; zu letzterem schon: Röhmer, Kooperatives Verhalten der Rechtspflegeorgane im Strafverfahren, in: Festschrift für Schmidt-Leichner zum 65. Geburtstag (1977), S. 133 ff. 71 Siehe etwa §§ 77, 77a des Referentenentwurfs 480 eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze; StrafVert 82, 325, (330 f.); Rebmann, NStZ 84, 241 (246 unter IV. 2, 3). 72 Frohn, DkP 7 (1983), S. 185 (187 f.); Prisching, DkP 7 (1983), S. 207 (217 f.). 73 Zum Zusammenhang von Beweisantragsrecht und Anspruch auf rechtliches Gehör etwa: Frohn, DkP 7 (83), S. 185 ff; Frohn, GA 84, 554 ff.

§ 10 Der Zivilprozeß

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(1) Da die Bildung von Relevanzhypothesen notwendige Voraussetzung für richterliche Erkenntnis- und damit auch Entscheidungstätigkeit überhaupt ist 30 , setzt das verfassungsrechtliche Effektivitätspostulat, das sich im Strafprozeß darstellt als Postulat effektiver Verteidigung74, die Kenntnis dieser Relevanzhypothesen voraus. (2) Daß es sich hierbei um ein im geltenden Strafverfahrensrecht ausdrücklich geregeltes Anliegen handelt, konnte anhand von §§ 264,265 StPO einerseits sowie von §§ 244 Abs. 6, 34 StPO andererseits nachgewiesen werden. (3) Daß diese rudimentäre Regelung im Schünemannschen Sinne verallgemeinerungsfähig ist, ergibt sich aus dem engen sachlichen Zusammenhang, der zwischen dem Anspruch auf Gehör einerseits und dem Recht auf effektive Verteidigung andererseits besteht73. § 10 Parteiverantwortung und richterliche Verhandlungswürdigung im Zivilprozeß

1. Nach weitgehend übereinstimmender Auffassung der einschlägigen Lehrbuch- und Kommentarliteratur 75 unterscheidet sich die zivilprozessuale Kommunikationsstruktur von der strafprozessualen spezifisch dadurch, daß im Zivilprozeß den Parteien - und nicht wie im Strafprozeß dem Gericht - die Verantwortung für die Ermittlung, Sammlung und Behauptung des maßgebenden tatsächlichen Materials obliegen und daß diese „Mitwirkungslast" richterlicherseits eine Bindung an das Vorgetragene entsprechen soll76; eine der strafrichterlichen entsprechende Befugnis zur Klageumgestaltung77 komme demgegenüber dem Zivürichter nicht zu. Selbst wenn man zunächst einmal78 außer acht läßt, daß der Grundsatz der Parteiherrschaft in Familiensachen (§ 621 a Abs. 1 Satz 1 ZPO), im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit (§ 12 FGG) sowie im arbeitsgerichtlichen Beschlußverfahren (§ 83 Abs. 1 ArbGG) schon de lege lata nicht gilt 79 , so stellt der Umstand, daß die prozessuale Wahrheitspflicht des § 138 74

Zum Zusammenhang von Rechtsschutzeffektivität und Verteidigungseffektivität ausführlicher: Frohn (Fn. 73); Gusy, AnwBl 84, 225 (226 unter I. c). 75 Vgl. etwa: Blomeyer, Zivilprozeßrecht (1963) § 14; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl. (1974) §§ 18,19; Hartmann, in: Baumbach u.a., Anm. 3 Β ff. Grundz. § 128 ZPO; Nakamura, ZZP 86, 1 ff.; Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. 1981, § 3 III; Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, 12. Aufl. (1977), § 78; Schönke-Kuchinke, Zivilprozeßrecht, 9. Aufl. (1969), § 8 I; Stein-Jonas-Pohle, Anm. V.l, VII vor § 128 ZPO; Stephan-Zöller, Anm. A13 vor § 128 ZPO; Thomas-Putzo, Einl. I 1; Wieczorek, Anm. Β III zu § 128 ZPO; Wolf, Gerichtliches Verfahrensrecht (1978), §§ 29 ff.; Zeiss, Zivilprozeßrecht, 4. Aufl. (1980) § 27 f.; siehe auch: BGHZ 53, 245 = NJW 70, 946 = MDR 70, 491. 76 Diese richterliche Bindung an den Parteivortrag ist in keiner Vorschrift der ZPO ausdrücklich normiert. Sie ergibt sich allenfalls im Wege eines „argumentum e" §§ 288 Abs. 1, 138 Abs. 3 ZPO. 77 Vgl. insoweit § 10.4. 78 Siehe auch § 10.3. 79 Ausführlicher: Grunsky (Fn. 75); Schönfeld, Zur Verhandlungsmaxime im Zivilprozeß und in den übrigen Verfahrensarten (1981), § 5. 6 Frohn

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Abs. 1 ZPO es den Zivilgerichten nicht nur ermöglicht, sich vom übereinstimmenden Parteivortrag zu lösen, sondern von ihnen auch hierzu in praxi genutzt wird 80 , die allgemeine Geltung des Grundsatzes von der richterlichen Bindung an den Parteivortrag als einer Prozeßmaxime81 auch für die anderen zivüprozessualen Verfahren weitgehend in Frage82. Der Grund hierfür dürfte vornehmlich darin zu suchen sein, daß die CPO in ihrer ursprünglichen Fassung von 187783 eine ausdrückliche Bestimmung darüber, daß die Streitparteien über den Streitstoff die Herrschaft ausübten, nicht enthielt, so daß der Grundsatz der Parteiherrschaft als eine von Lehre und Rechtsprechung zum einen aus § 129 Abs. 1 CPO sowie zum andern im Wege eines Umkehrschlusses aus § 581 CPO84 entwickelte Prozeßmaxime angesehen werden muß. Die lex lata selbst war offen für eine Deutung des Grundgesetzes der Parteiherrschaft in zwei einander ausschließenden Richtungen: von den Vertretern einer heute als „liberal" geltenden Prozeßauffassung wurde er dahingehend verstanden, daß die streitenden Parteien mittels prozessualer Willenserklärung den Streitstoff in den Prozeß einführten und der Richter an diese Willenserklärung gebunden sei85, wohingegen die Vertreter einer heute als „sozial" geltenden Prozeßkonzeption die Auffassung vertraten, der Grundsatz der Parteiherrschaft könne allenfalls im Sinne einer WissemtrYlänmg in dem 80 BGHZ 72, 242 (245); 82, 115 (119); 86, 23 (29); BVerwGE 73, 1 - Leitsatz 1; siehe auch: Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag und die Grenzen freier Verhandlungswürdigung (1982), insbesondere § 10; Peters, E., Der Ausforschungsbeweis im Zivilprozeß (1966), S. 67 ff. 81 Zum Begriff der Prozeßmaxime vgl. Gönner, Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses 1,2. Aufl. (1804), S. 176 f.: „Aus dem Zwecke der richterlichen Gewalt im Staate habe ich einen Grundsatz entwickelt, auf welchen ein jedes Verfahren in allen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten berechnet sein muß (Es handelt sich um den Grundsatz des beiderseitigen Gehörs; HGF). Ich habe gezeigt, daß der gemeine deutsche Prozeß darauf berechnet ist und diese Untersuchung hat einen nicht unbedeutenden Gewinn an praktischen Wahrheiten geliefert. Allein dieser allgemeine Grundsatz gibt noch keinen Aufschluß über die Art und Weise, Verhandlungen eines Rechtsstreits einzuleiten; auch die Ordnung des gerichtlichen Verfahrens muß auf einem allgemeinen Grundsatz ruhen, und dieser allgemeine Grundsatz muß mit reinen Vernunftsätzen übereinstimmen." 82 Ausführlicher etwa: Brehm (Fn. 80); siehe ergänzend: Häsemeyer, TZ Ρ 85 (1972), 207 ff.; Schlosser, Einverständliches Parteihandeln im Zivilprozeß, 1968; Würthwein, Umfang und Grenzen des Parteieinflusses auf die Urteilsgrundlagen im Zivilprozeß, 1977. 83 Die Schreibweise „ZPO" ersetzte erst aufgrund einer Vereinbarung im Bundesrat vom 18.12.1902 die bis dahin übliche Schreibweise „CPO"; vgl.: Centralblatt für das Deutsche Reich, 1902, S. 432. 84 Ausführlicher hierzu: Damrau, Die Entwicklung einzelner Prozeßmaximen seit der Reichszivilprozeßordnung von 1877 (1975), S. 21 ff. 85 So etwa: Canstein, Der Zweck des Civilprozesses (1902), S. 34 ff.; Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage (1925/Neudruck 1962), S.128; Wach, Vorträge über die Reichscivilprozeßordnung (1879), S. 149; Wach, Grundfragen und Reform des Zivilprozesses (1914), S. 26. So verstanden korreliert die Parteiherrschaft über den Tatsachenstoff der materiellen Dispositionsbefugnis über die subjektiven Rechte; ausführlicher zu dieser ideologischen Herleitung des Verhandlungsgrundsatzes: Nörr, Naturrecht und Zivilprozeß (1976), S. 45; siehe ergänzend: Bender, JZ 83, 709 ff.; Leipold, JZ 82, 441 ff.

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Sinne verstanden werden, daß der Richter an die prozessualen Erklärungen der Parteien lediglich entsprechend dem Maß ihrer Wahrheit und Vollständigkeit gebunden sei86. Diese „Unentschiedenheit" der lex lata hatte Bestand bis zur Wahrheitsnovelle von 193387, die in Anlehnung an § 182 Abs. 1 öZPO88 die nunmehr in § 138 Abs. 1 ZPO verankerte „Wahrheits- und Vollständigkeitspflicht" einführte 89. Dies ist insoweit für die Kommunikationsstruktur des zivilprozessualen Verfahrens von Bedeutung, als die Wahrheitspflicht von der Rechtsprechung in der Folgezeit zum dogmatischen Ausgangspunkt für eine Verhandlungswürdigung gemacht wurde, die sich nicht mehr darauf beschränkte, zu prüfen, ob eine Tatsachenbehauptung bestritten war oder nicht (§ 138 Abs. 3 ZPO): während die Lehre die Wahrheitspflicht einmütig als ausdrücklich geregelten Fall des auch in prozessualen Sinnzusammenhängen geltenden allgemeinen Arglistverbots ansah, ihr aber mehr als das Verbot der Prozeßlüge, also der bewußten prozessualen Unwahrheit nicht entnahm90, diente die Wahrheitspflicht der Rechtsprechung vornehmlich als dogmatischer Ansatzpunkt, um sich von Behauptungen, die unwahrscheinlich zu sein schienen, mit dem Argument zu lösen, derartige „wülkürliche" Behauptungen verstießen gegen die Pflicht zur prozessualen Wahrheit91. Das Prekäre an diesem Sich-Loslösen des Richters von einer - aus welchem Grund auch immer - als „unerträglich" empfundenen Bindung an die „Behauptungswülkür" der Parteien92 resultiert dabei zum einen daraus, daß die prozeßökonomische Funktion wahrheitswidrigen, aber einverständlichen Parteivorbringens übersehen wird: derartiges Vorbringen kann durchaus sowohl im Interesse der Parteien wie im Interesse des Gerichts liegen, weil es den Streitstoff begrenzt und damit u.U. ökonomisch sinnvoller ist als eine auf Wahrheitskenntnis gerichtete streitige Verhandlung. Darüber hinaus - und dies dürfte ein gewichtigerer Einwand sein - kommt eine an Wahrheit orientierte Verhand86 So vor allem: Klein, Pro futuro - Betrachtungen über Probleme der ZiVilprozeßreform in Österreich (1891), S. 20; Menger, Oos bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen (1908), S. 34; einen ausführlichen Überblick über den Streit um die Verhandlungsmaxime im Zivilprozeß geben: Böhm, Jus Commune 7 (1978), 136 ff.; Damrau (Fn. 84), S. 129 ff. 87 Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 des „Gesetzes zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten" vom 27.10.1933 - RGBl 33 I 780. 88 Überhaupt ist die österreichische Zivilprozeßrechtswissenschaft für die deutsche Rechtsentwicklung bedeutsamer gewesen als etwa die schweizerische. 89 Ausführlicher: Damrau (Fn. 84), S. 36 ff., 373 ff.; Schönfeld (Fn. 79), S. 49 ff., 55. 90 Vgl. etwa: Blomeyer (Fn. 75) § 30 V I I 1 c; Hartmann, in: Baumbach u.a., Anm. 1.1 Β zu § 138 ZPO; Rosenberg-Schwab (Fn. 75), S. 353; Schönke-Kuchinke (Fn. 75), S. 28; Stein-JonasPohle, Anm. I.lb zu § 138 ZPO; Stephan-Zöller, Anm. 1.1 zu § 138 ZPO; Thomas-Putzo, Anm. I.l.b zu § 138 ZPO; Wieczorek, Anm. B.I zu § 138 ZPO; Zeiss (Fn. 75), S. 15\ Zeiss, Die arglistige Prozeßpartei (1967), S. 46 ff. 91 Vgl. zusätzlich zu den von Brehm (Fn. 80), S. 157 ff. zitierten Entscheidungen noch: BGHZ 72, 242 (245); 82, 115 (118); 86, 23 (29); BVerwGE 73, 1 (Ls. 1); des ferneren auch: Peters, E. (Fn. 80). 92 Vgl. hierzu: Hippel, F., Wahrheitspflicht und Aufklärungspflicht der Parteien im Zivilprozeß (1939), S. 23, 221.

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lungswürdigung notwendigerweise zu anderen Beweislastverteilungen als eine Verhandlungswürdigung, die sich darauf beschränkt zu prüfen, ob und welche Tatsachen bestritten sind oder nicht93. Und daß derartige Beweislastverschiebungen unmittelbare Auswirkungen auf den Inhalt der materiellen Entscheidungsaussage des Prozesses haben94, also in einem gewissen Sinne auch die Befugnis der Parteien zur Disposition über ihre materiellen Rechte tangieren95, dürfte unmittelbar einsichtig sein. 2. Hinzu kommt, daß die Gefahr einer inhaltlichen Kollision des Parteivorbringens mit der Wahrheitspflicht anwächst, wenn die Parteien in der Folge einer allgemeinen Prozeßförderungspflicht (§ 282 Abs. 1 ZPO) genötigt werden, Angriffs- bzw. Verteidigungsmittel sowie Beweismittel und Beweiseinreden so zeitig vorzubringen, daß der Rechtsstreit möglichst in einem Termin erledigt werden kann : geht man nämlich von einem Interesse einer jeden Partei an einem ihr günstigen Verfahrensabschluß aus, dann beeinflußt die verspätetem Vorbringen drohende „innerprozessuale Präklusion" das Vortragsverhalten der Parteien97 notwendigerweise in zwei Richtungen: der Gefahr, der nicht rechtzeitig vorgebrachten Angriffe bzw. Verteidigungsmittel u.U. sogar endgültig98 verlustig zu gehen, kann nur in der Weise vorgebeugt werden, daß sämtliche zur Verfügung stehenden Angriffs- und Verteidigungsmittel in den Prozeß eingeführt werden und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem niemand beurteÜen kann, ob dieses Vorbringen für die begehrte Sachentscheidung überhaupt erforderlich ist99. Diese Notwendigkeit birgt nun die Gefahr eines Verstoßes gegen die Wahrheitspflicht in sich: weü nämlich die Nichtberücksichtigung von Vorbringen wegen eines Verstoßes gegen die prozessuale Wahrheitspflicht in der 2. Instanz prinzipiell heübar ist 100 , die Präklusion dagegen in der Regel 93

Ausführlicher hierzu: Brehm (Fn. 80), S. 100 ff. (130 ff.). Vgl. etwa: Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß (1975), S. 282 ff. m.w.N.; siehe auch: Wahrendorf, Die Prinzipien der Beweislast im Haftungsrecht, 1976. 95 Ausführlicher hierzu: Häsemeyer, ZZP 85 (1972), 207 ff.; Schlosser (Fn. 82); Würthwein (Fn. 82). 96 Man spricht insoweit von der „Konzentrations- bzw. Zusammenfassungsmaxime"; vgl. etwa: Blomeyer (Fn. 75), S. 101 f.; Hartmann, in: Baumbach u.a., Anm. 1 E Übers § 253 ZPO; Rosenberg-Schwab (Fn. 75), S. 425 ff.; Schönke-Kuchinke (Fn. 75), S. 76 ff. Realisiert und konkretisiert wurde die allgemeine Prozeßförderungspflicht des § 282 Abs. 1 ZPO im wesentlichen durch das „Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren - Vereinfachungsnovelle - vom 3.12.1976 (BGBl 76 I 3281 ff.). Zur Verfassungsmäßigkeit der Präklusionsvorschriften der Vereinfachungsnovelle siehe unten § 3 (2) 5 ff. 97 Zum Thema „Taktik im Zivilprozeß" ausführlicher: Grunsky, Taktik im Zivilprozeß, 2. Aufl., 1983; Nordemann, Taktik im Wettbewerbsprozeß, 2. Aufl., 1984. Allgemein zur Frage der Präklusion: Kallweit, Die Prozeßförderungspflicht der Parteien und die Präklusion verspäteten Vorbringens, 1983; Otto, Die Präklusion, 1970. Zur Präklusion im Strafprozeß: Schmid, Die „ Verwirkung" von Verfahrensrügen im Strafprozeß, 1967. Zur Präklusion im Verwaltungsprozeß unten Fn. 138 sowie § 11.1. 98 Vgl. §§ 296 Abs. 2, 527, 528 Abs. 2, 3 ZPO. 99 Es ist nicht zu verkennen, daß diese - „Eventualmaxime" oder auch „Häufungsgrundsatz" benannte - Maxime in einem Spannungsverhältnis zum Grundsatz der „Einheit der Verhandlung" steht, der besagt, daß alle mündlichen Termine, an denen dieselbe Rechtssache verhandelt wird, im Verhältnis zueinander gleichwertig sind und eine Einheit - eben die mündliche Verhandlung - bilden; vgl. etwa: Hartmann, in: Baumbach u.a., Anm. 1 zu Β sowie D, Übers §253 ZPO; Wieczorek, Anm. Β I I I b zu § 128 ZPO. 100 Vgl.: BGHZ 72,242 (245); 82, 115(118); 86, 23 (29); BVerwGE 73,1 (Ls 1); ergänzend: Brehm (Fn. 80), S. 158 f. m.w.N. 94

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zum endgültigen Verlust des betroffenen Angriffs- oder Verteidigungsmittels führt (§ 528 Abs. 3 ZPO), erscheint unter prozeßtaktischen Gesichtspunkten der Verstoß gegen die Wahrheitspflicht als das „kleinere" Übel 101 . Daß die innerprozessuale Präklusion - allein unter Zeitaspekten geurteüt - ein wirksames Mittel ist, ProzeßVerzögerungen wirksam zu begegnen102, wird man kaum in Abrede stellen können, doch steht dem neben der bereits angesprochenen verfassungsrechtlichen Problematik 103 gegenüber, daß im Falle einer Anwendung der Präklusionsvorschriften ein inhaltliches Fehlurteil mindestens mit „dolus eventualis" in Kauf genommen wird 104 . Stellt man dies in Rechnung, so kann es kaum verwundern, daß eine Partei, der die Präklusion von Vorbringen droht, bei unselbständigen Angriffs- bzw. Verteidigungsmitteln in das Versäumnisurteil, bei selbständigen in die Aufrechnung, die Widerklage oder die Klageerweiterung zu fliehen versuchen wird oder aber das entsprechende Vorbringen in der 1. Instanz zurückhält, um es in der Berufungsbegründungsschrift dann als „neues Vorbringen" i.S. von § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO 1 0 5 zu präsentieren und auf diese Weise einer Anwendung des § 528 Abs. 3 den Boden zu entziehen106. Bemerkenswert ist überdies auch die „formale" Entwicklung der innerprozessualen Präklusion im Zivüprozeß: während § 252 CPO 1877 (= § 279 CPO 1898) nur die Zurückweisung verspätet vorgebrachter Verteidigungsmittel und dies auch nur auf Antrag des Gegners und nur mit Wirkung für die jeweilige Instanz gestattete, unterstellte schon die „Beschleunigungsnovelle" von 19241 auch Angriffsmittel der Präklusionswirkung. Weitaus bedeutsamer erscheint aber, daß - ohne daß der Charakter von § 279 ZPO als einer „Kann-Vorschrift" ansonst angetastet worden wäre - mit der Novelle von 1924 auch das Antragserfordernis beseitigt wurde; denn dies ist der entscheidende, Schritt, an dem abzulesen ist, daß die Präklusionsdrohung nicht mehr funktionell auf das einzelne Verfahren, sondern institutionell auf das gesamte Rechtsschutzsystem bezogen wird: einem funktionellen Verständnis hätte es nämlich weitaus eher entsprochen, das Antragserfordernis beizubehalten, weil nur auf diese Weise deutlich geblieben wäre, daß derjenige, dem die Rechtswohltat der Präklusion zugute kommt, als Subjekt behandelt wird. Vor dem Hintergrund der oben entwickelten Verfassungsdimension des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens 108 könnte man diesen Gedanken wie folgt ausdrücken: da das Vorbringen vor Gericht vom Recht auf Gehör verfassungsfest garantiert wird und dieses 101

Vgl. in diesem Zusammenhang die Beispiele von Peters, E. (Fn. 80), S. 14. So schon: Bolgiano, Handbuch des Reichs-Civil-Prozerechts auf rationallen Grundlagen mit vergleichender Darstellung des gemeinen deutschen Civilprozesses (1879), S. 54 f.; siehe auch: Schulte, Die Entwicklung der Eventualmaxime (1980), S. 9 m.w.N. 103 Siehe oben § 6.3, 4. 104 Vgl. etwa: Bruns, Die Frist als gesetzgeberisches Mittel der deutschen Zivilprozeßreform zur Beschleunigung der Verfahren, in: Studi in onore di Enrico Tulio Liebman - Tome 1, Mailand 1979, S. 123 (130 uner I I I 2); siehe ergänzend auch: Pieper, Eiljustiz statt materieller Richtigkeit? Zu den Grenzen der Präklusion verspäteten Vorbringens im Zivüprozeß, in: Wassermann-FS (1985) , S. 733 ff. 105 Sog. Novenrecht; vgl. etwa: Schulte (Fn. 102), S. 60 ff. Rechtsvergleichend ist darauf hinzuweisen, daß § 496 öZPO ein „Novenberbot" ernthält; vgl.: Fasching, Das Neuerungsverbot im Berufungsverfahren, in: Festschrift für Georg Th-Rammos I, Athen 1979, S. 263 ff. 106 Ausführlicher zu den Möglichkeiten, die Präklusionswirkung auszuschalten: Deubner, JuS 82,289 f[.;Hermisson, NJW 83,2229 (2234); siehe hierzu allerdings auch: BVerfG NJW 87, 1621; BGH NJW 86, 134 f.; OLG Schleswig NJW 86, 856 f. m. Anm. Deubner. 107 „Verordnung über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten" vom 13. Februar 1923 - RGBl 24 I 135. 108 Siehe §§ 5 ff. 102

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Recht seinerseits Ausschluß der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 G G ist, stellen die in dieser Rechtsnorm erwähnten „Rechte anderer" eine auch in zeitlicher Hinsicht (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) zu berücksichtigende Grenze dar; dieses Recht auf Entscheidung geltend zu machen ist aber ebenfalls letztlich Ausfluß des Rechts auf die Freiheit der persönlichen Entfaltung und damit Sache eben jenes anderen. Infolgedessen wird der andere als Subjekt nur dann anerkannt, wenn ihm auch die Disposition über die Geltendmachung dieses Rechts zusteht, d.h. wenn es von seinem Antrag abhängig ist. Ein derartiges funktionelles Verständnis würde einerseits dem individuellen Charakter der in Rede stehenden subjektiven Rechte aus Art. 103 Abs. 1 G G sowie Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK gerecht und würde überdies eine angemessene Berücksichtigung der zusätzlichen Inanspruchnahme der Arbeitskraft und -zeit des richterlichen und nichtrichterlichen Gerichtspersonals - also kurz der Institution „Zivilrechtspflege" auf dem Weg über § 34 G K G erlauben 109. Daß nach der gegenwärtigen prozeßrechtlichen lex lata der Eintritt der Präklusionswirkung nicht von einem Antrag des Präklusionsgegners abhängig ist, kann gleichwohl verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden: denn wie weiter oben bereits gezeigt wurde 110 , ist „anderer" im Sinne des nach Maßgabe von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK i.V.m. Art. 2 Abs. 1 G G begrenzten Anspruchs auf Gehör nicht allein der adversatorische Verfahrensgegner 1, sondern jeder, dessen Rechte und Pflichten Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens bilden, also auch der, der mit dem Träger des durch die Präklusion verkürzten rechtlichen Gehörs nicht durch das nämliche konkrete Prozeßrechtsverhältnis verbunden ist. Setzt aber der Begriff des anderen i.S. von Art. 6 Abs. 1 EMRK i.V.m. Art. 2 Abs. 1 G G die Verbindung durch ein konkretes Prozeßrechtsverhältnis nicht voraus, dann kann die Realisierung des Anspruchs auf richterliche Entscheidung binnen angemessener Frist schlechterdings nichts von einem auf Herbeiführung der Präklusionswirkung zielenden Antrag abhängig gemacht werden; denn ein solcher Antrag würde das verfassungsrechtlich gerade nicht erforderliche konkrete Prozeßrechtsverhältnis notwendigerweise voraussetzen.

3. Da Art. 103 Abs. 1 GG die Installierung einer informationellen Rückkopplung zwischen richterlichen und nichtrichterlichen Verfahrenssubjekten hinsichtlich der prozessualen Sachverhaltsaufklärung gebietet111, stellen sich im Hinblick auf die Kommunikationsstruktur des Zivilprozesses vornehmlich zwei Fragen: (1) Auf welcher Grundlage darf der erkennende Richter Relevanzhypothesen bilden? Und (2) unter welchen Voraussetzungen verlieren diese Relevanzhypothesen ihren hypothetischen Charakter und dürfen infolgedessen zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden. Die erste dieser beiden Fragen beantworten die §§ 253 Abs. 2 Ziff. 2,138 Abs. 1,2 ZPO: der Kläger muß zu Gegenstand und Grund des erhobenen Anspruchs bestimmte Angaben (tatsächlicher Art 112 ) machen und zu diesen Angaben muß sich der Klagegegner vollständig und wahrheitsgemäß äußern; man spricht insofern von Beibringungs- bzw. Behauptungslast113. Die Antwort auf die zweite 109

Zur Verzögerungsgebühr des § 34 GKG: Schneider, E., JurBüro 76, 6. §9.1. 111 Siehe dazu oben § 2.6. a.E. 112 Vgl. etwa: Hartmann, in: Baumbach u.a., Anm. 4 Β zu § 253 ZPO. 113 Blomeyer (Fn. 75), § 69 I 2; Rosenberg-Schwab (Fn. 75), § 118 II; Schönke-Kuchinke (Fn. 75), § 57 I a.E. 110

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Frage ergibt sich daraus, daß neben den offenkundigen (§ 291 ZPO) 114 , den zugestandenen (§ 288 ZPO) und den vermuteten Tatsachen115 vor allem solche tatsächlichen Behauptungen, die nicht ausdrücklich oder mindestens konkludent bestritten worden sind116, ohne beweismäßige Überprüfung zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden dürfen; denn nach § 138 Abs. 3 ZPO sind die nicht ausdrücklich oder mindestens konkludent bestrittenen Tatsachen als zugestanden anzusehen, d.h. kraft gesetzlicher Anordnung so zu behandeln, als läge ein Zugeständnis i.S. von