Europäische Methodenlehre: Grundfragen der Methoden des Europäischen Privatrechts 9783110927221, 9783899492484

Methodology questions for European law, and for European civil law in particular, are presented systematically and compr

250 20 2MB

German Pages 520 [524] Year 2006

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Table of contents :
Inhaltsübersicht
Autorenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
§ 1 Europäische Methodenlehre – Begriff, Inhalte und Bedeutung
1. Teil: Grundlagen
§ 2 Die Rechtsvergleichung
§ 3 Die ökonomische Theorie
§ 3.1 Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht
Diskussionsbericht
2. Teil: Allgemeiner Teil
Abschnitt 1 Rechtsquellen
§ 4 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
Abschnitt 2 Primärrecht
§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
§ 6 Die primärrechtskonforme Auslegung
§ 6.1 Die primärrechtskonforme Auslegung
Diskussionsbericht
Abschnitt 3 Sekundärrecht
§ 7 Systemdenken und Systembildung
§ 8 Die Auslegung
§ 9 Die Konkretisierung von Generalklauseln
§ 10 Die Rechtsfortbildung
Diskussionsbericht
Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht
§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung
§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
Diskussionsbericht
3. Teil: Besonderer Teil
Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten
§ 13 Europäisches Vertragsrecht
§ 14 Europäisches Arbeitsrecht
§ 15 Europäisches Gesellschaftsrecht
§ 16 Europäisches Kapitalmarktrecht
Diskussionsbericht
Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung
§ 17 Die Rechtsprechung des EuGH
§ 18 Die Rechtsprechung des BGH
Diskussionsbericht
Literaturverzeichnis
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Europäische Methodenlehre: Grundfragen der Methoden des Europäischen Privatrechts
 9783110927221, 9783899492484

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Europäische Methodenlehre Schriften zum Europäischen und Internationalen Privat-, Bankund Wirtschaftsrecht EIW Band 2

Schriften zum Europäischen und Internationalen Privat-, Bankund Wirtschaftsrecht

Herausgegeben von Professor Dr. Horst Eidenmüller, LL.M. (Cambridge), München Professor Dr. Dr. Stefan Grundmann, LL.M. (Berkeley), Berlin Professor Dr. Susanne Kalss, LL.M. (Florenz), Wien Professor Dr. Wolfgang Kerber, Marburg Professor Dr. Karl Riesenhuber, M.C. J. (Austin/Texas), Frankfurt (Oder) Dr. Heike Schweitzer, LL.M. (Yale), Hamburg Professor Dr. Hans-Peter Schwintowski, Berlin Professor Dr. Reinhard Singer, Berlin Professor Dr. Christine Windbichler, LL.M. (Berkeley), Berlin

EIW Band 2

De Gruyter Recht • Berlin

Karl Riesenhuber (Hrsg.)

Europäische Methodenlehre Grundfragen der Methoden des Europäischen Privatrechts

De Gruyter Recht • Berlin

Veröffentlichung der Vorträge der Tagung „Europäische Methodenlehre“ am 3. und 4. Juni 2005 an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Veranstaltung mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln.

Herausgeber: Professor Dr. Karl Riesenhuber, M.C.J., Professur für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Arbeits- und Wirtschaftsrecht sowie Immaterialgüterrecht, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN-13: 978-3-89949-248-4 ISBN-10: 3-89949-248-X

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2006 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin Datenkonvertierung/Satz: WERKSATZ Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

Geleitwort der Herausgeber Europäisierung und Internationalisierung fordern die Rechtswissenschaft in besonderem Maße heraus. Die Einteilung in Fachgebiete und das Verhältnis zu anderen Sozialwissenschaften bedürfen der kritischen Neubewertung angesichts vielfacher Wechselwirkungen. Querbezüge zwischen wirtschaftsrechtlicher Regulierung und privatautonomer Gestaltung zeigen diese Entwicklung in aller Deutlichkeit. Eine sich über Deutschland hinaus öffnende Rechtswissenschaft muß sich solchen Herausforderungen stellen. Dafür steht exemplarisch das Recht der Finanzdienstleistungen als Querschnittsmaterie von Privatrecht und (öffentlichem) Wirtschaftsrecht. Dem will die vorliegende Reihe inhaltlich und methodisch Rechnung tragen. Neben dem Bank-, Kapitalmarkt- und Finanzrecht als Schwerpunkt zeigen Gesellschaftsrecht, Wettbewerbs- und Kartellrecht, Immaterialgüterrecht, Insolvenzrecht und auch Arbeitsrecht ähnliche Überlagerungen. Die intensive, international orientierte Bearbeitung der Überschneidungen von klassischem Privatrecht, insbesondere Vertragsrecht, und Wirtschaftsrecht verspricht reichen Ertrag, gerade auch auf europäischer Ebene unter dem zusammenfassenden Aspekt des Unternehmensrechts. In der Reihe soll die herausragende Monographie ebenso ihren Platz finden wie der Tagungsband, Werke auf Deutsch ebenso wie gelegentlich auf Englisch. Ökonomisch ausgerichtete Arbeiten sollen neben die juristischen treten, die den Schwerpunkt bilden. In der Reihe sollen Werke zu Europäisierung und Internationalisierung zusammen kommen, die das Wirtschaftsrecht und das wirtschaftlich gedachte Privatrecht in hervorragender Weise befördern. Im September 2004

Horst Eidenmüller, Stefan Grundmann, Susanne Kalss, Wolfgang Kerber, Karl Riesenhuber, Heike Schweitzer, Hans-Peter Schwintowski, Reinhard Singer, Christine Windbichler

Vorwort Methodenfragen des Europäischen Rechts stellen sich in Praxis, Wissenschaft und Ausbildung mit einer fortschreitenden, zunehmend breiten und zunehmend tiefen Rechtsangleichung immer öfter. Im allgemeinen Privatrecht haben vor allem die Kaufgewährleistungsrichtlinie und die Klausel-Richtlinie vor Augen geführt, wie weit das Gemeinschaftsrecht das nationale Recht beeinflußt und prägt. Im Gesellschafts- und im Arbeitsrecht ist der beherrschende Einfluß des Europarechts längst spürbar. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich in vielen anderen Rechtsgebieten ab. Jeder Praktiker kann daher auch in alltäglichen Fällen mit Fragen der Europäischen Methodenlehre konfrontiert sein: Wie ist eine Richtlinie auszulegen? Ist sie mit dem Primärrecht vereinbar? Ist ein Umsetzungsdefizit im Wege der richtlinienkonformen Auslegung zu beheben? Berechtigt (verpflichtet) eine Zweifelsfrage im Bereich überschießender Umsetzung zur Vorlage an den EuGH? Solche und andere Fragen stellen sich andauernd. Sie werden daher zu Recht auch in der Rechtsausbildung erörtert. Indes mangelt es bislang weitgehend an einer systematischen Gesamtdarstellung zur Europäischen Methodenlehre. Der vorliegende Band, der die Referate der Tagung „Europäische Methodenlehre“ enthält, soll dazu beitragen, diese Lücke zu schließen. Neben Grundlagen werden allgemeine Fragen der Methodenlehre erörtert. Diese werden in einem Besonderen Teil exemplarisch vertieft: für einzelne Rechtsgebiete sowie am Beispiel der Judikatur von EuGH und BGH. Zwei Referate fehlen in dem vorliegenden Band: Leider konnten Professor Dr. Christian Baldus und Professor Dr. Stephan Breidenbach ihre anregenden Referate zu Fragen der Rechtsgeschichte (Baldus) und der Gesetzgebungslehre (Breidenbach) aufgrund anderer Verpflichtungen nicht kurzfristig für diese Publikation zur Verfügung zu stellen. Die Referenten und der Herausgeber bedauern das. Beide Referate sollen aber in einem für das Wintersemester 2006/2007 geplanten Lehr- und Handbuch zur Europäischen Methodenlehre mit enthalten sein. Besondere Hervorhebung verdienen die Beiträge von zwei Nachwuchswissenschaftlern, Herrn Referendar Dr. Jens-Uwe Franck, LL.M.oec., und Herrn Referendar Ronny Domröse. Beide haben sich kurzfristig bereit erklärt, an der Tagung durch vorbereitete Diskussionsbeiträge mitzuwirken, als zwei Referenten überraschend ausfielen. Beide haben dann aber nicht nur Diskussionsbeiträge vorgelegt, sondern eigenständige Erörterungen des jeweiligen Themas, die zudem die „Hauptreferate“ in sinnvoller Weise ergänzen. Herrn Dr. Franck und Herrn Domröse bin ich deshalb verbunden, daß sie ihre Beiträge auch für die Publikation dieses Tagungsbandes zur Verfügung gestellt haben.

Vorwort

Die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung hat die Tagung und die Drucklegung in großzügiger Weise gefördert. Für die Mitwirkung bei der Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltung und bei der Drucklegung danke ich meinen Mitarbeitern sehr herzlich: Frau Aleksandra Mojkowska, mag.iur., M.A., LL.M., Frau stud.iur. Mona Markowitz, Frau stud.iur. Katharina Ziegler, Herrn cand.iur. Martin Bredol, Herrn Referendar Frank Rosenkranz, Herrn cand.iur. Alexander Jüchser, Herrn Referendar Markus Schumacher und Herrn Referendar Dr. Alexander v. Vogel. Besonderer Dank gebührt schließlich noch einmal Herrn Domröse. Er hat mich in allen Einzelheiten der Vorbereitung und Durchführung unterstützt und durch seine wachsamen und kritischen Anregungen zum Gelingen der Veranstaltung und der Publikation wesentlich beigetragen. Frankfurt (Oder), im März 2006

VIII

Karl Riesenhuber

Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . Autorenverzeichnis   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . Abkürzungsverzeichnis   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .

IX XI XIII

§ 1 Europäische Methodenlehre – Begriff, Inhalte und Bedeutung Riesenhuber   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .

1

1. Teil: Grundlagen § 2 Die Rechtsvergleichung Schwartze   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  § 3 Die ökonomische Theorie Kirchner  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  § 3.1 Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht Franck   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Diskussionsbericht Hofmann   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

.  .  .  .  . .  .  .  .  .

5 23

.  .  .  .  . .  .  .  .  .

49 61

2. Teil: Allgemeiner Teil Abschnitt 1 Rechtsquellen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .

65

Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts Köndgen   .  .  .  .  .  .

65

Abschnitt 2 Primärrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .

91

§4

§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts Pechstein/Drechsler   § 6 Die primärrechtskonforme Auslegung Leible   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  § 6.1 Die primärrechtskonforme Auslegung Domröse   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Diskussionsbericht v. Vogel   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

. 91 . 116 . 139 . 156

Abschnitt 3 Sekundärrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 159 § 7 Systemdenken und Systembildung Grundmann   .  § 8 Die Auslegung Riesenhuber   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  § 9 Die Konkretisierung von Generalklauseln Röthel   § 10 Die Rechtsfortbildung Neuner   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Diskussionsbericht Franck  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

.  .  .  .  . 

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159 186 213 231 247

Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 250 § 11 Die richtlinienkonforme Auslegung Roth   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 250 § 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung Habersack/Mayer   . 276 Diskussionsbericht Domröse   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 307

IX

Inhaltsübersicht

3. Teil: Besonderer Teil Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 309 § 13 Europäisches Vertragsrecht Schmidt-Kessel   .  .  .  .  § 14 Europäisches Arbeitsrecht Rebhahn   .  .  .  .  .  .  .  .  § 15 Europäisches Gesellschaftsrecht Windbichler/Krolop   § 16 Europäisches Kapitalmarktrecht Kalss   .  .  .  .  .  .  Diskussionsbericht Möslein   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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309 330 357 387 406

Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 409 § 17 Die Rechtsprechung des EuGH Stotz   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 409 § 18 Die Rechtsprechung des BGH Schmidt-Räntsch   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 428 Diskussionsbericht Wichary   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 456 Literaturverzeichnis   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 459

X

Autorenverzeichnis Ronny Domröse Carola Drechsler Stefan Grundmann Jens-Uwe Franck Mathias Habersack Christian Hofmann Susanne Kalss Christian Kirchner Johannes Köndgen Kaspar Krolop Stefan Leible Christian Mayer Florian Möslein Jörg Neuner Matthias Pechstein Robert Rebhahn Karl Riesenhuber Wulf-Henning Roth Anne Röthel Martin Schmidt-Kessel Jürgen Schmidt-Räntsch Andreas Schwartze

wiss. Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) wiss. Mitarbeiterin an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Dr.iur. Dr.phil., LL.M., Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Dr.iur., LL.M. oec., wiss. Mitarbeiter an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dr.iur., Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Dr.iur., LL.M. oec.int., wiss. Assistent an der HumboldtUniversität zu Berlin Dr.iur., LL.M., Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien Dr.iur., Dr.rer.pol., LL.M., Professor an der HumboldtUniversität zu Berlin Dr.iur., Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn Dr.iur., wiss. Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin Dr.iur., Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena M. Jur., wiss. Mitarbeiter an der Johannes Gutenberg Universität Mainz Dipl.-Kfm., LL.M., wiss. Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin Dr.iur., Professor an der Universität Augsburg Dr.iur., Professor an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Dr.iur., Professor an der Universität Wien Dr.iur., M.C. J., Professor an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Dr.iur., LL.M., Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn Dr.iur., Professor an der Bucerius Law School, Hamburg Dr.iur., Professor am European Legal Studies Institute der Universität Osnabrück Dr.iur., Richter am Bundesgerichtshof Dr.iur., LL.M., Professor an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

XI

Autorenverzeichnis

Rüdiger Stotz

Alexander v. Vogel Stefan Wichary Christine Windbichler

XII

Dr. iur., LL.M., Honorarprofessor an der RWTH Aachen, Ministerialdirigent im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Dr.iur., wiss. Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) wiss. Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Dr.iur., LL.M., Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin

Abkürzungsverzeichnis a.A. A.C. a.E. a.F. a.M. aaO abl. Abs. Abschn. AbzG AE-EuVGB AGBG ähnl. Am. J.Comp.L. ABl. AöR ArbuR Art. AStV ausdr. AWD BeckRS B.U.L.Rev. BaFin BAGE BE BGB BGHZ BKR BLRev BT-Drs. Buchholz bzgl. Cambr.L. J. ch. CISG CMLR Code civil CoRePer ders. dies.

anderer Ansicht Appeal Cases am Ende alte Fassung anderer Meinung am angegebenen Ort ablehnend Absatz Abschnitt Abzahlungsgesetz Entwurf eines Europäischen Vertragsgesetzbuchs der Akademie Europäischer Privatrechtswissenschaftler („Akademieentwurf“) Gesetz zur Regelung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen ähnlich/e The American Journal of Comparative Law (Jahrgang [Jahr] Seite) Amtsblatt Archiv für öffentliches Recht (Jahrgang [Jahr] Seite) Arbeit und Recht – Zeitschrift für Arbeitsrechtspraxis (Jahr, Seite) Artikel Ausschuß der Ständigen Vertreter (s. Art. 207 Abs. 1 EG), s.a. CoRePer ausdrücklich Außenwirtschaftsdienst (Jahr, Seite; später RIW) Beck-Rechtsprechung, Beck Online Boston University Law Review Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Begründungserwägung; die Gründe, mit denen gem. Art. 253 EGV Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen zu versehen sind Bürgerliches Gesetzbuch Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bank- und Kapitalmarktrecht (Jahr, Seite) Business Law Review (Jahr, Seite) Bundestags-Drucksache Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, herausgegeben von Buchholz bezüglich Cambridge Law Journal (Jahrgang [Jahr] Seite) chapter Convention on the International Sale of Goods Common Market Law Review (Jahr, Seite) Französischer Code civil von 1804 Comité des Représentants Permanents, s.a. AstV derselbe dieselbe/n

XIII

Abkürzungsverzeichnis DIN E.L.Rev. EB ebd. EBLR EEA EG

EGV

Einl. ERCL ERPL EU

EuLF (UK) EuLF EUV EuZW EWIV EWS FG Fordham Int’l LJ FS GmbHR GPR GRUR Int. GRUR GS Harv.Int.L. J. hM HWiG i.e. i.E. i.O. ICLQ i.d.F. i.d.R. i.e.S. ILJ Int.Enc.Comp.L. Int’l. Comp. Corp. LJ

XIV

deutsche Industrienorm, herausgegeben vom Deutschen Institut für Normung European Law Review (Jahrgang [Jahr] Seite) Erläuternde Bemerkungen (Gesetzesbegründung, Österreich) ebenda European Business Law Review Einheitliche Europäische Akte 1. Europäische Gemeinschaft; 2. Nach Bezeichnung eines Artikels: EG-Vertrag, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Konsolidierte Fassung mit den Änderungen durch den Vertrag von Amsterdam vom 2.10.1997 EG-Vertrag, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung des Vertrags über die Europäische Union vom 7.2.1992 (Maastrichter Fassung) Einleitung European Review of Contract Law (Jahrgang [Jahr] Seite) European Review of Private Law – Revue européenne de droit privé – Europäische Zeitschrift für Privatrecht (Jahr und Seite) 1.Europäische Union; 2. Nach Bezeichnung eines Artikels: EU-Vertrag, Vertrag über die Europäische Union, Konsolidierte Fassung mit den Änderungen durch den Vertrag von Amsterdam vom 2.10.1997 The European Legal Forum – englische Ausgabe (Jahr, Seite) The European Legal Forum – deutsche Ausgabe (Jahr, Seite) EU-Vertrag, Vertrag über die Europäische Union vom 7.2.1992 (Maastricht-Vertrag) Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) Verordnung über die Schaffung einer europäischen Interessenvereinigung Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Jahr, Seite) Festgabe/Freundesgabe Fordham International Law Journal Festschrift GmbHRundschau Zeitschrift für das Gemeinschaftsprivatrecht Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Internationaler Teil (Jahr, Seite) Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Jahr, Seite) Gedächtnisschrift Harvard International Law Journal (Jahrgang [Jahr] Seite) herrschende Meinung Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften im einzelnen im Ergebnis im Original International and Comparative Law Quaterly (Jahrgang [Jahr] Seite) in der Fassung in der Regel im engeren Sinne The Industrial Law Journal (Jahr, Seite) International Encyclopedia of Comparative Law International and Comparative Corporate Law Journal

Abkürzungsverzeichnis IPR IPRspr. i.S.v. Ius Commune

i.V.m. i.w.S. J. Law & Econ. J. Law, Econ., Organ. J. Leg. Stud. J.Contract L. J.Crim.L. JbFfSt JbJZ JBl. JBL JCE JCP JIBL JRP JuS JZ K&R krit. KWG l.Sp. Leg.Stud. LQR LS m.E. maW Mich.L.R. MindestkapG MJ MLR mwN NBW n.F. NJW Northw.J.In.L.Bus. NZBau NZM OGH ORDO öVfGH Oxf. J.Leg.Stud. Oxf.Rev.Econ.Pol.

Internationales Privatrecht Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiete des Internationalen Privatrechts (Entscheidungssammlung; Jahr, lfd. Nr.) im Sinne von Ius Commune – Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt a.M. (Band [Jahr] Seite) in Verbindung mit im weiteren Sinne Journal of Law & Economics (Jahrgang [Jahr] Seite) Journal of Law, Economics and Organization Journal of Legal Studies Journal of Contract Law (Jahrgang [Jahr] Seite) The Journal of Criminal Law (Jahrgang [Jahr, Seite) Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht (Jahr, Seite) Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler (Tagungsjahr, Seite) Juristische Blätter (Jahr, Seite) The Journal of Business Law (Jahr, Seite) Journal of Comparative Economics Journal of Consumer Policy (Jahrgang [Jahr], Seite) Journal of International Business Law (Jahrgang [Jahr] Seite) Journal für Rechtspolitik (Jahr, Seite) Juristische Schulung (Jahr, Seite) Juristenzeitung (Jahr, Seite) Kommunikation und Recht (Jahr, Seite) kritisch Kreditwesengesetz linke Spalte Legal Studies, The Journal of the Society of Public Teachers of Law (Jahrgang [Jahr] Seite) Law Quaterly Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Leitsatz meines Erachtens mit anderen Worten Michigan Law Review Gesetz zur Neuregelung des Mindestkapitals bei der GmbH Maastricht Journal of European and Comparative Law (Jahrgang [Jahr] Seite) Modern Law Review (Jahrgang [Jahr] Seite) mit weiteren Nachweisen Nieuw Burgerlijk Wetboek neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift (Jahr, Seite) Northwestern Journal of International Law and Business Neue Zeitschrift für Baurecht Neue Zeitschrift für Mietrecht Oberster Gerichtshof (Österreich) Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Jahr, Seite) österreichischer Verfassungsgerichtshof Oxford Journal of Legal Studies (Jahrgang [Jahr] Seite) Oxford Review of Economic Policy (Jahrgang [Jahr] Seite)

XV

Abkürzungsverzeichnis Pa. JIEL Pa.L.Rev. PECL pr.ALR Proc.Brit.Acad. ProdHG r.Sp. RabelsZ RdL Rev.trim.dr.civ. RIW RL Rn.

Rs. Rspr. S. S./s. s.a. s.o. SE SEEG Slg. Sps. Stud.Gen. StudZR Tz.

u.a. UAbs. u.a.m. UKlaG umstr. UP verb.Rs. VerbrKrG vgl. VIZ VuR WiB WM WpÜG WRP WSA WuW Yale L. J. z.B. z.T.

XVI

University of Pennsylvania Journal of International Economic Law University of Pennsylvania Law Review (Jahrgang [Jahr] Seite) Principles of European Contract Law Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 Proceedings of the British Academy (Jahrgang [Jahr], Seite) Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte rechte Spalte Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (Jahrgang [Jahr] Seite) Recht der Landwirtschaft Revue trimestrielle de droit civil (Jahrgang [Jahr] Seite) Recht der Internationalen Wirtschaft – Betriebs-Berater International (Jahr, Seite) Richtlinie Randnummer; im Zusammenhang mit Entscheidungen des EuGH regelmäßig (außer bei älteren Entscheidungen) zur Verweisung auf die Absätze der Entscheidungsgründe verwandt (s.a. Tz.) Rechtssache (Aktenzeichen des EuGH) Rechtsprechung Satz/Seite Siehe/siehe siehe auch siehe oben Societas Europea Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft Amtliche Sammlung des EuGH Spiegelstrich Studium Generale (Jahr, Seite) Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft (Jahr, Seite) Textziffer; im Zusammenhang mit Entscheidungen des EuGH regelmäßig zur Verweisung auf Ausführungen in den Schlußanträgen des Generalanwaltes verwandt (s.a. Rn.) unter anderem Unterabsatz und andere(s) mehr Unterlassungsklagengesetz umstritten Unidroit Principles of International Commercial Contracts verbundene Rechtssachen (s.a. Rs.) Verbraucherkreditgesetz vergleiche Zeitschrift für Vermögens- und Immobilienrecht Verbraucher und Recht (Jahr, Seite) Wirtschaftsrechtliche Beratung (Jahr, Seite) Wertpapier-Mitteilungen Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz Wettbewerb in Recht und Praxis (Jahr, Seite) Wirtschafts- und Sozialausschuß Wirtschaft und Wettbewerb (Jahr, Seite) Yale Law Journal zum Beispiel zum Teil

Abkürzungsverzeichnis ZaöRV ZfRV ZGR ZLR ZPO ZUM zust. zutr. ZVglRWiss

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (Jahrgang [Jahr] Seite) Zeitschrift für Rechtsvergleichung (Jahr, Seite) Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht (Jahr, Seite) Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (Jahr, Seite) zustimmend zutreffend Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft (Jahrgang [Jahr] Seite)

XVII

§ 1 Europäische Methodenlehre – Begriff, Inhalte und Bedeutung Karl Riesenhuber Übersicht I. Europa und Methodenlehre   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . II. Inhalte der Europäischen Methodenlehre   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . III. Begriff der Europäischen Methodenlehre   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .

I.

1 2 4

Europa und Methodenlehre

In vielen Lehrbüchern zum nationalen Recht sucht man das Stichwort Europa nach wie vor vergebens, ebenso in vielen Büchern zur Methodenlehre. Manchmal findet sich dort nicht mehr als ein Hinweis oder die Erörterung von Einzelfragen auf wenigen Seiten oder sogar nur in einer Fußnote. Auf der anderen Seite stoßen Lehre und vor allem die Praxis immer wieder auf Methodenfragen im Zusammenhang mit dem Europäischen Recht. Tatsächlich findet man in der Literatur zunehmend Hinweise auf eine spezifische Methodenlehre. So ist schon in den 1970er Jahren der „Beginn einer Methodenlehre des Rechts der EWG“ beobachtet worden.1 Gerade auch im Hinblick auf die Rechtsangleichung in Europa ist von einer „harmonisierenden Auslegung“ 2 sowie von einer „international brauchbaren Auslegung“ 3 gesprochen worden. Man hat ein „europäisches Gemeinrecht der Methode“ 4 gefordert. Eine „europarechtliche Methodenlehre“, zu der neben methodischen Fragen wie der Auslegung und Rechtsfortbildung auch materiell-rechtliche Fragen gerechnet werden, ist konzipiert und kürzlich näher ausgeführt worden.5 Man hat auf das Verhältnis von „juristischer Methode und Europäischem Privatrecht“ hingewiesen.6 Und schließlich ist die Ausbildung einer „gemeineuropäische Methodenlehre“ gefordert und jüngst als Programm formuliert worden.7 1 Fikentscher, Methoden des Rechts III, S. 784 –786: „Es kann nicht ausbleiben, daß auch das Recht der EWG eine eigene Methodik entwickelt.“ Als Forderung formuliert sodann von Behrens, EuZW 1994, 289; auch Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (freilich weithin rechtspolitisch; zu Einzelfragen der Methodenlehre S. 66 –76). 2 Odersky, ZEuP 1994, 1– 4. 3 Berger, FS Sandrock, S. 49 – 64. 4 Berger, ZEuP 2001, 4 – 29. 5 Langenbucher, JbJZ 2000, 65, 67; jetzt dies., in: dies. (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, S. 25 – 66; auch Müller/Christensen, Juristische Methodik II – Europarecht (2003). 6 Flessner, JZ 2002, 14 – 23. 7 Häberle, EuGRZ 1991, 261, 272; ders., Europäische Rechtskultur, S. 66; ähnlich Kramer, in: HeinzDieter Assmann/Gert Brüggemeier/Rolf Sethe (Hrsg.), Unterschiedliche Rechtskulturen – Konvergenz des Rechtsdenkens (2001), S. 31– 47; jetzt Vogenauer, ZEuP 2005, 234 – 263.

Karl Riesenhuber

1

Einleitung

Nicht nur die Begriffe unterscheiden sich, sondern auch die Inhalte. Die Inhalte müssen die Grundlage für die Begriffswahl sein.

II.

Inhalte der Europäischen Methodenlehre

Schon früh ist darauf hingewiesen worden, daß das Europäische Recht wie jedes Recht seine eigenen Methoden hat.8 In diesem Band werden die Methodenfragen untersucht, die mit dem Europäischen Recht in Zusammenhang stehen, speziell dem Privatrecht. Dafür sind zunächst einige Grundlagen zu legen. Es geht um die Grundlagen des Europäischen (Privat-) Rechts, die in der Rechtsvergleichung (§ 2) und der ökonomischen Theorie (§§ 3, 3.1) liegen. Vor der Erörterung von Einzelfragen sind anschließend die Rechtsquellen des Europäischen (Privat-) Rechts zu bestimmen (§ 4). Sie finden sich im Primärrecht und im Sekundärrecht. Beide Bereiche weisen Besonderheiten auf und sind daher auch gesondert zu untersuchen. Zunächst ist die Auslegung und Fortbildung von primärem Unions- und Gemeinschaftsrecht zu erörtern (§ 5). Ebenfalls dem primärrechtlichen Bereich kann man auch die primärrechtskonforme Auslegung zurechnen (§§ 6, 6.1). Sie betrifft zwar nicht das Primärrecht selbst, sondern das Sekundärrecht und das nationale Recht, doch ist sie primärrechtlich determiniert. Das Europäische Privatrecht findet sich überwiegend im Sekundärrecht. Gerade für den Bereich des Privatrechts ist hier zunächst das grundlegende Thema der Systembildung zu untersuchen (§ 7), denn es ist nach wie vor umstritten, ob die Rechtsetzung der Gemeinschaft im Privatrecht als System begriffen werden kann. Zudem weist das System aber durch seine Verbindung mit dem nationalen Recht Besonderheiten auf. Und nicht zuletzt ist es geradezu andauernd in der Entwicklung befindlich. Für die Praxis stehen drei methodische Einzelfragen im Vordergrund. Praktisch jeder gemeinschaftsrechtlich beeinflußte Fall wirft Fragen der Auslegung des Sekundärrechts auf; sie sind in vielem ähnlich zu beantworten wie im nationalen Recht, doch gibt es schon hier Besonderheiten (§ 8). Öfter finden sich im Sekundärrecht Generalklauseln; prominente Beispiele sind die AGB-Richtlinie, die Handelsvertreter-Richtlinie und jetzt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken. Auch bei der Konkretisierung von Generalklauseln im Gemeinschaftsrecht stellen sich teilweise besondere Fragen, der EuGH beginnt hier, eine eigene Methodik zu entwickeln (§ 9). Und endlich wirft auch die Rechtsfortbildung im Sekundärrecht Fragen auf. Hier gilt es besonders, die Legitimation der Rechtsfortbildung zu ergründen (§ 10).

8 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569 – 597; jetzt Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 235 – 240, mit Hinweis auf die Notwendigkeit einer einheitlichen Methodenlehre.

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Karl Riesenhuber

§ 1 Europäische Methodenlehre – Begriff, Inhalte und Bedeutung

Da es sich bei dem System des Europäischen (Privat-) Rechts um ein „Zwei-EbenenSystem“ handelt, bei dem das Gemeinschaftsrecht und die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zusammenwirken, wirft auch die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts im nationalen Recht spezifische Fragen auf. Das betrifft besonders die Umsetzung von Richtlinien. Vor allem stellt sich die Frage, ob und inwieweit das mitgliedstaatliche Recht richtlinienkonform ausgelegt werden kann und muß (§ 12). Hier wirken gemeinschaftsrechtliche Anforderungen und mitgliedstaatliche Methodenlehre zusammen. Darüber hinaus wirft aber auch die sogenannte überschießende Umsetzung von Gemeinschaftsrecht neben rechtlichen auch methodische Fragen auf (§ 13). Es geht insbesondere darum, ob die überschießende Umsetzung gemeinschaftsrechtskonform auszulegen ist und ob die mitgliedstaatlichen Gerichte dem EuGH Auslegungsfragen im Hinblick auf die überschießende Umsetzung vorlegen dürfen. Diese Fragen werden nicht nur theoretisch untersucht, sondern in einem Besonderen Teil auch exemplarisch für einzelne Teilgebiete des Privatrechts vertieft: für das Europäische Vertragsrecht (§ 14), das Europäisches Arbeitsrecht (§ 15) sowie das Europäische Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht (§§ 16, 17). Weiterhin wird erörtert, wie der Europäische Gerichtshof (§ 18) und der deutsche Bundesgerichtshof (§ 19) mit Methodenfragen des Europäischen Rechts umgehen. Das bietet nicht nur die Möglichkeit, Methodenaussagen zu überprüfen. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, inwieweit spezielle Rechtsgebiete spezielle Methodenfragen aufwerfen. Bei alledem geht es nicht nur darum, die die vorgefundene Praxis zu resümieren.9 Auch an dieser Stelle soll „der Verzwergung der Rechtswissenschaft zur Rechtsprechungskunde“ entgegengewirkt werden.10 Methodenlehre wird – wie aus dem nationalen Bereich bekannt – nicht als eine empirische Beschreibung verstanden, sondern vielmehr als eine Lehre von der rechtlich richtigen, rationalen, überzeugenden und vorhersehbaren Rechtsfindung. Methodenlehre ist damit – ungeachtet mancher Vorurteile – eine ausgesprochen praktische Disziplin. Methodenfragen stellen sich schon den Gemeinschaftsorganen, wenn sie das Primärrecht anwenden, z.B. das Kartellrecht und die Grundfreiheiten. Methodenfragen stellen sich aber auch den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern, z.B. wenn sie Richtlinien umsetzen: Wie sind diese auszulegen? Welche Folgen hat eine überschießende Umsetzung? Vor allem muß der Rechtsanwender mit Methodenfragen umgehen. Welche Anforderungen stellt das Primärrecht, und sind Sekundärrecht oder mitgliedstaatliches Recht ggf. primärrechtskonform auszulegen? Was bedeutet das Sekundärrecht und ist das mitgliedstaatliche Recht etwa richtlinienkonform auszulegen? Wem steht die Befugnis zu, Generalklauseln zu konkretisieren: Kommt eine Vorlage an den EuGH in Betracht? Usf.

9 10

Das kritisiert mit Recht Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 243. So für das nationale Schuldrecht Canaris, Schuldrecht II/2, S. V f.

Karl Riesenhuber

3

Einleitung

III.

Begriff der Europäischen Methodenlehre

Diese Methodenfragen werden am besten mit dem Begriff der Europäischen Methodenlehre umschrieben.11 Daß es dabei um eine Methodenlehre des Europäischen Rechts geht, wie der Begriff der „europarechtlichen Methodenlehre“ hervorheben soll, versteht sich hier so wie bei dem allgemeinen Begriff der Methodenlehre. Die Kennzeichnung als „gemeineuropäisch“ weist auf der anderen Seite eher auf die Gemeinsamkeiten der nationalen Methoden europäischer Staaten (oder auch der Mitgliedstaaten) hin.12 Das ist zwar insoweit treffend, als das Europäische Recht weithin 13 eine einheitliche (all-„gemeine“) Methodenlehre verlangt. Indes könnte der Begriff zu der Fehlvorstellung verleiten, es ginge um eine in den europäischen (Mitglied-) Staaten einheitliche Methodenlehre, die auch für das autonom-nationale Recht Geltung beansprucht. Ist auch nicht auszuschließen, daß es zukünftig zu einer solchen Konvergenz der nationalen Methoden kommen wird, so ist das doch derzeit nicht abzusehen. – Europäische Methodenlehre.

11 Ebenso jetzt Köndgen, GPR 2005, 105. 12 Ungeachtet weithin bestehender Übereinstimmung unterscheidet sich daher die von Vogenauer, ZEuP 2004, 234 – 263 skizzierte „gemeineuropäischen“ Methodenlehre von dem vorliegenden Ansatz darin, daß dort Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte zentrale Bedeutung beigemessen wird (S. 246 – 252) und die „konstruktiv-dogmatischen“ Elemente erst „zu guter Letzt“ eine Rolle spielen (S. 253). 13 Bei der richtlinienkonformen Auslegung geht es hingegen um die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an die mitgliedstaatliche Methodenlehre.

4

Karl Riesenhuber

1. Teil: Grundlagen § 2 Die Rechtsvergleichung Andreas Schwartze Übersicht I. Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode   .  .  .  II. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Primärrechtliche Ebene   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Sekundärrechtliche Ebene   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Herkömmliche Rechtsangleichung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Neuartige Regelungsinstrumente   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte   .  .  .  .  .  IV. Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Wissenschaftliche Projekte   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Juristische Ausbildung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  V. Zusammenfassung – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

I.

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19 19 20

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Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode

Auf den ersten Blick scheint es keinen Zweifel zu geben, daß die Rechtsvergleichung für das Europäische Privatrecht eine bedeutende Rolle spielt. Die Relevanz dieser Methode fällt besonders ins Auge, wenn man die nebeneinander stehenden nationalen Privatrechtssysteme in Europa, insbesondere in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), betrachtet, die seit jeher reichhaltiges Material für die vergleichende Rechtswissenschaft geliefert und sich auch mittels deren Unterstützung gegenseitig befruchtet haben.1 Aber ähnliches gilt auch für das Europäische Privatrecht im engeren Sinne, nämlich für die privatrechtlichen Regeln der Europäischen Gemeinschaft (EG),2 die zum einen nicht unberührt von den Rechtsordnun-

1 Zu diesen Rezeptionsvorgängen etwa Rainer, Europäisches Privatrecht, S. 69 ff.; Glendon/Gordon/ Osakwe, Comparative Legal Traditions, S. 54 ff.; Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. II, S. 412 ff. 2 Diese sollen im folgenden in Anschluß an Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 31f., als „Europäisches Privatrecht“ bezeichnet werden. Flessner, JZ 2002, 14, 15, bezeichnet es als „Gemeinschaftsprivatrecht“.

Andreas Schwartze

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1. Teil: Grundlagen

gen ihrer Mitgliedstaaten im „rechtsleeren Raum“ entwickelt werden können – vielmehr finden sich dort regelmäßig Bezüge zu den verschiedensten nationalen Bestimmungen, die manchmal bis zu einer Übereinstimmung im Wortlaut gehen – 3 und die zum anderen auf die innerstaatlichen Privatrechte zurückwirken. Das läßt darauf schließen, daß zumindest bei der Entstehung, vermutlich dann aber auch bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts die privatrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten zur Kenntnis genommen und aus gemeinsamen, übergreifenden Perspektiven – hier: des Gemeinschaftsrechts – betrachtet werden, wie es die vergleichende Methode verlangt.4 Inwieweit eine wertende Betrachtung der vorgefundenen Lösungsmöglichkeiten, die nach überwiegender Auffassung einen weiteren Bestandteil der Rechtsvergleichung bildet,5 die Entscheidungen über konkrete Regelungen des Europäischen Privatrechts oder deren Auslegung beeinflußt, kann dagegen nur für den jeweiligen Einzelfall festgestellt werden. Allerdings besteht insoweit kein grundlegender Unterschied zur Entwicklung in den mitgliedstaatlichen Privatrechten, denn auch dort wurde – und wird – die Rechtsvergleichung unabhängig vom Einfluß der europäischen Integration sowohl bei der Gesetzgebung 6 wie in der Rechtsprechung 7 zur Unterstützung herangezogen. Diese Hilfsfunktion wird allgemein sogar als eigentliche Aufgabe der „angewandten“ oder „legislativen“ Rechtsvergleichung angesehen, welche die in erster Linie zweckfreier Erkenntnis dienende „wissenschaftlich-theoretische“ Rechtsvergleichung für die Praxis nutzbar macht.8 Während jedoch auf nationaler Ebene der Vergleich mit ausländischen Regelungen Reformen im Sinne einer inhaltlichen Weiterentwicklung des geltenden Rechts – sei es durch den Gesetzgeber oder den rechtsfortbildenden Richter – dient (Regelungsziel), dürfte für die Europäische Gemeinschaft die Rechtsvergleichung als Ausgangspunkt für die Zusammenführung der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen unter einem „gemeinsamen Dach“ im Vordergrund stehen (Harmonisierungsziel).9 Besonders deutlich wird dies bei der Rechtssetzung der Ge-

3 So etwa Art. 2 lit. d Alt. 3 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, der vor allem mit nordischen Kaufgesetzen übereinstimmt, Schwartze, Europäische Sachmängelgewährleistung beim Warenkauf, S. 98 f.; vgl. auch Grundmann/Bianca-Grundmann, EU-Kaufrechts-Richtlinie, Art. 2 Rn. 34. Zu einem Beispiel aus dem Gesellschaftsrecht Lutter, JZ 1992, 593, 609. 4 Damit beginnt nach allgemeiner Ansicht erst die eigentliche Rechtsvergleichung, vgl. etwa Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 43; ähnlich Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. II, S. 277 ff. 5 So Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 46; a.A. Rabel, in: Rabel/Leser (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze, S. 3. 6 Zur Nutzung durch den deutschen Gesetzgeber Drobnig/Dopffel, RabelsZ 46 (1982), 253 ff.; Drobnig, RabelsZ 50 (1986), 610 ff. 7 Zur Verwendung in der deutschen Rechtsprechung Aubin, RabelsZ 34 (1970), 458 ff.; Reinhart, FS Juristische Fakultät Heidelberg, S. 599 ff.; Mansel, JZ 1991, 529, 529 f. Für das komparative Sichten zur Gewinnung von „europäisch vertretbaren“ Lösungen Flessner, JZ 2002, 14, 19 f. 8 Vgl. nur Brand, JuS 2003, 1082, 1084; Rösler, JuS 1999, 1084, 1087 f.; Koch/Magnus/Winkler von Mohrenfels, IPR und Rechtsvergleichung, S. 310 ff. 9 Damit wird allerdings weder ausgeschlossen, daß Regelungen ohne Vorbild in einem der Mitgliedstaaten neu entwickelt werden, noch daß Reformgesichtspunkte ebenfalls ein Rolle spielen.

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Andreas Schwartze

§ 2 Die Rechtsvergleichung

meinschaft, wo im Bereich des Privatrechts die bislang noch dominierende Rechtsangleichung gerade auf die Nivellierung von Unterschieden zwischen den nationalen Regelungen abzielt. Damit besitzt die Rechtsvergleichung für die Erarbeitung des Europäischen Privatrechts bislang eine ganz ähnliche Funktion wie in anderen Gebieten der Rechtsvereinheitlichung: So wurde mit Hilfe rechtsvergleichender Studien zunächst im Gefüge der neu gebildeten Nationalstaaten ein wesentlicher Teil der Bausteine zusammengetragen, welche für die Errichtung der Kodifikationsgebäude verwendet wurden,10 später sind dann auf dem Fundament derartiger Untersuchungen zu den nationalen Rechten wiederum internationale Einheitsrechte gegründet worden.11 Bei der Rechtsanwendung muß insbesondere ein unterschiedliches Verständnis internationalen Einheitsprivatrechts in den beteiligten Rechtsordnungen durch eine „autonome“, vom jeweiligen nationalen Recht unabhängige und daher andere Rechte mit einbeziehende Auslegung verhindert werden, ebenso wie für das Europäische Privatrecht eine einheitliche Anwendung zu sichern ist. Allerdings werden die mit der Verwendung der rechtsvergleichenden Methode im Gemeinschaftsrecht, speziell auf dem Gebiete des Privatrechts, verbundenen Fragen bisher kaum grundlegend behandelt.12 In den einschlägigen Kommentaren und Lehrbüchern zum Europarecht finden sich nur wenige Hinweise,13 in den Werken zum Europäischen Privatrecht wird das Thema zwar angerissen, aber meist nur kurz erörtert.14 Auch in die Literatur zu Methodenfragen hat es bislang noch wenig Eingang gefunden.15

Zur Unterscheidung von Harmonisierungsfunktion und Regulierungsfunktion bei der Rechtsangleichung bereits Schwartze, Deutsche Bankenrechnungslegung nach Europäischem Recht, S. 115; ähnlich unterscheidet in Regelungs- und Angleichungszweck Riesenhuber, unten, § 8 III 4 a. 10 Etwa für das schweizerische ZGB durch Huber in seinem „System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts“, 4 Bände (1886 –1893). 11 Am prominentesten dürften die Vorarbeiten von Rabel, Das Recht des Warenkaufs I und II (1936 bzw. 1958), für das Einheitliche Kaufgesetz (EKG) und damit auch für das nachfolgende UN-Kaufrecht sein. Allgemein zum Einfluß der Rechtsvergleichung auf die Rechtsangleichung Strömholm, RabelsZ 56 (1992), 611ff. 12 Dies kritisiert schon Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106. 13 Unter Bezug auf die Verflechtung von innerstaatlichem Recht und Gemeinschaftsrecht allein zur Auslegung etwa Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EGV Rn. 47; Oppermann, Europarecht, § 8 Rn. 22; Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 220 EGV Rn. 15; Thun-Hohenstein/Cede/Hafner, Europarecht, S. 77; speziell zum Verwaltungsrecht: Streinz, Europarecht, Rn. 178; zu den Grundrechten von der Groeben/Schwarze-Beutler, Art. 6 EUV Rn. 63. 14 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 47– 51, 71; bei der Auslegung nur kurz Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 143, etwas häufiger im Zusammenhang mit der Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze a.a.O. 1. Teil Rn. 184, 187, 189, 191; in Bezug auf die Hilfe bei der Kommentierung Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 65 –75. Ähnlich wenig findet sich zu konkreten Gemeinschaftsrechtsakten, z. B. Grundmann/Bianca-Grundmann, EU-Kaufrechts-Richtlinie, Art. 2 Rn. 12, Art. 8 Rn. 6. 15 Sehr kurz bei Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 58; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 117 Rn. 227; etwas mehr bei Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 229 – 233 zur Lückenfüllung, sowie Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 385 – 387 zur Rechtsgewinnung, S. 461– 463 zur Auslegung. Daher neuestens das Plädoyer für eine gemeineuropäische Methodenlehre, Vogenauer, ZEuP 2005, 234 ff.

Andreas Schwartze

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1. Teil: Grundlagen

Ich werde daher im folgenden versuchen, den Einsatz der Rechtsvergleichung sowohl bei der Herausbildung des Europäischen Privatrechts (unten II.) wie auch bei dessen Anwendung (unten III.), darüber hinaus ergänzend im Bereich von Forschung und Lehre auf diesem Gebiet (unten IV.), möglichst umfassend darzulegen und die damit verbundenen Problemlagen herauszuarbeiten. Zum Schluß soll deutlich gemacht werden, inwieweit die Rechtsvergleichung im Europäischen Privatrecht methodisch eine besondere Stellung einnimmt bzw. worin diese besteht (unten V.).

II.

Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht

Der Einfluß der rechtsvergleichenden Methode auf die Rechtssetzung im Bereich des Europäischen Privatrechts ist bisher wissenschaftlich fast nicht thematisiert worden, während ihr Einfluß auf die Auslegung 16 immerhin ein wenig mehr Beachtung gefunden hat. Das liegt sicherlich zum Teil daran, daß die Vorgehensweise der Legislative in Ausbildung und Praxis unterbewertet wird und sich die juristische Methode auf die Arbeit mit gegebenen Regelungen konzentriert. Inwieweit die Rechtsvergleichung bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts eingesetzt werden kann, hängt jedoch zum Teil von ihrer Rolle bei der Rechtssetzung ab, so daß auch mit Blick auf die in der Praxis als wichtiger angesehenen Probleme der Interpretation und Fortbildung des Europäischen Privatrechts dieser Bereich zunächst zu untersuchen ist.

1.

Primärrechtliche Ebene

Im EG-Vertrag selbst sind auch mit Mühe Regelungen mit privatrechtlichem Inhalt nur schwer zu entdecken, vielleicht einmal abgesehen vom Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft (Art. 81ff. EG), welches unmittelbar in die Wirksamkeit privater Verträge über konkretes Marktverhalten eingreift.17 Die vier Grundfreiheiten sowie die Kompetenznormen für die Rechtsangleichung, wie Art. 94 und 95 EG oder Art. 44 Abs. 2 lit. g EG, wirken dagegen allenfalls mittelbar auf das Privatrecht ein, indem sie die Grundlage für eine negative 18 oder aber eine positive Harmonisierung privatrechtlicher Vorschriften bieten, selbst jedoch keine inhaltlichen Vorgaben für diesen Bereich enthalten.

16 Dazu unten III. 17 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 33, der außerdem noch das Diskriminierungsverbot des Art. 141 EG hinzurechnet. 18 Vom EuGH bisher abgelehnt, EuGH v. 24.1.1991 – Rs. C-339/89 Alsthom Atlantique, Slg. 1991, I-107; EuGH v. 13.10.1993 – Rs. C-93/92 CMC Motorradcenter, Slg. 1993, I-5009; dazu Foglar-Deinhardstein, ZfRV 2005, 22 ff.

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Andreas Schwartze

§ 2 Die Rechtsvergleichung

Damit verbleiben im Primärrecht allein die allgemeinen Rechtsgrundsätze, welche die Bestimmungen des EG-Vertrages dort ergänzen, wo dieser Lücken aufweist. Ausdrücklich erfolgt ein Verweis auf derartige gemeinsame Prinzipien nur für den Bereich der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft (Art. 288 Abs. 2 EG), aber der Europäische Gerichtshof ergänzt auch in anderen – allerdings wie bei den Grundrechten meist nicht privatrechtlich gelagerten – Fällen das unvollständige Primärrecht unter Berufung auf Art. 220 Abs. 1 EG.19 Um in allen Mitgliedstaaten vorfindbare Grundregeln für eine bestimmte Fragestellung zu ermitteln, müssen sämtliche nationalen Rechtsordnungen innerhalb der Gemeinschaft daraufhin untersucht werden.20 So hat der EuGH, immerhin im weiteren Bereich des Schadensersatzrechts, die Haftung der Mitgliedstaaten gegenüber den Bürgern aufgrund einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts unter anderem mit dem Verweis auf die allgemeinen Haftungsgrundsätze in den nationalen Rechtsordnungen begründet.21 Welcher Rechtssatz dann aus den vorgefundenen Regelungen abzuleiten ist, bleibt allerdings der Bewertung durch den EuGH überlassen, die er an den Aufgaben und Zielen der Gemeinschaft ausrichtet. Damit nimmt er eine rechtsvergleichende Analyse 22 vor, was dazu führt, daß kein gemeinsamer Nenner gesucht wird: Konkret hält der EuGH in der eben erwähnten Entscheidung kein Verschulden für erforderlich, obwohl diese Voraussetzung in vielen Mitgliedstaaten für die Staatshaftung verlangt wird.23 Abgesehen vom dargestellten engen Bereich der ausschließlichen Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinschaft führt die vergleichende Ermittlung privatrechtlicher allgemeiner Rechtsgrundsätze jedoch nicht zu eigenständigem Gemeinschaftsrecht,24 sondern kann nur bei der Anwendung und Auslegung bestehender Rechtsakte helfen.25 Im Bereich der Primärrechtssetzung hat die Rechtsvergleichung für das Europäische Privatrecht daher nur geringe Bedeutung.

19 Daig, FS Zweigert, S. 401 nennt hier als weitere Beispiele die Frage, was unter einem „Gericht“ i.S.v. Art. 177 EGV (jetzt Art. 234 EG) zu verstehen ist, oder wann eine Willenserklärung als zugegangen gilt. Vgl. auch Schulze, ZfRV 1997, 183, 188; ders., ZEuP 1993, 442, 454 f. 20 Zu dieser Lückenfüllungsfunktion der Rechtsvergleichung bereits Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106, 109 f. 21 „… eine Ausprägung des in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten geltenden allgemeinen Grundsatzes, daß eine rechtswidrige Handlung oder Unterlassung die Verpflichtung zum Ersatz des verursachten Schadens nach sich zieht …“, EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029 Rn. 29; vgl. dazu Schroeder, JuS 2004, 180, 184. 22 Sog. „wertende“ Rechtsvergleichung, wie sie sich vor allem im Bereich der Grundrechte herausgebildet hat; dazu näher Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1.Teil Rn. 184 ff. 23 Schroeder, JuS 2004, 180, 184. 24 So dezidiert Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1.Teil Rn. 182, Rn. 187 ff.; ähnlich Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 35. 25 Dazu unten III.1.

Andreas Schwartze

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1. Teil: Grundlagen

2.

Sekundärrechtliche Ebene

Das Europäische Privatrecht im oben beschriebenen Sinne beruht bisher fast ausschließlich auf Rechtsakten des sekundären Gemeinschaftsrechts, vor allem auf Richtlinien und Verordnungen. Die Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich des Internationalen Privat- und Prozeßrechts, deren Abschluß im EGVertrag vorgesehen ist (Art. 293 EG), vor allem das Europäische Schuldvertragsübereinkommen (EVÜ) 26 sowie das ehemalige Europäische Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ),27 bilden eine Ausnahme: Bei ihnen handelt es sich um völkerrechtliche Verträge, die jedoch eng mit dem Gemeinschaftsrecht verknüpft sind (wie sich insbesondere an der Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung dieser Instrumente zeigt). Sie werden allerdings nach der Erweiterung der Gemeinschaftskompetenzen durch Art. 65 EG Schritt für Schritt als Verordnungen in das Sekundärrecht überführt. Mittels dieser Rechtsakte agieren die zuständigen Gemeinschaftsorgane bisher ähnlich wie nationale Gesetzgeber, indem sie bindende Regelungen für privatrechtliche Beziehungen aufstellen (unten a). Vor allem im Bereich des Vertragsrechts, aber in Ansätzen ebenso im Gesellschaftsrecht (etwa bei der Koordinierung der nationalen Corporate Governance-Kodizes durch ein europäisches Forum sowie bei der Bereitstellung eigenständiger europäischer Gesellschaftstypen), ist jedoch mittlerweile eine neuartige Strategie der Kommission zu erkennen, mit der sie sich aus der Rolle eines klassischen Rechtssetzers zurückzieht: Nach ihrem Aktionsplan zum Vertragsrecht 28 soll in Zukunft auf die herkömmliche Rechtsangleichung weitgehend verzichtet werden, vielmehr werden Regelungssysteme in Aussicht gestellt, an denen sich die privaten Parteien orientieren sollen (gemeinsamer Referenzrahmen) oder vermittels derer sie ihre vertraglichen Beziehungen gestalten können (optionelles Instrument). Damit operiert die Gemeinschaft wie „Formulierungsagenturen“ (formulating agencies), etwa UNIDROIT oder die International Chamber of Commerce (ICC), welche ohne legislative Befugnis im internationalen Wirtschaftsrecht den Akteuren einheitliche Bestimmungen an die Hand geben (unten b). Der Einfluß der Rechtsvergleichung soll für diese beiden unterschiedlichen Arten der Rechtssetzung im Europäischen Privatrecht getrennt dargestellt werden.

26 Übereinkommen von Rom über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht v. 19.6.1980, konsolidierte Fassung, ABl. 1998 Nr. C 27/34. 27 Übereinkommen von Brüssel über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 27.9.1968, konsolidierte Fassung, ABl. 1998 Nr. C 27/1. 28 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1.

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Andreas Schwartze

§ 2 Die Rechtsvergleichung

a)

Herkömmliche Rechtsangleichung

Üblicherweise wird dem Entwurf eines Rechtsaktes der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Privatrechts eine – regelmäßig eher kurz gehaltene – Bestandsaufnahme vorausgeschickt, in der die Regelungen des betroffenen Sachgebiets in den Mitgliedstaaten dargestellt werden. Teilweise geschieht dies im Rahmen eines „Grünbuchs“, mit dem das Bedürfnis einer Maßnahme auf Gemeinschaftsebene begründet werden soll (so etwa zur Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 29 oder zur Umwelthaftungsrichtlinie,30 im Zivilprozessrecht zum Mahnverfahren,31 sehr viel detaillierter rechtsvergleichend sind dagegen die Berichte zum EuGVÜ 32 sowie zum EVÜ 33 verfaßt). Damit wird auch bereits eine wichtige Funktion dieser Art der Darstellung der verschiedenen Rechtsordnungen deutlich: Mit den dort angeführten Regelungsunterschieden in den Rechten der Mitgliedstaaten werden negative Auswirkungen auf den Binnenmarkt verbunden, so daß eine rechtsangleichende Maßnahme zumindest sinnvoll erscheint und insoweit die Voraussetzungen der Kompetenzgrundlagen, etwa der Art. 95, 44 Abs. 2 lit. g, 293 EG, als gegeben angesehen werden können.34 Zur Rechtfertigung der Harmonisierung reicht jedoch regelmäßig das Aufzeigen von Unterschieden zwischen den nationalen Rechtsordnungen aus, ohne daß es einer vertieften inhaltlichen Bewertung dieser Regelungsdifferenzen bedarf.35 Damit kommt es auf einen als wesentlich angesehenen Bestandteil der Rechtsvergleichung gar nicht mehr an, sondern es bleibt bei der bloßen Darstellung unterschiedlicher Bestimmungen. Außerdem genügt in der Regel eine Gegenüberstellung der Gesetzeslage im Sinne einer Normenvergleichung, ohne daß noch auf Unterschiede in Rechtsprechung oder Rechtspraxis einzugehen ist. Schließlich ist auch die Auswahl der Rechtsordnungen begrenzt: Sie beschränkt sich auf die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, weil nur sie für die Frage des Regelungsbedarfs ausschlaggebend ist. Diese letztlich aufgrund der begrenzten Einzelermächtigung des Gemeinschaftsgesetzgebers erforderliche Methode der Kompetenzbegründung erfordert daher nur eine reduzierte Art der Rechtsvergleichung.

29 Grünbuch der Kommission v. 15.11.1993 über Verbrauchsgütergarantien und Kundendienst, KOM(93) 509 endg. 30 Grünbuch der Kommission v. 14.3.1993 über die Sanierung von Umweltschäden, KOM (1993) 47 endg. 31 Grünbuch der Kommission v. 20.12.2002 über ein Europäisches Mahnverfahren und über Maßnahmen zur einfacheren und schnelleren Beilegung von Streitigkeiten mit geringen Streitwert, KOM(2002) 746 endg., S. 53 ff.; dazu der Vorschlag v. 25.5.2004 zueiner entsprechenden Verordnung, KOM(2004) 173 endg. 32 Bericht von Herrn P. Jenard zu dem Übereinkommen v. 27.9.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 1979 Nr. C 59/1 (Jenard-Bericht). 33 Bericht über das Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht von Herrn Mario Giuliano, Professor an der Universität Mailand, und Herrn Paul Lagarde, Professor an der Universität Paris I, ABl. 1980 Nr. C 282/1 (Giuliano-Lagarde-Bericht). 34 Ähnlich Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106, 116 ff., der für die Rechtsangleichung allerdings den Nachweis verlangt, daß zumindest in einem Mitgliedstaat bereits eine Regelung vorhanden sein müsse. 35 Allenfalls muß noch festgestellt werden, ob das Ausmaß der Unterschiede die Gemeinschaftsziele in dem Maße beeinträchtigt, daß ein Tätigwerden auf EG-Ebene erforderlich ist.

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1. Teil: Grundlagen

Eine weitere Funktion der Rechtsvergleichung bei der Angleichung des Privatrechts durch die Gemeinschaft könnte in der Orientierung der zu erlassenden Bestimmungen an in einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Regelungen bestehen. Dies entspräche der klassischen Verwendung komparativer Studien bei der Rechtssetzung sowohl für Reformen auf nationaler Ebene 36 wie bei der Schaffung internationalen Einheitsrechts.37 Ebenso wenig wie staatliche Gesetzgeber und internationale Regelsetzer ist die Gemeinschaft jedoch gehalten, ihre Rechtsvorschriften an denen von Mitgliedstaaten auszurichten. Unterschiede zwischen den mitgliedstaatlichen Privatrechten können vielmehr auch dadurch entschärft oder ausgeglichen werden, daß in sämtlichen Rechtsordnungen völlig neuartige Bestimmungen eingeführt werden. Andererseits muß sich die Gemeinschaft bei der rechtsvergleichenden Ermittlung einer angemessenen Problemlösung im Bereich des Rechtsangleichungsakts nicht auf die Rechtslage in den Mitgliedstaaten beschränken, sondern kann auch „externe“ Regelungen berücksichtigen (so etwa bei der Abstimmung der europäischen Rechnungslegungsstandards mit den International Accounting Standards durch die IAS/IFRS-Verordnung 38 sowie die Änderung der Jahresabschluß-Richtlinien 39 oder bei den vom US-amerikanischen System beeinflußten Überlegungen zum zukünftigen Kapitalschutz im Gesellschaftsrecht 40) – immer vorausgesetzt, ihre Rezeption führt nicht zu Friktionen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, deren negative Folgen die positiven Wirkungen der Rechtsangleichung überwiegen. Interessanterweise legt die Gemeinschaft ihre aus den Mitgliedstaaten übernommenen Anregungen für Harmonisierungsnormen weniger offen, als dies bei nationalen Gesetzgebungsprojekten oder Entwürfen internationalen Einheitsrechts der Fall ist.41 Anscheinend soll vermieden werden, daß die jeweilige Vorbildrechtsordnung als Grundlage für die Auslegung herangezogen werden kann und auf diese Weise das Gemeinschaftsrecht von einzelnen Mitgliedstaaten geprägt wird. Das wäre mit der Vorstellung einer „autonomen“ Rechtsordnung auf der Ebene der EG nicht vereinbar.42 Vielfach wird allerdings von außen, d.h. durch Wissenschaft und

36 So etwa bei der Erarbeitung des niederländischen „Nieuw“ Burgerlijk Wetboek, vgl. Hondius, AcP 191 (1991), 378, 394 f. 37 Dazu bereits Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 254 ff. 38 Verordnung 1606/2002/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 Nr. L 243/1. 39 Richtlinie 2003/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 18.6.2003 zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG, 83/349/EWG, 86/635/EWG und 91/674/EWG über den Jahresabschluß und den konsolidierten Abschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, von Banken und anderen Finanzinstituten sowie von Versicherungsunternehmen, ABl. 2003 Nr. L 178/16. 40 Aktionsplan „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union“ v. 21.5.2003, KOM(2003) 284 endg., S. 21. 41 So auch Lutter, JZ 1992, 593, 602. 42 Davon abgesehen wäre es wohl auch politisch unklug, zumindest vor Verabschiedung der Rechtsakte die inhaltliche Nähe zum Recht bestimmter Mitgliedstaaten deutlich zu machen, da dies unter Umständen Abwehrreaktionen der übrigen, die weniger erfolgreich waren, zur Folge haben könnte. Ähnlich Schulze, ZfRV 1997, 183, 189.

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§ 2 Die Rechtsvergleichung

Praxis, versucht, das Ausmaß der Übereinstimmung von Gemeinschaftsbestimmungen mit – meist nationalen – Vorschriften mit Hilfe der Rechtsvergleichung zu ermitteln: So wird etwa der Klauselrichtlinie ein prägender Einfluß des – mittlerweile in das BGB überführten – deutschen AGB-Gesetzes zugeschrieben, insbesondere beim Prinzip der Überprüfung von mißbräuchlichen Klauseln in jedem Zivilverfahren sowie bei der Ausrichtung dieser Kontrolle an Treu und Glauben.43 Sichtbar wird eine Verwendung rechtsvergleichender Methoden bei der herkömmlichen Rechtsangleichung daher meist ausschließlich in den zur Rechtfertigung der Harmonisierungsziele vorgenommenen Zusammenstellungen der Regelungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, während ihr Einfluß auf die Inhalte und damit auf die Regelungsziele der Rechtsakte im Einzelnen erst nachträglich durch vergleichende Analysen zu entschlüsseln versucht wird. b)

Neuartige Regelungsinstrumente

Im Aktionsplan für „ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht“ werden die dort vorgeschlagenen Maßnahmen der Gemeinschaft soweit es den Inhalt, also das Regelungsziel betrifft, erstmals offen auf eine breite rechtsvergleichende Grundlage gestellt.44 So sollen als „Basisquellen“ für den gemeinsamen Referenzrahmen „die geltenden nationalen Rechtsordnungen“ herangezogen werden.45 Dazu scheinen auf den ersten Blick nur die der Mitgliedstaaten zu gehören, denn als Ziel wird unter anderem ein „gemeinsamer Nenner“ ins Auge gefaßt. Zumindest der Vergleich mit „geeigneten Drittstaaten“ wird jedoch ebenfalls angeregt, da eine Annäherung der Vertragsrechte auch im Verhältnis zu diesen bezweckt wird.46 Außerdem soll es nicht beim bloßen Normenvergleich bleiben, vielmehr ist ausdrücklich auch „die Rechtsprechung der nationalen Gerichte … und die bestehende Vertragspraxis“ zu berücksichtigen.47 Schließlich wird der Vergleichsraum über die traditionelle Rechtsvergleichung hinaus vergrößert, indem Einheitsprivatrecht, sowohl in Form vorhandener Gemeinschaftsregelungen wie auch internationaler Instrumente, etwa das UN-Kaufrecht, mit einzubeziehen ist,48 welches seinerseits wiederum auf rechtsvergleichenden Erwägungen beruht. Dabei wird wohl auch erwartet, daß Regelungen des internationalen Einheitsrechts aufgrund ihres neutralen Charakters den Mit-

43 Daneben wird aber auch die französische Herkunft einiger Vorschriften vermutet, wie etwa beim Merkmal des erheblichen Ungleichgewichts, vgl. Grabitz/Hilf II-Pfeiffer, A 5 (AGBRL) Vorbem. Rn. 32. Zum Einfluß des UN-Kaufrechts auf die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie etwa Grundmann, AcP 202 (2002), 40 ff. 44 So auch Schmidt-Kessel, unten, § 13 VII 1, 3, der von einer rechtsvergleichenden „Großstudie“ spricht. 45 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1, Ziff. 63. 46 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1, Ziff. 62. 47 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1, Ziff. 63. 48 A.a.O. Dafür plädiert schon Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 257 f., sofern ein vergleichbarer sachlicher (oder räumlicher) Bereich gegeben ist.

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1. Teil: Grundlagen

gliedstaaten akzeptabel erscheinen,49 jedoch könnten die in ihnen enthaltenen Einflüsse aus Rechtsordnungen außerhalb der Gemeinschaft das Gegenteil bewirken.50 Nach dem Aktionsplan wird jedenfalls gegenüber der bisherigen Rechtsangleichung der Einfluß der – vergleichenden – Rechtswissenschaft erheblich vergrößert, denn deren Forschungstätigkeiten sollen mit einbezogen und wirtschaftlich gefördert werden.51 Dazu hat wohl auch beigetragen, daß die zunächst auf akademische Initiative hin geleisteten Vorarbeiten bereits umfangreiche Ergebnisse hervorgebracht haben.52 Für das im Aktionsplan langfristig in Aussicht gestellte „optionelle Instrument“, eine von den Parteien wählbare, neben die mitgliedstaatlichen Regelungssysteme tretende zusätzliche Vertragsordnung, wird eine mögliche Hilfestellung der Rechtsvergleichung bei der inhaltlichen Erarbeitung nicht näher beschrieben. Da es jedoch auf dem gemeinsamen Referenzrahmen aufbauen soll,53 wird die dort eingesetzte vergleichende Methode in diesem Bereich weitergehend genutzt. Vergleicht man den beschriebenen komparativen Aufwand für die neuartigen Regelungsinstrumente im Vertragsrecht – zum Gesellschaftsrecht finden sich diesbezüglich keine näheren Angaben – mit dem früher eher reduzierten Einsatz der Rechtsvergleichung bei der herkömmlichen Harmonisierung, dann wird dieser nun für das gesamte Gebiet des Vertragsrechts anscheinend als lohnend angesehen, während ihn die Gemeinschaft in der Vergangenheit bei den überschaubaren Einzelregelungen eher gescheut hat. Die neue Strategie bei der Entwicklung des Europäischen Privatrechts dürfte daher dazu führen, daß die Bedeutung der Rechtsvergleichung in diesem Prozeß zunimmt.

III.

Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht

Während die Verwendung rechtsvergleichender Ansätze im Rahmen der Privatrechtssetzung der Gemeinschaft bisher in der Literatur nur wenig Beachtung gefunden hat, scheint die „rechtsvergleichende Auslegung“ etwas mehr Interesse zu wecken. Dies mag – wie oben bereits erwähnt – daran liegen, daß die Tätigkeit der Gerichte, die regelmäßig Normen interpretieren und damit laufend auf die Rechtsordnung einwirken, aus Sicht von Praxis und Lehre als wichtiger angesehen wird als der meist nur in größeren Abständen erfolgende Eingriff des Gesetzgebers.

49 So Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 60. 50 Auch die Modernität des Einheitsrechts, Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 60, ist relativ: Immerhin gibt etwa das UN-Kaufrecht von 1980 den Stand der Rechtsvergleichung vor mittlerweile mehr als dreißig Jahren wieder. 51 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1, Ziff. 66 ff. 52 Im einzelnen dazu unter IV.1. 53 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1, Ziff. 95.

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§ 2 Die Rechtsvergleichung

Da die Auslegung und Fortbildung des primären Gemeinschaftsrechts 54 anderen Prinzipien folgt als die des auf sekundären Rechtsakten beruhenden Europäischen Privatrechts, wird hier nur letztere, d.h. im wesentlichen die Interpretation von Richtlinien und Verordnungen mit privatrechtlichem Inhalt, auf ihren rechtsvergleichenden Hintergrund hin untersucht. Die Auslegungshoheit auch für diese Normen des Gemeinschaftsrechts liegt letztlich beim EuGH, weshalb dessen Tätigkeit zunächst behandelt wird (unten 1.). Die Gerichte der Mitgliedstaaten haben ebenfalls Europäisches Privatrecht anzuwenden und auch eigenständig auszulegen, solange sie diesbezüglich keine Zweifel haben, die sie gemäß Art. 234 EG dem EuGH vortragen müssten. Darüber hinaus sind sie aber allein für das auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende – in der Regel nach dessen Vorgabe angeglichene – jeweilige nationale Recht zuständig, bei dessen Anwendung die Rechtsvergleichung ebenfalls zum Einsatz kommen könnte (unten 2.).

1.

Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH

Bezieht sich der EuGH als Maßstab für seine Entscheidung auf ein nationales Recht, was nur dann möglich ist, wenn das anzuwendende Gemeinschaftsrecht im Ausnahmefall auf diese Rechtsordnung verweist,55 dann geht er keineswegs rechtsvergleichend vor, denn er stellt nicht mindestens zwei Regelungen einander gegenüber, um ihre Gemeinsamkeiten oder Unterschiede herauszuarbeiten. Vielmehr wendet er, ähnlich wie ein nationaler Richter aufgrund einer Anordnung durch eine Verweisungsnorm des Internationalen Privatrechts, von vornherein eine bestimmte Rechtsordnung an. Auch wenn der EuGH unterschiedliche Sprachfassungen eines Rechtsakts zur Interpretation bestimmter Begriffe heranzieht, liegt darin keine Rechtsvergleichung, denn es handelt sich ja um ein und dieselbe Regelung in gleichermaßen verbindlichen Versionen. Damit ist aus den verschiedenen Sprachen zunächst der genaue, „eigentlich“ beabsichtigte Wortlaut zu ermitteln,56 der dann zum Gegenstand weiterer Auslegung wird. Wenn allerdings die Begriffe jeweils unter Zuhilfenahme der Rechtsordnungen analysiert werden, denen sie entstammen, liegt eine Art indirekte Rechtsvergleichung vor.57 Rein linguistische Vergleiche wird man dagegen regelmäßig weiterhin der Auslegung nach dem Wortlaut zuordnen.58 Damit bleibt – wenn man von der oben bereits erörterten Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze absieht, welche als Lückenschließung der Rechtssetzung zuge-

54 Dazu Pechstein/Drechsler, unten § 5. 55 Vgl. dazu Kohler/Knapp, ZEuP 2002, 701, 706 ff.; Riesenhuber, unten, § 8 II. 56 Lutter, JZ 1992, 593, 599, sieht darin bloße Textkritik. Vgl. auch Martiny, ZEuP 1998, 227, 239 ff. 57 Schulze, ZfRV 1997, 183, 190. Häberle, JZ 1989, 913, spricht insoweit von der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode. 58 Kohler/Knapp ZEuP 2002, 701, 720 f. So auch Riesenhuber, unten § 8 IV.1.b); ebenso bereits Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 266 ff.

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1. Teil: Grundlagen

ordnet wurde – die Nutzung der Rechtsvergleichung durch den EuGH, um im Rahmen der gemeinschaftsautonomen Auslegung Erkenntnisse über mögliche Interpretationsvarianten des Europäischen Privatrechts zu gewinnen 59 und vor allem die privatrechtliche Argumentationsbasis zu verbreitern. Dies ist deshalb erforderlich, weil der EuGH sich bei der Auslegung des EG-Rechts traditionellerweise ganz überwiegend an der Sichtweise des institutionellen Europarechts, im Bereich des Europäischen Privatrechts bisher vor allem an den Zielen des Binnenmarktes sowie der damit verbundenen Rechtsangleichung, kurz: dem Harmonisierungszweck, orientiert. Die in Rede stehenden Rechtsakte, also derzeit – abgesehen von den gemeinschaftsnahen Übereinkommen – Richtlinien oder Verordnungen, bezwecken jedoch daneben immer auch eine inhaltliche, genuin privatrechtliche Problemlösung im Sinne eines Regelungsziels.60 Daher sind Rechtsmeinungen und Streitpunkte aus dem von der Anpassung betroffenen Rechtsgebiet in die Auslegung mit einzubeziehen, um die Sachfragen angemessen zu klären. Während auf EG-Ebene derzeit vor allem eine übergreifende privatrechtliche Systematik fehlt, bieten die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten diesbezüglich einen reichen Fundus, der nicht unbeachtet bleiben sollte. Diese Art der Rechtsvergleichung ist jedoch auf die jeweils verwendete Auslegungsmethode abzustimmen. Im Rahmen der historischen Auslegung einer Richtlinie oder Verordnung könnten etwa die privatrechtlichen Anwendungserfahrungen aus denjenigen Mitgliedstaaten berücksichtigt werden, bei denen bereits vor Erlaß des Gemeinschaftsrechtsakts ähnliche Bestimmungen galten; 61 dies darf jedoch keinesfalls dazu führen, daß auf längere Sicht eine national geprägte Interpretation der gemeinschaftsrechtlichen Regelung nach bestimmten Vorbildern festgeschrieben wird, denn dies widerspräche dem bereits erwähnten autonomen Charakter des Gemeinschaftsrechts.62 Für die systematische Auslegung, die sich ansonsten meist auf benachbartes Gemeinschaftsrecht – hier: andere Richtlinien im Bereich des Privatrechts – bezieht, könnten etwa zusätzlich die Europäischen Vertragsgrundregeln der Lando-Kommission als Hilfsmittel herangezogen werden, wodurch die darin eingeflossene Rechtsvergleichung nutzbar gemacht würde.63 Auch wenn diese principles (noch) 64 kein Gemeinschaftsrecht darstellen, bieten sie, in Anlehnung an die US-amerikanischen Re-

59 Bei Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533, als Inspirationsfunktion bezeichnet. Basedow, in: Zimmermann (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, S. 79, 98, spricht von der horizontalen Funktion einer „komparativen Dogmatik“. 60 So steht etwa bei der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie neben der Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt (BE 3) als Harmonisierungsziel die Stärkung des Vertrauens sowie ein Mindestmaß an Schutz für den Verbraucherkäufer (BE 5, 7) als Regelungsziel. 61 Dies ist jedenfalls dort möglich, wo die Bestimmung, die Modell gestanden hat, hinreichend eindeutig zu erkennen ist, dazu oben II.2.a) bei Fn. 39. Für das UN-Kaufrecht wird unter diesen Umständen eine derartige nationale Einfärbung der Interpretation als Ausnahme von der autonomen Auslegung angeregt, Schlechtriem-Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 10. 62 Schulze, ZfRV 1997, 183, 189; Lutter, JZ 1992, 593, 601f. Vgl. auch Riesenhuber, unten, § 8 II. 63 Ebenso Berger, FS Sandrock, S. 60 f., zur Verwendung der UNIDROIT-Principles. 64 Inwieweit sie bei der Erarbeitung des Gemeinsamen Referenzrahmens bzw. des optionellen Instruments nach dem Aktionsplan, dazu oben II.2.b), verwendet werden, ist noch nicht absehbar.

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§ 2 Die Rechtsvergleichung

statements, ein privatrechtliches Argumentationsreservoir, welches leichter als die nationalen Rechtsordnungen zugänglich ist. Ebenso wie Regelungsentwürfe 65 ergänzen sie andere Auslegungsmittel. Auch im Europäischen Privatrecht könnten damit Lücken geschlossen werden, wie es Art. 1: 101 Abs. 4 PECL grundsätzlich vorsieht.66 Ob darüber hinaus speziell bei der Auslegung von Richtlinien durch den EuGH im Wege der teleologischen Auslegung eine Einbeziehung des von den Mitgliedstaaten in Erfüllung der Umsetzungsverpflichtung angeglichenen nationalen Rechts – einschließlich der jeweiligen Rechtsprechung und Lehre – sinnvoll ist,67 dürfte zweifelhaft sein. In diesem Fall bestünde nämlich die Gefahr, daß die Auslegung der Richtlinie, an deren Inhalt die mitgliedstaatlichen Rechte auszurichten sind,68 von den Umsetzungsregeln in den Mitgliedstaaten beeinflußt wird. Dieser Zirkelschluß ist jedoch zu vermeiden. Festzuhalten bleibt, daß die Auslegungsmethoden in unterschiedlichem Maße Raum für eine Unterstützung durch die Rechtsvergleichung bieten, deren Anwendung in den Entscheidungen des EuGH jedoch nur selten offen gelegt wird.69 Allerdings ist auch bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts das Gemeinschaftsorgan, hier der EuGH, nicht verpflichtet, rechtsvergleichende Analysen vorzunehmen. Insofern besteht kein Unterschied zu den nationalen Gerichten, die bei der Auslegung ihres heimischen Rechts daran ebenso wenig gebunden sind.

2.

Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte

Für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte der Mitgliedstaaten gilt das oben zum EuGH Ausgeführte. Die Anwendung des an die Vorgaben vor allem von Richtlinien angepaßten innerstaatlichen Rechts, bei dem es sich ebenfalls um Europäisches Privatrecht, allerdings in nationalem Gewande, handelt, steht jedoch allein den heimischen Gerichten zu, weshalb dieser Teil ihrer Tätigkeit hier getrennt zu untersuchen ist. Einhelligkeit besteht darüber, daß das vom Gemeinschaftsrecht beeinflußte nationale Privatrecht bei der Rechtsanwendung anders zu behandeln ist, als die allein auf innerstaatlichen Erwägungen gegründeten Rechtssätze. Dies beruht auf der Fortwirkung der europäischen Vorgaben im nationalen Recht.70 Damit wird es erforderlich, einer national geprägten Anwendung und Auslegung des gemeinschaftsrechtlich angeglichenen Rechts entgegenzuwirken und zu einer möglichst einheitlichen Interpretation innerhalb der EG zu gelangen. Dazu kann vor allem ein Vergleich

65 Dazu Riesenhuber, unten, § 8 III 2 c. 66 Auch wenn in erster Linie an Lückenfüllung in einem nationalen Recht gedacht ist, von Bar/Zimmermann (Hrsg.), Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, S. 89 f. 67 So Lutter, JZ 1992, 593, 604. 68 Siehe dazu unten 2. 69 Vgl. Rodriguez Iglesias, NJW 1999, 1, 8; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533. 70 Zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth, unten § 11.

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mit der Rechtsprechung in anderen Mitgliedstaaten zu deren auf dem gleichen Rechtsakt der Gemeinschaft beruhenden Umsetzungsbestimmungen beitragen. Eine derartige „Beobachtung“ parallel ergangener Entscheidungen wird deshalb im internationalen Einheitsrecht vielfach durch spezielle teleologisch geprägte Auslegungsregeln angeregt. So verlangt etwa Art. 7 Abs. 1 CISG unter anderem, bei der Interpretation des Übereinkommens „seine einheitliche Anwendung … zu fördern“, wozu in erster Linie die Aufdeckung möglicher abweichender Auslegung durch die Ermittlung ausländischer Rechtsprechung beiträgt.71 Auch im europäisch verankerten Einheitsrecht wird dieser Grundsatz etwa in Art. 18 EVÜ für die Auslegung des Europäischen Vertragskollisionsrechts ganz ähnlich formuliert und verstanden,72 ebenso in den Europäischen Vertragsgrundregeln (Art. 1 : 106 Abs. 1 S. 2 PECL).73 Wenn auch in den EG-Richtlinien entsprechende Anweisungen fehlen, so verlangt der Vorrang des selbstverständlich einheitlich anzuwendenden Gemeinschaftsrechts eine entsprechende rechtsvergleichend ausgerichtete Interpretation für das angeglichene Privatrecht der Mitgliedstaaten.74 Für den Vergleich heranzuziehen sind allerdings allein die Rechtsordnungen, für die eine einheitliche Auslegung verlangt wird, also die EG-Mitgliedstaaten (einschließlich wohl auch der EWR-Staaten).75 Diese haben in Erfüllung der Umsetzungsverpflichtung ihr nationales Recht angeglichen, so daß jeweils erkennbar wird, wie ihre Gesetzgeber und Gerichte die Zielvorgaben der Gemeinschaft verstehen. Dafür ist es allerdings erforderlich, den Gerichten die notwendigen Informationen über ausländische Gerichtsentscheidungen zugänglich zu machen. Der Aufbau entsprechender Datenbanken, ähnlich wie zum UN-Kaufrecht CLOUT oder UNILEX, steht jedoch noch am Anfang.76 Auch die aufbereitende Literatur fehlt bisher nahezu vollständig, da die Kommentare zu den nationalen Umsetzungsregelungen kaum auf ausländische Entscheidungen zu parallelen Normen in den anderen Mitgliedstaaten eingehen. Inwieweit eine Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte bezüglich dieser Art der Rechtsvergleichung angenommen werden kann, ist wie regelmäßig bei Auslegungs-

71 Schlechtriem-Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 17; Staudinger-Magnus, Art. 7 CISG Rn. 21; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 232. 72 Zur rechtsvergleichenden Orientierung an ausländischer Rechtsprechung etwa in: RummelVerschraegen, ABGB-Kommentar, Art. 18 EVÜ Rn. 13. 73 Inhaltlich übereinstimmend Art. 1.6. UP. 74 Dafür auch Lutter, JZ 1992, 593, 604; Kötz, JZ 2002, 257, 258; Mansel, JZ 1991, 529, 531; weitergehend Odersky, ZEuP 1994, 1, 3 f. Zum dadurch entstehenden Aufwand skeptisch Berger, FS Sandrock, S. 60. 75 Die Schweiz oder andere, etwa osteuropäische, Staaten, in denen Gemeinschaftsrecht teilweise freiwillig übernommen wird („autonomer Nachvollzug“), sind aus dieser Perspektive nicht in die rechtsvergleichenden Überlegungen mit einzubeziehen. 76 Eines der ersten Projekte dieser Art stellt die „JURE Database – JUrisdiction and the REcognition and Enforcement of judgments in civil and commercial matters“ zur EuGVVO, http:// europa.eu.int/comm/justice_home/fsj/civil/recognition/jure/tools/about_en.htm (zuletzt durchgeschaut am 25.7.2005), dar, an der der Verfasser als zuliefernder Experte für österreichische Entscheidungen mitwirkt.

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§ 2 Die Rechtsvergleichung

fragen nur schwer zu bestimmen: Zumindest sollte eine Auseinandersetzung mit dem Richtlinienverständnis in anderen Mitgliedstaaten erkennbar werden, die Bewertung unterliegt dagegen dem Ermessen der Richter. Natürlich besteht keine Bindung an die Entscheidungen ausländischer Gerichte, man sollte ihnen allerdings eine nicht unerhebliche persuasive authority zumessen.77 Da der Bestand des Europäischen Privatrechts in den letzten Jahren zugenommen hat, dürfte vor allem bei den Gerichten der Mitgliedstaaten die Zahl der Entscheidungen zum umgesetzten Recht ansteigen. Damit müsste auch die Bedeutung der rechtsvergleichenden Methode bei der Anwendung dieser Regelungen zunehmen.

IV.

Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht

Im Bereich der Wissenschaft tritt der bislang erörterte Anwendungsbezug der rechtsvergleichenden Methode in den Hintergrund. Dort dient sie weniger als Hilfsmittel, vielmehr erfüllt sie vor allem ihre primäre Funktion, die Erkenntnisse über rechtliche Normen zu bereichern und die Vielfalt möglicher Regelungsmodelle zu veranschaulichen.78 Dadurch eignet sie sich besonders für die juristische Ausbildung,79 wo sie allerdings wiederum eine unterstützende Aufgabe wahrnimmt und ihre praktische Verwertung dominiert. Beide Aspekte, Forschung wie Lehre, wirken sich im Gegenzug auf die zuvor dargestellte Rechtssetzung und Rechtsanwendung aus, soweit die Ergebnisse der wissenschaftlichen Rechtsvergleichung wahrgenommen werden und die rechtsvergleichend ausgebildeten Juristen ihre erworbenen Kenntnisse anwenden. In welchem Maße dies für das Europäische Privatrecht gilt, soll daher ergänzend dargestellt werden.

1.

Wissenschaftliche Projekte

Es drängt sich der Eindruck auf, daß in den letzten Jahren die wissenschaftlich fundierte Rechtsvergleichung mit Bezug zum Europäischen Privatrecht einen starken Aufschwung erlebt hat. Das liegt sicherlich daran, daß eine ganze Anzahl unterschiedlicher Forschungsgruppen oder akademischer Netzwerke gebildet wurden, die sich mit verschiedenen Aspekten dieser Materie befassen: 80 Neben der bereits Anfang der Achtziger Jahre von Ole Lando (Kopenhagen) gegründeten, aber erst etwa zehn Jahre später an die Öffentlichkeit getretenen 81 „Commission on European

77 Ähnlich für das UN-Kaufrecht Schlechtriem-Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 24. 78 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 14. 79 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 20; vgl. auch Brand, JuS 2003, 1083, 1084. 80 Dazu auch Schmidt-Kessel, RIW 2003, 481, 483 f. 81 Lando, RabelsZ 56 (1992), 261ff.

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Contract Law“ beschäftigen sich sowohl die „Academia dei Giusprivatisti Europei“ unter dem Vorsitz von Giuseppe Gandolfi (Pavia) wie auch die von Stefan Grundmann (Berlin) geleitete „Gesellschaft für Europäisches Vertragsrecht (SECOLA)“ mit den Vertragsrechten der Mitgliedstaaten. Ein breiteres Gebiet bearbeiten sowohl die durch Christian von Bar (Osnabrück) geführte „Study Group on a European Civil Code“ mit ihren mittlerweile sieben Untergruppen (einschließlich des in Innsbruck beheimateten Restatement-Projekts zum Versicherungsvertrag) wie die von Hans Schulte-Nölke (Bielefeld) koordinierte „Acquis Group“, die sich am geltenden Privatrecht der Europäischen Gemeinschaft ausrichtet. Weitere derartige think tanks befassen sich mit dem Deliktsrecht („European Centre of Tort and Insurance Law – ECTIL“, geleitet von Helmut Koziol, Wien), dem Verfahrensrecht (Storme-Kommission, mittlerweile unter der Obhut von UNIDROIT) oder generell mit dem „Common Core of European Private Law“ (Mauro Bussani/Ugo Mattei, Trento). Allen diesen Gruppen ist gemeinsam, daß sie dezidiert rechtsvergleichend arbeiten, einige vorwiegend (Acquis Group) oder teilweise (SECOLA) innerhalb des von der Gemeinschaft erlassenen Privatrechts. Ebenfalls sämtliche Initiativen haben bereits umfangreiche Ergebnisse vorgelegt oder planen dies in naher Zukunft, wobei sowohl Regelungstexte entstanden sind – am bekanntesten bisher die Europäischen Vertragsgrundregeln der Lando-Gruppe – wie auch monographisch-deskriptive Untersuchungen. In nächster Zeit könnte es allerdings notwendig werden, die zwar personell teilweise verknüpften aber inhaltlich unabhängig voneinander operierenden Einheiten zu koordinieren oder zumindest die Früchte ihrer Arbeit zu konsolidieren.82 Auf jeden Fall steht schon bisher umfangreiches rechtsvergleichendes Material zur Verfügung, welches von Rechtssetzung und Rechtsprechung sowohl auf Gemeinschaftsebene als auch in den Mitgliedstaaten, aber ebenso von Rechtsanwendern wie etwa Vertragsparteien, verwendet werden kann. In dem Maße, in dem dieses Angebot genutzt wird, steigt auch die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Weiterentwicklung des Europäischen Privatrechts. Der Aktionsplan der Kommission zum Vertragsrecht, in dem die Einbeziehung der Europäischen Vertragsgrundregeln vorgesehen ist und dessen Ausführung zum gewichtigen Teil der „Study Group“ übertragen wurde, zeigt einen gangbaren Weg auf, die Vorteile einer wissenschaftlich fundierten Rechtsvergleichung umfassend auszuschöpfen – auch wenn viele der oben erwähnten Ressourcen dabei noch ungenutzt bleiben.

2.

Juristische Ausbildung

Eine ähnliche Entwicklung wie in der rechtsvergleichenden Forschung deutet sich in den juristischen Studiengängen an: Auf der Grundlage der vermehrt erscheinenden rechtsvergleichend angelegten Lehr- und Handbücher, vom „Europäischen Ver-

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So für die Privatrechtsvereinheitlichung allgemein bereits Kramer, JBl. 1988, 477, 487.

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tragsrecht“ (Kötz/Flessner) 83 über das „Europäische Obligationenrecht“ (Ranieri) 84 bis hin zum „Ius Commune Casebook – Contract Law“ (Beale u.a.) 85, wird eine Einbeziehung der verschiedenen Privatrechte der Mitgliedstaaten im Sinne eines „gemeineuropäischen Privatrechts“ in die Veranstaltungen zum innerstaatlichen Recht erleichtert. Auf diese Weise gelangt die Rechtsvergleichung aus der Abgeschiedenheit der Wahl- oder Nebenfächer in das Zentrum des Rechtsunterrichts. Darüber hinaus wurden bereits Studiengänge entwickelt, in denen die Grundlagen auch des Privatrechts ohne Beschränkung auf eine bestimmte nationale Rechtsordnung vermittelt werden, wie etwa das Beispiel der von Bremen, Oldenburg sowie Groningen getragenen „Hanse Law School“ 86 zeigt. Ähnlich wie in den USA wird in diesem Programm nicht mehr ein regionales (dort: Bundesstaaten-, hier: Mitgliedstaaten-)Recht gelehrt, sondern es werden die wesentlichen Elemente der europäischen Rechtsordnungen übergreifend dargestellt. Auch auf diesem Feld, der Vermittlung des Europäischen Privatrechts, ist damit zu erwarten, daß die Bedeutung der Rechtsvergleichung zunimmt.

V.

Zusammenfassung – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum

Die bisher vorgenommene Einschätzung der Bedeutung der Rechtsvergleichung für das Europäische Privatrecht, nach der diese insgesamt eher zunimmt, basiert auf der derzeitigen Situation, in der sich eine gemeinsame europäische Rechtsordnung noch im Werden befindet – wenn dieser Prozeß anscheinend auch zunehmend an Dynamik gewinnt. Geht man davon aus, daß in der EG mehr und mehr einheitliches Recht entsteht, bis diese Entwicklung irgendwann einmal an ihr Ende kommt, dann sinkt allerdings die Relevanz eines Vergleichs nationaler Rechtsordnungen innerhalb der Gemeinschaft, weil es dafür zunehmend weniger Material gibt sowie ein geringeres Bedürfnis besteht. Ähnlich wie früher zwischen den nationalen Rechtsordnungen nach der jeweiligen internen Vereinheitlichung durch die Zivilrechtskodifikationen Rechtsvergleichung betrieben wurde, könnte jedoch für den Vergleich mit außerhalb der EG bestehenden Privatrechten ein Bedürfnis entstehen. Zumindest im Vertragsrecht, aber wohl auch im Gesellschaftsrecht, erscheint es nach der „Wende“ hin zu freiwilligen statt verpflichtenden Gemeinschaftsregelungen jedoch eher wahrscheinlich, daß in vielen Bereichen neben den derzeit 25 nationalen Regelungssystemen ein weiteres, europäisches Normengefüge dauerhaft etab-

83 Bisher nur Kötz, Europäisches Vertragsrecht, Band I: Abschluß. Gültigkeit und Inhalt des Vertrages. Die Beteiligung Dritter am Vertrag. 84 Ein Handbuch mit Texten und Materialien. 85 Beale/Kötz/Hartkamp/Tallon, Cases, Materials and Text on Contract Law. In der gleichen Reihe van Gerven/Larouche/Lever, Cases, Materials and Text on National, Supranational and International Tort Law, sowie Beatson/Schrage, Cases, Materials and Text on Unjustified Enrichment. 86 http://www.rug.nl/hls/index?lang=de, zuletzt durchgeschaut am 25.7.2005.

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liert wird. Auch für die Wahl zwischen diesen Rechtsordnungen müssen deren Vorund Nachteile im Einzelfall verglichen werden, wodurch sich der Rechtsvergleichung ein zusätzliches Arbeitsfeld erschließt. Letztlich ist aber festzuhalten, daß die Anwendung der Rechtsvergleichung – abgesehen vom Ausnahmebereich der allgemeinen Rechtsgrundsätze 87 – in keinem der betrachteten Gebiete vorgeschrieben wird. Vielmehr hängt ihr Einsatz davon ab, daß die jeweiligen Nutzer (Gesetzgeber, Richter, Praktiker, aber auch Wissenschaftler, Studierende und Lehrende) sich von ihr Vorteile versprechen. Daher kann die Bedeutung dieser Methode auch im Bereich des Europäischen Privatrechts langfristig nur schwer abgeschätzt werden.

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Siehe oben II.1.

Andreas Schwartze

§ 3 Die ökonomische Theorie Christian Kirchner Übersicht I. II.

Problemstellung und Gang der Darstellung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Grundüberlegungen zur Integration ökonomischer Theorieansätze in Interpretationsansätze rechtlicher Regelungen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Grundüberlegungen zur am Normzweck ausgerichteten Interpretationsmethode rechtlicher Regelungen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  IV. Ökonomische Zielorientierung europäischen Gemeinschaftsrechts: Implikation für die Methodik der Interpretation   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Ökonomische Zielorientierung europäischen Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  .  .  .  2. Methodische Implikationen der ökonomischen Zielorientierung des Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Methodische Antworten in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und in der Literatur   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  V. Methodische Defizite herkömmlicher Ansätze   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Methodische Defizite des Zweck-Mittel-Paradigmas   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Methodische Defizite von Wirkungsanalysen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Zwischenfazit  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  VI. Ein ökonomischer Ansatz für vergleichende Wirkungsanalysen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Hypothesenbildung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Unabhängige und abhängige ‚ökonomische‘ Variable   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Wirkungsweise der Änderung von Restriktionen (unabhängigen Variablen)   .  .  4. Rechtliche Regelungen als unabhängige Variable   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  5. Änderung von Restriktionen bei Konstanz der Präferenzen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  6. Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  7. Methodologischer Individualismus/Prinzipal-Agent-Verhältnis  .  .  .  .  .  .  .  .  .  8. Wirkungsanalyse auf der Grundlage des ökonomischen Theorieansatzes   .  .  .  .  VII. Integration des ökonomischen Ansatzes in den rechtswissenschaftlichen Interpretationsansatz   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  VIII. Wahl des ökonomischen Ansatzes   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Vorüberlegungen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Ökonomische Analyse des Rechts: Verwendung des neoklassischen Ansatzes   .  .  3. Ökonomische Theorie des Rechts: Institutionenökonomischer Ansatz   .  .  .  .  .  a) Vorüberlegungen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Annahmen der Institutionenökonomik in der positiven Theorie   .  .  .  .  .  .  .  c) Unterschiedlicher normativer Ansatz   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  IX. Zwischenfazit: eine institutionenökonomische Interpretationsmethode für das europäische Gemeinschaftsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  X. Legislative Rechtsfortbildung: der Beitrag der ökonomischen Theorie   .  .  .  .  .  .  .  1. Vorüberlegungen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Positive Analyse von Normsetzungsverfahren   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Normative Fragestellung aus institutionenökonomischer Sicht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Ökonomische Problematik von Komitologieverfahren   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  XI. Ausblick   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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1. Teil: Grundlagen

I.

Problemstellung und Gang der Darstellung

Die Europäische Gemeinschaft ist eine Rechtsgemeinschaft 1, gerichtet auf Integration. Europäisches Gemeinschaftsrecht ist damit vornehmlich Integrationsrecht. Es zielt auf die ökonomische, politische, rechtliche und soziale Integration der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Im Vordergrund steht die Realisierung des europäischen Binnenmarktes 2, also eine ökonomische Zielsetzung. Diese ökonomische Zielorientierung des Gemeinschaftsrechts sollte sich in einer ‚europäischen Methodenlehre‘ widerspiegeln. Das zentrale methodische Problem einer Integration der ökonomischen Theorie bei der Fortentwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts scheint dort zu liegen, wo Auslegung des Rechts übergeht in judikative Rechtsfortbildung. Der Streit, ob und wie zwischen Normauslegung durch Gerichte und judikativer Rechtsfortbildung zu unterscheiden sei 3, ist hier nicht aufzugreifen. Es steht außer Frage, daß sowohl der Europäische Gerichtshof wie auch das Gericht Erster Instanz Rechtsfortbildung betreiben, indem sie Primär- und Sekundärrecht der Gemeinschaft auslegen. Insbesondere die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs war und ist treibende Kraft im europäischen Integrationsprozeß.4 Die von den Gerichten verwendeten Auslegungsmethoden sind ein wichtiger Faktor für die Rechtsfortbildung des europäischen Gemeinschaftsrechts. Sie steuern bis zu einem gewissen Grad Richtung und Geschwindigkeit der judikativen Rechtsfortbildung. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht deshalb die These, daß die gegenwärtig von den Gerichten angewandten und in der Literatur diskutierten Interpretationsmethoden Defizite aufweisen und daß diese darin begründet liegen, daß bisher die ökonomische Theorie in unzureichendem Maße Eingang in die Interpretationsmethodik gefunden hat. Dann gilt es in einem zweiten Schritt zu klären, wie eine Integration ökonomischer Ansätze in Interpretationsmethoden, die für die Fortentwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts verwendet werden, zu erfolgen hat. Dabei ist entscheidend, welcher ökonomische Ansatz sich für eine solche Integration eignet. Zu trennen sind dabei positive und normative ökonomische Theorie. Während die erste als Realwissenschaft Wissen über Funktionszusammenhänge zwischen Änderungen rechtlicher Regelungen und den dadurch bewirkten Folgen (Wirkungsanalyse) produzieren kann, fragt die normative Theorie nach der wünschbaren Gestaltung rechtlicher Regelungen.

1 Vgl. Hallstein, in: Oppermann/Hallstein (Hrsg.), Europäische Reden, S. 109; ders., Die Europäische Gemeinschaft, S. 51– 57; Zuleeg, NJW 1994, 545; Pernice, in: Zuleeg (Hrsg.), Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas, S. 56 ff.; Mayer, in: Schuppert u.a. (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 429 – 487. 2 Kirchner, in: Schuppert u.a. (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 398 f., 413 – 415. 3 Vgl. zu diesem Streit: Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 618 – 621; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 796–820; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 253 – 257. 4 Vgl. für viele Streinz, Europarecht, Rn. 494.

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§ 3 Die ökonomische Theorie

Neben die skizzierten methodischen Fragen der judikativen Rechtsfortbildung europäischen Gemeinschaftsrechts treten solche der legislativen Rechtsfortbildung, also der Gesetzgebung. Der Beitrag der Ökonomik beruht hier auf der Tatsache, daß es sich bei ihr um eine individualistische Gesellschaftswissenschaft handelt, die nicht von Interessen von Kollektiven ausgeht, sondern von Individualinteressen. Deshalb wird nicht auf das ‚Gemeinschaftsinteresse‘ oder auf ‚nationale Interessen‘ abgestellt, sondern auf die Interessen der Bürger. Dies hat weitreichende Konsequenzen für methodische Fragen der legislativen Normsetzung. Im Vordergrund der hier angestellten Überlegungen stehen allerdings methodische Fragen der judikativen Rechtsfortbildung. Wenn nach einer ‚ökonomischen‘ Interpretationsmethode für das europäische Gemeinschaftsrecht gesucht wird, geht es nicht um eine radikale Abkehr von herkömmlichen Interpretationsmethoden, sondern um ihre sinnvolle Fortentwicklung. Dabei wird es erforderlich sein, im ständigen Perspektivenwechsel – nämlich einmal aus der rechtswissenschaftlichen, dann aus der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweise – die derzeit bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht vorherrschende teleologische Interpretationsweise zu analysieren, zu kritisieren und fortzuentwickeln. Entscheidend für das Gelingen eines derartigen Unterfangens ist nicht nur eine kritische Analyse traditioneller rechtswissenschaftlicher Methodik, sondern ebenso eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen theoretischen Ansätzen der Ökonomik. Der Schwerpunkt dieser Auseinandersetzung wird dabei auf den Unterschieden zwischen dem neoklassischen wohlfahrtstheoretischen und dem institutionenökonomischen Ansatz liegen. Dies ist dann auch die Grundlage für die Frage, wie sich die ökonomische Theorie für eine europäische Methodenlehre der legislativen Normsetzung fruchtbar machen läßt. Es ist innerhalb der Institutionenökonomik weiter zu differenzieren. Dabei gelangt die Subdisziplin Konstitutionenökonomik (ökonomische Theorie der Verfassung, constitutional economics) in den Blick, aus deren Perspektive sich Gesetzgebungsfragen oftmals grundlegend anders darstellen als in rechtswissenschaftlichen Ansätzen.

II.

Grundüberlegungen zur Integration ökonomischer Theorieansätze in Interpretationsansätze rechtlicher Regelungen

Rechtliche Regelungen, besonders solche des europäischen Gemeinschaftsrechts, werden zielgerichtet eingesetzt, um bestimmte Zwecke – etwa die Realisierung des europäischen Binnenmarktes – zu erreichen. Ist im konkreten Fall zu entscheiden, wie solche Regelungen anzuwenden sind, können unterschiedliche Interpretationsvarianten zu einem je verschiedenen Zielerreichungsgrad führen. Dann liegt es nahe, der Variante den Vorzug zu geben, bei der die Zielerreichung besser gewährleistet erscheint. Um eine gehaltvolle, nachprüfbare Aussage darüber machen zu können, wie sich verschiedene Interpretationsvarianten auf die Zielerreichung auswirken (vergleichende Wirkungsanalyse), ist es erforderlich, realwissenschaftlich vorzugehen. Da rechtliche Christian Kirchner

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1. Teil: Grundlagen

Regelungen an Menschen adressiert sind und ihre Wirkung über Anreize und Sanktionen entfalten, sie damit Einfluß auf soziale Interaktionen nehmen, erscheint es geraten, auf eine Sozialwissenschaft zuzugreifen, die es erlaubt, im Sinne einer positiven Analyse die erforderlichen gehaltvollen, nachprüfbaren Aussagen zu generieren. Die Ökonomik ist diejenige Sozialwissenschaft, die in ihrer positiven Variante Aussagen darüber generiert, wie menschliche Akteure unter Knappheitsbedingungen in der sozialen Interaktion auf Änderungen von Anreizen und Sanktionen reagieren. Sie verwendet für solche positiven Analysen einen Satz von Annahmen (ökonomisches Paradigma): eigennutzorientiertes Rationalverhalten individuell handelnder Akteure. Setzt man das methodische Instrumentarium der Ökonomik ein, um zu klären, welche unterschiedlichen Wirkungen aus der Wahl unterschiedlicher Interpretationsvarianten folgen (Folgenberücksichtigung), so sind die gewonnenen Aussagen für die Interpretation rechtlicher Regelungen deshalb von Wert, weil der Zusammenhang zwischen Interpretation und Normzielerreichung erhellt wird. Der ökonomische Ansatz wird also im Rahmen einer folgenorientierten Norminterpretation eingesetzt.5 Während die Integration ökonomischer Ansätze der positiven Theorie in Interpretationsansätze rechtlicher Regelungen sich damit zuerst einmal recht einfach darstellt, erweist sich eine Integration normativer Ansätze erheblich schwieriger. Es geht darum, wie ökonomische Ansätze im Rahmen rechtlicher Güterabwägungen fruchtbar gemacht werden können. Hier ist die Wahl des ökonomischen Theorieansatzes deshalb von zentraler Bedeutung, da ein auf das Ziel der effizienten Ressourcenallokation gerichteter Ansatz sich nur schwer in normative rechtswissenschaftliche Ansätze einfügen läßt. Ob dieses Problem mit einem normativen Ansatz, der nach Lösungen sucht, die seitens der Regelungsadressaten als zustimmungsfähig erachtet werden (hypothetischer Konsens), lösbar ist, bedarf der sorgfältigen Prüfung.

III.

Grundüberlegungen zur am Normzweck ausgerichteten Interpretationsmethode rechtlicher Regelungen

In der herkömmlichen Methodendiskussion der Rechtswissenschaft steht der Zusammenhang zwischen Normziel und Interpretation im Zentrum der teleologischen Interpretationsmethode.6 Schließt diese vom Normzweck auf die angemessene Interpretation, so verwendet sie das Zweck-Mittel-Paradigma.7 Sie arbeitet mit

5 Vgl. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 605 – 609; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 172, 227– 236; Rottleuthner, Wissenschaften und Philosophie als Basis der Jurisprudenz, S. 27 ff.; Kirchner, in: Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III, S. 33; Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung; Wälde, Juristische Folgenorientierung. 6 Vgl. für viele: Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 600 – 603; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 435 – 463; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 222 – 227; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 717–730. 7 Zum Zweck-Mittel-Paradigma: Streit, Theorie der Wirtschaftspolitik, S. 270; Mertens/Kirchner/ Schanze, Wirtschaftsrecht, S. 46 f.

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§ 3 Die ökonomische Theorie

der These, daß die Interpretation ein relevanter Faktor für die Erreichung des Normzwecks ist. Unterschiedliche Interpretationsvarianten stellen Mittel dar, die im Rahmen des Zweck-Mittel-Verhältnisses unter dem Gesichtspunkt einer möglichst genauen Zielerreichung eingesetzt werden. Dann geht es um zwei Probleme: (1) Mögliche methodische Defizite des Zweck-Mittel-Paradigmas, (2) Qualität der Analyse, ob und wieweit unterschiedliche Interpretationsvarianten sich zur Erreichung des Normzwecks eignen (Wirkungsanalyse). Bezüglich der Verwendung des Zweck-Mittel-Paradigmas wird zu prüfen sein, ob und gegebenenfalls wie in der rechtswissenschaftlichen Methodendiskussion auf die in der Ökonomik vorgebrachten methodischen Einwände eingegangen wird. Bezüglich der vorzunehmenden Wirkungsanalyse ist entscheidend, daß synthetisch-nomologische, also empirisch gehaltvolle, nachprüfbare Aussagen darüber gemacht werden können, wie sich unterschiedliche Interpretationsvarianten für die Zielerreichung eignen. Die Qualität dieser – positiven – Aussagen ist zentrales Element bei der Verwendung einer teleologischen Methode der Norminterpretation. Sie wiederum hängt vom verwendeten methodischen Ansatz ab. Die zwei möglichen Schwachpunkte des skizzierten methodischen Vorgehens liegen zum einen in möglichen Defiziten des Zweck-Mittel-Paradigmas, zum anderen im für die Wirkungsanalyse gewählten theoretischen Ansatz.

IV.

Ökonomische Zielorientierung europäischen Gemeinschaftsrechts: Implikation für die Methodik der Interpretation

1.

Ökonomische Zielorientierung europäischen Gemeinschaftsrechts

Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft 8 stellt in der Präambel, in Art. 2 und 3 maßgeblich auf wirtschaftliche Zielsetzungen ab. Die Tätigkeit der Gemeinschaft erschöpft sich allerdings nicht darin. Dennoch ist unverkennbar, daß die wirtschaftliche Integration das Herzstück der europäischen Integration ist.9 Die Durchsetzung der Grundfreiheiten (Freizügigkeit von Personen, Waren, Dienstleistungen, Kapital und Niederlassungsfreiheit) zusammen mit dem am Binnenmarktziel orientierten Harmonisierungsprogramm (Art. 94, 95 EG) stellen sich ökonomisch als Instrumente der Integration der früher voneinander getrennten und gegeneinander abgeschotteten nationalen Märkte der Mitgliedstaaten dar. Die Richtlinie gem. 249 Abs. 3 EG ist das wichtigstes Instrument der Harmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten. Sie legt die Ziele verbindlich fest, überläßt den Mitgliedstaaten, an die sie gerichtet ist, jedoch die Wahl der Form und der Mittel. Das hat zur Konsequenz, daß – unabhängig von der Detailliertheit der Regelungen

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ABl. Nr. C 325/33. Kirchner, in: Schuppert u.a. (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 398 f., 413 – 415.

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1. Teil: Grundlagen

der Richtlinie, die den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten stark einschränken kann – die Richtlinie entweder in ihren Regelungen explizit die Ziele nennt oder diese in den Erwägungsgründen aufführt.10 Sowohl das Primärrecht der Gemeinschaft wie auch das Sekundärrecht sind also stark ökonomisch zielorientiert. Der Grund dafür liegt darin, daß die Konstruktion der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, später der Europäischen Gemeinschaft, so angelegt war, daß rechtliche Instrumente in Gestalt von Zweckprogrammen eingesetzt werden, um das wirtschaftliche Integrationsziel zu erreichen. Die Europäische Gemeinschaft ist deshalb Rechtsgemeinschaft, um Wirtschaftsgemeinschaft zu werden. Das muß sich auf den spezifischen Charakter der zielgerichtet eingesetzten rechtlichen Regelungen auswirken.

2.

Methodische Implikationen der ökonomischen Zielorientierung des Gemeinschaftsrechts

Die ökonomische Zielorientierung des Gemeinschaftsrechts erfordert ein besonderes Zusammenwirken zwischen europäischem Gemeinschaftsrecht auf der einen Seite und dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten auf der anderen Seite. Dies ist durch den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gekennzeichnet 11, der damit gerechtfertigt wird, daß andernfalls das Integrationsziel verfehlt würde. Für die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bedeutet der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, daß sie (1) Gemeinschaftsrecht in einer Art und Weise umzusetzen haben, daß die (gemeinschaftsrechtlich definierte) Zielerreichung gewährleistet ist, (2) die Interpretation des in nationales Recht umgesetzten Gemeinschaftsrechts sich an der gemeinschaftsrechtlich definierten Zielsetzung orientiert, und (3) der nationale Gesetzgeber keine Regelungen erläßt, die dem Gemeinschaftsrecht entgegenstehen oder dessen Wirkung behindern. Damit werden für Gebiete, die der gemeinschaftsrechtlichen Regelung unterworfen sind, enge Grenzen für eine nationale Rechtsfortbildung seitens der Mitgliedstaaten gesetzt. Das gilt sowohl für die legislative wie für die judikative Rechtsfortbildung. Für letztere ist mit dem Vorabentscheidugsverfahren des Art. 234 EG nicht nur eine spezifische Verfahrensnorm für die Behandlung von Auslegungsproblemen umgesetzten Gemeinschaftsrechts geschaffen worden, sondern auch eine Kompetenznorm für den Europäischen Gerichtshof. Er hat es in der Hand, über seine Judikatur in Vorabentscheidungen die Zielerreichung des Gemeinschaftsrechts zu sichern. Das gilt nicht nur für Sekundärrecht der Gemeinschaft, sondern auch für Primärrecht, soweit nämlich nationales Recht der Mitgliedstaaten mit diesem Primärrecht kollidiert.

10 Vgl. EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-684 Rn. 22; EuGH v. 19.11.1996 Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, I-6017 Rn. 13; Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, S. 156; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 531. 11 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251; vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 168–225; Mayer, in: Schuppert u.a. (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 458 – 462; Alter, Establishing the Supremacy of European Law.

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§ 3 Die ökonomische Theorie

Ist es sowohl Aufgabe der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten wie auch des Europäischen Gerichtshofes und des Gerichts Erster Instanz, bei der Rechtsfortbildung von Gemeinschaftsrecht die Zielorientierung der betreffenden Regelungen nicht nur zu beachten, sondern sie zum Leitstern der Interpretation zu machen, so muß sich dies in der gewählten Interpretationsmethode niederschlagen.

3.

Methodische Antworten in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und in der Literatur

Die in den Vorabschnitten dargelegte Problematik schlägt sich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und in der Literatur nieder. Die Problemlösungen unterscheiden sich zwar in Nuancen, sind aber im Ansatz sehr wohl vergleichbar. Es wird eine Interpretationsmethode gewählt, die auf die Zielsetzung der Norm abstellt (teleologische Interpretationsmethode).12 Daneben wird auf die systematische Interpretationsmethode abgestellt 13 sowie auf die dynamische.14 Nach der teleologischen Interpretationsmethode wird die Auslegung gesucht, die am besten dem Normzweck entspricht.15 Entscheidend ist dann zuerst, wie der Normzweck zu bestimmen ist. Während in der Methodendiskussion in Deutschland 16 weithin im Sinne einer objektiv-teleologischen Interpretationsmethode auf die Position des objektivierten Gesetzgebers abgestellt wird,17 wird für die Auslegung europäischen Gemeinschaftsrechts darauf verwiesen, daß die Integration ein fortschreitender Prozeß sei und deshalb dieser Dynamik auch in der Interpretation Rechnung zu tragen sei, also eine ‚dynamische Interpretation‘ im Sinne integrationsfördernder Lösungen zu suchen seien; dieser Gedanke wird mit dem Grundsatz verbunden, die Auslegung habe der Norm praktische Wirksamkeit zu verleihen (effet utile).18 12 Vgl. EuGH v. 26.2.1975 – Rs. 67/74 Bonsignore ./. Oberstadtdirektor der Stadt Köln, Slg. 1975, 297 Rn. 5; EuGH v. 14.2.1980 – Rs. 84/79 Meyer Uetze ./. Hauptzollamt Berlin-Packdorf, Slg. 1980, 291 Rn. 5 ff.; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 202 – 230; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 531; Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 37; Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 335; Lutter, JZ 1992, 593, 602 f.; Menzel, in: Paschke (Hrsg.), Deutsches und internationales Wirtschaftsrecht, S. 60 – 62; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration, S. 57; Streinz, Europarecht, Rn. 498. 13 Vgl. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 177–201; Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 34 – 36; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 531; Zuleeg, EuR 1969, 97, 102 f. 14 Vgl. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 213 – 216; Meyer, Jura 1994, 455, 457; Zuleeg, EuR 1969, 97,105 f. 15 Vgl. für viele: Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 600–603; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 435 – 463; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 222 – 227; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 717–730. 16 Kritisch insbes. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 717–730. 17 Vgl. Kirchner, in: Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III, S. 34. 18 Vgl. Bleckmann, NJW 1982, 1180; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 208 – 211; Everling, JZ 2000, 217, 223; Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 355.

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1. Teil: Grundlagen

Allerdings wird dem entgegengehalten, daß mit der Einführung des Subsidiaritätsprinzips keineswegs einseitig auf eine fortschreitende Integration hinzuarbeiten sei, daß vielmehr ein Ausgleich zwischen den Interessen an der europäischen Integration und den Interessen der Mitgliedstaaten zu suchen sei.19 Damit eröffnen sich für denjenigen, der eine Norm des Gemeinschaftsrechts auslegt und fortentwickelt, weite Spielräume, da nunmehr mit der Gewichtung der Interessen – entweder mehr Integration oder mehr Regelungskompetenz auf der Mitgliedstaatenebene im Sinne des Subsidiaritätsprinzips – der Norminterpret in der Lage ist, mit der Wahl des Normzwecks das Ergebnis der Auslegung zu steuern. Es besteht die Gefahr einer tautologischen Argumentation. Die Gefahr tautologischer Argumentation ist ein Defizit der objektiv-teleologischen Interpretationsmethode nicht nur bei ihrer Anwendung auf die Auslegung des europäischen Gemeinschaftsrechts. Dieses Defizit ist immer dort besonders groß, wo entweder mit inkonsistenten Zielkatalogen gearbeitet wird, wo aufgrund politischer Abstimmung die Ziele als Formelkompromisse formuliert sind, oder wo besonders unbestimmte Zielsetzungen gewählt wurden, um der Entwicklung der Regelungsmaterie durch die Rechtsprechung keine zu engen Grenzen abzustecken. An diesen drei Beispielen zeigt sich, daß die Wahl der Interpretationsmethode ein entscheidender Faktor für die Abgrenzung der Gewalten Legislative und Judikative ist. Wird auf den objektivierten Normzweck einer Regelung für deren Interpretation abgestellt, so kann die Legislative gleichsam Normsetzungsbefugnis auf die Judikative verlagern. Umgekehrt kann die Judikative, insbesondere, wenn sie Argumente einer ‚dynamischen‘ Interpretation verwendet, ihren eigenen Rechtsfortbildungsspielraum autonom erweitern. Ohne wertend beurteilen zu wollen, ob die Entwicklung im europäischen Gemeinschaftsrecht positiv oder negativ zu sehen ist, kann jedenfalls festgestellt werden, daß die Rolle des Europäischen Gerichtshofs als ‚Motor der Integration‘ 20 auf die ‚dynamische‘ Interpretationsmethode zurückzuführen ist, die dieser in wichtigen Urteilen herangezogen hatte.21 Die in der rechtswissenschaftlichen Methodendiskussion erörterten Defizite der objektiv-teleologischen Interpretationsmethode blenden zwei wichtige weitere methodische Defizite aus, nämlich die methodische Angreifbarkeit des Zweck-MittelParadigmas und die Gefahr des Verzichts auf vergleichende Wirkungsanalysen unterschiedlicher Interpretationsvarianten.

19 Vgl. Zuleeg, EuR 1969, 97, 104. 20 Vgl. für viele Streinz, Europarecht, S. 21f. 21 Vgl. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 213 – 216; Meyer, Jura 1994, 455, 457; Zuleeg, EuR 1969, 97, 105 f.

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§ 3 Die ökonomische Theorie

V.

Methodische Defizite herkömmlicher Ansätze

1.

Methodische Defizite des Zweck-Mittel-Paradigmas

Das Zweck-Mittel-Paradigma 22 ist ein Optimierungsprogramm. Es fragt alternativ, welches bestmögliche Ziel mit einem gegebenen Mitteleinsatz erreicht werden kann, oder wie ein gegebenes Ziel mit einem minimalen Mitteleinsatz erreicht werden kann. Damit ist es Ausdruck der ökonomischen Zweckrationalität im Sinne von Max Weber.23 Es war und ist ein in der Theorie der Wirtschaftspolitik viel verwendetes Paradigma. Das liegt schon deshalb nahe, weil es auf der Linie einer normativen Ökonomik liegt, die ihre Aufgabe darin sieht, Beiträge zur Überwindung oder Linderung der Ressourcenknappheit zu leisten. Jede Vergeudung von Ressourcen widerspricht diesem Ziel. Also geht es im Sinne des auch als ‚ökonomisches Prinzip‘ bezeichneten Paradigmas um sparsame Ressourcenverwendung. Ein gegebenes Ziel ist also mit einem minimalen Ressourceneinsatz zu erreichen. Dann sind diese Ressourcen so einzusetzen, daß keine Allokation denkbar ist, bei der ein besseres Ergebnis (output) erzielt werden könnte (effiziente Ressourcenallokation). Zwischen Zweck-Mittel-Paradigma, ökonomischem Prinzip und effizienter Ressourcenallokation besteht also sowohl methodisch wie wertungsmäßig ein Gleichklang. Ohne hier auf die methodischen Defizite des Ziels der Allokationseffizienz einzugehen, können gegen das Zweck-Mittel-Paradigma drei grundsätzliche Einwände formuliert werden.24 (1) Die Konzentration auf die Zweck-Mittel-Problematik klammert die Zieldiskussion weitgehend aus; es wird axiomatisch argumentiert. (2) ‚Nebenwirkungen‘ der eingesetzten Mittel werden entweder nicht in Rechnung gestellt oder allenfalls als Störfaktoren gesehen. Es geht dabei um die nicht intendierten Handlungsfolgen im Hayekschen Sinne 25, die ein erhebliches Problem für den zweckrationalen Einsatz von Instrumenten zur Steuerung sozialer Interaktionen darstellt. (3) Die Wechselwirkungen zwischen Mitteln und Zwecken werden systematisch ausgeblendet. Damit geraten Zirkularitäten zwischen Mitteln und Zwecken nicht in den Blick. Solange das Zweck-Mittel-Paradigma auf der Ebene einer Common Sense-Argumentation eingesetzt wird, fallen die genannten Defizite nicht weiter ins Auge. Das bedeutet aber nicht, daß sie deshalb hinzunehmen wären. Eine Auswahl von Mitteln im Sinne des Optimierungsprogramms des Zweck-Mittel-Paradigmas kann damit zur Folge haben, daß die Diskussion verkürzt geführt wird und das normative Fundament – nämlich das ökonomische Prinzip – nicht tragfähig ist. Diese gravierende Problematik wird in der rechtswissenschaftlichen Diskussion der objektivteleologischen Interpretationsmethode nicht angesprochen. 22 Zum Zweck-Mittel-Paradigma Nachweise oben in Fn. 7. 23 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 13. 24 Zur Kritik des Zweck-Mittel-Schemas vor allem: Homann, Die Interdependenz von Zielen und Mitteln. 25 Hayek, Freiburger Studien, S. 97.

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1. Teil: Grundlagen

2.

Methodische Defizite von Wirkungsanalysen

Um beurteilen zu können, ob und welche Probleme in Bezug auf Wirkungsanalysen im Rahmen der teleologischen Interpretationsmethode auftreten, ist zuerst kurz zu skizzieren, wie solche Wirkungsanalysen durchzuführen wären, bewegte man sich streng auf dem Boden des Zweck-Mittel-Paradigmas und dem ‚klassischen‘ Kanon der rechtswissenschaftlichen Auslegungsmethoden. Es wären dann in einem ersten Schritt mit Hilfe des Instrumentariums der Wortauslegung und der systematischen Auslegung diejenigen Interpretationsvarianten herauszufiltern, die juristisch-dogmatisch als Lösungen in Betracht kommen.26 Dadurch wird der Möglichkeitsraum für Rechtsfortbildung über Rechtsauslegung aus juristisch-dogmatischer Sicht abgesteckt. Übertragen in eine demokratietheoretische Argumentation geht es um ein Legitimationsproblem, nämlich das Abstecken der Grenzen der Rechtsetzung durch die Judikative, die ihre Legitimation – und damit auch ihre Unabhängigkeit – aus ihrer Funktion als Rechtsanwenderin des von der Legislative gesetzten Rechts zieht. Die Diskussion um diese Grenzen wird streitig geführt.27 Dem ist hier aber nicht nachzugehen. Denn auf dem Gebiet des europäischen Gemeinschaftsrechts wird eine Rechtsfortbildungskompetenz des Europäischen Gerichtshofs heute weitgehend akzeptiert, aber in den Grenzen, die durch die ‚klassischen‘ Interpretationsmethoden gezogen werden, zu denen auch Wortlautauslegung und systematische Auslegung zählen. Sind die ‚möglichen‘ Interpretationsvarianten bestimmt, ist in einem zweiten Schritt – sofern man unterstellt, daß Einigkeit bezüglich des Regelungszieles besteht, – zu klären, welche dieser Varianten sich als für die Zielerreichung am geeignetsten erweist. Für die verschiedenen Interpretationsvarianten sind Prognosen erforderlich, welche Auswirkungen tatsächlich zu erwarten sind. Es geht nicht um Sollensaussagen, sondern um Ist-Aussagen. Die Aussagen sind, sollen sie wissenschaftlich nachprüfbar sein, als falsifizierbare Hypothesen zu formulieren. Werden sie falsifiziert, etwa durch wissenschaftliche Urteilsanalysen, können sie in dieser Form nicht mehr als Fundament der Auslegung verwendet werden. Im Lichte dieser Anforderungen an Wirkungsanalysen im Rahmen der Normauslegung nach der teleologischen Interpretationsmethode lassen sich zwei Anforderungen formulieren, die an diese Analysen zu stellen sind: (1) Es sind vergleichende Wirkungsanalysen zu erstellen, da es um den relativen Grad der Zielerreichung geht. (2) Die verwendeten Annahmen und die Methodik sind offenzulegen, damit eine Falsifizierung der gewonnenen Hypothesen möglich ist. Vor dem Hintergrund dieser Skizze einer modellhaften Anwendung der teleologischen Interpretationsmethode wird deutlich, wo in der Realität mögliche Defizite liegen: (1) Es wird nur auf eine Interpretation abgestellt, ohne den Möglichkeitsraum der Interpretationsvarianten abzustecken. Eine vergleichende Wirkungsanalyse

26 Vgl. Kirchner/Koch, Zeitschrift für Sozialwissenschaften, 11 (1989), S. 120 –124. 27 Vgl. Everling, JZ 2000, 217, 223; Hillgruber, in: Danwitz u.a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535; Ott, EuZW 2000, 293 – 298.

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Christian Kirchner

§ 3 Die ökonomische Theorie

wird dann unmöglich. (2) Es werden Annahmen und Methodik des Vorgehens nicht offengelegt. (3) Es werden Aussagen in einer Weise formuliert, daß sie nicht falsifiziert werden können.

3.

Zwischenfazit

Bei der Interpretation europäischen Gemeinschaftsrechts wird der Funktionszusammenhang zwischen ökonomischer Zielsetzung der Norm und der Wahl der angemessenen Interpretation gesehen. Die verwendete Methodik weist aber zwei grundlegende Defizite auf: (1) Das zur Anwendung gelangende Zweck-Mittel-Paradigma eröffnet unkontrollierte Spielräume und führt zu zirkulären Argumentationen. (2) Die in der teleologischen Interpretationsmethode durchzuführenden vergleichenden Wirkungsanalysen weisen erhebliche methodische Mängel auf.

VI.

Ein ökonomischer Ansatz für vergleichende Wirkungsanalysen

1.

Hypothesenbildung

Für die Auslegung rechtlicher Regelungen, die auf ökonomische Zielsetzungen gerichtet sind, liegen Wirkungsanalysen nahe, die sich des Instrumentariums der ökonomischen Theorie bedienen, die zu Hypothesen über die erwarteten Wirkungen der Auslegung führen. Wenn es etwa darum geht, welche Interpretationsvariante zu einer deutlicheren Reduktion von Transaktionskosten führt, die wiederum Voraussetzung für eine schnellere Realisierung des europäischen Binnenmarktes ist, sind Hypothesen über die erwarteten ökonomischen Wirkungen der betreffenden Interpretationsvarianten aufzustellen.

2.

Unabhängige und abhängige ,ökonomische‘ Variable

Die Art von Hypothesenbildung für die Interpretation rechtlicher Regelungen liegt auf der Ebene dessen, was ökonomische Theorie üblicherweise leistet, wenn sie fragt, wie sich die Änderung einer unabhängigen Variablen (etwa der Zinssatz, zu dem die Zentralbank Wechsel ankauft – Diskontsatz) auf abhängige Variablen auswirkt (etwa die prozentuale Änderung der Anlageinvestitionen). Unabhängige Variablen werden auch als Restriktionen (constraints) oder Sanktionen (sanctions) oder Anreize (incentives) bezeichnet. Man kann bei der Änderung unabhängiger Variablen auch von einer Änderung des Anreiz-/Sanktionssystems sprechen. Allgemeiner ist im umfassenden Sinne von Änderungen von Restriktionen die Rede.

Christian Kirchner

33

1. Teil: Grundlagen

3.

Wirkungsweise der Änderung von Restriktionen (unabhängigen Variablen)

Verändern sich Restriktionen (unabhängige Variable), führt dies zu Verhaltensänderungen bei den Adressaten dieser Restriktionen, also bei denen, deren Anreiz-/Sanktionssystem verändert wird. Im Beispiel der veränderten Höhe der Anlageinvestitionen werden diejenigen, die Investitionsentscheidungen zu treffen haben, die veränderten Restriktionen in ihr Entscheidungskalkül aufnehmen. Die Folge ist eine Änderung sozialer Interaktionen. Insofern ist Ökonomik eine Sozialwissenschaft.28

4.

Rechtliche Regelungen als unabhängige Variable

Bei der Änderung der unabhängigen Variable ist es nicht ausschlaggebend, ob diese auf natürliche Ursachen zurückzuführen ist (etwa eine Erwärmung infolge einer Klimaänderung), ob sie auf administrativen Maßnahmen beruht (etwa Änderung des Diskontsatzes durch die Zentralbank) oder ob es sich um Änderungen im rechtlich-institutionellen Rahmen der betreffenden Volkswirtschaft handelt (etwa um eine Änderung im Außenhandelsrecht, durch welche Handelsschranken gesenkt werden). Unterscheidet man – wie dies in modernen ökonomischen Abhandlungen getan wird 29 – zwischen der Handlungsebene und der Ebene der Handlungsbedingungen, so sind es Änderungen auf der Ebene der Handlungsbedingungen, die als ökonomische Variable von Interesse sind, wenn der ökonomische Ansatz auf Fragen der Gestaltung der Rechtsordnung bezogen werden soll. Es ist von daher problemlos möglich, Änderungen rechtlicher Regelungen als ‚ökonomische‘ Variable zu behandeln, bzw. sie als Variable in Untersuchungen zu behandeln, in denen der ökonomische Theorieansatz verwendet wird. Das ist nicht eine Neuerung, die erst mit der Entwicklung der Ökonomischen Analyse des Rechts (economic analysis of law) entdeckt worden ist.30 In der Außenhandelstheorie wurden Änderungen im Außenhandelsrecht, etwa die Einführung oder Abschaffung von Zöllen oder Einfuhrkontingenten, in der Wettbewerbstheorie Änderungen kartellrechtlicher Regelungen als ‚ökonomische‘ Variable behandelt. Änderungen rechtlicher Regelungen können solche legislativer Art (etwa Gesetzesänderungen) oder judikativer Art (richterliche Rechtsfortbildung) sein. Handelt es sich bei der betreffenden unabhängigen Variablen um eine rechtliche Regelung – oder eine Interpretationsvariante einer solchen –, so fragt ein ökonomischer Ansatz, welche Verhaltensänderungen beim Regelungsadressaten durch eine Änderung der Variablen bewirkt werden. Daß diese Art der Herangehensweise an

28 Homann/Suchanek, Ökonomik, S.29 – 31; Frey, Ökonomie ist Sozialwissenschaft. 29 Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 37 f. 30 Vgl. Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 45 ff.; Schmoller, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre.

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Christian Kirchner

§ 3 Die ökonomische Theorie

die Analyse von Rechtsänderungen in der Rechtswissenschaft keineswegs unbekannt ist, zeigt die Lehre von der Generalprävention im Strafrecht. Dort wird mit der Hypothese gearbeitet, daß ein Zusammenhang zwischen der rechtlich angeordneten Sanktion und dem Verhalten potentieller Straftäter besteht.31

5.

Änderung von Restriktionen bei Konstanz der Präferenzen

Im ökonomischen Theorieansatz ist entscheidend, daß bei der Untersuchung der Abhängigkeit einer Variablen von Änderungen einer anderen Variablen – einer Restriktion – nicht gleichzeitig andere Faktoren geändert werden, die Einfluß auf das Ergebnis haben. So ist von der Konstanz der Präferenzen der handelnden Akteure im Zeitraum, auf den sich die Untersuchung bezieht, auszugehen.32 Man kann den ökonomischen Ansatz deshalb als eine Untersuchung von Handlungsänderungen aufgrund der Änderungen von Anreizen und Sanktionen bei konstanten Präferenzen begreifen.

6.

Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens

Will man Aussagen zur Auswirkung der Änderung unabhängiger Variablen – nämlich von Restriktionen – auf abhängige Variable machen, so setzt dies voraus, Verhaltensannahmen zu machen, wie die Betroffenen reagieren. Es ist eine allgemeine Annahme darüber erforderlich, wie Menschen Entscheidungen treffen, wenn sich Anreize oder Restriktionen ändern. Die Ökonomik unterscheidet sich von anderen Sozialwissenschaften dadurch, daß sie Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens einführt.33 Es wird davon ausgegangen, daß Akteure auf Änderungen von Anreizen und Sanktionen so reagieren, daß sie sich an ihrer individuellen Wohlfahrt, ihrem Nutzen, orientieren. Eine Entscheidung soll dann als rational gelten, wenn sie entsprechend diesem Nutzenkalkül gefällt wird. Entscheidend ist der individuelle Nutzen.34

31 Vgl. Kirchner, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen, S. 108 ff. 32 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 4; Voigt, Institutionenökonomik, S. 27. 33 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 3; Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 27 f.; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 3. 34 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 3; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 3.

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35

1. Teil: Grundlagen

7.

Methodologischer Individualismus/Prinzipal-Agent-Verhältnis

Die ökonomische Theorie ist den individualistischen Theorieansätzen zuzurechnen. Als handelnde Akteure werden die einzelnen Entscheider begriffen (methodologischer Individualismus).35 Das erlaubt es, wenn Gruppen von Akteuren handeln, die etwa in einem Staat oder einer Unternehmung organisiert sind, zwischen den Kollektiv- und den Individualentscheidungen zu trennen und das Zustandekommen von Kollektiventscheidungen aus Individualentscheidungen zu analysieren. Das spielt eine große Rolle, wenn innerhalb der Gruppe eine Delegation von Entscheidungsbefugnissen stattfindet, verbunden mit einer Informationsasymmetrie. Dann ist für die resultierende Kollektiventscheidung das Verhältnis zwischen Delegierendem (principal, Prinzipal) und Geschäftsführer (agent) entscheidend (PrinzipalAgent-Verhältnis).36 Der individualistische Ansatz der ökonomischen Theorie erlaubt eine Verbindung mit solchen rechtswissenschaftlichen Ansätzen, die davon ausgehen, daß rechtliche Regelungen ihre – steuernde – Wirkung über von Rechtsänderungen induzierte Verhaltensänderungen entfalten. Die erwähnte Lehre von der Generalprävention im Strafrecht ist ein Beispiel für die Verwendung eines solchen individualistischen Ansatzes. Ein anderes Beispiel im Privatrecht betrifft die verhaltenssteuernde Wirkung zivilrechtlicher Haftung.37

8.

Wirkungsanalyse auf der Grundlage des ökonomischen Theorieansatzes

Werden Wirkungsanalysen im Rahmen der Interpretation rechtlicher Regelungen, die auf ökonomische Zielsetzungen ausgerichtet sind, mit Hilfe des ökonomischen Ansatzes durchgeführt, heißt dies, (1) daß von der Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens der Regelungsadressaten ausgegangen wird, (2) daß als handelnde Akteure auf die einzelnen Adressen abgestellt wird, nicht auf Kollektive, und (3) daß die Wirkung der Wahlentscheidung zwischen verschiedenen Interpretationsvarianten auf Veränderungen der sozialen Interaktion der Regelungsadressaten beruht. Werden auf der Grundlage dieses methodischen Ansatzes Hypothesen über die Wirkungen der Interpretationsvarianten entwickelt, erfolgen diese als sogenannte Wenn-Dann-Aussagen. Wenn Interpretationsvariante A gewählt wird, 35 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 6; Homann, Die Interdependenz von Zielen und Mitteln, S. 70 f.; Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 26; Mack, Ökonomische Rationalität, S. 40 – 43; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 3; Voigt, Institutionenökonomik, S. 28. 36 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 69 –76; Fama, Journal of Political Economy, Bd. 88 (1980), S. 288 ff.; Jensen/Meckling, Journal of Financial Economics, Bd. 3 (1976), S. 305 ff.; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 30 f., 173 –182; Voigt, Institutionenökonomik, S. 102 –104. 37 Vgl. Kirchner, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen, S. 108 ff.

36

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§ 3 Die ökonomische Theorie

folgt Wirkung X, wenn Interpretationsvariante B gewählt wird, folgt Wirkung Y. Aus diesem Nebeneinander zwischen zwei Wirkungsanalysen wird dann eine vergleichende Wirkungsanalyse, wenn die Hypothesen so umformuliert werden, daß nunmehr auf die Wirkung in Bezug auf eine bestimmte Zielsetzung abgestellt wird. Dann lassen sich beide Hypothesen dergestalt verknüpfen, daß nunmehr eine Hypothese wie folgt gefaßt werden kann: Wenn Interpretationsvariante X – und nicht Interpretationsvariante Y – gewählt wird, verbessert/verschlechtert sich der Grad der Zielerreichung in Bezug auf Ziel Z. Eine solche Hypothese beruht auf einer Analyse, die breiter angelegt war, also nicht nur auf die Frage der Zielerreichung des Zieles Z gerichtet war. Das ist deshalb wichtig, da in der Wirkungsanalyse auch andere Wirkungen der untersuchten Interpretationsvarianten Gegenstand der Analyse gewesen sind. Im Zweck-Mittel-Paradigma ist von ‚Nebenbedingungen‘ die Rede. Verläßt man dieses Paradigma, geht es schlicht um unterschiedliche Wirkungen, die teils intendiert, teils nicht intendiert sind. Nun liegt aber eines der grundlegenden Probleme beim Versuch, Verhalten über Recht zu steuern, in den nicht intendierten Nebenwirkungen. Es muß sich aber keineswegs um nicht ‚intendierte‘ Nebenwirkungen handeln; es kann sich auch um solche Nebenwirkungen handeln, die zwar bekannt sind, die aber aus dem Entscheidungskalkül des Rechtsetzers ausgeblendet waren. Dies ist etwa bei ‚Nebenfolgen‘ sektorspezifischer Regulierung der Fall, die sich aus der Tatsache ergeben, daß einmal aufgebaute Bürokratieapparate nur schwer wieder abzuschaffen oder zu redimensionieren sind.

VII. Integration des ökonomischen Ansatzes in den rechtswissenschaftlichen Interpretationsansatz Gilt es, eine Wirkungsanalyse auf der Grundlage der ökonomischen Theorie, wie sie im Vorabschnitt eingeführt worden ist, in den rechtswissenschaftlichen Interpretationsansatz zu integrieren, sind zwei Probleme zu lösen: (1) Die Common-SenseAnalyse konventioneller Prägung ist durch eine ökonomische zu ersetzen. (2) An die Stelle des Zweck-Mittel-Paradigmas muß das Paradigma einer umfassenden vergleichenden Folgenabschätzung treten. Wird die konventionelle Common-Sense-Analyse durch eine ökonomische ersetzt, bedeutet dies – wie betont – nicht einen einfachen Austausch eines Ansatzes durch einen anderen. Die rechtswissenschaftliche Interpretation als solche ist gestuft durchzuführen. Zuerst sind die juristisch-dogmatisch möglichen Interpretationsvarianten herauszufiltern. Erst dann können diese einer vergleichenden ökonomischen Wirkungsanalyse unterzogen werden. Schwieriger gestaltet sich der Verzicht auf das Zweck-Mittel-Paradigma, dessen Optimierungsprogramm auf den ersten Blick einleuchtend und überzeugend erscheint, dessen methodische Mängel dann aber so gravierend sind, daß zwei radikale Änderungen geboten erscheinen. Die erste betrifft die Festlegung des Normziels, die sich als geeignet erwiesen hat, den – nicht überprüfbaren – Spielraum des Interpreten erheblich auszuweiten. An die Stelle der Festlegung des Interpreten auf Christian Kirchner

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1. Teil: Grundlagen

eine eindeutige Zielsetzung der Norm hat eine Diskussion der Zielproblematik zu treten. Diese kann aber erst sinnvoll erfolgen, wenn die gegebenenfalls unterschiedliche Wirkungsweise verschiedener Interpretationsvarianten geklärt worden ist. Das hat zur Konsequenz, daß die Fragerichtung geändert wird. Es ist nicht vom Zweck auf die Mittel zu schließen. Vielmehr ist die Zieldiskussion im Lichte der Ergebnisse der vergleichenden Wirkungsanalyse zu führen. Werden in dieser Wirkungsanalyse, wie im Vorabschnitt betont, auch die nicht intendierten oder nicht in den Blick genommenen Wirkungen erfaßt, läßt sich die Zieldiskussion erheblich differenzierter führen. Dann können Ziele stärker ausdifferenziert werden, Nebenbedingungen und Kosten der Zielerreichung erörtert werden. Nicht intendierte Nebenwirkungen stellen sich oftmals als Sonderkosten der Zielerreichung ein. Wie normativ mit dem Problem umzugehen ist, das darin begründet liegt, daß Wechselwirkungen zwischen Zweck und Mitteln nicht zu verhindern sind, kann erst geklärt werden, wenn feststeht, auf welchen ökonomischen Ansatz zuzugreifen ist. Denn es macht einen Unterschied, ob in einem wohlfahrtsökonomisch ausgerichteten ökonomischen Ansatz die Zweck-Mittel-Diskussion mit Blick auf das Ziel effizienter Ressourcenallokation geführt wird, oder ob in einem institutionenökonomischen Ansatz die normative Richtschnur der hypothetische Konsens ist.

VIII. Wahl des ökonomischen Ansatzes 1.

Vorüberlegungen

Für eine ökonomische Herangehensweise an rechtliche Fragestellungen kommen verschiedene ökonomische Ansätze in Betracht. Hinter dem Begriff law and economics, wohl am neutralsten als ‚Rechtsökonomik‘ übersetzt,38 verbergen sich unterschiedliche ökonomische Ansätze.39 Einigkeit herrscht nur insoweit, daß das ökonomische Paradigma (Annahme der Ressourcenknappheit und eigennutzorientierten Rationalverhaltens, methodologischer Individualismus) zur Anwendung zu gelangen habe und daß die Ökonomik als Disziplin nicht von ihrem Gegenstandsbereich her – also der Ökonomie – zu definieren sei, sondern von ihrer Methodik her, und daß sie deshalb eine Wissenschaft der sozialen Interaktionen sei. Vertreter anderer Sozialwissenschaften, die sich mit dieser extrem weiten Definition der Ökonomik einer Methodenkonkurrenz ausgesetzt sehen, bezeichnen diese Expansion der Ökonomik als ‚ökonomischen Imperialismus‘.40 Es ist eben diese Expansion der Ökonomik, die es erlaubt, Probleme, die bisher ausschließlich im Rahmen der Rechtswissenschaft untersucht worden sind, ökonomisch anzugehen. 38 Vgl. Weigel, Rechtsökonomik; zur terminologischen Auseinandersetzung: Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts. 39 Vgl. zur terminologischen Auseinandersetzung: Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 5 f. 40 Vgl. Brenner, Journal of Legal Studies, 9 (1980), S. 179 ff.; Hirshleifer, American Economic Review, Bd. 75 (1985), 53; Kirchgässner, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 7 (1988), S. 128 ff.; Radnitzky/Bernholz (Hrsg.), Economic Imperialism: The Economic Approach Applied Outside the Traditional Area of Economics.

38

Christian Kirchner

§ 3 Die ökonomische Theorie

2.

Ökonomische Analyse des Rechts: Verwendung des neoklassischen Ansatzes

Der Begriff economic analysis of law, zumeist übersetzt als ‚Ökonomische Analyse des Rechts‘ (ÖAR) 41, hat in den Vereinigten Staaten von Amerika nach den grundlegenden Werken von Calabresi 42 und Coase 43 dann unter dem Einfluß des Werkes von Richard Posner mit dem gleichnamigen Titel 44 seinen Siegeszug angetreten.45 Die ‚ökonomische Analyse‘ von Richard Posner basiert auf einem preistheoretischen Fundament, wie es vornehmlich an der University of Chicago in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts vertreten wurde. Dieses wiederum ist Teil des neoklassischen Theorieansatzes, der seinerseits utilitaristische Wurzeln hat. Für die Verwendung eines solchen Ansatzes für rechtliche Fragestellungen sind zum einen die verwendeten Annahmen – insbesondere die Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens – zum anderen die normative wohlfahrtsökonomische Ausrichtung – also die Ausrichtung am Ziel der Allokationseffizienz – relevant. Aus kontinentaleuropäischer rechtswissenschaftlicher Sicht sind beides Faktoren, die einen solchen Ansatz für Fragen der rechtswissenschaftlichen Interpretation unbrauchbar erscheinen lassen.46 Für die Entwicklung von Fallrecht durch Gerichte in den Vereinigten Staaten von Amerika stellt sich das Methodenproblem völlig anders.47 Darauf ist hier nicht weiter einzugehen. Unabhängig davon, wie die Brauchbarkeit eines neoklassischen ökonomischen Ansatzes für die Behandlung rechtlicher Fragestellungen eingeschätzt wird, ist entscheidend, ob in der Ökonomik selbst dieser Ansatz der Kritik ausgesetzt ist. Dann wäre es nämlich interessant, ob diese intradisziplinäre Auseinandersetzung aus Sicht der Rechtswissenschaft, die Interpretationsmethoden entwickelt, von Interesse ist. Kritik am Ansatz der neoklassischen Wirtschaftstheorie ist von Vertretern der Neuen Institutionenökonomik geübt worden und wird weiterhin geübt.48 Die Kritik der positiven Theorie der Neoklassik setzt an der Rationalitätsannahme an sowie an der Nichtberücksichtigung oder nicht ausreichenden Berücksichtigung von Transaktionskosten und der Tatsache, daß Information systematisch unvollkom-

41 Vgl. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 5 f. 42 Vgl. Calabresi, Yale Law Journal, 70 (1961), S. 499 ff. 43 Coase, Journal of Law and Economics, 3 (1960), 1ff. (deutsch in: Assmann/Kirchner/Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S. 129 –183); vgl. zum sog. Coase-Theorem: Coase, The Firm the Market and the Law, S. 157–185; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 113 –116. 44 Posner, Economic Analysis of Law. 45 Vgl. Schanze, in: Assmann/Kirchner/Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S. 1ff. 46 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 331; differenzierend: Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533 f.; Laudenklos, in: Rückert (Hrsg.), Fälle und Fallen der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny, S. 291; Pawloswski, Methodenlehre für Juristen, S. 13; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 305. 47 Vgl. Schanze, in: Assmann/Kirchner/Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S. 1ff.; Kirchner, International Review of Law and Economics, Bd. 11 (1991), 277. 48 Vgl. Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S.13 –16, 542, 570 – 572.

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1. Teil: Grundlagen

men ist.49 An der normativen Theorie wird auf Probleme des intersubjektiven Nutzenvergleichs hingewiesen, die eine Bestimmung eines Wohlfahrtsoptimums nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium nicht zulassen und damit das Ziel der Allokationseffizienz als nicht sinnvoll erscheinen lassen.50 Es ist interessant, daß die genannten Kritikpunkte von Vertretern der Neuen Institutionenökonomik vorgebracht worden sind. Dies ist eine neue ökonomische Teildisziplin, die selbst neoklassische Wurzeln hat. Der Verhandlungsansatz, den Ronald Coase als Kritik an der Wohlfahrtsökonomik von Pigou entwickelt hat – der fälschlicherweise oftmals als CoaseTheorem bezeichnet wird – basiert seinerseits auf der neoklassischen Wirtschaftstheorie. Er greift allerdings auch darüber hinaus, indem er die Annahme verwirft, beim intervenierenden Staat seien Informationen kostenlos vorhanden, und indem er explizit Transaktionskosten in die Analyse einbezieht.51 In der Folge hat sich die Neue Institutionenökonomik – die sich explizit vom ‚alten‘ Institutionalismus unterscheidet 52, konsequenter von der Annahmen der Neoklassik gelöst.

3.

Ökonomische Theorie des Rechts: Institutionenökonomischer Ansatz

a)

Vorüberlegungen

Die Kritik am neoklassischen Theorieansatz seitens der Vertreter der Neuen Institutionenökonomik – und damit auch an der Ökonomischen Analyse des Rechts – ist Ausgangspunkt für eine neue ökonomische Herangehensweise an rechtliche Problemstellungen. Verwendet man statt des neoklassischen Paradigmas das institutionenökonomische und entwickelt die ‚Ökonomische Analyse des Rechts‘ zur ‚Ökonomischen Theorie des Rechts‘ 53, kann es gelingen, damit einen interdisziplinären Ansatz zu schaffen, der zum einen ein methodisch verbessertes ökonomisches Paradigma bereitstellt und der zum anderen besser mit rechtswissenschaftlichen Ansätzen kompatibel ist.54 b)

Annahmen der Institutionenökonomik in der positiven Theorie

Es sind insbesondere drei Unterschiede auf der Ebene der Annahmen, die für die Neue Institutionenökonomik in ihrer positiven Variante im Vergleich zur Neoklassik kennzeichnend sind: (1) die Annahme beschränkter Rationalität, im Unterschied 49 Vgl. Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 4, 192 f.; Voigt, Institutionenökonomik, S. 29 – 31; Williamson, Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus, S. 50 ff.; Wolff, in: Korff u.a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, S. 113. 50 Vgl. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 25 – 28; Kirchner, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, S. 160 –170. 51 Coase, Journal of Law and Economics, Bd. 3 (1960), S. 1ff., deutsch in: Assmann/Kirchner/ Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S. 129 –183. 52 Vgl. Hutchison, Journal of Institutional and Theoretical Economics, Bd. 140 (1984), S. 20 ff.; Kirchner, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, S. 164; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 45 – 49. 53 Vgl. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 7–10. 54 Anwendungsbeispiele: Kirchner, FS Beisse, S. 267; ders., FS Schmidt, S. 33; ders, FS Kilian, S. 103.

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§ 3 Die ökonomische Theorie

zur Annahme vollständiger Rationalität, (2) die Annahme systematisch unvollkommener Information und (3) die Annahme der Existenz positiver Transaktionskosten.55 Die Annahmen, die in der Neuen Institutionenökonomik verwendet werden, unterscheiden sich auch deshalb von denen der Neoklassik, weil mit dem Ausgreifen der Ökonomik in Gegenstandsbereiche, die vormals von anderen Sozialwissenschaften monopolisiert worden waren, die teils sehr rigiden Annahmen der Neoklassik, deren zentraler Gegenstandsbereich lange Zeit Transaktionen auf Märkten gewesen waren, nicht durchhalten ließen. Die Neue Institutionenökonomik hat den Gegenstandsbereich der Disziplin ausgeweitet, indem sie sanktionsbewehrte allgemeine Regelungen, die zur Steuerung und Kanalisierung sozialer Interaktionen eingesetzt werden oder diesen Effekt haben, zu ihrem Untersuchungsobjekt gemacht hat, nämlich Institutionen.56 Sanktionsbewehrte rechtliche Regelungen stellen dann eine Unterkategorie von Institutionen dar und werden damit zum Gegenstand institutionenökonomischer Untersuchungen. Geht die Ökonomik über das Untersuchungsfeld der marktlichen Transaktionen und weitet es auf das Feld sozialer Transaktionen aus, so gerät die Verhaltensannahme vollständiger Rationalität, nämlich des maximierenden, egoistischen Menschen (REM) 57 unter Druck. Für die Untersuchung marktlicher Transaktionen kann das Festhalten an der REM-Annahme trotz Einwänden seitens der empirischen Verhaltensforschung 58 gerechtfertigt werden,59 nicht aber für die Untersuchung sozialer Interaktionen jenseits von Märkten.60 Dann erscheint es sinnvoll, die Annahme eingeschränkter Rationalität (bounded rationality) heranzuziehen.61 Die Institutionenökonomik fragt nach der Entstehung, der Änderung und der Wirkung von Institutionen.62 Dann fallen Wirkungsanalysen rechtlicher Regelungen in ihren Fokus, damit auch Wirkungsanalysen von Interpretationsvarianten rechtlicher Regelungen. Daß es sich bei der Fortentwicklung rechtlicher Regelungen – etwa im Prozeß der judikativen Rechtsfortbildung – um Suchprozesse unter der Be-

55 Vgl. Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 2 –13; Voigt, Institutionenökonomik, S. 26 – 31; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 12 – 21. 56 Eichberger, Grundzüge der Mikroökonomik, S. 6 – 8; Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 23; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 7 f.; Voigt, Institutionenökonomik, S. 32 – 41. 57 Vgl. Mack, Ökonomische Rationalität, S. 30 – 35; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, S. 62 – 68. 58 Vgl. Kahnemann, Journal of Institutional and Theoretical Economics, 150 (1994), S. 18 ff.; dazu: Kirchner, Journal of Institutional and Theoretical Economics, 150 (1994), 37 ff. 59 Vgl. Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 364 – 374; Kirchgässner, Homo Oeconomicus. 60 Kirchner, in: Haft u.a. (Hrsg.), Bausteine zu einer Verhaltenstheorie des Rechts, S. 445 ff. 61 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 331; differenzierend: Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533 f.; Laudenklos, in: Rückert (Hrsg.), Fälle und Fallen der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny, S. 291; Pawloswski, Methodenlehre für Juristen, S. 13; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 305. 62 Vgl. grundlegend: Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik; Voigt, Institutionenökonomik.

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1. Teil: Grundlagen

dingung unvollkommener Information handelt, ist evident. Ein ökonomischer Ansatz, der vollständige Information unterstellte, wäre schlecht geeignet für die Analyse derartiger Entwicklungen. Daß die Wirkung unterschiedlicher Gestaltung von Institutionen maßgeblich von der Höhe der jeweils anfallenden Transaktionskosten abhängt und daß diese deshalb ein relevanter Faktor für ökonomische Wirkungsanalysen sind, ist heute ebenfalls evident.63 Von da her erscheint ein ökonomischer Ansatz, der die Annahme systematischer unvollkommener Information und der Existenz positiver Transaktionskosten einführt, für die Wirkungsanalysen von Interpretationsvarianten rechtlicher Regelungen besser geeignet, als ein neoklassischer Ansatz, der mit rigideren Annahmen arbeitet. c)

Unterschiedlicher normativer Ansatz

Die normative Variante der Neuen Institutionenökonomik 64 unterscheidet sich von der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik zuerst dadurch, daß sie keine intersubjektive Vergleichbarkeit von Nutzen voraussetzt und deshalb weder mit dem KaldorHicks-Kriterium arbeitet noch auf die Zielsetzung der Allokationseffizienz abstellt. Normativer Fixpunkt ist also nicht die Herstellung eines Wohlfahrtsoptimums für eine bestimmte Gruppe von Akteuren (etwa bezogen auf die Einwohner eines Landes und damit auf die Volkswirtschaft), sondern der sogenannte normative Individualismus.65 Damit werden mögliche Probleme einer Integration des ökonomischen Ansatzes in rechtswissenschaftliche Interpretationsansätze zumindest reduziert. Ein Gegeneinander von ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Effizienz‘ 66 scheidet dann aus. Es fragt sich dann aber, wie die Institutionenökonomik normativ vorgeht und wie sich dies auf ihre Integration in rechtswissenschaftliche Interpretationsansätze auswirkt. Die normative Institutionenökonomik baut im Gegensatz zur Wohlfahrtsökonomik mit ihren utilitaristischen Wurzeln auf einem vertragstheoretischen Fundament auf.67 Sie fragt danach, auf welche Regeln des Zusammenlebens sich individuelle Akteure in freier Entscheidung einigen können, wenn sie jeweils nicht wissen, in welcher konkreten Situation sie sind (Schleier des Nichtwissens).68 Es gilt dann Lösungen zu finden, bei denen sich unter dieser Annahme des Nichtwissens alle

63 Dazu bereits: Coase, Economica, 4 (1937), S. 386 ff.; zum Stand der modernen Literatur: Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 12 –16; Voigt, Institutionenökonomik, S. 30 f.; Eichberger, Grundzüge der Mikroökonomik, S. 36 – 48. 64 Vgl. Pies, Normative Institutionenökonomik; ders., in: Leipold/Pies (Hrsg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik – Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven. 65 Buchanan, Constitutional Political Economy, 1 (1990), S. 1ff.; Homann/Kirchner, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, 14 (1995), S. 195; Kirchner, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.) Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, S. 166; Mack, Ökonomische Rationalität, S. 91–101; Pies, Normative Institutionenökonomik, S. 163 f. 66 Dazu Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip. 67 Vgl. Homann, in: Korff u.a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 2, S. 60; Pies, Normative Institutionenökonomik, S. 130 –138; Kirchner, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.) Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, S. 167. 68 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 20; Pies, Normative Institutionenökonomik, S. 130 –138; Voigt, Institutionenökonomik, S. 254 – 259.

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§ 3 Die ökonomische Theorie

besser stehen. Im Unterschied zum Kaldor-Hicks-Kriterium geht es also nicht um ein Abwägen zwischen den Gewinnen der Gewinner und den Verlusten der Verlierer, das voraussetzt, daß intersubjektive Nutzenvergleiche möglich sind. Die Grenzlinie für Lösungen ist in der Institutionenökonomik durch die Frage gekennzeichnet, ob jemand einer Lösung auch unter der Bedingung zustimmen könnte, wenn er möglicherweise zu den Verlierern gehörte. Es werden also mögliche Gewinne und mögliche Verluste individuell gegeneinander abgewogen. Das setzt voraus, daß solche normativen Überlegungen auf dem Fundament sorgfältiger positiver Analysen durchgeführt werden müssen, in denen zu klären ist, wie es um die Wirkung alternativer Lösungen bestellt ist. Der Ansatz schließt damit die Suche nach solchen Lösungen ein, die Kooperationsgewinne versprechen. Es geht also nicht darum, eine bestimmte Lösung ökonomisch zu bewerten, sondern um eine vergleichende Analyse alternativer Gestaltungsmöglichkeiten. Wendet man diesen institutionenökonomischen Ansatz auf rechtswissenschaftliche Interpretationsmethoden an, wird man im Ausgangspunkt festzustellen haben, daß es im ersten Schritt – soweit es um Wirkungsanalysen geht – nicht um normative Fragen geht, sondern daß hier allein die positive Analyse zum Zuge kommt. Dann taucht aber im zweiten Schritt das Problem auf, welche Schlußfolgerungen aus der durchgeführten vergleichenden Wirkungsanalyse für die Interpretation der auszulegenden Norm zu ziehen sind. Da die vergleichende Wirkungsanalyse, die mit Hilfe des institutionenökonomischen Instrumentariums durchgeführt worden ist, ein klareres Bild vermittelt als eine Common-Sense-Analyse, lassen sich für die verschiedenen Interpretationsvarianten die jeweiligen Kosten in Gestalt von ‚Nebenwirkungen‘ genauer erfassen. Die Frage lautet dann nicht mehr, ob eine Interpretationsvariante schon deshalb den Vorzug verdient, weil sie eine möglichst genaue Zielerreichung verspricht. Es ist vielmehr zu fragen, ob angesichts der abzuschätzenden Nebenwirkungen eine Interpretationsvariante gegenüber einen anderen zu bevorzugen ist, die möglicherweise geringere Nebenwirkungen aufzuweisen hat. Diese Art der normativen Herangehensweise läßt sich bruchlos mit einer rechtswissenschaftlichen Güterabwägung verbinden. Der Vorteil der ökonomisch normativ angeleiteten Abwägung besteht nun darin, daß nicht abstrakt Interessen und/oder Ziele abzuwägen sind, sondern gefragt wird, wie sich die Abwägung aus der Sicht der Regelungsadressaten darstellt. Dieser Unterschied zwischen einer abstrakten und einer konkret individualistischen Güterabwägung ist für das europäische Gemeinschaftsrecht deshalb anzuraten, da das Gemeinschaftsrecht sich eben nicht als Völkerrecht an die Vertragschließenden wendet, sondern als supranationales Recht direkt an die Bürger. Also sind bei Interessenabwägungen die Interessen dieser Bürger maßgeblich. Dann wird deutlich, daß es beim europäischen Gemeinschaftsrecht nicht einfach um ein Maximum an Integrationswirkung geht, sondern um den Grad an Integration, der aus Sicht der Bürger eine Nutzensteigerung darstellt. Wird ein Mehr an Integration durch eine größere Bürgerferne, durch ein Weniger an demokratischer Kontrolle erkauft, so kann der resultierende Nettonutzen für den betroffenen Bürger auf Null schrumpfen oder sogar negativ ausfallen. Christian Kirchner

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1. Teil: Grundlagen

Für einen ökonomischen Interpretationsansatz für das europäische Gemeinschaftsrecht ist also auch die normative Institutionenökonomik relevant. Im Unterschied zum neoklassischen Theorieansatz geht es nicht um das Ziel der effizienten Ressourcenallokation, das möglicherweise querliegt zu juristischen Wertungen, sondern um einen Perspektivenwechsel in der erforderlichen Güterabwägung. Statt daß auf allgemeine Interessen abstrakt abstellt wird, wird nach der Auswirkung der Wahl zwischen verschiedenen Interpretationsvarianten auf das Wohl der Regelungsadressaten abgestellt. Dann wird also nicht mehr zwischen dem Integrationsziel der Gemeinschaft und der Bewahrung nationalstaatlicher Souveränität der Mitgliedstaaten abgewogen, sondern es wird gleichsam durch diese Formeln hindurchgeschaut und auf die dahinter liegenden individuellen Interessen der Akteure abgestellt.

IX.

Zwischenfazit: eine institutionenökonomische Interpretationsmethode für das europäische Gemeinschaftsrecht

Soll die für die judikative Rechtsfortbildung des europäischen Gemeinschaftsrechts gewählte Interpretationsmethode geeignet sein, der ökonomischen Zielorientierung der Regelungsmaterie gerecht zu werden, sind Korrekturen an der am Normzweck orientierten teleologischen Interpretationsmethode erforderlich. Das in der herkömmlichen Methodik verwendete Zweck-Mittel-Paradigma ist durch eine umfassende Folgenabschätzung unterschiedlicher Interpretationsvarianten abzulösen, in der die Wechselwirkung zwischen Normzweck und der als Mittel eingesetzten Norminterpretation zum Tragen kommt. Die dazu durchzuführenden Wirkungsanalysen der zuvor anhand der Wortauslegung und der systematischen Auslegung selektierten Interpretationsvarianten sind mit Hilfe des institutionenökonomischen Ansatzes durchzuführen. In der rechtswissenschaftlich erfolgenden Güterabwägung zwischen den zur Wahl stehenden Interpretationsvarianten sind sowohl der Zielerreichungsgrad als auch ‚Nebenwirkungen‘ der in Betracht kommenden Interpretationsvarianten einzubeziehen. Es ist keine allgemeine abstrakte Interessenabwägung vorzunehmen. Vielmehr ist darauf abzustellen, wie die Regelungsadressaten durch unterschiedliche Interpretationsvarianten betroffen werden (individualistische Abwägungsperspektive).

X.

Legislative Rechtsfortbildung: der Beitrag der ökonomischen Theorie

1.

Vorüberlegungen

Die legislative Rechtsfortbildung des europäischen Gemeinschaftsrechts erfolgt in einem äußerst komplexen Verfahren, in dem verschiedene Organe der Gemeinschaft zusammenwirken.69 Prägend ist die Dichotomie zwischen der Vertretung der

69 Vgl. Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, S. 61– 63; Mayer, in: Schuppert u.a. (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 448 – 450; Streinz, Europarecht, S. 190 –199.

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§ 3 Die ökonomische Theorie

Interessen der Mitgliedstaaten im Ministerrat und der Vertretung der Interessen der Gemeinschaft durch Kommission und Parlament. Geht es um die ökonomische Zielorientierung des Gemeinschaftsrechts, also um Wirtschaftspolitik in Gestalt der Fortentwicklung des rechtlich-institutionellen Rahmens der Gemeinschaft, sieht es so aus, als ob nationale Interessen und Gemeinschaftsinteressen im Rahmen des Normsetzungsverfahrens zum Ausgleich zu bringen seien. Dann ließe sich die These aufstellen, daß am Ende ein Kompromiß zwischen ökonomischen Interessen der Mitgliedstaaten und denen der Gemeinschaft resultiere, gleichsam als Vektor in einem Kräfteparallelogramm. Der Beitrag einer ‚europäischen Methodenlehre‘ zu dieser Art der legislativen Normsetzung beträfe dann verschiedene Fragenkreise: – Entwicklung einer Methodik der Normsetzung in einem Verfahren, das auf der einen Seite ein doppelstufiges ist (Gemeinschaftsebene, Ebene der Mitgliedstaaten), in dem aber auf der anderen Seite der Ministerrat eben nicht als Vertretung der Mitgliedstaaten fungiert, sondern als Organ der Gemeinschaft, – Entwicklung von Kriterien für den Ausgleich von nationalen Interessen und Gemeinschaftsinteressen, – Entwicklung von Kompetenzregeln, die dem spezifischen Charakter des Gemeinschaftsrechts als eigenständiger supranationaler Rechtsordnung gerecht werden, – Entwicklung von Verfahrensregeln, die trotz der Komplexität des Verfahrens die Funktionsfähigkeit der Legislative gewährleistet. Die genannten Methodenprobleme überlagern sich und beleuchten zum Teil unterschiedliche Aspekte ein und desselben Problems. In der Praxis ergeben sich insbesondere Herausforderungen durch die Einführung sogenannter Komitologieverfahren, in denen staatliche Organe (mit abgeleiteter demokratischer Legitimation) mit Expertengremien in einer Art und Weise zusammenarbeiten, daß die Rechtsfortentwicklung stark von diesen Expertengremien gesteuert wird.70 Die methodischen Probleme solcher – die Rechte der (demokratisch legitimierten) Legislative aushöhlenden – Normsetzungsverfahren sind Punkt (4) des oben aufgeführten Methodenproblemkatalogs zuzuordnen. Geht es um den Beitrag der ökonomischen Theorie für eine europäische Methodenlehre, ändert sich die Sichtweise. Die angesprochenen Methodenprobleme erscheinen in einem anderen Licht, wenn nicht von ‚nationalem Interesse‘ und ‚Gemeinschaftsinteresse‘ ausgegangen wird, sondern von Individualinteressen, wie dies im ökonomischen Ansatz durch den methodologischen und den normativen Individualismus geboten ist. Dem ist in drei Fragenkomplexen nachzugehen: (1) Positive Analyse von Normsetzungsvorhaben (Folgenabschätzung), (2) Normative Fragestellung aus Sicht der Institutionenökonomik und (3) ökonomische Problematik von Komitologieverfahren. 70 Vgl. den Beschluß des Rates v. 28.6.1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse (Komitologie-Beschluß), ABl. 1999 Nr. L 184/23.

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1. Teil: Grundlagen

2.

Positive Analyse von Normsetzungsverfahren

Ein zentrales Problem der Normsetzung auf Gemeinschaftsebene ist das der nicht intendierten Nebenwirkungen. Indem die Diskussion auf den Ausgleich zwischen Gemeinschaftsinteresse und nationalen Interessen fokussiert wird, geraten Nebenwirkungen legislativer Akte aus dem Blick. Dies ist dann der Fall, wenn nach einer Deregulierung nationaler Regulierung eine Reregulierung auf europäischer Ebene einsetzt – etwa im Bereich der Regulierung der Telekommunikationsmärkte – und zu diesem Zwecke eine umfassende gemeinschaftsrechtliche Regulierung, durchzuführen entweder durch Organe der Gemeinschaft oder durch nationale Behörden, entworfen und umgesetzt wird.71 Die Folgekosten der Regulierung sowohl bezüglich der direkten Regulierungskosten wie insbesondere der indirekten Kosten sind ein entscheidender Faktor, will man die ökonomische Wirkungsweise der neuen Regulierung umfassend erfassen. Die Aufgabe der Ökonomik besteht hier in einer überprüfbaren Folgenabschätzung der legislativen Vorhaben, in denen insbesondere den ‚Nebenwirkungen‘ Beachtung geschenkt wird. Diese können etwa in einer Verlangsamung der technologischen Innovation durch Überregulierung bestehen. Der Unterschied zwischen einer neoklassischen Wohlfahrtsökonomik und der Institutionenökonomik liegt darin, daß die erstere oft vorschnell zu Effizienzanalysen übergeht, in denen nicht oder schwer meßbare Größen ausgeblendet werden. Im Fall der Folgenabschätzung einer Überregulierung heißt dies, daß zwar die direkten Kosten der Regulierung berücksichtigt werden, auch die kurzfristig einsetzenden Marktwirkungen, nicht aber die mittel- und langfristigen Auswirkungen auf die technologische Entwicklung. Wird in einer institutionenökonomischen Analyse darauf abgestellt, wie die Regelungsadressaten von einer legislativen Maßnahme betroffen sind, ist ein Ausblenden langfristiger Wirkungen – auch wenn sie schwer quantitativ faßbar sind – nicht systemgerecht. Die Scheinpräzision der wohlfahrtsökonomischen Analyse wird dann zwar aufgegeben. Die entscheidenden Faktoren für die Beurteilung einer legislativen Maßnahme werden aber besser erfaßt.

3.

Normative Fragestellung aus institutionenökonomischer Sicht

Wird in normativen Erwägungen nicht auf das ‚Gemeinschaftsinteresse‘ und das ‚nationale Interesse‘ abgestellt, sondern statt dessen auf Individualinteressen der Regelungsadressaten, ist das nicht nur für die im Vorabschnitt behandelte Folgenabschätzung legislativer Akte relevant, sondern für die Art der Normsetzung, insbesondere für Fragen der Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaftsebene und der nationalen Ebene. In einer ökonomischen Herangehensweise an Normsetzungsprobleme ist das Prinzipal-Agent-Verhältnis zwischen dem Bürger als Prinzipal und den verschiedenen

71 Vgl. Kirchner, in: Neumann/Weigand (Hrsg.), The International Handbook of Competition, S. 315 ff.

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§ 3 Die ökonomische Theorie

an der Normsetzung beteiligten ‚Geschäftsführer‘ (agents) zentral. Aus Sicht der Bürger als Prinzipalen besteht die Gefahr, daß aufgrund vorhandener Informationsasymmetrien und von Kontrollkosten die Entscheidungen der Geschäftsführer von den Präferenzen der Prinzipale abweichen (Präferenzkosten). Die Präferenzkosten lassen sich reduzieren, wenn die Kontrolle verstärkt wird; dann steigen aber die Kontrollkosten (Agenturkosten, agency costs). Normsetzung auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft impliziert dann aus dieser ökonomischen Perspektive, die in der Subdisziplin Konstitutionenökonomik (constitutional economics) 72 der Institutionenökonomik behandelt wird, zwei grundlegende Probleme. (1) Die Verlagerung von Normsetzungskompetenzen auf die Ebene der Gemeinschaft bringt auf der einen Seite Integrationsvorteile (Größenvorteile, Transaktionskostenreduzierung, etc.), auf der anderen Seite kann es aber zu erheblichen Steigerungen von Präferenzund Agenturkosten kommen. (2) Durch Verlagerung von Normsetzungskompetenz auf die Gemeinschaftsebene wird Einfluß auf den legislatorischen Wettbewerb zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten genommen. Probleme steigender Präferenz- und Agenturkosten leiten sich nicht allein aus einer Verlagerung von Normsetzungskompetenzen auf die Gemeinschaftsebene ab. Sie sind auch eine Funktion der gewählten Normsetzungsverfahren. In dem Maße, in dem diejenigen, die maßgeblichen Einfluß auf die Normsetzung haben, einer demokratischen Verantwortlichkeit (accountability) entzogen werden, steigen Präferenz- und Kontrollkosten. Es geht nicht allein um die Unmöglichkeit der demokratischen Abwahl von Entscheidungsträgern, sondern auch um die Komplexität von Verfahren, die zu einer solchen Kostensteigerung führt. Die Frage, ob und wie Normsetzung auf Gemeinschaftsebene legislatorischen Wettbewerb zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten beeinflußt, hängt davon ab, ob im Top-down-Ansatz oder im Bottom-up-Ansatz gearbeitet wird.73 Im Top-down-Ansatz erfolgt die Rechtsvereinheitlichung und/oder Rechtsangleichung von oben, also durch Normsetzungsorgane der Gemeinschaft. Im Bottom-up-Ansatz wird von seiten der Bürger – also von unten – Druck auf die Normsetzung der Mitgliedstaaten entweder durch Entscheidungen auf Gütermärkten oder durch Rechtswahlentscheidungen ausgeübt. Das Gemeinschaftsrecht schafft die Grundlage eines solchen Wettbewerbs, wenn es mit Hilfe der Grundfreiheiten eine Wahlfreiheit für diese Entscheidungen eröffnet. Ein Beispiel ist die freie Produktwahl auf Grund der Warenverkehrsfreiheit, von der Druck auf die Mitgliedstaaten bezüglich ihrer produktbezogenen Regulierung ausgeht. Ein anderes Beispiel ist die freie

72 Vgl. Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, S. 39 – 54; Brennan/Buchanan, Die Begründung von Regeln; Buchanan, Constitutional Political Economy, 1 (1990), 1ff.; Buchanan/Tullock, The Calculus of Consent; Feldmann, Eine institutionalistische Revolution?, S. 53 – 56; Homann, in: Korff u.a., Handbuch der Wirtschaftsethik, 2 (1999), S. 50; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 23 – 25; Mueller, Constitutional Democracy; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 43. 73 Vgl. Grundmann, ZGR 2001, 783, 806 f.; Kirchner, in: Schuppert u.a. (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 405 f.; Siems, Die Konvergenz der Rechtssysteme im Recht der Aktionäre, S. 474 – 497.

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1. Teil: Grundlagen

Wahl des Staates der Inkorporierung einer Gesellschaft unabhängig davon, wo ihr Sitz ist (Wettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen).74 Mit Hilfe – insbesondere – institutionenökonomischer Untersuchungen läßt sich die tatsächliche Wirkung des legislatorischen Wettbewerbs abschätzen. Damit leistet die Ökonomik einen relevanten Beitrag für die Normsetzungsfragen auf Gemeinschaftsebene.

4.

Ökonomische Problematik von Komitologieverfahren

Aus ökonomischer Perspektive geht es bei Komitologieverfahren auf der einen Seite um Vorteile, die sich aus der größeren Sachnähe und Expertise der Normsetzungsorgane ableiten, und auf der anderen Seite um steigende Präferenz- und Agenturkosten, die dadurch bedingt sind, daß Komitologieverfahren darauf angelegt sind, die Mitglieder der Expertengremien einer demokratischen Verantwortlichkeit nicht auszusetzen.75 Ökonomische Analysen von Komitologieverfahren sind also geeignet, Nebenwirkungen solcher Normsetzungsverfahren aufzuzeigen, die in rechtswissenschaftlichen Untersuchungen nicht in den Blick geraten. Dies ist dann für eine normative Beurteilung solcher Verfahren relevant.

XI.

Ausblick

Die Bedeutung der ökonomischen Theorie für eine europäische Methodenlehre weist verschiedene Facetten auf. Neben der Integration des institutionenökonomischen Ansatzes in rechtswissenschaftliche Interpretationsansätze ist es vor allem der Perspektivenwechsel in der legislativen Normsetzung, der eine europäische Methodenlehre bereichern kann. Indem konsequent individualistisch vorgegangen wird (methodologischer und normativer Individualismus), wird die vom Völkerrecht geprägte Perspektive, in der es um nationale, supranationale und internationale Interessen geht, relativiert. Die besondere Qualität des europäischen Gemeinschaftsrechts als einer eigenständigen Rechtsordnung schlägt sich methodisch darin nieder, daß gleichsam durch das nationale Interesse der Mitgliedstaaten und das Gemeinschaftsinteresse durchgegriffen wird und direkt das Individualinteresse der Bürger in Bezug genommen wird. Geht man methodisch so vor, so führt die Methodendiskussion zu Veränderungen im Verständnis des europäischen Gemeinschaftsrechts und damit in den Gestaltungsanforderungen an diese Rechtsmaterie. Ziel ist dann nicht Wohlfahrtsmaximierung durch Integration, sondern die Gestaltung einer Rechtsordnung, die den Präferenzen der Bürger als Regelungsadressaten entspricht.

74 Vgl. Heine, Regulierungswettbewerb im Gesellschaftsrecht; Heine/Kerber, European Journal of Law and Economics, 13 (2002), 47 ff.; Grundmann, ZGR 2001, 783; Kirchner, FS Immenga, S. 607. 75 Kirchner/Schmidt, in: Nobel (Hrsg.), International Standards and the Law, S. 67.

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§ 3.1 Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht Jens-Uwe Franck Übersicht I. Ökonomische Theorie und Ausgestaltung von Privatrechtsregeln   .  .  .  .  .  .  II. Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz   .  .  .  .  .  .  .  III. Ökonomische Denkmuster als Schlüssel zum Verständnis der Grundfreiheitendogmatik   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  IV. Ökonomische Argumente und Auslegung privatrechtlicher Richtlinien   .  .  .  V. Zur Wahl des Regelungsinstruments   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  VI. Zusammenfassung in Thesen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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Die Frage nach dem Wert ökonomischer Erkenntnisse für das Recht beschäftigt die Wissenschaft vom Recht seit geraumer Zeit. Im folgenden soll aufgezeigt und anhand von Beispielen veranschaulicht werden, worin ihr Nutzen besonders für das Europäische Privatrecht erblickt werden kann und wo „Einbruchstellen“ für ökonomisches Gedankengut 1 zu verorten sind.

I.

Ökonomische Theorie und Ausgestaltung von Privatrechtsregeln

Schon im Grundsatz kann nicht ernstlich angezweifelt werden, daß es sinnvoll ist, Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften bei der Gesetzgebung zu beachten. Dies gilt insbesondere dann, wenn Privatrecht mit dem Ziel gesetzt wird, die Funktionsfähigkeit von Märkten zu sichern und damit eine effiziente Ressourcenallokation zu ermöglichen. Letzteres läßt sich auch allenthalben für die wirtschaftsrechtliche Regulierung auf europäischer Ebene konstatieren. Evident ist dies zunächst für das Kartellrecht, das darauf ausgerichtet ist, kompetitive Marktstrukturen zu gewährleisten. Hierdurch soll verhindert werden, daß sich Monopole bzw. Kartelle durch eine Reduzierung des Outputs auf Kosten der Marktgegenseite eine Monopolrendite sichern und hierbei Abnehmer vom Zugang zu Gütern ausschließen.2 Lauterkeitsrecht und Kapitalmarktrecht wollen das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Märkte schützen, indem sie das Marktverhalten reglementieren. In diesen

1 Im folgenden wird unspezifisch von „ökonomischen Erkenntnissen“ etc. gesprochen. Zur Frage, welchen Ansatzes wirtschaftswissenschaftlicher Forschung es bedarf, damit diese für das Recht von Nutzen sein kann, siehe den Beitrag Kirchners, § 3. 2 Varian, Intermediate Microeconomics, S. 419 – 429.

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1. Teil: Grundlagen

Fällen sind Märkte bzw. das Verhalten von Marktteilnehmern Gegenstand von Rechtssetzung. Betroffen ist damit ein originärer Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaften. Hier erscheint es deshalb besonders naheliegend, daß ökonomische Erkenntnisse ein wichtiges Hilfsmittel für die Ausformung von Rechtsregeln sein können. Freilich steht es prinzipiell im Ermessen des Gesetzgebers, welchen Stellenwert er ökonomischen Überlegungen beimißt. Maßgebliches Argument hierfür ist im deutschen Recht, daß das Grundgesetz die Wirtschaftsordnung nicht auf eine Marktwirtschaft festlege; deshalb könne erst recht nicht die Rede davon sein, daß der Gesetzgeber dazu verpflichtet sei, die Rechtsordnung auf ein Effizienzziel hin auszurichten.3 Diese Argumentation läßt sich nicht auf die europäische Ebene übertragen. Wie etwa Art. 4 Abs. 1, 98 und 105 Abs. 1 EG zeigen, prägen „offene Märkte“ und „freier Wettbewerb“ als Ordnungsprinzipien die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft. Jedoch folgt hieraus nicht, daß die Wirtschaftspolitik auf eine Maximierung der sozialen Wohlfahrt ausgerichtet sein müßte. Zudem steht der Wirtschaftsverfassung eine Palette weiterer Gesetzgebungsaufträge gegenüber, etwa in der Sozial-, Kultur-, Gesundheits- Verbraucher- und Umweltpolitik, die offensichtlich nicht unmittelbar mit Effizienzüberlegungen verknüpft sind. Der EG-Vertrag verpflichtet den Gemeinschaftsgesetzgeber deshalb nicht generell dazu, das Gemeinschaftsrecht an einem ökonomischen Effizienzziel auszurichten. Umgekehrt setzt allerdings das höherrangige Recht, also insbesondere die Grundrechte oder Verfassungsprinzipien (z.B. das Sozialstaatsprinzip), dem Regelgeber Grenzen bei der Berücksichtigung von Effizienzüberlegungen; 4 das gilt auf europäischer Ebene gleichermaßen wie für das nationale Recht. Diese allgemeinen Überlegungen lassen sich für die Rechtsetzung im Privatrecht der Europäischen Gemeinschaft weiter präzisieren, insoweit diese sich auf die Binnenmarktkompetenz der Art. 94 bzw. 95 EG stützt. Diese Gesetzgebung muß deshalb primär dem Ziel verpflichtet sein, der Integration der Märkte zu dienen. Zentrales Anliegen der Binnenmarktintegration wiederum ist es, die soziale Wohlfahrt in der Europäischen Gemeinschaft zu steigern. Beredtes Zeugnis hierfür legt der im April 1956 vorgelegte Spaak-Bericht 5 ab, der das Konzept der wirtschaftlichen Integration vorbestimmte, wie es schließlich mit den Römischen Verträgen 1957 beschlossen wurde.6 Im Spaak-Bericht wird die Schaffung des Gemeinsamen Marktes

3 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 443 – 445. 4 Hierzu Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 445 – 449. 5 Regierungsausschuß, eingesetzt von der Konferenz von Messina, Bericht der Delegationsleiter an die Außenminister, MAE 120 d/56 (korr.), Brüssel, den 21. April 1956 (im folgenden: Spaak-Bericht). 6 Einer Kommission unter Vorsitz des belgischen Außenministers Paul-Henri Spaak war die Aufgabe übertragen worden, mögliche Wege einer weiteren wirtschaftlichen Integration zu prüfen. Dies war notwendig geworden, nachdem 1955 die Konferenz von Messina die Unstimmigkeiten über diese Frage unter den sechs Mitgliedstaaten der Montanunion deutlich gemacht hatte. Der

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§ 3.1 Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht

als Maßnahme angesehen, um einen großen Wirtschaftsraum aufzubauen, „in dem die Voraussetzungen für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik geschaffen werden, die – gestützt auf die Einheit mächtiger Produktionskräfte – eine fortlaufende wirtschaftliche Ausweitung, größere Sicherheit gegen Rückschläge, eine beschleunigte Hebung des Lebensstandards und die Entwicklung harmonischer Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten zum Ziele haben wird.“ 7 Der Binnenmarkt ist danach primär als Instrument anzusehen, um den Wettbewerbsdruck in der Gemeinschaft zu erhöhen, wovon sich die Konstrukteure des Gemeinsamen Marktes eine höhere ökonomische Effizienz und mehr Wohlstand erhofften.8 Hieraus folgt, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber im Rahmen der Binnenmarktgesetzgebung dazu aufgerufen ist, Regulierung nach Effizienzgesichtspunkten auszurichten. Daß sich der europäische Regelgeber auch dieser Verpflichtung bewußt ist, wird an den Begründungen zu Rechtsakten erkennbar, die sich auf die Binnenmarktgesetzgebungskompetenz stützen. Paradigmatisch hierfür steht die zweite Begründungserwägung zur Marktmißbrauchsrichtlinie,9 wo es heißt: „Ein integrierter und effizienter Finanzmarkt setzt Marktintegrität voraus. Das reibungslose Funktionieren der Wertpapiermärkte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Märkte sind Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum und Wohlstand.“ Der Gemeinschaftsgesetzgeber ist im Rahmen der Binnenmarktgesetzgebung dazu aufgerufen, sich zu vergewissern, ob eine Regelung tatsächlich wohlfahrtsfördernd wirken wird. Bei marktregulierenden Eingriffen durch Privatrecht ist etwa im Vorhinein zu klären, ob zum einen ein regulierungsbedürftiges Problem vorliegt oder ob nicht die bestehenden Marktmechanismen hinreichend sind. Zum anderen muß geprüft werden, ob die vorgesehenen Regulierungsinstrumente geeignet sind, den definierten Problemen auf effiziente Weise entgegenzuwirken. Ein instruktives Beispiel für einen Fall, bei dem die Europäische Kommission eben dies versäumt hat, bildet der (ursprüngliche) Vorschlag aus dem Jahre 2002 für eine Richtlinie zur Reform des Verbraucherkreditrechts,10 der zwischenzeitlich von der Kommission aus gutem Grund erheblich überarbeitet worden ist.11 Denn eine Überregulierung des Kreditmarktes wirkt letztlich kontraproduktiv für die Wohlfahrt der Verbraucher, die Darlehen nachfragen und deren Interessen eigentlich geschützt werden sollen.12 Spaak-Bericht, der empfahl, eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und eine Europäische Atomgemeinschaft zu gründen, wurde im Mai 1956 von den Außenministern auf der Konferenz von Venedig angenommen und bildete die Grundlage für die Verhandlungen über die Vertragstexte. Zu Entstehungsgeschichte und Bedeutung des Spaak-Berichtes ausführlich Küsters, Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 135 – 268. 7 Spaak-Bericht, Erster Teil, Einleitung, S. 15. 8 Vgl. Molle, The Economics of European Integration, S. 13 – 42. 9 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003 über Insidergeschäfte und Marktmanipulation (Marktmißbrauch), ABl. 2003 Nr. L 96/16. 10 Vorschlag v. 11.9.2002 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit (Verbraucherkreditrichtlinie), KOM(2002) 443 endg., ABl. 2002 Nr. C 331 E/200. 11 Änderungen in KOM(2004) 747 endg. 12 Eingehend hierzu Franck, ZBB 2003, 334.

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1. Teil: Grundlagen

II.

Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz

Erst die Eignung, Märkte zu integrieren und hierdurch ihre Effizienz zu stärken, wirkt nach dem Konzept, das Art. 95 EG zugrunde liegt, kompetenzbegründend.13 Ob eine Harmonisierungsmaßnahme, die typischerweise ein Mehr an (einheitlicher) Regulierung mit sich bringt, auch tatsächlich Wohlfahrtsgewinne verspricht, muß deshalb ein wichtiges Kriterium bei der Frage sein, ob die Gemeinschaft sich auf die Binnenmarktkompetenz stützen kann. Andererseits entzieht eine mangelnde Berücksichtigung der Auswirkungen auf die soziale Wohlfahrt für sich einer Harmonisierungsmaßnahme nicht die Kompetenz des Art. 95 EG. Das wird vor allem an der Regelung des Art. 95 Abs. 3 EG deutlich. Dem Gesetzgeber bleibt bei der Frage, welche Maßnahmen er als geeignet ansieht, um die Integration des Binnenmarktes voranzutreiben, ein weiter Ermessensspielraum um sonstige Ziele wie Gesundheitsschutz, Sicherheit, Verbraucherschutz oder Umweltschutz zu berücksichtigen. Die Auswirkung einer Harmonisierungsmaßnahme auf die soziale Wohlfahrt ist aber jedenfalls ein wichtiger Prüfstein, um die rechtspolitische Überzeugungskraft einer gesetzgeberischen Initiative, die sich auf Art. 95 EG stützt, bewerten zu können. Dies kann am Beispiel der Tabakwerberichtlinie 14 verdeutlicht werden.15 Die Richtlinie beschränkt die Werbung für Tabakerzeugnisse in erheblichem Maße, sie verbietet insbesondere die Werbung in der Presse (Art. 3) sowie die Rundfunkwerbung (Art. 4).16 Im Schrifttum wird der Tabakwerberichtlinie weithin die Kompetenzgrundlage abgesprochen.17 Im Kern wird dies damit begründet, daß die Richtlinie faktisch die Binnenmarktintegration kaum verbessere. Sachlich sei sie vielmehr vom Ziel des Gesundheitsschutzes dominiert. Darin liege aber eine Umgehung des Art. 152 Abs. 4 lit. c EG, der jegliche Harmonisierung zum Schutze und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit ausschließt. Ökonomische Argumente können die Ansicht begründen, daß die Tabakwerberichtlinie nicht überzeugend auf Art. 95 EG gestützt werden kann: Die Beschränkung der Tabakwerbung läßt im ganzen kaum Wohlfahrtsgewinne durch eine Förderung

13 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. 14 Richtlinie 2003/33/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.5.2003 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen, ABl. 2003 Nr. L 152/16. 15 Die gleichnamige Vorgängerrichtlinie 98/43/EG, ABl. 1998 Nr. L 213/9, die jegliche Absatzförderung von Tabakprodukten untersagte und die der europäische Gesetzgeber auch auf Art. 95 EG gestützt hatte, wurde vom EuGH wegen mangelnder Kompetenzgrundlage für nichtig erklärt, EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 Leitsatz 3; zu diesem Urteil etwa Calliess, Jura 2001, 311; Götz, JZ 2001, 34; Hervey, CMLR 2001, 1421; Hilf/Frahm, RIW 2001, 128; Stein, EWS 2001, 12; Usher, CMLR 2001, 1519. 16 Die Fernsehwerbung wird bereits durch Art. 13 der Richtlinie 89/552/EWG des Rates v. 3.10.1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. 1989 Nr. L 298/23, verboten. 17 Siehe etwa Dauses, EuZW 2001, 577; Görlitz, ZUM 2002, 97; ders, EuZW 2003, 485; Oppermann, ZUM 2001, 950; Schwarze, ZUM 2002, 89; Wägenbauer, EuZW 2001, 450.

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§ 3.1 Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht

der Binnenmarktintegration erwarten. Zwar ist es denkbar, daß der freie Verkehr insbesondere von Zeitungen oder Zeitschriften durch unterschiedliche nationale Regelungen über die Tabakwerbung beschränkt wird. Doch sind die damit verbundenen konkreten Wohlfahrtsnachteile wohl eher gering, bedenkt man, daß Printmedien typischerweise ohnehin auf Grund der Sprachbarrieren und ihres thematischen Zuschnitts nur einen geringen Bruchteil ihres Umsatzes durch grenzüberschreitenden Absatz erzielen. Erhebliche Wohlfahrtsnachteile drohen freilich dadurch, daß die Richtlinie dem Markt für Tabakprodukte mit der Presse- und Rundfunkwerbung ein zentrales wettbewerbsstrategisches und transparenzförderndes Instrument entzieht und damit ganz erheblich die Funktionsfähigkeit des Marktes für Tabakprodukte einschränkt. Die Tabakwerberichtlinie wirkt damit in einer Art und Weise, die dem intendierten Wirkungsmechanismus der Binnenmarktintegration entgegensteht. Man mag demgegenüber einwenden, daß die Beschränkung der Tabakwerbung zu einem Rückgang des Tabakkonsums führen werde, was wiederum mit Wohlfahrtsgewinnen verbunden sei. Dafür spricht, daß der Konsum von Tabakprodukten gesundheitsschädlich, potentiell sogar lebensgefährlich ist und damit gesellschaftliche Kosten verursacht, da Humankapital vernichtet wird und den sozialen Sicherungssystemen durch die Behandlungskosten und Beitragsausfälle hohe Kosten entstehen. Zu bedenken sind andererseits Einsparungen insbesondere in der Renten-, aber auch in der Krankenversicherung aufgrund der geringeren Lebenserwartung von Rauchern. Der angedeutete Einwand der Wohlfahrtsgewinne durch Antitabakpolitik vermochte jedoch aufgrund mehrerer grundsätzlicher Überlegungen nicht zu überzeugen. Zum ersten ist schlicht zu entgegnen, daß es um Wohlfahrtsgewinne durch Gesundheitsschutz ginge, nicht aber durch Binnenmarktintegration. Hierfür fehlt dem europäischen Rechtsetzer indes gerade die Kompetenz. Zum zweiten ist der Gesetzgeber – angesichts der beschriebenen Zielsetzung des Art. 95 EG und angesichts der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung – aufgerufen, alle marktkonformen Regulierungsmaßnahmen auszuschöpfen, bevor er auf ein umfassendes Tabakwerbeverbot zurückgreift. Durch Anti-Rauch-Kampagnen und durch die Etikettierungsvorschriften der Tabaketikettierungsrichtlinie wird bereits kontinuierlich auf die gesundheitlichen Risiken, die mit dem Rauchen verbunden sind, hingewiesen.18 Nichtraucher können durch Rauchverbote am Arbeitsplatz, in Restaurants, an öffentlichen Plätzen etc. geschützt werden. Den Schutz Minderjähriger können Vertriebsverbote und Werbebeschränkungen gewährleisten. Negative externe Effekte auf Grund der erhöhten Kosten für das Gesundheitswesen können durch die Tabaksteuer aufgefangen werden. 18 Empirische Studien haben gezeigt, daß der Tabakkonsum gesenkt werden kann, klärt man über die Gesundheitsschäden des Rauchens auf, Schneider/Klein/Murphy, 24 J. Law & Econ. (1981), 575. Insbesondere wurde nachgewiesen, daß Werbespots gegen Zigaretten das Rauchen bei Teenagern signifikant reduzieren können, da die Präferenzen in dieser Gruppe noch weniger stark ausgeprägt sind, Lewitt/Coate/Grossman, 24 J. Law & Econ. (1981), 545.

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Zu bedenken sind schließlich auch die Grenzen der Wirkung von Werbebeschränkungen bzw. sogar mögliche kontraproduktive Effekte, die erst bei ökonomischer Analyse verständlich werden. Eine empirische Studie zu verschiedenen gesetzgeberischen Initiativen gegen das Rauchen und insbesondere auch zum Advertising Ban, mit dem amerikanisches Bundesrecht 1971 die Radio- und Fernsehwerbung für Zigaretten verbot,19 hat einerseits gezeigt, daß die Werbung die Nachfrage nach Zigaretten nur gering beeinflußt und deshalb ein Werbeverbot auch nur einen statistisch fast irrelevanten Rückgang der Nachfrage verursachte. Andererseits ist aber die Nachfrage nach Zigaretten sehr preiselastisch. Da die Werbeverbote eine Kostenersparnis für die Produzenten bedeutete, ermöglichten sie ihnen, die Preise für Zigaretten zu senken. Dies erklärt, warum der Advertising Ban nach dem in der Studie verwendeten Regressionsmodell zu einem Anstieg im Zigarettenkonsum führte. Sehr zweifelhaft ist deshalb, ob ein Werbeverbot tatsächlich ein geeignetes Mittel im „Kampf gegen den Tabakkonsum“ darstellt. Angesichts der hohen Preiselastizität der Nachfrage wäre eine Steuererhöhung jedenfalls ein deutlich effektiveres Mittel.20

III.

Ökonomische Denkmuster als Schlüssel zum Verständnis der Grundfreiheitendogmatik

Die konstatierte Ausrichtung des Binnenmarktes auf eine Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt setzt sich in den Grundfreiheiten fort, die als rechtliches Instrument zur Förderung der Integration der Märkte zu verstehen sind. Verschiedene dogmatische Entwicklungen zu den Grundfreiheiten sind ohne Rückgriff auf ökonomische Erwägungen kaum erklärbar. Instruktiv hierfür ist die Keck-Rechtsprechung, wonach bestimmte nationale Bestimmungen, die Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, grundsätzlich nicht als Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit anzusehen sind.21 Der Gerichtshof hatte hiermit ein Kriterium zur Einschränkung des Tatbestandes des Art. 28 EG postuliert, dessen Ausformung und Begründung der Rechtspraxis und der Rechtswissenschaft einige Rätsel aufgab. Schnell wurde klar, daß eine schematische, rein begriffliche Abgrenzung der produkt- von den vertriebsbezogenen Regelungen zum einen teilweise schwer durchzuführen sein würde und zum anderen in vielen Fällen nicht zu überzeugenden Abgrenzungen führen konnte. So stellen Werbeverbote im Grundsatz bloße Verkaufsmodalitäten dar.22 Befindet sich die Werbung indes auf dem Produkt, handelt

19 Schneider/Klein/Murphy, 24 J. Law & Econ. (1981), 575, 599. 20 Van den Bergh, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Effiziente Verhaltenssteuerung, S. 97. 21 EuGH v. 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 16. 22 EuGH v. 15.12.1993 – Rs. C-292/92 Hünermund u.a., Slg. 1993, I-6787 Rn. 21– 24 (Werbeverbot für apothekenübliche Produkte außerhalb von Apotheken); EuGH v. 9.2.1995 – Rs. C-412/93 Leclerc-Siplec, Slg. 1995, I-179 Rn. 21– 24 (Verbot der Fernsehwerbung für eine bestimmte Form des Vertriebs von Kraftstoff).

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es sich um eine produktbezogene Regelung.23 Zudem war der Formulierung des EuGH zu entnehmen, daß es weiterhin einen Bestand nationaler Regelungen geben konnte, die zwar begrifflich als Verkaufsmodalitäten verstanden werden konnten, trotzdem aber als rechtfertigungsbedürftige Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit zu werten waren. Dies hat den Raum geöffnet für zwei ökonomisch begründete Argumentationslinien, um die Keck-Rechtsprechung zu rationalisieren und zu operationalisieren. Eine erste Argumentation betont, daß es Ziel der Warenverkehrsfreiheit sei, den Zutritt auf andere mitgliedstaatliche Märkte nicht zu erschweren.24 Davon ausgehend sollen aber nationale Maßnahmen nicht an den Grundfreiheiten zu messen sein, die nach erfolgtem Marktzutritt lediglich die Modalitäten des Wettbewerbs regeln und auch faktisch die grenzüberschreitend gehandelten Waren nicht anders betreffen als die Waren, die rein inländisch vertrieben werden. Mitgliedstaatliche Verkaufsmodalitäten beschränken danach die Warenverkehrsfreiheit, wenn sie den Marktzutritt erheblich erschweren. Hierunter können vor allem Regeln fallen, die die Absatzförderung für bestimmte Produkte verbieten. Denn neu auf einen Markt drängende Erzeugnisse sind in viel größerem Maße auf Werbung und andere Maßnahmen der Absatzförderung angewiesen als die etablierten inländischen Erzeugnisse, mit denen die Verbraucher bereits vertraut sind. Diese Argumentation übernahm der EuGH in der GIP-Entscheidung, in der er urteilte, daß das nahezu vollständige Verbot der Absatzförderung für alkoholische Produkte in Schweden – obwohl es sich nur um eine Verkaufsmodalität handelte – eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit darstellte, die allerdings rechtfertigungsfähig war.25 Eine Erschwerung des Marktzutritts ist gleichfalls zu konstatieren, wenn eine nationale Regelung eine Absatztechnik für eine Produktgruppe untersagt. Folgerichtig qualifizierte der Gerichtshof auch das deutsche Verbot des Versandhandels mit Arzneimitteln, die in Deutschland nur in Apotheken verkauft werden durften, als eine Maßnahme gleicher Wirkung i.S.v. Art. 28 EG, obgleich es sich auch hier begrifflich lediglich um eine Verkaufsmodalität handelte.26 Eine zweite dezidiert ökonomisch begründete Argumentationslinie hebt hervor, daß Unternehmen von der Binnenmarktintegration profitieren sollen, indem sich für sie Größenvorteile und Synergieeffekte (economies of scale and scope) ergeben sollen. Mitgliedstaatliche Verkaufsmodalitäten können indes verhindern, daß ein Produzent die Kostenvorteile, die ein einheitlicher Binnenmarkt mit sich bringen soll,

23 EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93 Mars, Slg. 1995, I-1923 Rn. 11–14. 24 Schwarze-Becker, Art. 28 EG Rn. 49; Ehlers, Jura 2001, 482, 485. 25 EuGH v. 8.3.2001 – Rs. C-405/98 GIP, Slg. 2001, I-1795 Rn. 18 – 25; zuvor bereits EuGH v. 9.7.1997 – verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95 De Agostini und TV-Shop, Slg. 1997, I-3843 Rn. 42 f. Siehe auch Dethloff, Europäisierung des Wettbewerbsrechts, S. 174 f.; Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EG Rn. 30; Stein, EuZW 1995, 435, 436. 26 EuGH v. 11.12.2003 – Rs. C-322/01 Deutscher Apothekerverband ./. DocMorris und Jaques Waterval, Slg. 2003, I-14887 Rn. 55 –76.

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1. Teil: Grundlagen

auch durch eine einheitliche Marketingstrategie umsetzt. Dementsprechend wird unter dem Stichwort des Euro-Marketing argumentiert, daß vertriebsbezogene Regelungen auch nach der Keck-Rechtsprechung in den Tatbestand des Art. 28 EG fallen, wenn ein Anbieter durch sie gezwungen ist, eine einheitlich für mehrere Länder oder sogar den gesamten Binnenmarkt konzipierte Marketingstrategie zu ändern, ihm dadurch Anpassungskosten entstehen und deshalb der gemeinschaftliche Warenverkehr gestört wird.27 Dieses Argument der Ermöglichung einer einheitlichen Marketingstrategie durch die Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH im Urteil Douwe Egberts berücksichtigt. Dort wurde entschieden, daß das belgische Verbot der Werbung für Lebensmittel mit Bezugnahmen auf das „Schlankerwerden“ und „ärztliche Empfehlungen“ eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung des freien Warenverkehrs darstelle, weil es die Aufgabe eines Werbesystems verlangt, welches der Anbieter für besonders wirksam hält.28

IV.

Ökonomische Argumente und Auslegung privatrechtlicher Richtlinien

Scheint also die Berücksichtigung ökonomischer Argumente bei der Gesetzgebung und bei der Auslegung der Grundfreiheiten dem Grunde nach jedenfalls kaum problematisch, so ist doch schwieriger zu beurteilen, inwieweit Effizienzüberlegungen als Auslegungskriterium für das Sekundärrecht heranzuziehen sind. Ökonomische Überlegungen für die Auslegung fruchtbar zu machen ist dann überzeugend, wenn sich dies dem Willen des Gesetzgebers bzw. dem Ziel und dem Zweck der interpretationsbedürftigen Norm entnehmen läßt. Ökonomische Argumente dienen so als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung.29 Die Tatsache, daß sich ein Rechtsakt auf die Binnenmarktkompetenz stützt, ist für sich zu unspezifisch, um darin eine Anordnung der Berücksichtigung ökonomischer Argumente bei der Auslegung erkennen zu können. Anhaltspunkte hierfür müssen sich unmittelbar aus dem jeweiligen Rechtsakt ergeben. Eine Besonderheit des europäischen Privatrechts besteht aber darin, daß nicht nur Bereiche wie etwa das Kartell- oder Kapitalmarktrecht – bei denen das auf der Hand liegen mag – als Regeln zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Märkte anzusehen sind, sondern

27 Ausdrücklich unter Hinweis auf den Aspekt der economies of scale Ackermann, RIW 1994, 189, 194; s. im übrigen Leible/Sosnitza, K&R 1998, 283, 287 m.w.N.; Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EG Rn. 28; Dethloff, Europäisierung des Wettbewerbsrechts, S. 164 ff.; Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 102, stellt darauf ab, ob durch die mitgliedstaatlichen Normen „Werbung oder andere wichtige Vertriebsparameter in ihrem Kern“ beschränkt werden. 28 EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-239/02 Douwe Egberts, Slg. 2004, I-7007 Rn. 52; zu dieser Entscheidung Knopp/Grieb, ZLR 2004, 611– 618. 29 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. Näher hierzu etwa Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 450 ff.; Grundmann, RabelsZ 66 (1997), 423, 430 – 443; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 29 – 31.

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daß diese Zielstellung auch den wesentlichen Bestand des europäischen Vertragsrechts prägt.30 Hieraus kann vielfach die Legitimation hergeleitet werden, wirtschaftstheoretische Überlegungen auch zur Auslegung heranzuziehen. Dies mag anhand einer Auslegungsfrage zur Ausgestaltung des Widerrufsrechts in Art. 6 der Fernabsatzrichtlinie 31 verdeutlicht werden. Wird den Abnehmern ein Widerrufsrecht eingeräumt, so wird ihnen damit eine erweiterte Möglichkeit gegeben, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und noch (nachträglich) für ihre vertragliche Entscheidung zu berücksichtigen. Der europäische Regelgeber sah das Widerrufsrecht als Instrument zur Überwindung von Informationsasymmetrien an, um so den Fernabsatz als Absatztechnik zu unterstützen und ein Marktversagen infolge von strukturellen Informationsasymmetrien zu verhindern.32 Grundgedanke der Regelung ist es also, daß ein funktionsfähiger Fernabsatzmarkt wohlstandsfördernd sei und daß ein Widerrufsrecht grundsätzlich ein nützliches Instrument sei, die Funktionsfähigkeit des Fernabsatzmarktes zu gewährleisten. Der Ausgestaltung der Fernabsatzrichtlinie ist jedoch auch zu entnehmen, daß der Regelgeber für bestimmte Konstellationen davon ausging, daß Wohlfahrtsnachteile durch die Einräumung eines Widerrufsrechts gegenüber den Vorteilen überwiegen würden. Dies kann vor allem bei relativ hohen Transaktionskosten für die Ausübung des Widerrufsrechts oder bei hohen Kosten aufgrund möglichen opportunistischen Verhaltens der Abnehmer der Fall sein.33 Diese Kosten fallen zwar beim Händler an, können von diesem aber über die Preise an die Verbraucher weitergegeben werden. Angesichts des überwiegenden Risikos opportunistischen Verhaltens steht Verbrauchern deshalb etwa nach Art. 6 Abs. 3 Sps. 4 Fernabsatzrichtlinie bei „Verträgen zur Lieferung von Audio- oder Videoaufzeichnungen oder Software, die vom Verbraucher entsiegelt worden sind“ kein Widerrufsrecht zu. Es soll verhindert werden, daß Kunden sich das jeweilige Medium bestellen, um es dann zu kopieren und anschließend den Vertrag zu widerrufen. Der Wortlaut des Tatbestands scheint für die Anwendung der Ausnahmeregelung vorauszusetzen, daß die Waren bei Verkauf versiegelt waren.34 Folge einer solchen Auslegung wäre, daß der Anbieter sich nicht vor opportunistischem Verhalten

30 Grundmann, NJW 2000, 14, 17. 31 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 Nr. L 144/19. 32 Bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz liegen die Informationsnachteile der Abnehmer auf der Hand. Beim Absatz etwa über Kataloge oder das Internet können Güter, die im Ladengeschäft erworben als Suchgüter zu qualifizieren wären, über deren Qualität sich die Abnehmer also mit nur geringem Aufwand durch bloßes Betrachten oder einfaches Ausprobieren informieren können, die Eigenschaften von Erfahrungsgütern annehmen, deren Qualität sich erst nach Vertragsschluß erschließt, nämlich nachdem der Abnehmer das Produkt zugeschickt bekommen hat, vgl. Begründungserwägung 14 Fernabsatzrichtlinie; Rekaiti/Van den Bergh, 23 JCP (2000), 371, 380. 33 Neben der im folgenden diskutierten Regelung des Art. 6 Abs. 3 Sps. 4 läßt sich diese Wertung u.a. auch Art. 6 Abs. 3 Sps. 2, 3 und 6 Fernabsatzrichtlinie entnehmen. 34 So unter Hinweis auf die Eindeutigkeit des Wortlauts und die Notwendigkeit einer restriktiven Auslegung von Ausnahmevorschriften Grabitz/Hilf-Micklitz, Bd. III A 3 Rn. 96.

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schützen kann, wenn keine Versiegelung möglich ist. Die Ausnahmevorschrift würde etwa nicht für Verträge über Software oder Filme anwendbar sein, die direkt aus dem Internet heruntergeladen werden. Bestünde hier aber stets ein Widerrufsrecht des Verbrauchers, belastete dies die Funktionsfähigkeit dieses Marktes wohl erheblich und könnte dazu führen, daß letztlich keine Filme etc. im Downloadverfahren angeboten werden.35 Möglich ist es allerdings auch, Art. 6 Abs. 3 Sps. 4 Fernabsatzrichtlinie so zu verstehen, daß für ursprünglich versiegelte Waren die Entsiegelung eine zusätzliche Voraussetzung dafür ist, daß die Ausnahmeregelung eingreift, im übrigen aber bei den genannten Produkten ein Widerrufsrecht generell nicht besteht. Diese Interpretation ist vorzugswürdig, weil nur sie den aufgezeigten ökonomischen Wertungen, wie sie sich auch der Regelgeber des Widerrufsrechts zu eigen gemacht hat, zum Durchbruch verhilft. Ein Widerrufsrecht soll eben dann nicht gewährt werden, wenn hiervon keine Wohlstandsgewinne zu erwarten sind. Das Auslegungsbeispiel verdeutlicht, daß der Mehrwert eines Rückgriffs auf ökonomische Überlegungen darin bestehen kann, daß hierdurch das zugrundeliegende gesetzgeberische Konzept in seiner Tragweite deutlich wird und durch die Auslegung fortgesetzt werden kann. Die Überzeugungskraft von Auslegungsergebnissen, die sich im wesentlichen auf eine teleologische Interpretation stützen, kann hierdurch entscheidend verstärkt werden.

V.

Zur Wahl des Regelungsinstruments

Ein spezifisch gemeinschaftsrechtliches Anwendungsfeld für ökonomische Überlegungen bietet schließlich die Frage nach dem optimalen Regelungsinstrument. Denn dem Gemeinschaftsgesetzgeber steht zur Förderung der Integration der Märkte nicht nur die Möglichkeit der Rechtsharmonisierung zur Verfügung, sondern er kann den Binnenmarktakteuren auch ein supranationales Instrument zur Verfügung stellen, das neben die nationalen Instrumente tritt. Hierin liegt die Option, die schlagwortartig als Erhalt eines „Wettbewerbs der Privatrechtsordnungen“ beschrieben wird.36 Ökonomische Argumente spielen eine wichtige Rolle, um die Vor- und Nachteile zentraler gegenüber dezentraler Regulierung erkennen und abschätzen zu können. Einheitliche Regulierung in einem Gemeinsamen Markt wird gemeinhin mit zwei Vorteilen verknüpft: 37 Zentrale Lösungen können externe Effekte über die Grenzen 35 Nach Palandt-Heinrichs, 62. Aufl. (2003), § 312 d Rn. 10, soll dies durch die Anwendung des § 312 d Abs. 3 BGB (bei dem Hinweis auf Abs. 2 in der Kommentierung handelt es sich wohl um ein redaktionelles Versehen) verhindert werden können, der Art. 6 Abs. 3 Sps. 1 Fernabsatzrichtlinie umsetzt. Dies scheitert indes daran, daß ein Film dadurch, daß man ihn über das Internet kauft und herunterlädt, nicht zu einer Dienstleistung wird. 36 Grundlegend: Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen. 37 Zu den Vor- und Nachteilen zentraler und dezentraler Regulierung Gatsios/Holmes, Regulatory competition, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law,

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einzelner Regelgeber hinweg vermeiden und Kosten sparen, da Skalenerträge besser ausgenutzt und Transaktionskosten gespart werden können. Dem stehen jedoch Vorteile dezentraler Regulierung gegenüber. Erstens: In einem zu regulierenden Gebiet gibt es regional unterschiedliche Präferenzen in der Bevölkerung und unterschiedliche äußere Bedingungen. Eine zentrale Lösung kann immer nur eine „durchschnittliche“ Lösung sein. Dezentrale, räumlich differenzierte Regelungen können dagegen effizientere Lösungen finden, die heterogenen Präferenzen besser gerecht werden. Zweitens belassen dezentrale Regelungskompetenzen die Möglichkeit zu parallelen Experimentierungsprozessen. Durch die Beschränkung auf eine zentrale Regulierungsinstanz verzichtete man auf einen Wettbewerb der Regulierungsideen und damit auf den Wettbewerb als Mittel, neues Wissen zu generieren und zu verbreiten.38 Drittens schließlich ist zu berücksichtigen, daß Regulierung stets durch Repräsentanten erfolgt und damit das Problem einhergeht, daß Regelgeber u.U. einzelne Gruppen auf Kosten der Allgemeinheit begünstigen (sog. rent-seeking-Problem). Bei einer weitgehend dezentralen Entscheidungsfindung werden Macht und Einfluß einzelner Regelgeber begrenzt, zudem sehen sie sich einem Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Das vermindert die Risiken des rent-seeking-Problems. Ob zentralen Lösungen oder einem Markt für Regulierungsideen der Vorzug zu geben ist, läßt sich nicht generell beantworten, sondern bedarf einer Analyse im Einzelfall. Diese Diskussion hat dadurch an Aktualität gewonnen, daß die Schaffung eines optionalen Europäischen Vertragsrechtskodex als eine mögliche Variante für die Zukunft eines Europäischen Vertragsrechts und als Alternative gegenüber weiterer Rechtsharmonisierung im Raume steht.39 Etwas in den Hintergrund getreten ist hierbei, daß mit der Societas Europea bereits eine supranationale Rechtsform besteht, die – wenn auch nicht frei, sondern nur für bestimmte Konstellationen – neben den nationalen Rechtsformen für die Marktteilnehmer wählbar ist.40

Bd. 3, S. 273; Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 84; Woolcock, in: McCahery u.a. (Hrsg.), International Regulatory Competition and Coordination, S. 298. 38 Grundlegend für diesen Ansatz einer evolutorischen Marktprozeß- und Wettbewerbstheorie von Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. Für den verfassungsrechtlichen Rahmen des Gemeinschaftsrechts wird konstatiert, daß er sich schlecht dafür eigne, Rechtsvereinheitlichungs- und -angleichungsprozesse als „offene Lernprozesse“ zu gestalten, Kirchner, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 109. Zur Bedeutung des Lern- und Suchpotentials durch den Wettbewerb zwischen Vertragsrechtsordnungen Kirchner, in: Weyers (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht, S. 118 f. 39 Dazu etwa Basedow, ZEuP 2004, 1; Staudenmayer, ZEuP 2003, 828. 40 Siehe für ökonomische Überlegungen zur Rolle der Societas Europea neben den nationalen Gesellschaftsrechten Enriques, ZGR 2004, 735; Röpke/Heine, JbJZ 2004, 265.

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VI.

Zusammenfassung in Thesen

Die Ausführungen haben gezeigt, daß auf europäischer Ebene bei der Ausgestaltung, Auslegung und Fortbildung des Privatrechts für eine Reihe von Fragestellungen Raum für die Berücksichtigung ökonomischer Argumente ist und daß sich hier der ökonomischen Theorie auch besondere Herausforderungen stellen: (1) Bei der Privatrechtsgesetzgebung auf europäischer Ebene kommt ökonomischen Argumenten ein stärkeres Gewicht zu als auf nationaler Ebene. (2) Die Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne durch die Förderung der Binnenmarktintegration ist keine notwendige Voraussetzung, um eine Kompetenz aus Art. 95 EG zu begründen. Sie ist aber ein gewichtiges Indiz hierfür. (3) Ökonomische Denkmuster sind von maßgeblicher Bedeutung für das Verständnis der Grundfreiheitendogmatik (4) Privatrechtliche Richtlinien dienen in vielen Fällen der Marktunterstützung. Bei der Auslegung kann deshalb häufiger als im nationalen Privatrecht auf ökonomische Argumente zurückgegriffen werden. (5) Die Frage nach der Vorteilhaftigkeit von optionalen Instrumenten auf europäischer Ebene im Vergleich zur Rechtsharmonisierung bestimmt sich wesentlich nach ökonomischen Argumenten.

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Diskussionsbericht Christian Hofmann Als Diskussionsleiter eröffnete Grundmann mit der Aussage, die Beiträge hätten sich klar für die These ausgesprochen, eine Wortlautgrenze werde sich bei der Auslegung nicht durchsetzen können, die Diskussion. Roth hakte hierzu bei Baldus mit der Frage nach, ob seine Aussagen gleichermaßen für das öffentliche Recht gelten könnten, da doch zu überlegen sei, in den verschiedenen Rechtsgebieten auch unterschiedliche Methoden anzuwenden. Bezogen auf die These, dem Wortlaut bei der Auslegung entscheidende Bedeutung abzusprechen, erinnerte Roth an die Rechtssache Schulte/Badenia auf Vorlage des LG Bochum (Rs. C-350/03). Der Generalanwalt habe in jenem Verfahren gerade ein Plädoyer für die Wortlautauslegung gehalten und betont, daß sich auch eine finalistische Auslegung im Rahmen des Wortlauts bewegen müsse. Auch gab er zu bedenken, daß für Verordnungen andere Auslegungsmethoden gelten könnten als für Richtlinien. Baldus blieb dabei, daß dem Wortlaut nur eine untergeordnete Funktion bei der Auslegung zukomme, wenn er auch aus rein kommunikativen Gründen notwendiger Ausgangspunkt einer Auslegung sei. Bei der Methodik könne er keine Unterschiede zwischen Verordnung und Richtlinie erkennen, da sich die Unterschiede der beiden Rechtsakte bei der Auslegung nicht auswirkten. Überdies entpuppten sich die Richtlinien nur allzu oft in funktioneller Hinsicht als Vollregelungen, nämlich insbesondere dann, wenn die Rechtsform der Verordnung politisch nicht durchsetzbar gewesen sei. An Baldus gerichtet warf Rebhahn die Frage auf, ob es überhaupt noch einen gemeinschaftsrechtlichen Normtext gebe, der mit den aus dem nationalen Recht vertrauten „klassischen Methoden“ gelesen werden könne. Baldus erwiderte, diese „klassischen Methoden“ könnten allenfalls noch als Ausgangpunkt der Auslegung herangezogen werden . Schmidt-Kessel gab zu bedenken, daß die romanischen Rechtsordnungen Schwellen kennen, die an die Stelle einer Wortlautgrenze treten können, und nannte dabei das Stichwort Denaturierungsschwelle. An Franck, der Kirchner wegen kurzfristiger Verhinderung vertrat, stellte er die Frage, wie die Societas Europae als Option ökonomisch zu bewerten sei. An Schwartze gerichtet brachte er seine Zweifel an der Aussage, der EuGH arbeite kaum rechtsvergleichend, zum Ausdruck, und gab zu bedenken, daß dieser Ansatz vielleicht doch gebräuchlich sei, aber nur wenig zu Tage trete. Franck und Möslein wiesen auf mögliche Effizienzvorteile hin, die eine zu den nationalen Gesellschaftsformen hinzutretende europäische Gesellschaft besitze. Vertikaler Regulierungswettbewerb eröffne den Marktakteuren größere Wahlfreiheit und Christian Hofmann

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erlaube Regelungsarbitrage. Andererseits fehle der Societas Europaea durch vielfältige Verweise ins nationale Recht eine europaweit einheitliche Ausgestaltung. Hinzu komme, daß sie hohe Transaktionskosten verursache. Daher müsse sich erst noch bewahrheiten, ob sie eine ökonomische Alternative zu den nationalen Gesellschaftsformen darstelle. Insgesamt sei festzustellen, daß eine Diskussion über optionale Instrumente im Gesellschaftsrecht unter ökonomischem Blickwinkel noch viele offene Fragen zu klären habe. Schwartze antwortete auf Schmidt-Kessel, der EuGH argumentiere, anders als die Generalanwälte, in seinen Urteilen kaum rechtsvergleichend. Grund sei wohl der Einfluß der französischen Rechtsprechungstradition auf den EuGH, sich im Urteil kurz zu halten. Dem würde es widersprechen, sich zu anderen Rechtsordnungen einzulassen. Außerdem bestehe die Gefahr, die supranationale Autonomie aufzugeben, wenn man sich zu stark auf nationale Rechtssysteme konzentriere. Domröse war der Ansicht, für verschiedene Rechtsgebiete müsse es auch verschiedene Auslegungsmethoden geben. Auch unterscheide der EuGH bei den einzelnen Rechtsakten sehr wohl nach deren Rechtsnatur, lege Empfehlungen etwa breiter, Verordnungen und Richtlinien enger aus. Zudem warf er die Fragen auf, ob methodische Prinzipien nicht kodifiziert werden sollten, etwa nach dem Vorbild von Art. 7 CISG, und, wenn ja, wo eine solche Verankerung denkbar sei. Baldus sprach sich erneut gegen eine Unterscheidung nach einzelnen Rechtsakten aus und verwies dabei darauf, daß eine solche Differenzierung kaum praktikabel sei, da eine mit der Auslegung befaßte nationale Stelle oftmals gar nicht wisse, welches gemeinschaftsrechtliche Instrument hinter der nationalen Regelung stehe. Von einer Kodifizierung der Auslegungsregeln halte er nichts. Er verwies dazu auf die italienischen Erfahrungen, wo trotz Kodifizierung gravierende Unklarheiten herrschten. Auch Schwartze sprach sich gegen eine Kodifizierung aus. Gerade aus der Regelung im CISG gehe hervor, daß Auslegungsregeln nur allgemein, nämlich in Form von Generalklauseln, kodifiziert werden könnten, was das neuerliche Problem aufwerfe, diesen wiederum klare Konturen geben zu müssen. Riesenhuber wandte ein, daß im europäischen Sekundärrecht reichlich kodifizierte Begriffsbestimmungen existierten, weshalb es durchaus denkbar wäre, auch allgemeine Methoden wie eben Auslegungskriterien zu kodifizieren, dabei jedoch wiederum zu beachten wäre, daß in den Mitgliedstaaten wenig gemeinsame Denkstrukturen zur Auslegung existierten. Zur Rechtsvergleichung ergänzte er, daß zwar auch der EuGH rechtsvergleichende Gutachten berücksichtige, es jedoch an Transparenz fehle, man etwa nicht wisse, in welchen Fällen ein solches Gutachten in Auftrag gegeben wurde. Im übrigen bestehe das Wertungsproblem, daß unklar sei, nach welchen Kriterien sich entscheide, welchen Prinzipien der Vorzug zu geben sei, wessen Wertungen also bei einer Rechtsvergleichung zugrunde zu legen seien. Einige man sich etwa darauf, das beste und modernste Recht zu wählen, komme die Frage auf, nach welchen Prinzipien die dazu erforderliche Wertung vorzunehmen sei, insbesondere welche nationalen Wertungsmaßstäbe anzulegen seien.

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Christian Hofmann

Diskussionsbericht

Krolop gab zu bedenken, daß Richtlinien regelmäßig so detailliert seien, daß kaum noch ein Unterschied zur Verordnung bestehe. Auch er betonte die Unsicherheiten, die mit einer Vielzahl verbindlicher Sprachen für eine grammatikalische Auslegung verbunden sind. An Franck richtete er die Frage, inwiefern ökonomische Überlegungen bei der Auslegung herangezogen werden könnten. Franck sah den Mehrwert der Ökonomie bei einer zweckgeleiteten Auslegung nur darin, über ökonomische Argumente den Normzweck zu ermitteln. Da der Binnenmarkt vor allem ein ökonomisches Projekt darstelle, komme man bei der Ermittlung des Normzwecks gar nicht umhin, diesen ökonomischen Hintergrund einzubeziehen. Schwartze ergänzte zur Rechtsvergleichung, daß alle Rechtsordnungen in den Vergleich einfließen müßten, unabhängig von der Größe des einzelnen Staates. Auch er betonte das Wertungsproblem, wonach ungeklärt sei, nach welchen Kriterien die beste Regelung ermittelt werden müsse. In den Urteilen des EuGH blieben die Kriterien diffus. Es sei notwendig, die Wertungsgesichtspunkte offen zu legen und ausdrücklich zu benennen, um Kontrollmöglichkeiten zu schaffen. Baldus gab abschließend zu bedenken, daß Methode kein passe partout sein könne. Als wichtige Erkenntnisquelle sei aber eine Datenbasis denkbar, auf deren Grundlage ermittelt werden könne, welcher methodische Ansatz sich wann durchgesetzt habe. Hierbei handele es sich um eine anwendungspraktische, keine rechtstheoretische Herangehensweise.

Christian Hofmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil Abschnitt 1 Rechtsquellen § 4 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts Johannes Köndgen Übersicht I.

II.

III.

IV. V.

VI.

Grundlagen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts   .  .  .  .  .  a) Der Marktbürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: Von der „Drittwirkung“ zur „Horizontalwirkung“   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Vom klassischen zum „regulativen“ Privatrecht – und wieder zurück?   .  .  .  .  Das Primärrecht: Grundfreiheiten als Rechtsquellen des Privatrechts   .  .  .  .  .  .  .  1. Geltungsvorrang der Grundfreiheiten vor dem nationalen Privatrecht?  .  .  .  .  .  2. Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis)   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion  .  .  .  .  .  .  .  1. Richtlinien   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Richtlinien als „unvollkommene“ Rechtsquelle  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Richtlinien als „mediatisierte“ Rechtssetzung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Richtlinien als fragmentarische Rechtssetzung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Die Unvollkommenheit des Richtlinienprivatrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Mindestharmonisierung statt Vollharmonisierung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Defizite bei den Sanktionen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  cc) Unmittelbare Wirkung von Richtlinien als Ausnahme   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Die Bedeutung der Erwägungsgründe   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Verordnungen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Die Verordnung über Gebühren beim grenzüberschreitenden Geldtransfer   .  b) Die Verordnung über die Societas Europea   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Ein Europäisches Vertragsgesetzbuch als Verordnung?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  „Indirekte“ Wirkungen von Gemeinschaftsrecht: primär- und sekundärrechtskonforme Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Europäisches Soft Law   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Mitteilungen und Aktionspläne   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) „Interpretative“ Mitteilungen der Kommission  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Empfehlungen und Aktionspläne   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. „Expertenrecht“   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Delegation auf Fachleute: Ausführungsrichtlinien unter dem sog. LamfalussyProzeß   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) „Koregulierung“: Codes of Best Practice   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Resümee und Ausblick   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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2. Teil: Allgemeiner Teil

I.

Grundlagen

1.

Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre

Schon seit geraumer Zeit rechnet die Rechtsquellenlehre zu jenen Gebieten der allgemeinen Rechtstheorie, die als eher steril und langweilig gelten und in denen theoretischer Fortschritt nicht mehr stattfindet. Sogar das Prädikat, eine „Theorie“ zu sein, wird ihr verweigert; man beläßt sie auf dem Status einer Handvoll einfacher und praxistauglicher Definitions- und Systematisierungsregeln. Das provoziert geradezu die Grundsatzfrage: Wozu brauchen wir überhaupt eine Rechtsquellenlehre – von europäischer Rechtsquellenlehre ganz zu schweigen? Enthält die Rechtsquellenlehre denn irgendwelche Aussagen, die nicht ohnedies schon im Begriff des Rechts selbst aufgehoben sind? Und haftet sie nicht positivistisch-vordergründig an den Erscheinungsformen des Rechts, also an bloßen Oberflächenphänomenen? Bei näherem Hinsehen erweist sich denn auch, daß die herkömmliche Rechtsquellenlehre mindestens 1 vier ziemlich heterogene Grundfragen der Rechtstheorie zu beantworten sucht. Die erste Frage gilt der Herkunft von Recht. Darauf gibt es (wiederum traditionell) zweierlei Antworten, eine rechtsphilosophische und eine rechtssoziologische. Die Philosophen haben sich auf eine vorpositive Naturordnung, auf eine imaginäre volonté générale, eine Grundnorm oder schlicht auf die Verwirklichung der „Rechtsidee“ berufen. Die Soziologen – allen voran Max Weber – bevorzugen eine genetische Perspektive und sehen Recht entweder aus Tradition, aus autoritativer Setzung oder aus richterlicher Praxis (Präjudizien) entstehen. Beide Antworten sind in Wahrheit (und jede auf ihre Art) nicht mehr und nicht weniger als Annäherungen an den Begriff des Rechts bzw. an die Theorie der Rechtsgeltung. Ein zweites Thema der Rechtsquellenlehre ist die Abgrenzung der Rechtsquellen als Normen von anderen rechtserzeugenden Einzelakten wie Verwaltungsentscheidungen oder Verträgen, und zwar nach dem Kriterium der Allgemeinheit der Regelung. Die dritte Fragestellung begreift Rechtsquellen nicht nur als Verhaltensgebote und als Teil der normativen Struktur der Gesellschaft, sondern als Rechtserkenntnisquellen.2 Rechtsquellen haben demnach immer zwei Adressaten. Als Verhaltensprogramm berechtigen oder verpflichten sie ein (privates oder öffentliches) Rechtssubjekt. Als materielles Entscheidungsprogramm steuern sie das Entscheidungsverhalten des Rechtsanwenders. Diese mehrdimensionale Geltung wird sich gerade für die Rechtsquellen des Europarechts als wichtig erweisen. Mit dem Blick auf den Rechtssatz als Entscheidungsprogramm berührt die Rechtsquellenlehre sich mit der Me-

1 Vgl. zu weiteren Fragestellungen etwa Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 64; Rüthers, Rechtstheorie, § 6. 2 Vgl. bereits Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und des Staates, S. 116; neuerdings auch wieder Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 537 f.

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§ 4 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

thodenlehre der Rechtsanwendung. Sie sondert die Rechtsquelle von anderen, nachrangigen Determinanten der Rechtserkenntnis wie etwa Gesetzesmaterialien oder dem Kanon der Auslegungselemente. Aus dem so definierten Begriff der Rechtsquelle hat sich ein viertes Thema der Rechtsquellenlehre entwickelt. Es gilt jetzt, die Vielzahl vorfindlicher Quellen der Rechtsfindung definitorisch abzugrenzen und sie zugleich in ein hierarchisches System einzuordnen („Stufenbau der Rechtsordnung“).3 Wie schwierig dies im einzelnen ist, hat sich jüngst bei der Frage gezeigt, inwieweit die Spruchpraxis der Europäischen Menschenrechtskommission (heute des EGMR) von der familienrechtlichen Judikatur deutscher Gerichte zu beachten ist.4 In Wahrheit handelt es sich hier aber nicht um eine originäre Fragestellung der Rechtsquellenlehre, sondern um ein Problem verfassungs- bzw. völkerrechtlicher Kompetenzabgrenzung. Angesichts der Abstraktionshöhe der meisten Theoreme der Rechtsquellenlehre möchte man vermeinen, daß diese sich in den luftigen Höhen der Rechtstheorie bewegt und der Rechtssetzungspraxis wenig zu sagen hat. Rechtsvergleicher wissen, daß dies ein Irrtum ist. Auch die Rechtsquellenlehre ist in weiten Bereichen durch nationalstaatliche oder zumindest rechtskreisspezifische und rechtskulturelle Eigenheiten geprägt, und sie ist als solche nicht nur Gegenstand der Theorie, sondern verbindliches normatives (Meta-)Programm. Die Eigenständigkeit der angelsächsischen 5 oder der französischen 6 Rechtsquellenlehre erbringt dafür schlagenden Beweis – von den Besonderheiten des Völkerrechts 7 ganz zu schweigen. Auch ein Beitrag zur Europäischen Rechtsquellenlehre wird deshalb nicht umhin können, unter Vermeidung jeglichen „methodologischen Nationalismus“ 8 von der Hypothese einer autonomen und originär europäischen Lehre auszugehen und deren Spezifika herauszuarbeiten. Leicht haben es insoweit nur die Rechtsphilosophen, deren Suche nach den vorpositiven Quellen des Rechts immer schon transnational war und sich auch im europäisch-supranationalen Raum zwanglos bewegen kann. Für erhebliche Irritationen, aber auch für durchaus neuartige Fragestellungen in der Rechtsquellenlehre sorgt hingegen der supranationale Charakter der Gemeinschaft. Die Produktion von Recht ist traditionell als nationalstaatliche Kompetenz begriffen worden. Im gemeinschaftsrechtlichen Kontext verliert das Konzept eines „Stufenbaus der Rechtsordnung“, welches im deutschen Inlandsrecht kaum noch ein Streitgegenstand ist, bereits hinsichtlich der Existenz einer „Grundnorm“ seine Tragfähigkeit: Die sog. „Handlungsformen“ des Art. 249 EG sind nämlich in ihrer Gesamtheit bereits abge-

3 Dazu statt vieler Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 272 f. 4 BVerfG, EuGRZ 2004, 741, mit Rezensionsaufsatz Cremer, EuGRZ 2004, 471. 5 Repräsentativ Hart, The Concept of Law; Stone, Legal System and Lawyers’ Reasonings. 6 Dazu Sonnenberger, FS Lerche, S. 548 ff. 7 Dazu zuletzt Tietje, Zeitschr. f. Rechtssoziologie 24 (2003), 27. 8 Davor warnt zuletzt wieder Joerges, FS Heldrich, S. 206. Ein – vereinzelter – Vertreter dieser Richtung ist P. Kirchhof, DRiZ 1995, 253, 259; ders., JZ 1998, 965 Fn. 96.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

leitetes Recht – abgeleitet jedoch anomal nicht aus einer Grundnorm „Verfassung“, sondern aus einem völkerrechtlichen Vertrag 9, dessen „Grundnorm“ nicht eine wie immer verstandene umfassende Rechtsidee, sondern der Integrationsauftrag ist. Die Binnenstruktur des Stufenbaus wird überdies nicht nur durch die Dichotomie (und Hierarchie) zwischen primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht, sondern auch durch die geradezu ahierarchische Mehrfachzuständigkeit gleichberechtigter Rechtssetzungsorgane 10 herausgefordert; eine weitere hierarchische Dimension tut sich auf in der Frage nach der Reichweite des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Mitgliedstaatsrecht. Die Supranationalität des Gemeinschaftsrechts zwischen lediglich interstaatlicher Verbindlichkeit und Direktwirkung gegenüber dem Marktbürger hat in der europäischen Rechtsquellenlehre zu einer Differenzierung geführt, die der nationalen Rechtsquellenlehre fremd ist. Bei der Frage der Rechtsgeltung bzw. -wirkung unterscheidet man zwischen „unmittelbarer Geltung“ und „unmittelbarer Anwendbarkeit“.11 Erstere soll besagen, daß das Gemeinschaftsrecht gegenüber dem einzelnen Marktbürger ohne die Notwendigkeit eines mitgliedstaatlichen Vermittlungsakts wirkt; letztere hingegen soll den Mitgliedstaaten ein Anwendungsermessen wahren, welches nur dann einer unmittelbaren Anwendbarkeit weichen muß, wenn die Gemeinschaftsrechtsnorm einen subsumtionsfähigen Inhalt aufweist und keinerlei Vorbehalt zugunsten der Mitgliedsstaaten enthält. Aus rechtssoziologischer Sicht ist diese Unterscheidung eher künstlich, kann man sich doch eine Normgeltung ohne gleichzeitige allgemeine Anwendbarkeit schwer vorstellen.

2.

Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts

Über diese Grundfragen der europäischen Rechtsquellenlehre kann und muß sich ein Beitrag zu den Rechtsquellen des europäischen Privatrechts nicht mit letzter Verbindlichkeit äußern. Es kann andererseits aber auch nicht dabei bewenden, lediglich deskriptiv die verschiedenen Handlungsformen europäischer Rechtssetzung auf ihren privatrechtlichen Gehalt durchzudeklinieren. Fundamental für europäische Privatrechtsquellen sind vor allem zwei Einsichten. Beide sind nicht mehr unbedingt neu; und doch ziehen sie sich wie ein roter Faden durch die Beiträge zu diesem Band.

9 Daß sich letzteres auch nach Ratifikation der „europäischen Verfassung“ nicht ändern wird, betont zu Recht D. Grimm, Der Vertrag: Die „europäische Verfassung“ ist keine echte Verfassung, FAZ v. 12.5.2005, Nr. 109, S. 6. 10 Hierzu vertiefend Bast, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 503 f., 512 ff. 11 Meinungsstand bei Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 37 ff., 48 ff. Leading Case ist EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 Rn. 25 f.

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§ 4 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

a)

Der Marktbürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: Von der „Drittwirkung“ zur „Horizontalwirkung“

In ihrer Doppelfunktion als berechtigende bzw. verpflichtende Rechtssätze und als Rechtserkenntnisquelle richten Rechtsquellen sich üblicherweise an zwei Adressaten: Für den Rechtsanwender bedeutet der Rechtssatz einen Anwendungsbefehl; für den oder die Normadressaten begründet sie ein Recht, eine Pflicht oder eine Verhaltensnorm. Normwirkungen zugunsten oder zulasten von Nichtadressaten sind die große Ausnahme (wenn man einmal von der banalen Einsicht absieht, daß, was man dem einen durch Normbefehl gibt, häufig einem anderen wegnimmt). Im europäischen Recht ist alles ganz anders. In keinem Rechtsgebiet ist so viel von Drittwirkung, von unmittelbarer oder mittelbarer Wirkung die Rede wie im Europarecht. Und doch schwingt auch im europäischen Begriff der Drittwirkung immer noch die Konnotation des Exzeptionellen mit. Woher dieses Paradox? Die Erklärung liegt schlicht darin, daß die europäische Rechtsquellenlehre bis heute die Eierschalen der völkerrechtlichen Rechtsquellenlehre noch nicht ganz abgestreift hat. Wie im Völkerrecht waren auch bei den Römischen Verträgen nur die einzelnen Mitgliedstaaten mit unbeschränkter Rechtssubjektivität – und mit deren vollen Konsequenzen – ausgestattet. Selbst die Grundfreiheiten waren eher ein Rechtssetzungsauftrag für die Mitgliedstaaten zur Herstellung des Binnenmarktes als ein subjektives Recht der Marktbürger. Deren Rechtssubjektivität erschöpfte sich in einigen eher kümmerlichen und eher als akzidentielle Sanktionsdrohungen für mitgliedstaatliche Rechtsverletzungen interpretierten Klagerechten vor dem EuGH 12. Die den Vorrang des Gemeinschaftsrechts prozessual sicher stellende Vorlagepflicht der nationalen Gerichte ist eine Verpflichtung der dritten Gewalt, kein Recht des privaten Klägers. Daß die Union als solche Adressat des europäischen Primärrechts, insbesondere der Grundfreiheiten, sein könnte, blieb ebenso einer viel späteren Einsicht vorbehalten wie daß der Marktbürger – oder wie man seit Nizza wohl sagen muß: der europäische citoyen – das zentrale Subjekt des europäischen Rechts und seiner Rechtsquellen ist. Dies alles ist längst Geschichte, aber es darf immer noch daran erinnert werden, daß die vielstrapazierte Vokabel „Paradigmawechsel“ für diesen Wandel im europäischen Rechtsquellenverständnis nicht zu hoch gegriffen erscheint. Das erweist sich nicht zuletzt an einem Vergleich mit dem heutigen Rechtszustand in der WTO. Trotz alledem bedurfte es freilich noch eines weiteren und grundsätzlichen Schritts, um den Marktbürger nicht nur mit Rechtssubjektivität, sondern auch mit europäischer Privatrechtssubjektivität auszustatten. Lange Zeit erschöpfte sich die europäische Rechtssubjektivität des Marktbürgers darin, daß er sich gegen gemeinschaftswidriges Verhalten eines Mitgliedsstaates, insbesondere gegen Verletzungen der Grundfreiheiten, zur Wehr setzen konnte – ein sozusagen öffentlichrechtliches Verständnis 13, wissenschaftshistorisch nicht zuletzt dadurch erklärbar, daß die Spezia12 Vgl. zum früheren Rechtszustand etwa noch von der Groeben/Thiesing/Ehlermann-Krück, Art. 173 EGV Rn. 38 ff. 13 Zu einem Rückblick aus heutiger Sicht Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 29 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

listen des Europarechts sich seinerzeit primär aus dem Lager der Öffentlichrechtler rekrutierten. Nur zögerlich setzte sich alsdann die Vorstellung durch, daß europäisches Recht auch im Privatrechtsverhältnis von Marktbürger zu Marktbürger unmittelbare Wirkung äußern könnte. Die beiden Marksteine der Entwicklung (auf die im Einzelnen noch einzugehen sein wird) sind heute bekannt: die unmittelbare Geltung der Grundfreiheiten im Privatrechtsverhältnis und die sog. Direktwirkung von Richtlinien. Diese Multidirektionalität der Normgeltung gegenüber verschiedenen Adressaten mit je verschiedener Wirkung ist bei den Rechtsquellen des nationalen Rechts eher die Ausnahme; wir kennen sie dort aus der Diskussion um die Drittwirkung der Grundrechte, aber auch in Verbindung mit doppelseitigen Verwaltungsakten. Im Gemeinschaftsrecht ist die Multidirektionalität von Rechtsquellen zwar ebenfalls nicht der Regelfall, aber doch, und dies gerade mit der Expansion des Gemeinschaftsprivatrechts, ein ständig präsentes Phänomen. In unserer rechtsquellentheoretischen und methodologischen Begrifflichkeit ist dieser Paradigmawechsel noch nicht ganz angekommen. Der EuGH selbst scheint die sog. unmittelbare Drittwirkung in erster Linie als Konsequenz des effet utilePrinzips oder als einen Fall unzulässiger Berufung auf eigenes Fehlverhalten (estoppel) zu verstehen 14 – also wiederum nur als eine Art Reflex des im Grunde immer noch völkervertragsrechtlich begriffenen Gemeinschaftsrechts. Auch im Schrifttum zum Europäischen Privatrecht 15 herrscht noch wenig terminologische Eindeutigkeit. Man spricht im selben Atemzug von „unmittelbarer Drittwirkung“, von „unmittelbarer Anwendbarkeit“ im Privatrechtsverhältnis und eröffnet noch die weitere Dimension, daß Privatrechtssubjekte sich auf bestimmte Rechtssätze „berufen können“ 16. Für die Zwecke einer Europäischen Privatrechtsquellenlehre sind diese fein gesponnenen Differenzierungen wenig hilfreich. Der Terminus „Drittwirkung“ ignoriert, daß heute der Marktbürger das zentrale Rechtssubjekt des Gemeinschaftsrechts ist. Sein Recht, sich z.B. auf die Norm einer Richtlinie zu berufen, ist „eine Funktion der objektiven Geltung und Anwendbarkeit der in einer Richtlinienvorschrift angelegten Verpflichtung“ 17. In ihrer Konnotation des Ausnahmecharakters mag die Vorstellung einer Drittwirkung allenfalls noch für das Richtlinienrecht adäquat sein. Ansonsten geht die dynamische Entwicklung des Europäischen Privatrechts – dies liegt in der Natur der Sache – unaufhaltsam in die Richtung einer unmittelbaren Geltung gemeinschaftsrechtlicher Normen im Privatrechtsverhältnis. Dazu bedarf es nicht der Vorstellung einer vollendeten Staatlichkeit der Gemeinschaft, sondern nur des Ernstnehmens ihres freiheitssichernden Auftrages. Diese Entwicklung sollte sich auch in der Begrifflichkeit widerspiegeln. So wie wir im IPR immer schon mit Selbstverständlichkeit zwischen einseitigen und allseitigen Kollisionsnormen unterscheiden, sollte man auch in der europäischen

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EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Facini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 22. Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 28 – 47. Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 32. Eilmansberger, JBl. 2004, 283, 288.

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§ 4 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

Rechtsquellenlehre schlicht zwischen „Vertikalwirkung“ (Verhältnis Bürger zum Mitgliedstaat bzw. zur Union) und „Horizontalwirkung“ 18 (Privatrechtsverhältnis unter Marktbürgern) differenzieren. Das ist nicht bloß eine facon de parler, sondern auch rechtspolitisches Programm. b)

Vom klassischen zum „regulativen“ Privatrecht – und wieder zurück?

Der Begriff des Europäischen Privatrechts leidet in seinen Randzonen noch unter erheblichen Unschärfen. Sie beruhen auf der für das kontinentaleuropäische Recht (welches seinerseits in romanistischer Tradition steht) immer noch geradezu axiomatischen Trennung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht. Würden wir das klassische und immer noch verbreitete Privatrechtsverständnis zugrunde legen, dann gäbe es Europäisches Privatrecht allenfalls als Projekt – in Gestalt des European Civil Code. Dieses traditionelle Verständnis begreift nämlich Privatrecht 19 als den Inbegriff der Normen, die – im Regelfall als dispositives Recht – die Rechtsbeziehungen unter Privaten regeln. Die Funktion dieses Privatrechts ist, mit einem treffenden englischen Ausdruck, „facilitative“, d.h. es will den Marktbürgern die Ordnung ihrer privaten Beziehungen erleichtern, indem es jenen Regelungsmuster bereit stellt, deren sie sich bedienen können oder auch nicht. Im Laufe der Zeit ist diesem klassischen Kernprivatrecht eine weitere Dimension zugewachsen, die man in den 1970er- und 80er-Jahren in Anknüpfung an Max Weber als „Materialisierung“ oder auch als „soziales Privatrecht“ zu bezeichnen pflegte und die heute, stark verkürzt, zumeist unter der Etikette „zwingendes Verbraucherrecht“ läuft. In der Ökonomie begreift man diese neue Dimension als regulierende Korrekturen des klassischen Privatrechts aufgrund von Marktversagen oder genauer: von Informationsasymmetrien. So weit, so bekannt. Was an dieser Entwicklung eher unbemerkt blieb, sind ihre Konsequenzen für die tradierte Dichotomie zwischen Öffentlichem und Privatrecht, mit der wir uns nicht nur in Deutschland, sondern auch im Gemeinschaftsrecht so bequem eingerichtet haben.20 Ähnlich wie im Wirtschaftsrecht das Konzept der Regulierung die Grenzlinien zwischen Wettbewerbsfreiheit und Wirtschaftsverwaltung flüssig gemacht hat 21, so stellt in individualrechtlicher Perspektive ein „regulatives“ Privatrecht den traditionellen Gegensatz von privatautonomer Gestaltung und hoheitlichem Eingriff in Frage. Regulatives Recht ist längst zu einer intermediären Kategorie geworden, bei der die formale Zuordnung zum privaten oder zum öffentlichen Recht eher ein Produkt des Zufalls als von Systemgerechtigkeit ist. Einige wenige Beispiele: Die sog. Wohlverhaltenspflichten der Wertpapierdienstleister stehen in einem öffentlichrechtlichen Gesetz, dem WpHG (§§ 31ff.). Inhaltlich 18 In Anlehnung an Nicolaysens Begriff der „horizontalen Drittwirkung“ Nicolaysens, EUR 1986, 370 f. 19 Hier ausschließlich verstanden als privates Vermögensrecht, d.h. unter Ausschluß personenrechtlich gefärbter Regelungsbereiche wie dem Familien- und Erbrecht. 20 Vgl. aber von Wilmowsky, JZ 1996, 590. 21 Zum aktuellen Stand der Diskussion Basedow, in: Basedow u.a. (Hrsg.), Economic Regulation and Competition, S. 15 ff.; vgl. auch daselbst, S. 322 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

sind sie aber altes Geschäftsbesorgungsrecht, also Privatrecht reinsten Wassers. Öffentlichrechtlich ist daran allenfalls, daß diese Pflichten von einer sachnäheren Regulierungsbehörde konkretisiert werden und daß ebendiese Behörde wegen eines zivilrechtlichen Sanktionsdefizits auch über die Einhaltung der Pflichten wacht. Das Gegenbeispiel: Die besonderen Pflichten beim Vertragsabschluß im Fernabsatz – übrigens ein Produkt des Gemeinschaftsrechts – „verschandeln“ seit 2002 das BGB (§§ 312 c, 312 e). Aber diese vorgeblichen Vertragspflichten ermangeln jeder spezifisch zivilrechtlichen Sanktion – etwa einer Erfüllungs- oder Schadensersatzklage.22 Im übrigen besteht auch der ganz überwiegende Teil der Arbeitsmarktregulierung aus zwingendem Vertragsrecht.23 Zurück zum Europäischen Privatrecht. Während wir im nationalen Privatrecht einen weiten Weg vom klassischen Privatrecht zu einer stetigen Expansion des regulativen Privatrechts gegangen sind, scheint die Entwicklung im Europäischen Privatrecht geradezu entgegengesetzt zu verlaufen.24 Das gesamte Europäische Sekundärprivatrecht besteht bis heute fast ausschließlich aus regulativem Recht – von der Verbraucherkreditrichtline über die Klauselrichtlinie bis zur Fernabsatzrichtlinie. Diese Selektivität hat im wesentlichen kompetenzrechtliche Gründe.25 Erst in jüngster Zeit schickt sich die Union mit ihren Initiativen zu einem European Civil Code an, auch in der Domäne des klassischen Privatrechts zu kodifizieren. Nach unseren bisher gewonnenen Einsichten löst sich dieses scheinbare Paradox unschwer auf: Es reflektiert einmal mehr den Paradigmenwechsel von der Vertikalwirkung des Gemeinschaftsrechts zur Horizontalwirkung. Daß der Marktbürger gemeinschaftsweit ein einheitliches regulatorisches Schutzniveau erwarten darf und daß er diese Erwartung auch gegenüber den Mitgliedstaaten durchsetzen kann, erschloß sich einem auf die Herstellung eines Binnenmarkts und auf ein hohes Niveau des Verbraucherschutzes verpflichteten europäischen Gesetzgeber leichter als die Notwendigkeit, auch im Kernbereich der Privatautonomie für einheitliche und nach der Natur der Sache lediglich dispositive, d.h. lediglich wählbare Regelungsmuster Sorge zu tragen. Insofern ist das Europäische Privatrecht in der Tat auch eine Fragestellung der europäischen Rechtsquellenlehre. Ich komme darauf zurück.

II.

Das Primärrecht: Grundfreiheiten als Rechtsquellen des Privatrechts

Ob und inwieweit die Grundfreiheiten eine multidirektionale Rechtsquelle sind – also mit Geltungsanspruch gegenüber der Union, den Mitgliedstaaten (als sog. Be-

22 Nach h.L. soll die Versäumung dieser Pflichten auch keine Vertragsnichtigkeit zur Folge haben; vgl. nur Bamberger/Roth-Schmidt-Räntsch, § 312 c, Rn. 27 m.w.N.; a.A. Reich, EuZW 1997, 581, 585. 23 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Basedow, in: Basedow u.a. (Hrsg.), Economic Regulation and Competition, S. 322. 24 Eingehender hierzu der Beitrag von Grundmann, unten, § 7; vgl. auch Grundmann, JZ 1996, 274, 274 ff. 25 Zutreffend Joerges, FS Heldrich, S. 218.

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§ 4 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

schränkungsverbote bzw. Angleichungsgebote), im Vertikalverhältnis Staat-Bürger und schließlich im Horizontalverhältnis unter Bürgern –, dies zählt immer noch zu den umstrittensten Fragen der europäischen Rechtsquellenlehre. Für das Privatrecht geht es einerseits um die Unanwendbarkeit nichtdiskriminierender, aber grundfreiheitenbeschränkender Privatrechtsnormen durch die mitgliedstaatlichen Gerichte; zum anderen um den Schutz Privater gegenüber freiheitsbeschränkenden Maßnahmen durch Private.

1.

Geltungsvorrang der Grundfreiheiten vor dem nationalen Privatrecht?

Bei dem ersten Problemfeld stehen sich rechtsquellentheoretisch zwei Gegensatzpaare gegenüber: das Verhältnis lex inferior und lex superior (Stichwort: Vorrang des Gemeinschaftsrechts) und das Verhältnis von dispositivem und zwingendem Recht. Dabei müßten sich die Grundfreiheiten zumindest gegen freiheitenbeschränkende zwingende Privatrechtsregeln durchsetzen. Dies wird in der Tat von der wohl h.M. so gesehen.26 Andere meinen, auch das dispositive Recht einbeziehen zu sollen, weil die Wahlfreiheit der Kontrahenten in der Praxis allenfalls als virtuelle Wahlmöglichkeit, nicht jedoch als aktuelle Entscheidungsmacht existiere. Die cause célèbre deutscher Autoren ist hierzu der § 489 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 4 BGB: der bis zu (bzw. maximal) 10-jährige Kündigungsausschluß bei Festzinskrediten. Die Beliebtheit dieser Vorschrift als Demonstrationsobjekt kommt nicht von ungefähr. Die Vorschrift ist nämlich, zum ersten, diskriminierend, weil sie zwar inländischen, nicht aber ausländischen öffentlichen Darlehensschuldnern erlaubt, erforderlichenfalls auch einmal für länger als 10 Jahre zu Festzinsen Kredit aufzunehmen. Sie kann, zweitens, nicht nur in Gestalt zu langfristiger Bindung die Verbraucherdarlehensnehmer benachteiligen, die trotz fallender Zinsen nur noch gegen eine saftige Vorfälligkeitsentschädigung aus ihrem Langfristkredit herauskommen; sie beeinträchtigt durch eine zu kurz bemessene Bindungsmöglichkeit auch die Privatautonomie insbesondere unternehmerischer Darlehensnehmer, die sich vermöge eines langfristigen Schulden- und Zinsenmanagements auch gerne einmal für 15 Jahre oder länger günstige Zinsen sichern würden. Und schließlich beschränkt sie die Produktgestaltungsfreiheit der Kreditwirtschaft, die ansonsten – auch grenzüberschreitend – durch kongruente Refinanzierung zinsgünstige Langfristkredite anbieten könnte, bzw. die ausländische 27 Institute daran hindert, ihre leichter kündbaren Kreditprodukte in Deutschland anzubieten. Gemeinschaftsrechtlich ist es sicherlich unbedenklich, wenn die Norm den Verbraucherschutz gegen die Kapitalverkehrs- oder auch die Dienstleistungsfreiheit des Kreditinstituts in Stellung bringt; ja, man mag sogar darüber streiten, ob sie in dieser Hinsicht durch Zulassung einer immerhin bis zu zehnjährigen Bindung noch zu wenig tut. Bei Dar-

26 Meinungsstand bei Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 22 ff. 27 Z.B. französische.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

lehensverträgen mit unternehmerischen Kunden schränkt sie hingegen die Freiheiten beider Parteien ein; andererseits ist sie außerhalb des Verbraucherschutzes international wohl nicht zwingend. Die Frage ist jedoch, ob die Antithese von zwingendem und dispositivem Recht überhaupt noch geeignet ist, hier als Grenze der Privatrechtsgeltung der Grundfreiheiten zu dienen. Übersetzt man, wie hier vorgeschlagen, „zwingendes“ in „regulierendes“ Privatrecht, dann liegt ohnedies die Gleichbehandlung solcher Normen mit öffentlichrechtlichen Regulierungen nahe. Das wird demnächst und konsequenterweise auch im Gesellschaftsrecht geschehen müssen, wenn Arbeitnehmer-, Minderheiten- und Gläubigerschutzrechte auf den Prüfstand der jüngst so stark aufgewerteten Niederlassungsfreiheit zu stellen sind. Was andererseits das dispositive Privatrecht angelangt, so beachten wir heute stärker – und keineswegs nur im AGBRecht – die Leitbildfunktion dispositiver Regeln. Auch dispositive Regeln reflektieren bestimmte Ordnungsvorstellungen des Gesetzgebers, mögen diese auch „weicher“ und ermessensabhängiger sein als beim regulierenden Recht. Auch dispositive Regeln können eine Kostenbelastung bedeuten und damit den Export erschweren; darüber hinaus handelt es sich hier zumeist um versteckte Kosten, die nicht ohne weiteres zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht werden. Hiernach wird man das dispositive Privatrecht vom Geltungsanspruch der Grundfreiheit nicht a limine ausnehmen können. Im praktischen Ergebnis ist jedoch die Gefahr eines Konflikts mit den Grundfreiheiten, insbesondere angesichts einer reduzierten Verhältnismäßigkeitskontrolle, gering.

2.

Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis)

Nur in seinen Wettbewerbsregeln ist der EG-Vertrag unmittelbar an Privatrechtssubjekte, nämlich die Unternehmen adressiert, und nur hier beansprucht er unstreitig Geltung im Horizontalverhältnis. Was die Grundfreiheiten anbelangt, bietet der EuGH hier wenig Führung, da er bekanntlich im Bosman-Urteil die Horizontalwirkung (in der herrschenden Terminologie: die unmittelbare Drittwirkung) der Freizügigkeit im Privatrechtsverhältnis zwischen Spieler und Verein bzw. Verband bejaht, hinsichtlich der anderen Grundfreiheiten aber tendenziell verneint hat; 28 gegenüber öffentlichen Unternehmen (Art. 86 Abs. 1 EG ) scheint der Gerichtshof die Horizontalwirkung im Einzelfall wiederum bejahen zu wollen 29. Die Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung spiegelt sich wider in einer ausgeprägten Meinungsvielfalt im Schrifttum. Ich fasse mich kurz und konzentriere mich auf die rechtquellentheoretischen Gesichtspunkte. Die schärfste Attacke auf die Hori-

28 Detaillierte Analyse des Rechtsprechungsmaterials bei Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 33 – 69. 29 Auch hierzu zusammenfassend Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 189 – 226.

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zontalwirkung im Privatrechtsverhältnis hat jüngst Canaris 30 geritten. Canaris argumentiert maßgeblich mit einem scheinbaren Parallelphänomen im deutschen Verfassungsrecht: der grundsätzlichen Ablehnung einer Drittwirkung der Grundrechte. Diese stützt sich bekanntlich zunächst auf eine systematische Auslegung: Da das Grundgesetz für einzelne Grundrechte (Art. 9 Abs. 3 S. 2) eine Drittwirkung ausdrücklich anordnet und auch der EG-Vertrag in Art. 86 Abs. 2 sich ausdrücklich nicht an die Mitgliedstaaten, sondern unmittelbar an die „Unternehmen“ wendet, soll mit diesen Ausnahmeregeln jeweils der gesetzgeberische Wille, grundsätzlich keine Drittwirkung zuzulassen, erwiesen sein. Dieses Argument trägt nicht sehr weit. Abgesehen davon, daß das Grundgesetz in dieser Frage überhaupt keinen Argumentationswert hat und allenfalls schiefe Assoziationen provoziert, steht auch Art. 86 Abs. 2 EG unter den Normen des europäischen Wettbewerbsrechts, die von Anfang an eine Horizontalwirkung vorsehen, die aber durchaus auch den Mitgliedstaaten selbst Grenzen setzen, also ebenfalls multidirektional gelten. Größeres Gewicht hat schon das zweite Argument. Es basiert ebenfalls auf einer „inlandsrechtlichen Analogie“ zu den Grundrechten. Dort sind die Gesetzesvorbehalte in gleicher Weise an den einfachen Gesetzgeber adressiert wie die Rechtfertigungsgründe nach Art. 39 Abs. 3 EG an die Mitgliedstaaten. Es ist aber keineswegs ausgeschlossen, daß sich auch Private im Zivilrechtskonflikt auf Gesichtspunkte wie Gesundheitsschutz, überindividuelle Interessen und sogar das Verhältnismäßigkeitsprinzip berufen können. Schließlich trifft es auch nicht zu, daß privatautonomes Handeln nicht unter Rechtfertigungsdruck stehen dürfe. Das ist zwar als Regelfall zutreffend, doch beweist die soziale Rechtfertigungsbedürftigkeit von Arbeitgeberkündigungen oder auch das Wohnraumkündigungsrecht, daß es hiervon Ausnahmen gibt. Zu achten ist freilich auf eine angemessene Verteilung der Darlegungs- und Beweislast, die die Rechtfertigungsbedürftigkeit privatautonomer Entscheidung nicht zur praktischen Regel werden läßt. Der stärkste Einwand gegen die Grundrechtsanalogie liegt indes in der unterschiedlichen Schutzfunktion von europäischen Grundfreiheiten und deutschen Grundrechten. Die Grundrechte sind historisch dem monarchischen oder dem Obrigkeitsstaat abgerungen und unter dem Vorzeichen des Sozialstaates um eine Teilhabefunktion ergänzt worden. Die Grundfreiheiten sind Marktfreiheiten, und Marktfreiheiten werden durch Teilnahme am Markt, im Wesentlichen durch Abschluß von Verträgen, ausgeübt. Union und Mitgliedstaaten kommt insofern primär eine Schutz- und Förderpflicht zu. Unleugbar hat diese historisch auch im Vordergrund gestanden, weil die Römischen Verträge erst einmal auf die Herstellung des gemeinsamen, später: des Binnenmarktes fixiert waren. Dieses Ziel ist inzwischen weitgehend erreicht, und die Grundfreiheiten haben heute eine gewichtige subjektivrechtliche Komponente. Der Marktbürger, der sich auf sie beruft, beruft sich letztlich auch auf seine Privatautonomie, und warum sollte er dazu nicht gerade im Privatrechtsverhältnis berechtigt sein?

30

Canaris, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Vosskuhle, Umwelt, Wirtschaft und Recht, S. 31– 67.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

III.

Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion

1.

Richtlinien

a)

Richtlinien als „unvollkommene“ Rechtsquelle

Wiederum kann es nicht Aufgabe dieses Beitrags sein, allgemeine rechtsquellentheoretische Fragen des Sekundärrechts – z.B. Kompetenzfragen oder den Vorrang des Gemeinschaftsrechts oder die Vorwirkung von Richtlinien – anzusprechen. Wir können uns daher ohne weiteres der quantitativ und inhaltlich relevantesten Rechtsquelle von Sekundärprivatrecht, den Richtlinien zuwenden. Diese Erfolgsgeschichte im Privatrecht war den Richtlinien nicht an der Wiege gesungen. Sie ergingen zunächst nur in jenem engeren Bereich der Regulierung, den man früher Wirtschaftsverwaltungsrecht nannte. Gerade ihre spezifisch rechtsquellentheoretische Struktur machte sie aber auch höchst geeignet als Instrument privatrechtlicher Rechtssetzung. aa)

Richtlinien als „mediatisierte“ Rechtssetzung

Ihrer ursprünglichen Konzeption nach waren Richtlinien überhaupt keine Rechtsquellen. Dafür fehlte es ihnen schon an einem konstitutiven Definitionsmerkmal aller Normen: der Allgemeinheit. Formal-konstruktiv gesehen waren sie nichts weiter als ein einmaliger Regelungsauftrag an die Mitgliedstaaten mit einem mehr oder weniger großen Ermessensvorbehalt, in staatsrechtlichen Begriffen: delegierte Normsetzung. Diese – herkömmlich aus Art. 249 Abs. 3, 10 EG begründete 31 – Delegation ist freilich kaum vergleichbar etwa mit der Verordnungsermächtigung unter dem Grundgesetz. Selbst wenn Richtlinien sich mit bloßen Mindestharmonisierungen, das heißt mit einer geringeren Regelungsdichte, begnügen, ist der mitgliedstaatliche Gesetzgeber weitgehend nur Ausführungsorgan, dem allenfalls im Randbereich noch Regelungsspielräume verbleiben. Insofern konnte man die Richtlinien schon lange, bevor man ihre sog. Direktwirkung entdeckt hat, als „mediatisierte“ Rechtssetzung bezeichnen.32 Doch kann auch diese für die Rechtsquellenlehre neuartige Qualifikation die Geltungs- und Anwendungsprobleme von Richtlinien nicht konsistent erklären. Zwei Beispiele: Mit dem Konzept der „mediatisierten“ Rechtssetzung ist ein Begriff dafür gefunden, daß Richtlinien über das Durchführungsgesetz allgemeine und rechtsgestaltende Wirkung äußern; nicht dagegen, daß Richtlinien auch den mitgliedstaatlichen Richter binden sollen. Adressat einer Rechtsquelle ist zwar nicht nur, wer aus

31 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, Rn. 26; EuGH v. 25.2. 1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103, Rn. 48; zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., (noch nicht in Slg.) RIW 2005, 54, 62. 32 Von Richtlinien als einer „Hintergrundrechtsordnung“ des Privatrechts spricht Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 39.

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§ 4 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

einer Norm berechtigt oder verpflichtet wird (d.h. der mitgliedstaatliche Gesetzgeber), sondern auch der Rechtsanwender. Aber Rechtsanwender in Bezug auf Richtlinien ist unmittelbar nur der EuGH, der die korrekte Umsetzung prüft, nicht der nationale Richter, der das Ausführungsgesetz unabhängig und mit seinem nationalen Methodeninstrumentarium anwendet. Mehr noch: Mangels Allgemeinheit des Rechtsakts waren Richtlinien zunächst überhaupt nicht auf „Anwendung“ angelegt. Geändert hat sich dies nicht nur mit der „Entdeckung“ der – ausnahmsweise – unmittelbaren Wirkung von Richtlinien 33, sondern auch mit dem Gebot an den nationalen Richter, richtlinienkonforme Rechtsfindung zu betreiben 34. Die offenkundige Verwischung der theoretischen Grenzen zwischen Rechts-(Richtlinien-)geltung und Rechtsanwendung wird hier durch den Kunstgriff verschleiert, daß der Umsetzungsauftrag nicht nur den Gesetzgeber sondern „sekundär“ auch die anderen Staatsgewalten und damit namentlich die Judikative verpflichte.35 Auch gegenüber der sogenannten Direktwirkung von Richtlinien bei versäumter oder fehlerhafter Umsetzung gerät die traditionelle Rechtsquellenlehre in Erklärungsnotstand. Das „Umschlagen“ der konkret-individuellen Umsetzungsverpflichtung des Gesetzgebers in einen abstrakt-generellen Geltungsbefehl läßt sich dort rechtfertigen, wo infolge eines inhaltlich unbedingten und hinreichend bestimmten Richtlinientextes der mitgliedstaatliche Gesetzgeber keine eigenen Gestaltungsspielräume mehr hat. Gleichwohl wird, um im tradierten Paradigma zu bleiben, auch die Direktwirkung immer noch als „sekundäre Pflicht“ des Mitgliedstaates begriffen.36 Das klingt auch in der Rechtsprechung des EuGH an.37 Die direkte Berechtigung Privater erfolgt nicht um ihrer selbst willen und als „gesetzliches“ subjektives Recht, sondern nur als reflexhafte Begünstigung, die den effet utile der Richtlinie sozusagen im Wege der Naturalrestitution gegenüber dem säumigen Mitgliedstaat herstellen soll. bb)

Richtlinien als fragmentarische Rechtssetzung

Daß Richtlinien bisher nur partikulare, fragmentarische oder gar nur punktuelle Rechtssetzung produziert haben, ist ein vielbeschriebenes Phänomen 38, hat jedoch keine prinzipiellen Gründe. Es ist eher einer gewissen Kurzatmigkeit des europäischen Rechtssetzungsprozesses geschuldet. In manchen Regelungsbereichen ist es geradezu zur Übung geworden, einer ersten fragmentarischen Regelung 10 Jahre später eine Richtlinie mit durchaus kodifikatorischem Anspruch nachzuschieben;

33 Dazu sogleich unter cc). 34 Dazu in diesem Band grundlegend der Beitrag von W.-H. Roth, unten § 11; einige Bemerkungen auch noch unten, IV. 35 Zuletzt EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103, Rn. 48. Zur Systematik der Umsetzungspflichten zusammenfassend Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48. 36 Zuletzt wieder Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48. 37 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., (noch nicht in Slg.) RIW 2005, 54, 61 (Rn. 103) m.w.N. 38 Statt vieler Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 40.

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so geschehen etwa im Investmentrecht 39 oder (hier allerdings noch nicht abgeschlossen) im Konsumentenkreditrecht.40 Freilich ist im fragmentarischen Charakter vieler Richtlinien die Ursache für die Probleme überschießender Umsetzung zu suchen. b)

Die Unvollkommenheit des Richtlinienprivatrechts

Die Unvollkommenheit der Richtlinie als Rechtsquelle spiegelt sich auch im Privatrecht wieder. Sie hat zum Teil durchaus segensreiche Wirkungen geäußert, etwa vermöge der Methode der Mindestharmonisierung (nachfolgend aa)), aber auch Defizite hinterlassen, z.B. bei den Sanktionen (bb)) und der „asymmetrischen“ Direktwirkung nach versäumter oder fehlerhafter Umsetzung (cc)). Einiges aus diesem Problemfeld wird Thema des Beitrages zur Europäischen Gesetzgebungslehre sein, so daß ich mich hier kurz fassen kann. aa)

Mindestharmonisierung statt Vollharmonisierung

In der Frage Mindest- oder Vollharmonisierung verfolgt die europäische Gesetzgebung keine klare Linie. Lange Zeit wurde, vor allem im Verbraucherrecht, auf Mindestharmonisierung gesetzt. Hingegen strebt die Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen wieder eine Vollharmonisierung an, ebenso wie der vorläufig zu Grabe getragene Vorschlag einer 2. Verbraucherkreditrichtlinie.41 Manche hochtechnischen Regulierungsprojekte wie etwa die Umsetzung von Basel II kann man sich überhaupt nur als Vollharmonisierung von hoher Regelungsdichte vorstellen. In diesem Bereich werden die Instrumente Richtlinie und Verordnung nahezu auswechselbar. Im Privatrecht erweist sich der Verzicht auf eine zu hohe Regelungsdichte vorerst 42 eher als Vorteil. Er beläßt den Mitgliedstaaten die Chance, die Regelungsziele der Richtlinie in ihr nationales dogmatisches System und ihre eigene Fachbegrifflichkeit einzufügen. So konnte etwa der deutsche Transformationsgesetzgeber der Überweisungsrichtlinie seine eigene – freilich weitgehend mißratene – Dogmatik des Giro- und Überweisungsvertrages überstülpen (§§ 676a ff. BGB). Auf der anderen Seite wollen die Sanktionen nach der Überweisungsrichtlinie partout nicht in unser System der Vertragsverletzungen bzw. des Aufwendungsersatzes passen. Daß im übrigen auch Mindestharmonisierung nicht immer die – wenigstens als Postulat festzuhaltende – Einheit der Rechtsordnung garantieren kann, zeigt sich etwa daran, daß wir heute im BGB zwei begrifflich identische, aber sachlich denkbar verschiedene Widerrufsrechte (§ 147 BGB einerseits, § 357 BGB andererseits) vorfinden.

39 Die (erste) Investmentfondsrichtline 85/611/EWG stammt aus dem Jahr 1985, die wesentlich detaillierteren Änderungsrichtlinien 2001/107/EG und 2001/108/EG folgten erst am 13.2.2002. Dazu Köndgen/Schmies, WM-Sonderbeilage 1/2004, 2, 3 f. 40 Vgl. Hoffmann, BKR 2004, 308 ff. 41 Zum derzeitigen Stand der Richtliniengebung vgl. Hoffmann, BKR 2004, 308 ff. 42 D.h. vor der Schaffung eines Europäischen Zivilgesetzbuches, dazu noch unten, V 3.

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§ 4 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

bb)

Defizite bei den Sanktionen

Richtlinien sind auch darin unvollkommene Rechtssätze, daß sie selten Sanktionen vorsehen. Damit sie keine vollkommen zahnlosen Tiger bleiben, versucht man, die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Verhängung effektiver Sanktionen auf das Prinzip des effet utile zu stützen.43 Nur einige im engeren Sinne vertragsrechtliche Richtlinien wie die Überweisungs- und die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie sehen genau umschriebene Sanktionen vor. Und es ist kein Zufall, daß es dann sogleich zu Friktionen mit dem nationalen Recht kommt. Um nochmals das Beispiel der Überweisungsrichtlinie zu zitieren: Dort sind Zahlungspflichten der säumigen Bank, die man bisher als Aufwendungsersatz begriffen hatte, zu Schadensersatzpflichten ohne Verschulden geworden – im deutschen Schuldrecht nach wie vor eine Systemwidrigkeit (arg. §§ 280 Abs. 1 S. 2, 276 Abs. 1 BGB). Nicht zuletzt vom zivilen Sanktionsrecht her hat denn auch das Projekt einer Europäischen Zivilrechtskodifikation starken Auftrieb erhalten. cc)

Unmittelbare Wirkung von Richtlinien als Ausnahme

Gerade bei der Direktwirkung von Richtlinien hat die Differenzierung zwischen „unmittelbarer Geltung“ und „unmittelbarer Anwendbarkeit“ von Gemeinschaftsrecht 44 Bedeutung. Die Geltung gegenüber dem Einzelnen ist auf Umsetzungsdefizite (versäumte oder fehlerhafte Transformation) beschränkt, aber wird dann durch den effet utile auch gefordert.45 Zur Wahrung des mitgliedstaatlichen Transformationsermessens muß die unmittelbar wirkende Richtlinienvorschrift ferner inhaltlich unbedingt und hinreichend genau formuliert sein.46 Für Richtlinien mit privatrechtlichem Inhalt scheidet eine Direktwirkung ferner aus, wenn die Richtlinie nur Pflichten des Einzelnen begründet (sog. Belastungsverbot) oder im Horizontalverhältnis zwischen zwei Individuen Anwendung finden soll.47 Diese Komplementarität von Rechten und Pflichten beider Parteien ist im Privatrechtsverhältnis bzw. bei privatrechtlichen Richtlinien geradezu typischerweise gegeben. So löst etwa ein von der Richtlinie eingeräumtes Widerrufsrecht des Konsumentenkreditnehmers beim Kreditgeber eine entsprechende Belehrungspflicht und eine Verpflichtung zur Mitwirkung an der Rückabwicklung des Vertrages aus.48 Eine Horizontalwirkung läßt sich dann – und begrenzt auf den Fall fehlerhafter Umsetzung – allenfalls noch 43 Vgl. dazu BVerfGE 89, 155, 210; Streinz, FS Everling, S. 1502 –1504; Zuleeg, JZ 1994, 1; Stationen der Rechtsprechung sind EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891ff.; EuGH v. 15.9.1998 – Rs. C-231/96 Edis, Slg. 1998, I-4951; EuGH v. 16.5.2000 – Rs. C-78/98 Preston u.a., Slg. 2000, I-3201. 44 Bereits oben, Text bei Fn. 11. 45 EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 van Duyn, Slg. 1974, 1337 Rn. 12. 46 Ständige Rechtsprechung; zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., (noch nicht in Slg.) RIW 2005, 54. Aus der neuesten Literatur statt vieler Eilmansberger, JBl. 2004, 283, 286 ff. 47 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Facini Dori, Slg. 1994, I-3325. Aus der Literatur statt vieler Bleckmann, NVwZ 1993, 824 , 825. 48 Zu diesem Beispiel ausführlich Stamm, ZBB 2005, 35, 38; neuestens EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, (noch nicht in Slg.) sowie EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, (noch nicht in Slg.), mit Anm. v. Ehricke, ZBB 2005, 443.

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durch eine richtlinienkonforme Auslegung bzw. Fortbildung des nationalen Rechts erreichen.49 Freilich sind in der neuesten Rechtsprechung hinsichtlich des Ausschlusses horizontaler Direktwirkung Aufweichungstendenzen zu erkennen.50 Namentlich das EuGH-Urteil in der Rechtssache Wells 51 wird in der Literatur z.T. als Tendenzwende gedeutet.52 Dort hatte sich im Ausgangsverfahren ein Grundstückseigentümer gegen die Umweltbehörde gewandt, die richtlinienwidrig 53 ohne vorige Umweltverträglichkeitsprüfung den Betrieb eines Steinbruchs auf einem Nachbargrundstück genehmigt hatte. Der EuGH stellte zur Frage der Drittwirkung klar: „Bloße negative Auswirkungen auf die Rechte Dritter, selbst wenn sie gewiss sind, [rechtfertigen] es nicht, dem Einzelnen das Recht auf [die] Berufung auf die Bestimmungen einer Richtlinie gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat zu versagen“ 54. Augenscheinlich ging es in diesem Fall eines öffentlichrechtlichen Dreiecksverhältnisses sowohl um vertikale Direktwirkung gegenüber der Behörde wie auch um horizontale Direktwirkung unter den Grundstücksnachbarn. Diese Konstellation gilt weithin als unproblematisch.55 Sie läßt sich aber unschwer ins Privatrecht übertragen, wenn der Kläger etwa nicht die Behörde, sondern den Steinbruchbetreiber mit einer auf richtlinienwidriges privates Umweltrecht gestützten actio negatoria belangen würde. Ob auch gegenüber solch „regulativem“ Privatrecht das Belastungsverbot Bestand haben kann und ob bloße nachteilige „Auswirkungen“ wirklich anders zu behandeln sind als „Verpflichtungen“,56 muß derzeit noch als offen gelten. c)

Die Bedeutung der Erwägungsgründe

In der Richtliniengebung sind die gesetzgeberischen Erwägungsgründe integraler Bestandteil des Gesetzgebungsdokuments und werden gemeinsam mit diesem amtlich publiziert. Wiederum ein Phänomen, welches uns aus der deutschen 57 Rechtsquellen- und Methodenlehre nicht bekannt ist. Und wiederum sollten wir uns hüten, uns diesem Phänomen unbefangen mit den vertrauten inlandsrechtlichen Kategorien zu nähern. Unbezweifelbar scheint allerdings, daß das Problem eher in der Methoden- (genauer: der Rechtsanwendungs-)lehre als in der Rechtsquellenlehre zu verorten ist; denn nicht um die Bedingungen der Normentstehung und Normwirkung geht es,

49 Dazu noch unten, IV. 50 Überblick über die jüngste Rechtsprechung bei Eilmansberger, JBl. 2004, 283, 284 f. 51 EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 = DVBl. 2004, 370 mit Anm. Kerkmann, 1288 ff. 52 Baldus, GPR 2004, 124 ff. 53 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates v. 27.6.1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. 1985 Nr. L 175/40. 54 EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 Rn. 57. 55 Vgl. etwa Stuyck, CMLR 1996, 1261; Craig/de Burca, EU Law, S. 222. 56 Zweifelnd insoweit Baldus, GPR 2004, 124, 125. 57 Anders etwa im spanischen Recht, wo die Gesetzesbegründung Teil der amtlichen Veröffentlichung ist.

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sondern um Normanwendung. Um ihrerseits eine selbständige Rechtsquelle darzustellen, fehlt es den Erwägungsgründen bereits an der notwendigen Bestimmtheit und an dem normtypischen Konnex von Tatbestand und Rechtsfolge. Es ist daher wohl unstreitig, daß aus den Erwägungsgründen selbst dann keine Rechte des Bürgers hergeleitet werden können, wenn der verfügende Teil ausnahmsweise Direktwirkung äußert.58 Andererseits sind die Erwägungsgründe augenscheinlich mehr als einfache Gesetzesmaterialien, die traditionell vor allem die historische und die sog. subjektiv-teleologische Interpretationsmethode anleiten. Gesetzesmaterialien – dies zeigt bereits ihre separate Veröffentlichung außerhalb des Gesetzblatts – stehen im Rang immer unter dem verabschiedeten Normtext. Sie sind nicht Auslegungsgegenstand, sondern nur Auslegungshilfe. Außerdem gehen sie zeitlich der Verabschiedung des Normtextes voraus, und deshalb kann sich kein Interpret ganz sicher sein, daß die in den Materialien zum Ausdruck gekommenen Zielprojektionen der Gesetzesverfasser auch tatsächlich Eingang in das Gesetzeswerk gefunden haben. Hingegen haben die Erwägungsgründe Teil an der Autorität und Dignität des publizierten Normtextes. Sucht man tatsächlich einmal nach nationalrechtlichen Vorbildern, dann käme man wohl am nächsten in Gestalt der in der Schweizer Gesetzgebungslehre und -praxis sogenannten Zweckartikel. Diese werden üblicherweise einem Gesetzeswerk als Artikel 1 voran gestellt und fixieren in bewußt pauschalen Formulierungen die – mit Ernst Steindorff 59 zu sprechen – „Politik des Gesetzes“ 60. Auch der deutsche Wirtschaftsgesetzgeber bedient sich zunehmend dieser Technik.61 Von diesen Zweckartikeln unterscheiden sich die Erwägungsgründe primär durch einen höheren Detaillierungsgrad – der zum Teil so weit geht, daß im normativen Teil der Wortlaut des entsprechenden Erwägungsgrundes praktisch dupliziert wird. Welche Wirkungen kommen also den Erwägungsgründen im Rechtsanwendungsprozeß zu? Die Antwort, daß sie eines unter mehreren Auslegungselementen sind, ist ebenso richtig wie banal, denn diese Wirkung teilen sie mit normalen Gesetzesmaterialien. Was sie von letzteren unterscheidet, ist zunächst ihre prominentere Stellung im Mix der Auslegungselemente, also bei der Methodenwahl. Während die historische Interpretation anhand der Materialien nur eines der klassischen Auslegungselemente ist, welches überdies mit zunehmendem Alter eines Gesetzes immer mehr an Gewicht verliert, ist ein Erwägungsgrund das primäre policy statement des Richtliniengebers und als solches die Richtschnur für jede teleologische Interpreta-

58 GA Stix-Hackl, Schlußanträge v. 25.11.2003 – Rs. C-222/02 Paul, Slg. 2004, I-9425 Tz. 77. 59 Steindorff, FS Larenz I, S. 217. 60 Vgl. als Beispiel nur Art. 1 des schweizerischen Börsen- und Effektenhandelsgesetzes (BEHG): „Dieses Gesetz regelt die Voraussetzungen für die Errichtung und den Betrieb von Börsen sowie den gewerbsmäßigen Handel mit Effekten, um für den Anleger Transparenz und Gleichbehandlung sicherzustellen. Es schafft den Rahmen, um die Funktionsfähigkeit der Effektenmärkte zu gewährleisten.“ 61 Etwa in § 1 des Investmentgesetzes von 2003.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

tion.62 Das gilt für die teleologische Extension genauso wie für die teleologische Restriktion und Reduktion. Aber während das teleologische Argument ansonsten in dem Sinne „frei“ ist, als es einen Focus für allgemeine Vernünftigkeits-, Effizienzoder auch schlichte Praktikabilitätserwägungen bildet 63, ist die „erwägungsgrundkonforme“ Auslegung des Richtlinientextes striktes Gebot für den Anwender.64 „Anwender“ in diesem Sinne ist offenkundig nicht nur der umsetzende Mitgliedstaat und der über die pflichtgemäße Umsetzung wachende EuGH, sondern auch der nationale Richter, der sein eigenes Recht richtlinienkonform auslegt 65. Als offen gelten muß die sich geradezu aufdrängende Frage, ob Erwägungsgründe auch die Basis für Analogieschlüsse bilden können. Das wird nach derzeitigem Stand der EuGH-Rechtsprechung noch klar zu verneinen sein. Der EuGH mag die Analogie (die bei uns als das Virtuosenstück der Rechtsanwendung gilt) jedenfalls im Richtlinienrecht 66 bekanntlich nicht.67 Das hat er etwa in der Frage erkennen lassen, ob die Schutzzwecke der Verbraucherkreditrichtlinie auch für denjenigen einschlägig sind, der sich für einen Verbraucherkredit verbürgt.68 Ein Grund für diese Enthaltsamkeit liegt auf der Hand. Angesichts des immer noch fragmentarischen Charakters des Richtlinienrechts erweist sich schon das Auffinden einer „planwidrigen“ Lücke als problematisch. Des weiteren respektiert der EuGH die Prärogative des Richtliniengebers und verlegt sich in Zweifelsfällen lieber auf eine extensive teleologische Auslegung. So hat das Gericht in der Rechtssache Dietzinger die vom Richtlinienwortlaut nicht mehr gedeckte Erstreckung des Haustürwiderrufsrechts auf Bürgschaften von Verbrauchern nicht mit einem Analogieschluß, sondern mit einer fragwürdigen Wortlaut- und teleologischen Interpretation gerechtfertigt.69

2.

Verordnungen

Die Handlungsform der unmittelbar geltenden und unmittelbar anwendbaren Verordnung nach Art. 249 Abs. 2 EG hat der Europäische Privatrechtsgesetzgeber bis-

62 Exemplarisch die Schlußanträge von GA Jacobs v. 20.3.1997 – Rs. C-45/96 Dietzinger, Slg. 1998, I-1199 Tz. 39 ff. 63 Anschaulich Gast, Juristische Rhetorik, S. 170 ff. 64 Vgl. als jüngste Illustration (wenn auch im Ansatz problematisch) EuGH v. 25.4.2002 – Rs. C-183/00 Gonzalez Sánchez, Slg. 2002, I-3901 Rn. 3, 24, 25 (Erwägungsgrund 1 zur Produkthaftungsrichtlinie). 65 Dazu noch später unter IV. 66 Zur Analogie im – eher kodifikatorischen – Verordnungsbereich vgl. EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997 Tz. 12 – 30. 67 Dieser Befund auch schon bei Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 185. 68 EuGH v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 Berliner Kindl, Slg. 2000, I-1741. Der Gerichtshof spricht hier nicht einmal die Möglichkeit einer Analogie an. Immerhin der Sache nach werden im Rahmen der teleologischen Auslegung Analogiemöglichkeiten geprüft im den Schlußanträgen von GA Léger v. 28.10.1999 – Rs. C-208/99 Berliner Kindl, Slg. 2000, I-1741 Tz. 52 ff. Im Ergebnis drängte sich freilich eine analoge Anwendung der Verbraucherkreditrichtlinie nicht auf. 69 EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-45/96 Dietzinger, Slg. 1998, I-1199 Rn. 17 ff.

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her relativ selten gewählt. Für die Methode der Privatrechtsgesetzgebung galt bisher: nicht Rechtsvereinheitlichung (durch Verordnung), sondern lediglich Rechtsangleichung (durch ausfüllungsbedürftige Richtlinien) ist das Generalziel. Alle Anwendungsfälle privatrechtlicher Verordnungen sind überdies nicht ganz unproblematisch. a)

Die Verordnung über Gebühren beim grenzüberschreitenden Geldtransfer

Mit der Verordnung über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro von 2001 70 erstrebte die Kommission eine Angleichung des Gebührenniveaus im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr an das sehr viel niedrigere Niveau im Inlandsverkehr. Da jahrelange politische Appelle an die Kreditwirtschaft, kostengünstigere internationale Zahlungsverkehrsleistungen anzubieten, nichts gefruchtet hatten, griff man zur Verordnung und dekretierte identische Gebühren für Inlands- und Auslandszahlungsverkehr in Euro 71. Man darf diese Verordnung insofern als einen Sündenfall ansehen, als sie zwar durch das Binnenmarktziel gedeckt ist, aber als Preisregulierung in den sensiblen Kernbereich der Privatautonomie eingreift. Da die Institute auch nach der Verordnung frei sind, das inländische Preisniveau anzuheben, besteht allerdings keine absolute Preisfixierung nach dem Muster staatlicher Gebührenordnungen. b)

Die Verordnung über die Societas Europea

Die rechtliche Ausgestaltung der Societas Europea ist von Anfang an als Verordnung 72 geplant gewesen, da das politische Ziel die Bereitstellung einer einheitlichen gemeinschaftsweiten Organisationsform war. Als Konsequenz politischer Kompromisse in der langen Entstehungsgeschichte der Verordnung gerieten jedoch zahlreiche Wahlrechte in das Regelwerk und führten letztlich zur Aufgabe des Ziels einer strikt einheitlichen Organisationsstruktur. Nicht anders als bei einer richtlinienförmigen Regelung wurden deshalb mitgliedstaatliche Ausführungsgesetze notwendig, um die von der Verordnung eröffneten Wahlrechte zu implementieren. Die unmittelbare Anwendung der Verordnung ist dadurch erheblich eingeschränkt.73 Die Arbeitnehmermitbestimmung wurde sogar gänzlich in eine Richtlinie ausgelagert 74.

70 Verordnung (EG) Nr. 2560/2001/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.12. 2001 über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro, ABl. 2001 Nr. L 344/13. 71 Art. 3 VO 2560/2001/EG. 72 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001/EG des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2001 Nr. L 294/1. 73 Zu den hieraus resultierenden Detailfragen vgl. etwa J. Wagner, NZG 2002, 985, 985 ff.; Casper, FS P. Ulmer, S. 51ff. 74 Richtlinie 2001/86/EG des Rates v. 8.10.2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. 2001 Nr. L 294/22.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

c)

Ein Europäisches Vertragsgesetzbuch als Verordnung? 75

Die bislang praktizierte Art der Privatrechtsvereinheitlichung durch punktuell regelnde und ausfüllungsbedürftige Richtlinien gilt heute nicht mehr als der Weisheit letzter Schluß.76 Das Projekt eines Europäischen Vertragsgesetzbuches nimmt, nach drei Mitteilungen der Kommission 77, Gestalt an. Geplant ist derzeit ein Common Frame of Reference mit „offener Textur“, also eine Kodifikation auf der Ebene allgemeiner Prinzipien des allgemeinen Vertragsrechts und der praktisch wichtigsten Vertragstypen.78 Auch hier stellt sich die Frage des geeignetsten Regelungsinstruments. Die Verwirklichung in einer Richtlinie würde offenkundig den erwünschten Vereinheitlichungseffekt nicht herstellen können. Ein „Restatement of Contracts“ nach US-amerikanischem Vorbild paßt eher in eine Fallrechtsordnung denn als Instrument der Angleichung nationaler Kodifikationen.79 Die Präferenzen liegen derzeit bei einer Verordnung oder auch einer bloßen Empfehlung (model code) – wobei die allgemeinverbindliche Verordnung einer Empfehlung nach einer entsprechenden Experimentierphase auch nachfolgen könnte.80 Untypisch wäre eine Verordnung allemal: Sie soll keinen hohen Detaillierungsgrad aufweisen und lediglich Prinzipien regeln; und sie soll auf absehbare Zeit ein „optionales“ Instrument bleiben, das die Parteien positiv wählen (opt-in-Lösung) oder dessen Anwendung sie ausschließen müssen (opt-out-Lösung). Als Methode optimaler Vereinheitlichung kann dies nur funktionieren, wenn für die die Prinzipien konkretisierende Judikatur eine grenzüberschreitende Präjudizienbindung vorgesehen wird.

3.

Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts?

Der Rückgriff auf mitgliedstaatenübergreifende Rechtsgrundsätze hat bisher seinen Hauptort im EU-Verfassungsrecht, insbesondere (vor Nizza) im Bereich der Grund- und Menschenrechte sowie der Staatszielbestimmungen, und zwar unter Rekurs auf die „gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten“.81 Im Privatrecht wird die Suche nach „gemeinsamen Lösungen“ in Gestalt gemeineuropä-

75 Die Thematik wird hier nur vollständigkeitshalber gestreift; vgl. im übrigen Schmidt-Kessel, unten, § 13. 76 Vgl. etwa Müller-Graff, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code, S. 77, 78, 82 ff. 77 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endg., ABl. 2001 Nr. C 255/1; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, „Ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht – ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, „Europäisches Vertragsrecht und die Revision des aquis: der Weg nach vorne“, KOM(2004) 651 endg. (Oktober 2004). 78 Den derzeitigen Stand zusammenfassend Editorial, CMLR 2005, 1, 1ff. 79 Auf diesen fundamentalen Unterschied weist zu Recht Müller-Graff, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code, S. 85 f., hin. 80 Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endg., ABl. 2001 Nr. C 255/1 Rn. 62 ff.; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, „Europäisches Vertragsrecht und die Revision des aquis: der Weg nach vorne“, KOM(2004) 651 endg. (Oktober 2004) Rn. 92. 81 Resümierend Bleckmann, NVwZ 1993, 824, 825 f.

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§ 4 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

ischer Rechtsprinzipien vor allem von jenen propagiert, die das Projekt eines „European Civil Code“ derzeit für illusorisch halten.82 Ausdrücklich autorisiert ist die Geltung solcher Prinzipien in Art. 288 Abs. 2 EG für den Bereich der außervertraglichen Staatshaftung, konkretisiert durch die Francovich-Rechtsprechung.83 Einer auf der Verletzung von Gemeinschaftsrecht (z.B. Kartellrechtsverstößen) beruhenden „gemeineuropäischen“ Deliktshaftung unter Privaten ist der EuGH hingegen nicht näher getreten.84 Im übrigen hat er sich nur auf sehr hoch generalisierte Prinzipien wie das Vertrauensprinzip (principle of legitimate expectation), Treu und Glauben (good faith) oder venire contra factum proprium (estoppel) gestützt.85 Zum Inhalt des deliktischen Schadensersatzes ist auf das schadensrechtliche Bereicherungsverbot und auf das Mitverschuldensprinzip rekurriert worden.86

IV.

„Indirekte“ Wirkungen von Gemeinschaftsrecht: primärund sekundärrechtskonforme Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts

Von den Grundlagen der primärrechtskonformen und der richtlinienkonformen Auslegung ist an anderer Stelle in diesem Band zu reden.87 Hier interessiert nur der eigenartige theoretische Status dieser Methodeninstruments im Grenzgebiet zwischen Rechtsgeltung (Rechtsquellenlehre) und Rechtsanwendung (Methodenlehre). Im neueren Schrifttum gewinnt eine differenzierende Perspektive Zulauf. Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung gilt als Konsequenz des Primats des Gemeinschaftsrechts. Damit wird sie als Geltungsproblem, oder genauer: als Kollisionsregel zugunsten eines Vorrangs höherrangigen Rechts begriffen, der sich bei Unmöglichkeit primärrechtskonformer Auslegung sogar in der Nichtanwendung gemeinschaftswidrigen nationalen Rechts äußert.88 Man mag hier von Geltungsvorrang oder von „derogatorischem“ Vorrang sprechen.89 Hingegen soll es bei der richtlinienkonformen Auslegung lediglich um einen „interpretatorischen“ Vorrang 90 gehen, weil dem Richtlinienrecht im Gegensatz zum Primärrecht nur ganz ausnahmsweise unmittelbare Wirkung zukommt 91 und die richtlinienkonforme Auslegung Anwendung und Interpretation des nationalen Rechts bleibt.

82 Vgl. etwa van Gerven, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code, S. 101f. 83 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich, Slg. 1991, I-5357. 84 Zu den Gründen van Gerven, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code, S. 109 f. In der Rs. C-453/99 Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297, hat der EuGH lediglich gefordert, daß es überhaupt ein privatrechtliches remedy geben müsse. 85 Rechtsprechungsübersicht bei Usher, ERPL 1993, 109, 113 f. 86 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297 Rz. 30, 31ff. 87 Zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth, unten, § 11; zur primärrechtskonformen Auslegung Leible, unten, § 6. 88 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/ 91 Colorell Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29. 89 Letztere Vokabel bei Canaris, FS Bydlinski, S. 47, 64 ff. Zu den Verfechtern dieser Differenzierung zählen der Sache nach auch Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 774 f.; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49; W.-H. Roth, unten, § 11. 90 Canaris, FS Bydlinski, S. 47, 64 ff.; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49. 91 Bereits oben, III 1 b cc.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Gegen diese Differenzierung ist, soweit sie als rein analytische verstanden wird, nichts einzuwenden. Thematisiert man die Vorrangfrage hingegen von den jeweiligen Rechtswirkungen der die konforme Anwendung determinierenden Normen, dann ist die Unterscheidung, und dies wohl im Einklang mit der jüngsten Rechtsprechung des EuGH 92, erheblich zu relativieren. Ähnlich wie im nationalen Recht der verfassungskonformen Auslegung kommt auch der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung (in beiden Varianten) ein besonderer Rang unter den übrigen Auslegungsinstrumenten zu. Während die Methodenwahl unter den übrigen Instrumenten relativ frei ist und allenfalls schwache Vorrangregeln anerkannt werden 93, ist der mitgliedstaatliche Richter zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung verpflichtet, wann immer die Auslegung der nationalen Norm nach dem nationalen Methodenprogramm zu einer Divergenz vom Gemeinschaftsrecht führen würde. Wichtiger noch als diese methodische Vorrangregel ist aber ein Zweites. Die einzelnen Instrumente des nationalen Methodenkanons – und damit auch die Wahl unter ihnen – sind relativ ergebnisoffen. Hingegen ist mit der Entscheidung für gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung das Ergebnis der Rechtsfindung bereits weitgehend präjudiziert, da die Auslegung einem Optimierungsgebot hinsichtlich des Zwecks der Richtlinie unterworfen ist 94. Gewiß steht auch hier zwischen Methodenwahl und Ergebnis der Rechtsfindung noch einmal ein „mediatisierender“ Interpretationsvorgang. Das ändert aber nichts daran, daß das Gemeinschaftsrecht dabei Teil des materiellen Entscheidungsprogramms ist und daß das Gemeinschaftsrecht auch hier eine partielle Nichtanwendung des nationalen Rechts – Nichtanwendung des nach nationalem Methodenprogramm maßgeblichen Inhalts – zur Folge hat. Dieser Anwendungsvorrang geht bei manchen Autoren so weit, daß sie unter bestimmten Voraussetzungen sogar eine gemeinschaftsrechtskonforme Rechtsfortbildung contra legem postulieren.95

V.

Europäisches Soft Law

1.

Mitteilungen und Aktionspläne

a)

„Interpretative“ Mitteilungen der Kommission

Richtlinieninterpretierende Mitteilungen der Kommission – zum Teil auch „Leitlinien“ genannt – finden sich vor allem im öffentlichen Recht, wo sie mit den Verwaltungsvorschriften des deutschen Rechts verglichen werden.96 Wie diese haben

92 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., (noch nicht in Slg.) RIW 2005, 54, 62. 93 Vgl. etwa Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, S. 377 ff.; aus verfassungsrechtlicher Sicht Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, S. 450 ff., 487 ff. 94 So ausdrücklich EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., (noch nicht in Slg.) RIW 2005, 54, 62 (Rn. 113). 95 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51f., 53; für die Gegenposition m.w.N. Eilmansberger, JBl. 2004, 283, 291. 96 Vgl. nur Bast, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 497.

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§ 4 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

sie allgemeine Geltung und werden von den Adressaten faktisch auch befolgt.97 Im Privatrecht haben sie bisher keine Bedeutung. Sie wären auch gerade dort problematisch, weil sie die Ausfüllungsspielräume der Mitgliedstaaten beschneiden würden. Die Kommission ist selbst weder Gesetzgeber, der sein eigenes Werk „authentisch“ interpretieren könnte 98, noch Regulierungsbehörde, die mit der Konkretisierung einer Rechtsquelle betraut ist. Wo Richtlinien nur den Charakter von Rahmenregelungen haben, wird zu ihrer Konkretisierung denn auch zunehmend der Weg über sog. Ausführungsrichtlinien (als delegierte Rechtssetzung) beschritten.99 b)

Empfehlungen und Aktionspläne

Empfehlungen kommt nach Art. 249 Abs. 5 EG keine Verbindlichkeit zu. Trotzdem ist es gerechtfertigt, sie als eine Quelle von soft law zu begreifen, weil der EuGH von den Mitgliedstaaten und ihren Organen verlangt, Empfehlungen zwar nicht zu „befolgen“, aber sie doch zu „berücksichtigen“, d.h. sich damit auseinanderzusetzen und die Nichtbefolgung ggf. zu begründen.100 Im Europäischen Privatrecht wird gegenwärtig darüber nachgedacht, das geplante Europäische Vertragsgesetzbuch durch Empfehlung eines model code in Kraft zu setzen.101 Aktionspläne – aus dem Privatrecht zu nennen der ambitionierte Financial Services Action Plan von 2002 sowie der Aktionsplan zum Europäischen Vertragsrecht 102 – sind nicht einmal eine „weiche“ Rechtsquelle. Sie begründen allenfalls eine lose Selbstbindung der Kommission, eine bestimmte Arbeitsagenda abarbeiten zu wollen.

2.

„Expertenrecht“

a)

Delegation auf Fachleute: Ausführungsrichtlinien unter dem sog. Lamfalussy-Prozeß

Der Lamfalussy-Prozeß ist eine für bank- und kapitalmarktrechtliche Richtliniengesetzgebung eingeführte Erweiterung und Verfeinerung des sog. Komitologieverfahrens 103. Rechtsquellentheoretisch handelt es sich um eine mehrstufige Rechtssetzungsdelegation, bei der der Richtliniengeber nur noch Grundprinzipien fixiert, die Ausformung der (in der Regel überaus technischen) Details der Kommission (de

97 Vgl. nur BGH, NJW-RR 2004, 689 – „Leitlinien“ zur Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalverträge Nr. 2790/99 v. 22. 12. 1999. 98 Auf diesen Fall beschränkt mit Recht Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 56 die Verbindlichkeit auslegender Erklärungen als authentische Interpretation. 99 S. nachfolgend 2 a. 100 EuGH v. 13.12.1989 – Rs. 322/88 Grimaldi, Slg. 1989, 4407 Rn. 18. 101 Bereits oben III 3 c. 102 Oben Fn. 77. 103 Zu letzterem statt vieler Streinz-Gellermann, vor Art. 250 EGV Rn. 19 ff. Speziell zur Normsetzung im Kapitalmarktrecht Schmolke, NZG 2005, 912 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

facto: der zuständigen Generaldirektion) überträgt, die sich ihrerseits wieder auf den Rat und die Empfehlungen eines Expertengremiums, des Committee of European Securities Regulators (CESR), stützt.104 Das mag man als Expertenrecht nach dem topdown-Schema bezeichnen. Nach dem down-top-Schema wird hingegen bei dem sog. Basler Eigenkapital-Akkord verfahren. Hier haben zunächst die Experten des bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ, BIS) angesiedelten bankaufsichtsrechtlichen Ausschusses das Sagen, dessen Ergebnisse dann weitgehend unverändert in eine Richtlinie umgesetzt werden.105 Es ist kein Zufall, daß diese Formen von Expertenrecht sich bisher nur im Bank- und Kapitalmarktaufsichtsrecht etablieren konnten. Und es gehört keine Sehergabe zu der Prognose, daß sie im Europäischen Privatrecht keine Rolle spielen werden. Ihre Vorzüge erweisen sie, wo es hochtechnische und hochkomplexe Sachverhalte wie Eigenkapitalvorschriften oder Börsenkursmanipulation zu regeln und diese Regeln an sich rasch ändernde Rahmenbedingungen anzupassen gilt.106 Beides trifft auf das Privatrecht schwerlich zu. Auf das „klassische“ Privatrecht ohnedies nicht, denn dieses strebt traditionell und aus guten Gründen ein hohes Generalisierungsniveau seiner Regeln an. Aber auch nicht auf das regulative Privatrecht, weil auch hier noch „in dubio pro libertate“ gilt und der Gesetzgeber zumeist erst bei Versagen privater Selbstregulierung nachsteuert. Die typische Erscheinungsform des Expertenrechts im Privatrecht sind darum die sog. Kodizes. b)

„Koregulierung“: Codes of Best Practice

Ihre Herkunft haben die Kodizes, auch Codes of Best Practice genannt, in den angelsächsischen Ländern, und dort wieder primär im britischen Bank- und Finanzmarktrecht. Und alles, was vom Finanzplatz London kommt und einen englischen Namen trägt, wird im Standortwettbewerb bereitwillig aufgenommen. In Deutschland hat bekanntlich der Corporate Governance-Kodex eine erstaunliche Karriere gemacht. Im Gemeinschaftsrecht finden wir bisher erst einen Anwendungsfall: den „Verhaltenskodex über vorvertragliche Informationen für wohnungswirtschaftliche Kredite“ (2001) 107. Die Entwicklung dieses Kodex ist von der Kommission angeregt, begleitet und in Form einer Empfehlung „begrüßt“ worden. Seine Verbindlichkeit beruht einzig auf einer Selbstverpflichtung der europäischen Dachverbände des Hypothekarkreditgewerbes, die diese Selbstverpflichtung „nach unten“ an ihre Mitgliedsverbände bzw. -institute weitergeben. Die Notifizierung der Selbstverpflichtung erfolgt unmittelbar bei der Kommission. Der faktische Umsetzungsgrad ist mit 90 % recht hoch, allerdings gibt es in einigen wenigen Mitgliedstaaten Ausreißer, insbesondere in

104 Zu den hier nicht weiter interessierenden Einzelheiten Zimmer, BKR 2004, 421. 105 Einzelheiten bei Köndgen, in: Basedow u. a. (Hrsg.), Economic Regulation and Competition, S. 43 f. 106 Eingehender hierzu demnächst Köndgen, AcP 206 (2006), Heft 2. 107 Dazu ausführlicher Schmies, ZBB 2003, 277, 287 ff.

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§ 4 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

Frankreich und Spanien. Die Kommission selbst sieht den Kodex als ein wichtiges Pilotprojekt an. Unstreitig ist zunächst: Kodizes passen nicht in den Katalog der Handlungsformen in Art. 211, 249 EG. Die Kompetenz der Kommission, nach Art. 211 EG Empfehlungen auszusprechen, deckt nicht den Fall richtlinienvertretender privater Normsetzung. Kodizes sind auch nicht mit anderen Formen von soft law, wie dem Komitologieverfahren vergleichbar. Sie sind andererseits nicht schlichte Selbstregulierung, da sie im Einvernehmen zwischen Kommission und Fachverbänden entwickelt, angewendet und evaluiert werden. Die Kommission selbst bezeichnet sie als „Koregulierung“ und scheint diesen Modus der Rechtssetzung für zukunftsfähig zu halten.108 Da der Hypothekarkreditkodex ohne Zweifel richtlinienvertretend ist, die Mitwirkung der Gemeinschaft aber nur über die Kommission erfolgt, stellt sich offenkundig das Problem der parlamentarischen Verantwortlichkeit.109 Letzteres könnte wohl durch eine entsprechende Information des Parlaments entschärft werden.110 Wegen des richtlinienvertretenden Charakters ist aber darüber hinaus nach der Sicherstellung des effet utile, also nach hinreichender Sanktionierung, zu fragen. Der Kodex selbst überträgt die Compliance-Kontrolle den nationalen Beschwerdeund Ombudsmanstellen. Die Kommission überwacht seine Anwendung, freilich nicht durch Prüfung einzelner Kreditinstitute, sondern nur als allgemeine Effektivitätskontrolle. Dies bleibt hinter den Sanktionen zurück, die z.T. im britischen System vorgesehen sind.111 Die ultimative Sanktionsdrohung bleibt demnach, den Richtlinienknüppel aus dem Sack zu holen und eine ineffektive Koregulierung durch ius strictum zu ersetzen.

VI.

Resümee und Ausblick

Die nationale, traditionelle Rechtsquellenlehre hat infolge ihrer im wesentlichen formalen Regeln zur europäischen Rechtsquellenlehre bisher wenig beizusteuern. Auch in der Rechtsquellenlehre hat sich nämlich das supranationale Recht noch nicht hinreichend von den traditionellen Leitsternen des Völkerrechts und des nationalen Rechts emanzipieren können. Im Besonderen die Streitfragen um die europäischen Privatrechtsquellen lassen sich mit dem theoretischen und methodischen Instrumentarium der Rechtsquellenlehre nicht befriedigend lösen. Not tut daher eine autonome europäische Rechtsquellenlehre. Auch wenn die zentrale Frage nach dem Geltungsradius des Europäischen Primärund Sekundärrechts sich zunächst als typisch rechtsquellentheoretische Problematik, nämlich als solche des Stufenbaus der Rechtsordnung, präsentieren mag: die

108 Vgl. Europäische Kommission, Weißbuch: Europäisches Regieren, KOM(2001) 428 endg., S. 6, 27 f. 109 Schmies, ZBB 2003, 277, 280. 110 Auch hierzu die Vorschläge von Schmies, ZBB 2003, 277, 290. 111 Schmies, ZBB 2003, 277, 288.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Würfel fallen ganz woanders und gehorchen sehr viel elementareren und wertungsgeladenen Prinzipien. Letztlich geht es um die altbekannten Grundsatzprobleme und Antinomien des Privatrechts, nämlich um Markteffizienz und Marktversagen, um Privatautonomie und staatliche Regulierung, um unternehmerische Freiheit und Verbraucherschutz, um Selbstverantwortlichkeit und Paternalismus.

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Abschnitt 2 Primärrecht § 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts Matthias Pechstein/Carola Drechsler Übersicht I. II.

Einleitung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  Rechtliche Unterscheidung zwischen Unions- und Gemeinschaftsrecht   1. Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Rechtsnatur des Unionsrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Anzuwendende Methodengrundsätze im Europarecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  IV. Auslegungsmethoden im Gemeinschaftsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen   .  .  .  .  .  .  .  2. Einzelne Auslegungsmethoden   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung  .  .  .  .  .  .  b) Systematische Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Teleologische Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  d) Historische Auslegung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  e) Rechtsvergleichende Methode   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  V. Auslegungsmethoden im Unionsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Auslegung völkerrechtlicher Verträge   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung  .  .  .  .  .  .  b) Systematische Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Teleologische Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Historische Auslegung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Rechtsvergleichende Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  VI. Rechtsfortbildung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  VII. Ausblick   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  VIII. Zusammenfassung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

I.

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Einleitung

Auslegung als „Rekonstruktion des dem Gesetze innewohnenden Gedankens“ 1 erfolgt mit unterschiedlichen Methoden, welche auch nebeneinander angewandt werden können. Für das Recht der Europäischen Union und dasjenige der Europäischen Gemeinschaft bieten sich zur Auslegung der Vertragsnormen drei verschiedene Methodengrundsätze an. Während einmal von den für das Völkerrecht geltenden Auslegungsgrundsätzen ausgegangen werden könnte, könnte auch auf die 1

So Savigny, zitiert nach: Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 42.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

nationalen Auslegungsgrundsätze zurückgegriffen werden, aber auch auf spezielle europarechtliche Grundsätze. Grundsätzlich werden auch bei der Interpretation der Rechtsnormen im Europarecht die bekannten Auslegungsmethoden angewandt. In erster Linie finden die teleologische 2, die systematische 3 und die grammatikalische 4 Methode Anwendung. Anders als im nationalen Recht hat die historische Methode für die Auslegung des europäischen Primärrechts nur sehr eingeschränkte Bedeutung. Dies geht auf die Besonderheiten der Rechtsnatur des Gemeinschafts- und Unionsrechts zurück, auf welche im folgenden einzugehen sein wird. Zunächst werden die Besonderheiten des Europarechts, mit der Unterteilung in einen intergouvernementalen und einen supranationalen Bereich, dargestellt. Sodann werden für beide Bereiche die angewandten Auslegungsmethoden im Primärrecht dargestellt. Neben den bekannten Auslegungsmethoden und ihren Besonderheiten soll die Rechtsfortbildung im Primärrecht dargestellt werden. Die Rechtsfortbildung selbst wird zwar teilweise als Auslegungsmethode angesehen, sie geht aber über eine Auslegung des geltenden Rechts hinaus, indem dieses „fortgebildet“ wird. Insoweit handelt es sich nicht um eine Auslegungsmethode. Da der Rechtsfortbildung im Europarecht jedoch eine besondere Bedeutung zukommt, wird sie in einem selbständigen Teil behandelt. Zum Abschluß folgt ein Ausblick auf den „Verfassungsvertrag“.

II.

Rechtliche Unterscheidung zwischen Unionsund Gemeinschaftsrecht

Welche Auslegungsmethoden Anwendung finden, richtet sich nach der Rechtsnatur der Rechtsordnung und den für die Auslegung zuständigen Organen. Für die Auslegung von Völkerrecht gelten andere Grundsätze und Normen als für die Auslegung von nationalem Recht. Das Völkerrecht ist getragen von den Grundsätzen der staatlichen Souveränität und der Gleichheit der Staaten. Insoweit sind vor allem der teleologischen Auslegung von Anfang an Grenzen gesetzt. Von wesentlicher Bedeutung ist daher, in welchen Rechtskreis die einzelnen Rechtsordnungen einzuordnen sind. Das Gemeinschaftsrecht und das Unionsrecht stellen keine einheitliche Rechtsordnung dar, vielmehr bilden sie zwei zugleich getrennte und verbundene Rechtssysteme mit gravierenden Unterschieden. Das Recht der Europäischen Union setzt sich aus drei Säulen zusammen, dem Recht der Europäischen Gemeinschaften (Ge-

2 EuGH v. 29.11.1956 – Rs. 8/55 Fédération Charbonnière de Belgique ./. Hohe Behörde, Slg. 1956, 291, 311; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 20. 3 EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 Rn. 15/19 (AETR); EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1978, 1365 Rn. 15 (Defrenne III). 4 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels ./. Bedrijfsvereniging voor de Metaalindustrie en de Electrotechnische Industrie, Slg. 1985, 469 Rn. 11f.; EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, Slg. 1998, I-7053 Rn. 14, 15.

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Matthias Pechstein/Carola Drechsler

§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

meinschaftsrecht) und den intergouvernemental organisierten Säulen, GASP und PJZS (Unionsrecht). Während das Gemeinschaftsrecht eine eigenständige Rechtsordnung darstellt, ist die Rechtsnatur des Unionsrechts umstritten.5 Unstreitig ist keine der beiden Rechtsordnungen eine nationale oder mit einer nationalen Rechtsordnung vergleichbar. Beide Rechtsordnungen basieren auf völkerrechtlichen Verträgen und werden durch völkerrechtliche Verträge, wie u.a. den Vertrag von Nizza und – evtl. – den Entwurf für einen Verfassungsvertrag, weiterentwickelt.

1.

Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts

Es ist davon auszugehen, daß zumindest das Gemeinschaftsrecht (erste Säule) sich zu einer eigenständigen supranationalen Rechtsordnung sui generis entwickelt hat. Denn allein von der Entstehungsgeschichte einer Rechtsordnung, der Gründung durch einen völkerrechtlichen Vertrag, kann nicht endgültig auf ihre Rechtsnatur geschlossen werden. Entscheidend für die Rechtsnatur einer Rechtsordnung ist die Struktur derselben.6 Für das Gemeinschaftsrecht ergeben sich in diesem Gesamtzusammenhang im Verhältnis zu anderen völkerrechtlichen Verträgen folgende Besonderheiten: Zwar gilt weiterhin auch im Gemeinschaftsrecht das Prinzip der Souveränität der Staaten, dieses ist für die Bereiche, in denen von den Mitgliedstaaten Kompetenzen auf die Gemeinschaft übertragen wurden, jedoch eingeschränkt. Auch das dem Völkerrecht innewohnende Konsensprinzip liegt dem Gemeinschaftsrecht jedenfalls bei der Sekundärrechtsproduktion nicht zugrunde. Vielmehr gilt in den meisten Tätigkeitsfeldern im Rat das Mehrheitsprinzip, für die Primärrechtsänderung dagegen bleibt es bei dem Erfordernis der Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Dies führt dazu, daß Gemeinschaftsrechtsakte auch gegen den Willen eines Mitgliedstaates erlassen werden können und dieser Mitgliedstaat trotz Gegenstimme zum Vollzug des Rechtsaktes bzw. zur Umsetzung des Rechtsaktes verpflichtet ist, die Verträge selbst dagegen nur dann geändert werden können, wenn alle Mitgliedstaaten die beabsichtigten Änderungen ratifizieren. Weiterhin stellt das Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten weitgehend unmittelbar geltendes Recht dar.7 Es besitzt Vorrang vor dem nationalen Recht, wobei es sich um einen Anwendungsvorrang,8 nicht aber um einen Geltungsvorrang handelt.9 Diese beiden Grundsätze, unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten und Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor mitgliedstaatlichem Recht, bilden die zentralen Elemente der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsordnung, die lediglich im Wege der Vertragsänderung aufgehoben werden könnten. Die Gemeinschaftsrechtsordnung verfügt ihrer Natur entspre-

5 Siehe dazu ausführlich: Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 56 ff., 193 ff. 6 Streinz, Europarecht, Rn. 109. 7 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos ./. Administratie der Belastingen, Slg. 1963, 1, 25. 8 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Flaminio Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1269 –1271. 9 EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Simmenthal, Slg. 1978, 629 Rn. 17/18 (Simmenthal II).

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2. Teil: Allgemeiner Teil

chend über ein eigenes, nach autonomen Grundsätzen zu behandelndes „Verfassungssystem“.10 Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gilt auch gegenüber später ergangenem nationalen Recht. Daher gilt der Grundsatz lex posterior derogat legi priori im Verhältnis zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht nicht. Später ergangenes – oder auch spezielleres – nationales Recht bricht Gemeinschaftsrecht demnach nicht. Neben dem Anwendungsvorrang und der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts stellt auch die weitgehende Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinschaftsorgane eine Besonderheit im Vergleich zu sonstigen völkerrechtlichen Verträgen und Institutionen dar. Eine weitere Besonderheit des Gemeinschaftsrechts ergibt sich aus dem Anwendungsvorrang und der unmittelbaren Geltung für die Bürger der Mitgliedstaaten. Sie können aus dem Gemeinschaftsrecht unmittelbar einklagbare Rechte ableiten oder daraus verpflichtet werden. Insoweit handelt es sich bei dem Gemeinschaftsrecht weder um eine nationale noch um eine klassische völkerrechtliche Rechtsordnung, vielmehr stellt sich das Gemeinschaftsrecht als eigenständige und bislang einmalige Rechtsordnung dar, die besonderen Grundsätzen folgt. Für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts hat dies insoweit Bedeutung, als nicht allein nationale oder völkerrechtliche Grundsätze herangezogen werden können, denn sie würden der Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts als Integrationsrechtsordnung nicht gerecht werden. Die letztlich verbindliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist gemäß Art. 220 EG dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft übertragen; das völkerrechtliche Prinzip der autonomen Vertragsinterpretation durch die Vertragsstaaten ist somit durchbrochen.

2.

Rechtsnatur des Unionsrechts

Die Struktur der Europäischen Union wird zumeist mit einem Tempelmodell erklärt. Dabei stellt die Europäische Union das Dach über drei Säulen dar. Grundlage und erste Säule der Europäischen Union sind die Europäischen Gemeinschaften. Sie werden ergänzt durch die zweite und dritte Säule, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Polizeiliche und Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS). Anders als die Europäischen Gemeinschaften, welche supranational organisiert sind, sind die GASP und die PJZS intergouvernemental – die Mitgliedstaaten sind insoweit Kompetenzträger geblieben – und damit in erster Linie nach völkerrechtlichen Grundsätzen gestaltet. Entscheidungen in diesen Bereichen können nicht nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden, sie unterliegen dem völkerrechtlich geltenden Konsensprinzip. Auch Art. 23 Abs. 2 EU bildet insoweit keine Ausnahme, da der Rekurs auf die Einstimmigkeit im Europäischen Rat erhalten bleibt. Eine Verpflichtung gegen den Willen eines Mitgliedstaates ist daher hier nicht möglich.11 Der Integrationsstand in der Europäischen Union wird aber insge-

10 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 131. 11 Art. 14, 15, 34 EU-Vertrag.

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§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

samt als höher eingestuft, als der in internationalen Organisationen übliche, insbesondere unterliegen alle drei Säulen dem Kohärenzgebot zur Vermeidung unabgestimmter, widersprüchlicher und einander konterkarierender Maßnahmen.12 Aufgrund dieser Besonderheiten und einer fehlenden endgültigen Feststellung dazu im Unionsvertrag ist die Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union umstritten.13 Für eine völkerrechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit spricht die Möglichkeit des Beitritts zur Europäischen Union, ein alleiniger Betritt zu den Europäischen Gemeinschaften ist aufgrund des Art. 49 EU nicht mehr möglich.14 Andererseits wurden der Europäischen Union selbst keine Kompetenzen übertragen. Eine Übertragung von Kompetenzen erfolgte nur auf die Europäischen Gemeinschaften, die von den Säulen GASP und PJZS betroffenen Bereiche stehen kompetentiell weiterhin den Mitgliedstaaten zu, nicht aber der Europäischen Union, so daß es an einer die Rechtspersönlichkeit rechtfertigenden „Ankerkompetenz“ fehlt.15 Der Unterschied der Ansichten hat für die anzuwendenden Methoden zur Auslegung des Unionsrechts jedoch keine Auswirkungen, insoweit kann die weitere Diskussion hier dahinstehen. Für die Auslegung des Unionsrechts von besonderer Bedeutung ist jedoch, daß es, anders als das Gemeinschaftsrecht keine unmittelbare Geltung und auch keinen Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht aufweist. Demnach ist eine Berechtigung oder Verpflichtung einzelner durch das Unionsrecht nicht möglich, es fehlt an der Durchgriffswirkung. Auch für das Unionsrecht kann demnach die alleinige Anwendung nationaler und völkerrechtlicher Auslegungsmethoden nicht ausreichend sein. Das Unionsrecht ist aber einer völkerrechtlichen Auslegung weit stärker zugänglich als das Gemeinschaftsrecht, weil es völkerrechtliche Strukturen aufweist, gleichwohl geht es aber auch über das „Normalmaß“ völkerrechtlicher Integration hinaus. Hinsichtlich der Zuständigkeit für die Auslegung des Unionsrechts ergeben sich weitere Unterschiede. Während gemäß Art. 220 EG der Europäische Gerichtshof für die Auslegung des gesamten Gemeinschaftsrechts und für die Gültigkeitskontrolle des Sekundärrechts uneingeschränkt zuständig ist, enthält der Unionsvertrag eine entsprechende Regelung nicht. Allein für enumerativ aufgezählte Bereiche des Unionsrechts ist der EuGH nach Art. 46 EU zuständig.16 Daraus folgt auch, daß eine Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH nur für diese enumerativ aufgezählten Bereiche möglich ist. Von besonderer Bedeutung ist insofern, daß das für die dritte Säule vorgesehene besondere Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 35 Abs. 1 – 4 EU keine Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung des Unionsprimärrechts vorsieht. Allenfalls implizit, nämlich bei der Aufbereitung der unionsprimärrechtlichen Maßstäbe für die Auslegung oder Gültigkeitskontrolle der in

12 Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 130 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 121a. 13 Siehe dazu ausführlich: Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 1–164; v. Bogdandy/Nettesheim, EuR 1996, 3 ff. 14 Streinz, Europarecht, Rn. 121b. 15 Streinz, Europarecht, Rn. 121b. 16 Siehe dazu: Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, S. 256 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Art. 35 Abs. 1 EU genannten Unionssekundärrechtsakte kann er das Unionsprimärrecht auslegen. Darüber hinaus besitzen jedoch die Mitgliedstaaten die alleinige Auslegungszuständigkeit.

III.

Anzuwendende Methodengrundsätze im Europarecht

Im folgenden soll dargestellt werden, welche Methodengrundsätze im Europarecht Anwendung finden. Aufgrund der Besonderheiten der Unions- und Gemeinschaftsrechtsordnung kann nicht ausschließlich auf die nationalen Methodengrundsätze zurückgegriffen werden. Vielmehr ist im Bereich des primären Gemeinschaftsrechts auf eine Kombination der nationalen und völkerrechtlichen Methodengrundsätze und im Unionsrecht, aufgrund einer tiefergehenden Integration als in anderen völkerrechtlichen Verträgen, auf angepaßte völkerrechtliche Methodengrundsätze zurückzugreifen. Für das Gemeinschaftsrecht ergibt sich diese Kombinationsverpflichtung nicht nur aus der eigenständigen Rechtsnatur, sondern auch daraus, daß die mitgliedstaatlichen Methodengrundsätze auf den anglo-amerikanischen, romanischen und mitteleuropäischen Rechtskreis zurückgehen 17 und das Gemeinschaftsrecht allen drei Rechtskreisen gerecht werden muß. Die ausschließliche Anwendung einer einzelnen Methode könnte dies nicht leisten. Die alleinige Anwendung der völkerrechtlichen Methodengrundsätze würde den Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts ebenfalls nicht gerecht werden, da deren prägende Maximen, die Souveränität der Staaten und die Gleichheit der Staaten, im Gemeinschaftsrecht nur eingeschränkt Anwendung finden. Weiter ist die im Völkerrecht nur beschränkt anzuwendende dynamische Auslegung im Europarecht unverzichtbar. Ein Integrationsprozeß, wie er für die Gemeinschaft vertraglich vorgesehen ist, kann ohne eine dynamische Entwicklung der entsprechenden Rechtsordnung nicht vorangetrieben werden. Insoweit bedarf es eigenständiger europäischer Methodengrundsätze,18 welche sich zwar an den nationalen und völkerrechtlichen orientieren können, allerdings an die Rechtsnatur des Gemeinschafts- und Unionsrechts angepaßt werden müssen. Als Ausgangspunkt für die Auslegung des Europarechts wird, wie in der völkerrechtlichen Methode und den nationalen Methoden, der Wortlaut einer auszulegenden Norm angesehen.19 Für das Gemeinschafts- und das Unionsrecht ergeben sich hinsichtlich ihrer Struktur und Natur unterschiedliche Gewichtungen in den anderen Auslegungsmethoden. So wird für das Unionsrecht eine engere Bindung an das

17 Vgl. dazu: Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 91–129. 18 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 136 m.w.N. 19 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 137.

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§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

Völkerrecht angenommen. Daraus folgend, finden auch die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden aus Art. 31ff. WVK Anwendung. Anders als das Unionsrecht, sieht der EuGH das Gemeinschaftsrecht nicht als Völkerrecht, sondern als autonome „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“,20 an, so daß auch die völkerrechtlichen Auslegungsregelungen nicht zwingend auf das Gemeinschaftsrecht angewendet werden müssen bzw. können. Insbesondere Grundsätze, wie die Respektierung der staatlichen Souveränität und damit die enge Auslegung staatlicher Verpflichtungen bei der Interpretation der entsprechenden Normen oder die Auslegung aufgrund einer späteren Übung bei der Anwendung des Vertrages (Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK) können für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts nicht fruchtbar gemacht werden.21 Vielmehr werden angepaßte mitgliedstaatliche Auslegungsmethoden angewandt.22 Die Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten sind ausschließlich an den Vertrag gebunden, insoweit kann eine nachträgliche Übung der Mitgliedstaaten nicht zur Interpretation des Vertragstextes herangezogen werden.

IV.

Auslegungsmethoden im Gemeinschaftsrecht

In der Anwendung der unterschiedlichen Methodengrundsätze ist nicht nur zwischen Gemeinschaftsrecht und Unionsrecht zu unterscheiden, sondern im Bereich des Gemeinschaftsrechts auch zwischen Primärrecht und Sekundärrecht. Der Gerichtshof wendet insoweit keine einheitlichen Auslegungsmethoden an. Zum Sekundärrecht sollen hier indes nur kurze notwendige Parallelen gezogen werden. Dabei wendet der Gerichtshof bei der Auslegung des Primärrechts eher objektive und bei der Auslegung des Sekundärrechts verstärkt subjektive Auslegungsmethoden an.23 Eine primärrechtskonforme Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist auch nur nur bei untergeordnetem Recht möglich. Da das Unionsrecht dem Gemeinschaftsrecht nicht übergeordnet ist – das Tempel- oder Säulenmodell mit der Union als Dach könnte insofern zu Trugschlüssen Anlaß geben –, sondern als nachfolgende völkervertragliche Regelung zu den EG-Verträgen diesem rangmäßig gleichsteht, scheidet eine Auslegung des EG-Primärrechts am Maßstab des Unionsprimärrechts ebenso aus wie eine Auslegung des Unionsprimärrechts am Maßstab des EG-Primärrechts. Weiterhin findet eine historische Auslegung des Gemeinschaftsrechts nur in sehr engen, noch aufzuzeigenden Grenzen statt, da die hierfür relevanten Vorarbeiten zu den Römischen Verträgen nicht zugänglich sind und nach mittlerweile nahezu 50jähriger Geltung der Verträge auch notwendigerweise gegenüber den aktuellen Integrationsfragen in den Hintergrund treten müßten. Demnach sind bei der Auslegung des Primärrechts die historische Auslegung und die Auslegung anhand höherrangigen Rechts unerheblich. Anwendung finden in erster Linie die systematische und teleologische Auslegungsmethode. Hinsichtlich

20 21 22 23

EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos ./. Administratie der Belastingen, Slg. 1963, 1, 25. Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 27. Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 27. Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1178.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

des Unionsrechts ist dagegen eine Methodendifferenz in Bezug auf das Unionsprimärrecht und das Unionssekundärrecht – vorbehaltlich der in Art. 35 EU vorgesehenen Gültigkeitskontrolle spezifischen Unionssekundärrechts der dritten Säule und damit dessen primärrechtskonformer Auslegung – nicht geboten, da es sich in beiden Fällen um spezifisches regionales Völkerrecht handelt.

1.

Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen

Anders als im Recht der Europäischen Union – hier führt der Unionsvertrag enumerativ und abschließend einzelne Bereiche bzw. Verfahren 24 auf, für die der EuGH zuständig ist – besteht für das Gemeinschaftsrecht eine obligatorische und weitgehend umfassende Zuständigkeit. Der EuGH ist gemäß Art. 220 EG für das gesamte Gemeinschaftsrecht zuständig,25 er proklamiert für sich selbst insoweit eine letztinstanzliche Auslegungsbefugnis.26 Wie allerdings der Begriff der Auslegung zu verstehen ist, insbesondere wie weit die Auslegung gehen darf, ist von ihm bislang nicht entschieden worden. Der Gerichtshof stellte bis jetzt nur das Ziel der Auslegung dar. In der Rechtssache 61/79 hat er ausgeführt: „[Durch die Auslegung] soll erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht werden … , in welchem Sinn und Tragweite die betroffene Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“.27 Neben dem EuGH sind aber auch unterinstanzliche mitgliedstaatliche Gerichte und mitgliedstaatliche Verwaltungsbehörden berechtigt, das primäre und sekundäre Gemeinschaftsrecht verbindlich auszulegen. Dies folgt aus der fehlenden Pflicht dieser Gerichte und Behörden, Zweifelsfragen aus dem Gemeinschaftsrecht dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen.28 Sie sind aufgrund des Anwendungsvorrangs verpflichtet, unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht anzuwenden. Unbestimmte Rechtsbegriffe müssen also täglich durch fast alle mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte ausgelegt werden. Dem EuGH kommt nur eine Art „letztinstanzliche Auslegungskontrolle“ zu.

2.

Einzelne Auslegungsmethoden

Im folgenden werden die einzelnen Auslegungsmethoden vor- und deren Anwendung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft dargestellt. Dabei wird in erster Linie auf die teleologische und die systematische Auslegungsmethode

24 Art. 46 EU-Vertrag. 25 A.A. Groeben/Thiesing/Ehlermann-Krück, Art. 220 EGV Rn. 1ff., der das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung berücksichtigt wissen will. 26 Streinz-Huber, Art. 220 EG Rn. 5. 27 EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Denkavit Italia, Slg. 1980, 1205 Rn. 16. 28 So auch: Schroeder, JuS 2004, 180, 181.

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§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

eingegangen, weil diese beiden Methoden die weitgehendsten Folgen für die Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Normen aufweisen. a)

Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung

Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der im einschlägigen Gesetzesblatt veröffentlichte Wortlaut der Norm. Mit der grammatikalischen Auslegung wird der allgemeine Sprachgebrauch erforscht und hinterfragt.29 Aus diesem allgemeinen Sprachgebrauch wird der mögliche Wortsinn und der Bedeutungsgehalt einer Norm ermittelt. Dieser Wortsinn und Bedeutungsgehalt wird sodann in die juristische Fachsprache „übersetzt“. Im Gemeinschaftsrecht besteht jedoch das Problem, daß die Normen in mehreren Sprachen abgefaßt sind und in allen Sprachfassungen verbindlich sind.30 Die Urfassung des EWG-Vertrages ist nach Art. 314 Abs. 1 EG nur in den Sprachen deutsch, französisch, italienisch und niederländisch verbindlich. Nach den Beitrittsverträgen ist der Text aber auch in allen anderen mitgliedstaatlichen Amtssprachen verbindlich (Art. 314 Abs. 2 EG). In der Praxis führen die unterschiedlichen Sprachfassungen des Primärrechts zu besonderen Schwierigkeiten. Jede dieser verbindlichen Sprachfassungen der Norm enthält Rechtsbegriffe aus den nationalen Rechtsordnungen. Diese weichen aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen der Rechtsbegriffe jedoch nicht unerheblich voneinander ab. Der Gerichtshof hat daher entschieden, daß jeder einzelne Rechtsbegriff in einem gemeinschaftsautonomen Sinne zu interpretieren ist.31 Dies bedeutet, daß ein verbindlicher Rückgriff auf vergleichbare mitgliedstaatliche Rechtsbegriffe nicht vorgenommen wird.32 Auch Verweisungen auf einzelne nationale Normen oder Begriffe werden vermieden, da eine einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts geboten ist.33 In diesen Fällen definiert der Gerichtshof den Inhalt der einzelnen Begriffe in „apodiktischer Form“ 34 und demnach in einer Form der Rechtsschöpfung. Die Anwendung bestimmter Auslegungsmethoden ist hier selten erkennbar.35 Im Ergebnis kann dies dazu führen, daß Rechtsbegriffe im Gemeinschaftsrecht und im nationalen Recht deutlich unterschiedlichen Gehalt erlangen können.36 Eine solche gemeinschaftsweit einheitliche Auslegung der Rechtsbegriffe ist jedoch geboten, da eine einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts ansonsten nicht gewährleistet werden kann. Jeder Mitgliedstaat könnte für sich selbst festlegen, wie ein Begriff auszulegen ist und so dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts seine Bedeutung nehmen.

29 Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 43. 30 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 18. 31 EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 EGKO ./. Produktschap, Slg. 1984, 107 Rn. 11. 32 EuGH v. 22.11.1977 – Rs. 43/77 Industrial Diamond Supplies ./. Riva, Slg. 1977, 2175 Rn. 15 ff.; EuGH v. 2.4.1998 – Rs. C-296/95 The Queen ./. Commissioners of Customs and Excise, Slg. 1998, I-1605 Rn. 30 (EMU Tabac u.a.). 33 Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 42. 34 Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1177. 35 Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1177. 36 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 19.

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Aufgrund dieses Erfordernisses der gemeinschaftsautonomen Begriffsauslegung präzisierte der Gerichtshof für die Wortlautauslegung seine Auslegungsmethode dahingehend, daß er zunächst verschiedene Sprachfassungen vergleicht 37 und bei sich widersprechenden bzw. widerstreitenden Sprachfassungen, nicht einer Sprachfassung den Vorzug gibt. Der Gerichtshof wendet bei der Bedeutungserkundung kein „Mehrheitsprinzip“ an. Er geht zwar von den einzelnen nationalen Bedeutungen der Rechtsbegriffe aus, wendet aber nicht automatisch diejenige an, welche die meiste Verbreitung in den nationalen Rechtsordnungen gefunden hat.38 Als Ansatzpunkt mag die Bedeutung in den nationalen Rechtsordnungen ausreichen, für die endgültige Bestimmung des Inhalts der Norm werden dann aber die systematische und die teleologische Auslegungsmethode herangezogen.39 Dies bedeutet aber auch, daß der allgemeine Aufbau und der Zweck der Regelung zu berücksichtigen sind.40 Beispielhaft für eine gemeinschaftsautonome Auslegung ist die Auslegung des Begriffs „öffentliche Verwaltung“ in Art. 39 Abs. 4 EG. Die „öffentliche Verwaltung“ unterliegt als Ausnahme von der Regel nicht den Grundsätzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ ist im deutschen öffentlichen Dienstrecht sehr weit zu verstehen, während er im Gemeinschaftsrecht sehr eng ausgelegt wird. Gemeinschaftsrechtlich gehören nur solche Arbeitnehmer der „öffentlichen Verwaltung“ im Sinne von Art. 39 Abs. 4 EG an, die „eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind und die deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen“.41 Dies bedeutet, daß auch das deutsche Beamtenrecht für EG-Staatsangehörige geöffnet werden mußte, da keineswegs alle Beamtenstellungen diesen Kriterien genügen. Demnach ist der Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ im Gemeinschaftsrecht wesentlich enger zu verstehen als im deutschen Recht. Es handelt sich um eine gemeinschaftsautonome Auslegung eines auch national bekannten Rechtsbegriffs. Gleiches gilt in vielen anderen Fällen, etwa hinsichtlich des Begriffs der „öffentlichen Sicherheit“ in Art. 30, 39 Abs. 3 und 46 EG und dem entsprechenden Begriff des deutschen Polizeirechts oder bezüglich des Begriffs der „juristischen Person“ in Art. 230 Abs. 4 EG. Die Gleichrangigkeit aller Sprachfassungen wird durch die Organe der Gemeinschaft durchbrochen. Interpretiert der Gerichtshof unbestimmte Rechtsbegriffe nicht ge-

37 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels ./. Bedrijfsvereniging voor de Metaalindustrie en de Electrotechnische Industrie, Slg. 1985, 469 Rn. 11. 38 EuGH v. 29.6.1988 – Rs. 300/86 Van Landschoot ./. Mera, Slg. 1988, 3443 Rn. 18; EuGH v. 24.5.1988 – Rs. 122/87 Kommission ./. Italien, Slg. 1988, 2685 Rn. 10, 11. 39 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 18; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Kraaijeveld u.a., Slg. 1996, I-5403 Rn. 28. 40 EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, Slg. 1998, I-7053 Rn. 16. 41 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 Lawrie-Blum ./. Land Baden-Württemberg, Slg. 1986, 2121, Rn. 27.

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§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

meinschaftsautonom, sondern berücksichtigt die Sprachfassungen, so greift er nur auf einige wenige Sprachfassungen, wie die französische, englische und deutsche zurück.42 Dies ist insbesondere der alleinigen internen Arbeitssprache – französisch – des Gerichtshofes geschuldet.43 b)

Systematische Auslegung

Mit der systematischen Auslegung wird die Funktion einer Norm im gesamten Normgefüge erforscht.44 Im Zusammenhang mit anderen Normen oder dem gesamten Gesetzestext wird die entsprechende Norm auf ihren Rechtsgedanken hin untersucht. Diese Auslegungsmethode geht davon aus, daß alle Rechtsnormen eines Vertragswerkes in einer Beziehung zueinander stehen. Ihnen kommt je eine eigene Bedeutung zu, die allerdings erst in einer umfassenden Betrachtung ihren endgültigen Gehalt bekommt. So sind bei der Auslegung einer Norm die Überschrift unter der sie zu finden ist, ihr Stand im gesamten Normgefüge und ihre eigene Funktion für das Vertragswerk zu berücksichtigen. Der Gerichtshof geht dabei von einer rationalen Gesetzesstruktur mit einem ihr innewohnenden Regel-Ausnahme-Verhältnis,45 einem allgemeinen und einem besonderen Teil im gesamten Vertrag 46 und einer Systematik der Überschriftenbildung 47 aus. Dabei sollen einzelne Vorschriften innerhalb eines Kapitels aufeinander Bezug nehmen, der jeweils erste Artikel eines Kapitels von grundlegender Bedeutung sein und die folgenden Artikel ausschließlich der Präzisierung des ersten Artikels dienen.48 Er nimmt für die Inhaltsbestimmung einer Norm demnach auch auf die dieser Norm vorangestellten Gesetzesabschnitte Bezug. So sind alle auf die Grundsätze – Erster Teil – folgenden Normen im Hinblick auf diese Grundsätze hin auszulegen. Als Beispiel kann die Bestimmung des Inhalts der Dienstleistungsfreiheit herangezogen werden. Sie wird durch den Gerichtshof in einer Negativabgrenzung zu den bereits aufgeführten Grundfreiheiten, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit definiert.49 Nur bei dieser Auslegung kommt der Dienstleistungsfreiheit eine eigenständige Funktion zu und deckt mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit den gesamten denkbaren Personenverkehr ab. Würde die Dienstleistungsfreiheit fehlen, könnte ein Teil des Personenverkehrs nicht unter die Regelungen des EG-Vertrages subsumiert werden. Das Gefüge ist also nur mit dieser Norm vollständig und aus dieser Überlegung heraus erhält sie

42 Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 509. 43 Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 509. 44 Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 43. 45 EuGH v. 27.6.1991 – Rs. C-351/89 Overseas Union Insurance u.a. ./. New Hampshire Insurance Company, Slg. 1991, I-3317 Rn. 16. 46 EuGH v. 23.2.1988 – Rs. 68/86 Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1988, 855 Rn. 13. 47 EuGH v. 22.9.1998 – Rs. 187/87 Saarland u.a. ./. Minister für Industrie, Slg. 1988, 5013 Rn. 11. 48 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 179. 49 EuGH v. 30.4.1974 – Rs. 155/73 Sacchi, Slg. 1974, 409 Rn. 7/8.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

ihren Inhalt. Weiterhin läßt sich an diesem Bespiel auch das Regel-Ausnahme-Verhältnis darstellen. Der Gerichtshof geht mit der systematischen Auslegung auch davon aus, daß im Vertrag grundsätzlich erst die Regel dargestellt wird, hinsichtlich der Dienstleistungsverkehrs also ihr Anwendungsbereich, und dann die Ausnahme, also die Ausgrenzung des Anwendungsbereiches hinsichtlich der öffentlichen Verwaltung in Art. 39 Abs. 4 EG. Ähnlich ging der Gerichtshof in der Rechtssache AETR 50 vor. Er verwies darin ausdrücklich auf die Systematik des Gemeinschaftsrechts und kam zu dem Schluß, daß für die Bestimmung der Gemeinschaftszuständigkeit zum Abschluß von Abkommen mit Drittstaaten auf „das allgemeine System des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der Beziehungen zu dritten Staaten zurückgegriffen werden“ muß.51 Es fanden sich im EG-Vertrag zwar Regelungen zum Abschluß von Abkommen mit Drittstaaten und Kompetenzregelungen, diese mußten aber in das gesamte Gefüge des Vertrages eingebunden werden. Jeder Norm soll eine eigene Bedeutung zukommen, demnach ist der Bedeutungsgehalt einer Norm auch ihrem Stand im Vertrag entsprechend zu interpretieren. Die systematische Auslegung des Gemeinschaftsrechts findet jedoch ihre Grenzen 52 in den dem Vertrag zugrundeliegenden Leitlinien und Grundsätzen. So weicht der Gerichthof teilweise zugunsten der Rechtsgrundsätze effet utile und implied powers von einer bestehenden Systematik ab. Trotzdem kommt der systematischen Auslegung große Bedeutung für die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu, da sie ausschließlich auf den Vertrag und seine Struktur eingeht, also auf gemeinschaftsrechtliche Bedingungen ohne nationale Einflüsse. c)

Teleologische Auslegung

Der teleologischen Auslegungsmethode gemäß ist eine Norm nach dem mit ihr verfolgten Zweck zu interpretieren. Demnach ist diese Auslegungsmethode auf die Verwirklichung der Vertragsziele der Gemeinschaft gerichtet.53 Sie wird vom Gerichtshof häufig angewendet, da andere Auslegungsmethoden aufgrund der unterschiedlichen Sprachfassungen und der unterschiedlichen Bedeutung von Rechtsbegriffen z.T. nur beschränkt Aufschluß über die Normen und deren gewollten Inhalt geben können. Der Gerichtshof interpretiert die Normen des Gemeinschaftsrechts in erster Linie im Hinblick auf die Vertragsziele der Gemeinschaft.54 Damit soll die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft gesichert werden. Ausdruck der Anwendung der teleologischen Auslegungsmethode in den Urteilen des Gerichtshofs ist die generell enge Auslegung von Ausnahmen im Gemeinschaftsrecht und die Anwendung der in den Grundsatzbestimmungen der Art. 1–10 EG normierten allgemeinen

50 51 52 53 54

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EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263ff. (AETR). EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 Rn. 12 (AETR). EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Flaminio Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1270. Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 27. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 20.

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§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

Rechtsgrundsätze.55 Der Gerichtshof geht dabei auch davon aus, daß jede Norm so angelegt ist, daß sie ihr Ziel auch verwirklichen kann.56 Für eine teleologische Auslegung sind neben dem Ziel und Zweck der Norm die Sachgemäßheit der Regelung und die Verwirklichung des objektiven Zwecks des Rechts ausschlaggebend. Um die Ziele des Vertrages zu bestimmen, zieht der Gerichtshof in erster Linie die Positivliste der zu regelnden Politikbereiche des Art. 3 EG heran. Auf Art. 2 EG und dessen Aufgabenaufzählung greift der Gerichtshof dagegen nur sehr selten zurück. Dies ist wohl der sehr weiten und undeutlichen Formulierung dieses Artikels geschuldet, konkrete Ziele lassen sich nur schwer herauslesen.57 Das tragende Ziel der Gemeinschaft war und bleibt die Herstellung und der Ausbau eines gemeinsamen Marktes, demnach liegt hier auch der Tätigkeitsschwerpunkt der Gemeinschaft und ihrer Organe. Von diesem Ziel ist die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof geprägt. Soweit Art. 2 und 3 EG für die Auslegung herangezogen werden, wird der unverfälschte Wettbewerb als wichtigstes Ziel angesehen. Neben der Orientierung an den Zielen des Vertrages wird die auszulegende Norm auch einer Funktionsanalyse unterzogen. Dabei bestimmt der Gerichtshof die Funktion der auszulegenden Norm im Gesamtgefüge des Vertrages. Zu berücksichtigen sind eine sinnvolle, bestimmungsgemäße und widerspruchsfreie Anwendung der Norm.58 So kann für die Berechnung von Zwangsgeldern keine den jeweiligen Staat wirtschaftlich gefährdende überhöhte Forderung gestellt werden. Dies würde dem Sinn und Zweck des Vertrages zuwiderlaufen, da eine gemeinsame wirtschaftliche Funktionsfähigkeit erhalten bleiben soll. Da der Gerichtshof davon ausgeht, daß jeder Norm eine eigene Bestimmung und Funktion zukommt, muß sie so ausgelegt werden, daß sie ihr Ziel auch verwirklichen kann. Insoweit wendet der Gerichtshof für die Bestimmung der Sachgemäßheit einer Gemeinschaftsnorm den Rechtsgrundsatz des effet utile an. Den einzelnen Normen ist im Hinblick auf die Vertragsziele zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen.59 So hat der Gerichtshof „im Interesse der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts“ 60 unter anderem den Begriff des „Gerichts“ in Art. 234 EG dahingehend ausgelegt, daß auch ein Streitsachenausschuß einer Berufsorganisation als ein solches anzusehen ist. Nur mit dieser Auslegung des Begriffs „Gericht“ hat ein Vorlageverfahren Sinn und erfüllt sein Ziel hinsichtlich der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Für die teleologische Auslegungsmethode sind bei der Auslegung des Sekundärrechts teilweise andere Ansatzpunkte heranzuziehen als im Primärrecht. Anders

55 Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 46. 56 EuGH v. 29.11.1956 – Rs. 8/55 Fédération Charbonnière de Belgique ./. Hohe Behörde, Slg. 1956, 291, 311. 57 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 204. 58 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 207. 59 Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 220 EG Rn. 14. 60 EuGH v. 6.10.1981 – Rs. 246/80 C. Broekmeulen ./. Huisarts Registratie Commissie, Slg. 1981, 2311 Rn. 16.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

als im primären Gemeinschaftsrecht werden im Bereich des sekundären Gemeinschaftsrechts die Erwägungsgründe des jeweiligen Rechtsaktes für die teleologische Auslegung berücksichtigt. Erwägungsgründe zählen nicht zur Entstehungsgeschichte der Norm und fallen demnach auch nicht in den Bereich der historischen Auslegungsmethode. Sie sind Bestandteil des Rechtsaktes und sollen Aufschluß über die mit dem Rechtsakt verfolgten Ziele geben. d)

Historische Auslegung

Die historischen Auslegungsmethoden gehen von der geschichtlichen Entwicklung einer Rechtsnorm aus, dabei werden frühere ähnliche Gesetze und die Änderung solcher Normen berücksichtigt.61 Sowohl die subjektiv-historische als auch die objektiv-historische Auslegungsmethode haben für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts nur eine geringe Bedeutung. Dies wird auch im Zusammenhang mit einer Untersuchung, welche die Häufigkeit der angewandten Auslegungsmethoden für die veröffentlichten Entscheidungen des Jahres 1999 ermittelte, bestätigt.62 Mit der subjektiv-historischen Auslegungsmethode soll der wahre Wille des historischen Gesetzgebers erforscht werden, während mit der objektiv-historischen Methode die Funktion der Norm im Zeitpunkt ihres Erlasses ergründet werden soll.63 Für eine historische Auslegung des Primärrechts ist schon deshalb kein Raum, da Verhandlungsprotokolle bzw. Entstehungsdokumente zu den Gründungsverträgen nicht zugänglich sind.64 Teilweise wurde in den Klagebegründungen von Seiten der Mitgliedstaaten auf die amtlichen Begründungen und Erläuterungen der mitgliedstaatlichen Regierungen und Parlamente zu den Verträgen Bezug genommen. Diese Bezugnahme wurde vom Gerichtshof jedoch stets ignoriert.65 Viele der Normen des Gemeinschaftsrechts sind auch geprägt von politischen Entscheidungen und Kompromissen bei den Vertragsverhandlungen. Eine historische Auslegung unterläge insoweit auch politischen Zwängen und der Suche nach politischen Kompromissen, überdies dürften sich die Interessen der Mitgliedsaaten seither vielfach geändert haben. Sie würde dem Ziel einer zukunftsorientierten europäischen Integration durch eine Orientierung an der Vergangenheit daher widersprechen und die Dynamik des Gemeinschaftsrechts einschränken.66 Auch für die Auslegung von Sekundärrecht hat die historische Auslegung kaum Bedeutung. Sie wäre zwar faktisch möglich, da die Entwurfsprotokolle für Sekundärrechtsakte einsehbar sind.67 Der Gerichtshof berücksichtigt jedoch für seine Entscheidungen keine Dokumente, welche als Erklärungen im Rat zu Protokoll gege-

61 Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 44. 62 Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 118. 63 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 143. 64 Lecheler, Einführung in das Europarecht, § 5, IV, 2.b., S. 142. 65 EuGH v. 16.12.1960 – Rs. 6/60 Humblet ./. Belgischen Staat, Slg. 1960, 1163, 1194; EuGH v. 18.2.1970 – Rs. 38/69 Kommission ./. Italien, Slg. 1970, 47 Rn. 12, 13. 66 Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 28. 67 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-17/96 Badische Erfrischungs-Getränke ./. Land Baden-Württemberg, Slg. 1997, I-4617 Rn. 16.

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§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

ben wurden, „wenn sie in den Rechtsvorschriften keinen Ausdruck gefunden haben.“ 68 Dies folgt aus dem Gedanken der Rechtssicherheit, da bis zur Änderung des Art. 207 Abs. 3 UAbs. 2 S. 3 EG durch den Amsterdamer Vertrag die Protokollerklärungen zu Abstimmungen im Rat nicht veröffentlicht wurden. Mit der Änderung sind diese Erklärungen zu veröffentlichen, insoweit könnte zukünftig die historische Auslegung an Bedeutung gewinnen. Gegenwärtig nimmt der Gerichtshof zwar Rückgriff auf die Begründungserwägungen zu den Rechtsakten, dies aber in erster Linie um den Sinn und Zweck der Vorschriften zu erforschen.69 e)

Rechtsvergleichende Methode

Die rechtsvergleichende Methode kann grundsätzlich nur als ergänzende Methode angewandt werden. Ihr kommt demnach auch nur eine untergeordnete Rolle zu. Wie bereits dargestellt, interpretiert der Gerichtshof Rechtsbegriffe gemeinschaftsautonom. Dies bedeutet im Ergebnis auch, daß die einzelnen verbindlichen Sprachfassungen miteinander verglichen werden. Aus diesem Vergleich filtert der Gerichtshof einzelne Übereinstimmungen heraus und stellt sie mit Sinn und Zweck der entsprechenden Vorschrift in Zusammenhang. Insoweit handelt es sich zwar methodisch nicht wirklich um eine Rechtsvergleichung, aber um eine Inhalts- und Sinnvergleichung, die zu einer Rechtsvergleichung führen kann. Rechtsvergleichung wird nur insoweit unternommen, als geltendes Recht in unterschiedlichen Staaten und im Völkerrecht verglichen wird. Dabei handelt es sich aber nicht um den Vergleich einzelner Rechtsbegriffe, sondern um den Vergleich verschiedener Rechtsordnungen und -systematiken. Demnach muß einer Rechtsvergleichung grundsätzlich die Ermittlung fremden Rechts vorausgehen. Die Ermittlung des nationalen mitgliedstaatlichen Rechts führte im Ergebnis zu einem Vergleich der nationalen Rechtssätze, aus denen der Gerichtshof allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts entwickelt.70 Der Gerichtshof wendet bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, im Rahmen der teleologischen Auslegung auch Rechtsgrundsätze wie den effet utile einer Gemeinschaftsrechtsnorm an. Gemeinschaftsrechtsnormen müssen demnach so ausgelegt werden, daß sie ihre volle praktische Wirkung erzielen können.71 Insbesondere dieser Interpretationsansatz bewirkt vielfach eine Rechtsfortbildung. Die wohl wichtigsten Entscheidungen des EuGH, welche durch eine rechtsvergleichende Auslegung geprägt sind, sind die Entscheidungen zu einem gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch.72 In keiner Vertragsbestimmung ist ein solcher

68 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, Slg. 1991, I-745 Rn. 18; EuGH v. 17.10.1996 – verb. Rs. C-283/94, C-291/94 u. C-292/94 Denkavit Internationaal u.a., Slg. 1996, I-5063 Rn. 29. 69 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 148. 70 Bleckmann, Europarecht, Rn. 78 ff. 71 EuGH v. 6.10.1970 – Rs. 9/70 Franz Grand ./. Finanzamt Traunstein, Slg. 1970, 825 Rn. 5 (Leberpfennig); EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 Rn. 32. 72 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 ff.; EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Staatshaftungsanspruch gegen die Mitgliedstaaten vorgesehen. Der EuGH weist insoweit jedoch auf den Grundsatz des effet utile hin sowie darauf, daß eine Handhabe Privater gegen einen die Gemeinschaftsrechtsnormen verletzenden Mitgliedstaat bestehen muß, da die Rechtsordnung ansonsten gravierende Lücken aufweisen würde. Nur mit einem solchen Staatshaftungsanspruch kann das Gemeinschaftsrecht umfassende Geltung und Wirksamkeit erlangen. Der Gerichtshof verweist für das Bestehen eines solchen Staatshaftungsanspruchs auf das grundsätzliche – nicht notwendig das legislative Unrecht erfassende – Bestehen von Staatshaftungsansprüchen in den einzelnen Mitgliedstaaten und das Bestehen solcher Ansprüche im Völkerrecht.73 Auch die EMRK geht in Art. 41 EMRK von der Verpflichtung zur Wiedergutmachung aus, wenn ein Staat gegen zwingende Normen der EMRK verstößt und dabei kausal einen Schaden verursacht. Der EuGH verbindet hier also einen rechtsvergleichenden Ansatz mit einer teleologischen Erwägung. Auch andere Rechtsgrundsätze, wie Treu und Glauben und den Grundsatz des rechtlichen Gehörs hat der Gerichtshof aus dem Vergleich der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hergeleitet.

3.

Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander

Hinsichtlich des Rangverhältnisses der einzelnen anwendbaren Auslegungsmethoden ergibt sich aus dem EG-Vertrag keine Regelung. Daher ist davon auszugehen, daß auch kein Rangverhältnis zwischen den Auslegungsmethoden besteht. Auch den Urteilen des EuGH ist ein entsprechendes Rangverhältnis nicht zu entnehmen. Vielmehr stehen die drei klassischen Auslegungsmethoden gleichberechtigt nebeneinander und werden vom Gerichtshof miteinander kombiniert und verknüpft. Wie bereits erwähnt, finden die historische, die grammatikalische und die rechtsvergleichende Auslegung aufgrund der Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts jedoch nur sehr eingeschränkte Anwendung.74 Insbesondere die systematische und die teleologische Auslegungsmethode werden vom Gerichtshof in den meisten Fällen kombiniert, um die gefundenen Ergebnisse gegeneinander abzuwägen und ihre Plausibilität zu unterstützen. Eine trennscharfe Abgrenzung ist daher auch nicht immer möglich. Bezüglich des fehlenden Rangverhältnisses bildet das Urteil in der Rechtssache Continental Can eine die Regel bestätigende Ausnahme. Darin räumt der Gerichtshof der teleologischen Auslegungsmethode zumindest vor der grammatikalischen Aus-

73 EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 Rn. 29 ff. 74 A.A. Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 66. Die Autorin hat die Häufigkeit der angewandten Auslegungsmethoden durch den EuGH für die im Jahre 1999 ergangenen Entscheidungen statistisch ermittelt und kommt zu dem Ergebnis, dass die grammatikalische Auslegungsmethode von den klassischen Auslegungsmethoden am häufigsten angewandt wurde.

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§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

legung den Vorrang ein. Der Gerichtshof stellte in diesem Urteil die Vertragsziele des Art. 3 EG über den Wortlaut des Art. 86 EG (Art. 82 EG).75

V.

Auslegungsmethoden im Unionsrecht

Für die Methoden zur Auslegung des Unionsrechts ergeben sich ungleich größere Schwierigkeiten, will man diese der Rechtsprechung des Gerichtshofes entnehmen. Bis zum evtl. Inkrafttreten des Vertrags über eine Verfassung für Europa besitzt der Gerichtshof nur eine sehr eingeschränkte Kompetenz für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten im Bereich des Unionsrechts. Der EuGH kann nur in den engen Grenzen des Art. 46 EU, also für die GASP überhaupt nicht und für die PJZS nur im Rahmen des Art. 35 EU, tätig werden. Bislang liegen auch kaum einschlägige Urteile vor, denen bezüglich der Interpretationsmethoden auch nichts zu entnehmen ist.76 Ein Rückgriff auf die Auslegungsmethoden des Gemeinschaftsrechts wäre dabei jedenfalls insoweit unzulässig, als damit auf die Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts abgestellt wird (effet utile). Eine andere Interpretation würde den Vertragsbestimmungen des Unionsvertrages und dem Willen der Vertragsparteien widersprechen.77

1.

Auslegung völkerrechtlicher Verträge

Anzuwenden sind im Unionsrecht, aufgrund der Struktur des Unionsvertrages und der Rechtsnatur des Unionsrechts, in erster Linie die Auslegungsmethoden für völkerrechtliche Verträge. Niedergelegt sind diese Auslegungsmethoden in der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK). Die 1969 verabschiedete und 1980 in Kraft getretene WVK stellt ein Vertragswerk dar, welches teilweise bestehendes Völkergewohnheitsrecht kodifizierte und zumindest insoweit grundsätzlich auch für die Auslegung des Unionsrechts herangezogen werden kann. Maßgeblich für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge sind die Normen des Art. 31 und 32 WVK. Bei Art. 31 WVK handelt es sich um eine allgemeine Interpretationsregel, während Art. 32 WVK ergänzende Auslegungsmittel aufführt. Zuständig für die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages sind grundsätzlich die Vertragsparteien selbst. Diese können die Zuständigkeit aber auch unabhängigen Spruchkörpern übertragen. Bezüglich des Unionsvertrages ist dies durch Art. 46 EU für einige Bereiche hinsichtlich des EuGH erfolgt. Aufgrund des bereits erwähnten, auch im Unionsrecht geltenden Konsensprinzips, findet jedoch ansonsten die

75 EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72 Europemballage Corporation and Continental Can Company ./. Kommission, Slg. 1973, 215 Rn. 22. 76 Vgl. EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-469/03 Miraglia (noch nicht in Slg.); EuGH v. 11.2.2003 – verb. Rs. C-187/01 und C-385/01 Gözütok und Brügge, Slg. 2003, I-1345; EuGH v. 7.4.1995 – Rs. 167/94 Grau Gomis, Slg. 1995, I-1023. 77 Dazu siehe ausführlich: Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 50 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

authentische Auslegung Anwendung (Art. 31 Abs. 3 lit. a) und b) WVK). Die Vertragsparteien können Übereinkünfte über die Auslegung des Vertrages oder die Anwendung seiner Bestimmungen treffen. Auch kann eine Interpretation durch eine spätere Übung der Vertragsparteien erfolgen. Geprägt ist die Auslegung völkerrechtlicher Verträge von der staatlichen Souveränität. Sämtliche die Vertragsparteien einengenden Verpflichtungen sind im Zweifel restriktiv auszulegen.78 Weiterhin ist vorrangig auf den übereinstimmenden subjektiven Willen der Vertragsparteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzustellen, in dessen Rahmen sich aber auch der Effektivitätsgrundsatz entfaltet.79 Wie das Gemeinschaftsrecht ist jedoch auch das Unionsrecht auf eine dynamische Entwicklung gerichtet (vgl. Art. 1 Abs. 2, Art. 2 EU). Eine Auslegung des Unionsrechts, dominant orientiert am subjektiven Willen der Vertragsparteien zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses ist vor diesem Hintergrund nicht voll umfänglich möglich, vielmehr müssen hier die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden dem Recht der Union und seinen Zielen angepaßt werden, wobei der Effektivitätsgrundsatz eine stärkere, wenngleich nicht seiner Rolle im Gemeinschaftsrecht vergleichbare Bedeutung erhält.

2.

Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK

Aus Art. 31 WVK ergibt sich, daß grundsätzlich auch im Völkerrecht der Wortlaut einer Norm den Ausgangspunkt für jede methodische Vorgehensweise bietet. Dieser Wortlaut wird nach dem Ziel der Norm, dem Zusammenhang der Norm im gesamten Vertragswerk und ihrem Sinn (Gegenstand) und Zweck (object and purpose) interpretiert. Zum Gesamtwerk eines Vertrages gehören neben dem Vertragstext auch die Präambel, die Anlagen und jede sich auf den Vertragstext beziehende Übereinkunft.80 a)

Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung

Hinsichtlich der Grundsätze einer Wortlautauslegung gilt im Völkerrecht nichts anderes als im Gemeinschaftsrecht. Es ist der allgemeine Sprachgebrauch zu erforschen und die Begriffe dementsprechend zu interpretieren. Für diesen allgemeinen Sprachgebrauch ist allerdings nicht der Zeitpunkt der notwendigen Interpretation entscheidend, sondern der Zeitpunkt des Vertragsschlusses.81 Allein wenn der Wortlaut eindeutig und ihm eine unmißverständliche Bedeutung zu entnehmen ist, ist dieses Verständnis der Norm verbindlich.82 Im Bereich des Unionsrechts kann dieser

78 Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt, Rn. 124. 79 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Kapitel, § 11, Rn. 4, 16. 80 Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 1. Abschnitt, Rn. 123. 81 Siehe dazu: Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Kapitel, § 11, Rn. 6. 82 Bernhardt, Verfassungsprinzipien – Verfassungsfunktionen – Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, S. 58.

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§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

völkerrechtliche Grundsatz des in claris non fit interpretatio aufgrund der außerordentlichen Vielfalt der unterschiedlichen verbindlichen Sprachfassungen (Art. 53 EU) und der damit oftmals fehlenden Eindeutigkeit des Wortlauts allerdings kaum Berücksichtigung finden.83 Auch besteht im Völkerrecht gemäß Art. 33 Abs. 1 WVK kein Rangverhältnis zwischen den verschiedenen Sprachfassungen eines Vertrages, vielmehr sind alle Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich. b)

Systematische Auslegung

Neben der grammatikalischen Auslegungsmethode wird auch zur Interpretation völkerrechtlicher Verträge die systematische Auslegungsmethode angewandt, dies ist insbesondere bei mehrsprachigen Verträgen notwendig, um den Sinn und Zweck einer Norm zu erforschen. Die entsprechende Norm wird danach im Kontext der anderen Normen des Vertrages untersucht und in einen Zusammenhang gestellt. Aus diesem Zusammenhang wird der Sinn einer Norm deutlicher, in der Regel wird keine unabhängige, sich selbst genügende Norm in einen Vertrag aufgenommen, die Normen bauen vielmehr regelmäßig aufeinander auf. Insbesondere zur Vermeidung von Widersprüchen kann daher die systematische Auslegung hilfreich sein. c)

Teleologische Auslegung

Neben der systematischen Auslegungsmethode, welche alle Normen eines Vertrages in einem Gesamtgefüge interpretiert, geht auch die teleologische Auslegung im Völkerrecht von den Zielen des Vertrages aus. Eine Norm ist im Zusammenhang mit dem Gesamtziel des Vertrages auszulegen. Dabei ist zu unterstellen, daß jede Norm ihren eigenen Sinngehalt hat, der für die Zielerreichung des Vertrages notwendig ist. Da grundsätzlich vom Wortlaut des Vertrages auszugehen ist, sind auch Ziel und Zweck eines Vertrages aus diesem selbst zu entnehmen.84 Eine objektiv-teleologische Auslegung im Hinblick auf den Grundsatz des effet utile ist im Völkerrecht dagegen nur eingeschränkt möglich, nämlich soweit, wie sie die (festzustellende) subjektive Teleologie der Vertragsparteien nicht überschreitet. Eine derartige dynamische Interpretation, die auch weitgehende, bei Vertragsschluß unbedachte Beschränkungen der Handlungsfreiheit der Vertragsstaaten bewirken kann, ist im Völkerrecht aufgrund der Staatensouveränität und deren gebotenem Schutz regelmäßig nicht möglich, auch wenn es insoweit Gegenbeispiele gibt.85

83 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 162. 84 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Kapitel, § 11, Rn. 10. 85 Zu denken ist etwa an die Auslegung des Begriffs der „Bedrohung des Friedes“ in Art. 39 SVN durch den Sicherheitsrat, vgl. Fischer, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 15. Kapitel, § 60, Rn. 8.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

3.

Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK

Entsprechend Art. 32 WVK sind die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses ergänzende Mittel, um die sich aus der Auslegung anhand verschiedener Methoden ergebenden Bedeutungen einer Norm zu bestätigen. a)

Historische Auslegung

Eine historische Auslegung findet demnach nur ergänzend statt. Bei multilateralen Verträgen, denen Staaten erst später beigetreten sind, sind die Entstehungsmaterialien nur dann zu berücksichtigen, wenn diese den später beitretenden Staaten vorher zugänglich gemacht wurden und von ihnen angenommen wurden.86 Die Vorarbeiten zum Vertrag von Maastricht sind zwar teilweise veröffentlicht und den Beitrittskandidaten zugänglich gemacht worden, sie sind bis jetzt vom Gerichtshof aber nicht zur Entscheidungsfindung herangezogen worden. Dies könnte daran liegen, daß die Vorarbeiten zu den Römischen Verträgen, also zum Abschluß der Verträge zu den Europäischen Gemeinschaften, nicht veröffentlicht wurden und daher auch nicht für eine Auslegung herangezogen werden können. Insoweit ist es möglich, daß der Gerichtshof auf eine historische Auslegung der Gründungsverträge generell verzichten möchte, zumal die historische Auslegungsmethode prinzipiell geeignet ist, den vom EuGH bislang gezeigten Willen zur Förderung der Integration durch eine teleologische Auslegung zu bremsen. b)

Rechtsvergleichende Auslegung

Die Erkenntnis allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den EuGH, soweit er nach Art. 46 EU zuständig ist, kann auch im Unionsrecht nur im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung erfolgen.87 Wie auch im Recht der Europäischen Gemeinschaften ist bei der Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze der Europäischen Union eine Orientierung an den völkerrechtlichen Rechtsgrundsätzen und völkerrechtlichen Methoden geboten. Hinsichtlich der zu vergleichenden Rechtsordnungen stellt sich für die Europäische Union die Frage, ob es sich ausschließlich um die Rechtsordnungen der Vertragsparteien handeln muß, oder ob auch andere repräsentative Rechtsordnungen für einen Vergleich herangezogen werden können. Für allgemeine universelle Rechtsgrundsätze mögen für den Rechtsvergleich auch repräsentative „dritte“ Rechtsordnungen herangezogen werden können, wobei der Feststellung der über die Vertragsstaaten hinausreichenden Geltung aber nur bestätigende Wirkung zukommen kann. Für die Entwicklung regionaler allgemeiner Rechtsgrundsätze sind jedoch ausschließlich die Rechtsordnungen der entsprechenden Region ausschlaggebend.88

86 Siehe dazu: Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Kapitel, § 11, Rn. 18. 87 Streinz-Huber, Art. 220 EG Rn. 14. 88 Bleckmann, Die Rechtsvergleichung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Bleckmann (Hrsg.), Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 105, 107.

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§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

Dies läßt sich für das Recht der Europäischen Union inzwischen auch dem EU-Vertrag selbst entnehmen, wenn Art. 6 EU für die geltenden und zu achtenden Grundrechte auf die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verweist. Ob die Rechtsgrundsätze allerdings allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bekannt sein müssen, oder ob es genügt, daß die Rechtsordnungen einem solchen Rechtsgrundsatz nicht entgegenstehen, ist strittig.89 Aufgrund des das Völkerrecht tragenden Grundsatzes der Gleichheit der Staaten wäre zu vermuten, daß ein Rückgriff auf die nationalen Rechtsordnungen nur möglich ist, wenn die Rechtsgrundsätze in allen nationalen Rechtsordnungen der Vertragsparteien gelten. Aufgrund der unterschiedlichen Regelungsdichte in den einzelnen Rechtsordnungen kann aber wohl davon ausgegangen werden, daß es ausreicht, wenn über die Geltung in mehreren Rechtsordnungen hinaus die anderen Rechtsordnungen dem entsprechenden Rechtsgrundsatz nicht entgegenstehen. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluß nicht, daß innerstaatliche Rechtsvorschriften den Inhalt und die Bedeutung der Normen des EU-Vertrages bestimmen können. Vielmehr trägt die Rechtsvergleichung nur dazu bei, den Sinngehalt entlehnter Rechtsbegriffe zu ergründen.90

4.

Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander

Ähnlich wie im Gemeinschaftsrecht besteht auch im Unionsrecht kein Rangverhältnis zwischen den anzuwendenden Auslegungsmethoden. Weder der Rechtsprechung des Gerichtshofes noch der WVK kann eine Entscheidung für den Vorrang der einen oder der anderen Auslegungsmethode entnommen werden. Es gelten einzig die bereits erwähnten Besonderheiten im Völkerrecht, wonach in erster Linie der subjektive Wille der Vertragsparteien zu erkunden ist. Die Anwendung der Auslegungsmethoden richtet sich nach diesem Grundsatz.

VI.

Rechtsfortbildung

Führen die klassischen Auslegungsmethoden zu absurden 91 oder willkürlichen 92 Auslegungsergebnissen, so lehnt der Gerichtshof diese ab. Um zu einem vertretbaren Ergebnis zu kommen, unternimmt er in solchen Fällen oft eine Rechtsfortbildung. Eine solche richterliche Rechtsfortbildung stellt einerseits grundsätzlich ein aliud zur Auslegung dar, da es sich dabei um eine Fortbildung des geltenden Rechts handelt und gerade nicht um eine Auslegungsmethode, denn die Grenzen der Auslegung sind in diesen Fällen überschritten.93 Andererseits fällt gerade im primären

89 Bleckmann, Die Rechtsvergleichung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Bleckmann (Hrsg.), Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 105, 107. 90 Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 48. 91 EuGH v. 13.2.1980 – Rs. 77/79 Damas ./. FORMA, Slg. 1980, 247 Rn. 10. 92 EuGH v. 14.7.1977 – Rs. 1/77 Bosch GmbH ./. Hauptzollamt Hildesheim, Slg. 1977, 1473 Rn. 4. 93 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 50.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Gemeinschaftsrecht mit einer sehr „ausdehnenden, teleologischen und am effet utile orientierten Auslegung“ 94 von oftmals tatbestandlich wenig konturierten Normen eine Abgrenzung zwischen teleologischer Auslegung und Rechtsfortbildung schwer. Auch die rechtsvergleichende Auslegung, welche insbesondere aufgrund der verschiedenen Sprachfassungen und der unterschiedlichen Rechtssysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten im Europarecht Anwendung findet, geht teilweise in eine richterliche Rechtsfortbildung über. Voraussetzung für eine Rechtsfortbildung ist – wie bei der Analogie – eine planwidrige Regelungslücke, besteht diese, muß die Rechtsfortbildung zusätzlich durch besondere Funktionserfordernisse gerechtfertigt sein.95 Für die Gemeinschaftsverträge, aber auch für die Ergänzungsverträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza ist anerkannt, daß sie so rudimentär und ausfüllungsbedürftig angelegt waren, daß ein Bedürfnis zur Rechtsfortbildung und dynamischen Entwicklung von Anfang an bestand.96 Das Recht auf eine richterliche Rechtsfortbildung entnimmt der Gerichtshof der Formulierung des Art. 220 EG, wonach er selbst „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages“ sichern soll.97 Insoweit ist er nicht nur auf die Anwendung des Vertrages festgelegt, sondern auch auf das Recht selbst, wobei jegliche Erkenntnisquelle berücksichtigt werden kann und soll. Diese Interpretation unterstützt auch das Bundesverfassungsgericht. In seinem Maastricht-Urteil zieht es für eine mögliche Rechtsfortbildung des Gerichtshofes Grenzen, welche auch den nationalen Verfassungsgerichten gesetzt werden.98 Danach müssen die Ermächtigungen hinreichend bestimmbar und das rechtsverbindliche Tätigwerden der Gemeinschaft vorhersehbar sein.99 Die wohl wichtigsten Entscheidungen, welche von einer Fortbildung des Gemeinschaftsrechts getragen werden, hat der Gerichtshof in den Bereichen Grundfreiheiten, Grundrechte und dem gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzanspruch der Bürger bei Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten getroffen. Diese Entscheidungen sind wegweisend für eine dynamische Entwicklung des Gemeinschaftsrechts gewesen und stellen heute anerkannte Grundpfeiler des Europarechts dar. Im Bereich der Grundfreiheiten hat der Gerichtshof sehr früh anerkannt, daß die Normen über ihren eigentlichen Wortlaut hinaus interpretiert werden müssen, um den steigenden Anforderungen an den Binnenmarkt gerecht werden zu können.100 Der Gerichtshof verstand und interpretierte die Grundfreiheiten zunächst weitgehend als Diskriminierungsverbote im Sinne des auch im völkerrechtlichen Frem-

94 95 96 97 98 99 100

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Everling, JZ 2000, 217, 218. Schroeder, JuS 2004, 180, 184. Everling, JZ 2000, 217, 220. Everling, JZ 2000, 217, 221. BVerfGE 89, 155, 209. BVerfGE 89, 155, 187. EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8/74 Dassonville, Slg. 1974, 837 Rn. 5.

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§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

denrecht bekannten Inländergleichbehandlungsgrundsatzes. Mit zunehmendem Handel und zunehmenden staatlichen Abgrenzungstendenzen sowie protektionistischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten mußte der Gerichtshof seine Interpretation verstärkt an den Zielen des Vertrags ausrichten. Dabei wendet er zwar auch die teleologische und systematische Auslegungsmethode an, gegen den z.T. eindeutigen Wortlaut konnten sie aber keine neuen Erkenntnisse bringen. Insoweit war der Gerichtshof im Sinne des Vertrages und seiner Ziele zu einer Rechtsfortbildung angehalten. Die Grundfreiheiten wurden daher verstärkt auch als Beschränkungsverbote interpretiert.101 Allein diese Interpretation wird den heutigen Anforderungen an einen gemeinsamen Binnenmarkt gerecht. Auch ist keiner der Mitgliedstaaten gegen diese Interpretation vorgegangen oder hat gar eine Vertragsänderung in diesem Bereich in den auf die Urteile folgenden Vertragsrevisionen gefordert. Ein Widerspruch dieser Interpretation zu dem Willen der Vertragsparteien läßt sich daher nicht feststellen. Eine ähnliche Entwicklung läßt sich beim Grundrechtsschutz beobachten. Enumerativ aufgezählte Grundrechte enthalten die Gemeinschaftsverträge und der Unionsvertrag nicht. Gleichwohl hat der EuGH eine Vielzahl von Grundrechten auf der Grundlage allgemeiner Rechtsgrundsätze, orientiert an der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, anerkannt und deren Inhalt selbständig entwickelt.102 Dies hat später Art. 6 Abs. 2 EU anerkannt und aufgenommen. Diese Grundrechte sind inzwischen in der Grundrechtscharta festgeschrieben worden, auch wenn diese noch keine Bindungswirkung hat und allenfalls bei Inkrafttreten des Verfassungsvertrags Rechtswirkung erlangen wird. Insofern hat die richterliche Rechtsfortbildung der Kodifizierung vorgearbeitet und diese geprägt. Anders als bei den Grundfreiheiten und den Grundrechten, welche in den Verträgen zumindest aufgeführt werden und vom Gerichtshof nur ausgefüllt wurden, hat er im Staatshaftungsrecht Rechtsfortbildung ohne eine textuelle Grundlage im Vertrag betrieben. Für Verstöße der Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht, soweit diese Verstöße Rechte von Bürgern betreffen, enthält der EG-Vertrag keinen Schadensersatzanspruch. Aus dem Sinn und Zweck des Vertrages, dem anerkannten Vorrang des Gemeinschaftsrechts und dem Grundsatz des effet utile, hat der EuGH gefolgert, daß auch ein gemeinschaftsrechtlicher Schadensersatzanspruch besteht.103 Dieser wurde im Laufe der Zeit nicht nur für legislatives Unrecht anerkannt, sondern gilt inzwischen selbst für judikatives Unrecht.104

101 EuGH v. 14.2.1995 – Rs. C-279/93 Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 26; EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 81/87 The Queen ./. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, Slg. 1988, 5483 Rn. 17 (Daily Mail and General Trust PLC). 102 EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder ./. Stadt Ulm, Slg. 1969, 419 Rn. 3, 4; EuGH v. 21.9. 1989 – Rs. 46/87 u. 227/88 Hoechst AG ./. Kommission, Slg. 1989, 2859 Rn. 13; EuGH v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98 Tanja Kreil, Slg. 2000, I-69 Rn. 23. 103 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 Rn. 31– 36; EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 Rn. 28 f. 104 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler ./. Republik Österreich, Slg. 2003, I-10239 Rn. 51– 55.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

VII. Ausblick Mit dem möglichen, zur Zeit jedoch sehr fraglichen Inkrafttreten des Vertrags über eine Verfassung für Europa 105 würden sich die rechtlichen Unterschiede zwischen dem Unions- und Gemeinschaftsrecht so weitgehend ändern, daß insoweit eine kurze Darstellung notwendig erscheint. Die Europäische Union wird dem Verfassungsvertrag zufolge eine einheitliche Organisation mit einheitlichen Organen und Rechtspersönlichkeit unter Übernahme der Kompetenzen der EG sowie der Mitgliedstaaten in der dritten Säule sein. Dies wird dazu führen, daß eine Unterteilung in supranationale und intergouvernementale Bereiche – abgesehen von dem problematischen Stand der GASP und der Nichtaufnahme der EAG – grundsätzlich nicht mehr geboten ist. Dies hat auch Auswirkungen auf die Vorrangregelung, dem Unionsrecht wird umfassend Vorrang vor dem nationalen Recht eingeräumt (Art. I-10 I Verfassungsvertrag). Dabei kann diese Bestimmung jedoch allein nicht die aus den nationalen Verfassungen folgenden Grenzen eines Anwendungsvorrangs des neuen Unionsrechts beseitigen. Auch die Zuständigkeit des Gerichtshofes wird auf fast alle Bereiche des bisherigen Unionsrechts ausgeweitet (Art. I-28, III-258 ff. Verfassungsvertrag).106 Für die weitere Entwicklung der Auslegung hat der Verfassungsvertrag insoweit Konsequenzen, als er eine neue Struktur für das Unions- und Gemeinschaftsrecht aufweist. So wird das bis jetzt nicht konsequent durchgehaltene System von Regel und Ausnahme wesentlich verbessert und den jeweiligen Titeln werden allgemeine Normen, welche für den gesamten Titel gelten sollen, vorangestellt. Diese neue Systematik des Vertrages kann dem Gerichtshof bei einer systematischen Auslegung des Unions- und Gemeinschaftsrechts hilfreich sein. Weiterhin ist in den letzten Jahren der EuGH in seiner Rechtsprechung dazu übergegangen vermehrt auf seine eigene Rechtsprechung zu verweisen.107 Es ist davon auszugehen, daß dieser Trend anhält. Mit der Verweisung auf seine frühere Rechtsprechung ersetzt der EuGH den klassischen Auslegungskanon. Damit erreicht der Gerichtshof eine Arbeitsersparnis und eine kontinuierliche Rechtsfortbildung. Unbestimmte Rechtsbegriffe müssen nicht in jedem Verfahren neu entwickelt und definiert werden, sondern können mit den Verweisungen ohne neuerliche Begründungen übernommen werden.108 Die Verweisung auf die eigene Rechtsprechung beinhaltet den Vorteil, daß eine nachträgliche Kontrolle der eigenen Rechtsprechung erfolgt, aber auch eine Weiterentwicklung dieser. Im Ergebnis kann dies einer einheitlichen Rechtsordnung dienen.

105 Europäischer Konvent, Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, ABl. EG 2003, Nr. C 169, S. 1ff. 106 Im Bereich der GASP bleibt jedoch eine Beschränkung bestehen, Art. III-282 Verfassung. 107 Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 134. 108 Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 42, 43.

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§ 5 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

VIII. Zusammenfassung Die vom Gerichtshof angewandten Auslegungsmethoden orientieren sich an den nationalen und völkerrechtlichen Methodengrundsätzen. Aufgrund der „Eigenständigkeit“ der Rechtsordnung des Gemeinschaftsrechts werden diese Methoden der EG-Rechtsordnung jedoch angepaßt, so daß die unbesehene Übertragung der nationalen Methoden und der völkerrechtlichen Methode nicht möglich ist. Vielmehr haben einige Auslegungsmethoden aufgrund der Struktur der Gemeinschaftsrechtsordnung und ihrer vertraglich angelegten spezifischen Integrationsdynamik keine Bedeutung, wie insbesondere die historische Auslegung. Andere Methoden, wie die teleologische Auslegung, haben im Gemeinschaftsrecht dagegen eine viel gewichtigere Bedeutung als im nationalen Recht. Dabei wendet der Gerichtshof nicht nur eine einzelne Auslegungsmethode an, sondern kombiniert verschiedene Methoden, wobei Ausgangspunkt in allen Fällen der Wortlaut der Norm in allen verbindlichen Sprachfassungen ist. Die angewandten Auslegungsmethoden dienen im Ergebnis der Einheitlichkeit der Anwendung und der Effektivität des Gemeinschaftsrechts. Hinsichtlich des Unionsrechts ist zu beachten, daß es eine deutlich stärker völkerrechtlich geprägte Rechtsnatur hat und dementsprechend den völkerrechtlichen Auslegungsregelungen, wie sie sich aus der Wiener Vertragsrechtskonvention ergeben, eine größere Bedeutung zukommt. Im Unionsrecht kommt es daher zunächst auf den subjektiven Willen der Vertragsparteien beim Vertragsschluß an. Da aber auch das Unionsrecht von einer eigenen Dynamik getragen ist, findet dieser Grundsatz wiederum nur eingeschränkt Anwendung und es ist ergänzend auf die systematische und teleologische Auslegung zurückzugreifen, wobei insbesondere die letztere im Völkerrecht ansonsten nur eine sehr geringe Bedeutung hat. Neben der Auslegung der Normen bildet der Gerichtshof, anders als die nationalen und internationalen Gerichte, verstärkt das Gemeinschaftsrecht fort. Dabei handelt es sich um eine über die Auslegung hinausgehende Rechtsinterpretation. Trotz der umstrittenen Bedeutung der Rechtsfortbildung kann davon ausgegangen werden, daß die vom Gerichtshof betriebene richterliche Rechtsfortbildung von den Verfassern der Verträge grundsätzlich gewollt war – zumindest in ihrer Gesamtheit nachträglich gebilligt wird – und die Dynamik des Gemeinschafts- und Unionsrechts mit trägt.

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§ 6 Die primärrechtskonforme Auslegung Stefan Leible Übersicht I. Einführung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  II. Differenzierung anhand der Provenienz der auszulegenden Normen   .  .  .  .  .  .  .  1. Primärrechtskonforme Auslegung des gemeinschaftlichen Sekundärrechts   .  .  2. Primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Primärrechtskonforme Auslegung des gemeinschaftlichen Sekundärrechts   .  .  .  .  1. Dogmatische Verortung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Inhalt und Reichweite   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Das Beispiel der „grundfreiheitenkonformen“ Auslegung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Bindung der Gemeinschaft an die Grundfreiheiten   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Grundfreiheitenkonforme Auslegung und Mindestharmonisierung   .  .  .  .  .  c) Grundfreiheitenkonforme Auslegung bei Totalharmonisierung   .  .  .  .  .  .  .  aa) Feststellung einer beschränkenden Wirkung totalharmonisierender Maßnahmen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Unterscheidung zwischen grundfreiheiten- und grundrechtskonformer Auslegung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Sekundärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  IV. Primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Lozierung der Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung als Bestandteil der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Inhalt und Reichweite   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Beispiele   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Der taugliche Bürge   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Privatrechtsverhältnisse   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Grundfreiheitenbeschränkende privatrechtliche Normen   .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Dansk Supermarked revisited   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  V. Fazit   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

I.

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116 117 117 117 118 118 119 120 120 121 121

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Einführung

Eine der wichtigsten vom EuGH entwickelten Auslegungsmethoden ist die der primärrechtskonformen Auslegung, die dem deutschen Juristen strukturell nicht unbekannt ist, da sie stark an die verfassungskonforme Auslegung erinnert. Ziel des nachfolgenden Beitrags ist es, zunächst die verschiedenen Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung voneinander abzugrenzen (II.), bevor dann der dogmatischen Begründung sowie der inhaltlichen Ausgestaltung der primärrechtskonformen Auslegung des gemeinschaftlichen Sekundärrechts (III.) und des nationalen Rechts (IV.) nachgegangen und die Funktionsweise dieser Auslegungsmethode anhand von Beispielen exemplifiziert wird. Ein kurzes Fazit schließt den Beitrag (V.).

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Stefan Leible

§ 6 Die primärrechtskonforme Auslegung

II.

Differenzierung anhand der Provenienz der auszulegenden Normen

Ziel der primärrechtskonformen Auslegung ist es, Normen dergestalt auszulegen, daß sie mit höherrangigem (Gemeinschafts-)Recht vereinbar sind. Im Rahmen der primärrechtskonformen Auslegung ist anhand der Provenienz der auszulegenden Vorschriften danach zu unterscheiden, ob sie vom Gemeinschafts- oder vom nationalen Gesetzgeber geschaffen wurden; denn diese Unterscheidung hat, wie später noch zu zeigen sein wird, Auswirkungen auf die Grenzen der primärrechtskonformen Auslegung.

1.

Primärrechtskonforme Auslegung des gemeinschaftlichen Sekundärrechts

Bei der primärrechtskonformen Auslegung des gemeinschaftlichen Sekundärrechts geht es nicht um den Vergleich zweier hierarchisch auf einer Stufe stehender Normen, sondern um die Suche nach einem Erkenntnisgewinn durch einen Blick auf hierarchisch höher stehende Normen. So wie aus der hierarchischen Gliederung des staatlichen Normensystems abgeleitet wird, daß einfachgesetzliche Regelungen des Bundesrechts im Zweifel verfassungskonform zu interpretieren sind,1 wird bei der primärrechtskonformen Auslegung versucht, das Sekundärrecht so auszulegen, daß es nach Möglichkeit mit den höherrangigen Rechtsquellen, also dem EG-Vertrag und den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, vereinbar ist. Sind Vorschriften einer Verordnung oder Richtlinie mehreren Auslegungen zugänglich, ist diejenige, die mit den Vorgaben des höherrangigen Primärrechts in Einklang steht, derjenigen vorzuziehen, bei der die Vorschrift als mit dem Primärrecht unvereinbar eingestuft werden müßte.2 Dadurch soll sichergestellt werden, daß aus Respekt vor dem nach dem EG-Vertrag kompetenten Gemeinschaftsgesetzgeber so viel wie möglich von dem aufrechterhalten wird, was er gewollt hat.

2.

Primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts

Von der primärrechtskonformen Auslegung des Sekundärrechts ist die primärrechtskonforme Interpretation des mitgliedstaatlichen Rechts zu unterscheiden, auch wenn der dahinter stehende Gedanke einer Auflösung bzw. Vermeidung von Kollisionen derselbe ist. Verpflichtet sind nicht die Gemeinschaftsorgane, sondern die nationalen Rechtsanwender. Auch in diesem Fall geht es darum, das niederrangige Recht in möglichst weitem Umfang zu erhalten, allerdings nicht im Sinne einer Geltungs-, sondern einer „Anwendungserhaltung“. 1 Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen u.a. Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung; Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177; Lüdemann, JuS 2004, 27. 2 Vgl. z.B. EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 13 ff.; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 21.3.1991 – Rs. 314/89 Rauh, Slg. 1991, I-1647 Rn. 17. Stefan Leible

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Die primärrechtskonforme Auslegung ist Bestandteil der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung. Der Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung besagt, daß das nationale Recht in Übereinstimmung mit dem gemeinschaftlichen Primärrecht wie auch dem Sekundärrecht, namentlich den Verordnungen und Richtlinien, ausgelegt werden muß.3

III.

Primärrechtskonforme Auslegung des gemeinschaftlichen Sekundärrechts

1.

Dogmatische Verortung

Nach verbreiteter Auffassung handelt es sich bei der primärrechtskonformen Auslegung um einen besonderen Anwendungsfall der systematischen Interpretation.4 Dagegen wird indes ins Feld geführt, daß es gerade nicht wie bei der systematischen Auslegung um eine Zusammenschau hierarchisch auf einer Stufe stehender Normen geht, sondern Vorschriften abgeglichen werden, denen innerhalb derselben Rechtsordnung ein unterschiedlicher Rang zukommt. Manche wollen daher schon gar nicht von einer „Auslegungsmethode“ sprechen.5 Das geht indes zu weit. Zuzugeben ist, daß keine Kollision formal gleichrangiger Normen aufgelöst, sondern einer sich aus Art. 249 EG ergebenden Vorrangregel („nach Maßgabe dieses Vertrags“) Rechnung getragen werden soll. Dieser formale Unterschied vermag freilich nichts daran zu ändern, daß auch in diesem Fall ein kohärentes System herzustellen versucht wird, indem Widersprüche zwischen Primär- und Sekundärrecht so weit wie möglich vermieden werden. Die Regelung des Sekundärrechts wird als Teil des Europäischen Rechts insgesamt verstanden und ihr Regelungsgehalt aufgrund des Gedankens der Einheit der Rechtsordnung unter Berücksichtigung der im Primärrecht enthaltenen Regeln und Prinzipien ermittelt. Die Prävalenz des Primärrechts bei Wertungsdivergenz vermag außerdem nichts daran zu ändern, daß es sich gleichwohl um eine „Auslegungsmethode“ handelt. Versteht man unter Auslegung „ein vermittelndes Tun, durch das sich der Auslegende den Sinn eines Textes, der ihm problematisch geworden ist, zum Verständnis bringt“,6 so ist diese Vorgehensweise auch bei der primärrechtskonformen Auslegung auszumachen. Die primärrechtliche Wertung wird für die Erschließung des Bedeutungsgehalts einer sekundärrechtlichen Regelung fruchtbar gemacht, da man davon ausgeht, daß sich der Gesetzgeber an den höherrangigen Regeln orientiert hat. Man trägt also dem Stufenbau der Europäischen Rechtsordnung bei der inhaltlichen Konkretisierung einer niederrangigen Norm Rechnung. Das aber ist nichts anderes als eine systematische Interpretation, wobei die Grenzen zur Teleologie – wie stets im Gemeinschafts-

3 Im einzelnen dazu Zuleeg, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 163 ff. 4 Vgl. z.B. Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung von Justiz und Hochschule am 27. und 28.9. 1976, S. 40. 5 Vgl. etwa Streinz, Europarecht, Rn. 571. 6 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 312.

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Stefan Leible

§ 6 Die primärrechtskonforme Auslegung

recht – 7 fließend sind. Das höherrangige Gemeinschaftsrecht fungiert nicht nur als Prüfungsmaßstab, sondern dient zuvorderst der Bestimmung des Inhalts der Norm niedrigeren Ranges. Die primärrechtskonforme Auslegung ist daher zunächst ebenso wie die einfach-systematische Auslegung eine von mehreren Auslegungsmethoden, mit deren Hilfe der Norminhalt erschlossen werden soll. Unterschiede zur einfach-systematischen Auslegung ergeben sich lediglich in Kollisionsfällen. Erst dann entfaltet die primärrechtskonforme Auslegung ihre Funktion als Vorrangregel.

2.

Inhalt und Reichweite

Wir hatten bereits gesehen, daß nach dem Grundsatz der primärrechtskonformen Auslegung Bestimmungen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts so auszulegen sind, daß sie mit dem EG-Vertrag und den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts in Übereinstimmung stehen. Bezugspunkte im Primärrecht sind neben dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG etwa der in Art. 141 EG enthaltene gemeinschaftsrechtliche Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit, vor allem aber die Grundfreiheiten des EG-Vertrags und die Gemeinschaftsgrundrechte. So darf z.B. eine Verordnung nicht dergestalt ausgelegt werden, daß die Anwendung der Verordnung zu Ergebnissen führt, die mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts und besonders mit den Grundrechten unvereinbar sind.8 Die primärrechtskonforme Auslegung gibt in ihrer Funktion als Vorrangregel freilich nur den Rahmen vor, innerhalb dessen sich die Auslegung des Sekundärrechts zu vollziehen hat. Kommen mehrere Auslegungen in Betracht, werden diejenigen ausgeschieden, die die Grenzen des Primärrechts überschreiten. Verbleibt danach nur noch eine, ist diese zu wählen: „Gestattet eine Bestimmung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts mehr als eine Auslegung, so ist nach Auffassung des Gerichtshofs die Auslegung, bei der die Bestimmung mit dem Vertrag vereinbar ist, derjenigen vorzuziehen, die zur Feststellung ihrer Unvereinbarkeit mit dem Vertrag führt.“ 9

Verbleiben mehrere primärrechtskonforme Alternativen, wird die primärrechtskonforme Auslegung auch für den nun folgenden Schritt der Auswahl unter ihnen nicht bedeutungslos.10 Sie wandelt sich dann von einer strikten Vorrang- zu einer schlichten Vorzugsregelung: Unter mehreren, nach den übrigen Auslegungskriterien möglichen Auslegungen ist derjenigen der Vorzug zu geben, die mit den Prinzipien des Primärrechts am besten übereinstimmt, weil sie z.B. zur geringstmöglichen Beschränkung der Grundfreiheiten führt. 7 Vgl. auch Colneric, ZEuP 2005, 225, 227: „Das, was in der deutschen Methodenlehre unter den getrennten Rubriken ‚systematische Auslegung‘ und ‚teleologische Auslegung‘ behandelt wird, geht im Gemeinschaftsrecht untrennbar ineinander über“. Ähnlich Streinz, ZEuS 2004, 387, 405. 8 EuGH v. 21.9.1989 – verb. Rs. 46/87 und 227/88 Hoechst, Slg. 1989, 2859 Rn. 12. 9 EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 15. 10 So aber Riesenhuber, System und Prinzipen des Europäischen Vertragsrechts, S. 63. Stefan Leible

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Gibt es innerhalb der durch das Primärrecht gezogenen Grenzen überhaupt keine Lösung, zu der man mit Hilfe der im Gemeinschaftsrecht maßgeblichen Auslegungskriterien gelangen kann, ist das hinzunehmen. Die Grenzen der Auslegung können auch mit Hilfe der primärrechtskonformen Auslegung nicht überwunden werden. Eine Korrektur des Sekundärrechts mit Hilfe der primärrechtskonformen Auslegung kommt nicht in Betracht, liefe dies doch auf eine Änderung ihres Inhalts hinaus. Diese ist jedoch der Legislative vorbehalten und nicht Aufgabe der Judikative.11 Die Regelung ist dann nichtig und diese Nichtigkeit vom EuGH festzustellen, entweder im Rahmen einer Nichtigkeitsklage (Art. 230 Abs. 1 EG) oder eines Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 234 Abs. 1 lit. b EG). Einen unbedingten Vorrang des Primärrechts bei der Auslegung des Sekundärrechts gibt es also nicht. Insbesondere ist eine „Korrektur des Gesetzgeberwillens“ ausgeschlossen.12 Das erinnert an die für die verfassungskonforme Auslegung im deutschen Recht geltenden Grenzen. Auch hier geht man gemeinhin von einem Primat des gesetzgeberischen Willens aus; zwar soll der Wortlaut, nicht aber die gesetzgeberische Zweckvorstellung unter Berufung auf das höherrangige Verfassungsrecht im Wege der Auslegung korrigiert werden können und es daher ausgeschlossen sein, das gesetzgeberische Ziel durch richterliche Tätigkeit in sein Gegenteil zu verkehren.13 3.

Das Beispiel der „grundfreiheitenkonformen“ Auslegung

Die mit der primärrechtskonformen Auslegung verbundenen Probleme, insbesondere der Wahl des richtigen Bezugspunkts, sollen im folgenden anhand der „grundfreiheitenkonformen“ Auslegung exemplifiziert werden. a)

Bindung der Gemeinschaft an die Grundfreiheiten

Ziel der Grundfreiheiten ist die Beseitigung sämtlicher Hemmnisse, die den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der Europäischen Gemeinschaft behindern. Beschränkende Maßnahmen sind verboten, soweit sie nicht ausnahmsweise gerechtfertigt werden können. Regelungsadressaten dieses Verbots sind in erster Linie die Mitgliedstaaten, nach verbreiteter, wenn auch unzutreffender Auffassung weiterhin Private.14 Darüber hinaus wird aber auch die Gemeinschaft durch die Grundfreiheiten gebunden.15 Denn nach Art. 3 Abs. 1 lit. c EG 11 EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 Rn. 117. 12 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 63. 13 Vgl. z.B. BVerfGE 59, 360, 387; BVerfGE 69, 1, 55; Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, S. 31, 47; Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 4 Rn. 61; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 130; Simon, EuGRZ 1974, 85, 86; a.A. Hager, Gesetzes- und sittenkonforme Auslegung, S. 26 f. 14 Vgl. zur Drittwirkung der Grundfreiheiten z. B. Canaris, in: Bauer u.a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, S. 29; Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten; Remmert, Jura 2003, 13; W.-H. Roth, FS Everling, S. 1231; Streinz/ Leible, EuZW 2000, 459; Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), 6. 15 Ausführlich dazu Schwemer, Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten; Scheffer, Die Marktfreiheiten des EG-Vertrages als Ermessensgrenze des Gemeinschaftsgesetzgebers. Aktueller knapper Überblick über den Meinungsstand bei Leible, ZGR 2004, 531, 539 ff.

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§ 6 Die primärrechtskonforme Auslegung

umfaßt ihre Tätigkeit „einen Binnenmarkt, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist“. Das nimmt sie in die Pflicht: 16 Nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Gemeinschaft und ihre Organe haben den Freiheitsgehalt der Grundfreiheiten zu beachten.17 Diese Bindung spiegelt sich auch in der primärrechtskonformen Auslegung potentiell freiheitsbeschränkender Maßnahmen der Gemeinschaft wider. Kommen mehrere Auslegungen einer Gemeinschaftsregelung in Betracht, ist diejenige zu wählen, die, sofern keine Allgemeininteressen berührt sind, zu gar keiner und ansonsten zur geringstmöglichen Beschränkung der einschlägigen Grundfreiheit führt. b)

Grundfreiheitenkonforme Auslegung und Mindestharmonisierung

Zahlreiche rechtsangleichende Akte des sekundären Gemeinschaftsrechts führen zu keiner abschließenden Harmonisierung, sondern schaffen lediglich Mindeststandards und gestatten den Mitgliedstaaten ausdrücklich das Festhalten an oder die Einführung von neuen strengeren Standards (Mindestharmonisierung) 18. Derartige Ermächtigungsklauseln können nicht dahin ausgelegt werden, daß sie es den Mitgliedstaaten gestatten, Bedingungen vorzuschreiben, die den Bestimmungen des EG-Vertrages über den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- oder Kapitalverkehr zuwiderlaufen.19 Solche Ermächtigungsklauseln sind also stets primärrechtskonform dahin auszulegen, daß sie den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit eröffnen, Regelungen beizubehalten oder neu zu erlassen, die mit den Grundfreiheiten vereinbar sind. c)

Grundfreiheitenkonforme Auslegung bei Totalharmonisierung

Der Grundsatz der primärrechtskonformen Auslegung ist aber und selbstverständlich auch bei der Interpretation von Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts zu beachten, die den Mitgliedstaaten jeglichen Erlaß von Regelungen, die von den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben abweichen, verwehren, also zu einer Totalharmonisierung geführt haben.20

16 Streinz-Streinz, Art. 3 EGV Rn. 10. 17 Vgl. z.B. EuGH v. 20.4.1978 – verb. Rs. 80 und 81/77 Commissionaires Réunies, Slg. 1978, 927 Rn. 35/36; EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 13; EuGH v. 17.5.1984 – Rs. 15/83 Denkavit Nederland, Slg. 1984, 2171 Rn. 15; EuGH v. 9.8.1994 – Rs. C-51/93 Meyhui, Slg. 1994, I-3879 Rn. 11; EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u.a., Slg. 1996, I-3457 Rn. 36; EuGH v. 25.6.1997 – Rs. C-114/96 Kieffer und Thill, Slg. 1997, I-3629 Rn. 27; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-284/95 Safety Hi-Tech, Slg. 1998, I-4301 Rn. 63; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-341/95 Bettati, Slg. 1998, I-4355 Rn. 61; EuGH v. 13.9.2001 – Rs. C-169/ 99 Schwarzkopf, Slg. 2001, I-5901 Rn. 37; EuGH v. 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 und C-155/04 Alliance for Natural Health, (noch nicht in Slg.) Rn. 47. 18 Vgl. dazu Streinz-Leible, Art. 95 EGV Rn. 42 ff.; ausführlich Conrad, Das Konzept der Mindestharmonisierung; Wagner, Das Konzept der Mindestharmonisierung. 19 EuGH v. 20.3.1990 – Rs. 21/88 Du Pont de Nemours Italiana, Slg. 1990, I-889 Rn. 17; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. C-47/90 Delhaize Frères, Slg. 1992, I-3669 Rn. 26. 20 Zur Totalharmonisierung Streinz-Leible, Art. 95 EGV Rn. 29 ff.

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aa)

Feststellung einer beschränkenden Wirkung totalharmonisierender Maßnahmen

Eine Auslegung im Lichte der Grundfreiheiten kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn die gemeinschaftliche Regelung überhaupt zu ihrer Beschränkung geeignet ist. Denn die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung reicht nur so weit, wie es überhaupt zu Konfliktsituationen kommen kann. Das ist aber bei diskriminierungsfreien Gemeinschaftsregelungen meist nicht der Fall. Scheidet z.B. eine Warenverkehrsbehinderung aufgrund der Beseitigung der Rechtsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten aus, ist die Gemeinschaftsregelung aus sich heraus und ohne Rückgriff auf die Art. 28 ff. EG auszulegen21. Es besteht dann überhaupt kein Bedürfnis für eine grundfreiheitenkonforme Auslegung, da die Grundfreiheiten nur die Freiheit grenzüberschreitenden Wirtschaftens, nicht aber eine allgemeine Handlungsfreiheit garantieren sollen.22 bb)

Unterscheidung zwischen grundfreiheitenund grundrechtskonformer Auslegung

Gleichwohl hat der Gerichtshof in seiner Entscheidung Gut Springenheide bei der Auslegung einer EG-Verordnung das zu Art. 28 ff. EG entwickelte Leitbild eines verständigen Verbrauchers ohne weitere Reflektion auf das Sekundärrecht übertragen, d.h. ohne näher zu prüfen, ob der Gemeinschaftsgesetzgeber mit der in Frage stehenden Verordnung und der in ihr enthaltenen Vorschriften zum Täuschungsschutz nicht vielleicht einen über den verständigen Verbraucher hinausgehenden Schutz auch des flüchtigen Verbrauchers anstrebte.23 Ebenso verfuhr er in der jüngst ergangenen Entscheidung Linhart und Biffl.24 Ihr lag folgender Sachverhalt zugrunde: Gottfried Linhart, Geschäftsführer der österreichischen Colgate Palmolive GmbH, wurde mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenats Wien vom 22. Februar 1999 einer Verwaltungsübertretung schuldig erkannt, weil er es zu verantworten habe, daß diese Firma das kosmetische Mittel „Palmolive flüssige Seife Prima Antibakteriell“ mit der Angabe „Dermatologisch getestet“ auf der Verpackung in den Verkehr gebracht habe. Das verstieß gegen § 9 Abs. 1 lit. a öLMG. Danach ist es verboten, beim Inverkehrbringen von Lebensmitteln, Verzehrprodukten oder Zusatzstoffen sich auf die Verhütung, Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Krankheitssymptomen oder auf physiologische oder pharmakologische, insbesondere jungerhaltende, Alterserscheinungen hemmende, schlankmachende oder gesunderhaltende Wirkungen zu beziehen oder den Eindruck einer derartigen Wirkung zu erwecken. Nach Auffassung von Herrn Linhart ist eine Auslegung des österreichischen Rechts, die zu einem Verbot der Verwendung der Bezeichnung „dermatolo-

21 Das übersieht – in anderem Zusammenhang – etwa EuGH v. 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 und C-155/04 Alliance for Natural Health, (noch nicht in Slg.) Rn. 49. 22 Ausführlich zur Unterscheidung zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten jüngst Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte. 23 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-210/96 Gut Springenheide und Tusky, Slg. 1998, I-4657; kritisch dazu Leible, EuZW 1998, 528; Rüffler, WBl. 1998, 381, 383. 24 EuGH v. 24.10.2002 – Rs. C-99/01 Linhart und Biffl, Slg. 2002, I-9375.

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§ 6 Die primärrechtskonforme Auslegung gisch getestet“ führt, mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere den Vorgaben der Kosmetik-Richtlinie,25 nicht vereinbar.

Art. 6 Abs. 3 der Kosmetikrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, daß bei der Etikettierung, der Aufmachung für den Verkauf und der Werbung für kosmetische Mittel nicht Texte, Bezeichnungen, Warenzeichen, Abbildungen und andere bildhafte oder nicht bildhafte Zeichen verwendet werden, die Merkmale vortäuschen, die die betreffenden Erzeugnisse nicht besitzen. Der EuGH betont zunächst, daß die Kosmetikrichtlinie zu einer abschließenden Harmonisierung der nationalen Bestimmungen über die Verpackung und Etikettierung kosmetischer Mittel herbeigeführt hat.26 Daher sind alle nationalen Maßnahmen in einem Bereich, für den auf Gemeinschaftsebene eine harmonisierte Regelung geschaffen worden ist, anhand dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand der Art. 28 und 30 EG zu beurteilen.27 Entscheidend ist folglich die Auslegung von Art. 6 Abs. 3 der Kosmetikrichtlinie. Wer nun allerdings erwartet hätte, daß der EuGH infolgedessen Art. 6 Abs. 3 der Kosmetikrichtlinie aus sich heraus auslegt, wird freilich enttäuscht. Der EuGH führt stattdessen weiter aus, daß Art. 30 EG den Mitgliedstaaten zwar erlaubt, Beschränkungen des freien Warenverkehrs aufrechtzuerhalten, doch die Anwendung dieser Bestimmung ausgeschlossen ist, wenn Richtlinien der Gemeinschaft die Harmonisierung der Maßnahmen vorsehen, die zur Verwirklichung des konkreten Zieles, das mit dem Rückgriff auf Art. 30 EG erreicht werden soll, erforderlich sind.28 Ungeachtet dessen müßten Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Durchführung von Art. 6 Abs. 3 der Kosmetikrichtlinie den Art. 30 EG immanenten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.29 Unter Zugrundelegung dieser Prämisse hält der Gerichtshof das von ihm im Rahmen der Grundfreiheiten entwickelte Leitbild des verständigen Verbrauchers auch für die Auslegung des Irreführungsbegriffs der Kosmetikrichtlinie für maßgeblich und gelangt daher zum Ergebnis, daß eine Irreführungsgefahr nicht besteht; denn die Angabe „dermatologisch getestet“ auf der Verpackung bestimmter kosmetischer Mittel wecke bei einem durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher allenfalls die Vorstellung, daß das Mittel einem Test zur Ermittlung seiner Auswirkungen auf die Haut unterzogen wurde, schreibe ihm aber keinesfalls Eigenschaften zu, die es nicht besitzt.

25 Richtlinie 76/768/EWG des Rates v. 27.7.1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über kosmetische Mittel, ABl. 1976 Nr. L 262/169); aktuelle Fassung in Winkel (Hrsg.), Europäisches Wirtschaftsrecht (Loseblatt, Stand Febr. 2005), Nr. 160. 26 EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, Slg. 1999, I-431 Rn. 24; EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 23. 27 EuGH v. 23.11.1989 – Rs. 150/88 Parfümerie-Fabrik 4711, Slg. 1989, 3891 Rn. 28; EuGH v. 12.9.1993 – Rs. C-37/92 Vanacker und Lesage, Slg. 1993, I-4947 Rn. 9; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-324/99 DaimlerChrysler, Slg. 2001, I-9897 Rn. 32. 28 EuGH v. 19.3.1998 – Rs. C-1/96 Compassion in World Farming, Slg. 1998, I-1251 Rn. 47; EuGH v. 25.3.1999 – Rs. C-112/97 Kommission ./. Italien, Slg. 1999, I-1821 Rn. 54. 29 EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, Slg. 1999, I-431 Rn. 27, EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 26.

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Das kann jedoch nur im Ergebnis, nicht aber dogmatisch überzeugen. Wenn die Kosmetikrichtlinie, was außer Zweifel steht, zu einer abschließenden Harmonisierung geführt hat, sind Beschränkungen des freien Warenverkehrs nicht zu befürchten, sofern ihre Regelungen diskriminierungsfrei ausgestaltet sind. Davon ist im vorliegenden Fall auszugehen. Hielte man bei der Auslegung von sekundärrechtlichen Vorschriften des Täuschungsschutzes wie Art. 6 Abs. 3 der Kosmetikrichtlinie statt des im Rahmen der Grundfreiheiten entwickelten Leitbilds des verständigen Verbrauchers das eines flüchtigen und unaufmerksamen Konsumenten für maßgeblich, weil etwa der Erwerber kosmetischer Mittel besonders schutzbedürftig ist, wäre damit eine Beschränkung der Grundfreiheiten nicht verbunden; denn gemeinschaftsweit würde der gleiche strenge Maßstab gelten. Das Inverkehrbringen mit „dermatologisch getestet“ bezeichneter Kosmetika wäre gemeinschaftsweit untersagt. Aufgabe der Grundfreiheiten ist aber nicht die Beseitigung jeglicher Begrenzungen wirtschaftlicher Freiheit.30 Gesichert werden soll lediglich der Marktzutritt von Produkten, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt oder in den Verkehr gebracht worden sind.31 Welche Waren und Wirtschaftsleistungen im europäischen Binnenmarkt überhaupt zulässig sind oder zulässigerweise verboten werden dürfen, ist eine den Verkehrsfreiheiten vorgelagerte Problematik. Sie muß daher im Rahmen einer „grundfreiheitenkonformen Auslegung“ außer Betracht bleiben. Folglich überzeugt es auch nicht, unter Hinweis auf eine mögliche unterschiedliche Handhabung des an sich einheitlichen Irreführungstatbestands Art. 28 ff. EG immerhin eine Maßstabsfunktion zuzuerkennen.32 Im Ergebnis ist den Ausführungen des EuGH gleichwohl zuzustimmen. Allerdings ist die Maßgeblichkeit des Leitbilds des verständigen Verbrauchers nicht die Folge einer Auslegung von Art. 6 Abs. 3 der Kosmetikrichtlinie im Lichte der Grundfreiheiten, sondern im Lichte der Gemeinschaftsgrundrechte.33 Im Raume steht bei Etikettierungsvorschriften u.a. eine Verletzung des auch gemeinschaftsrechtlich garantierten Grundrechts der Berufsfreiheit,34 das die umfassende Gewährleistung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit enthält.35 Eingriffe in den grundrechtlich geschützten Bereich sind u.a. nur dann zulässig, wenn sie verhältnismäßig sind.36 Ver-

30 Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EGV Rn. 9; ebenso W.-H. Roth, in: FIW (Hrsg.), Marktwirtschaft und Wettbewerb im sich erweiternden europäischen Raum, S. 37 ff.; ders., FS Großfeld, S. 944 ff. 31 Zur hier nicht zu diskutierenden Bedeutung der Wendung „in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in Verkehr gebracht“ vgl. m.w.N. Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EGV Rn. 23. 32 So aber Streinz, JuS 2000, 807, 809 in Fn. 10. 33 Allgemein zum Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten; Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV. 34 So explizit EuGH v. 13.12.1994 – Rs. C-306/93 SMW Winzersekt, Slg. 1994, I-5555 Rn. 24. 35 EuGH v. 19.9.1985 – verb. Rs. 63/84 u. 147/84 Finsider, Slg. 1985, 2857 Rn. 27; vgl. auch EhlersRuffert, § 16 Rn. 9 ff. 36 EuGH v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 Wachauf, Slg. 1989, 2609 Rn. 18; EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-280/ 93 Deutschland ./. Rat, Slg. 1994, I-4973 Rn. 90 ff.; vgl. dazu Ehlers-Ehlers, § 14 Rn. 50 ff.

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§ 6 Die primärrechtskonforme Auslegung

hältnismäßig i.d.S. kann mangels besonders schutzbedürftiger Gruppen ein Eingriff in die Berufsfreiheit der Produzenten und Vertreiber von Kosmetika aber nur sein, wenn er bei der Zulässigkeit des Verbots der Verwendung einer Bezeichnung auf das Verständnis abhebt, das diese bei einem „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher“ hat. Denn die Grundfreiheiten und die Gemeinschaftsgrundrechte sollten ungeachtet ihrer unterschiedlichen Schutzrichtung und der divergenten Interessenlage zur Wahrung der Einheit der Rechtsordnung kohärent ausgelegt werden.37 Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist daher im Rahmen sowohl der grundfreiheiten- als auch der grundrechtskonformen Auslegung von Irreführungsverboten des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts von einem einheitlichen Verbraucherleitbild im oben skizzierten Sinne auszugehen.

4.

Sekundärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts?

Unter normhierarchischen Gesichtspunkten etwas überraschend legt der EuGH mitunter umgekehrt das Primär- im Lichte des Sekundärrechts aus.38 Manche sprechen von einer sekundärrechtskonformen Auslegung des Vertragsrechts 39 oder einer umgekehrten Konformauslegung.40 So rekurrierte der Gerichtshof etwa zur Begründung einer unmittelbaren Drittwirkung der Art. 12, 49 EG unter anderem auf Art. 7 Abs. 4 der VO (EWG) 1612/68 41/42 oder legte den Begriff der Maßnahme gleicher Wirkung i.S.v. Art. 28 EG – erstaunlicherweise sogar nach seinem wegweisenden Urteil Dassonville – im Lichte der Richtlinie 70/50/EWG 43 aus.44 Und in der Entscheidung Trummer und Mayer zog er sogar zur Konkretisierung des in Art. 56 EG enthaltenen Begriffs „Kapitalverkehr“ die im Anhang der Richtlinie 88/361/EWG 45 enthaltene Nomenklatur für den Kapitalverkehr heran, obwohl diese Richtlinie noch auf der Grundlage von Art. 67 EWGV erlassen worden war, der durch Art. 56 EG fortgeschrieben und wesentlich verändert wurde.46 Letzteres mag man noch als

37 So auch Streinz, Europarecht, Rn. 772. 38 Beispiele bei Grabitz/Hilf-Pernice, Art. 164 EGV a.F. Rn. 31; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 448 in Fn. 23; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 328 ff. 39 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 195. 40 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 328. 41 Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. 1968 L 257/2. 42 EuGH v. 12.12.1974 – Rs. 36/74 Walrave und Koch, Slg. 1974, 1405 Rn. 20/24. 43 Richtlinie 70/50/EWG der Kommission v. 22.12.1969 über die Beseitigung bestimmter Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen, ABl. 1970 Nr. L 13/29. Vgl. dazu auch Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EGV Rn. 10 f. 44 EuGH v. 12.10.1978 – Rs. 13/78 Eggers, Slg. 1978, 1935 Rn. 23. 45 Richtlinie 88/361/EWG des Rates v. 24.6.1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages, ABl. 1988 Nr. L 178/5. 46 EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-222/97 Trummer und Mayer, Slg. 1999, I-1661 Rn. 21.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

eine Form der historischen bzw. genetischen Auslegung begreifen; schließlich ist kaum anzunehmen, daß mit der Umformung von Art. 67 EWGV bzw. 73b EGV a.F. zu einer „echten“ Grundfreiheit hinter dem bislang erreichten Stand zurückgeblieben werden sollte. Insgesamt begegnet die sekundärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts jedoch Bedenken, stellt sie doch die Normhierarchie des Vertrages auf den Kopf.47 Dem läßt sich auch nicht entgegenhalten, die Berücksichtigung von Rechtsakten des Gemeinschaftsgesetzgebers, die der Konkretisierung und Ausfüllung von Vertragsnormen dienen, bei der Auslegung des Vertrages entspreche dem funktionellrechtlichen Grundsatz der richterlichen Zurückhaltung im Bereich der Rechtsetzung und -gestaltung.48 Gem. Art. 234 EG obliegt die Auslegung des EGVertrags immer noch dem Gerichtshof. Er hat zu kontrollieren, ob die Gemeinschaftsorgane die ihnen gezogenen Kompetenzgrenzen nicht überschritten haben; und das bedingt – auch bei offenen Normen – eine primäre Ausfüllungszuständigkeit des Gerichtshofs als „Hüter des Rechts“. Wenn überhaupt, so ist ein Rekurs auf Sekundärrecht daher nur möglich, wenn er der Absicherung eines bereits selbständig mit Hilfe der klassischen Auslegungsmethoden gewonnenen Auslegungsergebnisses dient.49 Ein Beispiel hierfür findet sich in der EuGH-Entscheidung Antonissen: 50 „Diese Auslegung des EWG-Vertrags entspricht im übrigen der Auffassung der rechtsetzenden Organe der Gemeinschaft, wie sie sich aus den Bestimmungen zur Durchführung der Freizügigkeit, insbesondere den Artikeln 1 und 5 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) ergibt, die das Recht der Gemeinschaftsangehörigen, sich zur Stellensuche in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, und folglich auch das Aufenthaltsrecht dort voraussetzen.“

IV.

Primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts

1.

Lozierung der Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung als Bestandteil der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung

Dogmatisch verortet wird der Grundsatz der primärrechtskonformen Auslegung als Bestandteil der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung 51 gemeinhin in Art. 10 EG, der alle Mitgliedstaaten zur effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet.52 Das überzeugt jedoch nicht und verwischt die Unterschiede zwischen

47 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 197; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 335. 48 So aber Grabitz/Hilf-Pernice, Art. 164 EGV a.F. Rn. 32; ähnlich z.B. Colneric, ZEuP 2005, 225, 229; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 449. 49 Ebenso Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 198; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 336. 50 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, Slg. 1991, I-745 Rn. 14. 51 Vgl. dazu auch W.-H. Roth, EWS 2005, 385, 386. 52 Vgl. z.B. Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 46; Streinz, Europarecht, Rn. 208, 222.

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§ 6 Die primärrechtskonforme Auslegung

den einzelnen Formen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung.53 Differenziert werden sollte anhand des Rangverhältnisses und der rechtlichen Qualität der jeweiligen Maßstabsnorm. Bei der primärrechtskonformen Auslegung ergibt sich die Verpflichtung zu ihr nicht aus Art. 10 EG, sondern dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Da dem Gemeinschaftsrecht nach ständiger Rechtsprechung des EuGH Vorrang vor dem nationalen Recht – einschließlich des Verfassungsrechts 54 – zukommt,55 ist eine nationale Regelung, die mit dem Gemeinschaftsrecht in Widerspruch steht, in einem Kollisionsfall außer acht zu lassen.56 So, wie aber die verfassungskonforme Auslegung zur Schonung des nationalen Gesetzgebers eingesetzt wird, dient auch die primärrechtskonforme Auslegung dazu, dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts quasi schon im Vorfeld Rechnung zu tragen, indem alle Staatsfunktionen (Legislative, Exekutive, Judikative) verpflichtet werden, Kollisionen durch eine am Primärrecht orientierte Auslegung des nationalen Rechts möglichst zu vermeiden. Ziel ist es auch hier, den Anwendungsbereich der – diesmal nationalen – Norm aus Respekt vor dem – diesmal nationalen – Gesetzgeber in dem gemeinschaftsrechtlich zulässigen Umfang aufrechtzuerhalten. Das entspricht schon dem Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme, das auch für die EG gilt. Die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung ist damit ein unmittelbarer Ausfluß des Vorrangprinzips.57 Eines Rückgriffs auf Art. 10 EG bedarf es nicht. Scheinbar anders ist dies hingegen bei der ebenfalls unter den Oberbegriff der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung fallenden richtlinienkonformen Auslegung. Daß sie gleichermaßen im Gemeinschaftsrecht gründet, steht außer Frage. Der EuGH verweist auf das Umsetzungsgebot des Art. 249 Abs. 3 EG und zieht zur Unterstützung noch Art. 10 EG heran: „Allerdings ist klarzustellen, daß die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten gem. Art. 5 EWG-Vertrag, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegen, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten.“ 58

53 Zu den einzelnen Bestandteilen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung und ihren Unterschieden vgl. z.B. Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 63 ff.; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 603 f.; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 299 f.; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch Rechtsprechung, S. 102 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 136 ff. 54 EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Simmenthal, Slg. 1978, 629 Rn. 17 f. (Simmenthal II). 55 Grundlegend EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251 Rn. 8. 56 Sog. Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts. Zur hier nicht weiter interessierenden Unterscheidung vom Geltungsvorrang vgl. m.w.N. Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 45. 57 Ebenso Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 300; Metallinos, Die europarechtskonforme Auslegung, S. 174; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 213. 58 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 Rn. 26.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Auch im Schrifttum stellt man überwiegend in Anlehnung an die EuGH-Rechtsprechung auf Art. 10 EG und die sich aus der Richtlinie selbst bzw. ihrem Zusammenwirken mit Art. 249 Abs. 3 EG ergebende Umsetzungsverpflichtung ab, doch sind noch weitere Differenzierungen anzutreffen. Wohl mehrheitlich wird Art. 10 Abs. 1 EG und die hieraus resultierende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Gemeinschaft ergeben, zu treffen, für maßgeblich angesehen.59 Einzelne betrachten aber auch Art. 10 Abs. 2 EG, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle Maßnahmen zu unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele des EG-Vertrags gefährden könnten, als einschlägig.60 Zu überzeugen vermag indes keiner dieser Ansätze. Ausgangspunkt bei der Beantwortung der Frage nach der rechtlichen Grundlage einer Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung muß die Umsetzungsverpflichtung als solche sein.61 Sie resultiert aus Art. 249 Abs. 3 EG und wird dann durch den jeweiligen Rechtsakt konkretisiert und ausgestaltet. Die Umsetzungspflicht entsteht damit bereits aus dem Zusammenspiel zwischen Art. 249 Abs. 3 EG und der in jeder Richtlinie ausgesprochenen Umsetzungsanordnung. Eines Rückgriffes auf Art. 10 EG bedarf es folglich nicht. Dem wird freilich entgegengehalten, daß der Wortlaut von Art. 249 Abs. 3 EG die Richtlinie nur für die Mitgliedstaaten für „verbindlich“ erkläre, jedoch keinen ausdrücklichen Umsetzungsbefehl postuliere.62 Das greift jedoch zu kurz, schließt doch der Ausspruch einer Richtlinienverbindlichkeit naturgemäß die Verpflichtung der Richtlinienadressaten ein, ihre Rechtsordnungen an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen.63 Diese Umsetzungsverpflichtung trifft nicht nur die Mitgliedstaaten als Völkerrechtssubjekte, sondern obliegt „allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten einschließlich der Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeiten“; 64 denn würde sie sich „nur auf die Verpflichtung zur Schaffung richtlinienkonformer abstrakt-genereller Rechtssätze beschränken, also nur den Gesetzgeber binden, könnte bei der Bildung konkret-individueller Rechtssätze – d.h. der Rechtsanwendung durch z.B. Urteils- und Bescheidserlassung – gerade das Ergebnis, welches durch den Erlaß der Richtlinie ja erreicht werden soll, nämlich die Schaffung eines einheitlichen Rechtszustands, verhindert werden“.65 Dann aber ist es nur konsequent, auch die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung als Bestandteil der mitgliedstaatlichen Umsetzungsverpflichtung direkt und ohne Rückgriff auf Art. 10 59 So z.B. Bach, JZ 1990, 1108, 1111; Curtin, CMLR 1985, 505, 515; Everling, ZGR 1992, 376, 380; Götz, NJW 1992, 1849, 1853; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 964; Lutter, JZ 1992, 593, 604; Ress, DÖV 1994, 489; Schulze, ZfRV 1997, 183, 191. 60 Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 268. 61 Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 109 62 So ausdrücklich Streinz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 172 Rn. 11; ders., Europarecht, Rn. 437. 63 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 9 (in Fn. 8) und 257 f.; mit gleichem Ergebnis z.B. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 297; Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507 (in Fn. 4). 64 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40. 65 Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 123.

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§ 6 Die primärrechtskonforme Auslegung

EG in Art. 249 Abs. 3 EG zu lozieren.66 Dagegen ist nun allerdings eingewandt worden, daß Art. 249 EG nur die Rechtswirkungen von Handlungen der Gemeinschaftsorgane, nicht aber den Umgang des Gemeinschaftsrechts mit kollidierendem nationalen Recht regle.67 Das ist in der Sache zwar zutreffend, ändert aber nichts am hier gefundenen Ergebnis. Denn bei der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung geht es überhaupt nicht um eine Frage der Kollision von nationalem und Gemeinschaftsrecht, sondern lediglich darum, ersteres mit letzterem in Einklang zu bringen. Zu Normkollisionen kann es erst kommen, wenn dieses nicht möglich ist. Solange sich ein richtlinienkonformes Ergebnis mittels Auslegung nationalen Rechts erzielen läßt, ist der Mitgliedstaat seiner aus Art. 249 Abs. 3 EG resultierenden Verpflichtung nachgekommen und eine Normkollision nicht zu konstatieren. Festhalten läßt sich nach alldem, daß die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung allein auf Art. 249 Abs. 3 EG zu gründen ist und es eines Rückgriffs auf die allgemeinere Norm des Art. 10 EG nicht bedarf. Art. 10 EG kann allenfalls als Hilfsargument herangezogen werden, um die nach Art. 249 Abs. 3 EG ohnehin schon bestehende Pflicht noch zu bestärken.68 Eigenständige Bedeutung kommt Art. 10 EG als Begründungselement lediglich bei der norminterpretatorischen Berücksichtigung nicht rechtsverbindlicher Akte der Europäischen Gemeinschaft zu.69 Auch die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung gründet nicht in Art. 10 EG, sondern ist Ausfluß des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts. 2.

Inhalt und Reichweite

Nach dem Grundsatz der primärrechtskonformen Auslegung sind Bestimmungen des mitgliedstaatlichen Rechts so auszulegen, daß sie mit dem EG-Vertrag und den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts in Übereinstimmung stehen. In den Worten des EuGH: „Es ist Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Recht unter voller Erschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.“ 70

Bezugspunkte im Primärrecht sind auch hier neben dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG etwa der in Art. 141 EG enthaltene gemeinschaftsrechtliche Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit, 66 So insbesondere Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 256 ff.; Basedow, FS Brandner, S. 657; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 297; Leible/ Sosnitza, NJW 1998, 2507 (in Fn. 4); Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 123. 67 Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 268. 68 Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 123. 69 Vgl. etwa zu Empfehlungen EuGH v. 13.12.1989 – Rs. C-322/88 Grimaldi, Slg. 1989, 4407 Rn. 18. 70 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 672 Rn. 11; vgl. z B. auch EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Coloroll Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. 270/97 und 271/97 Deutsche Post, Slg. 2000, I-929 Rn. 62

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2. Teil: Allgemeiner Teil

vor allem aber die Grundfreiheiten des EG-Vertrags und die Gemeinschaftsgrundrechte. Ebenso wie bei der Auslegung des Sekundärrechts gibt der Grundsatz der primärrechtskonformen Auslegung auch bei der Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts in seiner Funktion als Vorrangregel lediglich den Rahmen vor, innerhalb dessen sich die Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts zu vollziehen hat. Kommen mehrere Auslegungen in Betracht, werden diejenigen ausgeschieden, die die Grenzen des Primärrechts überschreiten. Verbleibt danach nur noch eine, ist diese zu wählen. Verbleiben mehrere, wandelt sich der Grundsatz wiederum von einer strikten Vorrang- zu einer schlichten Vorzugsregelung, die derjenigen zum Durchbruch verhilft, die mit den Prinzipen des Primärrechts am besten übereinstimmt. Gibt es innerhalb der durch das Primärrecht gezogenen Grenzen überhaupt keine Lösung, zu der man mit Hilfe der im nationalen Recht maßgeblichen Auslegungskriterien gelangen kann, darf die nationale Regelung gleichwohl nicht angewendet werden. Anders als bei der verfassungskonformen Auslegung des nationalen Rechts bzw. der primärrechtskonformen Auslegung des Sekundärrechts obliegt dann, wenn die Grenzen der Auslegung überschritten sind, die Feststellung der Unanwendbarkeit der nationalen Rechtsnorm indes nicht dem BVerfG bzw. dem EuGH, sondern dem Rechtsanwender.71 Er ist auch bei förmlichen Gesetzen verpflichtet, diese von Amts wegen unangewendet zu lassen, sofern nur so der unmittelbaren Wirkung des Primärrechts Rechnung getragen werden kann.72 Selbst das Vorlageverfahren des Art. 100 Abs. 1 GG kommt insoweit nicht zum Tragen.73 Zwar ist ein Vorabentscheidungsverfahren nicht ausgeschlossen, doch kann sich sein Inhalt nur auf die Ermittlung des Inhalts der als Maßstab geltenden primärrechtlichen Norm, nicht aber der Vereinbarkeit der nationalen Vorschrift mit dieser erstrecken. In der Praxis läßt sich diese Beschränkung freilich durch eine geschickte Formulierung des Vorabentscheidungsersuchens umgehen. Zur primärrechtskonformen Auslegung des Sekundärrechts wurde herausgearbeitet, daß sie bei einem Überschreiten der Grenzen der Auslegung nicht in Betracht kommt, da dies auf eine Änderung ihres Inhalts hinausliefe, die der Legislative vorbehalten und nicht Aufgabe der Judikative ist. Angesichts der skizzierten Kompetenz der Judikative, nationale Normen, die EG-Recht widersprechen, unangewendet zu lassen, ist eine solche Grenze bei der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts jedoch nicht zwingend. Das ist indes eine Frage des nationalen und nicht des Gemeinschaftsrechts, da der EuGH, wie seine Ausführungen im Fall Murphy deutlich gemacht haben, die Grenzen der nationalen Methodik akzeptiert („volle Erschöpfung des nach nationalem Recht bestehenden Beurteilungsspielraums“).74 Angeknüpft werden kann bei Bestimmung dieser Grenzen zu71 72 73 74 zur

Näher Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, S. 100 ff. Vgl. z.B. EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839 Rn. 31. BVerfGE 31, 145, 174 f.; BVerfGE 82, 159, 181. EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11. Möglicherweise weitergehend richtlinienkonformen Auslegung zuletzt allerdings EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01

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§ 6 Die primärrechtskonforme Auslegung

nächst an die Rechtsprechung des BVerfG zur verfassungskonformen Auslegung.75 Danach gehört die teleologische Reduktion von Vorschriften entgegen ihrem Wortlaut zu den anerkannten, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Auslegungsmethoden.76 Allerdings ist das BVerfG auch der Ansicht, daß jede verfassungskonforme Auslegung dort ihre Grenze findet, „wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde“. 77 Ein solches contra-legem-Judizieren wird indes nur deshalb als unzulässig angesehen, weil ansonsten Art. 100 Abs. 1 GG unterlaufen würde, „der die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers im Verhältnis zur Rechtsprechung wahren soll“.78 Diese Gefahr besteht im Verhältnis zum Primärrecht jedoch aufgrund des bestehenden Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und der damit verbundenen Verdrängung des bundesverfassungsgerichtlichen Monopols, förmliche Gesetze zu verwerfen, nicht; denn auch die Nichtanwendung des Gesetzes läßt ja einen entgegenstehenden, gerade auf Anwendung gerichteten Willen des nationalen Gesetzgebers außer Acht. Dann spricht aber auch nichts dagegen, selbst gegen Wortlaut und erkennbaren gesetzgeberischen Willen einer nationalen Norm den vom Gemeinschaftsrecht geforderten Bedeutungsinhalt beizumessen, sie also primärrechtskonform fortzubilden. So mag zwar die Entscheidung des BGH zur aktiven Parteifähigkeit der (nicht rechtsfähigen) Gewerkschaften 79 methodologisch zu kritisieren sein, da sie den gesetzgeberischen Willen beiseite schiebt und daher mit Blick auf Art. 100 Abs. 1 GG die Grenzen der „verfassungskonformen Auslegung“ überschreitet; 80 gegen die Gewinnung des gleichen Ergebnisses unter Hinweis auf einen im Gemeinschaftsrecht geltenden allgemeinen Rechtsgrundsatz der Koalitionsfreiheit 81 wäre, dessen Einschlägigkeit unterstellt, indes methodologisch nichts einzuwenden.82 Die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung wirkt ubiquitär. Deutsche Gerichte müssen aufgrund der Vorrangregel nicht nur ihr eigenes, sondern auch ausländisches Recht, das unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht widerspricht, unangewendet lassen. Damit korrespondiert zur Vermeidung von Kollisionen ihre Pflicht, das ausländische Recht bereits von vornherein im Rahmen der in der fremden Rechtsordnung maßgeblichen Auslegungsregeln primärrechtskonform zu interpretieren. Darin unterscheidet sich z.B. die primärrechtskonforme von der richtlinienkonformen Auslegung; denn anders als die ubiquitär geltende Vorrangregel ist die Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 Abs. 3 EG einzelstaatsbezogen; jeder Staat hat dafür Sorge zu tragen, daß sein Rechtssystem den Richtlinienvorgaben entspricht. Dementsprechend sind auch dessen Gerichte zumindest gemeinschafts-

bis C-403/01 Pfeiffer u.a., (noch nicht in Slg.) NJW 2004, 3547; vgl. dazu u.a. Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47; Schlachter, RdA 2005, 115; Thüsing, ZIP 2004, 2301. 75 Colneric, ZEuP 2005, 225, 232. 76 BVerfGE 97, 186. 77 BVerfGE 67, 382, 390; BVerfGE 71, 81, 105; BVerfGE 90, 263, 275 (Hervorhebung vom Verf.). 78 BVerfGE 63, 131, 141; BVerfGE 86, 71, 77; BVerfGE 90, 263, 275. 79 Vgl. BGHZ 42, 210. 80 Zur Kritik vgl. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 130 f. 81 Vgl. dazu Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 35. 82 A.A. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 214.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

rechtlich 83 nur zur richtlinienkonformen Auslegung des eigenen, nicht aber zugleich des Rechts anderer Mitgliedstaaten verpflichtet.84

3.

Beispiele

a)

Der taugliche Bürge

Gem. § 239 Abs. 1 BGB kann ein zur Sicherheitsleistung Verpflichteter nur dann auf die Stellung eines Bürgen (§ 232 Abs. 2 BGB) ausweichen, wenn dieser seinen allgemeinen Gerichtsstand in Deutschland hat, also ein „tauglicher“ Bürge ist.85 In anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Ansässige werden dadurch an einer Erbringung der Dienstleistung „Bürgschaft“ 86 gehindert. Gründe, die sich zur Rechtfertigung der Norm anführen lassen, sind nur in begrenztem Maße ersichtlich. Unbeachtlich ist jedenfalls der Einwand, der Gläubiger sei vor einer Vollstreckung im Ausland zu bewahren, da der Bürge leicht zu belangen sein müsse. Ein solches Vorbringen ist vom EuGH im Rahmen der zahlreichen Verfahren zur Ausländersicherheit stets mit dem Argument zurückgewiesen worden, daß mittlerweile sämtliche Mitgliedstaaten der EG zugleich Vertragsstaaten des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens (EuGVÜ; 87 bzw. – unter Ausnahme Dänemarks – der Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung – EuGVVO 88) seien.89 Nach Auffassung des Gerichtshofs sind daher „die Vorausset-

83 Eine andere Frage ist es, ob sich eine solche Verpflichtung aus dem nationalen Recht ergibt. Bedenkt man, daß das ausländische Recht von deutschen Gerichten so auszulegen ist, wie es der ausländischen Praxis entspricht, kann diese Frage nur bejaht werden, sind doch auch die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten zur richtlinienkonformen Auslegung ihres Rechts verpflichtet. Zur Reichweite dieser mittelbaren Anwendung der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung vgl. W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 879. 84 Zutreffend W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 879. 85 Dazu Ehricke, EWS 1994, 259; Fuchs, RIW 1996, 280, 283 ff.; vgl. auch Reich, ZBB 2000, 177. 86 Das Stellen einer Bürgschaft weist zweifelsohne zahlreiche Dienstleistungselemente auf. Allerdings werden Bürgschaften auch in der „Nomenklatur für den Kapitalverkehr“ im Anhang der Richtlinie 88/361/EWG genannt, deren Begriffsbestimmungen des Kapitalverkehrs vom EuGH auch heute noch zur Auslegung des Art. 56 EG herangezogen werden (vgl. EuGH v. 16.3.1999 – Rs. C-222/97 Trummer und Mayer, Slg. 1999, 1661 Rn. 21 = JA-R 1999, 5 [Leible]). Jedoch sagt das allein noch nichts über die Zuordnung aus. Abzustellen ist bei Maßnahmen, die sowohl die Dienstleistungs- als auch die Kapitalverkehrsfreiheit beschränken können, vielmehr auf den Charakter der Beschränkung. Die Verpflichtung zur Stellung eines „tauglichen“ Bürgen beschränkt in erster Linie die Möglichkeit ausländischer Bürgen zur Erbringung ihrer Dienstleistung „Bürgschaft“. Die mit der Verpflichtung zur Wahl inländischer Bürgen verbundene Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit tritt dahinter zurück. Mit gleichem Ergebnis etwa Baldus, JA 1996, 894, 897; Ehricke, EWS 1994, 259, 260 f.; Fuchs, RIW 1996, 280, 283 f.; OLG Hamburg, RIW 1995, 775, 776; a.A. Calliess/Ruffert-Bröhmer, Art. 56 EGV Rn. 10; Taupitz, FS Lüke, S. 857 f.; OLG Düsseldorf, WiB 1996, 87; offen gelassen von OLG Koblenz, RIW 1995, 775. 87 Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 27.9.1968 (BGBl. 1972 II, 774) i.d.F. des 4. Beitrittsübereinkommens v. 29.11.1996 (BGBl. 1998 II, 1412). 88 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates v. 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 Nr. L 12/1. 89 Zwar erkannte der Gerichtshof an, daß „zwischen bestimmten Mitgliedstaaten tatsächlich

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§ 6 Die primärrechtskonforme Auslegung

zungen für die Vollstreckung der Entscheidungen und die mit den Schwierigkeiten, die sie verursacht, verbundenen Risiken in allen Mitgliedstaaten die gleichen“.90 Daraus wird von einer Vielzahl von Stimmen gefolgert, daß sich Regelungen wie § 239 BGB, die sich auch in den Bürgschaftsrechten einiger anderer europäischer Staaten 91 finden, nicht rechtfertigen lassen und die Vorschrift dahingehend teleologisch zu reduzieren ist, daß ein allgemeiner Gerichtsstand innerhalb der EU genügt, unter „Inland“ also das „EU-Inland“ zu verstehen ist.92 Daß sich ein solches Ergebnis ohne gesetzgeberische Änderung des § 239 BGB in methodologisch zulässiger Weise durch eine teleologische Reduktion der Norm erzielen läßt, sollte angesichts der voranstehenden Ausführungen zu Inhalt und Reichweite der Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts außer Frage stehen.93 Zweifelhaft ist allein, ob es auch geboten ist. Das ist eine Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die der einer teleologischen Reduktion vorgeschaltet ist; denn erst wenn feststeht, was das Gemeinschaftsrecht überhaupt verlangt, wenn also der für die Auslegung des nationalen Rechts maßgebliche Rahmen abgesteckt ist, kann zu seiner primärrechtskonformen Auslegung übergegangen werden. Der EuGH geht zwar davon aus, daß die Voraussetzungen für die Vollstreckung von Entscheidungen und die mit den Schwierigkeiten, die sie verursacht, verbundenen Risiken in allen Mitgliedstaaten die gleichen sind, doch läßt sich Gleiches nicht vom Zivilprozeß als solchem behaupten. EuGVÜ und EuGVVO regeln insoweit lediglich Fragen der internationalen Zuständigkeit, nicht hingegen der Verfahrensausgestaltung. Normen zur Angleichung zivilprozessualer Vorschriften

die Gefahr [besteht], daß eine in einem Mitgliedstaat gegen Gebietsfremde ergangene Kostenentscheidung nicht oder zumindest sehr viel schwerer und unter höheren Kosten vollstreckt werden kann“ (vgl. EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-323/95 Hayes, Slg. 1997, I-1711 Rn. 23; anders noch EuGH v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 Mund & Fester, Slg. 1994, I-467 Rn. 20), doch hob diese Aussage auf die seinerzeit noch unvollständige Ratifizierung des 4. Beitrittsübereinkommens zum EuGVÜ ab. Mittlerweile hat sich die Situation jedoch geändert, da nunmehr alle „Alt-EG-Mitgliedstaaten“ das 4. Beitrittsübereinkommen zum EuGVÜ ratifiziert haben und im Verhältnis der derzeit 25 EG-Mitgliedstaaten unter Ausnahme Dänemarks die EuGVVO gilt. Daß die Risiken einer Auslandsvollstreckung gegenüber einer reinen Inlandsvollstreckung, bei der es eines besonderen Vollstreckbarerklärungsverfahrens nicht bedarf, trotz EuGVÜ bzw. EuGVVO tatsächlich andere und durchaus höher sind, hat der Gerichtshof hingegen nie als Rechtfertigungsgrund gelten lassen (zur Kritik vgl. u.a. Mankowski, NJW 1995, 306, 308; Schack, ZZP 108 [1995], 47, 51f.; Thümmel, EuZW 1994, 242, 244). 90 Vgl. z.B. EuGH v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 Mund & Fester, Slg. 1994, I-467 Rn. 20. Diese Tendenz läßt sich im übrigen auch im Umkehrschluß aus EuGH v. 23.1.1997 – Rs. C-29/95 Pastoors und Trans-Cap, Slg. 1997-I, 285 Rn. 21 entnehmen. Ob diese Aussage den tatsächlichen Gegebenheiten gerecht wird, erscheint freilich fraglich. 91 Vgl. etwa Art. 2018 CC, Art. 1828 CC etc. und dazu Drobnig, in: Europäisches Parlament (Hrsg.), Untersuchung der Privatrechtsordnungen der EU im Hinblick auf Diskriminierungen und die Schaffung eines Europäischen Zivilgesetzbuches, S. 112. 92 Vgl. z.B. Soergel-Fahse, § 239 Rn. 4; AnwKommBGB-Fuchs, § 239 Rn. 3; MünchKommBGBGrothe, § 239 Rn. 1; Palandt-Heinrichs, § 239 Rn. 1; Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 89; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 47; Staudinger-Werner, § 239 Rn. 3. 93 A.A. jedoch Bamberger/Roth-Dennhardt, § 239 Rn. 2; vgl. auch Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 214.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

finden sich im gemeinschaftlichen Sekundärrecht nur äußerst selten.94 Eine Klage im europäischen Ausland ist auch heute noch ein mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbundenes Unterfangen. Man wird daher, wie es das OLG Hamburg getan hat, 95 immerhin verlangen können,96 daß Bürgen aus anderen Mitgliedstaaten der EU sich wenigstens der internationalen Zuständigkeit eines deutschen Gerichts unterwerfen.97 Eine derart umfassende teleologische Reduktion von § 239 BGB, wie sie von der wohl h.M. befürwortet wird, ist daher nicht zwingend. Wie weit die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts tatsächlich reichen, wäre freilich zunächst durch ein Vorabentscheidungsverfahren zu klären. Vergleichbare Probleme stellen sich bei der Auslegung und Anwendung von § 108 ZPO, und zwar bei Beantwortung der Frage, ob die Gerichte in den Fällen, in denen nach den Vorschriften der ZPO die Leistung einer Sicherheit vorgesehen ist, auch Bürgschaften von in anderen Mitgliedstaaten der EG ansässigen Bürgen zulassen können oder vielleicht sogar müssen.98 b)

Privatrechtsverhältnisse

Der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts kommt auch in Privatrechtsverhältnissen große Bedeutung zu. aa)

Grundfreiheitenbeschränkende privatrechtliche Normen

Die Wahrnehmung sämtlicher Freiheiten setzt voraus, daß der einzelne überhaupt in der Lage ist, privatautonom zu handeln. Ohne die Möglichkeit, Verträge zu schließen, Eigentum zu übertragen usw., sind der Austausch von Waren, die Erbringung von Dienstleistungen etc. gar nicht denkbar. Das gilt nicht nur für rein innerstaatliche, sondern genauso für grenzüberschreitende Transaktionen. Der Binnenmarkt baut daher auf der Privatautonomie als gemeinsamem Fundament der mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen auf und erstreckt sie durch die Grundfreiheiten über die mitgliedstaatlichen Grenzen hinweg. Die Grundfreiheiten garantieren so ein Mindestmaß an Privatautonomie. Zu Konflikten kommt es immer dann, wenn der von einem Mitgliedstaat seinen Bürgern gewährte Freiraum privatautomen Handelns nicht weit genug reicht, um die volle Wahrnehmung der Grundfreiheiten zu gewährleisten. Mit den Grundfreiheiten konfligieren daher alle mitgliedstaatlichen Normen, die die Privatautonomie zu Lasten des innergemeinschaftlichen Leistungsaustauschs beschränken. Derartige Inkompatibilitäten sind immer normkausal. Es ist die Norm und nicht die privatautonome Verhaltensweise einzel-

94 Vgl. dazu auch Leible, in: Müller-Graff (Hrsg.), Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, S. 55 ff. 95 OLG Hamburg, RIW 1995, 775, 776. 96 Und dies angesichts der Uneinheitlichkeit der Prozeßrechte der Mitgliedstaaten und der mit einer Klage im Ausland verbundenen Erschwernissen gemeinschaftsrechtlich auch dürfen. 97 Ebenso Fuchs, RIW 1996, 280, 289; Musielak-Foerste, § 108 Rn. 9; Reich, ZBB 2000, 177, 180; a.A. Taupitz, FS Lüke, S. 860. 98 Dem und insbesondere der Frage nach der Maßgeblichkeit von § 239 BGB für § 108 ZPO ist hier nicht nachzugehen. Vgl. dazu Fuchs, RIW 1996, 280; Taupitz, FS Lüke, S. 846 ff. jeweils m.w.N.

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§ 6 Die primärrechtskonforme Auslegung

ner, die zur Beschränkung führt. Betrachtet z.B. das Recht eines Mitgliedstaates eine bestimmte Art von Rechtsgeschäften als gegen die guten Sitten verstoßend und erklärt es sie deshalb für nichtig, geht eine damit verbundene Beschränkung der Grundfreiheiten direkt von der die Nichtigkeit dekretierenden Norm aus. Wer sich auf diese Norm beruft, ist unerheblich. Gleiches gilt beispielsweise im Lauterkeitsrecht. Ist eine Werbung gem. § 5 UWG irreführend und als unlautere Wettbewerbshandlung nach § 3 UWG verboten, führt bereits die Vorschrift selbst zur Freiheitsbeeinträchtigung und nicht erst der Umstand, daß ein Privater in einem gerichtlichen oder außergerichtlichen Verfahren einen Unterlassungsanspruch auf § 3 UWG stützt. Daß auch der Gerichtshof zwischen normkausalen Beschränkungen und Beeinträchtigungen durch privatautonome Verhaltensweisen differenziert, läßt sich am Beispiel der gewerblichen Schutzrechte illustrieren. Sie bildeten häufig den Gegenstand von vor ihm ausgetragenen Verfahren. Der EuGH unterschied zunächst nicht zwischen privatem Handeln und den ihm zugrunde liegenden Rechtsnormen.99 Seine neue Rechtssprechung macht jedoch deutlich, daß er allein die Rechtsnormen an den Grundfreiheiten und insbesondere der Freiheit des Warenverkehrs mißt, nicht aber die einzelnen Willenserklärungen.100 Staatliche Regelungen, die bestimmte privatautonome Verhaltensweisen untersagen – wie z.B. die unberechtigte Nutzung einer Marke – und/oder dem einzelnen das Recht einräumen, sich derartigen Handlungen, die in Ausübung der Freiheitsrechte erfolgen, zu widersetzen, sind zweifelsohne am Maßstab des EG-Vertrages zu messen. Hier gilt nichts anderes als auch im sonstigen Gemeinschaftsrecht. „Jeder Unionsbürger hat (selbstverständlich) ein subjektives Abwehrrecht gegen privatrechtliche Normen eines Mitgliedstaates, die einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in seine Grundfreiheiten darstellen.“ 101 Das nationale Gericht ist daher gehalten, die Normen des Privatrechts primärrechtskonform auszulegen, soweit ihm dies anhand seiner nationalen Auslegungsmethode möglich ist. Erst wenn sich so eine Konformität mit den Grundfreiheiten nicht erreichen läßt und auch keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich oder deren Voraussetzungen (Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit etc.) nicht erfüllt sind, darf die Zivilrechtsnorm aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht angewendet werden. So können sich z.B. die Inhaber einer Marke der Einfuhr von mit ihrem Schutzrecht versehenen Waren nicht widersetzen, wenn sie von ihnen oder mit ihrer Zustimmung in anderen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft in den Verkehr gebracht worden sind. Und führen nationale Normen des Privatrechts

99 Vgl. z.B. EuGH v. 22.6.1976 – Rs. 119/75 Terrapin, Slg. 1976, 1039 Rn. 4: Geprüft wird, ob die „Berufung eines Unternehmens auf die Gleichartigkeit von Waren“ bzw. „die Ausübung der gewerblichen und kommerziellen Eigentumsrechte“ mit der Freiheit des Warenverkehrs vereinbar ist. Weitere Nachweise bei W.-H. Roth, FS Everling, S. 1233; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 48 f. 100 Paradigmatisch EuGH v. 17.10.1990 – Rs. C-10/89 CNL-SUCAL, Slg. 1990, I-3711 Rn. 20 (HAG II): Die „Artikel 30 und 36 EWG-Vertrag [stehen] nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegen, die es einem Unternehmen gestatten, … sich der Einfuhr gleichartiger Waren zu widersetzen …“. Vgl. dazu auch Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EGV Rn. 6 und Art. 30 EGV Rn. 20; von der Groeben/Schwarze-Müller-Graff, Art. 30 EGV Rn. 148 ff. und 290. 101 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 97.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

zu einer Nichtigkeit des Vertrages, werden aber die vom nationalen Recht für diese Rechtsfolge ins Feld geführten Gründe von Gemeinschaftsrecht nicht anerkannt, so ist der Vertrag gleichwohl wirksam. bb)

Dansk Supermarked revisited

Vorrang vor der Nichtanwendung des nationalen Rechts hat freilich immer dessen primärrechtskonforme Auslegung, wie sich etwa am vom EuGH entschiedenen Fall Dansk Supermarked 102 demonstrieren läßt. Die Firma Imerco A/S, eine Vereinigung dänischer Haushaltswarenhändler, beschloß, im Vereinigten Königreich nach ihren Entwürfen ein Steingutservice herstellen zu lassen. Der Alleinvertrieb diese Services sollte den Haushaltswarenhändlern vorbehalten werden, die Mitglieder der Fa. Imerco waren. Sie vereinbarte daher mit dem englischen Hersteller, daß die bei der Produktion als „zweite Wahl“ ausgesonderten Teile vom Hersteller im Vereinigten Königreich abgesetzt, keinesfalls jedoch nach Dänemark oder in andere skandinavische Länder ausgeführt werden durften. Der Fa. Dansk Supermarked A/S gelang es gleichwohl, einige dieser im Vereinigten Königreich vertriebenen Services zu beschaffen und in Dänemark zu einem erheblich niedrigeren Preis, als ihn die Mitglieder der Fa. Imerco verlangten, anzubieten. Imerco erwirkte daraufhin beim byret Aarhus eine einstweilige Verfügung, die Dansk Supermarked den Vertrieb dieses Services untersagte. Die einstweilige Verfügung stützte sich auf die §§ 1 und 5 des Gesetzes Nr. 297 vom 14. Juni 1974 über die Vermarktung von Waren (lov om markedsføring), da Dansk Supermarked mit ihrer Verhaltensweise gegen die guten Handelssitten verstoßen habe. Außerdem seien die nationalen Vorschriften zum Urheber- und Warenzeichenrecht verletzt. Das Sø-og Handelsret Kopenhagen bestätigte diese Entscheidung. Der im Berufungsverfahren zuständige Højesteret hatte hingegen Zweifel an der Vereinbarkeit einer Unterlassungsverfügung mit dem Gemeinschaftsrecht und bat den Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung um Auskunft darüber, ob die Vorschriften des EG-Vertrages im vorliegenden Fall die Anwendung der dänischen Gesetze über das Urheberrecht, das Warenzeichenrecht und die Vermarktung von Waren ausschließen.

Der Gerichtshof interpretiert diese etwas zu allgemein gehaltene Vorlagefrage dahingehend, daß das vorlegende Gericht geklärt haben möchte, ob der Vertrieb einer Ware, die in einem Mitgliedstaat mit Zustimmung des darüber verfügungsberechtigen Unternehmens rechtmäßig in Verkehr gebracht worden ist, in einem anderen Mitgliedstaat gemäß einer Vereinbarung zwischen diesem Unternehmen und dem Hersteller entweder aufgrund der nationalen Rechtsvorschriften über den Schutz des Urheber- oder Warenzeichenrechts oder aufgrund der Rechtsvorschriften über die Vermarktung von Waren untersagt werden darf. Beides wird vom Gerichtshof verneint. Art. 28 EG verbietet mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten. Eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung läge bei einer Unterlassungsverpflichtung zweifelsohne vor. Sie wäre auch nicht gerechtfertigt. Soweit die

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EuGH v. 22.1.1981 – Rs. 58/80 Dansk Supermarked, Slg. 1981, 181.

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§ 6 Die primärrechtskonforme Auslegung

Unterlassungsverpflichtung auf Verletzung von Urheber- oder Warenzeichenrechten gestützt wird, kommt eine Rechtfertigung nach Art. 30 EG nicht in Betracht. Zwar bestimmt die Vorschrift, daß Art. 28 EG Einfuhrverboten oder -beschränkungen nicht entgegensteht, die zum Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind, doch schützt der EG-Vertrag die durch die nationale Gesetzgebung eines Mitgliedstaats eingeräumten gewerblichen Schutzrechte nur in ihrem Bestand. Ihre Ausübung kann aber sehr wohl je nach den Umständen von den Verbotsnormen des Vertrages beschränkt werden. Mit anderen Worten: Die Ausübung gewerblicher Schutzrechte darf nur dann den innergemeinschaftlichen Warenverkehr behindern, soweit diese Behinderung zur Wahrung der Rechte gerechtfertigt ist, die den spezifischen Gegenstand dieses Eigentums ausmachen. Das ist vorliegend nicht der Fall. Der Gerichtshof hat bereits mehrfach entschieden, daß „das durch die Gesetzgebung über die gewerblichen Schutzrechte garantierte Ausschließlichkeitsrecht verbraucht ist, wenn ein Erzeugnis auf dem Markt eines anderen Mitgliedstaats vom Rechtsinhaber selbst oder mit seiner Zustimmung rechtmäßig in den Verkehr gebracht worden ist“.103 Auch soweit die Unterlassungsverfügung auf einen Verstoß gegen das erwähnte dänische Gesetz über die Vermarktung von Waren gestützt wird, da die Firma Dansk Supermarked die Steinservices nur unter Ausnutzung fremden Vertragsbruchs bezogen haben kann, läßt sie sich nicht rechtfertigen. Zwar verhindert das Gemeinschaftsrecht grundsätzlich nicht, daß in einem Mitgliedstaat die in diesem Staat geltenden Vermarktungsvorschriften auf die aus anderen Mitgliedstaaten eingeführten Waren angewandt werden. Der Vertrieb eingeführter Waren kann also untersagt werden, wenn die Art und Weise ihres Absatzes gegen Handelsbräuche des Einfuhrstaates verstoßen. Allein in der Einfuhr in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig in den Verkehr gebrachter Waren kann aber keine unlautere Handelspraxis liegen. Es bedarf vielmehr von der Einfuhr unabhängiger Umstände.104 Der Gerichtshofs weist außerdem darauf hin, „daß Vereinbarungen zwischen Privaten in keinem Fall von den zwingenden Bestimmungen des Vertrages über den freien Warenverkehr abweichen dürfen“, und folgert daraus, „daß eine Vereinbarung, mit der die Einfuhr einer Ware in einen Mitgliedstaat verboten wird, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in den Verkehr gebracht worden ist, nicht geltend gemacht oder berücksichtigt werden kann, um den Absatz dieser Ware als eine unzulässige oder unlautere Handelspraxis zu qualifizieren“.105

103 EuGH v. 22.6.1976 – Rs. 119/75 Terrapin, Slg. 1976, 1039 Rn. 6. 104 EuGH v. 25.11.1971 – Rs. 22/71 Béguelin Import, Slg. 1971, 949 Rn. 14/15. 105 Damit ist das bis heute umstrittene und hier nicht weiter zu vertiefende Problem der Drittwirkung der Grundfreiheiten angesprochen. Der Gerichtshof geht im vorliegenden Fall lediglich von einer mittelbaren Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit aus – ein Mitgliedstaat darf vertragliche Absprachen zwischen Privaten, die den Grundsatz des freien Warenverkehrs mißachten, nicht dadurch sanktionieren, daß er Handlungen Dritter, die auf einem Vertragsbruch durch eine der Vertragsparteien beruhen, als unlauter einstuft und untersagt. Rückschlüsse auf eine unmittelbare Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit lassen sich dem Urteil trotz der etwas mißverständlichen Formulierung „dürfen … nicht abweichen“ hingegen nicht entnehmen. Der Gerichtshof hat eine unmittelbare Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit später auch abgelehnt, vgl.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Angesichts dieser Vorgaben des Gemeinschaftsrechts verbleiben dem dänischen Richter nur wenige Möglichkeiten. Er kann den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts bei Auslegung von § 1 des lov om markedsføring ohne weiteres gerecht werden, da die Vorschrift, indem sie für die Beurteilung wettbewerblicher Verhaltensweisen auf den Wertmaßstab der guten Handelssitten verweist, die Möglichkeit zu richterlicher Rechtsfortbildung und zu einer Rechtsanwendung eröffnet, die der Entwicklung des Wirtschaftslebens und einem Wandel der Verkehrsauffassung sowie auch langfristigen Änderungen der Auffassung der Allgemeinheit Rechnung tragen kann. Mag man in Dänemark auch bis dahin Verhaltensweisen wie die von Imerco als Verstoß gegen die guten Handelssitten behandelt haben, so hat doch der Beitritt zur EG zu einem gewandelten Sittenverständnis geführt, das den Wertungen des EGVertrags Rechnung trägt.106 Schwieriger dürfte eine Entscheidung über die dänischen Vorschriften zum Urheber- und Warenzeichenrecht sein, die im EuGH-Urteil leider nicht wiedergegeben sind. Bei ihnen kommt es darauf an, ob sie der Auslegung zugängliche Rechtsbegriffe erhalten, die die Gewinnung eines gemeinschaftsrechtskonformen Ergebnisses ermöglichen, etwa durch eine teleologische Reduktion des Begriffs der Verwechslungsgefahr. Lediglich wenn dies nicht möglich ist, greift der Vorrang des Gemeinschaftsrechts mit der Folge durch, daß die Vorschriften überhaupt nicht angewendet werden dürfen. Die Vorrangregel ist eben immer nur die ultima ratio, die nur dann herangezogen werden kann, wenn sich eine Schonung des nationalen Rechts durch seine primärrechtskonforme Interpretation nicht in methodisch zulässiger Art und Weise erreichen läßt.

V.

Fazit

Die primärrechtskonforme Auslegung ist eine Auslegungsmethode, die darauf abzielt, Normen dergestalt auszulegen, daß sie mit dem primären Gemeinschaftsrecht, d.h. dem EG-Vertrag und den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, vereinbar sind. Anhand der Provenienz der auszulegenden Vorschriften ist zwischen der primärrechtskonformen Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts auf der einen und nationalen Rechts auf der anderen Seite zu unterscheiden. Tragender Gedanke ist in beiden Fällen die Auflösung bzw. Vermeidung von Kollisionen. Unterschiede bestehen jedoch bei der methodologischen Zulässigkeit einer primärrechtskonformen Rechtsfortbildung.

EuGH v. 1.10.1987 – Rs. 311/85 Vereniging Vlaamse Reisbureaus, Slg. 1987, 3801 Rn. 30; EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 65/86 Bayer, Slg. 1988, 5249 Rn. 12. 106 Vgl. zu einer ähnlichen Argumentation bei richtlinienkonformer Auslegung des § 1 UWG a.F. vor Ablauf der Umsetzungsfrist BGH, NJW 1998, 2208, 2210, und dazu Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507.

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Stefan Leible

§ 6.1 Die primärrechtskonforme Auslegung Ronny Domröse Übersicht I.

Die primärrechtskonforme Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  .  .  . 1. Das primäre Gemeinschaftsrecht als Maßstab für die Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . a) Die Rechtmäßigkeitsvermutung sekundären Gemeinschaftsrechts  .  .  .  .  .  .  .  . b) Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Gemeinschaftsrechts und die Respektierung der Autorität des Gemeinschaftsgesetzgebers   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre   .  .  .  .  .  .  . 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung sekundären Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung sekundären Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . II. Die primärrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 1. Das primäre Gemeinschaftsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts  .  .  . a) Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . b) Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . c) Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre   .  .  .  .  .  .  . 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts   . 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts?  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .

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Eine in der klassischen Methodenlehre wenig beachtete Auslegungsmethode ist die primärrechtskonforme Auslegung. Sie weist einige Parallelen mit der verfassungskonformen Auslegung auf 1 und ist wie diese eine Erscheinungsform einer allgemei1 Da der EuGH den EG-Vertrag als Verfassungsurkunde der Gemeinschaft qualifiziert (vgl. z.B. EuGH v. 23.4.1986 – Rs. 294/83 Les Verts, Slg. 1986, 1339 Rn. 23), kann man in der Tat auch von verfassungskonformer Auslegung sprechen (so GA Stix-Hackl, Schlußanträge v. 18.3.2004 –

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2. Teil: Allgemeiner Teil

nen hermeneutischen Regel, nach der rangniedere Normen im Einklang mit ranghöheren Normen auszulegen sind.2 Gegenstand der primärrechtskonformen Auslegung ist nicht nur das sekundäre Gemeinschaftsrecht (I.), sondern auch das nationale Recht (II.).3

I.

Die primärrechtskonforme Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts

Die primärrechtskonforme Auslegung des sekundären Gemeinschaftsrechts ist eine Auslegungsregel, die ganz allgemein besagt, daß Sekundärrecht im Lichte des Primärrechts zu interpretieren ist. Der Gerichtshof hat diesen Grundsatz – anders als für das nationale Recht (II.) – bislang nicht ausdrücklich anerkannt, verfährt in der Sache aber danach.4

1.

Das primäre Gemeinschaftsrecht als Maßstab für die Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts

Den Maßstab der primärrechtskonformen Auslegung bildet das primäre Gemeinschaftsrecht. Mögliche Bezugspunkte im EG-Vertrag sind vor allem die Grundfreiheiten.5 Aber auch alle anderen Regelungen, wie z.B. Art. 10 EG 6 oder die Kompetenzgrundlagen, können als primärrechtlicher Auslegungsmaßstab heranzuziehen sein. Außerdem ist sekundäres Gemeinschaftsrecht im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze,7 zu denen insbesondere die Gemeinschaftsgrundrechte 8 zählen, und der primärrechtlichen Prinzipien auszulegen. Rs. C-36/02 OMEGA, Slg. 2004, I-9609 Tz. 57; Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 364; ders., JuS 2004, 180, 182). 2 Vgl. Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, S. 20; s.a. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 233, 456; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 82. 3 Zur primärrechtskonformen Auslegung von Übereinkünften i.S.v. Art. 307 EG vgl. EuGH v. 18.11.2003 – Rs. C-216/01 Budeˇjovicky´ Budvar, Slg. 2003, I-13617 Rn. 168 –170. 4 Vgl. EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 15; EuGH v. 25.11.1986 – verb. Rs. 201/85 und 202/85 Klensch, Slg. 1986, 3477 Rn. 21; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, Slg. 1986, 3817 Rn. 15; EuGH v. 21.3.1991 – Rs. C-314/89 Rauh, Slg. 1991, I-1647 Rn. 17; EuGH v. 10.7.1991 – verb. Rs. C-90/90 und C-91/90 Neu, Slg. 1991, Slg. I-3617 Rn. 12; EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink, Slg. 1994, I-223 Rn. 9; EuGH v. 29.6.1995 – Rs. C-135/93 Spanien ./. Kommission, Slg. 1995, I-1651 Rn. 37; EuGH v. 5.6.1997 – Rs. C-105/94 Celestini, Slg. 1997, I-2971 Rn. 32. 5 Vgl. z.B. EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, Slg. 1986, 3817 Rn. 15; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. 47/90 Delhaize, Slg. 1992, I-3669 Rn. 26; EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u.a., Slg. 1996, I-3457Rn. 27; EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-352/95 Phytheron International, Slg. 1997, I-1729 Rn. 18. 6 EuG v. 18.9.1996 – Rs. T-353/94 Postbank ./. Kommission, Slg. 1996, II-921 Rn. 63. 7 Vgl. z.B. EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink, Slg. 1994, I-223 Rn. 9 (Grundsatz des Vertrauensschutzes). 8 Vgl. z.B. EuGH v. 21.9.1989 – verb. Rs. 46/87 und 227/88 Hoechst, Slg. 1989, 2859 Rn. 12.

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§ 6.1 Die primärrechtskonforme Auslegung

2.

Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts

Worauf das Gebot primärrechtskonformer Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts beruht, macht der EuGH in seinen Entscheidungen nicht deutlich. a)

Die Rechtmäßigkeitsvermutung sekundären Gemeinschaftsrechts

Auf den ersten Blick mag es nahe liegen, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber, der eine ranghöhere Norm durchführt, sich an dieser ausrichtet 9 und deshalb eine Vermutung für die Primärrechtskonformität des sekundären Gemeinschaftsrechts spricht 10. In dieser Vermutung könnte ein Prinzip zum Ausdruck kommen, das eine primärrechtskonforme Auslegung des sekundären Gemeinschaftsrechts verlangt. Dann drängt sich aber die Frage auf, worin jene Vermutung ihre Legitimation findet. Aus der Existenz von Verfahren, die – wie die Nichtigkeitsklage (Art. 230, 231 EG) und das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 234 Abs. 1 lit. b EG) – eine Normverwerfung erlauben, läßt sich ableiten, daß Sekundärrecht bis zu einer Entscheidung durch den Gerichtshof Gültigkeit beansprucht.11 Umgekehrt sind diese Verfahren Zeugnis dafür, daß der EG-Vertrag dem Gemeinschaftsgesetzgeber „mißtraut“ und deshalb eine solche Vermutung gerade nicht zuläßt. Der Versuch, die Rechtmäßigkeitsvermutung rechtlich zu fixieren, ist jedenfalls für die Beantwortung der Frage, worauf das Gebot primärrechtskonformer Auslegung beruht, nicht zielführend, weil das Problem nur auf eine andere Ebene verschoben wird.12 b)

Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Gemeinschaftsrechts und die Respektierung der Autorität des Gemeinschaftsgesetzgebers

Näherliegend ist es, das Gebot primärrechtskonformer Auslegung auf den Systemgedanken zu stützen.13 Dieser Gedanke beruht auf der zutreffenden Einsicht, daß Sekundär- und Primärrecht nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern eine Einheit,14 ein System aufeinander abgestimmter Entscheidungen bilden. Als Teil des Gemeinschaftsrechtssystems darf das Sekundärrecht nicht isoliert ausge-

9 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 186; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 325. 10 Auch der Gerichtshof beruft sich mitunter auf die Rechtmäßigkeitsvermutung sekundären Gemeinschaftsrechts, allerdings nicht um die primärrechtskonforme Auslegung zu legitimieren, sondern um seine alleinige Befugnis zur Verwerfung sekundären Gemeinschaftsrechts argumentativ abzusichern, vgl. zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-475/01 Kommission ./. Griechenland, (noch nicht in Slg.), Rn. 18. 11 So Grabitz/Hilf-Booß, Art. 231 EGV Rn. 1. 12 So zutreffend – im Zusammenhang mit der verfassungskonformen Auslegung – Canaris, FS Kramer, S. 147. 13 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 194 („Systemgedanke und Autorität der Vertragsparteien“); Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 186; Lenz/Borchardt-Borchardt, Art. 220 EGV Rn. 20. 14 Kutscher, in: Begegnung von Justiz und Hochschule am 27. und 28. September 1976, S. I– 40.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

legt werden,15 vielmehr ist es „im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts“ 16, also auch des Primärrechts, zu deuten. Indessen reicht der Systemgedanke alleine nicht aus, um die primärrechtskonforme Auslegung zu legitimieren. Denn erstens ist dem Systemgedanken nur zu entnehmen, daß Widersprüche im System zu vermeiden sind, indem einzelne Normen im Lichte der Gesamtrechtsordnung möglichst systemkonform ausgelegt werden. M.a.W.: Der Systemgedanke verbietet eine Auslegung, die im Widerspruch mit dem Primärrecht steht (Verbot primärrechtskonträrer Auslegung), er gebietet jedoch nicht die primärrechtskonforme Interpretation.17 Und zweitens könnte man dem Systemgedanken auch dadurch ausreichend Rechnung tragen, daß man sekundärrechtliche Normen, die primärrechtswidrige Lösungen zulassen, als systemwidrig oder systemfremd einstuft und durch einschränkende Auslegung „isoliert“ 18 oder sogar verwirft.19 Ganz ähnliche Erwägungen sprechen auch dagegen, das Gebot primärrechtskonformer Auslegung nur im Vorrang des Primärrechts bzw. im Stufenbau des Gemeinschaftsrechts zu verankern.20 Dem EG-Vertrag, vor allem Art. 230, 234 Abs. 1 lit. b EG und Art. 249 Abs. 1 EG („nach Maßgabe dieses Vertrags“), läßt sich entnehmen, daß sekundärrechtliche Normen im Rang unter dem primären Gemeinschaftsrecht stehen.21 In den Worten des Gerichtshofs ist der EG-Vertrag „Grundlage, Rahmen und Grenze“ 22 des auf ihn gestützten Rechts und die „Bestimmung eines Akts des abgeleiteten Rechts [kann] nach dem Grundsatz der Normenhierarchie keine Abweichung von einer Bestimmung des Vertrages gestatten.“ 23 Dem Vorrang des Primärrechts ist jedoch auch Genüge getan, wenn die sekundärrechtliche Norm für nichtig bzw. ungültig erklärt wird. Aus „rechtshygienischen“ Gründen mag es sogar wünschenswert sein, eine Norm, die eine primärrechtswidrige Auslegung zuläßt, aus der Rechtsordnung zu entfernen.24 Eine tragfähige Grundlage gewinnt man, wenn man den Systemgedanken und den Vorrang des Primärrechts mit der Überlegung verknüpft, daß der primärrechts-

15 EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62. 16 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20; ähnl. schon EuGH v. 10.12.1969 – Rs. 34/69 Caisse d’Assurance Vieillesse, Slg. 1969, 597 Rn. 5/7. 17 Vgl. Michel, JuS 1961, 274, 275 f.; Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen, S. 101. 18 In diesem Fall hat die vom Gerichtshof oft bemühte Regel, Ausnahmen seien eng auszulegen, ihre Berechtigung; vgl. auch Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 187 f. 19 Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 130 –132; ders., FS Kramer, S. 148. 20 So aber z.B. Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 10; Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 364; ders., JuS 2004, 180, 182; Streinz-Schroeder, Art. 249 Rn. 17. 21 Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 308, 364; Streinz-Schroeder, Art. 249 Rn. 17. 22 EuGH v. 10.12.1969 – Rs. 34/69 Caisse d’Assurance Vieillesse, Slg. 1969, 597 Rn. 5/7; EuGH v. 5.10.1978 – Rs. 26/78 Viola, Slg. 1978, 1771 Rn. 9/14. 23 EuG v. 28.3.2001 – Rs. T-144/99 Institut der beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter ./. Kommission, Slg. 2001, II-1087 Rn. 50; s.a. EuG v. 10.7.1990 – Rs. T-51/89 Tetra Pak, Slg. 1990, II-309 Rn. 25. 24 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 233, 456 f.

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§ 6.1 Die primärrechtskonforme Auslegung

konformen Auslegung die Funktion zukommt, den Gemeinschaftsgesetzgeber vor Übergriffen der europäischen Gerichte zu bewahren.25 Der Respekt vor der Rechtsetzungsprärogative des Gemeinschaftsgesetzgebers, den vor allem das allgemeine Gebot der richterlichen Zurückhaltung, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 7 Abs. 1 S. 2 EG) und das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts der Judikative abverlangen, gebietet die Aufrechterhaltung des Sekundärrechts soweit wie möglich.26 Geht man weiterhin davon aus, daß auch im Verhältnis der Gemeinschaftsorgane untereinander ein Übermaßverbot gilt,27 dann verdient die primärrechtskonforme Auslegung den Vorzug, weil sie sich im Verhältnis zur Normverwerfung als weniger einschneidendes Mittel erweist, die Normverwerfung also nicht erforderlich ist. Bedarf das Sekundärrecht der Umsetzung, Ausgestaltung oder Ergänzung durch innerstaatliches Recht (angeglichenes Recht i.w.S.), schützt das Gebot primärrechtskonformer Auslegung zugleich die Gestaltungsfreiheit des nationalen Gesetzgebers und schont so die mitgliedstaatliche Souveränität. Denn die Verwerfung des Sekundärrechts hat zur Folge, daß der gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungsgrund für das angeglichene Recht entfällt und den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber jedenfalls dann zum Handeln zwingt, wenn der Gerichtshof die Rechtswirkungen des für nichtig erklärten Sekundärrechts nicht aufrechterhält (Art. 231 Abs. 2 EG) und der Verstoß gegen das Primärrecht auf das angeglichene Recht durchschlägt. In diesem Fall greift der Gerichtshof zwar nicht direkt in die Kompetenzen des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers über, weil die Verwerfung des Sekundärrechts nicht auch den innerstaatlichen Befehl zur Anwendung des angeglichenen Rechts außer Kraft setzt. Jedoch werden die auf Grund des für nichtig erklärten Rechtsakts erlassenen Vorschriften unanwendbar und sind vom mitgliedstaatlichen Gesetzgeber aufzuheben oder zu korrigieren,28 da sie mit dem Primärrecht kollidieren und deshalb der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts eingreift. Indessen bleibt das angeglichene Recht anwendbar und der mitgliedstaatliche Gesetzgeber wird nicht mit Normkorrekturen behelligt, wenn sich das Sekundärrecht durch primärrechtskonforme Auslegung aufrechterhalten läßt. Der Gedanke der Souveränitätsschonung liegt freilich um so ferner, je mehr die Autonomie des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers durch detaillierte gemeinschaftsrechtliche Vorgaben eingeschränkt ist. Umgekehrt ist die Verwerfung des Sekundärrechts um so unangemessener, je mehr Spielraum es dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber bei seiner Umsetzung, Ausgestaltung oder Ergänzung beläßt. Unabhängig davon, wieviel Gestaltungsfreiheit

25 Ähnlich Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EGV Rn. 49; s.a. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 188; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 325. 26 Vgl. auch Kutscher, in: Begegnung von Justiz und Hochschule am 27. und 28. September 1976, S. I– 41. 27 Dazu, daß auch zwischen den Staatsfunktionen untereinander ein Übermaßverbot gilt, das die verfassungskonforme Auslegung stützt, Zippelius, FG 25 Jahre BVerfG, Bd. II, S. 111; zust. Canaris, FS Kramer, S. 152; Lüdemann, JuS 2004, 27, 29. 28 Vgl. Grabitz/Hilf-Booß, Art. 231 Rn. 6; Lenz/Borchardt-Borchardt, Art. 231 Rn. 4.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber verbleibt, läßt sich das Gebot primärrechtskonformer Auslegung insoweit auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie ergänzend auf Art. 10 EG stützen, der entgegen seinem Wortlaut auch Pflichten der EG und ihrer Organe gegenüber den Mitgliedstaaten begründet 29. Der Gerichtshof ist dementsprechend verpflichtet, das Sekundärrecht solange mittels primärrechtskonformer Auslegung aufrechtzuerhalten, wie das nach Gemeinschaftsrecht möglich ist.

3.

Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre

Aus der Vorrangstellung des Primärrechts folgt, daß die primärrechtskonforme Auslegung Vorrang vor den übrigen Auslegungskriterien genießt. Von mehreren möglichen Interpretationen einer sekundärrechtlichen Regelung setzt sich in jedem Falle diejenige durch, die mit dem Primärrecht vereinbar ist. Eine Abwägung mit den gegenläufigen Deutungsmöglichkeiten ist weder erforderlich noch zulässig, selbst wenn sie in ihrer Zahl und Stärke das primärrechtskonforme Auslegungskriterium überwiegen. Methodologisch ist die primärrechtskonforme Auslegung deshalb als interpretatorische Vorrangregel zu qualifizieren.30 Das bedeutet allerdings nicht, daß den übrigen Auslegungskriterien überhaupt keine Bedeutung zukommt. Zwar können sie das Auslegungsergebnis nicht mehr bestimmen, sie können es jedoch ggf. noch bekräftigen und ihm so eine noch größere Überzeugungskraft verleihen und die Akzeptanz der richterlichen Entscheidung erhöhen. Außerdem übernehmen die übrigen Auslegungskriterien immerhin noch eine begrenzende Funktion, sie stecken nämlich den Bereich zulässiger Rechtsfindung ab.31 Im System der juristischen Methodenlehre hat die primärrechtskonforme Auslegung ihren Platz im Rahmen der systematischen und objektiv-teleologischen Auslegung.32 Daß es bei ihr nicht – wie bei der einfach-systematischen Auslegung – um eine Zusammenschau hierarchisch auf einer Stufe stehender Normen geht, sondern Vorschriften abgeglichen werden, denen innerhalb derselben Rechtsordnung ein unterschiedlicher Rang zukommt, rechtfertigt es nicht, ihr eine andere Stellung – etwa neben den übrigen Auslegungskriterien – zuzuweisen.33

29 Vgl. Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10 EGV Rn. 14, 50 ff. m.w.N. 30 Grundlegend zu den Unterschieden von interpretatorischer Abwägungslösung und interpretatorischer Vorrangregel Canaris, FS Bydlinski, S. 64 – 67; ders., FS Kramer, S. 143 –146. 31 Vgl. Canaris, FS Bydlinski, S. 70 f.; ders., FS Kramer, S. 145 f., 154. 32 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. Für Erscheinungsform der systematischen Auslegung: Kutscher, in: Begegnung von Justiz und Hochschule am 27. und 28. September 1976, S. I– 40; Meyer, Jura 1994, 455, 457; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 447 f.; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 63; Ahlt/Deisenhofer, Europarecht, S. 59 f. Für Anwendungsfall der teleologischen Auslegung Lutter, JZ 1992, 593, 603. 33 A.A. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 327 f.

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§ 6.1 Die primärrechtskonforme Auslegung

4.

Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts

Vom Gebot primärrechtskonformer Auslegung erfaßt ist das gesamte abgeleitete Recht.34 Dazu gehören neben Verordnungen, Richtlinien, Empfehlungen und Entscheidungen auch Rechtsakte, die nicht den in Art. 249 EG vertypten Rechtshandlungen zugeordnet werden können (z.B. wettbewerbsrechtliche Leitlinien). Zudem sind auch völkerrechtliche Verträge der Gemeinschaft mit Drittstaaten und internationalen Organisationen, die nicht zum Sekundärrecht gehören, sondern einen Zwischenrang zwischen jenem und dem Primärrecht einnehmen (arg. ex Art. 300 Abs. 6 und Abs. 7 EG), primärrechtskonform auszulegen.

5.

Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts

Die Respektierung der Autorität des Gemeinschaftsgesetzgebers als tragender Begründungsansatz des Gebots primärrechtskonformer Auslegung bedeutet nicht, daß sekundäres Gemeinschaftsrecht um jeden Preis durch den Gerichtshof aufrechtzuerhalten ist. Der primärrechtskonformen Auslegung sind Grenzen gesetzt. Wo diese Grenzen verlaufen, ist bislang wenig erörtert. a)

Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung sekundären Gemeinschaftsrechts

Allgemein anerkannt ist, daß Gesetze lückenhaft sein können und deshalb nicht alle Sachverhalte durch Auslegung zu lösen sind. Gemeinhin wird deshalb eine richterliche Rechtsfortbildung akzeptiert. Im Grundsatz ist das auch für das Gemeinschaftsrecht unbestritten, für das dem Gerichtshof die Befugnis zur Rechtsfortbildung zufällt.35 Grundsätzlich zulässig ist auch eine primärrechtskonforme Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts. Der EuGH hatte die Befugnis zur Rechtsfortbildung zunächst sogar an die Voraussetzung geknüpft, daß das sekundäre Gemeinschaftsrecht „eine Lücke enthält, die mit einem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts unvereinbar ist“.36 Zu Recht hat der Gerichtshof diese Rechtsprechung aufgegeben. Denn selbstverständlich kann allein die Systematik und Teleologie des Sekundärrechts seine Fortbildung fordern.37

34 EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u.a., Slg. 1996, I-3457 Rn. 27. 35 Ausdrücklich akzeptiert von BVerfGE 75, 223, 241ff. 36 EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997 Rn. 14; vgl. auch EuGH v. 11.7.1978 – Rs. 6/78 Francaise de Cereales, Slg. 1978, 1675 Rn. 4; zust. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 318 f. 37 In diesem Sinne EuGH v. 19.6.1979 – Rs. 180/78 Brouwer-Kaune, Slg. 1979, 2111 Rn. 8; EuG v. 26.11.2002 – verb. Rs. T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Da überwiegend Gleichheitsrechte (Grundfreiheiten, Diskriminierungsverbote, allgemeiner Gleichheitssatz) den Bezugspunkt im Primärrecht bilden, ist eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung allerdings nur selten möglich. Verstößt sekundäres Gemeinschaftsrecht gegen ein Gleichheitsrecht, so ist es Sache des Gemeinschaftsgesetzgebers, wie er den Verstoß behebt. Er kann die benachteiligte Person, Ware usf. in die begünstigende Regelung einbeziehen, die Begünstigung aufheben oder den Kreis der Begünstigten gänzlich anders definieren. Der Gerichtshof respektiert die Gestaltungsfreiheit des Gemeinschaftsgesetzgebers, indem er sekundäres Gemeinschaftsrecht insoweit nicht für ungültig bzw. nichtig erklärt, sondern – wie das Bundesverfassungsgericht in den Fällen des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses 38 – sich auf die Feststellung der Unvereinbarkeit mit dem Gleichheitsrecht beschränkt.39 Für die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung bedeutet das, daß sie grundsätzlich unzulässig ist, wenn mehrere Regelungsmöglichkeiten offenstehen, die alle mit dem Primärrecht vereinbar wären, da sie ebenso wie die Normverwerfung der Entscheidung des Gemeinschaftsgesetzgebers vorgreifen würde.40 Als Mittel der Ausfüllung von Lücken im sekundären Gemeinschaftsrecht bieten sich – wie auch sonst – insbesondere der Analogieschluß und die teleologische Reduktion an. Der Analogieschluß kommt als Mittel der primärrechtskonformen Rechtsfortbildung immer dann in Betracht, wenn das Sekundärrecht eine mit dem Primärrecht unvereinbare Lücke enthält, aber eine Regelung vorsieht, die zwar nicht nach ihrem Wortlaut, jedoch nach ihrem Sinn und Zweck angewandt werden kann, um die Lücke zu schließen und so den Primärrechtsverstoß zu vermeiden. Die primärrechtskonforme (teleologische) Reduktion des Sekundärrechts steht zu Gebote, wenn der Normtext verglichen mit der Teleologie des Primärrechts zu weit gefaßt ist. Der EuGH hat z. B. die analoge Anwendung einer Verordnungsbestimmung – hilfsweise – damit begründet, daß andernfalls „sogar angenommen werden [könnte], daß der Rat seine Verpflichtung aus Art. 51 des Vertrages, die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen zu treffen, nicht vollständig erfüllt hat.“ 41 Enthält der EG-Vertrag eine Pflicht zur Rechtsetzung und hat der Gemeinschaftsgesetzgeber diese Pflicht unzureichend erfüllt, dann ist es – innerhalb der Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung – in der Tat überzeugend, die Norm entsprechend anzuwenden, die der Gemeinschaftsgesetzgeber zur Erfüllung des Regelungsauftrags erlassen hat. Denn der Gemeinschaftsgesetzgeber könnte auch nicht mehr tun als die Regelung entsprechend zu er-

Artegodan u.a., Slg. 2002, II-4945 Rn. 131–135; EuG v. 28.1.2004 – verb. Rs. T-142/01 und T-283/01 OPTUC, (noch nicht in Slg.) Rn. 76 – 92; EuGH v. 8.11.2005 – Rs. C-443/03 Leffler, (noch nicht in Slg.) Rn. 65, 68; s.a. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2655 Rn. 12 –18; EuGH v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 Berliner Kindl Brauerei, Slg. 2000, I-1741 Rn. 18; GA Tizzano, Schlußanträge v. 10.11.2005 – Rs. C-323/03 Kommission ./. Spanien, (noch nicht in Slg.) Tz. 42 – 45. 38 Vgl. z.B. BVerfGE 33, 303, 349. 39 Vorbildlich EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753 Rn. 13. 40 Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. I, S. 221 spricht in diesem Fall von „unausfüllbaren Lücken“. 41 EuGH v. 19.6.1979 – Rs. 180/78 Brouwer-Kaune, Slg. 1979, 2111 Rn. 8.

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§ 6.1 Die primärrechtskonforme Auslegung weitern. Das gilt in aller Regel auch, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber einer primärrechtlichen Schutzpflicht nicht hinreichend nachgekommen ist.42 Anders liegen die Dinge, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber überhaupt nicht rechtsetzend tätig geworden ist.43

b)

Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung sekundären Gemeinschaftsrechts

Das Gebot primärrechtskonformer Rechtsfindung darf nicht dazu führen, daß der Gerichtshof die gesetzgeberische Entscheidung durch seine eigene ersetzt.44 Der EuGH nimmt eine primärrechtskonforme Korrektur des Sekundärrechts denn auch nur dann vor, wenn es „mehr als eine Auslegung gestattet“.45 Die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung findet ihre Grenze im Verbot des contra-legem-Judizieres. Danach ist dem Gerichtshof eine Rechtsfindung verboten, die sich über den Wortsinn und den Zweck der sekundärrechtlichen Regelung hinwegsetzt; 46 je für sich bilden diese beiden Kriterien grundsätzlich keine unübersteigbare Hürde für den Richter.47 Soweit eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung mit den herkömmlichen Mitteln nicht möglich ist, hat der Gerichtshof die primärrechtswidrige Norm für nichtig zu erklären. Durch die Normverwerfung kann freilich eine Lücke entstehen, die in primärrechtskonformer Weise – etwa in Analogie zu einer anderen Norm – geschlossen werden kann.

II.

Die primärrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts

Die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts hat der EuGH erstmals im Urteil Murphy ausdrücklich ausgesprochen. Der Gerichtshof stellte fest, daß es „Sache des nationalen Gerichts [ist], das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften 42 Vgl. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 162. 43 Vgl. Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. I, S. 220. 44 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 194; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 63. 45 EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 15; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, Slg. 1986, 3817 Rn. 15. 46 Vgl. Bydlinski, in: Koller u.a. (Hrsg.), Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken, S. 27 ff.; ders., JBl. 1997, 617, 620; zust. Canaris, FS Bydlinski, S. 92; anders Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 132. 47 Vgl. z.B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 2655 Rn. 12; GA Tizzano, Schlußanträge v. 10.11.2005 – Rs. C-323/03 Kommission ./. Spanien, (noch nicht in Slg.), Tz. 42 – 45; s.a. Canaris, FS Bydlinski, S. 94 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

nicht anwenden.“ 48 Dieses Gebot wird gemeinhin akzeptiert. Allerdings ist noch nicht abschließend geklärt, worauf seine Verbindlichkeit beruht, wie es sich zu den übrigen Auslegungskriterien verhält, wie weit es reicht und welche Grenzen ihm gesetzt sind. Bevor diese Fragen erörtert werden können, ist zu überlegen, inwieweit primäres Gemeinschaftsrecht überhaupt als Maßstab für die Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts in Betracht kommt.

1.

Das primäre Gemeinschaftsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts

Eine primärrechtskonforme Auslegung ist von Gemeinschaftsrechts wegen nur dann geboten, wenn das nationale Recht in den Anwendungsbereich des Primärrechts fällt.49 Deshalb ist mitgliedstaatliches Recht z.B. nur insoweit grundfreiheitenkonform auszulegen als ein (binnenmarkt-)grenzüberschreitender Bezug vorliegt. Denn auf rein innerstaatliche Sachverhalte sind die Grundfreiheiten nicht anwendbar. Außerhalb seines Anwendungsbereichs kann das Primärrecht allerdings kraft nationalen Rechts bei der Auslegung zu berücksichtigen sein. Das ist zum einen dann der Fall, wenn das innerstaatliche Verfassungsrecht – wie z.B. in Österreich 50 – (gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstandende) umgekehrte Diskriminierungen verbietet. Insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz kann dann die Gerichte dazu verpflichten, von mehreren möglichen Auslegungen diejenige zu wählen, die primärrechtskonform wäre, wenn die zu interpretierende nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Primärrechts fallen würde. Insoweit handelt es sich aber nicht um primärrechtskonforme, sondern um (national-)verfassungskonforme Auslegung.51 Außerdem ist das Primärrecht bei der Auslegung zu beachten, wenn der nationale Gesetzgeber sein Recht freiwillig hieran angepaßt hat oder wenn eine Norm die Orientierung am Primärrecht ausdrücklich anordnet 52.53 Im übrigen kann sich der Rechtsanwender von den primärrechtlichen Wertentscheidungen – etwa bei der Auslegung von Generalklauseln – inspirieren lassen.54 Da jenseits des europarecht-

48 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11. 49 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4725 Rn. 34. 50 Vgl. öVfGH, EuGRZ 1997, 362; öVfGH, EuZW 2001, 219; öVfGH, VfSlg. 15.683/1999. 51 Vgl. z.B. OGH v. 12.11.1998 – 8 ObA 238/98b, SZ 71/192: Eine enge Auslegung des in § 1 östÖffnungszeitenG gebrauchten Begriffes „für den Kleinverkauf von Waren bestimmte Betriebseinrichtungen“ ist von Verfassungs wegen geboten, um eine sich ansonsten für den Versandhandel ergebende Inländerdiskriminierung zu vermeiden. 52 Beispielsweise war in § 23 RefE-GWB eine Anordnung zur – wie es in der amtlichen Überschrift heißen sollte – europafreundlichen Auslegung und Anwendung vorgesehen: „Bei der Auslegung und Anwendung der §§ 1 bis 4 und 19 sind die Grundsätze des europäischen Wettbewerbsrechts zu berücksichtigen, soweit nicht in diesem Gesetz besondere Bestimmungen enthalten sind.“ Der Vorschlag ist nicht Gesetz geworden. 53 Vgl. zu der vergleichbaren Problematik der überschießenden Umsetzung von Richtlinien Habersack/Mayer, unten, § 12. 54 Vgl. z.B. BAGE 84, 344, 359; BGH, NJW 1999, 3552, 3554; BGH, NJW 2000, 1028, 1030.

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§ 6.1 Die primärrechtskonforme Auslegung

lich determinierten Anwendungsbereichs eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts nicht besteht, kommt dem aus dem Primärrecht gewonnen Auslegungskriterium – anders als sonst (unten 3.) – kein Vorrang vor den übrigen Kanones zu. Dementsprechend kann – nach Abwägung der Auslegungskriterien – auch der Deutung der Vorzug zu geben sein, die nicht primärrechtskonform wäre. Um diesen methodischen Unterschied auch terminologisch hervorzuheben, ist es ratsam, insoweit auf den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung zu verzichten und stattdessen – in Anlehnung an die bei der analogen Problematik der Auslegung richtlinienüberschießender Regelungen verwendete Begrifflichkeit 55 – von quasi-primärrechtskonformer oder primärrechtsorientierter Auslegung zu sprechen.

2.

Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts

Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts wird überwiegend auf Art. 10 EG gestützt.56 Auch der EuGH hat in seinen Entscheidungen vereinzelt Art. 10 EG zur Begründung herangezogen.57 Das mag daran liegen, daß der Gerichtshof von einem allgemeinen Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung ausgeht,58 der neben dem Primärrecht auch sekundäres Gemeinschaftsrecht als Auslegungsmaßstab für nationales Recht umfaßt.59 In der Tat ist dann der Gedanke naheliegend, alle Spielarten der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung (zusätzlich) auf die Loyalitätsverpflichtung als gemeinsame Basis zurückzuführen.60 Indessen bedarf es – wie auch sonst – keines Rückgriffs auf die lex generalis des Art. 10 EG, wenn sich eine andere, speziellere Legitimationsgrundlage finden läßt.

55 Vgl. Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 56 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 46; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, S. 103; Klamert, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, S. 191; StreinzStreinz, Art. 10 EGV Rn. 16; Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10 EGV Rn. 40; Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 114. 57 EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, Slg. 1994, I-4661 Rn. 32 – 35; EuGH v. 26.9. 2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 Rn. 38 – 40; implizit EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4695 Rn. 31– 35. 58 Besonders deutlich EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114; GA Tizzano, Schlußanträge v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, (noch nicht in Slg.) Tz. 117. 59 Der Gerichtshof hat jüngst sogar Rahmenbeschlüsse i.S.v. Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU, die zum sekundären Unionsrecht zählen, in das Gebot gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts einbezogen, EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, (noch nicht in Slg.) Rn. 34, 38, 43, 47. 60 In diesem Sinne Zuleeg, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 163, 167; Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 268; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 104; Schwarze-Hatje, Art. 10 EGV Rn. 29.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

a)

Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben

Primärrecht ist anders als die Richtlinie nicht auf Umsetzung in innerstaatliches Recht angewiesen. Es ist – wenn es die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt – unmittelbar anwendbar. Ein Umsetzungswille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers, der das Gebot primärrechtskonformer Auslegung stützen könnte, ist nicht vorhanden. Anders liegen die Dinge, wenn der Gesetzgeber – etwa infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs – innerstaatliches Recht an primärrechtliche Vorgaben anpaßt. So hat beispielsweise der deutsche Gesetzgeber § 116 S. 1 Nr. 2 ZPO a.F., der nur inländischen juristischen Personen und parteifähigen Vereinigungen einen Anspruch auf Prozeßkostenhilfe einräumte und deshalb gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot und die Niederlassungsfreiheit verstieß,61 dahingehend geändert, daß ein solcher Anspruch auch ausländischen juristischen Personen und parteifähigen Vereinigungen zusteht, die in einem anderen EG-/EWR-Mitgliedstaat gegründet und dort ansässig ist. Ein zweites Beispiel dafür, daß Primärrecht den entstehungsgeschichtlichen Hintergrund einer nationalen Norm bilden kann, ist die Erfüllung grundfreiheitlicher Schutzpflichten durch den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber.62

Da in diesen Fällen ein Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers erkennbar ist, die primärrechtlichen Vorgaben zu verwirklichen, könnte man die primärrechtskonforme Auslegung auf den „Umsetzungswillen“ stützen. Indessen sieht sich dieser Begründungsansatz – ebenso wie die Überlegung, den Geltungsgrund des Gebots richtlinienkonformer Auslegung nur im Umsetzungswillen des Gesetzgebers zu sehen 63 – dem Einwand ausgesetzt, daß die gemeinschaftsrechtliche Dimension außer Acht bleibt, obwohl sie auch nach Anpassung des nationalen Rechts den Maßstab für die Beurteilung der Primärrechtskonformität des nationalen Rechts bildet. b)

Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens?

Ob sich der Systemgedanke als Legitimationsgrundlage für das Gebot primärrechtskonformer Auslegung eignet, hängt letztlich davon ab, ob Gemeinschaftsrecht und nationales Recht als ein System gedacht werden können. Zweifel bestehen insoweit als jedenfalls der EuGH annimmt, es handele sich um „zwei selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen“.64 Das schließt freilich nicht aus, daß über eine innerstaatliche Ermächtigungsnorm die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung begründet werden könnte. Die Pflicht zur Konformauslegung wäre das Ergebnis der Öffnung der nationalen Rechtsordnung für die supranationale Gemein-

61 Vgl. BR-Drs. 267/04, S. 12 ff. Im Schrifttum wurde deshalb bereits vor der Änderung für eine primärrechtskonforme Rechtsfindung plädiert, vgl. z.B. Heß, FS Jayme, Bd. I, S. 345 Fn. 46; Rehm, in: Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, § 5 Rn. 137. 62 Vgl. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 158. 63 Vgl. dazu Canaris, FS Bydlinski, S. 49 – 51. 64 Vgl. nur EuGH v. 6.4.1962 – Rs. 13/61 Kledingverkoopbedriif de Geus en Uitdenbogerd, Slg. 1962, 97, 110.

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§ 6.1 Die primärrechtskonforme Auslegung

schaft und würde auf nationalem (Verfassungs-)Recht – in Deutschland auf Art. 23 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG – beruhen.65 Eine Vorrangregel zugunsten der primärrechtskonformen Auslegung (unten 3.) ließe sich dann aber nicht annehmen. c)

Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität

Eine tragfähige Legitimation läßt sich aus dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht gewinnen. Kraft des Anwendungsvorrangs sind alle innerstaatlichen Organe befugt und verpflichtet, nationales Recht, das Gemeinschaftsrecht widerspricht, unangewendet zu lassen. Dann müssen sie erst recht befugt und verpflichtet sein, nationales Recht primärrechtskonform auszulegen.66 Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung ist damit eine Wirkungsform des Anwendungsvorrangs 67 und findet in ihm seine Grundlage.68 Die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten (Art. 10 EG) kann damit allenfalls ergänzend zur Begründung herangezogen werden. Zudem kann man die primärrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts mit der gebotenen Rücksichtnahme der Gemeinschaft und ihrer Organe auf die mitgliedstaatliche Souveränität – genauer: die Autorität des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers – begründen. Die primärrechtskonforme Auslegung vermeidet, daß der mitgliedstaatliche Gesetzgeber mit Normkorrekturen belästigt wird, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch die Gerichte erledigen können.69 Das haben die Gemeinschaftsorgane zu respektieren. Gegen diesen Ansatz läßt sich einwenden, daß von Gemeinschaftsrechts wegen gar kein Bedarf für eine primärrechtskonforme Auslegung besteht, weil sich unmittelbar anwendbares Primärrecht im Konfliktfall gegenüber nationalem Recht ohnehin durchsetzt und dadurch dem Anwendungsvorrang Rechnung getragen wird. So gesehen könnte dem Gemeinschaftsrecht nur ein Verbot primärrechtswidriger Auslegung, nicht aber ein Gebot primärrechtskonformer Auslegung entnommen werden.70 Dementsprechend wären die Ausführungen des EuGH 71 so zu verstehen, daß er den mitgliedstaatlichen Gerichten nur die Möglichkeit der primärrechtskonformen Auslegung einräumt, sich aber allein nach nationalem Recht richtet, ob die Gerichte dazu auch verpflichtet sind. Für die deutschen Gerichte ergibt sich diese Pflicht aus ihrer Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem Prinzip der Normerhaltung („favor legis“). Solange der semantische Entscheidungsspielraum der

65 Zutreffend Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 184 f. 66 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 213. 67 Vgl. Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 220 EGV Rn. 27. 68 Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 630; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 300; Metallinos, Die europarechtskonforme Auslegung, S. 174; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49. 69 S.a. Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 631f.; Frank, ZöR 55 (2000), 1, 32. 70 Vgl. Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 269. 71 S. Zitat im Text bei Fn. 48.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Norm eine primärrechtskonforme Deutung zuläßt, sind die Gerichte daran gehindert, diese unangewendet zu lassen.72 Indessen sprechen zwei Gründe dafür, daß die mitgliedstaatlichen Gerichte (auch) kraft Gemeinschaftsrechts zur primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet sind. Erstens folgt aus dem Übermaßverbot, daß das Gemeinschaftsrecht nicht mehr einfordern kann als zu seiner Durchsetzung tatsächlich erforderlich ist. Verglichen mit der Normverwerfung ist die primärrechtskonforme Auslegung das weniger einschneidende Mittel; sie verdient deshalb den Vorzug. Und zweitens ist es – gerade im Privatrecht – denkbar, daß nur die primärrechtskonforme Rechtsfindung, nicht aber die Nichtanwendung des nationalen Rechts einen Zustand herstellen kann, der den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts genügt. Dann aber liegt es doch im Interesse der Gemeinschaft, daß das nationale Gericht von der primärrechtskonformen Rechtsfindung Gebrauch macht.

3.

Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre

Im Verhältnis zu den übrigen (nationalen) Auslegungskriterien kommt der primärrechtskonformen Auslegung Vorrang zu. Methodologisch handelt es sich bei ihr um eine interpretatorische Vorrangregel.73 Läßt sich im nationalen Recht keine primärrechtskonforme Lösung finden, wandelt sie sich in eine derogatorische Vorrangregel, d.h. das Gemeinschaftsrecht verdrängt die primärrechtswidrige nationale Norm (unten 5. c). Die primärrechtskonforme Auslegung stellt – wie die richtlinienkonforme Auslegung 74 – einen eigenständigen Auslegungskanon dar. Das folgt schon daraus, daß die primärrechtskonforme Auslegung sich nicht in die herkömmlichen Kanones integrieren läßt. Anders als die primärrechtskonforme Auslegung des sekundären Gemeinschaftsrechts (oben I. 3.) läßt sie sich insbesondere nicht als Erscheinungsform der systematischen Auslegung verstehen.

4.

Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts

Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung erstreckt sich auf das gesamte mitgliedstaatliche Recht, das in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt. Es erfaßt das Sach- und Kollisionsrecht. Auch Verfassungsrecht muß im Einklang mit Primärrecht interpretiert werden.

72 Vgl. Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 269, der deshalb das Gebot gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung auf Art. 10 Abs. 2 EG und auf das nationale Gebot der Normerhaltung stützt. 73 Vgl. oben I. 3. 74 Vgl. Canaris, FS Bydlinski, S. 79 m.w.N.

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§ 6.1 Die primärrechtskonforme Auslegung

Die gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung bezieht sich nicht nur auf die lex fori, sondern auch auf das Recht anderer Mitgliedstaaten, denn der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts – auf dem das Gebot primärrechtskonformer Auslegung beruht (oben 2. c) – setzt sich auch gegenüber diesem durch.75 Eines Rückgriffs auf Art. 10 EG bedarf es deshalb nicht. Darin unterscheidet sich die primärrechtskonforme von der richtlinienkonformen Auslegung, die nicht auf dem Anwendungsvorrang beruht, sondern auf der Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten (Art. 249 Abs. 3 EG).76 Die Umsetzungsverpflichtung richtet sich allerdings an die Organe der jeweiligen Mitgliedstaaten. Deshalb bezieht sich die Pflicht der Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung immer nur auf die lex fori. Allenfalls über Art. 10 EG ließe sich begründen, daß die Gerichte auch verpflichtet sind, das Recht eines anderen Mitgliedstaats richtlinienkonform auszulegen.77 Die primärrechtskonforme Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats hat das Gericht nach den in diesem Staat maßgeblichen Methodenregeln vorzunehmen. Das schließt ggf. eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung des ausländischen Rechts ein. Läßt das ausländische Recht keinen Spielraum für eine primärrechtskonforme Rechtsfindung, so muß es unangewendet bleiben.78 In besonders gelagerten Fällen sollte es ausnahmsweise möglich sein, auf die lex fori zurückzugreifen, wenn nur dadurch ein gemeinschaftsrechtskonformer Zustand herbeigeführt werden kann. 5.

Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts

a)

Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts

Der EuGH verlangt von den nationalen Gerichten, daß sie das innerstaatliche Gesetz „soweit wie möglich“ 79 bzw. „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen ihr nationales Recht einräumt“ 80 in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auslegen müssen. In diesem Verweis auf das nationale Recht kommt zum Ausdruck, daß der Gerichtshof die in den Mitglied-

75 GA Alber, Schlußanträge v. 17.10.2002 – Rs. C-220/01 Lennox, Slg. 2002, I-7091 Tz. 82 – 84. 76 W.-H. Roth, unten, § 11; Canaris, FS Bydlinski, S. 52 – 62; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 29 – 32. 77 Vgl. zum Ganzen Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 640 f.; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 47; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 878 – 880; Gebauer, in: Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, S. 187, 191ff.; Pfeiffer, StudZR 2004, 171, 191f. 78 GA Alber, Schlußanträge v. 17.10.2002 – Rs. C-220/01 Lennox, Slg. 2002, I-7091 Tz. 83 f.; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 46. 79 EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, Slg. 1994, I-4661 Rn. 34; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Deutsche Post, Slg. 2000, I-932 Rn. 62; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 Rn. 39 f. 80 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/ 91 Colorell Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641 Rn. 58.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

staaten anerkannten Auslegungsmethoden respektiert. Dementsprechend variieren die methodologischen Grenzen der primärrechtskonformen Auslegung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. Zu den in der deutschen Methodenlehre anerkannten Rechtsfindungsmethoden gehört auch die Rechtsfortbildung. Deshalb müssen die deutschen Gerichte ggf. auch eine gesetzesimmanente Fortbildung des nationalen Rechts in Konformität mit Primärrecht in Betracht ziehen. Als Mittel der primärrechtskonformen Rechtsfortbildung kommen insbesondere der Analogieschluß und die teleologische Reduktion in Betracht.81 b)

Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts?

Anerkanntermaßen ist der Rechtsprechung ein contra-legem-Judizieren grundsätzlich verboten.82 Ob diese Grenze für die primärrechtskonforme Fortbildung nationalen Rechts gilt, ist zweifelhaft. Bedenkt man, daß die mitgliedstaatlichen Gerichte gemeinschaftsrechtlich befugt und verpflichtet sind, nationale Normen unangewendet zu lassen, die Gemeinschaftsrecht widersprechen, dann erscheint es folgerichtig, daß sie sich über die lex lata hinwegsetzen können. Da die Gerichte eine primärrechtswidrige nationale Norm kraft eigener Zuständigkeit unangewendet lassen müssen, ohne daß es der Durchführung eines Vorlageverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG bedarf,83 besteht keine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Normderogation, auf die Rücksicht zu nehmen wäre. Auf der Grundlage des Anwendungsvorrangs ließen sich auch die weiteren Hürden für ein zulässiges contralegem-Judizieren – die Prinzipien der Volkssouveränität und des (subjektiven) Vertrauensschutzes 84 – argumentativ überwinden. Andererseits darf nicht verkannt werden, daß die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung contra legem über den Anwendungsvorrang insoweit hinausgeht als der Richter einen Rechtssatz umbildet oder kreiert, wohingegen der Anwendungsvorrang nur bewirkt, daß ein Rechtssatz unangewendet bleibt. Hält man eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung contra legem für zulässig, wäre auch die Annahme, der EuGH respektiere die in den Mitgliedstaaten anerkannten Rechtsfindungsmethoden (oben a), nicht zutreffend oder jedenfalls zu relativieren. Soweit das nationale Recht keinen Spielraum für eine primärrechtskonforme Rechtsfindung (Auslegung und Rechtsfortbildung) läßt, muß es unangewendet bleiben 85 81 S.o. I. 5. c). 82 S. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 245 ff. 83 Vgl. z. B. EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Simmenthal, Slg. 1978, 629 Rn. 24; BVerfGE 31, 145, 174 f. 84 Eingehend Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 140 ff. 85 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/ 91 Colorell Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29; EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, Slg. 1994, I-4661 Rn. 34; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Deutsche Post, Slg. 2000, I-932 Rn. 62; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 Rn. 39 f.; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641 Rn. 58.

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§ 6.1 Die primärrechtskonforme Auslegung

und wird lückenhaft 86. Die durch den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gerissene Lücke im nationalen Recht ist in primärrechtskonformer Weise zu schließen. Ebendies hat jüngst das BAG entschieden.87 Das BAG stellte fest, daß eine Bestimmung eines Tarifvertrages mit Art. 39 EG unvereinbar und deshalb unanwendbar ist. Die entstandene Regelungslücke könne und müsse unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens der Tarifvertragsparteien geschlossen werden. Auf diese Weise gelangte das Gericht zu einer den Anforderungen des Art. 39 EG genügenden Lösung. Die Möglichkeit einer grundfreiheitenkonformen Auslegung der Tarifnorm hat das BAG offengelassen, da diese zu demselben Ergebnis geführt hätte. Die Entscheidung zeigt, wie der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts mitgliedstaatliche Gerichte dazu verführt, sich voreilig von ihrer Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) loszusagen und gegen das Prinzip der Normerhaltung zu verstoßen.

86 87

Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 15. BAG, DB 2005, 2248, 2249.

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Diskussionsbericht Alexander v.Vogel Rebhahn eröffnete die lebhaft geführte Diskussion, indem das Referat von Pechstein in zwei Punkten kritisch hinterfragte. So bezweifelte er die These, daß sich der EuGH bei der Rechtsfindung regelmäßig auf im Wege der Rechtsvergleichung gewonnene Erkenntnisse stütze. Gerade bei bahnbrechenden Entscheidungen des Gerichtshofs sei eine entsprechende Grundlage in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten häufig nicht erkennbar. Als Beispiel führte er die Francovich-Entscheidung (v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 und C-9/90) zum gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch an. Ein Schadensersatzanspruch wegen verfassungswidriger Gesetzgebung sei den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen seines Wissens bis dato fremd gewesen. Mit seiner zweiten Frage zielte Rebhahn auf die Aussage von Pechstein ab, daß es einem jeden Mitgliedstaat unbenommen bleibe, auf eine entsprechende Vertragsänderung zu drängen, falls er mit der Rechtsfortbildung durch den EuGH nicht einverstanden sei. Dies stimme so nicht, da für eine Vertragsänderung eine beträchtliche Stimmenzahl erforderlich sei. Demgegenüber genüge schon eine verhältnismäßig kleine Fraktion, um den status quo aufrechtzuerhalten. Exemplarisch führte er die von Österreich forcierte Debatte um die bestehenden Transitregelungen an. Es sei hier äußerst schwierig, eine Mehrheit zu organisieren, da zahlreiche Mitgliedstaaten wegen mangelnder Betroffenheit keine Initiative erkennen lassen würden. In seiner Antwort räumte Pechstein ein, daß die Rechtsvergleichung zugegebenermaßen nur einen ersten Ansatz für die Rechtsfindung durch den EuGH bilde, im übrigen sei eine klare Dominanz teleologischer Erwägungen nicht zu verkennen. Bei der Frage der Möglichkeit einer Vertragsrevision sei er indessen anderer Meinung: Sofern von Seiten der Mitgliedstaaten keinerlei Widerspruch gegen neue Rechtsprechungstendenzen des EuGH erhoben werde – wie etwa im Falle Francovich – könne dies unabhängig von der tatsächlichen Durchsetzbarkeit einer Vertragsänderung durchaus als Indiz für ein stillschweigendes Einverständnis mit der Praxis des EuGH gewertet werden. Schwartze bezog sich in seiner Wortmeldung auf die Ausführungen von Köndgen zu den Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts und wies auf einige Lücken hin, die ihm bei der Darstellung aufgefallen seien. Seines Erachtens könne der Rechtsprechung des EuGH wegen ihrer Bindungswirkung jedenfalls der Rang einer „Quasi-Rechtsquelle“ zugewiesen werden. Des weiteren habe er eine Stellungnahme zur Frage der Rechtsquellennatur des Gewohnheitsrechts im Gemeinschaftsrecht vermißt. Köndgen entgegnete hierauf, daß das Gewohnheitsrecht in der Rechtsquellenlehre heute praktisch keine Rolle mehr spiele, da die Zeitabläufe mittlerweile allzu kurzatmig seien und die opinio iuris gerade im Gemeinschaftsrecht viel zu fragmentiert sei. Statt dessen komme dem Richterrecht als „unehelichem

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Diskussionsbericht

Kind des Gewohnheitsrechts“ immer größere Bedeutung zu. Ergänzend führte er aus, daß vereinzelt zwar gemeinsame Rechtsprinzipien in allen Mitgliedstaaten existierten, etwa das Verhältnismäßigkeitsprinzip und der Bestimmtheitsgrundsatz. Diese Prinzipien würden sich im Detail jedoch durchaus unterscheiden und seien im übrigen zu allgemein, um als Rechtsquelle dienen zu können. Baldus lobte die Darstellung der primärrechtskonformen Auslegung durch Domröse, der Leible wegen dessen kurzfristiger Verhinderung vertrat, und machte einige ergänzende Anmerkungen. Bei der richtlinienkonformen Auslegung ausländischer Normen durch nationale Gerichte müsse man die Haftungsfrage seiner Meinung nach folgendermaßen entscheiden: Sofern der Gemeinschaftsrechtsverstoß auf einer unzutreffenden Interpretation der ausländischen Norm beruhe, hafte der Mitgliedstaat des erkennenden Gerichts. Sei die Norm indes richtig interpretiert worden, so hafte der normerlassende Mitgliedstaat. An Köndgen gewandt vertrat er die Ansicht, daß es aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive irrelevant sei, ob ein konkretes Rechtsverhältnis nach nationalem Recht dem Privatrecht oder dem öffentlichen Recht zuzuordnen sei. Die Unterscheidung hänge häufig von nationalen Besonderheiten ab und sei daher letztlich zufällig. Beispielhaft führte er das portugiesische Lauterkeitsrecht an, daß überwiegend gar auf strafrechtliche Sanktionen zurückgreife. Im Gemeinschaftsrecht interessiere nur der effet utile, das anvisierte Ziel, nicht hingegen die Einordnung in bestimmte Rechtsgebiete. Auf Nachfrage aus dem Publikum betonte Pechstein den Unterschied zwischen hoheitlichen Dreieckskonstellationen einerseits und der klassischen Privatrechtskonstellation andererseits. So greife der Staat im Privatrechtsverhältnis nicht hoheitlich ein. Beide Fallgruppen müßten daher sauber auseinandergehalten werden. So habe etwa dem Urteil des EuGH in Sachen Wells (v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02) gerade kein reines Privatrechtsverhältnis, sondern eine behördliche Umweltverträglichkeitsprüfung im hoheitlichen Dreiecksverhältnis zugrunde gelegen. Im Ergebnis habe der EuGH hier ausgesprochen, daß bei der Frage nach der unmittelbaren Anwendung von Richtlinien zwischen Rechtseingriff und bloßem Rechtsreflex zu unterscheiden sei. Zwar sei ein Eingriff nicht hinzunehmen, dessen Rechtsreflex hingegen sehr wohl („klares jein“). Köndgen stimmte seinem Vorredner in diesem Punkt zu. Es seien auch weitere Fälle denkbar, in denen die Frage eines hoheitlichen Eingriffs schwer zu beurteilen sei, wie etwa bei Störungen im Nachbarschaftsverhältnis, die weder eindeutig dem Öffentlichen Recht noch dem Privatrecht zugeordnet werden könnten. Anders sehe es etwa im Vertragsrecht aus. Grundmann wies auf den Aspekt der Entstaatlichung des Rechtssetzungsprozesses hin, wobei er die Entwicklung auf dem Gebiet der internationalen Rechnungslegungsstandards sowie das ursprünglich für den Wertpapierbereich entwickelte Lamfalussy-Verfahren als Beispiele anführte. Diese Variante der Rechtssetzung könne im Gemeinschaftsrecht auf eine lange Tradition zurückblicken. An Köndgen gerichtet stellte er die Frage, wie der Regelerlaß durch private Rechtssetzer einerseits und Verwaltungsrechtssetzer andererseits rechtsquellentheoretisch einzuordnen sei. Dieser entgegnete hierauf, daß insoweit drei ganz verschiedenen Regelungstechniken unterschieden werden müßten: Lamfalussy betreffe eine hochtechnische, Alexander v. Vogel

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2. Teil: Allgemeiner Teil

komplexe Materie, die daher naturgemäß nur von Verwaltungsexperten – wenn auch unter gemeinschaftsrechtlicher Oberhoheit – normiert werden könne. Diese Regelungstechnik werde daher voraussichtlich auch auf den Bereich des klassischen Aufsichtsrechts beschränkt bleiben. Davon zu unterscheiden seien die „codes of conduct“, wie sie etwa im Bereich der Wohnungsbaukredite oder bei den Spitzenverbänden des Kreditgewerbes Verwendung fänden. In diesem Bereich seien auf der Grundlage privater Selbstverpflichtung Sicherungsfonds entstanden. Hoheitliche Eingriffe im Wege gesetzlicher Regelungen sollten nur erfolgen, wenn die Selbstverpflichtung Privater nicht funktioniere. Als Beispiel für die dritte Regelungsmöglichkeit nannte er die Principles of European Contract Law (besser bekannt als „Lando-Principles“), die eine lose Zusammenfassung rechtlicher Regelungen ähnlich dem Sachsenspiegel darstellten. Der Restatement-Gedanke habe sich hier vorhersehbarerweise nicht mißbrauchen lassen können, da die Principles – anders als die Restatements nach amerikanischem Vorbild – neben die nationalen Rechtsordnungen träten.

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Abschnitt 3 Sekundärrecht § 7 Systemdenken und Systembildung Stefan Grundmann Übersicht I. Einleitung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  II. Gesamtsystem   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Zweiebenensystem   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Phänomen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft   .  2. Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Eckpunktemodell   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Alternativmodell   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Modell der materiellen Freiheit   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materieller Freiheit   .  b) Beispiele   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Einführung zu den Einzelgebieten   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz   .  a) Vertragsrechtsregulierung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Wettbewerb der Formen?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Besonderes Gewicht des Informationsmodells   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Überblick zu weiteren Systemgedanken   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  IV. Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften   .  .  .  .  a) Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften   .  .  .  .  .  .  b) Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften   .  .  .  2. Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Wettbewerb der Formen  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Kompatibilität der Formen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Generalisierbarkeit?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Besonderes Gewicht des Informationsmodells  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  V. Ausblick   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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2. Teil: Allgemeiner Teil

I.

Einleitung

Dem Herausgeber liegt das Thema „Systembildung“ am Herzen, er hat es für das Europäische Vertragsrecht so durchdrungen, daß jede zukünftige Diskussion nur auf der Grundlage seiner Monographie geführt werden kann.1 Zuletzt hat er die bekannte Umschreibung des geltenden Europäischen Privatrechts – im Sinne eines Gemeinschaftsprivatrechts – als „pointillistisch“ 2 feinfühlig umgewertet: Bilder des Pointillismus, etwa eines Seurat, erschließen sich erst durch Zurücktreten, doch dann als höchst kunstvolle Ensembles.3 In der Tat kann die dogmatische Durchdringung des Regelbestandes eines Gebiets, der Nachweis relativ großer Stimmigkeit, hier auch nicht ansatzweise geleistet werden (vgl. oben, I. mit Fn. 1). Systembildung im Europäischen Privatrecht kann hier nur heißen: das Gesamtsystem beleuchten (unten II.) und dann zwei Teilgebiete gerade auch mit der Überlegung in den Blick nehmen, ob nicht gar über die Gebiete hinweg gemeinsame Strukturen zu sehen sind. Dafür erscheinen die beiden zentralen privatrechtlichen Organisationsformen – Vertrag und Gesellschaft – 4 besonders prädestiniert (unten III. und IV.).

II.

Gesamtsystem

1.

Zweiebenensystem

a)

Phänomen

Geht man vom äußeren System aus, so fällt zunächst auf, daß auch in den stark harmonisierten oder vereinheitlichten Gebieten zentrale und dezentrale (d.h. idR nationale) Regelung nebeneinander tritt und eng mit einander verwoben ist. Dafür hat sich der Begriff eines Zweiebenensystems eingebürgert, obwohl natürlich die Wahl nicht nur zwischen zentral und dezentral gesetzten Regelungskomplexen eröffnet sein kann, sondern zwischen verschiedenen dezentral gesetzten Regelwerken und auch Kombinationen derselben (etwa Ltd. & Co. KG). Ein Zweiebenensystem in die-

1 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts. Eigentlich liegt darin, wenn man die Bemühung um einen Gemeinsamen Referenzrahmen beim Wort nimmt, schon weit gehend die Antwort auf die dort gestellten Fragen. Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht, ein Aktionsplan vom 12.2.2003, KOM(2003) 68 endg., ABl. 2003 Nr. C 63/1; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen, KOM(2004) 651 endg.; für das zweite hier behandelte Teilgebiet, das Gesellschaftsrecht, zuletzt: Jung, GPR 2004, 233; in der Sache auch Grundmann, ZIP 2004, 2401. 2 Kötz, RabelsZ 50 (1986) 1, 5, dort natürlich kritisch gemeint. 3 Riesenhuber, ERCL 1 (2005), 297– 322. 4 Grundlegend zur Alternative zwischen diesen beiden Organisationsformen: Coase, The Theory of the Firm, Economica 4 (1937), 386; Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, S. 8 f.; Eidenmüller, JZ 2001, 1041, 1042; Hart, Firms, Contracts, and Financial Structure, S. 6 – 8, S. 15 – 55. Beide schon als Hauptalternativen in den Blick genommen in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts.

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Stefan Grundmann

§ 7 Systemdenken und Systembildung

sem Sinne findet sich sicherlich in den Fällen des Vertrags- und des Gesellschaftsrechts (mit Kapitalmarktrecht).5 Zweiebenensysteme gibt es nicht nur in Europa, das Zweiebenensystem in Europa ist freilich doch von recht eigener Art. Charakteristisch ist hier, daß die Regeln, die auf zentraler Ebene gesetzt wurden, nicht ein Rechtsgebiet (weitgehend) erschöpfen, die Regeln, die auf dezentraler Ebene gesetzt wurden, dann ein anderes. Vielmehr wirken beide Ebenen regelmäßig auch in den einzelnen Fragen jeweils zusammen, etwa, wenn die Hauptversammlungszuständigkeit, wie häufig, in der Richtlinie vorgesehen wird, die Mehrheit aber im nationalen Recht, vielleicht wiederum mit einer Minimumregel in der Richtlinie, oder etwa, wenn das Bestehen eines Rückgriffsrechts in der Absatzkette in der Richtlinie vorgesehen wird, seine Abdingbarkeit jedoch und mögliche Ersatzinstrumente dem nationalen Recht überlassen werden, oder auch, wenn die Einbeziehung von AGBs den nationalen Rechten überantwortet wird, das Zentralkriterium für die Inhaltskontrolle in der Richtlinie zu finden ist, und der detaillierte Katalog mißbräuchlicher Klauseln dann in der Richtlinie als evtl. unverbindlicher „Hinweis“ formuliert wird, die Festlegung dann wieder dem nationalen Recht überlassen wird. Und genereller ist auf die regelmäßig bestehende Möglichkeit der Mitgliedstaaten hinzuweisen, strengeres Recht im Anwendungsbereich und sogar in den Regelungsfragen der Richtlinie zu erlassen. Das Bild ist durchaus anders als etwa in den USA, in denen ebenfalls ein Zweiebenensystem zu finden ist. Der UCC als Modellgesetz ist doch immer eine Materie für nur eine Art Vertragsbeziehung – b2b – geblieben und stellt für diese inzwischen flächendeckend auch das Gliedstaatenrecht dar.6 Und im Gesellschaftsrecht ist praktisch nur das Kapitalmarktrecht auf zentraler, d.h. Bundesebene geregelt, dann aber deutlich erschöpfender noch immer als in Europa. Das Europäische Verschränkungsmodell ist sicherlich komplexer, zumindest theoretisch hat es jedoch auch Vorteile. Insbesondere erlaubt es, auch innerhalb einzelner Rechtsgebiete danach zu unterscheiden, bei welchen Regeln eine zentrale Setzung vorteilhafter ist, bei welchen eine dezentrale, also die Erkenntnisse der Föderalismustheorie („Wettbewerb der Regelgeber“) auch wirklich ernst zu nehmen.7

5 Zu beiden Teilgebieten die Beiträge unten §§ 13 und 15. Eine Ausnahme bildet nur das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das von Anbeginn an für so wichtig gehalten wurde, daß es vor allem Europäisch verfaßt sein sollte, und das angesichts der de facto-Angleichung auch der nationalen Wettbewerbsrechte, wo sie noch Anwendung finden, in der Tat vor allem Europäisch ist. Für diesen letzten Schritt in Deutschland, vgl. die 7. GWB-Novelle, 2005; dazu etwa Bechtold, DB 2004, 235; Kahlenberg, BB 2004, 389. 6 Garner (Hrsg.), Blacks Law Dictionary, S. 1531 und bereits Mentschikoff, The Uniform Commercial Code, RabelsZ 30 (1966), 403. 7 Esty/Geradin, Journal of Economic Law 2000, 235, 240 f.; Gatsios/Holmes, in: Newman (Hrsg.), The new Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 1, S. 273 – 275; Häuser/Hösli, Außenwirtschaft 46 (1991), 497; Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), An Academic Greenpaper on European Contract Law, S. 296 – 306; Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen, S. 84 – 87 (in Englisch Kerber, Fordham Int’l LJ 23, 217); Siebert/Koop, Außenwirtschaft 45 (1990), 439; Woolcock, in: Bratton (Hrsg. u.a.), International Regulatory Competition and Coordination, S. 298 f.

Stefan Grundmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

b)

Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft

Daß Vor- und Nachteile von zentraler und dezentraler Regelsetzung von Rechtsgebiet zu Rechtsgebiet divergieren, ist eine Selbstverständlichkeit. Natürlich sind die Vorteile zentraler Regelsetzung im Vertragsrecht ungleich eingängiger als etwa im Familienrecht. Umgekehrt sind die Nachteile zentraler Regelsetzung, wenn eine solche etwa in der Versteinerungsgefahr gesehen wird, offensichtlich größer in Rechtsgebieten, in denen zwingendes Recht vorherrscht, als in solchen, in denen das nicht der Fall ist. Wie bereits ausführlich dargelegt, ist jedoch m.E. Gleiches innerhalb der Rechtsgebiete zu konstatieren.8 Und selbstverständlich wirken faktische Umstände bei der Bewertung mit, etwa die Frage, welche Professionalität die Entscheidungsträger haben und wer denn konkret die Entscheidungsträger sind, nach Meinung mancher auch, ob denn die jeweiligen Gesetzgeber durch Wahl ihres Rechts Steuereinkünfte generieren können oder nicht.9 Hingegen handelt es sich bei der Frage, ob denn Rechtswahlfreiheit besteht,10 nicht um solch einen die Bewertung beeinflussenden Umstand. Vielmehr ist Einräumung von Rechtswahlfreiheit ein Mittel zur Förderung dezentraler Regelsetzung, mit Einräumung einer solchen wird also eine Antwort auf die Ausgangs- und Hauptfrage gegeben. Wichtig ist jedoch, daß innerhalb jedes Rechtsgebiets die Vorteile oder die Nachteile zentraler Regelung für einen Teil der Regeln überwiegen und für einen anderen Teil geringer wiegen können und auch die Gesamtabwägung von Regel zu Regel desselben Rechtsgebiets verschieden ausfallen kann. Die Folge ist, daß etwa im Vertragsrecht für manche Regeln eine Harmonisierung zu begrüßen ist, für andere nicht. Und exakt dies entspricht bekanntlich der derzeitigen Praxis. Die Entscheidung zugunsten von Harmonisierung oder zuungunsten mag im Einzelfall verkehrt getroffen worden sein. Der Systemansatz ist jedoch zunächst einmal überzeugend (sieht man hier noch von Schwierigkeiten des Zusammenspiels beider Ebenen ab, die jedoch im bestehenden Gemeinschaftsrecht durchaus auch bedacht werden, vgl. unten). Vergleichbares wird dann zu entscheiden sein, wenn ein Optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex erlassen werden sollte. Dann stellt sich nicht nur die Frage, ob opt-in oder opt-out für die eine oder andere Regelgruppe oder Konstellation vorzugswürdig ist, sondern auch die Frage, ob manche Regelgruppen einheitlich sein

8 Für das Vertragsrecht: Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), An Academic Greenpaper on European Contract Law, S. 296 – 306; für das Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht: Grundmann, in: Ferrarini u.a. (Hrsg.), Capital Markets in the Age of the Euro – Cross-Border Transactions, Listed Companies and Regulation, S. 561 = Grundmann, ZGR 2001, 783. 9 Merkt, RabelsZ 59 (1995) 543, 553 f.; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im europäischen Binnenmarkt, 88f. Für Delaware wird dies als maßgeblicher Systembaustein in den USA implizit oder explizit recht allgemein angenommen: bahnbrechend Winter, J.Leg.Stud. 6 (1977), 251; Romano, 1 J Law Econ Organ 1985, 225. 10 Bekanntlich lange Zeit im Europäischen Gesellschaftsrecht als gering eingestuft, vgl. Nachw. vorige Fn.; a.A. Grundmann, ZGR 2001, 783, 808 ff., 819 ff., 828 ff.

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§ 7 Systemdenken und Systembildung

müssen – im Europäischen Kodex ebenso wie in den wahlweise zur Verfügung stehenden Mitgliedstaatsrechten („Europe only“) – oder ob eine Regel auf zentraler Ebene eben nur im Europäischen Kodex zu finden ist, nicht auch in den alternativ zur Wahl stehenden Mitgliedstaatsrechten.11 Die wichtigsten Regelungsgruppen im Vertragsrecht, die unterschiedlich zu bewerten sind, sind m.E.: dispositive Normen, zwingende inhaltsgestaltende Normen und – zwischen beiden – zwingende, jedoch nur die Informationsweitergabe anordnende Normen (vgl. Nachw. Fn. 11). Während es offensichtlich erscheint, daß eine Vielzahl anderer Präferenzen und Experimentiermöglichkeiten bei zentraler Setzung von zwingenden inhaltsgestaltenden Normen ungleich stärker beschränkt werden als bei zentraler Setzung von dispositiven Normen, verdient die zentrale Setzung von zwingenden Informationsregeln eine besondere Bewertung: Hier ist die zentrale Setzung nicht so schädlich wie bei inhaltlich zwingenden Regeln, weil die Gestaltungsvielfalt im Inhaltlichen erhalten bleibt (und damit die Möglichkeit, heterogene Präferenzen zu bedienen und zu experimentieren); umgekehrt sind die Vorteile zentraler Setzung hier besonders groß, da diese u.a. auch in der Erleichterung der Information gesehen werden und hierfür ist Vergleichbarkeit – also die Setzung einheitlicher Standards – besonders wichtig. Das Kollisionsrecht bildet in dieser Sicht eine Rahmenordnung – eine Verfassung –, mit der darüber entschieden wird, ob und in welchem Maße Privatrechtssubjekte einem einzigen Recht unterworfen werden oder Wahlfreiheiten haben … wobei auch bei Wahlfreiheit beispielsweise ein Mindestsockel allgemein verbindlich sein mag, also Wahlfreiheit mit Zwang zu einem Recht verbunden wird. Noch weiter ginge eine Anerkennung aller Mitgliedstaatenrechte auf der Grundlage gegenseitigen (praktisch) unbegrenzten Vertrauens. Dies ist weitgehend der Zustand im US-amerikanischen Gesellschafts- und auch Vertragsrecht. Die bisherigen Überlegungen sind jedoch geeignet, Zweifel zu säen, ob dies denn tatsächlich eine überlegene Lösung darstellen würde. Die Vorteile zentraler Regelsetzung könnten dann nämlich nicht mehr bewußt mit den Vorteilen von miteinander konkurrierenden Einzelrechten kombiniert werden. Gerade Letzteres scheint der interessante Punkt am Europäischen Systemansatz, der es verdient, intensiv fortgedacht zu werden.

2.

Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell

a)

Eckpunktemodell

Das zum Zweiebenensystem Gesagte legitimiert offensichtlich eine Lösung, in der auf zentraler Ebene nur Einzelfragen geregelt werden und zwar in jedem Rechtsgebiet bei gleichzeitiger Präsenz auch dezentraler Regelungen und Regelungsfelder.

11 Zu diesen Möglichkeiten: Basedow, ZEuP 2004, 1; Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), An Academic Greenpaper on European Contract Law, S. 296 – 306; Müller, EuZW 2003, 683; Sinai, EBLR 15 (2004), 47.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Dies kann mit dem Begriff eines Eckpunktemodells auf zentraler Ebene umschrieben werden. Verbreitet ist freilich für das Gemeinschaftsprivatrecht auch die Sicht, daß zwar in der Tat nur einzelne Punkte auf zentraler Ebene geregelt wurden, deren Auswahl jedoch nicht oder nur zufällig einer sinnvollen Strategie folgen. Ob diese Sicht zutrifft oder eine sinnvolle Auswahl an Eckpunkten getroffen wurde, kann – je nach Ansatzpunkt – eigentlich nur für jeden Rechtsakt oder gar jede Norm konkret diskutiert werden. Jedenfalls muß für eine einigermaßen konkrete Antwort auf die Ebene je eines einzelnen Rechtsgebiets heruntergestiegen werden (vgl. daher unten III. und IV., jeweils unter 1.). Und selbst dann sind durchaus unterschiedliche Antworten möglich: Man kann wiederkehrende Leitlinien herausarbeiten und darin dann legitimerweise System erkennen; unabhängig davon bleibt jedoch die Zuspitzung auf die (durchaus noch anders gelagerte) Frage interessant, ob denn gezielt jeweils in den Punkten harmonisiert wird, in denen sich zentrale Regelsetzung (nach den Erkenntnissen der Föderalismustheorie) besonders anbietet. Auch dann ist von System zu sprechen. An dieser Stelle kann zunächst nur betont werden, daß Riesenhuber jedenfalls für das Vertragsrecht m.E. das nahezu flächendeckende Wiederkehren von Leitlinien, Modellen und Prinzipien eindrucksvoll belegt hat.12 Zugleich kann auch schon als Quintessenz vorweggenommen werden, daß m.E. in der Tat eine durchaus bewußte Verteilung zwischen zentraler und dezentraler Regelsetzung zu beobachten ist, die zudem zu einem Gutteil auch der Idee optimaler Nutzung von Vorteilen und Meidung von Nachteilen folgt. Weiter muß an dieser Stelle bereits allgemeiner betont werden, daß die Frage, wann denn Zentralität der Regelsetzung funktional wichtig ist, auch im EG-Vertrag den zentralen Ausgangspunkt bildet. Dies ist jedenfalls auf der Primärrechtsebene so, denn diese Frage bildet das maßgebliche Kriterium für die Zuordnung von Kompetenzen sowohl in Art. 95 EG als auch in Art. 44 Abs. 2 lit. g EG, jeweils i.V.m. Art. 5 Abs. 2 und 3 EG. Und dies sind die Kompetenzgrundlagen, auf denen das Europäische Vertragsrecht, Gesellschaftsrecht und Kapitalmarktrecht, jedenfalls die Harmonisierung, ausschließlich gründet. Abgestellt wird in allen Kompetenzgrundlagen darauf, daß zentrale Regelsetzung Skalenerträge auf Grund Vergrößerung der geographischen Betätigungsgebiete fördert und dies in spürbarer effizienterer Weise, als dies durch dezentrale Regelsetzung möglich wäre. b)

Alternativmodell

Zunehmend findet sich im Europäischen Recht ein Alternativmodell zum nationalen Recht. Zwei Formen sind zu beobachten (zur Durchführung im Vertrags- und Gesellschaftsrecht dann unten III. und IV. jeweils unter 2.). Zunächst sind dies die Komplexe des Gemeinschaftsprivatrechts, die parallele Rechtsformen oder Regelwerke bereitstellen. Als erstes wurde an eine Europäische

12

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Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts.

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§ 7 Systemdenken und Systembildung

Aktiengesellschaft gedacht, damals in der Tat als voll ausformuliertes Modell.13 Bekanntlich ist die verabschiedete Fassung jedoch nur in Fragen der Gründung weitgehend vollständig, während sonstige Fragen weit überwiegend durch Verweis auf das Sitzstaatrecht geregelt werden und nur einige Eckpunkte wirklich Europäisch festgelegt werden.14 Deswegen wird die Societas Europaea (SE) vor allem als Instrument der (zweifelsfreien Durchführung einer) grenzüberschreitenden Sitzverlegung und Fusion gesehen, weniger als echtes Alternativmodell. Deutlich dichter ist die Europäische Regelung noch bei der Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), die freilich kaum Bedeutung erlangte und bei der man ebenfalls nicht ganz ohne Verweis auskam. Ein wirklich vollständiges Regelwerk wird dann jedoch für einen zukünftigen optionalen Vertragsrechtskodex gefordert. Und all dies ist und wäre durchaus anders als etwa aus dem US-amerikanischen Recht bekannt. Es geht hier gerade nicht um Modellgesetze, die, wie etwa beim UCC, ein (Mit-)Gliedstaat übernehmen kann oder nicht. Das Wahlrecht liegt bei den Parteien, die Wahlfreiheit wird kraft Europäischen Rechts begründet und zielt dann (auch) auf ein europaweit geltendes Regelwerk. Unterschiede im Ergebnis verbleiben freilich nur, wenn dem Regelwerk auch für den Inlandsfall Anwendbarkeit verliehen wird. Denn im grenzüberschreitenden Fall – in den USA im interstate-Fall – können Parteien auch ein Modellgesetz, das der einzelne (Mit-)Gliedstaat nicht übernommen hat, kraft Rechtswahl (kollisionsrechtlicher Parteiautonomie) zur Anwendung bringen … auch wenn der Fall primär Bezüge zum fraglichen Gliedstaat haben sollte. Bei der zweiten Form ist der Einfluß des Gemeinschaftsrechts ein anderer, stärker vermittelt. Hier eröffnet das Gemeinschaftsrecht nur ein Wahlrecht. Grundlage sind die Grundfreiheiten. Für das Gesellschaftsrecht bedeutete dies eine Revolution.15 Die Wahlfreiheit zielt dann jedoch auf ein Regelwerk nicht Europäischen Ursprungs, sondern in einem anderen Mitgliedstaat, etwa englisches Recht der Private Limited Company (Ltd.). Und dies ist in der Wirkung etwa der full faith and credit clause sowie der commerce clause im US-amerikanischen Verfassungs-, Handelsund Gesellschaftsrecht 16 doch sehr weitgehend vergleichbar. Der Unterschied liegt 13 Vorschlag einer Verordnung des Rates für das Statut für Europäische Aktiengesellschaften vom 30.6.1970, ABl. 1970 Nr. C 124/1 = KOM(70) 600 endg.; Stellungnahmen ABl. 1974 Nr. C 93/ 22 (Europäisches Parlament), 1972 Nr. C 131/32 (Wirtschafts- und Sozialausschuß); ausführlich zu diesem Stadium: Lutter (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft. Angestoßen durch Sanders, AWD (RIW) 1960, 1 (auch verantwortlich für den Entwurf); Thibièrge, Le statut des sociétés étrangères, S. 270 ff., 360 ff.; Ulmer, Wege zu europäischer Rechtseinheit, Münchener Universitätsreden (14.11.1959), N.F. 26, S. 12. 14 Vor allem die Hauptversammlungskompetenz bei Satzungsänderungen und das Wahlrecht der Gesellschaft, das Leitungsorgan ein- oder zweistufig auszubilden. Zur Societas Europaea vgl. etwa Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 29; Hirte, NZG 2002, 1; Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft; Neye (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft; Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft. 15 Maßgeblich sind: EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 Centros, Slg. 1999, I-1459; EuGH v. 5.11. 2002 – Rs. 208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919; EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. 16 Zu diesen Schapiro/Buzbee, Cornell Law Review 88 (2003), 1199; Hay, RabelsZ 35 (1971), 429 (485 – 489).

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2. Teil: Allgemeiner Teil

vor allem darin, daß der jeweilige Mitgliedstaat auf Grund des Vorbehalts zwingender Gründe des Allgemeininteresses wohl doch noch (etwas) weiter gehend die Möglichkeit hat, berechtigten Schutzinteressen, für die er sich einsetzt, die jedoch (noch) nicht auf zentraler Ebene geschützt werden, zum Durchbruch zu verhelfen.17

3.

Modell der materiellen Freiheit

a)

Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materieller Freiheit

Inhaltlich bildet das allgemeingültigste Systemprinzip im gesamten Europäischen Privatrecht wohl das, daß danach gestrebt wird, materielle – nicht nur formale – Freiheit möglichst weitgehend zu verbürgen. Damit steht das Europäische Privatrecht zwischen einem neoliberalen Grundansatz, soweit dieser freiheitserhaltende Regeln für weitgehend überflüssig hält, und interventionistischen Ansätzen, die verstärkt auf inhaltlich zwingende Vorgaben setzen. Grundidee hierbei ist, daß vor allem Informationsungleichgewichte ausgeglichen werden … dann aber die Verarbeitung und Nutzung der Information. Zentrales Instrument sind daher die Informationsregeln (näher unten III. und IV., jeweils unter 3.). Dies bedeutet mehrerlei: daß das Modell auch Verlierer haben kann, wobei jedoch zu zeigen sein wird, daß Grenzen bei existentiellen Verlusten gezogen werden müssen und wurden (vgl. unten Beispiele); daß das Modell im Grundsatz durchaus auf Eigenverantwortung setzt und damit Chancen bei denen (auch etwa Verbrauchern) mehrt, die sich dem stellen; und daß das Modell sicherlich einem institutionenökonomischen Regulierungsansatz nahe steht, der – pragmatisch – sich nicht darauf beschränkt, die jeweils bestehenden Institutionen zu kritisieren, sondern auch als Voraussetzung für eine Änderung postuliert, daß eine bessere Alternative aufgezeigt wird, und der zugleich regulierende Eingriffe an mehrere Bedingungen knüpft, namentlich: daß Versagen oder suboptimale Wirkung des Marktmechanismus nachgewiesen sein müssen; und daß zugleich aufgezeigt werden muß, daß Regulierung wohl bessere Ergebnisse zeitigen wird als das Hinnehmen des suboptimalen Marktprozesses, mit anderen Worten: daß auch ein gutes Mittel der Regulierung mit genügend Sicherheit angenommen werden kann (trotz all der Probleme von Regulierung wie rent seeking oder Wissensproblemen beim Regulierer). Mit all dem wird auch der Aussage eine Absage erteilt, Europäisches Privatrecht sei systematisch überreguliert.18 Auch heute ist vor allem die Vertragsfreiheit als Ausgangspunkt nicht wirklich in Frage gestellt, obwohl in der legislativen Praxis nicht mehr ein formaler Freiheitsbegriff zugrunde gelegt wird und dieser auch konzeptionell zu Recht kritisiert wird. Dies gilt gerade auch für das Europäische Vertrags-

17 Grundmann, ZGR 2001, 783, 802 – 805. 18 Martinek, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 511; vgl. auch Canaris, AcP 200 (2000), 276. Zum immer wieder angenommenen Niedergang der Vertragsfreiheit: Atiyah, The Rise and Fall of the Freedom of Contract; vgl. auch Buckley (Hrsg.), The Fall and Rise of Freedom of Contract.

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§ 7 Systemdenken und Systembildung

recht. Zu Recht: (1) Das Subsidiaritätsprinzip, radikal verstanden, gibt Entscheidungsmacht primär den Betroffenen selbst – den Vertragsparteien oder den Gesellschaftern oder anderen stakeholdern –, zumindest wenn diese die Entscheidungen sinnvoll treffen können und damit Dritte nicht belasten. Daher muß der Gesetzgeber zuvörderst versuchen, die Voraussetzungen für solches Handeln der Parteien herzustellen, und kann nur, falls dies nicht möglich ist, paternalistisch mit inhaltlich zwingendem Recht einschreiten und seine Entscheidung an die Stelle derjenigen der Parteien setzen. (2) Gesetzgeber sind keineswegs fähig, die große Bandbreite heterogener Präferenzen zu erkennen. Zentralistisches Planen hat sich im Praxistest als deutlich suboptimal erwiesen. Wettbewerb – vor allem Vertragsfreiheit – bildet offenbar in der Tat das mächtigste Entdeckungsverfahren.19 Die eigentliche Frage ist nicht, ob Vertragsfreiheit den Ausgangspunkt bildet und bilden soll, sondern, wie formal diese gefaßt werden darf und wie viel Materialisierung nötig ist, akzeptabel ist und gerechtfertigt werden kann. Vergleichbares gilt im Gesellschaftsrecht. b)

Beispiele

Der angedeutete Mittelweg zeigt sich vielleicht besonders plastisch an Beispielen. Diese sind Legion. Da das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen so offensichtlich der Idee einer materiellen Freiheit, d.h. einer Freiheit, die durch eine Marktordnung zu schützen ist, verpflichtet ist,20 und da die Fragen im Gesellschaftsrecht auf Grund der Vielzahl von betroffenen Interessen besonders komplex sind, sollen zwei Beispiele aus den zwei sonst wohl prominentesten Gebieten im Vordergrund stehen: aus dem Recht gegen unlauteren Wettbewerb und aus dem Vertragsrecht. Im Recht gegen unlauteren Wettbewerb ist wohl kein Konzept so bekannt geworden und doch auch umstritten wie das Konzept des sog. „informierten“ Verbrauchers. Der EuGH entwickelte es zuerst im Grundfreiheitenbereich, vor allem in Cassis de Dijon,21 und rechtfertigte damit den Vorrang von Informationsregeln, wann immer sie Marktversagen ausräumen können. Er wandte es dann auch auf die Werbe-Richtlinie an: 22 Ob Werbung irreführend ist, beurteilt sich nach dem Empfängerhorizont des „hinreichend informierten“ Verbrauchers („reasonably well-informed consumer“). Sehr zentral ging es um vergleichende Werbung. Will man sie untersagen – weil einige Verbraucher keine „hinreichende“ Sorgfalt aufbringen –, schließt man damit auch einen der Hauptinformationskanäle für alle anderen aus (wir nehmen Wer-

19 F. v. Hayek, in: ders., Freiburger Studien – Gesammelte Aufsätze, S. 249. 20 Grundlegend schon Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 278 (1. Aufl. 1952 S. 241ff.). 21 EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649 Rn. 13 (Cassis de Dijon). 22 Richtlinie 84/450/EWG des Rates v. 10.9.1984 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung, ABl. 1984 Nr. L 250/17; Änderungen in ABl. 1997 Nr. L 290/18 (seitdem auch vergleichende Werbung); vgl. EuGH v. 2.2.1994 – Rs. C-315/92 Verband Sozialer Wettbewerb ./. Clinique Laboratories and Estée Lauder, Slg. 1994, I-317, Leitsatz 2 und Rn. 18 – 21; EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, Slg. 1999, I-431, Leitsätze 1 und 2; krit. zum Konzept des „informierten“ Verbrauchers etwa: Weatherill, ERPL 1995, 307, 312 – 318.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

bung wahr, lesen aber keine Instruktionen) und zudem ein wichtiges Instrument des Markteintritts für Neuankömmlinge. Ein Verbot wirkt also potentiell schädlich in informationeller und wettbewerblicher Hinsicht. Zentral ist also, daß jeder – auch der informierte Verbraucher – die Chance hat, seine Interessen einbezogen zu sehen. Drexl hat nämlich zu Recht herausgearbeitet, daß es bei diesen Fragen nicht nur und nicht einmal primär um den Interessenwiderstreit zwischen Unternehmen und (uninformierten) Verbrauchern geht, sondern auch zwischen Verbrauchergruppen, die die Freiheiten und Instrumente nutzen können (sie wollen ihr „wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht“ ausüben),23 und solchen, die dies nicht können. Dann stellt sich freilich die Folgefrage, ob es nicht problematisch ist, wenn manche Verbraucher in die Irre geführt werden, weil auf den Empfängerhorizont eines recht aufmerksamen Verbrauchers abgestellt wird, und zwar auch, wenn andere davon profitieren. Auf diese Frage ist differenziert zu antworten. Beschränkte Rationalität ist ein Nachteil auch sonst im Leben: bei der Suche nach guten Gelegenheiten (jenseits des Vertragsrechts), nach guten Jobs etc. Wenn also Vertragsrecht Verbrauchern hinreichende Anstrengungen und Kapazitäten abverlangt, schafft es nur eine Parallele zum sonstigen Leben … auch um anderen die notwendigen Chancen zu eröffnen. Auch hier stellt sich wieder eine Folgefrage und zwar nach den Grenzen: Existiert ein „Sicherheitsnetz“ für diejenigen, die hierbei verlieren? Europäisches Vertragsrecht einschließlich seiner institutionellen Rahmenbedingungen scheint ein solches in der Tat bereit zu stellen, zumindest im Ansatz – obwohl nicht alle Verbraucher in jeder Hinsicht geschützt werden. Diese „Sicherheitsnetze“ werden in der Debatte zu wenig beachtet: Jenseits eines „sozialen“ Steuerrechts und des Sozialversicherungsrechts – die beide noch weitgehend in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegen – handelt es sich vor allem um zwei Instrumente: Der EuGH zieht das Leitbild des „informierten“ Verbrauchers nicht allgemein heran, namentlich nicht, wo Gesundheit und Leben betroffen wären.24 Diese bilden ein zu wichtiges, „existentielles“ Gut, als daß auf den Schutz jedes Verbrauchers – auch bei beschränkter Rationalität – verzichtet werden könnte. Existentielle Risiken ergeben sich jedoch teils auch aus finanziellen Verlusten – existentiell typischerweise erst, wenn nicht nur vorhandene Ressourcen verloren werden, sondern auch die Fähigkeit, zukünftig Einkünfte zu produzieren, verbraucht wird. Damit ist das vertragsrechtliche Beispiel angesprochen. Aus diesem Grunde ist nämlich Verbraucherkreditrecht so wichtig. Die Richtlinie von 1986 hat ein sehr wichtiges informationelles Instrument geschaffen, das die Konditionen im Zentralpunkt gut vergleichbar macht und auch die Gesamtbelastung in „guten Zeiten“, d.h. bei planmäßiger Erfüllung aufzeigt; weitere Regeln, d.h. ein Ausbau des bestehenden Netzes, erscheinen dennoch nötig.25 In einer anderen Hinsicht wurde das

23 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers. 24 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 29 – 31; EuGH v. 24.10. 2002 – Rs. C-99/01 Linhart and Biffl, Slg. 2002, I-9375 Rn. 31f. 25 Entweder könnte Kreditinstituten vorgeschrieben werden, die Folgen von Leistungsstörungen (etwa nach Scheidung oder im Falle von Arbeitslosigkeit) zu illustrieren, oder ihnen könnte sogar eine (Mit-)Verantwortung auferlegt werden in der Frage, ob denn der Kredit für den Kunden

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§ 7 Systemdenken und Systembildung

Sicherheitsnetz gegen existentiellen finanziellen Verlust auf EG-Ebene unlängst deutlich verstärkt: Die Verbraucherinsolvenz ist, obwohl sie im nationalen Insolvenzrecht fußt, europaweit anerkannt auf der Grundlage der EG-Insolvenz-Verordnung.26 Solchermaßen können finanzielle Risiken für Verbraucher zwar substantiell sein, sie sind jedoch nicht mehr (zeitlich) grenzenlos. Solche „Sicherheitsnetze“ und ein liberaleres Verbraucherrecht, in dem auch Verlustrisiken hingenommen werden, korrelieren. Die angedeutete Suche nach einem Mittelweg – weder formale Freiheit noch Intervention durch eine Vielzahl inhaltlich zwingender Regeln – ist jedoch viel allgemeiner zu konstatieren, einige charakteristische Beispiele können das noch weiter illustrieren: Einerseits wurde EG Vertragsrecht überzeugend dahin verstanden, daß hier der Grundsatz eines caveat emptor abgelöst wurde durch einen Grundsatz des caveat praetor.27 Und der Kauf bildet noch immer den Vertragstyp mit Leitbildcharakter. Ebenso evident ist es, daß das Regime vorvertraglicher Information auf EGEbene ungleich weiter geht als traditionell in den nationalen Vertragsrechten.28 Umgekehrt ist EG Vertragsrecht jedoch auch nicht intensiv interventionistisch verfaßt: Abgesehen von zwingenden Informationsregeln, die zwar den Vertrag vorbereiten, die eigentliche Gestaltungsfreiheit jedoch unberührt lassen, kennt es kaum (inhaltlich) zwingende Regeln, mit denen der Vertragsinhalt vorgegeben und die Parteiabrede ersetzt wird. Die eine große Ausnahme (bis 1999), das AGB-Recht, ist auch auf der Grundlage der (Informations-)Ökonomie gut begründbar (oben, III.3.a) mit Fn. 37).

4.

Einführung zu den Einzelgebieten

Wenn das Gesagte für zwei Gebiete auf einen etwas niedrigeren Abstraktionsgrad hinunter gehoben werden soll, so bieten sich die zwei großen Organisationsformen des Privatrechts und privatwirtschaftlichen Handelns als besonders nahe liegend an, der Vertrag bzw. das Vertragsrecht und die Gesellschaft bzw. das Gesellschaftsrecht, Austausch und Organisation, „Market and Firm“ (s.o. I mit Fn. 4). Näher ausgeführt wird jeweils: daß der Harmonisierungsbestand zunehmend als flächendeckend zu sehen ist und zwar als ein System der Eckpunkte, daneben jedoch auch (in statu nascendi) jeweils als Quelle einer Europäischen Alternativform, die mit den

überhaupt tragbar ist. Vgl. zu diesen Überlegungen (im neuesten Änderungsvorschlag der EGKommission): Riesenhuber, ZBB 2003, 325 und Franck, ZBB 2003, 332. Außerdem müssten die Schutzinstrumente wohl doch auf grundpfandrechtlich gesicherte Kredite erstreckt werden. 26 Primär Art. 16, 17 und 25 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. 2000 Nr. L 160/1; vgl. Homann, System der Anerkennung eines ausländischen Insolvenzverfahrens und die Zulässigkeit der Einzelrechtsverfolgung. 27 Hedley, JBL 2001, 114, 123. Diese Entwicklung ist von der ökonomischen Theorie her durchaus zu begrüßen: Grundmann/Bianca-Gomez, Einl. Rn. 74 –77 bzw. Grundmann/Bianca-Grundmann, Art. 2 Rn. 4. 28 Vgl. etwa, für einen Vergleich mit dem italienischen Recht: Roppo, in: Grundmann/Schauer (Hrsg.), The Architecture of European Codes and Contract Law.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

nationalen in Wettstreit tritt und im Wettbewerb steht (jeweils 1.); daß dieser Bestand zunehmend als allgemeines Leitbild auch außerhalb seines Anwendungsbereichs verstanden wird und darauf geradezu angelegt ist (jeweils 2.); und daß inhaltlich überall das Informationsmodell als Hauptinstrument und -philosophie zu sehen ist. Ein Ausblick auf sonstige Hauptgedanken im jeweiligen Gebiet komplettiert dann jeweils der Überblick (insgesamt jeweils 3.).

III.

Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht

1.

Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz

a)

Vertragsrechtsregulierung

Bis zur Verabschiedung der Kaufrechts-Richtlinie 1999 betraf Europäisches Vertragsrecht kaum den klassischen Kern nationalen Vertragsrechts, d.h. das dispositive (und teils zwingende) Recht zu der Frage, wie die Parteien wohl entschieden hätten, hätte ihnen die nötige Information vorgelegen und wäre der Wettbewerb unbeschränkt gewesen. Diese Normen versuchen primär den Konsens nachzubilden, zu dem die Parteien unter solch idealen Bedingungen gelangt wären. Europäisches Vertragsrecht versuchte demgegenüber vor allem, diese beiden Bedingungen (wieder) herzustellen, deren Fehlen den Konsensmechanismus (mit „Richtigkeitsgewähr“) mehr oder weniger weit gehend versagen und im Extremfall Märkte zusammen brechen läßt: hinreichende Information und genügend Wettbewerb. Kirchner sprach früh und sehr plastisch von einer Vertragsrechtsgestaltung „von den Rändern her“.29 Im Vordergrund steht in der Tat der Abbau von Informationsproblemen, was gesondert auszuführen sein wird (unten 3 a). Ein zweiter Komplex galt direkten und indirekten Wettbewerbsbeschränkungen, am evidentesten bei den Gruppenfreistellungsverordnungen, die wie Musterverträge für alle Unternehmen wirkten (und bis zu einem gewissen Grad auch heute noch wirken), die von der Gruppenfreistellung Gebrauch machen wollten. Wettbewerbsbezug haben auch die Harmonisierungsakte zum öffentlichen Auftragswesen und auch im Urheberrecht (vor allem Softwarefragen). Zuletzt besonders wichtig wurde der – ebenfalls weitgehend auf Wettbewerbsüberlegungen gegründete – Bereich der ehemals öffentlichen Unternehmungen von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse.30

29 Kirchner, in: Weyers (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht, S. 106; dann ausführlicher Grundmann, ZHR 163 (1999), 635. 30 Dazu zuletzt Rott, ERCL 1 (2005) 323 – 345.

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§ 7 Systemdenken und Systembildung

b)

Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht

Klassisches Vertragsrecht in größerem Umfang findet sich im EG-Recht erstmals in der Kaufrechts- und E-Commerce-Richtlinie, d.h. seit 1999/2000. Es handelt sich um Fragen des Vertragsschlusses, der Vertragserfüllung und des Leistungsstörungsrechts, d.h. Fragen, für die Gesetzgeber versuchen, die Abrede nachzubilden, die die Parteien getroffen hätten, hätten sie einen „vollständigen“ Vertrag (vgl. oben) geschlossen. Daß es zu solchen Regeln so spät kam, überrascht zunächst einmal, weil sie das Herz jeden nationalen Vertragsrechts bilden. Die herkömmliche Erklärung geht dahin, daß Verbrauchervertragsrecht deutlich umfassender Behinderungen für grenzüberschreitende Angebote begründen kann, da es international zwingend wirkt (vgl. oben). So sehr dies im Ansatz überzeugt, ist freilich festzustellen, daß die Kaufrechts-Richtlinie doch auch nur den Verbraucherkauf erfaßt und dennoch in ihrem Gehalt allgemeines Kauf- und Leistungsstörungsrecht regelt. Die Entwicklung mag auch institutionell zu erklären sein. Die GD Binnenmarkt konzentrierte sich mehr auf Gesellschafts- und Finanzrecht und zeichnet allein für die E-Commerce-Richtlinie verantwortlich. Die GD Gesundheit und Verbraucherschutz schien zunächst nicht wirklich dazu berufen, ein allgemeines Vertragsrecht zu entwickeln. Die Lösungen, die sich in diesen beiden Richtlinien finden, können im vorliegenden Rahmen nicht diskutiert werden. Beide wurden ausführlich erörtert, häufig auch monographisch oder gar in Kommentaren beschrieben, ebenso das UN-Kaufrecht als Hauptmodell.31 Eine eigene Untersuchung wäre nötig um darzustellen, warum die Kaufrechts-Richtlinie das wichtigste Modell für Erfüllung und Leistungsstörung im EG-Recht enthält, wie weit dieses Modell reicht und wo seine Lücken und Schwächen liegen. Entsprechendes gilt für die Frage, inwieweit die Kaufrechtsund E-Commerce-Richtlinie im Zusammenspiel in der Tat ein Europäisches Modell des Vertragsschlusses schufen. Hier kann nur kurz angedeutet werden, welches wohl die Zentralfragen bei der Fortentwicklung dieses Bestandes sein werden:

2.

Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit

Die Kernfrage geht m.E. dahin, ob der Gehalt beider Richtlinien (und anderer) verallgemeinert werden kann. Dies wirft einige Unterfragen auf: a)

Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht

Generalisierungsfähig in großem Stile ist der acquis communautaire nur, wenn Verbraucherrecht generalisierungsfähig erscheint. M.E. (vgl. letzte Fn.) ist dies in der

31 Für eine Interpretation aus Effizienzüberlegungen heraus und für meine eigene Auslegung der Richtlinie vgl. vor allem Grundmann/Bianca-Gomez, Einl. Rn. 74 –77 bzw. Grundmann/ Bianca-Grundmann, Art. 2 Rn. 4; Grundmann, AcP 202 (2002), 40 m.w.N. Zum UN-Kaufrecht vor allem: Honnold, Uniform Law for International Sales; Staudinger-Magnus, Wiener UN-Kaufrecht (CISG); Schlechtriem (Hrsg.), Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Tat der Fall. Man könnte einfach darauf verweisen, daß die Kaufrechts-Richtlinie nicht wirklich Verbraucherrecht ist – nahezu alle Lösungen sind ja aus dem UNKaufrecht übernommen, das nur den zweiseitigen Handelskauf regelt – und daß die E-Commerce-Richtlinie ohnehin allgemein gilt. Unter den Hauptrichtlinien stellt sich daher die Frage nach der Generalisierbarkeit in ganzer Schärfe nur für die AGBRichtlinie und hier optiert immerhin die damals vor allem vorbildliche Rechtsordnung, das deutsche Recht, weitgehend für eine Verallgemeinerung. Allgemeiner jedoch ist zu betonen, daß Verbraucherrecht primär hinsichtlich der Informationsregeln erheblich von sonstigem Vertragsrecht abweicht und daß daher ein Gesetzbuch gruppenspezifisch wohl fast nur in diesem Bereich zu differenzieren hätte, manchmal auch (wenn Informationsregeln versagen) beim paternalistisch gesetzten Schutzstandard. Der Rest des Vertragsrechts, basierend auf Vorstellungen der iustitia distributiva und commutativa, ist allgemeiner Natur, nicht gruppenspezifisch. Verbrauchervertragsrecht und „sonstiges“ Vertragsrecht gemeinsam – integrativ – einzubringen, hätte weitere erhebliche Vorteile: Verbraucherrecht würde nicht marginalisiert, sondern in den Fokus der Dogmatik gerückt; und die Stellung der jeweiligen Regeln „Seite an Seite“ würde den Druck, Unterschiede stets zu überdenken und zu legitimieren, noch verstärken (Kohärenz der Wertung als Daueraufgabe). b)

Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil

Eine zweite Unterfrage ginge dahin, inwieweit denn vom besonderen Vertragsrecht auf das allgemeine geschlossen werden kann. Denn viele Harmonisierungsmaßnahmen sind sektor- oder doch vertragstypspezifisch. Da sich eine Europäische Rechtswissenschaft noch in statu nascendi befindet, sollte das System ohnehin zunächst für konkretere Fragen, d.h. ausgehend von speziellen Vertragstypen, geschaffen werden, um dann induktiv ein allgemeines Vertragsrecht zu entwickeln. Für die Antwort auf die Frage erscheinen zwei Punkte von vorrangiger Bedeutung: Das UN-Kaufrecht hat, obwohl es nur für das Kaufrecht formuliert wird, auch die Regelkataloge, die bisher im Allgemeinen Vertragsrecht entwickelt wurden,32 maßgeblich beeinflußt. Das wird in beiden Regelwerken selbst betont. Es liegt daher nahe, in der Tat für Verträge, die eine idealtypisch einmalig zu erbringende Leistung betreffen (sog. spot contracts), Kaufrechts-Richtlinie und UN-Kaufrecht sehr stark als Modell heranzuziehen. Umgekehrt ist es auch wichtig, das andere Extrem im Auge zu behalten. Dies sind die Langzeitverträge, häufig sehr komplex, regelmäßig vor allem mit Geschäftsbesorgungscharakter, häufig ein Netzwerk von Verträgen. Nur in diesem Spannungsverhältnis kann die Frage nach einer Übertrag-

32 UNIDROIT (Hrsg.), Principles of International Commercial Contracts, 1994, S. viii (nur Handelsverträge); Lando/Beale (Hrsg.), Principles of European Contract Law, Teile I (1996), II (1999) (dort S. XXXV) und III (2002) (alle Verträge); dazu u.a. Hesselink/de Vries (Hrsg.), Principles of European Contract Law; Zimmermann, ZEuP 2000, 391.

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§ 7 Systemdenken und Systembildung

barkeit von Wertungen aus dem acquis (Besonderen Teil im EG-Vertragsrecht) auf andere Verträge und die Generalisierbarkeit sinnvoll beantwortet werden. c)

Wettbewerb der Formen?

Wettbewerb der Formen – d.h. der Vertragsrechtwerke – existiert derzeit nur eingeschränkt. Natürlich ist eine Anlehnung an ausländische Modelle im Rahmen des inländischen zwingenden Rechts möglich. Dieses geht jedoch vor allem dort sehr weit, wo, wie in Deutschland, auch AGB im kaufmännischen Verkehr einer Inhaltskontrolle unterfallen. Eine Rechtswahl ist im rein inländischen Fall nicht möglich (Art. 3 Abs. 3 EVÜ). Anders ist dies im grenzüberschreitenden Verkehr (Art. 3 EVÜ), freilich mit den bekannten Einschränkungen im Verbraucher- und Arbeitsvertragsrecht (Art. 5, 6 EVÜ) sowie zum Schutz von Allgemeininteressen (Art. 7 EVÜ). Und selbst im kaufmännischen Verkehr, der mit diesen Vorbehalten direkt nicht angesprochen ist, schränkt der EuGH die Rechtswahl ein, soweit Richtlinien den Schutz einer Vertragspartei bezwecken.33 Grenzüberschreitende Verträge sind wichtig, bilden jedoch selbst für Deutschland einen relativ kleinen Prozentsatz: ca. 20 %, rechnet man die Konzernbeziehungen heraus, in denen Streitigkeiten kaum einmal streng rechtlich durchgefochten werden, sogar wohl unter 10 %. Das ist anders als im Gesellschaftsrecht, wo die Wahl der ausländischen Rechtsform eben gerade auch bei Sitz im Inland eröffnet ist (dazu sogleich). Ein vergleichbarer Wettbewerb der Rechtsformen wird erst durch einen optionalen Kodex eröffnet, der auch im Inlandsfall wählbar ist … wenn er nicht gar eines Tages als abwählbare Regel gelten sollte. Die Erfahrung mit dem UN-Kaufrecht sollte lehren, daß in der Tat conditio sine qua non für einen nennenswerten Erfolg – noch nicht notwendig hinreichende Bedingung – die Wählbarkeit solch eines Kodex auch im Inlandsfall ist.

3.

Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells

a)

Besonderes Gewicht des Informationsmodells

Inhaltlich ragt das Informationsmodell hervor.34 Das gilt bereits für das Primärrecht. Auf Grund der Grundfreiheitenrechtsprechung des EuGH hat der nationale Gesetzgeber Informationsregeln den Vorzug zu geben

33 EuGH v. 9.11.2000 – Rs. C-381/98 Ingmar GB, Slg. 2000, I-9305. 34 Vgl. dazu vor allem (für das Vertragsrecht): Grundmann, JZ 2000, 1133; im „deutschen“ Markt aufgegriffen von: Schulze/Ebers/Grigoleit, (Hrsg.), Informationspflichten und Vertragsschluß im Acquis communautaire.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

gegenüber inhaltlich zwingenden Festlegungen, wann immer erstere das Schutzbedürfnis ebenfalls weitgehend befriedigen können.35 Und nach ebendiesem Maßstab legiferiert der Europäische Gesetzgeber im Sekundärrecht. Die meisten vertragsrechtsbezogenen EG-Richtlinien (jedenfalls bis 1999) zielen auf den Abbau von Informationsproblemen: 36 so die wichtigsten sektorspezifischen Akte, die Pauschalreise-, Timeshare- und (bisher) auch die Verbraucherkredit-Richtlinie sowie – etwas weniger – die Wertpapierdienstleistungs-Richtlinie (jetzt Finanzmärkte-Richtlinie), alle enthalten sie ganz überwiegend Informationspflichten vorvertraglich und in der Vertragsabwicklung; so auch die Richtlinien zu speziellen Absatztechniken – die Haustür- und die beiden Fernabsatz-Richtlinien –, die vor allem ein Widerrufsrecht geben. Dieses kann als Informationsinstrument verstanden werden: Dem Kunden soll die Informations- und Reflexionsmöglichkeit nachgereicht werden, die ihm durch Einsatz dieser speziellen Absatztechnik genommen wurde. Und auch die letzte verbleibende, nicht sektorspezifische Richtlinie (bis 1999), die AGB-Richtlinie, hat immerhin Informationsprobleme zum Gegenstand. Freilich ist der Ansatz ein anderer, da die Informationsasymmetrie hier als grds. nicht ausgleichsfähig eingestuft wird. Folglich sieht die Richtlinie nicht primär Informationspflichten vor, sondern legt – paternalistisch, inhaltlich zwingend – weitgehend den anzuwendenden Standard fest. Das Gesamtbild ist also geprägt von den vielen Richtlinien, die primär Informationsprobleme abbauen, Märkte also (bei Teilversagen) unterstützen sollen, indem die nötigen Informationsverhältnisse wiederhergestellt werden, dann aber die Vertragsfreiheit erhalten, und der einen, die den Markt substantiell korrigiert – mit weitreichenden Wirkungen: Da Verträge meist unter Verwendung von AGB abgeschlossen werden, herrscht sehr weitgehend „quasizwingendes“ Recht, beruhend auf paternalistischen Erwägungen (bei Setzung sehr enger Grenzen für privatautonome Gestaltung).37 b)

Überblick zu weiteren Systemgedanken

Mit dem prägenden Charakter des Informationsmodells im Europäischen Vertragsrecht gehen wichtige weitere grundlegende Systemgedanken einher. Diese seien hier nur angesprochen: 38 (1) Europäisches Vertragsrecht ist nicht als Verbrauchervertragsrecht konzipiert, sondern als Markt- oder Unternehmensaußenrecht, also mit dem Ziel, ungerechtfertigte (informationelle) Überlegenheit oder marktbeschränkende Verhaltensweise von Unternehmen auszugleichen bzw. zurückzudrängen. Hinzu tritt gänzlich allgemeines, d.h. nicht rollenspezifisch ausgebildetes

35 Bahnbrechend EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649 Rn. 13 (Cassis de Dijon). 36 Zwei Gesamtkommentierungen liegen vor: Quigley, European Community Contract Law; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht; ausführlichere Kommentare zudem in Grabitz/Hilf II. In diesen Werken Nachw. für alle im folgenden genannten Rechtsakte. 37 Hesselink, ERCL 2005, 44, 66 – 68. Zur Begründung (auch in der ökonomischen Theorie) für die Regulierungsnotwendigkeit in diesem Bereich: Adams, BB 1989, 781, 787; und Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, S. 478 – 480. 38 Näher zu ihnen: Grundmann, ZHR 163 (1999), 635; Riesenhuber, ERCL 1 (2005) 297– 322.

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Vertragsrecht, vor allem in der Kaufrechts-Richtlinie (oben, 1.b) mit Fn. 31). Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß nicht auch Verbraucher – und sehr erheblich – vor den Folgen dieser Marktimperfektionen zu schützen sind. (2) Selbstbestimmung und individuelle Verantwortung – d.h. Wahlrechte und die Tragung der Folgen ihrer Ausübung – sind ähnlich prägend. Dies muß nicht heißen, daß es keine Durchbrechung des pacta sunt servanda gäbe, gerade auch zugunsten des Verbrauchers.39 Diese sind jedoch eng umgrenzt, im Falle des recht kurz bemessenen Widerrufsrechts, wie gesagt, sogar eher nur als ein Instrument zum „Nachreichen“ der Informationsmöglichkeit zu verstehen, und jedenfalls nicht systemprägend. Ein dauerhaftes Recht zur Vertragsaufsage (jederzeitiges Kündigungsrecht) kennt fast nur das Verbraucherkreditrecht und auch dieses nur für ca. 10 – 20 % des Verbraucherkreditvolumens, insbesondere nicht beim grundpfandrechtlich gesicherten Kredit. Ein letzter Vorbehalt: Eine zentrale Systemfrage wurde – mangels Möglichkeit einer ähnlich vogelflugartigen Antwort – gänzlich ausgeblendet: Diese (wichtige) Unterfrage ginge dahin, ob denn der acquis communautaire in sich überhaupt kohärent ist, vor allem: ob nicht für manche Regelkomplexe ein zu enger Anwendungsbereich gewählt wurde, etwa bei den Absatztechniken, und ob sich die in ihnen enthaltenen Regeln nicht teils widersprechen.40

IV.

Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht

1.

Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften

a)

Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften

Ausgangspunkt des Europäischen Gesellschaftsrechts war das Außenverhältnis. Schon die 1. Richtlinie brachte die Handelsregisterpublizität wichtiger Daten gegenüber dem Rechtsverkehr (für Zweigniederlassungen ergänzt durch die 11. Richtlinie), die nahezu unbeschränkte Vertretungsmacht der registrierten Organe nach außen und die sehr eingeschränkte Nichtigkeit der Organisation, Letzteres beides jeweils aus dem Handelsregister umfassend zu ersehen. All dies diente bereits der Ausgestaltung der Gesellschaft in einer Form, die Vertrauen bei Gläubigern, teils auch schon beim Anleger verbürgen sollte. Daneben treten mit der 4., 7. und 8. Richtlinie Regeln zur Rechnungslegung im Einzelunternehmen, die Adaptionen für den Konzern und die Regelung über die 39 Vgl. Micklitz, ZEuP 1998, 253, der freilich zu sehr ein dem Verbraucher gegenüber gar nicht mehr bindendes Vertragsrecht annimmt (etwas missverständlich mit dem Begriff eines „kompetitiven“ Vertragsrechts umschrieben). 40 Vgl. dazu nur Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, passim; ders., ERCL 1 (2005), 297– 322.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Abschlußprüfer, die die Rechnungslegung zu testieren haben. Mit diesem Regelungsbestand aus vier Richtlinien wird angestrebt, daß europaweit eine als solche registrierte Kapitalgesellschaft dem Gläubiger als Schuldner erhalten bleibt (keine Nichtigkeit, keine Berufung auf fehlende Vertretungsmacht), über alle für eine Anspruchgeltendmachung weiter nötigen rechtlichen Verhältnisse ebenfalls (Register-)Transparenz und weitergehend über die wirtschaftliche Lage der Kapitalgesellschaft – zertifiziert – Transparenz hergestellt wird (Rechnungslegung). All dies ist im Wesentlichen eine auf Gläubigerschutz – also das Außenverhältnis – ausgelegte Regelung. Rechtlich wie wirtschaftlich sollte die Gesellschaft als Schuldner „sicherer“ oder zumindest transparenter erscheinen. Das Außenverhältnis betrifft sonst noch die 12. Richtlinie, die die Möglichkeit der Haftungsbeschränkung auch auf Einmann-Unternehmungen erstreckt (primär für die GmbH, außerdem jedoch auf die Einmann-AG, soweit im nationalen Recht überhaupt zugelassen). Und auch die 2. Richtlinie, die einzige Richtlinie aus diesem Komplex, die allein für Aktiengesellschaften, hat durchaus starke Bezüge zum Außenverhältnis, verbürgt sie doch, daß das Mindestkapital von 50.000 Euro und das gezeichnete Kapital einmal aufgebracht war und nicht zurückgezahlt wurde (wirtschaftliche Absicherung der AG als Schuldnerin). Bedenkt man, daß die 6. Richtlinie ursprünglich die börsenrechtlichen Anforderungen regeln, also wiederum das Außenverhältnis gegenüber den Kapitalgebern betreffen sollte, zeigt sich, daß das Außenverhältnis – die Steigerung der Verläßlichkeit gegenüber Gläubigern, teils auch Anlegern – die Harmonisierungsüberlegungen seit Beginn dominierte. Nur die 3. und die 6. Richtlinie gelten ganz überwiegend dem Innenverhältnis, die 2. Richtlinie immerhin noch teilweise (vgl. unten c). Das Innenverhältnis ist demgegenüber nur sehr punktuell Gegenstand von Harmonisierung geworden. Der geplante allgemeine Rechtsakt hierfür, die 5. Richtlinie, wurde gerade nicht verabschiedet, der dahingehende Vorschlag zuletzt sogar formal zurückgezogen. Für das Innenverhältnis konzentriert sich das Europäische Recht auf die Strukturmaßnahmen, die den rechtlichen Rahmen fundamental verändern, sowie die Verbürgung der genannten „verfassungsmäßigen“ Aktionärsrechte (Gleichbehandlung, vor allem Quotenerhalt, vgl. unten c). All diese Regeln gelten allein für Kapitalgesellschaften (diejenigen in der 2. Richtlinie gar nur für Aktiengesellschaften). Die Vergleichbarkeit zwischen Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten im Außenverhältnis wurde also bei diesen ungleich stärker als Voraussetzung für einen Binnenmarkt gesehen als bei anderen Gesellschaftsformen – aus zwei Gründen: Auf Kapitalgesellschaften entfallen ungleich größere Transaktionsvolumina, gerade auch grenzüberschreitende, so daß die Zahl der Fälle, in denen Rechtsunterschiede verunsichern und damit die grenzüberschreitende Transaktion behindern könnten, ungleich größer ist.41 Zudem geht es um die Gesellschaftsformen, bei denen die persönliche Haftung grundsätzlich aus-

41 Schon der 1. Erwägungsgrund der 1. Richtlinie hatte generell betont, daß Kapitalgesellschaften (auch GmbH) internationaler agieren.

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§ 7 Systemdenken und Systembildung

geschlossen ist, die jedoch zur erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit frei zugelassen sind. Bei Personengesellschaften ist Ersteres nicht oder nicht für alle Gesellschafter der Fall, bei anderen juristischen Personen ist Zweiteres nicht oder nur sehr eingeschränkt der Fall. Die Regelung gerade der Kapitalgesellschaften (in den Parametern des Außenverhältnisses) folgt also der Tatsache, daß das erwerbswirtschaftliche grenzüberschreitende Geschäft einerseits auf sie konzentriert ist, und (noch wichtiger) sie andererseits als einzige Unternehmensform unbeschränkt erwerbswirtschaftlich tätig werden dürfen, ohne daß eine natürliche Person für die Verbindlichkeiten haftet. Um grenzüberschreitend „Vertrauen“ in den Vertragspartner zu verbürgen und dies recht flächendeckend, genügte die Harmonisierung allein des Kapitalgesellschaftsrechts (Außenverhältnis). b)

Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung

Konstatiert man demnach eine starke „Extrovertiertheit“ von Europäischem Gesellschaftsrecht, so liegt es nahe, in diesem Zusammenhang auch über die Rolle des Europäischen Kapitalmarktrechts nachzudenken. Dies betrifft in besonderem Maße schon das äußere System. Die Harmonisierungsdichte ist im Kapitalmarktrecht ungleich größer als im Gesellschaftsorganisationsrecht, ähnlich groß ist die Harmonisierungsdichte nur im Bilanzrecht. Das Europäische Gesellschaftsrecht prägt also auch ein intensiv kapitalmarktorientierter Ansatz – einer der wichtigen Beiträge vor allem des britischen, jedoch auch des französischen und belgischen Rechts. Ein Ziel oberster Priorität war es also, vor allem die für eine optimale, auch grenzüberschreitende Kapitalallokation notwendigen Strukturen weitestgehend europaeinheitlich zu schaffen. Zwar sind Deutschland und die südeuropäischen Mitgliedstaaten noch immer ungleich weniger kapitalmarktorientiert als Frankreich, Benelux und vor allem Großbritannien,42 selbst Deutschland hat jedoch heute ein ungleich stärker entwickeltes Kapitalmarktrecht als dies durch autonome deutsche Rechtsetzung zu erwarten war. Die Systemfrage angesichts dieses dichten Harmonisierungsbestandes geht insbesondere dahin, in welchem Verhältnis es zum Europäischen Gesellschaftsrecht steht.43 M.E. kann Europäisches Kapitalmarktrecht nur als integrativer Teil des Europäischen Gesellschaftsrechts gesehen werden. Wenn in der Tat das Außenverhältnis von Kapitalgesellschaften so stark im Mittelpunkt steht, und wenn denn Kapitalgesellschaften durch den Faktor „Kapital“ besonders geprägt sind, ist Euro-

42 Die italienischen und deutschen Gesellschaften nehmen nicht einmal halb so viel Eigenkapital an den europäischen Kapitalmärkten auf (18,95 %), wie es ihrem Anteil am europaweiten Bruttosozialprodukt entspräche (40 %); auch die französischen fallen ins untere Drittel, während britische Gesellschaften bei einem Beitrag von 11,2 % zum europaweiten Bruttosozialprodukt 35 %, 49 % des Eigenkapitals aufnehmen: Wymeersch, in: Hopt (Hrsg. u.a.), Comparative Corporate Governance , S. 1155 –1157. 43 Hierzu der Beitrag von Kalss, unten, § 16; sowie Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, §§ 18 – 21; Heinze, Europäisches Kapitalmarktrecht; Moloney, EC Securities Regulation; Weber, Kapitalmarktrecht.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

päisches Gesellschaftsrecht sinnvoll nur unter Einschluß des Kapitalmarktrechts zu denken. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: beide Rechtsgebiete fußen in der gemeinsamen (speziell gesellschaftsrechtlichen) Kompetenzgrundlage des Art. 44 Abs. 2 lit. g EG; der EG-Gesetzgeber hat selbst mehrfach kapitalmarktrechtliche Richtlinien in den Kanon der numerierten gesellschaftsrechtlichen eingereiht (Börsen-Richtlinie, Übernahme-Richtlinie); immer wieder wird betont, daß in den Regelungen die Unterscheidung zwischen kapitalmarktorientierter AG und nicht kapitalmarktorientierter AG deutlich mehr Bedeutung hat als jede andere Unterscheidung, auch zwischen den Rechtsformen der AG und GmbH. Man muß nur an das Bilanzrecht (IAS-Verordnung) und das Übernahme-Recht denken. Die kapitalmarktorientierte AG ist so geradezu zu einer eigenen Rechtsform avanciert. Und äußerst wichtig: für (Klein-)Aktionäre – und reflexartig für Vorstandsmitglieder – finden sich mit exit und voice zwei große Formen, wie sie auf Verhalten anderer Beteiligter reagieren: innergesellschaftlich durch Ausübung von Mitverwaltungsrechten oder über einen Kauf bzw. Verkauf des Anteils. Nur in der Zusammensicht entsteht ein organisches (Gesamt-)Bild. Die starke Ausrichtung auf kapitalmarktrechtliche Instrumente trägt dazu bei, daß etwa für die Corporate Governance, den rechtlichen Rahmen der Entscheidungsfindung in (Publikums-)Gesellschaften, zunehmend angenommen wird, die Reaktionsmöglichkeiten auf Kapitalmärkten (externe Corporate Governance) trügen heute bereits überhaupt die stärksten Anreize für gutes Management in sich.44 c)

Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften

Immer wieder wird die Einschränkung des Anwendungsbereichs wichtiger Richtlinien auf die Aktiengesellschaft kritisch gesehen. In besonderem Maße gilt dies für die 2. Richtlinie, die Kapital-Richtlinie.45 Denn wenn diese vor allem Gläubigerschutz bewirken soll, ist kaum verständlich, warum sie nicht auch die GmbH erfaßt. Zu erklären ist die Einschränkung demgegenüber, wenn man in diesen Richtlinien vor allem das Anliegen verwirklicht sieht, denjenigen Gesellschaftern, die wie Gläubiger anonym und massenhaft einer Gesellschaft gegenüber treten, (und nur ihnen) wiederum einen Mindestsockel an Absicherung an die Hand zu geben. Und solche Gesellschafter kann es in allen Mitgliedstaaten auf Grund überall zu findender (verschiedener) Ausgestaltungsvorgaben nur im Falle der Aktiengesellschaft geben.46 Dann wären die 2. Richtlinie (Kapital-Richtlinie), die 3. Richtlinie (Fusions44 Vgl. etwa, mit einer Trennung zwischen den Mitgliedstaaten, die eher auf externe Mechanismen setzen (neben der angloamerikanischen Welt am ehesten Frankreich) und denjenigen, die dezidiert mehr interne Mechanismen betonen (alle anderen, besonders Deutschland): Wymeersch, AG 1995, 299, 309 – 315. 45 Für diese etwa: Lutter, ZGR 2000, 1, 7 und 9 f.; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 50. Umgekehrt wird etwa in England kritisiert, daß es überhaupt die Kapital-Richtlinie für Aktiengesellschaften gibt: Vgl. Modern Company Law – For a Competitive Economy – The Strategic Framework – A Consultation Document from the Company Law Review Steering Group, 2/1999, 21f., 81ff.; dazu etwa Sealy, Int’l Comp. Corp. LJ 2 (2000), 155; lesenswert Bachmann, ZGR 2001, 351, bes. 362 f. 46 Vgl. Übersicht zu diesen Mechanismen, die in der einen oder anderen Form in allen Mitgliedstaaten zu finden sind (Höchstgesellschafterzahlen, Verbote öffentlicher Angebote oder Erforder-

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§ 7 Systemdenken und Systembildung

Richtlinie) und auch die Übernahme-Richtlinie als Richtlinien zu verstehen, die diese Mindestgarantien einheitlich für ganz Europa festlegen und solchermaßen europaweit Vertrauen begründen helfen, auf Grund dessen dann vertrauensvoll in Aktien nach ganz verschiedenen Rechten investiert werden kann. Man kann hier von Europäischen Verfassungsrechten für (Klein-)Aktionäre sprechen. Hinzu kommen natürlich die besonderen Kautelen des Kapitalmarktrechts, wenn die Anteile – wiederum nur Aktien – auf Kapitalmärkten gehandelt werden. Unter den substantiellen Regeln, die mehrheitsfest sind und als „verfassungsmäßige“ Garantien das Informationsmodell (vgl. oben a) und vor allem unten 3.) komplettieren, steht zuvörderst eine Politik gegen Quotenveränderung. Durchgehend und in den verschiedensten Rechtsakten wird dem Aktionär seine Quote verbürgt: In jedem Fall soll er sie wertmäßig behalten, dies ist Mindestinhalt des Gleichbehandlungsgebots (Art. 42 der 2. Richtlinie).47 In vielen Fällen soll sogar der Anteil selbst mit gleich bleibender Quote erhalten bleiben. Offensichtlich ist dies beim Bezugsrecht, das ebenfalls die 2. Richtlinie zumindest bei Kapitalerhöhung gegen Bareinlagen vorsieht.48 Auch bei der Umstrukturierung in Form der Fusion (und Spaltung) bildet der Austausch gegen Anteile der übernehmenden Gesellschaft auf Europäischer Ebene das gesetzliche Modell, und ist eine nicht verhältniswahrende Bedienung der Aktionäre überhaupt nur bei der Spaltung vorgesehen – die auch dann nicht etwa dazu führt, daß der Aktionär den Wert seines Anteils unvollständig abgegolten erhielte, sondern nur dazu, daß ihm Aktien nicht mehr verhältniswahrend zugeteilt werden. Auch in der Übernahme-Richtlinie ist die Gleichbehandlung, d.h. die zumindest wertmäßige Gleichstellung der Aktionäre der Zielgesellschaft untereinander, einer der beiden Zentralinhalte und war schon seit einigen Jahren europaweit einheitlicher Standard, während sie in der Diskussion zum ersten Vorschlag in Deutschland doch noch als nachgerade revolutionierend empfunden wurde.49 Auch de facto darf also die Quote nicht verändert werden. All dies stellt zugleich ein durchgängiges Minderheitsschutzmodell dar, das auf der Idee beruht, daß sich auch Kleinaktionäre in die Hände aktiverer professioneller oder beherrschender Aktionäre geben mögen, wenn sie sich zwar für die Strategie,

nis notarieller Beurkundung beim Anteilsverkauf im Falle der GmbH): Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 107. 47 Zu diesem Gebot BGHZ 120, 141, 150 f. (zur Richtlinie); grundlegend Lutter, FS Ferid, bes. S. 605 – 608; sowie Edwards, EC Company Law, S. 56 (überragend wichtig); Kalss, in: Koppensteiner (Hrsg.), Österreichisches und Europäisches Wirtschaftsprivatrecht – Teil 1: Gesellschaftsrecht, S. 215; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 325. 48 Dazu (und zu seinem Ausschluß) statt aller Bagel, Der Ausschluß des Bezugsrechts in Europa; Kindler, ZGR 1998, 35; Wymeersch, AG 1998, 382. 49 Für die damalige Kritik vgl. vor allem Hopt, in: Balzarini u.a. (Hrsg.), I gruppi di società, Rivista delle società, S. 45 (S. 53 „major stumbling block“); früh ausführlich Assmann/Bozenhardt, in: Assmann u.a. (Hrsg.), Übernahmeangebote, S. 1; vgl. noch: Wymeersch, in: Hopt u.a. (Hrsg.), Comparative Corporate Governance, S. 1196 f. (umstrittenste Regel); rechtsvergleichende Übersicht zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Übernahmerecht der Mitgliedstaaten (schon vor Verabschiedung der Richtlinie): De Beaufort, Les OPA en Europe; Baums/Thoma, Takeover laws in Europe (Gesetzestexte); Wymeersch, European Financial Services Law 3 (1996), 301 und 4 (1997), 2; ders., ZGR 2002, 520.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

die zum gemeinsamen Erfolg führen soll, in deren Hand geben müssen, stets jedoch ihren gleichen Anteil so gut wie möglich verbürgt sehen. Das zweite Stück des Aktionärsschutzmodells („Verfassungsrechte“) hängt eng mit dem Informationsmodell zusammen; hier werden nicht mehr individuelle Rechte verbürgt, wohl aber kollektive Entscheidungsmacht: Im Europäischen Recht ist, wann immer es zu dieser Frage Regelungen entwickeln konnte, durchgängig zu beobachten, daß alle Strukturmaßnahmen und auch alle Satzungsänderungen, namentlich Kapitalmaßnahmen, unter den Vorbehalt eines Hauptversammlungsbeschlusses gestellt werden … und zwar bei allen strukturändernden Maßnahmen und auch beim Bezugsrechtsausschluß mit qualifizierter Mehrheit, so daß in diesen Fällen nicht nur die Entscheidungsmacht der Aktionäre, sondern auch ein kollektiver Minderheitenschutz europaweit verbürgt werden. Hinzuweisen ist namentlich auf Art. 25 Abs. 1, 29 Abs. 4, 5 und 40 der Kapital-Richtlinie (Kapitalmaßnahmen und Bezugsrechtsausschluß, zudem Art. 17, 19 Abs. 1 lit. a), Art. 7 und 5 f. der Fusions- und Spaltungs-Richtlinie (Strukturmaßnahmen-Grundmodell) und Art. 59 Abs. 1 der SE-Verordnung (Satzungsänderung), eigentlich auch Art. 9 der Übernahme-Richtlinie (Hauptversammlungsvorbehalt bei Abwehrmaßnahmen gegen das Angebot insgesamt).

2.

Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen

a)

Wettbewerb der Formen

Für das Europäische Gesellschaftsrecht wurde im letzten Jahrfünft der Wettbewerb prägend, teils der nationalen Rechtsformen untereinander, teils auch dies in grenzüberschreitenden Mischungen (etwa Ltd. & Co. KG), und teils der nationalen mit den Europäischen Rechtsformen. Der erste genannte Wettbewerb dominiert, vor allem auch deswegen, weil auch die Europäischen Rechtsformen, vor allem die Societas Europaea, im überwiegenden Teil der Rechtsfragen durch das nationale Recht des Sitzes geregelt werden. Abgesehen vom numerus clausus der Gründungsformen und der Gründung sind im Wesentlichen nur zwei Fragen von Gewicht vereinheitlicht: das Wahlrecht für die Struktur beim Leitungsorgan (wichtig für die Kompatibilität der Formen, dazu sogleich) und die zwingende Hauptversammlungskompetenz und -mindestmehrheit bei Satzungsänderungen. Die besondere Bedeutung der Europäischen Rechtsformen liegt deswegen wohl vor allem im Prestigefaktor und darin, daß mit ihnen ein Mittel zur Verfügung steht, das die identitätswahrende grenzüberschreitende Sitzverlegung und Fusion zweifelsfrei und weitgehend steuerneutral ermöglicht. Die drei Ansatzpunkte für diesen im letzten Jahrfünft erheblich verstärkten Wettbewerb der nationalen oder teileuropäisierten Formen bilden: 50 (1) die EuGH-Urteile 50 Näher etwa Grundmann, FS Raiser, S. 81– 98; wichtig daher zunehmend die Handbücher zu ausländischen Gesellschaftsformen in Deutschland, vor allem Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht; Hirte/Bücker (Hrsg.), Grenzüberschreitende Gesellschaf-

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zur Niederlassungsfreiheit (Fn. 15), die im Wesentlichen eine Freiheit, das anwendbare Recht zu wählen, in binnenmarktgrenzüberschreitenden Verkehr aus der Niederlassungsfreiheit ableiten, eingeschränkt nur durch die Möglichkeit, daß nationales beschränkendes Recht auf (eng auszulegende) zwingende Gründe des Allgemeininteresses gestützt werden kann (und nach manchen Autoren: zusätzlich eingeschränkt im Falle von Wegzugsbeschränkungen); (2) die genannten Europäischen Gesellschaftsformen, bisher verfügbar für eine kleine Personenhandelsgesellschaft (EWIV), die Aktiengesellschaft (SE) und die Genossenschaft, alle nur teilvereinheitlicht; und die Bemühungen um eine Richtlinie zur grenzüberschreitenden, identitätswahrenden Sitzverlegung und Fusion, die nunmehr die nationalen Formen erfassen sollen und zwar zunehmend eine ganze Reihe von diesen. b)

Kompatibilität der Formen

Ein Wettbewerb der Formen wird erheblich erleichtert, wenn auf Kompatibilität der Formen geachtet wird. So wird der Übergang von einer Rechtsform nach einem Recht zu einer nach einem anderen Recht erleichtert. Im Europäischen Gesellschaftsrecht ist ein Bemühen um solche Kompatibilität vielfach zu beobachten. Anschlußfähigkeit wird immer wieder gefördert. Zwei Beispiele mögen dies deutlich machen. Das erste betrifft die Umstrukturierung einer Gesellschaft. Umstrukturierung bedeutet regelmäßig auch Wechsel des rechtlichen Kleides (Satzungsanpassung). Ändert sich jedoch schon die Grobstruktur, so erschwert dies zusätzlich die Strukturmaßnahme. Da die Hauptversammlung als Organ überall vorgegeben ist, ist zuvörderst an die Ein- oder aber Zweistufigkeit des Leitungsorgans zu denken, zumal die Wahl der einen oder anderen Form auch weitere Gestaltungsmöglichkeiten beeinflußt, etwa die Frage nach der unternehmerischen Mitbestimmung. Es lag daher nahe, für die Societas Europaea dem französischen Beispiel zu folgen und die Wahl zwischen beiden möglichen Strukturen des Leitungsorgans den Gesellschaften zu überlassen (Art. 38, 39 Abs. 5, Art. 43 Abs. 4 SE-Statut). Und wenig später zog mit Italien ein weiterer großer Mitgliedstaat nach.51 Das zweite Beispiel betrifft die Strukturierung des Außenverhältnisses nach Europäischem Recht. Dies ist wichtig, da hier nach dem Gesagten ein Schwergewicht europäischer Harmonisierung liegt. Das Beispiel entstammt der 1. Richtlinie (Publizitäts-Richtlinie) und betrifft die dort geregelte organschaftliche Vertretungsmacht. Nicht geregelt, also dem Variantenreichtum nationaler Rechte überlassen sind so zentrale Fragen wie die Organkompetenz oder die Frage nach den Grenzen der Vertretungsmacht im Innenverhältnis, nach Einzel- und Gesamtvertretungsmacht. Und doch ist die Regelung überall anschlußfähig. Hauptinstrument ist die Eintragungspflicht im Handelsregister: Ist Gesamtvertretungsmacht nicht eingetragen, ten. Nachweise für die im folgenden zitierten Rechtsakte etwa bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht. 51 Zu dieser (liberalen) Grundsatzentscheidung des SE-Statuts: Hommelhoff, AG 2001, 279, 282 f.; Lutter, BB 2002, 1, 4; Schwarz, ZIP 2001, 1847, 1854. Das Wahlrecht war in Frankreich seit 1966 bekannt, hierzu und für Italien vgl. Hopt, ZGR 2000, 779, 815; Buse, RIW 2002, 676, 678.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

kann der Dritte sich auf Einzelvertretungsmacht verlassen.52 Dies ist gut erkennbar, zugleich wird so jeder Gesellschaft doch ein Mittel an die Hand gegeben, Vorstandswillkür vorzubeugen. Daher muß umgekehrt nicht so weit gegangen werden, Beschränkungen im Innenverhältnis im Außenverhältnis weitgehend zum Tragen zu bringen – wie dies in allen Mitgliedstaaten außer Deutschland der Fall war. Vielmehr ist nur die Anmaßung einer Kompetenz, die dem Vorstand nach jeweiligem nationalen Recht auch abstrakt-generell nicht zustehen kann, für den Dritten schädlich.53 Und dies sind idR nicht viele Geschäfte und regelmäßig die gleichen, nämlich die Grundlagengeschäfte. In allen anderen Punkten schadet dem Dritten nur Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von Beschränkungen. c)

Generalisierbarkeit?

Die Frage der Generalisierbarkeit Europäischer Modelle als weitere Form der Ausstrahlwirkung wird demgegenüber für das Europäische Gesellschaftsrecht ungleich weniger diskutiert und gedacht als für das Europäische Vertragsrecht. Freilich ist auch diese Form der Ausstrahlwirkung an durchaus zentralen Stellen zu konstatieren. Für übertragbar erachtet wurde insbesondere das Handelsregisterrecht – Publizitätsinhalte, -instrumente und -wirkungen –, denn mit Ausnahme vor allem des Vereinigten Königreichs hat das Modell der 1. Richtlinie, das allein für Kapitalgesellschaften europäisch vorgeschrieben ist, sich in allen wichtigen Mitgliedstaaten zu einem allgemeinen Modell für alle Kaufleute oder zumindest alle Handelsgesellschaften fortentwickelt. Auch das Europäische Bilanz- und das Umwandlungsrecht haben vielfach weit über ihren Anwendungsbereich ausgestrahlt. In Deutschland wurde beispielsweise Zweiteres – bei eigenen starken Wurzeln – die Grundlage eines ungleich systematischer durchgeführten Umwandlungsrechts und -gesetzes.54 Und das Europäische Bilanzrecht führte zur Ausgliederung aus dem Aktienrecht und zur Entwicklung eines allgemeinen Bilanzrechts im Handelsgesetzbuch. Relativ wenig Vorbildwirkung entfalteten die genuin Europäischen Rechtsformen, auch die SE (noch) nicht. Freilich mag sich im Anschluß an Art. 38, 39 Abs. 5, Art. 43 Abs. 4 der SE-Verordnung ein Trend entwickeln, daß der Gesellschaft selbst ein Wahlrecht eingeräumt wird, ob sie denn ein ein- oder ein zweistufiges Leitungsorgan haben will (Fn. 49).

52 Vgl. EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga GmbH, Slg. 1974, 1201 Rn. 6; zustimmend FischerZernin, Der Rechtsangleichungserfolg der Ersten gesellschaftsrechtlichen Richtlinie der EWG, S. 261. 53 Art. 9 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie … was freilich der EuGH in Rabobank verkannte, indem er dort eine Rechtsmißbrauchseinschränkung im Einzelfall zuließ: EuGH v. 16.12.1997 – Rs. C-104/96 Coöperatieve Rabobank „Vecht en Plassengebied“ ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211; vgl. für berechtigte Kritik Meilicke, DB 1999, 785, 786 –788; Schmid, AG 1998, 127, 129 –131. 54 Schön verschränkt sind beide dargestellt bei Hommelhoff/Riesenhuber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken im Euopäischen Privatrecht, S. 259.

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§ 7 Systemdenken und Systembildung

3.

Besonderes Gewicht des Informationsmodells 55

Inhaltlich ragt auch im Europäischen Gesellschaftsrecht das Informationsmodell hervor,56 fast noch offensichtlicher als im Vertragsrecht. Das gilt wiederum bereits für das Primärrecht. Auf Grund der Grundfreiheitenrechtsprechung des EuGH hat der nationale Gesetzgeber Informationsregeln den Vorzug zu geben gegenüber inhaltlich zwingenden Festlegungen, wann immer erstere das Schutzbedürfnis ebenfalls weitgehend befriedigen können.57 Und nach ebendiesem Maßstab legiferiert wiederum der Europäische Gesetzgeber im Sekundärrecht. Nicht nur hat das Herzstück, das im Wesentlichen alle Gesellschaftsformen erfaßt, das Bilanzrecht, Informationsaufbereitung und -weitergabe zum Gegenstand. Vielmehr gilt gleiches auch für das Kapitalmarktrecht als das zweite Teilstück neben dem Organisationsrecht. Und selbst die Regelung von Umstrukturierungen ist vor allem informationsorientiert. Denn dies bedeutet stets, daß weitestmöglich auf autonome Entscheidung der Betroffenen gesetzt und diese – durch hinreichende Information – vorbereitet wird. Dabei wird Information in verschiedener Hinsicht „optimiert“. Im Recht der Umstrukturierung, für die die 3. Richtlinie das Modell bildet, sind alle wesentlichen Informationen sowohl zur Strukturmaßnahme insgesamt als auch zu den Auswirkungen auf den einzelnen Aktionär aufzubereiten und bestmöglich zugänglich zu machen, des Weiteren neutral und professionell zu überprüfen und trifft – auf dieser Grundlage – der Betroffene zuletzt selbst die Entscheidungen – jedenfalls im Kollektiv, denn die Hauptversammlungszuständigkeit wird garantiert, in vielen Fällen auch individuell, auf Grund eines Auskaufsrechts oder individueller Kauf- und Verkaufsentscheidungen. Zusätzlich unterstützt wird die Informationsverläßlichkeit durch Haftungsregeln. Das Modell ist mit all diesen Elementen wiederzufinden im Bilanzrecht und im Kapitalmarktrecht, wobei für den Betroffenen teils auch noch gewährleistet wird, daß die Information für ihn zusätzlich individualisiert, bezogen auf seine Situation, aufbereitet wird (im Wertpapierhandel).58 Und auch in der Übernahme-Richtlinie ist die informationelle Vorbereitung der zwei wichtigsten Entscheidungen ausführlich geregelt: die Information zum Angebot, auf das durch individuelle Entschei-

55 Zu weiteren Systembausteinen und -charakteristika vgl. Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 31; ders., ZIP 2004, 2401; Jung, GPR 2004, 233. 56 Ausführlich Grundmann, FS Lutter, S. 61; ders., DStR 2004, 232; monographisch vor allem Grohmann, Informationsmodell im Europäischen Gesellschaftsrecht (im Erscheinen); Merkt, Unternehmenspublizität. 57 Für die Niederlassungsfreiheit und das Gesellschaftsrecht: EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 Centros, Slg. 1999, I-1459 Rn. 34 – 38; auch EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. 58 Zu dieser Optimierung der Information für den individuellen Anleger durch Einschaltung und Regulierung von Informationsintermediären: Gemberg-Wiesike, Wohlverhaltenspflichten beim Vertrieb von Wertpapier- und Versicherungsdienstleistungen, S. 94; Grundmann/Kerber, in: Grundmann u.a. (Hrsg.) Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market, S. 269 – 271 und 291; Heinze, Europäisches Kapitalmarktrecht, S. 376 – 386.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

dung zu antworten ist, und die Information zur Übernahme insgesamt, auf die durch kollektive Entscheidung zu Verteidigungsmaßnahmen zu antworten ist. Auch die sonstigen Rechtsakte, insbesondere die 1. und auch die 2. Richtlinie, sind stark informationsorientiert (Fn. 53). Die 1. Richtlinie trägt nicht von ungefähr den Titel einer Publizitäts-Richtlinie. Und ist die Entscheidung einmal getroffen, so gehört ebenfalls zum Modell „informierte Entscheidung“, daß dieser idR sehr hohe Bestandskraft beigelegt wird: Die Nichtigkeit wird stark zurückgedrängt – sowohl in der 1. Richtlinie bei Gründung als auch in der 3. Richtlinie bei Umstrukturierung – und zudem wird eine weitere präventive (gerichtliche) Kontrolle vielfach vorgeschrieben. Rechtssicherheit ist gerade im grenzüberschreitenden Verkehr in der Tat von großer Bedeutung. Dieses Anliegen wird hier denn auch teils nochmals spezifisch bedient, etwa wenn die Europäische Fusionsregelung für internationale Sachverhalte die Nichtigkeitsgründe nochmals stärker eingrenzt.

V.

Ausblick

Das System des Europäischen Privatrechts entwickelt sich rasant. In den gut fünf Jahren, in denen der Begriff für das Europäische Privatrecht bisher positiv gedacht wird,59 hat sich unendlich viel ereignet: Das Kaufrecht als Kernstück im Europäischen Vertragsrecht wurde während der Laufzeit der damaligen Ringvorlesung gerade erst verabschiedet. Es folgten die verschiedenen Mitteilungen der Kommission, die Systematisierung zum zentralen Ziel erklärten (oben, I mit Fn. 1). Der Prozeß zur Entwicklung eines Gemeinsamen Referenzrahmens hat viel, vielleicht das meiste damit zu tun.60 Riesenhuber schrieb die erste große Monographie, die das System „durchdekliniert“ (oben, I). Zunehmend entstehen Reihen von systematischen Lehrbüchern zum acquis. Im Gesellschaftsrecht wurde der Gesamtbestand erstmals von einer Expertengruppe flächendeckend durchleuchtet.61 Allein im deutschen Schrifttum entstanden drei Lehrbücher (Habersack, Schwarz, Grundmann). Mit der Societas Europaea ist endlich die große Alternativform zu den nationalen Rechtsformen geschaffen. Das Kernstück Bilanzrecht ist gänzlich neu, das gesamte Kapitalmarktrecht ebenfalls.

59 Beginnend wohl mit den Beiträgen zu: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts. 60 Zu diesem vgl. Schmidt-Kessel, unten, § 13. 61 High Level Group I/II, Bericht der Hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über die Abwicklung von Übernahmeangeboten vom 10.1.2002 und Bericht der Hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über moderne gesellschaftsrechtliche Rahmenbedingungen in Europa vom 4.11.2002, abrufbar unter www. europa.eu.int/comm/internal_market/de/company (Jaap Winter [Vorsitzender], Jan Schans Christensen, José Maria Garrido Garcia, Klaus J. Hopt, Jonathan Rickford, Guido Rossi, Dominique Thienpont [Rapporteur]; Karel van Hulle [Sekretär]); dazu Stellungnahme der Group of German Experts on Corporate Law zum Konsultationsdokument der High Level Group of Experts on Corporate Law, ZIP 2002, 1310.

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§ 7 Systemdenken und Systembildung

Systemdenken ist wichtiger denn je im Europäischen Privatrecht. Es ist nicht zuletzt auch die Grundlage für die zwei wohl wichtigsten Auslegungsmethoden, die systematische und auch in gewissem Maße die teleologische, und für die großen Fragen wie die Rechtsfortbildung und teils auch die richtlinienkonforme Auslegung. Eine der spannendsten Fragen wird sein, ob die Europäische Privatrechtswissenschaft fähig ist, in den nächsten fünf Jahren System wirklich überzeugend für das moderne Vertrags- und das moderne Gesellschaftsrecht zu schaffen, in geschriebener Form und nicht nur als Übernahme tradierter Systeme.

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§ 8 Die Auslegung Karl Riesenhuber Übersicht I. Autonome Auslegung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  II. Ziel der Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Kriterien der Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Die grammatikalische Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Ausgangspunkt für die Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Wortlaut und Sprachenvielfalt   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Relativität der Rechtsbegriffe   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Die systematische Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Der sprachliche Bedeutungszusammenhang   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen?  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Die historische und genetische Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Der Gesetzgeber   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Zugängliche Materialien   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  d) Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  e) Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Die teleologische Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Regelungszweck und Angleichungszweck   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  IV. Rangfolge der Auslegungskriterien  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  V. Einzelne Auslegungsregeln  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. „In dubio pro consumatore“?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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201 201 201 203 204 205 207 207 210

Im folgenden geht es um die Auslegung des Europäischen Privatrechts, allerdings nur mit Einschränkungen. Das gilt zunächst für den Gegenstand der Auslegung. Zum Europäischen Privatrecht gehören auch Regeln und Prinzipien des Primärrechts (i.e. § 4), man denke nur an das Kartellverbot des Art. 81 EG und das Prinzip der Vertragsfreiheit, das den Grundfreiheiten zugrunde liegt. Auslegung und Fortbildung des Primärrechts folgen indes teilweise besonderen Regeln, die bereits gesondert behandelt wurden (§ 5). Aber auch von den sekundärrechtlichen Rechtsakten werden im folgenden im wesentlichen nur Richtlinien und Verordnungen erörtert; die Auslegung von Entscheidungen, die auch im Privatrecht durchaus von Bedeutung sind, wird nicht erörtert. Zweitens bleiben zwei Themen, die nach umstrittener Auffassung auch für die Auslegung von Bedeutung sind, an dieser Stelle unberücksichtigt: Die Rechtsverglei-

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§ 8 Die Auslegung

chung (§ 2) und die ökonomische Theorie (§ 3).1 Gesondert behandelt wird zudem die primärrechtskonforme Auslegung (§ 6). Drittens schließlich geht es im folgenden ausschließlich um die Auslegung, nicht auch um die Konkretisierung von Generalklauseln (nachfolgend, § 9) oder die Rechtsfortbildung (nachfolgend, § 10). Das ist deswegen hervorzuheben, weil der EuGH – der französischen Tradition folgend – Auslegung und Rechtsfortbildung (sprachlich) nicht unterscheidet, sondern auch die Rechtsfortbildung als Auslegung bezeichnet (oben, § 1).2

I.

Autonome Auslegung

Eine Vorfrage der Auslegung des Sekundärrechts – und damit zugleich weiter Teile des Europäischen Privatrechts – ist oftmals, ob eine Regelung oder ein Begriff gemeinschaftsautonom auszulegen ist. Allerdings wird diese Frage teilweise schon in den einzelnen Rechtsakten selbst deutlich beantwortet. Unzweifelhaft ist ein gemeinschaftsautonomes Konzept gewollt, wenn der Gesetzgeber einen Begriff in dem – weithin üblichen – Definitionsartikel selbst definiert hat.3 Und unzweifelhaft ist keine gemeinschaftsautonome Definition gewollt, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber für eine Definition auf das nationale Recht verweist. So sind etwa „Verbraucher“ und „Unternehmer“, wie sie in zahlreichen vertragsrechtlichen Richtlinien definiert sind, gemeinschaftsautonome Begriffe, ebenso wie etwa der Garantiebegriff gem. Art. 1 Abs. 2 lit. e KGRL oder jener der „Massenentlassung“ in Art. 1 Abs. 1 lit. a MERL. Und umgekehrt verweisen die meisten arbeitsrechtlichen Richtlinien für die Begriffe „Arbeitnehmer“ oder „Arbeitnehmervertreter“ auf das nationale Recht, sie sind also nicht gemeinschaftsautonom auszulegen. Daneben gibt es aber zahlreiche Begriffe, für die es weder eine eigene Definition noch eine Verweisung gibt, wie z.B. die Begriffe der „Entlassung“ und „Kündigung“ in der Massenentlassungsrichtlinie. Ob auch solche Begriffe gemeinschaftsautonom auszulegen sind, erörtert der EuGH in jüngerer Zeit ausdrücklich vorab. In der Tat ist die Frage keineswegs selbstverständlich zu bejahen.4 Beruht das Europäische Privatrecht – wie in weiten Teilen des Privatrechts ganz unvermeidlich der Fall – auf der Rechtstradition der Mitgliedstaaten, so könnten seine Regelungen auch als eine Verweisung auf die mitgliedstaatlichen Rechte oder das Recht eines Mitgliedstaats zu verstehen sein. Das könnte vor allem dann naheliegen, wenn ein Gemeinschaftsrechtsakt nach dem Vorbild einer mitgliedstaatlichen Regelung gestaltet wurde: Wenn die Handelsvertreterrichtlinie dem Vorbild des deutschen Rechts folgt, kann man erwägen, sie ebenso auszulegen.

1 Dazu an dieser Stelle nur die Hinweise von Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532 – 534; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 49 f. 2 S. kürzlich Colneric, ZEuP 2005, 225, 230; näher unten, § 10. 3 EuGH v. 14.5.1985 – Rs. 139/84 van Dijk’s Boekhuis, Slg. 1985, 1405 Rn. 16. 4 Dazu bereits Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Indes deutet schon die bloß vereinzelte Verweisung auf das nationale Recht darauf hin, daß eine Verweisung sonst nicht gewollt war. Liegt der innere Grund für solche Verweisung in den Grenzen der Rechtsangleichung, so bedeutet die Rechtsangleichung soweit sie reicht im Grundsatz auch, daß ein autonom gemeinschaftsrechtliches Konzept geschaffen werden sollte. Wer angleichen will, muß einen Maßstab schaffen.5 Durch dynamische Verweisung auf den jeweiligen Stand der nationalen Auslegung würde das Gemeinschaftsrecht seine Autonomie preisgeben, bei statischer Verweisung auf den ursprünglichen Stand würde es versteinern. Darüber hinaus würde jegliche Verweisung den Grundsatz der Gleichberechtigung der Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten in Frage stellen. In einer Gemeinschaft Gleicher kann dieser gemeinsame Maßstab aber gerade nicht in einem der nationalen Rechte liegen. Sonst wären Angehörige des „vorbildlichen“ Landes bei Rechtssuche und rechtlicher Argumentation im Vorteil. In seinem Urteil vom 27.1.2005 im Fall Junk hebt der EuGH ebendies hervor. Es ging (insbesondere) um die Auslegung des Begriffs der „Entlassung“ in der Massenentlassungsrichtlinie, den man in Deutschland aufgrund einer arbeitsmarktpolitisch verstandenen Zwecksetzung als „tatsächliche Beendigung“ auslegte. Ungeachtet der gewissen Anlehnung der Richtlinie an das Vorbild des deutschen Rechts legte der Gerichtshof die Regelung gemeinschaftsautonom aus: „Für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits muß also der Inhalt des Begriffes ‚Entlassung‘ im Sinne der Richtlinie bestimmt werden. In Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie wird der Begriff „Massenentlassungen“ definiert, aber weder angegeben, welcher Umstand eine Entlassung bewirkt, noch insoweit auf das Recht der Mitgliedstaaten verwiesen. Hierzu ist daran zu erinnern, daß die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts und der Gleichheitssatz verlangen, daß Begriffe einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Gemeinschaft autonom und einheitlich ausgelegt werden, wobei diese Auslegung unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des mit der Regelung verfolgten Zweckes zu ermitteln ist. Der Begriff ‚Entlassung‘ im Sinne der Artikel 2 bis 4 der Richtlinie ist daher in der Gemeinschaftsrechtsordnung autonom und einheitlich auszulegen.“ 6

Der Gerichtshof geht demnach gleichsam von einer Vermutung für die autonome Auslegung aus („in der Regel“) 7 und begründet das mit den oben angestellten Erwägungen zur einheitlichen Anwendung und der Gleichbehandlung. Tatsächlich ent-

5 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 140, 143. 6 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 27– 30 (Nachweise weggelassen); dazu Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97–103. Ferner (auch zum sonstigen Sekundärrecht) EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-55/02 Kommission ./. Portugal, Slg. 2004, I-9387 Rn. 45; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 25, 28; EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 Ekro, Slg. 1984, 107 Rn. 11; EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-287/98 Linster, Slg. 2000, I-6917, Rn. 43; EuGH v. 14.1.1982 – Rs. 64/81 Corman ./. Hauptzollamt Gronau, Slg. 1982, 13 Rn. 8. 7 Ebenso EuGH v. 9.11.2000 – Rs. C-357/98 Yiadom, Slg. 2000, I-9265 Rn. 26; EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-287/98 Linster, Slg. 2000, I-6917 Rn. 43; EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 Ekro, Slg. 1984, 107 Rn. 11. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 19 („eigene, besondere Terminologie“); für das Primärrecht EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend & Loos, Slg. 1953, 1, 25.

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§ 8 Die Auslegung

spricht diese Vermutung dem Regelsachverhalt: Wenn jemand eine einheitliche Regelung schafft, dann will er sie normalerweise nicht zur Disposition der Unterworfenen stellen. Wollte er das tun, würde (und müßte) er diesen Willen klar hervorheben. Allerdings kann sich eine Verweisung auf das nationale Recht auch ohne ausdrückliche Regelung ergeben. Das hat der EuGH v.a. dann angenommen, wenn eine einheitliche Begriffsbildung nicht möglich war 8 oder die bisher nur teilweise erfolgte Harmonisierung dies gebot 9.10

II.

Ziel der Auslegung

Es ist ein alter Streit, was das richtige Ziel der Auslegung ist: der subjektiv-historische Gesetzgeberwille oder der objektiv-geltungszeitliche Normzweck.11 Die aus der nationalen Methodenlehre bekannten Erwägungen gelten entsprechend für das Europäische Privatrecht. Für die subjektive Theorie sprechen das Demokratieprinzip und der Gewaltenteilungsgrundsatz.12 Auch im Gemeinschaftsrecht sind Rechtsetzungsaufgabe und Rechtsprechungsaufgabe getrennt, man spricht vom „institutionellen Gleichgewicht“ der Organe.13 Damit bezeichnet der EuGH das in den Verträgen vorgesehene „System der Zuständigkeitsverteilung zwischen den verschiedenen Organen der Gemeinschaft (…), das jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutio-

8 Etwa EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-369/90 Micheletti, Slg. 1992, I-4239 Rn. 10 –15 (Staatsangehörigkeit); EuGH v. 6.10.1976 – Rs. 12/76 Tessili, Slg. 1976, 1473 Rn. 14 (Erfüllungsort im Rahmen des EuGVÜ). Ein differenziertes Ergebnis begründet EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 25 – 27 für den Schadensbegriff, der in Eckdaten von der Produkthaftungsrichtlinie vorgegeben wird, im einzelnen aber von den Mitgliedstaaten zu definieren ist. 9 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639 Rn. 22 – 27 (jetzt freilich Art. 1 lit. d Betriebsübergangsrichtlinie). 10 Eingehende Analyse der Rechtsprechung bei Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 475 – 503, der Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage der Unterscheidung von Verordnung und Richtlinie, der gewählten Kompetenzgrundlage, und der Unterscheidung von aktiver und reaktiver Rechtsangleichung entnehmen möchte. 11 Eingehend Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 32 – 35, 316 – 320. An der Differenzierung von Auslegungsmittel und Auslegungsziel zweifelnd Schroth, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 6.3.3.2 (S. 284); von der „Unbrauchbarkeit der ‚subjektiven‘ und der ‚objektiven Theorie‘ sprechen Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 442 – 444. 12 Neuner, unten, § 10 III 1 b bb; ders., Privatrecht und Sozialstaat, S. 193; für das nationale Recht Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 704 –713. A.A. Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 158 f. 13 Dazu etwa EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/84 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 17 f.; EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21– 28; EuGH v. 29.10.1980 – Rs. 138/79 Roquette, Slg. 1980, 3333 Rn. 33; EuGH v. 5.5.1981 – Rs. 804/79 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1981, 1045 Rn. 23; EuGH v. 13.6.1958 – Rs. 9/56 Meroni I, Slg. 1958, 9, 44; EuGH v. 13.6.1958 – Rs. 10/56 Meroni II, Slg. 1958, 51, 82. Calliess/Ruffert-Calliess, Art. 7 EGV Rn. 7–15.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

nellen Gefüges der Gemeinschaft und bei der Erfüllung der dieser übertragenen Aufgaben zuweist.“ 14 Das institutionelle Gleichgewicht ist zwar nicht gleichbedeutend mit dem staatlichen Prinzip der Gewaltenteilung, da vor allem die Grenzlinie zwischen Legislative und Exekutive auf Gemeinschaftsebene nicht gleichermaßen scharf gezogen ist.15 Die Stellung des Gerichtshofs weist jedoch „recht deutliche staatstypische Parallelen“ auf,16 gerade auch darin, daß ihm die Aufgabe der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ zukommt, aber grundsätzlich keine Rechtsetzungskompetenz.17 Zu den „Leitprinzipien der Gemeinschaft und Union“ gehört aber auch das Demokratieprinzip (vgl. schon Art. 6 EU).18 Im Gesetzgebungsverfahren wird es durch das Parlament einerseits, aber auch durch die Vertreter im Rat andererseits verwirklicht, die in den Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert sind.19 Wenn daher auch im Gemeinschaftsrecht Rechtsetzung und Rechtsprechung getrennt werden und es die Aufgabe der demokratisch legitimierten Organe ist, Recht zu setzen, dann muß man bei der Auslegung den subjektiven Gesetzgeberwillen ermitteln. Demgegenüber soll nach der objektiven Theorie die objektive Bedeutung der Normen ermittelt werden, so wie sie sich im Entscheidungszeitpunkt darstellt.20 Sie stützt sich ihrerseits auf das – gleichfalls verfassungsrechtlich begründete – Gebot der Rechtssicherheit, das gebietet, das Vertrauen auf den veröffentlichten Wortlaut des Gesetzes (Art. 254 Abs. 1, 2 EG) zu schützen. Ein aus dem Wortlaut vielleicht nicht ersichtlicher und womöglich schwer zugänglicher Wille des Gesetzgebers könne daher nicht berücksichtigt werden. Zudem verlangten die sich andauernd ändernden tatsächlichen Verhältnisse und das sich ändernde Gesamtsystem des Rechts Berücksichtigung bei der Auslegung. Nicht zuletzt spricht auch die unvermeidliche Eigenständigkeit des Gesetzes, das sich mit der Anwendung weiterentwickelt, für die objektive Theorie.21 Bereits diese Begründungen deuten an, daß beide Lehren nicht in einem Verhältnis strenger Alternativität stehen, sondern sich durchaus ergänzen können („Vereinigungstheorie“).22 Mit Rücksicht auf die auch im Gemeinschaftsrecht fundamentalen Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung muß es allerdings im Aus-

14 EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21. 15 Siehe nur Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 317– 321. 16 Calliess/Ruffert-Calliess, Art. 7 EGV Rn. 7. 17 A.M. Borchardt, GS Grabitz, S. 39, der von einer „konkurrierenden Zuständigkeit“ von EuGH und Legislative zur Rechtsetzung spricht, die Kompetenz des Gerichtshofs dann aber – allerdings wohl nur unter dem Gesichtspunkt der Selbstbeschränkung – auf Fälle beschränkt, in denen der Gesetzgeber „aus sachlich nicht gerechtfertigten Gründen“ keine Regelung vorgesehen hat. 18 Dazu etwa EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 17. 19 BVerfGE 89, 155, 184 –187 – Maastricht. 20 Tendenziell etwa Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 428 – 436; Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 137–141. Kritisch besonders Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 806 – 815. 21 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 317 f. 22 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 139 f.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 49 – 51.

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§ 8 Die Auslegung

gangspunkt um die Ermittlung des Gesetzgeberwillens gehen. Auch nach der Ansicht des EuGH, sind Vorschriften des Gemeinschaftsrechts „nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck“ auszulegen.23 Anders als im Primärrecht steht dem im Sekundärrecht regelmäßig nicht entgegen, daß dieser Wille nicht erkennbar sei: Entsprechend dem Begründungsgebot des Art. 253 EG sind die Rechtsakte mit (zunehmend eingehenden) Begründungserwägungen versehen und gibt es zudem aus dem Rechtsetzungsverfahren üblicherweise eingehende Begründungen zu Kommissionsvorschlägen und Änderungen im Gesetzgebungsverfahren (nachfolgend, III.3). Diese Erwägungen schließen es indes nicht aus, Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse, vor allem aber auch des rechtlichen Umfeldes Rechnung zu tragen. Im Hinblick auf das rechtliche Umfeld ist das nicht zuletzt wegen des in vielen Fällen real nachweisbaren, jedenfalls aber zu vermutenden „Systembildungswillens“ des Gesetzgebers 24 berechtigt (s. noch nachfolgend, III.2). Allerdings ist der Gesetzgeberwille in der verhältnismäßig jungen Europäischen Privatrechtsordnung meist feststellbar und spielen zudem objektive Elemente in einer nur rahmenhaft ausgeformten Rechtsordnung keine gleichermaßen starke Rolle wie etwa im deutschen BGB.25

III.

Kriterien der Auslegung

Nach der in Deutschland und auch in anderen Ländern weithin üblichen Einteilung kann man ungeachtet fließender Übergänge und teilweiser Überschneidungen vier Auslegungskriterien unterscheiden, die grammatikalische, die historische, die systematische und die teleologische Auslegung.26 1.

Die grammatikalische Auslegung

a)

Ausgangspunkt für die Auslegung

In nahezu jeder Entscheidung gibt der EuGH zunächst die umstrittene(n) Norm(en) wörtlich wieder und beginnt die Auslegung, entsprechend „allgemein anerkannten Auslegungsprinzipien“, beim Wortlaut.27 Dabei ist nach unseren Vorüberlegungen (oben, I) zunächst zu ermitteln, ob die Wortwahl autonom-gemeinschaftsrechtlich

23 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/02 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 33; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 26/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3; EuGH v. 7.7.1988 – Rs. 55/87 Moksel, Slg. 1988, 3845 Rn. 15; EuGH v. 20.11.2001 Rs. C-268/99 Jany, Slg. 2001, I-8615 Rn. 47. 24 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 24; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 8 f. 25 S.a. Bleckmann, Europarecht, Rn. 554. 26 Bankowski/MacCormick/Summers/Wróblewski, in: MacCormick/Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, S. 25 – 27; Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 260 f.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, passim; Lando/Beale (Hrsg.), Principles of European Contract Law Parts 1 and 2, S. 109, Note 1. 27 EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 55/81 Levin, Slg. 1982, 1035 Rn. 9; EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-251/ 95 Sabèl, Slg. 1997, I- 6191 Rn. 18.

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oder als Verweisung auf das mitgliedstaatliche Recht zu verstehen ist. Für eine autonom-gemeinschaftsrechtliche Wortwahl spricht allerdings eine Vermutung (oben, I). b)

Wortlaut und Sprachenvielfalt

Das wichtigste eigenständige Problem der Wortlautauslegung im Gemeinschaftsrecht bildet die Sprachenvielfalt. Die nunmehr 20 sprachlichen Fassungen von Gemeinschaftsrechtsakten 28 sind grundsätzlich gleich autoritativ, so daß nicht eine Vorrang vor der anderen beanspruchen kann.29 Daher muß die Wortlautauslegung grundsätzlich alle sprachlichen Fassungen berücksichtigen.30 Im Verfahren vor dem EuGH erfolgt das öfter durch Erklärungen der Mitgliedstaaten, die ihrerseits von den jeweiligen Sprachfassungen ausgehen. Nicht selten erweist sich dabei, daß die gemeinschaftsrechtliche Rechtssprache nicht annähernd so ausgefeilt ist wie die nationale Rechtssprache.31 Diesem Defizit können auch die in den Rechtsakten üblichen Begriffsbestimmungen nicht vollständig abhelfen, da sie sich regelmäßig nur auf wenige tragende Konzepte beziehen, darüber hinaus aber weitere Begriffe und Regelungen autonom auszulegen sind (s.o. I). In keinem Fall kann die Auslegung beim Wortlaut bereits stehenbleiben. Ergibt sich aus dem notwendigen Vergleich der sprachlichen Fassungen keine Divergenz oder lassen sich zumindest alle Fassungen in einem Sinne verstehen, so ist das zwar ein starkes Indiz für die vom Wortlaut nahegelegte Auslegung.32 Dieses Indiz ist aber noch anhand anderer Auslegungskriterien zu bestätigen (anders die sog. acte-clairDoktrin) 33.34 Ergibt sich umgekehrt – wie praktisch nicht selten der Fall – eine Divergenz der Sprachfassung, so muß diese mit Hilfe anderer Auslegungsmittel aufgelöst werden.35

28 Im Primärrecht ist zusätzlich das Irische Amtssprache. 29 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 18. Verordnung Nr. 1 des Rates zur Regelung der Sprachenfrage für die europäische Wirtschaftsgemeinschaft vom 15.4.1958, ABl.EG 1958, S. 385; BieberEpiney/Haag, Die Europäische Union, § 7 Rn. 53. S.a. Armbrüster, EuZW 1990, 246 – 248. Nicht unbedenklich ist daher der faktische Vorrang des Französischen als Arbeitssprache des Gerichtshofs, zumal wenn andere Sprachfassungen nur berücksichtigt werden, wenn Verfahrensbeteiligte (zufällig?) Divergenzen aufdecken; zur Praxis des EuGH Colneric, ZEuP 2005, 225, 227. 30 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 2655 Rn. 10 –12; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 26/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3; EuGH v. 20.11.2001 – Rs. C-268/99 Jany, Slg. 2001, I-8615 Rn. 47. 31 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 179 f. 32 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457 Rn. 13 –15. 33 In Richtung einer acte-clair-Doktrin weist aber EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 16. Dagegen etwa Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 258. 34 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 2655 Rn. 10 – 20 (Bestätigung des schon als „eindeutig“ erkannten Wortlauts durch systematische und teleologische Erwägungen); EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457 Rn. 13 –15. 35 EuGH v. 27.10.1977 – Rs. 30/77 Boucherau, Slg. 1977, 1999 Rn. 13/14; EuGH v. 7.7.1988 – Rs. 55/87 Moksel, Slg. 1988, 3845 Rn. 15; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Aannemersbedrijf Kraaijeveld, Slg. 1996, I-5403 Rn. 28; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-448/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 28; EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, Slg. 1985, 469 Rn. 11–13; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3 – 4; EuGH v. 20.11.2001 – C-268/99, Jany, Slg. 2001, I-8615 Rn. 47.

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§ 8 Die Auslegung „Nach ständiger Rechtsprechung verbietet die Notwendigkeit einheitlicher Anwendung und damit Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, sie in einer ihrer Fassungen isoliert zu betrachten, sondern gebietet vielmehr, sie nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck namentlich im Licht ihrer Fassung in allen Sprachen auszulegen.“ 36

Zuvor können sich allerdings schon aus dem Wortlaut Indizien für eine bestimmte Auslegung ergeben. Keine große Hilfe ist aber von der Untersuchung der Arbeitssprache des Gesetzgebers zu erwarten, der gelegentlich größeres Gewicht beigemessen wird.37 Das ist schon wegen der Gleichwertigkeit aller Sprachen problematisch, zudem deswegen, weil die Arbeitssprache im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens oder in verschiedenen Gremien wechseln mag und endlich, weil sie nicht offiziell und nicht veröffentlicht ist. Fruchtbarmachen kann man aber im Einzelfall den – auch im nationalen Recht anerkannten – grundsätzlichen Vorrang des spezifischen Gesetzessprachgebrauchs vor dem allgemeinen Sprachgebrauch.38 Verwendet eine sprachliche Fassung einen juristisch-technischen Begriff oder den spezifischeren oder präziseren Terminus, so kann diese Bedeutung vorzuziehen sein, wenn sich auch die anderen Sprachfassungen in diesem Sinne verstehen lassen.39 Bekannt ist etwa das primärrechtliche Beispiel der Auslegung von Art. 249 Abs. 3 EG: Entsprechend dem spezifischeren Wortlaut der romanischen Sprachen sind Ergebnisvorgaben in Richtlinien zulässig, nicht nur Zielvorgaben, auf die die deutsche Fassung hindeutet.40 Freilich hilft der technische Wortlaut nicht immer weiter. So definiert z.B. die englische Fassung der Massenentlassungsrichtlinie die Massenentlassung als dismissal, also mit dem normativen Begriff der Kündigung, die deutsche verwendet hingegen den (eher) deskriptiven Begriff der Beendigung. Für die Auslegung war dem Wortlaut indes nicht mehr als der Zweifel zu entnehmen, da die Regelung im übrigen zeigt, daß der Gesetzgeber die Begriffe (dismissal, Beendigung) nicht bewußt unterschieden, sondern allein aus Gründen sprachlicher Konvenienz verwandt hat.41

Im Ergebnis führt die Ermittlung des Wortsinns meist nur zu einer Eingrenzung der möglichen Auslegungsergebnisse, wobei die Sprachenvielfalt verbunden mit dem Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Sprachen die Wortsinngrenze tendenziell erweitert. Aber auch ein (vermeintlich) eindeutiger Wortsinn bedarf der Bestätigung durch weitere Überlegungen. Die weitere Konkretisierung oder Bestätigung muß mit Hilfe anderer Kriterien gesucht werden.

36 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 33 (Nachweise weggelassen). 37 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 683 („begrenzte Hilfe“); das ist freilich vielleicht nur als empirischer Befund gemeint. 38 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 439 f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 322; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 119 –121. 39 Vgl. GA Lord Slynn, Schlußanträge v. 8.11.1984 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457, 459 f., vom Gericht i.Erg. übernommen, vgl. a.a.O. Rn. 13. 40 Gegen eine Beschränkung auf bloße Zielvorgaben schon H.-P. Ipsen, FS Ophüls, S. 67, 73 f.; heute unstr. 41 Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97, 98 f.

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Kommt damit dem Wortlaut bei der Auslegung ein geringerer Grad der Steuerung zu als in einem einsprachigen Rechtssystem, so ist seine fundamentale Bedeutung doch nicht zu leugnen. Insbesondere ist auch im Gemeinschaftsrecht der Wortlaut die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.42 c)

Relativität der Rechtsbegriffe

Im Gemeinschaftsrecht ist ebenso wie im nationalen Recht die Relativität der Rechtsbegriffe zu beachten: 43 Derselbe Begriff kann in verschiedenen Zusammenhängen Unterschiedliches bedeuten. Innerhalb des Europäischen Privatrechts ist das mit einer fortschreitenden Ausbildung auch des äußeren Systems (sogleich 2) allerdings grundsätzlich nicht zu vermuten. Das Europäische Arbeits- und Gesellschaftsrecht sind bereits seit längerem weitgehend durchstrukturiert, und auch im Europäischen Vertragsrecht hat die Kommission die Kohärenzaufgabe jetzt erkannt 44 und auch schon bei einzelnen Rechtsetzungsvorhaben im Ansatz aufgegriffen.45 In Einzelfällen haben dieselben Begriffe in verschiedenen Rechtsakten unterschiedliche Bedeutung. Zum Beispiel heißt der Reisende in der Pauschalreiserichtlinie „Verbraucher“, obwohl es nicht im technischen Sinne um einen Verbraucher als eine natürliche Person geht, die zu privaten Zwecken handelt. Und das Rücktrittsrecht der Timesharing-Richtlinie ist der Sache nach ein Widerrufsrecht. 2.

Die systematische Auslegung

a)

Der sprachliche Bedeutungszusammenhang

Die Auslegung kann nicht bei einzelnen Wörtern stehenbleiben, sondern muß sie in dem Bedeutungszusammenhang sehen, in den sie der Gesetzgeber gestellt hat. Dabei geht es zuerst – in Fortsetzung der Wortauslegung – um die Berücksichtigung des sprachlichen Kontextes, in dem ein Ausdruck verwendet wird. Für die Auslegung eines Wortes ist der Satzzusammenhang, für das Verständnis eines Satzes der Textzusammenhang entscheidend. Das ist freilich noch keine systematische Auslegung, sondern Bestandteil der grammatikalischen Auslegung. b)

Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang

Bei der eigentlichen systematischen Auslegung geht es darum, eine Rechtsnorm als Bestandteil eines (äußerlich und innerlich) geordneten Regelungsganzen zu verstehen und durch ihre Stellung in diesem System Rückschlüsse auf ihre Bedeutung zu ziehen. Das ist ungeachtet seines oft beklagten „pointillistischen“ oder „fragmenta42 Näher Neuner, unten § 10 I 1. 43 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 141f.; Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 110 –122. S. schon Müller-Erzbach, JherJb 61 (1912), 343 – 384. 44 Eingehend Mitteilung der Kommission vom 11.7.2001 an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endg., bes. Rn. 34. 45 S. z.B. – freilich mit stärkerem Bezug zum inneren System – die Erklärung des Rates und des Parlaments zu Art. 6 Abs. 1 FARL, abgedruckt bei Schulze/Zimmermann, Basistexte zum Europäischen Privatrecht, I.25 a.E. (S. 123); BE 11 EComRL.

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§ 8 Die Auslegung

rischen“ Charakters auch im Europäischen Privatrecht möglich. Ganz selbstverständlich sind seine Regeln äußerlich geordnet, es kann ihnen aber auch eine innere Ordnung entnommen werden.46 Beachtet man zudem das der Rechtsangleichung zugrunde liegende Harmonisierungskonzept, so läßt sich das Europäische Privatrecht auch als (weitgehend) vollständig und nur in einzelnen Punkten lückenhaft (bzw. in Entstehung befindlich) verstehen. Dementsprechend kann man zunächst die äußere Ordnung der Rechtsvorschriften in Rechtsakte, Abschnitte und Artikel für die Auslegung fruchtbar machen.47 Z.B. hat der EuGH die Frage, ob Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 Betriebsübergangs-Richtlinie bedeute, daß auch vor dem Übergangszeitpunkt entstandene Ansprüche auf den Erwerber übergehen, mit zwei systematischen Erwägungen bejaht. Erstens deute die Ermächtigung der Mitgliedstaaten in UAbs. 2 darauf hin, wenn sie die Haftung des Veräußerers auch auf nachträglich entstandene Ansprüche erstrecken können. Zweitens spreche die Vorschrift des Absatz 3 a.F. (vgl. jetzt Absatz 4 lit. a) für dieses Ergebnis, die nur einzeln aufgezählte Fälle von der Übergangsanordnung ausnimmt.48

Schon die teleologische Auslegung ist berührt, wenn man das Verständnis einer Vorschrift mit Rücksicht auf das innere System ermittelt und dazu die Teleologie des Regelungsganzen und seine innere Ordnung durch Prinzipien berücksichtigt.49 Diese prinzipiell-systematische Auslegung 50 hat auch im Europäischen Privatrecht ihren Platz. Auch hier ist „jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen“.51 Die Vielzahl der einzelnen Regeln steht nicht unverbunden nebeneinander, sondern ist vom Gesetzgeber als ein zusammenhängendes, nach Prinzipien geordnetes widerspruchsfreies Ganzes gewollt.52

46 Für das Vertragsrecht Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, passim. Die gemeinschaftsrechtliche Akzeptanz (besonders im Hinblick auf die common-law-Tradition) bezweifelnd Colneric, ZEuP 2005, 225, 230; Flessner, JZ 2002, 14, 15 f.; wohl auch Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 252, 254. 47 Z.B. EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-112/99 Toshiba, Slg. 2001, I-7945 Rn. 35; EuGH v. 11.11. 1997 – Rs. C-251/95 Sabel, Slg. 1997, I-6191 Rn. 20 – 24; EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, Slg. 1996, I-1347 Rn. 18 – 24 (Anwendbarkeit der 2. gesellschaftsrechtlichen Richtlinie auf Aktiengesellschaften des Banksektors). 48 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, Slg. 1985, 469 Rn. 36 f. Ferner z.B. EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-6843 Rn. 18 – 21 (Auslegung von Art. 44 Abs. 2 lit. g EG im Lichte des Art. 3 lit. h) EG); EuGH v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 Bellone, Slg. 1998, 2191 Rn. 15. 49 Beispielhaft EuGH v. 28.2.1980 – Rs. 67/79 Fellinger, Slg. 1980, 535 Rn. 7 f. Für das Primärrecht Bleckmann, Europarecht, Rn. 547– 549; für das nationale Recht Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 324. Daher ist es keineswegs erstaunlich, wenn gesagt wird, die systematische und die teleologische Auslegung gingen „untrennbar ineinander über“, Colneric, ZEuP 2005, 225, 227. 50 Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 27. 51 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20. Ferner EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-6843 Rn. 18 – 21; vgl. auch EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 Rn. 15/19 (AETR); EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2216 Rn. 22 f. Übersicht bei Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 240 – 251. 52 Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20.

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Tatsächlich läßt sich ein Systembildungswille des Gesetzgebers zunehmend häufig nachweisen, ungeachtet der Tatsache, daß die Auswahl der Regelungsbereiche (Harmonisierungskonzept) 53 nicht auf die Schaffung eines im pandektischen Sinne vollständigen Zivilrechtssystems gerichtet ist.54 So hat die Kommission z.B. in den Erläuterungen des Vorschlags einer Verkäuferhaftung für vorvertragliche Angaben (immerhin) auf die innere Verbindung zur Bindung des Reiseveranstalters (Vermittlers) an Prospektangaben hingewiesen.55 Aber auch die Rechtsprechung begreift die verschiedenen Einzelrechtsakte auf dem Gebiet des Privatrechts als zusammengehöriges Ganzes.56 Beispielhaft ist auch die Entscheidung Heininger, in der die Bundesrepublik vorgetragen hatte, die Regelung der Haustürgeschäfterichtlinie werde als lex generalis durch jene der Verbraucherkreditrichtlinie als lex specialis verdrängt; da aber die Verbraucherkreditrichtlinie ein Widerrufsrecht nicht vorschreibe, müsse es auch bei „an der Haustür“ geschlossenen Verbraucherkreditverträgen nicht vorgesehen werden. Wenn der Gerichtshof dem nicht gefolgt ist, so nicht deswegen, weil es den Systemgedanken als solchen abgelehnt hätte, sondern weil er die Schutzzwecke der Regelungen anders verstand, nämlich als komplementär.57

Wenn der EuGH bei der Auslegung zudem auf die „Ziele“ des Gemeinschaftsrechts hinweist, macht er deutlich, daß für die Auslegung nicht nur die äußeren, sondern vor allem die inneren Zusammenhänge von Bedeutung sind. Die Bedeutung der zugrundeliegenden Prinzipien für die Auslegung der Gemeinschaftsrechtsordnung hat der EuGH besonders in seinem EWR-Gutachten hervorgehoben. Darin hat er u.a. ausgeführt, daß Bestimmungen in einem völkerrechtlichen Abkommen, die mit solchen des EG-Vertrags wörtlich übereinstimmen, nicht notwendig gleich ausgelegt werden müssen, sondern aufgrund der unterschiedlichen Zwecke unterschiedlich verstanden werden könnten.58 c)

Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen?

Die Rabobank-Entscheidung des EuGH 59 hat die Frage aufgeworfen, ob auch Regelungsentwürfe im Rahmen der systematischen Auslegung berücksichtigt werden 53 Zum Harmonisierungskonzept im Europäischen Vertragsrecht Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 24 – 51; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 211– 235; zum Harmonisierungskonzept im Europäischen Arbeitsrecht Grundmann, GS Blomeyer, S. 71– 97. 54 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 55 – 58. 55 Vgl. Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 465. 56 Kürzlich EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, (noch nicht in Slg.) Rn. 76 57 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 37– 39. 58 Vgl. EuGH v. 14.12.1991 – Gutachten 1/91 EWR-Abkommen, Slg. 1991, I-6079 Rn. 13 – 22 und 50 f. Ferner EuGH v. 9.2.1982 – Rs. 270/80 Polydor, Slg. 1982, 329 Rn. 8, 14 – 20; EuGH v. 26.10. 1982 – Rs. 104/81 Kupferberg, Slg. 1982, 3641 Rn. 30; EuGH v. 1.7.1993 – Rs. C-312/91 Metalsa, Slg. 1993, I-3751 Rn. 9 –12; EuGH v. 12.12.1995 – Rs. C-469/93 Chiquita, Slg. 1995, 4533 Rn. 52; EuGH v. 6.10.1976 – Rs. 12/76 Tessili, Slg. 1976, 1473 Rn. 9 a.E. Dazu Epiney/Felder, ZVglRWiss 100 (2001) 425 – 447 (Systembindung im Grundsatz anerkennend, aber anders als der EuGH im EWR-Gutachten weitgehend für irrelevant haltend). 59 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211.

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§ 8 Die Auslegung

können.60 In dieser Entscheidung hat der EuGH angenommen, Art. 9 Abs. 1 Publizitätsrichtlinie (PublRL) 61 lasse nationale Vorschriften über die Begrenzung der Vertretungsmacht wegen Interessenkonflikts unberührt.62 Diese Auslegung findet das Gericht in Art. 10 Abs. 1 und 4 des Entwurfs für eine Strukturrichtlinie (E-StruktRL) 63 bestätigt. Denn nach diesen Vorschriften bedarf ein Vertrag der Gesellschaft, der die Interessen des Leitungs- oder Aufsichtsorgans berührt, zumindest der Genehmigung des Aufsichtsorgans (Art. 10 Abs. 1 E-StruktRL); der Mangel der Genehmigung kann Dritten entgegengehalten werden, die davon Kenntnis hatten oder haben mußten.64 Daß der Entwurf der Strukturrichtlinie für diesen Fall eine Regelung enthält, nimmt der Gerichtshof als ein Anzeichen dafür, daß die Kommission den Fall noch nicht als von der Publizitätsrichtlinie abgedeckt ansah, sondern ebenfalls davon ausging, die Regelung falle bislang in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten. Um eine systematische Auslegung kann es sich bei dieser Begründung schon deswegen nicht handeln, weil ein Entwurf nicht Gesetz und damit nicht Bestandteil des Systems ist.65 Diese Einschränkung ist keineswegs nur formal gerechtfertigt, sondern auch in der Sache, weil dem Kommissions(!)-Entwurf nicht die demokratische Legitimation des verabschiedeten Rechtsakts (Richtlinie, Verordnung) zukommt. Wegen dieses Mangels demokratischer Legitimation läßt sich aus einem Regelungsentwurf in keinem Fall eine Veränderung des bestehenden Systems begründen.66 Richtlinienvorschläge können indes in einer schwächeren Weise zum Verständnis des gesetzten Rechts beitragen, und zwar gerade in der Form, wie sie der EuGH in der Rabobank-Entscheidung verwendet hat, nämlich als ergänzendes Argument zur Bestätigung eines Auslegungsergebnisses.67 Soweit der Regelungsentwurf nur von der Kommission kommt, hat er indes nicht das Gewicht einer authentischen Aus-

60 Eingehend zur Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht Neuner, in: Hager/Hey/Koller/Langenbucher/Neuner/Petersen/Singer (Hrsg.), Kontinuität im Wandel, S. 83 –112 (der den hier erörterten Fall allerdings nicht der Vorwirkungsproblematik zuordnet, da erst ein Entwurf vorliegt; a.a.O. S. 87 f.). 61 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 5.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. Nr. L 65 vom 14.03.1968, S. 8 –12. 62 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211 Rn. 21– 24. 63 Nachweise zu dem – mittlerweile zurückgezogenen – Richtlinienvorschlag bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 366, 404 – 408. 64 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211 Rn. 25 – 27. 65 So unzweideutig EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, Slg. 1996, 1347 Rn. 43. S.a. Neuner, unten § 10 III 1 c aa. 66 Zu weitgehend daher Schön, RabelsZ 64 (2000) 1, 7 f., der, unter der Voraussetzung, daß die Verabschiedung nicht schon durch „grundsätzliche Sachdifferenzen“ behindert wird, (wohl) auch Entwürfen „grundlegende Wertungen des Europäischen Gesellschaftsrechts … entnehmen“ möchte; so weit geht auch die Rabobank-Entscheidung nicht. S.a. das Beispiel aus der US-amerikanischen Rechtsprechung bei Munday, J.Crim.L. 65 (2001) 336, 342. 67 Ähnlich wohl EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, Slg. 1996, 1347 Rn. 43 (im konkreten Fall das Gewicht des Arguments aus dem Vorschlag als gering veranschlagend); Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 35.

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legung – die ja nur der Gesetzgeber selbst vornehmen könnte –, sondern nur die Bedeutung einer Stellungnahme der Kommission.

3.

Die historische und genetische Auslegung

Anders als im Primärrecht und entgegen mancher früheren Einschätzung 68 spielt auch die historische und genetische Auslegung im Europäischen Privatrecht eine zentrale Rolle. a)

Der Gesetzgeber

Verfolgt die Auslegung – mit der Vereinigungstheorie (oben, II) – im Grundsatz das Ziel, den Gesetzgeberwillen zu ermitteln, so ist zunächst zu bestimmen, wessen Wille maßgeblich ist. Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber, das sind nur die Gesetzgebungsorgane, deren Zustimmung den Rechtsakt im konkreten Fall trägt.69 Verschiedene Organe sind hingegen nur anzuhören – Wirtschafts- und Sozialausschuß (WSA), teils auch das Europäische Parlament –; und auch die Kommission hat nur das Initiativrecht und die Möglichkeit, Vorschläge zurückzuziehen, ihre Vorschläge können im Gesetzgebungsverfahren beliebig verändert werden 70. Indessen sind üblicherweise gerade (manchmal nur) die Vorschläge der Kommission eingehender begründet. Und auch die Stellungnahmen von Parlament und WSA enthalten öfter weiterführende Erläuterungen. Sofern die entscheidenden Organe diese Erwägungen in ihren Willen aufgenommen haben, können sie auch für die Auslegung herangezogen werden.71 Sofern Vorschläge bzw. Wünsche von Kommission, Parlament und WSA dezidiert 72 nicht übernommen wurden, kann sich daraus allenfalls (aber nicht zwingend) ein e contrario Argument ergeben.73

68 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 568, 582; Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 33 f. 69 Überblick über die (Mit-)Entscheidungsrechte in den verschiedenen Rechtsetzungsverfahren Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, S. 98 –100. Zu Protokollerklärungen: EuGH v. 21.1.1992 – Rs. C-310/90 Egle, Slg. 1992, I-177 Rn. 12 (ergänzende Heranziehung zur Bestätigung); Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 451; Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 63. 70 Eine Kompetenz zur „authentischen Interpretation“ des Sekundärrechts kann die Kommission daher auch nicht haben; methodisch nicht haltbar insoweit Schöbener/Stork, ZEuS 2004, 43, 75, zur Auslegung der Richtlinie 2000/43. 71 S. z.B. GA Tizzano, Schlußanträge v. 17.1.2002 – Rs. C-400/00 Club Tour, Slg. 2002, I-4051 Tz. 18; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 451f. Enger Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 64 f.; Pechstein, EuR 1990, 249, 253 f. Für das nationale Recht zutr. Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 93 f.; enger Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 329. 72 Also nicht etwa nur „als selbstverständlich“. 73 Neben dem folgenden Beispiel etwa GA Tizzano, Schlußanträge v. 17.1.2002 – Rs. C-400/00 Club Tour, Slg. 2002, I-4051 Rn. 18 („zur Bekräftigung“); EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2216 Rn. 49 – 52 (zur Form des Widerrufs); EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 26/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 5.

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§ 8 Die Auslegung In dieser Weise hat der EuGH beispielsweise die Entstehungsgeschichte der Handelsvertreterrichtlinie berücksichtigt. Nach Vortrag der Kommission hatte der WSA im Gesetzgebungsverfahren die Einführung eines Handelsvertreterregisters vorgeschlagen, sich damit aber nicht durchgesetzt. Der Gerichtshof entnimmt dem, daß diese Frage daher der Disposition der Mitgliedstaaten überlassen bleiben sollte. Gleichzeitig zieht er diesen Umstand aus der Entstehungsgeschichte als „weitere Bestätigung“ seines Auslegungsergebnisses heran, die Registereintragung dürfe nicht Wirksamkeitsvoraussetzung für den Handelsvertretervertrag sein. 74 Auf ähnliche Weise zieht der Gerichtshof die Entstehungsgeschichte für die Auslegung des Betriebsbegriffs in der Massenentlassungsrichtlinie heran. Daß die verabschiedete Fassung auf den „Betrieb“ abstellt, nicht mehr, wie noch der Vorschlag, auf das „Unternehmen“, sieht der EuGH als Bestätigung seiner Auslegung an, wonach es nicht darauf ankommt, ob die betroffene Einheit eine selbständige Leitung hat. 75

b)

Zugängliche Materialien

Nach Art. 254 EG werden Verordnungen und Richtlinien unter Hinweis auf die ihnen zugrundeliegenden Vorschläge und Stellungnahmen dazu und mit einer Begründung veröffentlicht. Diese Unterlagen, insbesondere die Begründungserwägungen, die allen Rechtsakten vorangestellt sind, stehen für die Ermittlung des Gesetzgeberwillens in jedem Fall zur Verfügung. Und tatsächlich erschöpfen sich die Begründungserwägungen jüngerer Rechtsakte regelmäßig auch nicht (mehr) in einer bloßen Skizze der Regelungsinhalte, sondern geben auch weiterführende Hinweise. Aber auch darüber hinaus besteht nach Art. 255 EG ein grundsätzliches Recht auf Zugang zu den Dokumenten der Gemeinschaft.76 Infolge des durch den Amsterdamer Vertrag eingeführten Art. 207 Abs. 3 EG sind seit 2001 sind auch Dokumente des Rates zugänglich, wenn dieser als Gesetzgeber tätig geworden ist.77 Daher stellt sich die Frage, inwieweit weitere Unterlagen als Materialien für die historische Auslegung herangezogen werden können. Die entscheidende Grenze muß darin liegen, welche Dokumente veröffentlicht sind.78 Das folgt zum einen aus der Bindung an den Gesetzgeberwillen, dem neben der Setzung der Regeln auch freistehen muß zu entscheiden, inwieweit er diese konkretisiert – auch durch Erläuterungen. Soweit er auf eine Veröffentlichung der Materialien verzichtet, entspricht es seinem Willen, sie bei der Auslegung nicht zu berücksichtigen. Der subjektive Wille wird auf diese Weise als nachrangig gegenüber einer objektivierten, autoritativen Festlegung der Ziele in der Präambel verstanden – wohl auch weil Kompromisse gefunden werden, diese

74 EuGH v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 Bellone, Slg. 1998, I-2191 Rn. 11 und 16. 75 EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 33. 76 Näher ausgestaltet durch Verordnung (EG) 1049/2001 vom 30.5.2001 über den Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABl. Nr. L 145 vom 31.5.2001, S. 43 – 48. Für den Rat, s.a. Art. 207 Abs. 3 EG. 77 Art. 10 der Geschäftsordnung des Rates i.V.m. Beschluß 2001/840/EG, ABl. 313/40; dazu nur Streinz-Hummer/Obwexer, Art. 207 Rn. 59 –73. Zur alten Rechtslage noch Lutter, JZ 1992, 593, 600. 78 Wohl weitergehend (Zugänglichkeit reicht) Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 14.

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jedoch die Auslegung nicht belasten sollen.79 Unveröffentlichte Materialien werden daher, auch wenn sie dem Gericht vorliegen, zu Recht für unverwertbar gehalten.80 Das gilt ungeachtet des Zugangsrechts des einzelnen und des Vorlagerechts des EuGH (Art. 21 EuGH-Satzung). Sowohl das Rechtsstaatsprinzip, das insofern in Art. 254 EG ausgedrückt ist, als auch der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangen, daß das Recht für die Rechtsunterworfenen vorhersehbar ist. Das ist gerade im Privatrecht als dem Handlungsrahmen für das Verhalten Privater von essentieller Bedeutung, da sie anfänglich Planungssicherheit benötigen, nicht nur nachträglich die Gewährung rechtlichen Gehörs. Das bestätigt auch das sog. intertemporale Recht – also die Regeln über das im Falle von zwischenzeitlichen Änderungen auf einen Vertrag anwendbare Recht –, denn danach regiert bei Gesetzesänderungen im Vertragsrecht das bei Vertragsschluß geltende Recht.81 c)

Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen

Kommt so den Begründungserwägungen eine zentrale Rolle bei der Ermittlung des Gesetzgeberwillens zu, so ist doch auf deren begrenzte Bedeutung hinzuweisen.82 Dazu hat Frau Generalanwalt Stix-Hackl in ihren Schlußanträgen v. 25.11.2003 Stellung genommen: „Diesbezüglich ist auf die beschränkte Wirkung von Erwägungsgründen im Allgemeinen hinzuweisen. Diese Wirkung reicht nicht so weit, daß ein einzelner aus einem oder mehreren Erwägungsgründen Rechte ableiten kann. Um Rechte einzelner zu begründen, bedarf es einer Bestimmung im verfügenden Teil der Richtlinie, die noch dazu die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfüllen muß.“ 83

Rechte müssen stets aus dem normativen Teil eines Rechtsakts abgeleitet werden. Eine Regelungsabsicht, die dort keinen Anhalt findet, kann man nicht berücksichtigten. Das hat zum Beispiel (gleichsam umgekehrt) für die Auslegung der AGB-Richtlinie Bedeutung. In deren normativen Teil sind keine ausdrücklichen Bereichsausnahmen für Arbeitsverträge und Verträge auf den Gebieten des Erb-, Familien- und Gesellschaftsrechts vorgesehen. Diese Bereichsausnahmen lassen sich nun nicht etwa unter bloßem Hinweis auf die – freilich ausdrückliche und ganz unzweideutige – Aussage in Begründungserwägung 10 S. 3 begründen, wonach diese Verträge ausgenommen sein sollten. Sie ist aber den Vorschriften von Art. 2 lit. b und c AGBRL zu entnehmen,

79 Vgl. Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, § 9 Rn. 21 (für das Primärrecht). 80 Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, § 9 Rn. 21; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 148; Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 64; Pechstein, EuR 1990, 249, 255 (anders nur für Verfahren zwischen EG-Organen und/oder Mitgliedstaaten, soweit diese Parteien auch unveröffentlichte Dokumente kennen). 81 Heß, Intertemporales Privatrecht, S. 143 –159, 504 – 507. Zum Prinzip des vertraglichen Vertrauensschutzes auch EuGH v. 6.2.1973 – Rs. 48/72 Brasserie de Haecht II, Slg. 1973, 77 Rn. 8 –10/13. 82 Zu den Präambeln von EU-Vertrag und EG-Vertrag nur Streinz-Streinz, Präambel EUV Rn. 12 –14, Präambel EGV Rn. 10 –14. 83 GA Stix-Hackl, Schlußanträge v. 25.11.2003 – Rs. C-222/02, Paul ./. Deutschland, Slg. 2004, I-9425 Tz 132.

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§ 8 Die Auslegung da nach dem aus ErwG 10 S. 3 AGBRL erkennbaren Gesetzgeberwillen die ausgenommenen Verträge nicht als Verbraucherverträge zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern anzusehen sind.84

d)

Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“

Bezugspunkt historischer Auslegung könnte auch die Herkunft einer Regel aus dem Recht eines Mitgliedstaates sein (Bsp.: Vorbild des deutschen Rechts für die Handelsvertreter-Richtlinie oder die Massenentlassungsrichtlinie). Die Auslegung des „Vorbildrechts“ ist jedoch nicht autoritativ, soweit die oben (I) erörterte Autonomie des Gemeinschaftsrechts reicht.85 Sie kann allenfalls Anhaltspunkte für eine mögliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts geben. e)

Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten

Umgekehrt kann bei einer Rechtsordnung, deren Zweck regelmäßig gerade in der Rechtsangleichung oder -vereinheitlichung besteht, die vorbestehende Regelungssituation in den Mitgliedstaaten für die Auslegung eine Rolle spielen. Das kommt im Rahmen der historischen Auslegung i.e.S. (im Gegensatz zur genetischen Auslegung) in Betracht, wenn der Gesetzgeber auf einen spezifischen Mißstand reagiert hat oder von einer spezifischen Regelungssituation in den Mitgliedstaaten ausgegangen ist. Im Fall Siemens ./. Nold ging es u.a. um die Frage, ob Art. 29 Abs. 1 Kapitalrichtlinie (KapRL), der ein Bezugsrecht bei der Barkapitalerhöhung vorsieht, umgekehrt bedeutet, daß ein Bezugsrecht bei der Sachkaptialerhöhung auszuschließen sei. Der EuGH verneint das: Da ein Bezugsrecht für den „komplexen Sachverhalt“ der Sachkapitalerhöhung in den meisten Mitgliedstaaten unbekannt sei, habe der Gesetzgeber den Mitgliedstaaten freistellen wollen, auch für diesen Fall ein Bezugsrecht vorzusehen.86

4.

Die teleologische Auslegung

a)

Regelungszweck und Angleichungszweck

Weil Rechtsregeln dazu dienen, die Lebensverhältnisse in der Zukunft zu gestalten, kommt ihrem Regelungszweck für die Auslegung eine entscheidende Bedeutung zu. Zu ermitteln ist primär der historische Gesetzeszweck (oben II).87 Für ihn liefern im Europäischen Privatrecht vor allem die Begründungserwägungen Anhaltspunkte (3.b)).88 Zudem kann auch die vom Gesetzgeber gewählte Kompetenzgrundlage Aufschluß über das verfolgte Ziel geben.

84 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 2.10 Rn. 20. 85 Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice, S. 236; Bleckmann, ZGR 1992, 364, 365; Lutter, JZ 1992, 593, 603; teils a.A. Daig, FS Zweigert 1981, 395, 409 f. („implizite Verweisung“). 86 EuGH v. 19.11.1996 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, I-6017 Rn. 18. 87 A.A. Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 159. 88 Z.B. EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2195 Rn. 42; EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-6843 Rn. 22; EuGH v. 19.11.1996 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, 60 Rn. 13; EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 12; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 193; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 579 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Soweit es um den inhaltlichen Regelungszweck geht, darf man sich freilich nicht mit allgemeinen Zweckrichtungen begnügen, etwa „dem Verbraucherschutz“ oder „dem Arbeitnehmerschutz“ oder „dem Urheberschutz“. Diese generellen Schutzrichtungen sind für die teleologische Auslegung schon deswegen ungeeignet, weil sie völlig unspezifisch sind, so daß sie in vielen Fällen nicht einmal eine Richtung weisen: Dient es dem Verbraucherschutz, wenn man dem Fernabsatzerwerber oder dem Pauschalreisenden mehr Informationen gibt oder entsteht so nicht eine Informations-Überforderung? 89 Die erforderliche Bewertung von – z.B. – Verbraucherund Unternehmerinteressen hat der Gesetzgeber im Europäischen Privatrecht regelmäßig differenziert vorgenommen.90 Für die teleologische Auslegung sind daher die spezifischen Zwecke einzelner Regelungen herauszuarbeiten, z.B. der Zweck der Widerrufsrechte, die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Geschützten zu wahren. Neben den inhaltlichen Regelungszwecken sind für die Auslegung subsidiär die formalen Regelungszwecke jeder Privatrechtsangleichung in der Europäischen Gemeinschaft zu berücksichtigen, nämlich die Rechtsvereinheitlichung,91 besonders die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen,92 und ihre Funktion zur Herstellung eines Binnenmarktes 93. Insofern trifft zu, daß im Falle von Konflikten zwischen mehreren Regelungszwecken im Zweifel der integrationsfreundlichen Auslegung der Vorzug zu geben ist.94 Vermittelt über diesen allgemeinen Zweck der Privatrechtsangleichung kommt man so zu einer Auslegung privatrechtlicher Vorschriften nach den Zwecken des EG-Vertrags.95 Kann der historische Gesetzeszweck nicht sicher ermittelt werden, so ist der Zweck festzustellen, dem die Regelung nach objektiven Anhaltspunkten dient. Hier ist zur Zweckermittlung neben dem Wortlaut vor allem der äußere und innere Zusammenhang zu anderen Vorschriften festzustellen. Im Fall Haaga hatte der EuGH zu entscheiden, ob nach Art. 2 Abs. 1, 3 PublizitätsRichtlinie die Alleinvertretungsbefugnis des einzigen GmbH-Geschäftsführers in Deutschland im Handelsregister zu veröffentlichen ist, obwohl sie sich schon aus dem Gesetz ergibt. Der EuGH bejaht diese Frage vor allem deshalb, weil die gesetzliche Vertretungsbefugnis zwar in Deutschland bekannt sein mag, nicht aber interes-

89 S. nur Martinek, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 518 – 530. 90 A.M. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 461– 465 („Eindimensionalität“); auch die von ihm angedeutete Lösung, bei der Auslegung des Europäischen Privatrechts das nationale Privatrecht mitzuberücksichtigen, ist bei einem autonomen Europäischen Privatrecht (oben, I) methodisch nicht tragfähig. Richtig ist allerdings, daß man bei der Auslegung des Europäischen Privatrechts seinen fragmentarischen Charakter berücksichtigen muß; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 891. 91 EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga, Slg. 1974, 1201 Rn. 6 (Rechtssicherheit und Rechtsklarheit als Angleichungszweck); Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 241f.; 258, 276 f.; Canaris, JZ 1987, 543, 549. 92 EuGH v. 12.3.2002 – Rs. C-168/00 Leitner, Slg. 2002, I-2631 Rn. 21. 93 EuGH v. 2.2.1994 – Rs. C-315/92 Clinique, Slg. 1994, I-317 Rn. 12 f. 94 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 580. 95 Aufgrund dieser bloß mittelbaren Wirkung haben die Vertragsziele daher nur geringere Bedeutung bei der Auslegung des Europäischen Privatrechts; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 457.

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§ 8 Die Auslegung sierten Dritten anderer Mitgliedstaaten. Zweck der Publizitätsvorschrift sei aber gerade, Rechtssicherheit für interessierte Dritte aus anderen Mitgliedstaaten im gemeinsamen Markt herzustellen (Begründungserwägung 1 der Richtlinie und Art. 44 Abs. 2 lit. g EG).96

b)

Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts

Eine Besonderheit des Europäischen Privatrechts ist, daß es ein „Recht im Werden“ ist. Diese „Dynamik“ – der „Entwicklungsstand“ des Gemeinschaftsrechts – ist auch bei der Auslegung zu berücksichtigen.97 Auch insoweit ist allerdings zunächst vom Wortlaut der Regelung auszugehen. Soweit der Europäische Gesetzgeber bei einer späteren Ergänzung des Europäischen Privatrechts von der Möglichkeit keinen Gebrauch macht, die bestehenden Regeln zu ändern, ist das ein Anzeichen dafür, daß ihr Regelungsgehalt unverändert bleiben soll. Gerade eine am inneren System orientierte Auslegung kann aber dabei nicht stehenbleiben. Denn weil und soweit bei der Auslegung einzelner Vorschriften auch die der Rechtsordnung als Ganzer zugrundeliegenden Prinzipien und ihr Ausgleich zu berücksichtigen sind, kann eine Neuregelung auch ohne Änderung des Textes der bestehenden Regelungen Einfluß auf deren Auslegung haben.98 Erscheint zum Beispiel eine Regelung zunächst als vielleicht systemfremde Ausnahme, so kann die Hinzufügung weiterer entsprechender Regelungen ergeben, daß der zugrunde liegende Regelungsgedanke damit vom Gesetzgeber zu einem allgemeinen gültigen Prinzip erhoben wird.99 Soweit der Wortlaut der Regelung das zuläßt, kann daher aufgrund nachträglicher Entwicklungen auch bei unverändertem Wortlaut eine andere Auslegung geboten sein. In der Rechtsprechung zum noch verhältnismäßig jungen Europäischen Privatrecht zeigen sich bislang, soweit ersichtlich, keine Beispiele für die Berücksichtigung dieser Dynamik bei der Auslegung. Anlaß für die Berücksichtigung von Systemveränderungen könnte sich aber z.B. ergeben, wenn die Verbraucherkredit-Richtlinie dahin ergänzt wird, daß unter ihren Schutz auch Existenzgründungsdarlehen fallen: Dann könnte im Interesse der Wertungseinheit auch die Entscheidung des EuGH im Fall Di Pinto zu überdenken sein, wonach ein Unternehmer auch dann nicht den Schutz der Haustürwiderrufs-Richtlinie genießt, wenn er sein Unternehmen verkauft.100 Auch in dem (freilich primärrechtlichen) Fall El Corte Inglés ging es um Systemwandlungen. Allerdings verneinte der Gerichtshof die Frage, ob nicht aufgrund der Einführung von Art. 129 EGV (jetzt Art. 153 EG) verbraucherschützende Richtlinien entgegen früherer Rechtsprechung unmittelbare Privatrechtswirkung beizulegen sei.101 Selbstverständlich kann allerdings eine Änderung des Regelungsbestandes keine Auslegung (oder Rechtsfortbildung) gegen den Willen des Gesetzgebers rechtfertigen. Zu Recht hat daher der EuGH in der Rechtssache Schulte eine richterliche Ergänzung der

96 EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga, Slg. 1974, 1201 Rn. 6; GA Mayras, ebd. S. 1214 f. 97 EuGH vom 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20: „[J]ede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts [ist] … im Lichte … des Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen“. 98 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 63 f., 67–72. 99 Vgl. Zöllner, WM 2000, 1, 3 f. 100 EuGH v. 14.3.1991 – Rs. C-361/89 Di Pinto, Slg. 1991, I-1189 Rn. 14 –19. 101 EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-192/94 El Corte Inglés, Slg. 1996, I-1281 Rn. 15 – 21.

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2. Teil: Allgemeiner Teil Haustürgeschäfterichtlinie (HtWRL) 102 um eine Regelung über verbundene Geschäfte abgelehnt: „Während andere Richtlinien der Gemeinschaft, die die Interessen der Verbraucher schützen sollen, u. a. die Richtlinie 87/102, Vorschriften über verbundene Verträge enthalten, enthält die vorliegende Richtlinie [sc. die HtWRL] keine solche Vorschrift und bietet auch keine Grundlage für die Annahme, daß es stillschweigende derartige Vorschriften gibt.“ 103

c)

Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung

Besonders im Recht gegen den unlauteren Wettbewerb und in der Grundfreiheitenrechtsprechung wird in Entscheidungen öfter auf ein Verbraucherleitbild Bezug genommen, das für die Auslegung fruchtbar gemacht wird. Der Verbraucher wird verstanden als ein „durchschnittlich informierter, aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher“.104 Daneben können auch andere Leitbilder eine Rolle spielen, beispielsweise ein Unternehmerleitbild. Bei diesen Leitbildern handelt es sich um Kurzformeln, die die Rechtsanwendung erleichtern sollen, so wie sie in ähnlicher Weise auch im nationalen Recht verwendet werden, z.B. zur Konkretisierung eines Sorgfaltsmaßstabs. Die Leitbilder liegen auf einer mittleren Ebene zwischen Prinzipien und Regel (bzw. Tatbestandselement). Ihre Attraktivität für den Rechtsanwender rührt besonders daher, daß sie nicht „reine“ Prinzipien ausdrücken (z.B. Vertragsfreiheit oder Selbstverantwortung), sondern schon einen Prinzipienausgleich enthalten oder doch darauf hinweisen. Auf diese Weise können Leitbilder eine zentrale Rolle bei der Auslegung spielen – und bedürfen daher der Rechtfertigung.105 Tatsächlich ist die Gefahr groß, daß der Rechtsanwender hier schlichtweg seine eigenen rechtspolitischen Vorstellungen in ein Leitbild projiziert. Daher muß etwa ein Verbraucherleitbild aus dem positiven Recht begründet werden.106 Der Grad der Selbstverantwortung kann nicht nach dem subjektiven Empfinden des einzelnen bestimmt werden, sondern muß aus dem Gesetz hergeleitet sein. Dabei ist zudem zu beachten, daß ein solches Leitbild für verschiedene Rechtsgebiete unterschiedlich ausfallen kann, – ganz entsprechend dem unterschiedlichen Gewicht, das einzelnen Prinzipien für einzelne Rechtsbereiche zukommt. Das Prinzip der Selbstverantwortung hat im Vertragsrecht anderes Gewicht als im Produkthaftungsrecht, und dementsprechend müssen auch die aus dem Verbraucherleitbild abgeleiteten Verhaltensanforderungen unterschiedlich ausfallen.

102 Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbaucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. 103 EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte (noch nicht in Slg.) Rn 76. 104 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder ./. Lancaster, Slg. 2000, I-117 Rn. 27; EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-303/97 Kessler, Slg. 1999, I-513 Rn. 36; EuGH v. 12.3.1987 – Rs. 178/84, Kommission ./. Deutschland, Slg. 1987, 1227 Rn. 31– 36 (Reinheitsgebot); EuGH v. 7.3.1990 – Rs. C-362/88, GBINNO, Slg. 1990, I-683 Rn. 13 –19; EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93, Verein gegen Unwesen ./. Mars, Slg. 1995, I-1923 Rn. 24; Streinz/Leible, ZIP 1995, 1236 –1241; Emmerich, FS Gernhuber, S. 857, 869 – 872. 105 Howells, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 118. 106 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, S. 427; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 214 f. Zu pauschal daher Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 87, die ihr Verbraucherleitbild nicht näher begründet.

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§ 8 Die Auslegung

Im Ergebnis bedeutet das, daß ein Leitbild als Kurzformel für die dahinterstehenden Prinzipien ein nützliches Hilfsmittel für die teleologische Interpretation sein kann. Aus dem Leitbild kann man indes nicht mehr herausholen, als man vorher hineingelegt hat. Aus einem Leitbild allein kann man Lösungen sowenig ableiten wie aus einem Begriff.

IV.

Rangfolge der Auslegungskriterien

Soll das Ergebnis der Auslegung nicht beliebig sein, so ist zu überlegen, in welchem Verhältnis die Auslegungskriterien stehen und ob einem Aspekt oder verschiedenen der Vorzug gebührt.107 Dabei geht es nicht nur um eine Reihenfolge des Vorgehens bei der Auslegung,108 sondern um eine Rangfolge für die Fälle, daß unterschiedliche Kriterien für unterschiedliche Ergebnisse sprechen.109 Zu diesem Thema – das mit den zuvor erörterten Fragestellungen des Ziels der Auslegung und der einzelnen Auslegungskriterien eng zusammenhängt – können hier nur einige Ansatzpunkte aufgezeigt werden.110 Nicht mehr als eine pragmatische Faustregel ist die acte clair Theorie,111 nach der dem klaren Wortlaut Vorrang vor anderen Auslegungskriterien zukommen soll. Für das Europäische Privatrecht ist dieser Theorie indes nicht zu folgen (s. schon oben, III.1.b)): Einen völlig unzweideutigen Gesetzeswortlaut findet man bei der bestehenden Sprachenvielfalt praktisch nie und die Frage der Eindeutigkeit ist schon ein Auslegungsergebnis. Daher ist der Wortlaut allein nie ausreichend. Auch die Subsidiaritätsthese Bydlinskis gibt nur eine erste Handhabe: Von einem einfachen Auslegungskriterium (Wortlaut und Systematik) müsse der Rechtsanwender dann nicht zu einem schwierigeren (Geschichte) übergehen, wenn schon das einfachere zu einem auch teleologisch überzeugenden Ergebnis führt.112 Richtigerweise geht diese Regel indes über die acte clair-Theorie hinaus, da sie eine teleologische Absicherung verlangt. Eine erste, weitgehend unumstrittene Vorrangregel folgt aus der Normenhierarchie, nämlich der Vorrang der primärrechtskonformen Auslegung.113 Von mehreren

107 A.M. Millett, Statute Law Review 1989, 163, 173; auch Zuleeg, EuR 1969, 97, 99. 108 Vornehmlich dazu verhält sich Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 127–129. 109 Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 434, beschränken den Konfliktbegriff auf Fälle des „frontalen Gegensatzes“, der nicht vorliegt, wenn mehrere Auslegungskriterien (Konkretisierungselementen) neben einem gemeinsamen Schnittbereich der möglichen Auslegungsergebnisse noch andere, nicht gemeinsam begründbare Ergebnisse zulassen. Auch wenn ein Element unergiebig ist, liegt kein Konflikt vor. 110 Zum Diskussionsstand in der deutschsprachigen Methodenlehre Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 553 – 571; Canaris, FS Medicus, 25 – 61; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, S. 192 –197; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 433 – 448; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 111–131; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. 1, S. 390–393, 400–427. 111 EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 79/77 Kühlhaus Zentrum, Slg. 1978, 611 Rn. 6. 112 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 556 – 558, 559; Canaris, FS Medicus, S. 34. Wohl einschränkend Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 129. 113 Eingehend Leible und Domröse, oben §§ 6, 6.1. Riesenhuber, System und Prinzipien des Euro-

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2. Teil: Allgemeiner Teil

nach dem erkennbaren Gesetzgeberwillen möglichen Auslegungen gebührt derjenigen der Vorrang, die mit dem Primärrecht vereinbar ist. Diese Regel formuliert also keinen Vorrang einzelner Auslegungskriterien, sie kann nur einzelne der möglichen Auslegungsergebnisse ausschließen. Da das Primärrecht (bzw. Verfassungsrecht) nur die äußersten Grenzen setzt, folgt aus dieser Vorrangregel zumeist freilich keine definitive Entscheidung einer Auslegungsfrage.114 Zweitens entspricht es der auf dem Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip fundierten, im Grundsatz zu befolgenden subjektiven Theorie (II), dem aus dem Gesetzeswortlaut erkennbaren subjektiven Willen des Gesetzgebers Vorrang zukommen zu lassen.115 Der aus dem Gesetz zumindest irgendwie erkennbare Wille des Gesetzgebers hat daher auch Vorrang vor objektiv-teleologischen oder teleologisch-systematischen Erwägungen.116 Soweit es bei der systematischen Auslegung (auch) darum geht, den Forderungen nach Einheit und Folgerichtigkeit des Gesetzes zu genügen, kann sich diese Auslegung oft genug schon auf einen wahren oder zu vermutenden Gesetzgeberwillen berufen. Wenn indes ein gegenteiliger Wille des Gesetzgebers erkennbar ist, so geht dieser den Systemgeboten (bis zur Grenze der Willkür) vor. Die wohl bekannteste Vorrangregel ist – drittens –, daß der Zweck einer Regelung ihrem Wortlaut vorgeht.117 Sie ist darin begründet, daß gesetzliche Regelungen der Erfüllung von Zwecken dienen. Soll die Auslegung nicht zu einer „öden Buchstabenjurisprudenz“ 118 verkümmern, so versteht sich, daß der Rechtsanwender sich nicht mit den äußeren Anzeichen – Wortlaut und äußere Systematik – für den Bedeutungsgehalt begnügen kann, sondern versuchen muß, den Regelungszweck zu ermitteln und, soweit das im Rahmen der Auslegung und der zulässigen Rechtsfortbildung möglich ist, zu verwirklichen. Das gilt uneingeschränkt für den subjektiv vom Gesetzgeber verfolgten Zweck. Der objektive Zweck einer Regelung kann hingegen gegenüber dem Wortlaut nur insoweit Vorrang beanspruchen, soweit nicht der Gesetzgeberwille entgegensteht. Mit diesen Vorrangregeln sind indes nur die wichtigsten Fälle der möglichen Kollisionen von Auslegungsergebnissen durch Vorrangregeln gelöst. Die Auslegung ist nicht durch ein vollständiges System von Kollisionsregeln determiniert. In weiten Teilen kann die Auslegungslehre nur dazu dienen, die möglichen Auslegungsargumente aufzuzeigen und allgemeine Regeln aufzustellen, die für die Gewichtung der

päischen Vertragsrechts, S. 63. Wegen der Besonderheit des normhierarchischen Rangs unterscheiden Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 434, diesen Fall von den methodologischen Konflikten. 114 Weitergehend Leible, oben § 6 III 2. 115 Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 249 f. (Anm. 106b); Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 112 –114. 116 Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 122 f.; Canaris, Systemdenken, S. 132; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 9. 117 Siehe nur EuGH v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 Bayerische Hypotheken und Wechselbank ./. Dietzinger, Slg. 1998, I-1199 Rn. 19; EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-112/99 Toshiba, Slg. 2001, I-7945 Rn. 35 f.; s.a. Art. 1:106 Principles of European Contract Law und dazu Lando/Beale, Principles of European Contract Law, S. 108 f.; Canaris, FS Medicus, S. 50 – 52; Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 276. 118 Canaris, FS Medicus, S. 34.

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§ 8 Die Auslegung

einzelnen Argumente im Einzelfall von Bedeutung sein können. Eine erschöpfende Aufzählung aller möglichen Gewichtungsregeln erscheint dabei allerdings nicht möglich, vielmehr zeichnet sich ab, daß die Auslegungsargumente außerhalb der Reichweite fester Vorrangregeln gemäß der Methode des beweglichen Systems je nach Zahl und Gewicht zu bewerten sind.119

V.

Einzelne Auslegungsregeln

Zum Schluß sind zwei Auslegungsregeln zu erörtern, die (insbesondere) im Europäischen Privatrecht jetzt öfter erwähnt werden. Für das Verbraucher(vertrags)recht soll es nach Auffassung mancher eine Zweifelsregel in dubio pro consumente geben (1). Und ganz allgemein findet sich vor allem in der Rechtsprechung des EuGH die Regel, Ausnahmen seien „eng“ auszulegen (2).

1.

„In dubio pro consumatore“? 120

Von manchen Autoren wird angenommen, verbraucher(privat)rechtliche Vorschriften seien „im Zweifel zugunsten des Verbrauchers“ auszulegen.121 Gleichsam verstärkend wird der Grundsatz lateinisch formuliert: in dubio pro consumatore bzw. in dubio pro consumente.122 Die primärrechtliche Begründung für den Auslegungsgrundsatz wird in der von Art. 95 Abs. 3 EG geforderten „Orientierung am hohen Schutzniveau“ gesehen,123 das von den Vertretern auch als „Zielvorgabe“ verstanden wird, die durch die Auslegungsmaxime zur Geltung gebracht werde.124 Die EuGH-Entscheidungen, aus denen der Grundsatz abgeleitet wird,125 sprechen ihn freilich nicht aus und sind mit herkömmlichen methodischen Mitteln begründet. In die Richtung einer solchen Zweifelsregel hatte allerdings GA Tizzano gewiesen: „Sodann weise ich speziell darauf hin, daß sich die Auslegung der Richtlinie an dem allgemeinen Kriterium auszurichten hat, wonach ihre Bestimmungen im Zweifelsfall am günstigsten für denjenigen auszulegen sind, der durch sie geschützt werden soll,

119 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 555 f.; Canaris, FS Medicus, S. 58 f.; Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung, S. 53. 120 Dazu jetzt eingehend Riesenhuber, JZ 2005, 829–835. 121 Tonner, EuZW 2002, 403 f.; Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, S. 6 f. Offengelassen jetzt von EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, (noch nicht in Slg.) Rn. 59 – 61. 122 Da das römische Recht einen Verbraucherschutz im modernen Sinne so wenig kannte wie das gemeine Recht, muß freilich die Suche nach einem treffenden lateinischen Begriff fruchtlos bleiben. In der Sache kann auch die lateinische Fassung dem Auslegungsgrundsatz keine größere Dignität verschaffen. 123 GA Tizzano, Schlußanträge v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Leitner, Slg. 2002, I-2631 Tz. 26. Andeutungsweise Tonner, EuZW 2002, 403 f. 124 Röseler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, S. 7. 125 EuGH v. 30.4.2002 – Rs. C-400/00 Club-Tour, Slg. 2002, I-4051; EuGH v. 15.6.1999 – Rs. C-140/97 Rechberger, Slg. 1999, I-3499.

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2. Teil: Allgemeiner Teil also für den Verbraucher touristischer Dienstleistungen. Dies ergibt sich nicht nur aus der systematischen Analyse von Wortlaut und Zielsetzung der Richtlinie, sondern auch aus dem erwähnten Umstand, daß sie nach Artikel 100a [heute Art. 95 EG] erlassen wurde, nach dessen Absatz 3 bei Harmonisierungsmaßnahmen im Bereich des Verbraucherschutzes von einem hohen Schutzniveau auszugehen ist.“ 126

Eine solche Auslegungsregel ist aus mehreren Gründen abzulehnen. Sie ist von ihren Verfechtern schon nicht tragfähig begründet, wegen ihrer Unbestimmtheit unausführbar und zudem wegen ihrer Einseitigkeit mit einem differenzierten (Verbraucher-) Privatrecht unvereinbar. Sofern überhaupt eine Begründung für die Zweifelsregel gegeben wird, besteht sie allein in dem Hinweis auf Art. 95 EG. Aus welchen weiteren primär- und sekundärrechtlichen Regeln sich der Grundsatz „induzieren“ lassen soll, ist nicht klar. Art. 95 Abs. 3 EG bindet aber keineswegs die Gesetzgebung insgesamt, sondern schreibt nur vor, daß sie u.a. im Bereich Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau ausgehen soll. Das heißt indes nicht, daß dieses hohe Schutzniveau zwangsläufig auch im letztlich verabschiedeten Rechtsakt durchgesetzt sein müßte. Da zudem die Rechtsangleichung nach Art. 95 EG einen spezifischen Binnenmarktzweck verfolgen muß, kann der Verbraucherschutz in aller Regel nicht der einzige Zweck eines Angleichungsrechtsakts sein. Die Mindeststandardklauseln, die in den Verbraucherschutzrichtlinien oft enthalten sind, bestätigen das, liegt ihnen doch gerade die Annahme zugrunde, daß es noch Raum für einen weiteren Verbraucherschutz geben könnte. Hinzu kommt, daß „Verbraucherschutz“ viel zu vage ist, um eine Zweifelsregel sinnvoll zu unterfüttern (s.o. III.4.a)).127 Soll etwa im Zweifel die Auslegung regieren, die den im konkreten Fall betroffenen Verbraucher am besten schützt; das mag z.B. für eine Kollektivierung von Kosten in Form einer faktischen Zwangsversicherung sprechen. Oder soll es um den Schutz der Verbraucher als Gruppe gehen; dann mag eine individuelle Kostentragung vorzugswürdig sein. Diese Unbestimmtheit illustrieren bezeichnenderweise gerade die Fälle, die den Verfechtern Anlaß für den Grundsatz erschienen. Dort ging es nämlich ausgerechnet um die Auslegung der Pauschalreiserichtlinie, die nun gerade nicht den Verbraucher schützt, sondern jeden (Pauschal-) Reisenden, auch den Geschäftsmann, der etwa Tagung und Unterkunft gebucht hat.128 Ein Beispiel für die Schwierigkeit zu bestimmen, was pro consumente wirkt, sind die bereits erwähnten (oben, III.4.a)) Informationspflichten.129 Ist es im Interesse des Ver126 GA Tizzano, Schlußanträge v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Leitner, Slg. 2002, I-2631 Tz. 26; ders., Schlußanträge v. 17.1.2002 – Rs. C-400/00 Club Tour, Slg. 2002, I-4051 Tz. 21; GA Saggio, Schlußanträge v. 25.6.1998 – Rs. C-140/97 Rechberger, Slg. 1999, I-3499 Tz. 17. 127 Gegen die Anerkennung von Verbraucherschutz als Rechtsprinzip (auch) aus diesem Grunde Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 933 f. 128 Die Regelung ist daher nur formal dem Verbraucherschutzrecht zuzuordnen; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 185. 129 Auslegungszweifel kann es z. B. bei Art. 4 Abs. 2 PRRL geben; dazu Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 4.01 Rn. 18 einerseits und Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 485 andererseits.

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§ 8 Die Auslegung brauchers, im Zweifel möglichst umfassend zu informieren oder müssen Informationsgegenstände wegen der beschränkten Informationsverarbeitungskapazität oder einer gewünschten Standardisierung (Herstellung der Markttransparenz) enumerativ beschränkt bleiben?

Endlich würde aber eine einseitige Zweifelsregel zugunsten von Verbrauchern die Preisgabe einer differenzierten Rechtsetzung und Dogmatik bedeuten. Wenn das Verbraucherschutzrecht – wie wohl unbestritten der Fall – einen Ausgleich von Unternehmer- und Verbraucherinteressen darstellt, dann verträgt sich damit eine einseitige Begünstigung des Verbrauchers nicht wohl. Tatsächlich käme man auch nicht auf den Gedanken, das Urheberrecht „im Zweifel für den Urheber“ auszulegen, das Arbeitsrecht „im Zweifel für den Arbeitnehmer“. In der Rechtsprechung ist ein Auslegungsgrundsatz „pro consumente“ soweit ersichtlich auch nicht tragend geworden.130 Im Fall Club Tour ging es um die Frage, ob der Begriff der Pauschalreise in Art. 2 Nr. 1 Pauschalreiserichtlinie (PRRL) auch Reisen erfaßt, die von einem Reisebüro auf Wunsch und gemäß den Vorgaben eines Verbrauchers organisiert werden. Der EuGH hat das bejaht und sich zur Begründung auf den Wortlaut und die Systematik der Richtlinie berufen. Art. 2 Nr. 1 PRRL ist unpersönlich formuliert und stellt nicht darauf ab, wer die Reiseleistungen gewünscht oder vorgegeben hat. Und nach Art. 4 Abs. 2 lit. a i.V.m. Anhang lit. j PRRL gehören zu den in den Vertrag aufzunehmenden Angaben insbesondere auch „alle Sonderwünsche, die der Verbraucher dem Veranstalter oder dem Vermittler bei der Buchung mitgeteilt hat und die beide Parteien akzeptiert haben“. Das läßt sich um die teleologische Erwägung, daß die Leistung des Reisebüros auch in diesem Fall in der Zusammenstellung geeigneter Bestandteile liegt. Einen Grundsatz in dubio pro consumente brauchte das Gericht nicht zu bemühen. Ein anderes Beispiel – das ebenfalls die Pauschalreiserichtlinie betrifft – zeigt, daß der Grundsatz eine differenzierte Rechtsetzung stören würde. Es ist umstritten, ob die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Leistungsstörungsregeln die Anzeigeobliegenheit des Verbrauchers (Art. 5 Abs. 4 PRRL) unter Berufung auf die Mindeststandardklausel des Art. 8 PRRL entfallen lassen können.131 Wer den bestehenden Zweifel pro consumente überwindet, bejaht die Frage ohne weiteres. Dagegen spricht indes sowohl der Wortlaut der Mindeststandardklausel, da der Wegfall einer Obliegenheit sprachlich keine „strengere Vorschrift zum Schutze des Verbrauchers“ ist. Vor allem aber würde auf diese Weise das von der Richtlinie konzipierte differenzierte Leistungsstörungsregime aus dem Gleichgewicht gebracht, so daß der Zweck der Regelung dagegen spricht.

Ein Auslegungsgrundsatz „im Zweifel für den Verbraucher“ ist daher nicht anzuerkennen. Nicht ausgeschlossen ist damit indes selbstverständlich, den Verbraucherschutzzweck einer Regelung bei der teleologischen Auslegung mitzuberücksichtigen. Dann freilich ist dieser Zweck in der vom Gesetzgeber konkretisierten Form zugrundezulegen, nämlich in seiner konkreten Ausformung (z.B. Schutz der wirtschaftlichen Selbstbestimmung) und unter Berücksichtigung etwaiger vom Gesetzgeber beachteter gegenläufiger Interessen.

130 Offengelassen von EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, (Noch nicht in Slg.) Rn. 59–61. 131 Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 795.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

2.

Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen?

Eine aus dem nationalen Recht bekannte und alte Frage ist, ob Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen sind. So klar (jedenfalls) die deutschsprachigen Literatur die pauschale Frage verneint,132 so persistent ist die bejahende Antwort in der Rechtsprechung des EuGH: 133 singularia non sunt extendenda.134 Z.B. sagt er in der Entscheidung Heininger: „Dazu ist erstens festzustellen, daß Ausnahmen von gemeinschaftsrechtlichen Verbraucherschutzvorschriften nach ständiger Rechtsprechung eng auszulegen sind.“ 135

Vor dem Bemühen des Gerichts, der Integration effektive Geltung zu verschaffen, ist diese Haltung verständlich.136 Dahinter dürfte die Annahme stehen, Ausnahmevorschriften seien Ausdruck dafür, daß das eigentliche Angleichungsziel schon im Gesetzgebungsverfahren durch Kompromisse eingeschränkt wurde. Um die Rechtsangleichung so weit wie möglich durchzusetzen, müßten die Ausnahmen daher möglichst beschränkt werden. Soweit freilich diese Überlegungen hinter der engen Auslegung von Ausnahmevorschriften stehen, geht es in Wahrheit gar nicht um den „Ausnahmecharakter“ der Vorschrift, sondern um ihre mangelnde teleologische Begründung. Die Vorschrift wird demnach nicht als Ausnahme eng ausgelegt, sondern als teleologische Verfehlung. Damit ist die richtige Richtung gewiesen: Auch Ausnahmevorschriften sind nach den herkömmlichen Methoden auszulegen. Dabei kann der Tatsache, daß es sich um eine Ausnahme von einem fundamentalen Recht oder geschützten Interesse oder von einer grundlegenden Regel handelt, für die (systematisch-) teleologische Bedeutung von entscheidendem Gewicht sein.137 Will man die letztgenannte Erwägung berücksichtigen, daß eine Vorschrift von einem Grundsatz abweicht, so muß man freilich zuerst begründen, daß dies der Fall ist. Ob m.a.W. eine Regelung nicht nur formal, sondern auch in der Sache eine Ausnahme darstellt, ist zuerst im Wege der Auslegung zu beantworten.138 Nicht

132 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 440; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 355 f.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 370; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 66. S.a. Neuner, unten § 10 IV 1 c. 133 S. nur EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 89; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 67; Colneric, ZEuP 2005, 225, 228. Übersicht über die Rechtsprechung des EuGH bei Schilling, EuR 1996, 44 – 57 (nur im Ergebnis der EuGH-Rechtsprechung [„im Ganzen“] zustimmend, in der Sache aber differenzierte Begründungen fordernd); s.a. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 449 f., 456 f.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, S. 371–373. 134 Zur Herkunft des Grundsatzes Knütel, JuS 1996, 768, 772. 135 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 31 (Nachweise weggelassen). Ferner etwa EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 15. 136 S.a. Schilling, EuR 1996, 44, 46 f. mit dem Hinweis, daß generell ein fundamentales Rechtsgut oder ein allgemeines Prinzip die enge Auslegung von Ausnahmen gebieten können. Das ist eine Form der prinzipiell-systematischen Auslegung, die auch sonst (nicht nur in Bezug auf Ausnahmen) Platz greifen kann; s. z.B. EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3 f. 137 Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 449 f. 138 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 355 f.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 370.

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§ 8 Die Auslegung

alles, was negativ formuliert ist, ist in der Sache eine Ausnahme. Vielmehr kann es sich um eine ergänzende Regelung handeln, durch die die Hauptregel erst ihren eigentlichen Sinn erhält. Zum Beispiel kann man streiten, ob der Gewährleistungsausschluß wegen anfänglicher Mangelkenntnis in Art. 2 Abs. 3 der Kaufgewährleistungsrichtlinie (KGRL) eine „Ausnahmevorschrift“ darstellt. Nach der Kommissionsbegründung dürfte das ungeachtet der negativen Formulierung („es liegt keine Vertragswidrigkeit vor, wenn …“) zu verneinen sein: „streng genommen“ liege „keine Vertragswidrigkeit vor, weil der Verbraucher die Sache in dem Zustand, in dem sie sich befindet, angenommen hat und die Sache damit sehr wohl vertragsgemäß ist“.139 In der Tat wird mit der Regelung ungeachtet ihrer technischen Gestaltung als Ausnahme, einem fundamentalen Grundsatz Rechnung getragen, nämlich dem Verbot des venire contra factum proprium.140 Die formal-technische Ausgestaltung als Ausnahme gebietet daher keineswegs eine „enge Auslegung“. Ebenso liegen die Dinge bei Art. 7 Produkthaftungsrichtlinie (PHRL), wonach sich der Hersteller von der Produkthaftung befreien kann, wenn er beweist, daß er das Produkt nicht in Verkehr gebracht hat. Die Vorschrift ist Ausdruck des Veranlasserprinzips, das der Produkthaftung nach der Richtlinie zugrunde liegt. Sie drückt den Grundsatz selbst aus und schränkt ihn nicht ein. Die negative Formulierung beruht nur auf der Beweislastverteilung. Für die vom EuGH zu beurteilende Frage, ob auch die krankenhausinterne Anwendung einer Spüllösung auf eine zu transplantierende Niere „Inverkehrbringen“ i.S.d. Vorschrift darstellt, war schon aus teleologischen Gründen zu bejahen, einer „engen Auslegung“ der „Ausnahmevorschrift“ bedurfte es daher nicht.141

Gelegentlich stellt eine Vorschrift sowohl technisch, als auch im Hinblick auf den Hauptzweck einer Regelung eine Ausnahme dar, trägt sie aber ihrerseits einem fundamentalen Recht oder geschützten Interesse Rechnung. Auch dann kommt eine „enge“ Auslegung nicht in Betracht. Ein Beispiel ist die Beschränkung der Diskriminierungsverbote in der Gleichbehandlungsrichtlinie 2004/113 auf „Personen, die Güter und Dienstleistungen bereitstellen, die der Öffentlichkeit ohne Ansehen der Person zur Verfügung stehen“, Art. 3 Abs. 1. Diese Beschränkung ist technisch nicht als Ausnahme formuliert, doch könnte man sie so verstehen. Indes wird darauf hingewiesen, daß Diskriminierungsverbote selbst Ausnahmen vom fundamentalen Grundsatz der Privatautonomie sind, die Beschränkung also eine Bestätigung bzw. Erhaltung der Regel darstellt, keine Ausnahme.142 In der Tat weisen die Begründungserwägungen darauf hin, daß mit der „Ausnahme“ insbesondere zwei verfassungsrechtlich geschützte Rechte gewährleistet werden sollen, die Privatsphäre und die Vereinsfreiheit.143 Eine „enge“ Auslegung wäre daher zweckwidrig.

Aber auch wenn eine „echte“ Ausnahme vorliegt, ist diese nicht notwendig „eng“ auszulegen. Vielmehr muß es hier – wie allgemein – auf die Absicht des Gesetz139 KOM(95) 520 endg, Begründung zu Art. 3 Abs. 1. 140 Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 739 –743. 141 Nur i.E. zutreffend daher EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 15 –18. 142 Schöbener/Stork, ZEuS 2004, 43, 78. 143 Riesenhuber/Franck, EWS 2005, 245 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

gebers und die von ihm verfolgten Zwecke ankommen. Denn nicht jede Ausnahme ist mit dem eigentlichen Regelungsanliegen unvereinbar, manche wird von ihm sogar gefordert. Zum Beispiel mag man an die Ausnahmebereiche der Kaufgewährrichtlinie denken. Der Gesetzgeber hat u.a. Kaufverträge über Strom von der – den Anwendungsbereich mitbestimmenden – Definition „Verbrauchsgüter“ ausgenommen. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß insoweit besondere Vorschriften des Energierechts Anwendung finden können, vor allem aber die Gewährleistung in diesen Fällen keine erhebliche Bedeutung hat.144 Die Ausnahme stellt also den Regelungszweck in keiner Weise in Frage, im Gegenteil, sie bestätigt ihn. Gründe für eine „enge“ Auslegung sind von vornherein nicht ersichtlich.

Der Obersatz, Ausnahmen seien eng auszulegen, wird denn auch keineswegs in allen Fällen tragend. Das eingangs genannte Beispiel Heininger illustriert das. Dort ging es u.a. um die Frage, ob ein Realkreditvertrag durch den Ausnahmetatbestand für „Verträge über den Bau, den Verkauf und die Miete von Immobilien sowie Verträge über andere Rechte an Immobilien“ fällt. Der EuGH bezieht sich für die verneinende Antwort ohne Not auf den angeblichen Grundsatz enger Auslegung von Ausnahmen. War mit dem Realkreditvertrag ein Kreditvertrag bezeichnet, bei dem der Rückzahlungsanspruch durch eine dingliche Sicherheit gesichert ist, so fiel der Kreditvertrag schon nach dem Wortlaut nicht unter die Ausnahmevorschrift. Da zudem die grundpfandrechtliche Sicherung nicht (nach den nationalen Rechten aller Mitgliedstaaten) notwendig bedeutet, daß eine überlegte Vertragsentscheidung des Verbrauchers ermöglicht wird, beansprucht die Ausnahmeregelung auch teleologisch keine Geltung.

144 Vgl. für die entsprechenden Erwägungen bei Art. 2 lit. f CISG Staudinger-Magnus, Art. 2 CISG Rn. 50.

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§ 9 Die Konkretisierung von Generalklauseln Anne Röthel Übersicht I. Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  II. Konkretisierung in der gemeinschaftlichen Kompetenzordnung   .  .  .  1. Institutionelle Ordnung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Auslegungsbefugnis des EuGH   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz   .  .  .  .  .  .  a) Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht   .  .  .  b) Rechtsangleichungsintention   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Anwendung auf die Klauselrichtlinie   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Océano   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Freiburger Kommunalbauten   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Grundannahmen der EuGH-Rechtsprechung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  IV. Konkretisierung als Methodenproblem   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Methodische Modellvorstellung der Konkretisierung   .  .  .  .  .  .  .  .  2. Konkretisierung durch Auslegung i.e.S.   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Maßstäbe der Rechtsgestaltung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Referenzordnungen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Erfordernis einer gemeinschaftsautonomen Referenzordnung   bb) Sekundärrechtliche Referenzordnungen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Prinzipien und Leitbilder   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  V. Konkretisierung als Prozeß   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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Die Konkretisierung von Generalklauseln nimmt traditionell eine Sonderstellung in Methodenfragen ein. Dies gilt auch für eine europäische Methodenlehre. Gemeinsam sind den nationalen Rechtsordnungen und dem Gemeinschaftsrecht auch die spezifischen gesetzgeberischen Gründe, aus denen sich eine Rechtsetzung mittels Generalklauseln empfiehlt: Einzelne Gegenstände der Rechtsetzung werden delegiert und damit richterlicher Einzelfallbeurteilung überlassen; zugleich soll eine gewisse Flexibilität und Wertungsoffenheit der Gesetzgebung erreicht werden.1 Aus diesen Gründen empfahlen sich Generalklauseln immer wieder den kontinentaleuropäischen Gesetzgebern,2 und auch der Gemeinschaftsgesetzgeber setzt 1 Zu den gesetzgeberischen Gründen der Verwendung von Generalklauseln Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 338 ff. 2 Zu den normativen Grundkonflikten, die die Funktion von Generalklauseln im kontinentaleuropäischen Rechtsdenken prägen, Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit. Eine Sonderstellung nimmt England ein; hierzu Kötz, Towards a European Civil Code: The Duty of Good Faith, in: Essays in Celebrations of John Fleming, S. 243 ff.; Teubner, The Modern Law Review 61 (1998), 11ff.; zum Begriff von „good faith“ im englischen Vertragsrecht siehe die Darstellung bei Grobecker, Implied Terms und Treu und Glauben, S. 38 ff. m.w.N.; zur Umsetzung der Klauselrichtlinie Beatson, ZEuP 1998, 957 ff.; mit Recht die Unterschiede betonend Sonnenberger, FS Odersky, S. 703 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

inzwischen vermehrt auf solche ausfüllungsbedürftigen Begriffe. Prominentestes – aber längst nicht einziges – Beispiel für diese Rechtsetzungstechnik ist Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie.3 Diese Rechtsetzungstechnik wirft besondere Fragen auf, und zwar sowohl auf kompetentieller als auch auf methodischer Ebene.

I.

Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung

Die Forderung nach Methodengerechtigkeit ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck spezifischer Anforderungen der Gewaltenordnung. Auf der nationalen Ebene geht es dabei um das Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgebung: Je größer die Besorgnis um unzulässige Richtermacht ist, umso aufmerksamer wird auf die Methode der Jurisdiktion geschaut. Und umgekehrt werden sich methodische Anforderungen umso mehr verlieren, je größer der an die Rechtsprechung konzedierte Freiraum zu eigenständiger Rechtsgestaltung ist. So spiegeln sich in Methodenfragen stets auch und vielfach sogar in erster Linie kompetentielle Fragen. Dieses Wechselspiel von Kompetenz und Methode ist besonders sichtbar bei der Konkretisierung, d.h. der richterlichen Ausfüllung von Generalklauseln und normativ-unbestimmten Rechtsbegriffen. Wenn Konkretisierung heute beschrieben wird als gebundene Rechtsbildung 4, so kommt darin ein spezifischer Methodenpluralismus 5 zum Ausdruck: In der Konkretisierung verbinden sich die Methoden der gebundenen Rechtsentscheidung durch Auslegung mit den rechtsschöpferischen Methoden der Rechtsbildung. Dahinter steht die Vorstellung, daß mit konkretisierungsbedürftigen Begriffen Aufgaben der Rechtsbildung übertragen werden. Konkretisierungsbedürftige Normen sind also Delegationsnormen. Diese gedankliche Folie der Delegation von Rechtsgestaltungsbefugnissen bezeichnet in vergleichbarer Weise auch die auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene mit der Konkretisierung verbundenen Zweifelspunkte. Während allerdings auf nationaler Ebene allenfalls die Zulässigkeit oder der Umfang einer mit ausfüllungsbedürftiger

3 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 Nr. L 95/25; siehe auch Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend der selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 Nr. L 382/17 (im folgenden Handelsvertreterrichtlinie). Weitere ausfüllungsbedürftige Begriffe enthalten Art. 6 Abs. 1 S. 2 („angemessene Vergütung“) sowie Art. 17 Abs. 2 a (Anspruch auf einen der „Billigkeit“ entsprechenden nachvertraglichen Ausgleich) der Handelsvertreterrichtlinie. Jüngstes Beispiel ist Art. 3 Abs. 2 Fernabsatzrichtlinie für Finanzdienstleistungen, 2002/65/EG („Grundsatz von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr“). Weitere Beispiele in Fn. 48 f. sowie bei Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 401ff. 4 Näher Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 124 ff. 5 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 125; für das europäische Privatrecht Flessner, JZ 2002, 14, 18 ff.; allgemein Grundmann, RabelsZ 61 (1997), 423 ff.; kritisch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 24 ff.: Methodenpluralität als „Vehikel der Richterfreiheit“.

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§ 9 Die Konkretisierung von Generalklauseln

Rechtsetzung intendierten Delegation klärungsbedürftig sein mag, ist auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene die zentrale Frage im Umgang mit konkretisierungsbedürftigen Richtlinienbegriffen 6 nach wie vor eine andere: Sind die damit formulierten Gestaltungsaufträge an die Mitgliedstaaten oder an den EuGH adressiert? Dies wird vor allem in Deutschland 7 und in jüngerer Zeit namentlich mit Blick auf die Generalklausel aus Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie problematisiert. Der Problemzugriff erfolgt dabei unausgesprochen über die Kompetenzordnung. Dies entspricht der bereits angedeuteten Komplementarität von Methode und Kompetenz. Dieser Problemzugriff wird auch den weiteren Überlegungen zugrundegelegt. Zunächst sind daher Grundsatz und Grenzen der Konkretisierungskompetenz des EuGH zu klären (unten II. und III.), bevor in einem zweiten Schritt über die gemeinschaftlichen Konkretisierungsmethoden nachgedacht werden kann (IV.).

II.

Konkretisierung in der gemeinschaftlichen Kompetenzordnung

Ist Konkretisierung stets mehr oder weniger Rechtsgestaltung, so liegt in konkretisierungsbedürftiger Rechtsetzung eine Aufgabendelegation. Ungeschriebenen Aufgabenverschiebungen steht das Gemeinschaftsrecht mit gutem Grund ablehnend gegenüber,8 gehört es doch zu den Grundannahmen des Integrationsprozesses, daß die Kompetenzordnung auf einzelnen Aufgaben- und Befugniszuweisungen ruht. Die Gemeinschaft verfügt nicht über die für souveräne Staaten typische Allzuständigkeit,9 sondern bedarf ausdrücklicher Befugniszuweisungen (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung) und muß bei der Kompetenzausübung die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit achten.10 Konkretisierungsbedürftige Rechtsetzung ist also in die vorgegebene institutionelle Ordnung des Gemeinschaftsrechts einzufügen.

1.

Institutionelle Ordnung

Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz zwischen dem EuGH und den Mitgliedstaaten berührt sowohl die Verbandskompetenz als auch die Organkompetenz. Für das Kompetenzgefüge von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten bedeutet konkretisierungsbedürftige Aufgabenwahrnehmung aber eine schwächere Beanspruchung

6 Im folgenden soll nur auf die Kompetenzproblematik der Richtlinien-Konkretisierung eingegangen werden, da für die Konkretisierung von Verordnungen die Konkretisierungskompetenz des EuGH geklärt sein dürfte; so auch W.-H. Roth, FS Drobnig, 135 ff. 7 So auch der Befund von Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 75. 8 So Bleckmann, Europarecht, Rn. 523; Oppermann, Europarecht, Rn. 661. 9 Siehe statt aller Calliess/Ruffert-Calliess, Art. 5 EGV Rn. 12; Schwarze-Lienbacher, Art. 5 EGV Rn. 7; Streinz, Europarecht, Rn. 121 jeweils m.w.N. 10 Siehe statt aller Streinz, Europarecht, Rn. 145: Kompetenzausübungsschranken.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

gemeinschaftlicher Rechtsetzungsbefugnisse als vollständig ausgeführte und insoweit „bestimmte“ Rechtsetzung. Daher erweisen sich insbesondere die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit sogar als Fürsprecher geringerer Regelungsdichte und damit konkretisierungsbedürftiger Rechtsetzung. Nicht so leicht läßt sich die Zulässigkeit einer ungeschriebenen Aufgabenzuweisung gerade an den EuGH begründen. Auch im Verhältnis der Gemeinschaftsorgane untereinander bedarf es konkreter Aufgabenzuweisungen. Es gilt abermals das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.11 Allerdings erweist sich die Konkretisierung bei institutioneller Betrachtung als integraler Bestandteil der dem EuGH zugewiesenen Befugnis zur Auslegung und Fortbildung des Sekundärrechts. a)

Auslegungsbefugnis des EuGH

Unabhängig davon, ob man Konkretisierung mehr als gebundene Rechtsentscheidung oder mehr als gestaltende Rechtsbildung versteht, läßt sich die Konkretisierung schon unter die dem EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zugewiesene Aufgabe fassen, über die „Auslegung“ der Handlungen der Organe zu entscheiden. Mit Recht wird Auslegung i.S. des Art. 234 Abs. 1 lit. b EG insoweit nicht methodisch- eng nach Art des Savigny’schen Kanons verstanden. Gerade in Methodenfragen verbietet sich eine unbefangene Gleichsetzung nationaler Vorstellungen mit gemeinschaftsrechtlichen Erwartungen. Die Eigengesetzlichkeit der gemeinschaftlichen Rechtsordnung mit ihren institutionellen Besonderheiten supranationaler Rechtsetzung sowie die in der Gemeinschaft zusammentreffenden Methodentraditionen der Mitgliedstaaten haben den EuGH von Beginn an vor die Aufgabe gestellt, eigenständig das nötige gemeinschaftsspezifische methodische Handwerkszeug zu entwickeln,12 zumal auch aus der Perspektive des deutschen Rechts die Abgrenzung zwischen Auslegung und Ausfüllung nicht immer trennscharf möglich ist.13 Der in Art. 234 Abs. 1 lit. b EG erteilte Auftrag zur „Auslegung“ ist daher mit Blick auf die Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens zu entwickeln. Auslegung ist einerseits als Gegenbegriff zur Rechtsanwendung zu verstehen, die dem EuGH ohne Zweifel entzogen ist.14 Andererseits ist die Reichweite der dem EuGH mit Art. 234 Abs. 1 lit. b EG zugewiesenen Aufgabe anhand von Sinn und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens 15 zu bestimmen, also mit Blick auf das

11 Calliess/Ruffert-Calliess, Art. 7 EGV Rn. 16 f.; Schwarze-Hatje, Art. 7 EGV Rn. 43; großzügiger Everling, FS Ophüls, S. 35: Ermächtigungen der Kommission durch den Rat wären auch ohne ausdrückliche Anordnung zulässig. 12 Zu den Kriterien der Auslegung des gemeinschaftlichen Sekundärrechts Riesenhuber, oben, § 8 IV. 13 Näher Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 130 ff. 14 St. Rspr.; siehe etwa EuGH v. 28.3.1979 – Rs. 222/78 ICAP ./. Beneventi, Slg. 1979, 1163 Rn. 10 ff.; EuGH v. 24.9.1987 – Rs. 37/86 Coenen ./. ONPTS and CNPRS, Slg. 1987, 3589 Rn. 8; EuGH v. 10.5. 2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 31ff.; hierzu Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 234 EGV Rn. 4; skeptisch zu dieser Grenzziehung zwischen Auslegung und Anwendung Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 271ff. 15 Dazu Oppermann, Europarecht, Rn. 757; Schwarze-Schwarze, Art. 234 EGV Rn. 2 f.; Calliess/ Ruffert-Wegener, Art. 234 EGV Rn. 1.

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§ 9 Die Konkretisierung von Generalklauseln

Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung.16 Auslegung i. S. des Art. 234 Abs. 1 lit. b EG umfaßt daher jede sachverhaltsgelöste, abstrakte Verdeutlichung von Inhalt und Bedeutung oder – so die Formulierung des EuGH – „Sinn“ und „Tragweite“ 17 des Gemeinschaftsrechts.18 In dieser weit gefaßten Auslegungsbefugnis ist bei institutioneller Betrachtung auch die Befugnis zur Konkretisierung enthalten.19 b)

Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH

Im übrigen ließe sich die institutionelle Organkompetenz des EuGH zur Konkretisierung – soweit sie nicht schon seiner Auslegungskompetenz zugeschlagen werden kann – jedenfalls auf die in Art. 220 EG verankerte Befugnis zur Rechtsfortbildung stützen,20 zumal der EuGH ohnehin nicht scharf zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unterscheidet.21 Die grundsätzliche Befugnis des EuGH zur Rechtsfortbildung steht heute außer Streit und gehört zur „Realität der Gemeinschaft“ 22. Aus institutioneller Perspektive läßt sich die Konkretisierung daher zum vertraglich gekennzeichneten Aufgabenbereich des EuGH zählen.

16 Zu Inhalt und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens EuGH v. 16.1.1974 – Rs. 166/73 Rheinmühlen Düsseldorf ./. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1974, 33 Rn. 2; EuGH v. 24.5.1977 – Rs. 107/76 Hoffmann La Roche ./. Centrafarm, Slg. 1977, 957 Rn. 5; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 7 – sowie Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S. 15 ff.; Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts, S. 175 ff.; Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 751ff. 17 EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Denkavit Italia, Slg. 1980, 1205 Rn. 16. 18 Siehe nur Schwarze-Schwarze, Art. 234 EGV Rn. 17. 19 Statt Vieler Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 60 f. Soweit ersichtlich, stellt allein Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 536 ff., die Konkretisierungsbefugnis des EuGH im Hinblick auf die institutionelle Aufgabenzuweisung des Art. 234 EG in Frage, und zwar mit dem Argument, bei ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen ließen sich Auslegung und Anwendung nicht voneinander unterscheiden. 20 Allgemein zur Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH Neuner, unten, § 10 II 1. Zur Konkretisierung als Bestandteil der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 60 f.: „Präzisierung“ von unbestimmten Rechtsbegriffen als „Auslegung im weiteren Sinne“; Calliess, NJW 2005, 929, 932; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 737; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 133 ff.; Wank, FS Stahlhacke, S. 638. 21 Eingehend Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 394 ff.; ders., ZEuP 2005, 234, 249 f.; siehe im übrigen Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 575 ff., 604 ff.; Hergenröder, FS Zöllner, Bd. II, S. 1153; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration, S. 57; Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, S. 291; kritisch Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535 f.; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 65 ff., 72. Siehe auch die Beiträge in Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsvergleichung in der Europäischen Rechtsgemeinschaft. – Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH bei Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 105 ff. 22 So Everling, ZSchwR 1993, 337, 347; siehe auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 35 ff.: richterliche Rechtsfortbildung als „Normalfall im Gemeinschaftsrecht“; hierzu im einzelnen Neuner, unten, § 10 sowie Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts, S. 185 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

2.

Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz

Aus dieser institutionellen Möglichkeit einer Zuweisung der Konkretisierungsaufgabe an den EuGH folgt aber nicht zwangsläufig, daß mit jedem ausfüllungsbedürftigen Rechtsakt auch eine solche Aufgabendelegation an den EuGH erfolgt. Diese Frage nach der Aufgabenverteilung zwischen den nationalen Konkretisierungsakteuren und dem EuGH ist – für den Bereich des Privatrechts 23 – vor allem mit der Klauselrichtlinie in das wissenschaftliche Blickfeld gerückt und zum Gegenstand intensiver Befassung avanciert.24 Die dabei entstandene Kontroverse krankt allerdings daran, daß zumeist eine generelle Zuweisung der Konkretisierungskompetenz versucht wird. Dies ist aber nicht möglich. Auch wenn dem EuGH mit der Befugnis zu Auslegung und Rechtsfortbildung auch die Konkretisierung und damit ggf. auch die Schaffung neuer Maßstabsnormen zugewiesen werden kann, heißt dies nicht, daß sie ihm auch in concreto zugewiesen ist. Und umgekehrt ist es zwar richtig, daß eine Richtlinie auf bloße Rechtsangleichung 25 zielt und den Mitgliedstaaten typischerweise Gestaltungsfreiräume belassen soll.26 Doch folgt daraus genauso wenig wie aus dem Subsidiaritätsprinzip 27 oder der Einschätzung, daß gemeinschaftseinheitliche materielle Maßstäbe für die Konkretisierung nicht zur Verfügung stünden 28, per se die Unzulässigkeit einer Letztkonkretisierung durch den

23 Für das öffentliche Recht werden Fragen der Konkretisierung bislang mit anderem Akzent diskutiert; siehe etwa Bleckmann, RIW 1987, 929 ff. mit Blick auf die Beurteilungsspielräume nachgeordneter Behörden oder Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht. 24 Eine Konkretisierungskompetenz bejahend etwa Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 60 f.; Basedow, FS Brandner, S. 675, 680; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 2.10 Rn. 7, 19; ders.,, NJW 2000, 14, 20; Heiderhoff, WM 2003, 509, 510 ff.; dies., Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts, S. 120 ff., 132 ff.; Joerges, ZEuP 1995, 181, 199 f.; Klauer, Europäisierung des Privatrechts, S. 131ff.; dies., ERPL 8 (2000), 187 ff.; Leible, RIW 2001, 422, 426 f.; Müller-Graff, in: ders. (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 56 ff., 64; Reich, ZEuP 1994, 381, 391; Remien, ZEuP 1994, 34, 58 f.; ders., RabelsZ 62 (1998), 627, 642 f.; ders., RabelsZ 66 (2002), 503, 517 ff., 520 ff., 523; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 74 ff., 79 f.; Weatherill, ERPL 3 (1995), 307, 316 ff. Kritisch hingegen Canaris, EuZW 1994, 417; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 536 ff.; ders., JbJZ 1997, S. 298 ff.; Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts, S. 228 f.; Heinrichs, NJW 1996, 2190 2196; Palandt-Heinrichs, § 310 Rn. 23 ff.; Nassall, WM 1994, 1645 ff.; Reich, RabelsZ 66 (2002), 531, 544 f.; H. Roth, JZ 1999, 529, 535 f.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 135 ff. Differenzierend Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien. 25 Canaris, EuZW 1994, 417; siehe auch Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts, S. 229; Reich, RabelsZ 66 (2002), 531, 544. 26 W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 141f.; ähnlich Canaris, EuZW 1994, 417 unter Hinweis auf die „Funktion der Richtlinie“; differenzierend zwischen Verordnung und Richtlinie auch Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts, S. 229 und Bleckmann, RIW 1987, 929, 935. 27 Nassall, JZ 1995, 689, 691; Grabitz/Hilf II-Pfeiffer, A 5 (AGBRL), Art. 3 Rn. 41; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 143 ff.; Schulze-Osterloh, ZGR 1995, 170, 179 f.; siehe auch die Argumentation von Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 204 ff. 28 So Palandt-Heinrichs, § 310 Rn. 25; ders., NJW 1996, 2190, 2196, vgl. auch Franzen, JbJZ 1997, S. 304 ff.; H. Roth, JZ 1999, 529, 535 f.; Nassall, WM 1994, 1645, 1651; ähnlich Staudinger-Schlosser,

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§ 9 Die Konkretisierung von Generalklauseln

EuGH. Erforderlich ist vielmehr eine materielle Zuweisung der Konkretisierungskompetenz.29 Maßstab kann nur die mit dem jeweiligen Rechtsakt im Einzelfall intendierte Rechtsangleichung sein.30 a)

Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht

Anhaltspunkte für eine solche Zuweisung der Konkretisierungsaufgabe an den EuGH kann schon der gewählte konkretisierungsbedürftige Begriff selbst geben. Wurde eine Generalklausel als umschreibende „Leerstelle“ für bestehende mitgliedstaatliche Regelungen gewählt, liegt darin eine Verweisung auf das nationale Recht, und die Befugnis zur Letztkonkretisierung ist den Mitgliedstaaten zugewiesen.31 Dies liegt nahe bei Begriffen, die wie die „öffentliche Ordnung“ auf spezifisch nationale Wertverwirklichungen verweisen.32 Im übrigen dürfte eine Verweisung auf die nationalen Rechtsordnungen – genauso wie im Umgang mit bestimmteren Begriffen 33 – eher die Ausnahme darstellen.34

Einl. zum AGBG Rn. 33: Der Richtliniengeber habe gesehen, daß sich „eine europäisch einheitliche Bewertung von Klauseln beim gegenwärtigen Stand des Vertragsrechts in Europa nicht erreichen läßt.“ Genauso Joerges, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 216 Fn. 36: Der EuGH sei zur Konkretisierung ungeeignet, weil er die nötigen „Folgeerwägungen“ nicht anstellen könne. – Zu den materiellen Maßstäben der Konkretisierung noch eingehend unten, sub. IV. 29 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 74 ff. 30 Vgl. zum folgenden Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 495 ff.; Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 524 ff.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 148 ff.; Wolff, Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 67 ff.; für Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie etwa Leible, RIW 2001, 422, 426; für die Produkthaftungsrichtlinie Schaub, ZEuP 2003, 562, 569 ff. 31 Zu den gesetzgeberischen Gründen für ausfüllungsbedürftige Rechtsetzung auf Gemeinschaftsebene Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 338 sowie Wolff, Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 59; mit Blick auf die Klauselrichtlinie Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525. – Denkbar ist auch, daß eine Generalklausel aus politischen Gründen die einzige politisch durchsetzbare Lösung i.S. eines „kleinsten gemeinsamen Nenners“ darstellt; so Micklitz, ZEuP 1993, 522, 526 für die Klauselrichtlinie. Dies könnte als Argument für eine Konkretisierungskompetenz der Mitgliedstaaten gewertet werden. Dagegen spricht allerdings, daß schon im Gesetzgebungsverfahren die „wichtige Rolle“ des EuGH bei der Konkretisierung zur Sprache gekommen ist; siehe Remien, ZEuP 1994, 34, 58. 32 Vgl. Bleckmann, EuGRZ 1979, 485, 487; weiter gehend bzgl. der „guten Sitten“ Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, S. 361f. 33 Näher Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 478 ff. 34 Eindrücklich aus jüngerer Zeit EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, (noch nicht in Slg.) Rn. 29. Siehe allgemein Riesenhuber, oben, § 8 II; Bleckmann, EuGRZ 1979, 485, 488; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 481f. – Zu einem solchen Fall einer Verweisung siehe die Entscheidung EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 – zum Begriff des Schadens i.S.v. Art. 7 lit. a der Richtlinie 85/374/EWG des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 Nr. L 210/29; aus dem Schrifttum für eine Auslegungsbefugnis des EuGH in diesem Zusammenhang etwa Magnus, JZ 1990, 1100, 1103; Wolf, FS H. Lange, S. 786 f. – Genauso für die parallele Fragestellung zum Schadensbegriff in Art. 5 der Pauschalreiserichtlinie Tonner, ZEuP 2003, 619, 627 ff.; a.A. Brüggemeier/Reich, WM 1986, 149, 151; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 511ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Umgekehrt ist die Konkretisierungsaufgabe dem EuGH zugewiesen, wenn sich der Gemeinschaftsgesetzgeber zum Ziel setzt, die aufgrund unterschiedlicher Rechtsvorschriften bestehenden Wettbewerbshemmnisse durch „Klarstellung von Rechtsbegriffen“ zu beseitigen, wie beispielsweise im Zusammenhang mit der E-commerce-Richtlinie 35.36 Die intendierte gemeinschaftseinheitliche „Klarstellung“ läßt sich nur auf gemeinschaftlicher Ebene, d.h. durch den EuGH bewerkstelligen.37 b)

Rechtsangleichungsintention

Weitere Anhaltspunkte ergeben sich aus der Zielsetzung des Harmonisierungsaktes, wie sie sich anhand der beanspruchten Rechtsgrundlage 38 und den Erwägungsgründen 39 ablesen läßt. Ein Beispiel hierfür ist die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.40 Erklärtes Ziel der Richtlinie ist die „Gewährleistung eines einheitlichen Verbraucherschutz-Mindestniveaus“ (Art. 1 der Richtlinie) 41. Dieses für privatrechtsangleichende Richtlinien typische Ziel verkörpert entscheidende Argumente zugunsten europäisch-einheitlicher Konkretisierung. c)

Anwendung auf die Klauselrichtlinie

Nach diesen Überlegungen muß auch die Konkretisierung der Generalklausel der Klauselrichtlinie in letzter Konsequenz dem EuGH zugewiesen sein. Die Erwägungsgründe beschreiben als Regelungsanlaß, daß die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Vertragsklauseln zwischen Warenverkäufern bzw. Dienstleistern einerseits und Verbrauchern andererseits, namentlich die Rechtsvorschriften über mißbräuchliche Klauseln, „beträchtliche Unterschiede“ aufweisen.42 „Um die Errichtung des Binnenmarktes zu erleichtern“,43 sollten „einheitliche Rechtsvorschriften“ 44 geschaffen werden. Die erstrebten Regelungsziele – Erleichterung der Absatztätigkeit von Verkäufern und Dienstleistern sowie Schutz der Verbraucher im grenzüberschreitenden Verkehr 45 – können aber nur erreicht werden, wenn die

35 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft im Binnenmarkt, ABl. 2000 Nr. L 178/1. 36 6. Begründungserwägung der Richtlinie 2000/31/EG, ABl. 2000 Nr. L 178/1. 37 Weitere Beispiele bei Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 365 ff.: „begriffsbezogene Argumente“. 38 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 496 ff.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 135, 148 f. 39 Zur Bedeutung der Begründungserwägungen für die Konkretisierung etwa Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 76 ff.; allgemein zur Bedeutung für die Auslegung Riesenhuber, oben, § 8 IV 3 c. 40 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 41 Siehe auch Begründungserwägung 5 der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. 1999 Nr. L 171/12: „Schaffung eines gemeinsamen Mindestsockels“. 42 Begründungserwägungen 3 und 4 der Richtlinie 93/13/EWG, ABl. 1993 Nr. L 95/29. 43 Begründungserwägung 6 der Richtlinie 93/13/EWG, ABl.EG 1993 Nr. L 95/29. 44 Begründungserwägung 10 der Richtlinie 93/13/EWG, ABl.EG 1993 Nr. L 95/29. 45 Siehe Begründungserwägungen 5 und 7 der Richtlinie 93/13/EWG, ABl. 1993 Nr. L 95/29.

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§ 9 Die Konkretisierung von Generalklauseln

Klausel-Kontrolle soweit als möglich europäisch-einheitlich erfolgt.46 Sonst könnten sich Verbraucher bei grenzüberschreitenden Geschäften nicht darauf verlassen, nicht durch die Verwendung mißbräuchlicher Klauseln übervorteilt zu werden.47 Dies spricht für weit reichende Konkretisierungskompetenzen des EuGH.

III.

Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH

Die bislang referierten Erwägungen sprechen gerade im Zusammenhang mit der Klauselrichtlinie für eine Kompetenz zur Letztkonkretisierung des EuGH. Umso größere Aufmerksamkeit gilt natürlich der Frage, wie sich der EuGH in dieser aufwändig geführten wissenschaftlichen Debatte positioniert. Allerdings existieren bislang kaum einschlägige Entscheidungen. Zur Konkretisierung der Treu und Glauben-Generalklausel (Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1) der Handelsvertreterrichtlinie sind gar keine Judikate ersichtlich, gleiches gilt für die zahlreichen normativunbestimmten Rechtsbegriffe der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 48 oder der Verbraucherkreditrichtlinie 49. Und auch zur prominentesten sekundärrechtlichen Generalklausel – Art. 3 Abs. 1 KlauselRL – existieren bislang nur zwei Urteile, die sich speziell mit Fragen der Konkretisierung auseinandersetzen.50 Schon dieser Befund zeigt, daß so manche Aufgeregtheit und Sorge um eine hypertrophierende Konkretisierungsjudikatur des EuGH 51 wohl unbegründet war. 46 So Leible, RIW 2001, 422, 426; a.A. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 205, die aus Art. 5 Abs. 3 EG auch im Bereich der binnenmarktfinalen Rechtsangleichung eine Vermutung zugunsten nationaler Gestaltungsfreiräume folgert (S. 179); a.A. auch Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 553, da er die Richtlinie der aktiven Rechtsangleichung zuordnet (a.a.O., S. 221ff.). 47 Zu diesem Beispiel Leible, RIW 2001, 422, 426; vgl. auch Brandner, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 131, 136 im Hinblick auf die „Absichten und den Schutzgehalt“ sowie den „Geltungswillen“ der Richtlinie. 48 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 Nr. L 171/12: Der Verkäufer kann die Nacherfüllung ablehnen, wenn sie „unverhältnismäßig“ ist (Art. 3 Abs. 3); die Nachbesserung muß innerhalb einer „angemessenen Frist und ohne erhebliche Unannehmlichkeiten für den Verbraucher erfolgen“ (Art. 3 Abs. 3 S. 3); der Verbraucher kann „angemessene Minderung“ verlangen (Art. 3 Abs. 5), und bei einer „geringfügigen Vertragswidrigkeit“ besteht kein Anspruch auf Vertragsauflösung (Art. 3 Abs. 6). 49 Richtlinie 87/102/EWG des Rates v. 22.12.1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 Nr. L 42/48: „angemessene Ermäßigung“ der Gesamtkosten des Kredits bei vorzeitiger Erfüllung (Art. 8 der Verbraucherkreditrichtlinie), „angemessener Schutz“ des Verbrauchers bei der Verwendung von Wechsel und Scheck (Art. 10 der Verbraucherkreditrichtlinie). 50 Siehe zum Folgenden die Urteile EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 und EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403. Daneben ergingen die Entscheidungen vom 7.5.2002 – Rs. C-478/99 – Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 insbes. Rn. 20 ff. zur Rechtsnatur des Anhangs der Richtlinie 93/13/EWG als „Informationsquelle“) sowie die Entscheidung vom 21.11.2002 – Rs. C-473/00 – Cofidis, Slg. 2002, I-10875 (Zulässigkeit einer Ausschlußfrist für die Geltendmachung der Unwirksamkeit einer Klausel). 51 Plastisch Lipp, NJW 2001, 2657, 2662; siehe auch Canaris, EuZW 1994, 417. In diese Richtung

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2. Teil: Allgemeiner Teil

1.

Océano

In seiner ersten Entscheidung zur Konkretisierng von Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie aus dem Jahr 2000 – „Océano“ 52 – hat der EuGH nicht nur die Vorlagefrage des spanischen Instanzgerichts nach der Befugnis zur amtswegigen Mißbräuchlichkeitskontrolle einer Gerichtsstandsklausel, sondern darüber hinaus auch inhaltlich die Mißbräuchlichkeit der streitigen Klausel im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie bejaht.53 Dieses Judikat ist als deutliches Votum zugunsten einer gemeinschaftlichen Letztkonkretisierungsbefugnis gelesen worden.54 Mit Recht wurde dabei kritisiert, daß die Vorlagefrage eine inhaltliche Klauselbeurteilung eigentlich nicht erfordert hätte.55 Nach dieser Entscheidung lag die Annahme nahe, daß sich der EuGH eine weitreichende Konkretisierungskompetenz zuspricht und diese Kompetenz auch in Anspruch nehmen will und wird. In dieselbe Richtung wiesen die Ausführungen von Generalanwalt Saggio, der in seinen Schlußanträgen betont hatte, daß „die Beantwortung der Frage, ob eine Klausel … ‚mißbräuchlich‘ ist, nicht mehr als eine Auslegung des Wortlauts der Richtlinie … erforderlich macht.“ 56

2.

Freiburger Kommunalbauten

Differenzierter entschied der EuGH auf Vorlage des BGH 57 in der Rechtssache Freiburger Kommunalbauten.58 Anders als in der Océano-Entscheidung nahm er nicht in der Sache zur Mißbräuchlichkeit der streitigen Vorauszahlungsklausel Stellung, sonargumentierend auch GA Geelhoed, Schlußanträge v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 – Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 29. 52 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 = NJW 2000, 2571 = ZEuP 2003, 141 m. Anm. Pfeiffer = DB 1999, 2056 m. Anm. Staudinger = EWiR 2000, 784 m. Anm. Freitag = JZ 2001, 245 m. Anm. Schwartze; hierzu Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 377 ff.; weitere Besprechungsaufsätze von Borges, RIW 2000, 933; ders., NJW 2001, 2061ff.; Hau, IPRax 2001, 96; Leible, RIW 2001, 422; Wittaker, LQR 117 (2001), 215. 53 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 24. 54 So etwa Leible, RIW 2001, 422, 435 f.; Möllers, JZ 2002, 121, 125; kritisch Borges, NJW 2001, 2061, 2062; Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 209 f. 55 Gegenstand der Vorlagefrage war nicht die Mißbräuchlichkeit der streitigen Gerichtsstandsvereinbarung, sondern die sachlich davor liegende Frage, ob sich ein Verbraucher auf die Mißbräuchlichkeit der Klausel berufen oder das angerufene Gericht die Mißbräuchlichkeit von Amts wegen zu berücksichtigen hat. Kritisch Hakenberg, ZEuP 2001, 888, 901f.; Schwartze, JZ 2001, 246, 248. 56 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 18 (Hervorhebung nicht im Original). 57 BGH, NJW 2002, 2816 (Leitsätze) = NZM 2002, 754; zum Vorlagebeschluß Heiderhoff, WM 2003, 509, 512 ff. 58 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 = WM 2004, 989 ff. = ZEuP 2005, 418 ff. mit Anm. Röthel; dazu Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts, S. 432 ff.; Freitag, EWiR 2004, 397 ff.; ders./Riemenschneider, WM 2004, 2470 ff.; Markwardt, ZIP 2005, 152 ff.; Schmidt-Kessel, WuB IV F. Art. 3 RL 93/12 EWG 1.04; Wittwer, ELR 2004, 380 ff.

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§ 9 Die Konkretisierung von Generalklauseln

dern wies diese Beurteilung den nationalen Gerichten zu: Im Rahmen der mit Art. 234 EG übertragenen Befugnis zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts sei es Aufgabe des EuGH, die zur Definition einer konkretisierungsbedürftigen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen, hingegen sei er nicht befugt, sich zur Anwendung dieser allgemeinen Kriterien auf eine bestimmte Klausel zu äußern.59 Anderes gelte nur – so die klarstellenden Hinweise mit Seitenblick auf die Océano-Entscheidung – wenn sich die Mißbräuchlichkeit einer Klausel ohne weitere Berücksichtigung der Vertragsumstände und ihrer Auswirkungen im nationalen Recht feststellen lasse.60

3.

Grundannahmen der EuGH-Rechtsprechung

Aus beiden Entscheidungen – so gewohnt knapp sie auch sind – lassen sich zwei wesentliche Grundannahmen für die Aufgabenwahrnehmung des EuGH bei der Konkretisierung gemeinschaftlichen Sekundärrechts herausschälen. Die erste Grundannahme betrifft das Selbstverständnis des EuGH, ohne nähere Begründung prinzipiell zur Konkretisierung sekundärrechtlicher Generalklauseln befugt zu sein. So wenig der EuGH methodisch zwischen Auslegung und Rechts(fort)bildung unterscheidet, so wenig kompetentielle Besonderheiten erkennt er Generalklauseln offenbar zu. Dies kommt auch in der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten zum Ausdruck, wenn der EuGH betont, es sei seine Aufgabe, die zur Definition einer konkretisierungsbedürftigen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen.61 Damit hat sich der EuGH auch nicht dem Votum von Generalanwalt Geelhoed angeschlossen, der verlangt hatte, daß der EuGH den Mitgliedstaaten keine ins Detail gehenden Vorgaben machen dürfe, weil sonst der Ermessensspielraum der nationalen Umsetzungsgesetzgeber eingeengt werde.62 Hingegen sieht es der EuGH grundsätzlich nicht als seine Aufgabe an – und dies ist die zweite Grundannahme – die Kriterien der Mißbräuchlichkeitskontrolle auf die konkrete streitige Vertragsklausel anzuwenden. Konsequenterweise lehnt er auch jede Beurteilung tatsächlicher Umstände ab 63 und weist die Prüfung nationalen Rechts ebenfalls den mitgliedstaatlichen Gerichten zu.64 Daß der EuGH in der Rechtssache

59 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 60 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 23. 61 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. In diese Richtung weist auch die Entscheidung vom 21.11.2002 – Rs. C-473/00 – Cofidis, Slg. 2002, I-10875 Rn. 23, wo der EuGH sich auf „Tatbestandsmerkmale“ der Generalklausel bezieht. Diese Diktion läßt keine Unterschiede im Umgang zwischen bestimmteren und unbestimmteren Begriffen erkennen. Die Entscheidung über die Mißbräuchlichkeit der konkreten Klausel läßt er nur deshalb offen, weil das vorlegende Gericht hierzu keine Ausführungen gemacht hat (Rn. 23 a.E.). 62 GA Geelhoed, Schlußanträge v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 – Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 27. Mit Recht kritisch hierzu Markwardt, ZIP 2005, 152, 156. 63 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 64 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 21. Hierzu Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 5 Rn. 64.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Océano auch die Mißbräuchlichkeit der streitigen Klausel entschieden hat, dürfte insgesamt also einen Sonderfall darstellen. Die Entscheidung über die Mißbräuchlichkeit einer Klausel soll vielmehr den mitgliedstaatlichen Gerichten vorbehalten bleiben, während die Aufgabe der abstrakt-generellen Verdeutlichung einer Generalklausel ausschließlich dem EuGH zugewiesen ist.

IV.

Konkretisierung als Methodenproblem

Nach diesen Vorüberlegungen zum Kompetenzgefüge zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten bleibt nun die Frage, auf welchem methodischen Weg der EuGH seine Konkretisierungsaufgabe erfüllt.

1.

Methodische Modellvorstellung der Konkretisierung

Aus der Perspektive des deutschen Rechts und der deutschen Methodenlehre läßt sich eine methodische Modellvorstellung entwickeln, bei der sich in der Konkretisierung die Methoden der Auslegung mit den Methoden der Rechtsbildung und Rechtsfortbildung verbinden. Dieses Changieren der Konkretisierung zwischen gebundener Rechtsentscheidung und gestaltender Rechtsbildung ist bereits angeklungen (oben I.). Danach sind im Wege der Auslegung die tatbestandlichen „äußeren“ Grenzen des konkretisierungsbedürftigen Begriffes aufzuzeigen, während die weitere Ausfüllung im Wesentlichen Rechtsgestaltung ist, die auf methodisch entsprechend weniger vorgezeichneten Bahnen verläuft. Diese gedankliche Folie läßt sich allerdings nicht mit vergleichbarer Aussagekraft auf die Konkretisierung durch den EuGH übertragen, da der EuGH nicht trennscharf zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unterscheidet.65 Genauso wenig läßt sich allerdings umgekehrt aus der Feststellung in der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten, daß dem EuGH die Auslegung der allgemeinen Kriterien zugewiesen sei, folgern, daß der EuGH damit sein Konkretisierungsmandat auf die Verdeutlichung der „äußeren“ Grenzen der Generalklausel beschränken wollte. Vielmehr klingt darin an, daß der EuGH die Konkretisierungsaufgabe insgesamt als Auslegung zusammenfaßt, dabei aber offenbar größere methodische Freiräume für sich beansprucht.

2.

Konkretisierung durch Auslegung i.e.S.

Insbesondere zur Konkretisierung der Generalklausel der Klauselrichtlinie, aber auch im Hinblick auf andere Sekundärrechtsakte werden sich erste Anhaltspunkte der Konkretisierung schon aus den klassischen, vom EuGH verwendeten Ausle-

65 Dies ist mehrfach im Verlauf der Tagung angeklungen, zunächst aus historischer Perspektive im Beitrag von Baldus, später in den Beiträgen von Riesenhuber und Neuner.

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§ 9 Die Konkretisierung von Generalklauseln

gungsargumenten ergeben.66 Anzusetzen ist bei dem Wortlaut der Generalklausel 67 und ihrer systematischen Stellung innerhalb des Rechtsaktes. Im Beispiel der Klausel-Kontrolle sind also zunächst sämtliche inhaltlichen Vorgaben, die die Richtlinie bietet – und dies sind nicht wenige – zusammenzutragen. Sie konturieren die äußeren Grenzen der Konkretisierung. Als mißbräuchlich soll eine Klausel gelten, die „entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Mißverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten verursacht“ (Art. 3 Abs. 1 KlauselRL). Die Rechtsstellung von Verbraucher und Unternehmer sind also in Verhältnis zueinander zu setzen. Methodisch folgt daraus, daß die Konkretisierung und Anwendung der Generalklausel zur Methode der Abwägung leitet.68 Bestätigt wird dies durch die Erwägungsgründe, in denen die Mißbräuchlichkeit als „umfassende Bewertung der Interessenlagen der Parteien“ umschrieben wird. Eine solche Abwägung stellt auch den Kern der Argumentation des EuGH in der Océano-Entscheidung dar, wo er die Nachteile, die die Klausel für den Verbraucher erzeugt, den Vorteilen für den Gewerbetreibenden gegenübergestellt und allein hieraus die Mißbräuchlichkeit der Klausel gefolgert hat.69 Weitere Anhaltspunkte enthält Art. 4 Abs. 1 KlauselRL.70 Daraus ergibt sich das Erfordernis einer konkret-individuellen Klausel-Beurteilung.71 Im Einzelnen obliegt die Beurteilung der konkreten Vertragsumstände allerdings – wie bereits erläutert – den nationalen Gerichten.72 Neben dem Wortlaut und der Systematik mißt der EuGH der Teleologie eine Richtlinie, wie sie sich an den Erwägungsgründen ablesen läßt, regelmäßig große Bedeutung bei.73 Dies wird auch für die Konkretisierung von Generalklauseln gelten. Mit Blick auf die Konkretisierung der Klauselrichtlinie finden sich in den Erwägungsgründen nicht nur der allgemeine Hinweis auf das Gebot der Interessenbewertung, sondern auch die Vorgabe, daß besonders „das Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspositionen der Parteien“ zu berücksichtigen ist sowie der Umstand, „ob auf den Verbraucher in irgendeiner Weise eingewirkt wurde, seine Zustimmung zu geben, und ob die Güter oder Dienstleistungen auf eine Sonderbestellung des Verbrauchers hin verkauft bzw. erbracht wurden.“ 74

66 Näher zu den vom EuGH verwendeten Auslegungskriterien Riesenhuber, oben § 9 IV. 67 Näher Riesenhuber, oben § 9 IV 1. und 2. 68 Zur Konkretisierung durch Abwägung Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 146 ff. 69 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 22 und 23. 70 Näher Gebauer/Wiedmann-Nassall, Zivilrecht unter europäischem Einfluß, Kap. 5 Rn. 65 ff.: „konkretisierende Kontrolltopoi“. 71 So auch Hommelhoff/Wiedenmann, ZIP 1993, 562, 568 f.; ähnlich Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (AGBRL) Vorbem Rn. 28; einschränkend Remien, ZEuP 1994, 34, 52 ff. 72 Siehe EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 21; hierzu bereits oben III. 3. 73 Siehe Riesenhuber, oben § 8 IV 3. sowie etwa Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 10 ff., 15 ff. 74 Begründungserwägung 16 der Richtlinie 93/13/EWG, ABl. 1993 Nr. L 95/29.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

3.

Maßstäbe der Rechtsgestaltung

Innerhalb dieser durch die Auslegung i.e.S. gezogenen Grenzen bedeutet Konkretisierung richterlich-autonome Maßstabsetzung. Diese Rechtsgestaltung ist nach unserer methodischen Vorstellung Rechtsbildung, wobei die Rechtsprechung weniger methodischen als legislatorischen Bindungen unterworfen ist, d.h. den Bindungen, denen auch der Gesetzgeber bei abstrakt-genereller Regelsetzung unterliegt.75 Mit Blick auf das Gemeinschaftsrecht ist die wohl vordringlichere Aufgabe aber – zumal auch eine europäische Gesetzgebungslehre derzeit allenfalls in Konturen erkennbar ist 76 – die Verständigung darüber, woraus sich die materiellen Maßstäbe einer solchen Rechtsgestaltung durch den EuGH ergeben können. a)

Referenzordnungen

Solche materiellen Maßstäbe können sich vor allem aus Referenzordnungen ergeben. Aus der AGB-Kontrolle des deutschen Rechts kennen wir die Vorstellung, die gerichtliche Inhaltskontrolle am Referenzmaßstab des dispositiven Rechts auszurichten (§ 307 Abs. 2 BGB). Dahinter steht das Anliegen, die gerichtliche Konkretisierung in die geschriebene Rechtsordnung einzubinden und hieraus die maßgeblichen Wertungen zu extrahieren, die ihrerseits als Konkretisierungsmaßstab dienen sollen. Ganz allgemein geht es dabei um die Rückanbindung der Konkretisierung an übergreifende Wertvorstellungen, Leitbilder und Prinzipien. In diesem Streben nach „Rückanbindung“ verwirklichen sich die systematischen Ansprüche jeder Rechtsordnung.77 aa)

Erfordernis einer gemeinschaftsautonomen Referenzordnung

Ist die Konkretisierung einer sekundärrechtlichen Generalklausel aufgrund der Rechtsangleichungsintention dem EuGH zugewiesen, werden langfristig gemeinschaftsautonome Referenzmaßstäbe entstehen.78 Rein nationale Referenzordnungen – etwa das geschriebene Vertragsrecht eines Mitgliedstaates – scheiden regelmäßig aufgrund der Rechtsangleichungsintention des Sekundärrechtsaktes 79 als taugliche Referenzordnung aus. Da die Klauselrichtlinie eine gemeinschaftseinheitliche Klauselkontrolle intendiert, kann dieser Anspruch nur eingelöst werden, wenn die Beurteilung der Treuwidrigkeit anhand gemeinschaftseinheitlicher und

75 Zu den legislatorischen Bindungen judikativer Normsetzung im Einzelnen Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 86 ff. (Sachrichtigkeit, Rechtssicherheit, Rechtsgleichheit, Normenklarheit). 76 Ansatzpunkte bei Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der Europäischen Integration. 77 Zu Systemdenken und Systembildung im Europäischen Privatrecht Grundmann, oben, § 7; ders. (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts; zur Anwendung des Systemgedankens auf das Europäische Privatrecht Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 52 ff., insbesondere zur Konkretisierung von Generalklauseln S. 74 ff.; kritisch Flessner, JZ 2002, 14, 15 f. 78 Zur Konkretisierung als Prozess noch unten IV. 79 Hierzu bereits oben, II. 2.

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§ 9 Die Konkretisierung von Generalklauseln

daher gemeinschaftsautonomer Maßstäbe begründet wird.80 Dies deckt sich mit der Erkenntnis, daß nationale „Vorbildrechtsordnungen“ auch für die Auslegung eines Sekundärrechtsaktes allenfalls untergeordnete Bezugspunkte verkörpern.81 Dies heißt nicht, daß die nationalen Rechtsordnungen überhaupt keine Bedeutung für die Konkretisierung hätten.82 So ergeben sich – um beim Beispiel der KlauselKontrolle zu bleiben – erst aus dem Umfeld des nationalen Rechts die spezifischen Wirkungen einer Klausel. Diese Beurteilung hat der EuGH aber mit Recht den nationalen Gerichten zugewiesen.83 Daraus ergibt sich – was aus Gründen der Sachnähe auch einzig sinnvoll erscheint –, daß der EuGH im Rahmen seiner Zuständigkeit die generellen inhaltlichen Konkretisierungsmaßstäbe gemeinschaftsautonom entwickelt, während die nationalen Gerichte im Rahmen ihrer Befugnisse – d.h. bei der Anwendung der abstrakten Vorgaben des EuGH auf die konkrete Klausel – auch das Umfeld des nationalen Rechts heranziehen müssen. Ähnlich ist für rechtsvergleichend entwickelte Referenzmaßstäbe 84 oder die gemeineuropäisch erarbeiteten principles 85 zu entscheiden. Gerade für die Konkretisierung von Treu und Glauben mag es nahe liegen, in erster Linie an die sichtbaren gemeinsamen Begriffstraditionen anzuknüpfen.86 Eine gewisse Rechtsvereinheitlichung könnte damit sicherlich geleistet werden. Doch können weder rechtsvergleichend noch gemeineuropäisch entwickelte Maßstäbe den Anspruch auf systematische Einbettung der Konkretisierung in die gemeinschaftliche Gesamtrechtsordnung einlösen.87 Dies gilt namentlich für die Konkretisierung der Generalklausel in Art. 3 Abs. 1 KlauselRL.88 Auch wenn das Konzept einer an Treu und Glauben ausgerichteten

80 Siehe nur Staudinger, DB 2000, 2058; a.A. Markwardt, ZIP 2005, 152, 154; Freitag, EWiR 2004, 397 f.; ders./Riemenschneider, WM 2004, 2470, 2478; Basty, DNotZ 2004, 767, 771: als „Vergleichsmaßstab“. 81 Siehe Riesenhuber, oben § 8 IV 3 d m.w.N.; ähnlich der Befund von Schwartze, oben, § 2 III. 82 In diese Richtung auch Heiderhoff, WM 2003, 509, 511. 83 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 21. 84 Hierfür Remien, ZEuP 1994, 36, 61f.; Grabitz/Hilf II-Pfeiffer, A 5 (AGBRL), Art. 3 Rn. 41f. m.w.N., der im übrigen auch auf das „in den Mitgliedstaaten vorhandene Entscheidungsmaterial“ zurückgreifen will (Rn. 65). Damit würde aber eine europäisch-autonome Konkretisierung im Ergebnis aufgegeben werden. – Zur grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsvergleichung siehe Schwartze, oben, § 2. 85 Hierfür MünchKommBGB-Basedow 3, § 9 AGBG Rn. 6; Schmidt-Kessel, WM 1997, 1732, 1738; Remien, RabelsZ 66 (2002) 503, 525; Leible, RIW 2001, 422, 426; Markwardt, ZIP 2005, 152, 154; Wittwer, ELR 2004, 380, 384. – Siehe Art. 1:201, Art. 6:102 Principles of European Contract Law (sog. Lando-Principles); deutsche Fassung abgedruckt bei v. Bar/Zimmermann (Hrsg.), Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts. Zur Einordnung der principles in die Rechtsquellentheorie Canaris, in: Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht, S. 5, 15 ff.: Rechtserkenntnis- und Rechtsgewinnungsquelle. 86 Rechtsvergleichend Zimmermann/Whittaker (Hrsg.), Good Faith in European Contract Law. 87 Aus anderem Grund kritisch Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 658: Ein im Wege wertender Rechtsvergleichung ermittelter Mißbräuchlichkeitsbegriff würde zu einer „Maximum-Harmonisierung“ führen. 88 Eindrücklich Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 636 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Klausel-Kontrolle nach ihrer rechtskulturellen Provenienz und inhaltlichen Konzeption Ausdruck einer gemeinsamen Entwicklungstendenz der Mitgliedstaaten ist 89, hat die Konkretisierung von Treu und Glauben i.S. der Klauselrichtlinie doch ausschließlich mit Blick auf genuin gemeinschaftsrechtliche Wertvorstellungen zu erfolgen. Dies entspricht der Erkenntnis, daß aus dem nationalen Recht bekannte Begriffe im Gemeinschaftsrecht nicht notwendig denselben Bedeutungsgehalt haben.90 bb)

Sekundärrechtliche Referenzordnungen

Umso wichtiger sind daher die vom Gemeinschaftsgesetzgeber selbst mitgegebenen Referenzordnungen. Bislang einziges Beispiel für diese Regelungstechnik ist der Anhang zur Klauselrichtlinie.91 Hierauf hat sich auch der EuGH in der Océano-Entscheidung gestützt.92 Bei Licht besehen dürfte der Anhang derzeit die wichtigsten Anhaltspunkte für einen gemeinschaftsrechtlichen Treuemaßstab verkörpern.93 In vielen Klauseln kommt als Grundgedanke zum Ausdruck, daß solche Klauseln als rechtsmißbräuchlich zu bewerten sind, durch die der Unternehmer seine Rechtsstellung einseitig und zu Lasten des Verbrauchers verbessert.94 Aus einer Zusammenschau des Anhangs und Art. 3 Abs. 1 KlauselRL ergibt sich daher, daß Klauseln als mißbräuchlich anzusehen sind, die zu einer erheblichen Asymmetrie der Rechte und Pflichten zulasten des Verbrauchers führen.95 b)

Prinzipien und Leitbilder

Schließlich halten auch die gemeinschaftsrechtlichen Prinzipien und Leitbilder erste Eck- und Steuerungspunkte einer gemeinschaftlichen Referenzordnung für die Konkretisierung vor. Auch wenn sie keine „harten“ Maßstäbe verbürgen und regelmäßig in einem inneren Wechselspiel nach Art eines „beweglichen Systems“ 96

89 Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (AGBRL) Vorbem Rn. 32; siehe auch MünchKommBGB-Roth, § 242 BGB Rn. 140: Treu und Glauben als Europäisches Rechtsprinzip; zurückhaltender die in Fn. 2 angegebenen Nachweise. 90 So auch für Treu und Glauben W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 873. 91 So auch Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 5 Rn. 61; Leible, RIW 2001, 422, 427: „Indizwirkung“; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 648. Die Rechtsnatur des Anhangs ist inzwischen geklärt. Zur Rechtsnatur des Anhangs EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 20; sowie EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 Rn. 22. 92 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 22; denkbar wäre dies auch in der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten gewesen; hierfür Wittwer, ELR 2004, 380, 384. 93 So auch Heiderhoff, WM 2003, 509, 512; skeptisch Freitag/Riemenschneider, WM 2004, 2470, 2478. – Für eine Berücksichtigungspflicht nationaler Gerichte Staudinger, DB 2000, 2058; Markwardt, ZIP 2005, 152, 154; vorsichtiger Schwartze, JZ 2001, 246, 248: „bloße Anregung“. 94 Beispielsweise durch Einräumung einseitiger Änderungsbefugnisse (lit. j und k) sowie einseitiger Kündigungsrechte (lit. f und g). 95 So auch Micklitz, ZfIR 2004, 613, 621. 96 Begriff von Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im Bürgerlichen Recht; zur Rezeption dieses Gedankens bei Alexy und Dworkin u.a. sowie seiner Empfehlung als Methode des

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Anne Röthel

§ 9 Die Konkretisierung von Generalklauseln

stehen, so garantieren sie doch die nötige wertungsmäßige Rückanbindung der Konkretisierung an die Gemeinschaftsrechtsordnung. Dies gilt insgesamt für das europäische Vertragsrecht, dessen Prinzipien und Grundstrukturen sich nun sichtbar konstituieren.97 Auch wenn das Gemeinschaftsrecht noch kein eigenständiges Prinzip von Treu und Glauben kennen mag,98 so deutet sich doch der Gedanke des Schutzes berechtigter Erwartungen als spezifisch gemeinschaftsrechtlicher Vertrauensgrundsatz an.99 Auch wenn keine generelle Zweifelsregel „in dubio pro consumatore“ bestehen mag,100 wird es sich im Zusammenhang mit der Konkretisierung der Klauselrichtlinie um einen in besonderer Weise auf den Verbraucher ausgerichteten Vertrauensschutz handeln,101 der sich als Grundlage für eine konkretisierende Beurteilungs-Leitlinie im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 KlauselRL empfiehlt.102 Ähnliche Steuerungspotentiale haben Leitbilder.103 Auch sie tragen dazu bei, die Wertungsgrundlagen und Zielsetzungen konkretisierungsbedürftiger Rechtsakte plastisch zu verdeutlichen.104 Sie bewegen sich auf einem niedrigeren Abstraktionsniveau als Prinzipien und Rechtsgrundsätze und haben sich – beispielsweise im Lauterkeitsrecht 105 – gerade deshalb als besonders wirksam erwiesen. Dies setzt natürlich eine sorgsame, systemorientierte Begründung von Leitbildern aus dem positiven Recht voraus.106

Europäischen Privatrechts Flessner, JZ 2002, 14, 18 ff.; ders., JBl. 2003, 205, 206 ff., 212; hierzu Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 252. 97 Siehe hierzu die Untersuchungen von Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts. 98 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 410 ff. 99 Grundlegend Micklitz, ZEuP 1998, 253, 263 f.; siehe nun Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts, S. 338 ff.; kritisch H. Roth, JZ 1999, 529, 534 sowie W.-H. Roth, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte, S. 45 ff. 100 Näher Riesenhuber, oben, § 8 VI. 1. 101 Zur Rechtsangleichungsintention der Klauselrichtlinie bereits oben, II. 2. b). 102 Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts, S. 345, 435; dies., WM 2003, 509, 512; genauso – wenn auch im Ergebnis kritisch – Hommelhoff/Wiedenmann, ZIP 1993, 562, 569: „Unterlegenenschutz als Auslegungsleitlinie“; einschränkend Remien, ZEuP 1994, 34, 51ff. 103 Zur Wirksamkeit von Leitbildern für die Konkretisierung Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 401ff.; siehe auch Riesenhuber, oben, § 8 IV 4 c: Leitbilder als Hilfsmittel teleologischer Auslegung. 104 Für das Verbraucherleitbild der Klauselrichtlinie exemplarisch Grabitz/Hilf II-Pfeiffer, A 5 (AGBRL) Vorbem. Rn. 24 ff. 105 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 27; EuGH v. 28.1.1999 Rs. C-303/97 – Sektkellerei Kessler, Slg. 1999, I-513 Rn. 36; hierzu Streinz/Leible, ZIP 1995, 1236 ff. 106 So mit Recht die Mahnung von Riesenhuber, oben, § 8 IV 4 c.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

V.

Konkretisierung als Prozeß

Konkretisierung hat aber nicht nur eine kompetentielle und eine methodische Seite, sondern auch eine ganz praktische und prozedurale: Konkretisierung ist ein Prozeß.107 Für die Konkretisierung sekundären Gemeinschaftsrechts gilt, was dem Gemeinschaftsrecht insgesamt attestiert wird: Konkretisierung ist „Recht im Werden“ 108. Solche langfristigen und vor allem arbeitsteiligen 109 Rechtsetzungsprozesse sind auf Kommunikation und Kooperation angewiesen. Institutionelles Forum für den erforderlichen Konkretisierungsdialog ist das Vorabentscheidungsverfahren.110 Eine sinnvolle Gestaltung des Konkretisierungsprozesses erfordert auf Seiten der vorlegenden Gerichte die Auswahl sinnvoller und informativer Vorlagen und auf Seiten des EuGH eine gewisse Behutsamkeit im Umgang mit dem Konkretisierungsstand. Je diffuser noch die Konturen der gemeinschaftsrechtlichen Konkretisierungsmaßstäbe sind, umso sorgfältiger sollte der EuGH daher mit dem Prozeßcharakter der Konkretisierung Maß halten. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus zu begrüßen, daß der EuGH mit seinem Urteil Freiburger Kommunalbauten einen vorerst wohl eher zurückhaltenden Kurs bei der Wahrnehmung seines Konkretisierungsauftrags angedeutet hat.111 Die darin skizzierte Aufteilung der Konkretisierungsaufgaben ist nicht nur Ausdruck eines methodisch, kompetentiell und insoweit auch „ökonomisch“ sinnvollen Gefüges.112 Darüber hinaus garantiert sie, daß die richterliche Rechtsgestaltung ihren notwendigen Rückhalt im allgemeinen Integrationsprozess nicht verliert – und zwar nicht nur in inhaltlicher Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die noch offenen methodischen Fragen.

107 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 167 ff., 381, 399 ff. 108 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 38 f.; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 605 m.w.N. Zur „Dynamik“ des Gemeinschaftsrechts auch Riesenhuber, oben, § 8 IV 4 b. 109 Vgl. Röthel, ZEuP 2005, 418, 424 ff. 110 Zum folgenden Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 381ff. 111 Röthel, ZEuP 2005, 418, 425 ff.; siehe auch Schmidt-Kessel, WuB IV F. Art. 3 RL 93/12 EWG 1.04: „ausgewogenes Bild“. 112 In diese Richtung auch GA Geelhoed, Schlußanträge v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 – Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 29: „ökonomischer Gebrauch der Rechtsbehelfe“.

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§ 10 Die Rechtsfortbildung Jörg Neuner Übersicht I.

Grundlagen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Zur Terminologie des Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  2. Zur Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts   .  .  3. Zur Besonderheit des Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  II. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Die rechtsprechende Gewalt   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Die gesetzgebende Gewalt   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Die faktische Gewalt   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Die Schranken der Rechtsfortbildung   .  .  .  .  .  .  .  .  1. Die Bindung an das Gesetz   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Die kompetentielle Dimension   .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Das institutionelle Gleichgewicht   .  .  .  .  .  bb) Die konkurrierende Regelungszuständigkeit  b) Die inhaltliche Dimension   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Die Wortsinngrenze  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Die gesetzgeberische Regelungsabsicht   .  .  .  c) Die zeitliche Dimension   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Die Vorwirkung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Die Rückwirkung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Die Bindung an das Präjudiz   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit   .  .  .  b) Der Grundsatz des Vertrauensschutzes   .  .  .  .  .  IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Die Rechtsfindung praeter legem   .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Die Lückenfeststellung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Das externe System   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Das interne System   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Die Maßstäbe der Lückenausfüllung   .  .  .  .  .  .  aa) Der Gleichheitssatz   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Das Primärrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Die Grenzen der Lückenausfüllung   .  .  .  .  .  .  .  aa) Analogieverbote  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Unausfüllbare Lücken  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Die Rechtsfindung contra legem   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Die Feststellung der Nichtigkeit   .  .  .  .  .  .  .  .  b) Die Folgen der Nichtigkeit   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Die Einzelfallgerechtigkeit   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  V. Schlußbetrachtung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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2. Teil: Allgemeiner Teil

I.

Grundlagen

Die gemeinschaftsrechtliche Methodenlehre ist ein Unterfall der allgemeinen juristischen Methodenlehre. Sie bildet zu den nationalen Methodenlehren kein aliud, sondern wird durch ihren speziellen Gegenstand in Form des Gemeinschaftsrechts geprägt. Demgemäß stellt sich auch im sekundären Gemeinschaftsrecht das Problem, ob der Richter an den Wortlaut des Gesetzes strikt gebunden ist oder dieses über den Normtext hinaus fortbilden darf.

1.

Zur Terminologie des Gemeinschaftsrechts

Nach dem überwiegenden deutschen Sprachgebrauch bildet der noch mögliche Wortsinn des Gesetzes die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.1 Diese terminologische Unterscheidung ist vor allem deshalb sachgerecht, weil dem Normtext eine limitierende Funktion zum Schutz der Rechtsunterworfenen sowie zur Wahrung mitgliedstaatlicher Kompetenzen zufallen kann.2 Der Gerichtshof verwendet allerdings nicht den Begriff „Rechtsfortbildung“, sondern spricht im Anschluß an die französische Methodenlehre ganz pauschal von interprétation.3 Dies mag damit zusammenhängen, daß Französisch die Arbeitssprache des Gerichts bildet. Aber auch in der Sache ist die terminologische Gleichstellung nicht weiter schädlich, solange der Gerichtshof dem Normtext eine eigenständige Bedeutung im Rahmen der Gesetzesinterpretation beimißt.4 Die Kritik am Gerichtshof reduziert sich daher im wesentlichen auf den Vorhalt eines unpräzisen Sprachgebrauchs. Präferiert man stattdessen die differenzierende deutsche Terminologie, ist verstärkt auf die Vermeidung begriffsjuristischer Fehlschlüsse zu achten. Diese Gefahr besteht insbesondere bei der Übertragung der klassischen „Dreistufensystematik“ 5 von Gesetzesauslegung, Gesetzesergänzung und unzulässiger Gesetzesderogation auf die gemeinschaftsrechtliche Methodik. Die Qualifizierung einer Rechtsprechung als Auslegung besagt nur, daß sie sich innerhalb des möglichen Wortsinns be-

1 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 143; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 441, 467 ff.; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 47 ff.; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 90 ff. m.w.N. 2 Siehe speziell zur Erforderlichkeit der Wortsinngrenze im Gemeinschaftsrecht auch Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, S. 25 f.; Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 158; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535. 3 Vgl. nur Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 289 ff., 394 f., 607; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 39; Wank, FS Stahlhacke, S. 635 m.w.N. 4 Eine Auswertung aller im Jahr 1999 veröffentlichten Entscheidungen des EuGH hat ergeben, daß die grammatische Auslegung die zweithäufigste Argumentationsform (nach dem Verweis auf die frühere Rechtsprechung) darstellt; vgl. Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 64 ff.; dies., EuR 2004, 345, 349 ff.; siehe zur Bedeutung des Normtextes ferner auch Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 168 ff. m.umf.N. 5 Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 221.

232

Jörg Neuner

§ 10 Die Rechtsfortbildung

wegt, ist aber noch kein hinreichender Legitimationsnachweis. Auch der Lückenbegriff ist eine bloße Umschreibung der Zulässigkeitskriterien praeterlegaler Rechtsfindung und ersetzt nicht die erforderlichen gemeinschaftsrechtlichen Wertungen. Ebenso bleibt das Dogma vom Verbot des contra-legem-Judizierens begründungsdefizitär,6 solange nicht die maßgeblichen Sachgesichtspunkte zugunsten einer Gesetzesbindung benannt werden.

2.

Zur Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts

Versucht man, die Voraussetzungen und Grenzen einer Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts näher zu bestimmen, ist zunächst der Begriff der „Autonomie“ von zentraler Bedeutung. Sowohl der Geltungsgrund 7 als auch die Auslegung 8 des Gemeinschaftsrechts werden vielfach mit dem Attribut „autonom“ gekennzeichnet, so daß es nahe liegt, die Fortbildungsoptionen des sekundären Gemeinschaftsrechts ebenfalls autonom, d.h. losgelöst von den mitgliedstaatlichen Standards, zu bestimmen. Diese Schlußfolgerung ist aufgrund des prinzipiellen Vorrangs sowie des besonderen Integrationstelos des Gemeinschaftsrechts im Ansatz zutreffend, doch sind einige Relativierungen veranlaßt. Als erstes ist in geltungstheoretischer Hinsicht hervorzuheben, daß das Gemeinschaftsrecht jedenfalls nach dem derzeitigen Legitimationsstand immer noch auf einem innerstaatlichen Anwendungsbefehl beruht,9 der seinerseits nach mitgliedstaatlichen Methodenstandards zu interpretieren ist. Zweitens ist in Bezug auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts signifikant, daß es eine separate „EU-Sprache“ nicht gibt.10 Der Gerichtshof muß deshalb die offiziellen Landessprachen gem. Art. 314 EG gleichwertig berücksichtigen und im Rahmen der grammatischen Interpretationsmethode einen entsprechenden Textvergleich vornehmen. Materiellrechtlich kommt als drittes hinzu, daß die Gemeinschaft in Art. 6 Abs. 1 EU die tradierten mitgliedstaatlichen Grundsätze der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit übernimmt, was sich ebenfalls auf die Kompetenzen der Judikative auswirkt. Die Voraussetzungen und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung sind also primär aus dem Gemeinschaftsrecht herzuleiten, doch es gibt Parallelen und Interdependenzen zu den Methodenstandards sowie zu den allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen in den Mitgliedstaaten.

6 Siehe z.B. Calliess, NJW 2005, 929, 932. 7 Vgl. nur EuGH v. 21.5.1987 – Rs. 249/85 Albako, Slg. 1987, I-2345 Rn. 14; EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1269 ff. 8 Vgl. EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 Ekro, Slg. 1984, 107 Rn. 11; zuletzt EuGH v. 17.3.2005 – Rs. C-170/03 Feron, (noch nicht in Slg.) Rn. 26. 9 Vgl. näher Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 174 ff.; siehe zur aktuellen Diskussion auch Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 229 ff. 10 Siehe hierzu auch Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 44 f.

Jörg Neuner

233

2. Teil: Allgemeiner Teil

3.

Zur Besonderheit des Gemeinschaftsrechts

Aus methodischer Sicht weist das Gemeinschaftsrecht vor allem zwei Eigenarten auf: Zum einen die Mehrsprachigkeit und zum anderen die begrenzte Regelungskompetenz. Beide Phänomene sind allerdings nicht neuartig, sondern bekannte rechtstheoretische Herausforderungen. So wird das Problem der Mehrsprachigkeit bereits in Art. 33 Abs. 4 der Wiener Vertragsrechtskonvention angesprochen und stellt sich gleichermaßen in Nationalstaaten mit verschiedenen Amtssprachen, wie etwa der Schweiz.11 Konkurrierende Rechtsordnungen und deren interpretatorische Abgrenzung sind ebenfalls kein Novum. Aus der Geschichte ist nur an das Verhältnis des ius commune zum Statutarrecht zu erinnern.12 Ein aktuelles Beispiel bildet der Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern gem. Art. 72, 74 GG. Mit der Diskussion über die Möglichkeiten einer Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts betritt man also kein methodisches „Neuland“, sondern kann auf breite rechtstheoretische Vorarbeiten aufbauen.

II.

Die Befugnis zur Rechtsfortbildung

Ebenso wie die nationalen Gerichte ist auch der Gerichtshof prinzipiell zur Rechtsfortbildung legitimiert.13 1.

Die rechtsprechende Gewalt

Die Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung folgt sowohl aus den überlieferten Grundsätzen des Art. 6 Abs. 1 EU als auch aus der speziellen Regelung des Art. 220 EG, wonach die „Wahrung des Rechts“ dem Gerichtshof und dem Gericht erster Instanz obliegt.14 Flankierend dazu ist auf die entsprechende Intention der Gründungsmitglieder zu verweisen 15 und hervorzuheben, daß das etablierte Richterrecht für die heutigen Beitrittskandidaten gem. Art. 2 Abs. 1 Sps. 5, Art. 3 Abs. 1, Art. 43 Abs. 1 lit. c EU zum verbindlichen acquis communautaire zählt.16 An Überzeugungskraft verliert hingegen der Hinweis auf den dynamisch-evolutionären Integrationsansatz des EG-Vertrages,17 da die Funktionsfähigkeit der Union mittlerweile als gesichert erscheint.18 11 Siehe z.B. Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 68 f.; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 136 ff., 150 ff. Schubarth, LeGes 2001, S. 49 ff., der die Mehrsprachigkeit als „große Chance“ und „echte Bereicherung“ betrachtet und betont, daß „sprachliche Minderheiten (nicht) ignoriert werden“ (a.a.O., S. 49). 12 Siehe näher Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 19 ff., 67 ff., 157 ff. m.w.N. 13 Zur nationalen Rechtslage siehe näher Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 47 ff. m.w.N. 14 Vgl. Everling, JZ 2000, 217, 221; Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 296; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 91ff. 15 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 67 m.w.N. 16 Vgl. Stellungnahme der Kommission v. 19.1.1972, ABl. 1972 Nr. L 73/3; Ott, EuZW 2000, 293 ff. m.w.N. 17 Vgl. Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 296 m.w.N. 18 Vgl. auch Streinz, ZEuS 2004, 387, 412; Nessler, RIW 1993, 206, 213.

234

Jörg Neuner

§ 10 Die Rechtsfortbildung

2.

Die gesetzgebende Gewalt

Obgleich die Befugnis des Gerichtshofs zur Fortbildung des Rechts weitgehend anerkannt ist,19 folgt hieraus keine gesetzgeberähnliche Kompetenz. Wie insbesondere die Art. 220 ff. EG belegen, beschränkt sich die Aufgabe des Gerichtshofs auf die konkret-individuelle Entscheidungsfindung.20 Funktionell ist kennzeichnend, daß der Gerichtshof über kein eigenes Initiativrecht verfügt 21 und auf den Dialog mit den Verfahrensbeteiligten angewiesen ist. Institutionell fehlt den Richtern eine unmittelbare demokratische Legitimation 22 und organisatorisch die Ausstattung, um legislative Aufgaben wahrnehmen zu können. Zu einer Rechtsetzung in Form abstrakt-genereller Regelungen ist der Gerichtshof somit nicht berufen.

3.

Die faktische Gewalt

Trotz dieser grundsätzlichen Begrenzung der richterlichen Kompetenz auf die Einzelfallentscheidung entfaltet die Judikatur des Gerichtshofs im Rechtsleben eine sehr breite Wirkung und bildet eine faktische Rechtsquelle. Die Unionsbürger orientieren sich an den Urteilen des Gerichtshofs und erwarten Rechtssicherheit durch eine Gleichbehandlung ähnlicher Fälle.23 Der Gerichtshof hat deshalb verallgemeinerbare Rechtsregeln auf einer „mittleren Abstraktionshöhe“ zwischen Norm und Fallentscheidung zu formulieren.24 Um legitime Kontinuitätserwartungen der Rechtsunterworfenen nicht zu enttäuschen, sind auch gelegentliche obiter dicta zulässig. Im Grundsatz ist jedoch allein über den anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden. Angesichts dieser regelmäßigen Beschränkung auf die konkret-individuelle Entscheidungsfindung besteht für nachfolgende Verfahren auch keine strenge Präjudizienbindung im Sinne der stare decisis-Doktrin, zumal sonst für jede Rechtsprechungsänderung ein aufwendiges Gesetzesänderungsverfahren 25 nötig wäre.26

19 Siehe z.B. auch BVerfGE 75, 223, 242 ff. 20 Siehe dazu auch Everling, RabelsZ 50 (1986), 193, 208; Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 297; Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. I, S. 213. 21 Siehe näher Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 172. 22 Vgl. nur Everling, JZ 2000, 217, 221. 23 Hinzu kommt eine Begründungspflicht; vgl. näher Bengoetxea, The legal reasoning of the European Court of Justice, S. 116 f., 141ff.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 175 ff. m.w.N. 24 Vgl. Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 123 ff.; Schulze/Seif, in: dies. (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 8. 25 Siehe zu den besonderen gemeinschaftstypischen Schwierigkeiten einer Gesetzesänderung Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 585 ff. 26 Vgl. Seif, FS Schlüchter, S. 137 f.; siehe zudem auch unten bei Fn. 45 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

III.

Die Schranken der Rechtsfortbildung

Ungeachtet seiner prinzipiellen Kompetenz zur Rechtsfortbildung unterliegt der Gerichtshof im Regelfall der Bindung an das Gesetz. Darüber hinaus können auch Präjudizien die Entscheidungsfreiheit des Gerichtshofs einschränken.

1.

Die Bindung an das Gesetz

Die Gesetzesbindung hat eine kompetentielle, eine inhaltliche und eine zeitliche Dimension. a)

Die kompetentielle Dimension

Kompetentiell ist kennzeichnend, daß der Gerichtshof nicht nur an die Entscheidungen des Gemeinschaftsgesetzgebers gebunden ist, sondern zugleich auch dessen beschränkte Regelungszuständigkeit berücksichtigen muß. aa)

Das institutionelle Gleichgewicht

Das Prinzip des „institutionellen Gleichgewichts“ bildet das gemeinschaftsrechtliche Pendant zur klassischen Gewaltenteilung.27 Es legt das Kompetenzgefüge der Gemeinschaftsorgane untereinander fest und wirkt sich zugleich auf die Freiheit der Unionsbürger sowie den Einflußbereich der Mitgliedstaaten aus. Für die dritte Gewalt folgt aus dem Prinzip des „institutionellen Gleichgewichts“, daß sowohl der Ermessensspielraum der Verwaltung zu respektieren ist,28 als auch die Entscheidungsprärogative des Gemeinschaftsgesetzgebers, da letzterer sonst als Rechtsbildungsinstanz funktionslos bliebe. bb)

Die konkurrierende Regelungszuständigkeit

Im Unterschied zu den Mitgliedstaaten verfügt die EU nicht über eine KompetenzKompetenz; vielmehr gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung.29 Eine zusätzliche Einschränkung bewirkt das Prinzip der Subsidiarität gem. Art. 5 Abs. 2 EG. Dem Gerichtshof obliegt die Aufgabe, die Einhaltung dieser Kompetenzregel durch die Exekutive und Legislative zu kontrollieren. Umstritten ist, ob der Gerichtshof im Rahmen rechtsfortbildender Judikate das Subsidiaritätsprinzip ebenfalls beachten muß.30 Eine justitielle Bindung wird dabei insbesondere mit

27 Vgl. EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-345/00 FNAB u.a., Slg. 2001, I-3811 Rn. 41f.; EuGH v. 22.5. 1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21ff.; zu den Unterschieden zur herkömmlichen Gewaltenteilung siehe näher Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 353 ff.; Rodriguez Iglesias, NJW 2000, 1889. 28 Vgl. nur Borchardt, GS Grabitz, S. 41; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 412 f. 29 Siehe dazu näher Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 149 ff. 30 Vgl. Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 303.

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§ 10 Die Rechtsfortbildung

dem Argument verneint, daß die europäischen Gerichte für die ihnen zugewiesenen Rechtsstreitigkeiten eine ausschließliche Kompetenz besitzen.31 Diese Ansicht überzeugt nicht, da ein Urteilsspruch, der das Subsidiaritätsprinzip mißachtet, auf das Zuständigkeitsgefüge gleichermaßen einwirkt wie ein analoger Legislativakt. Die Judikative ist zwar kein „Ersatzgesetzgeber“, doch wird bei der konkret-individuellen Entscheidungsfindung unter eine abstrakte Norm subsumiert, für deren Erlaß allein die Mitgliedstaaten zuständig sind. Auch wertungsmäßig macht es keinen Unterschied, ob der Gemeinschaftsgesetzgeber beispielsweise den Anwendungsbereich einer Richtlinie unzulässig weit faßt oder ob der Gerichtshof eine entsprechende Extension richterrechtlich vornimmt. Insgesamt dürfen die europäischen Gerichte somit keine Rechtsfolge festlegen, die nicht auch der Gemeinschaftsgesetzgeber als Norm erlassen dürfte.32 b)

Die inhaltliche Dimension

Die kompetentielle Bindung des Gerichtshofs an das Gemeinschaftsrecht wirft die Anschlußfrage auf, was unter jener Verpflichtung im Detail zu verstehen ist. Diese Thematik gehört zwar im Kern zu dem Problemkreis der „Auslegung“, doch hängt die Feststellung einer Gesetzeslücke von der Methode der Gesetzesinterpretation ab. Ebenso setzt das Urteil über eine Normderogation eine Interpretation des Gesetzes voraus. Es sind daher an dieser Stelle zumindest zwei knappe Bemerkungen zur Wortsinngrenze sowie zum Ziel der Auslegung geboten. aa)

Die Wortsinngrenze

Der Wortlaut des Gesetzes ist nicht nur Ausgangspunkt der Interpretation,33 sondern es fällt ihm auch eine Begrenzungsfunktion zu. Namentlich bei Analogieverboten kann der noch mögliche Wortsinn eine Schranke zulässiger Rechtsfindung bilden. Darüber hinaus begründet der Normtext ganz generell einen Vertrauenstatbestand für die Rechtsunterworfenen, den es bei einer Rechtsfortbildung zu berücksichtigen gilt. Im Gemeinschaftsrecht besteht dabei die Besonderheit, daß es verschiedene gleichwertige Vertragssprachen gibt. Diese Mehrsprachigkeit führt indes zu keiner prinzipiellen Verringerung der Begrenzungsfunktion des Wortlauts.34 Entsprechend den Bedeutungsvarianten der verschiedenen Sprachfassungen existieren vielmehr zusätzliche Möglichkeiten einer Grenzziehung, die es im Einzelfall zu bewerten gilt. In Betracht kommen insbesondere ein Vorrang der Mehrheit der übereinstimmenden Sprachfassungen, ein Vorrang des gemeinsamen Minimums aller Sprachfassungen sowie die Maßgeblichkeit jener Sprachfassung, die

31 Vgl. von der Groeben/Schwarze-Zuleeg, Art. 5 EGV Rn. 34; Lenz/Borchardt-Langguth, Art. 5 EG Rn. 27; Hirsch, FS Odersky, S. 200. 32 Vgl. auch Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 66, 500 ff.; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 325. 33 Entsprechend verfährt auch der EuGH; vgl. Colneric, ZEuP 2005, 225, 226 f.; Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 77 m.w.N. 34 A.A. Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen nationalen Rechts, S. 157.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

den Unionsbürger am wenigsten belastet.35 Weitere Varianten sind denkbar und jeweils vor dem Hintergrund der konkreten Schutzbedürfnisse der Rechtsunterworfenen sowie unter Berücksichtigung des Kompetenzgefüges der Gemeinschaft als Schranke richterlicher Rechtsfortbildung in Erwägung zu ziehen. bb)

Die gesetzgeberische Regelungsabsicht

Ebenso wie in der nationalen Methodendiskussion wird in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht die traditionelle Kontroverse über das Ziel der Auslegung geführt.36 Richtigerweise ist auch im sekundären Gemeinschaftsrecht primär die gesetzgeberische Regelungsabsicht maßgebend. Hierfür sprechen insbesondere die Prinzipien der Demokratie und des institutionellen Gleichgewichts. Auch im Interesse der Methodenklarheit ist ein zweistufiges Verfahren indiziert, das zunächst eine Rekonstruktion der gesetzgeberischen Regelungsabsicht verlangt und sodann eine Offenlegung und Gewichtung jener Gründe, die eine Abweichung legitimieren sollen. Die Erforschung des historischen Gesetzgeberwillens wird dabei im sekundären Gemeinschaftsrecht insofern erleichtert, als nach Art. 253 EG eine Begründungspflicht für Rechtsakte besteht und zudem nach Art. 207 Abs. 3, 255 EG die Dokumente des Rates der Öffentlichkeit zugänglich zu machen sind.37 c)

Die zeitliche Dimension

Gesetze können des weiteren auch schon vor ihrem Inkrafttreten eine Rechtsfortbildungsschranke begründen.38 aa)

Die Vorwirkung

Für den Gerichtshof ergibt sich die Pflicht zur Berücksichtigung von noch nicht in Kraft getretenen Gesetzen aus dem Prinzip der Gemeinschaftsverfassungsorgantreue.39 Eine Sperrwirkung entsteht in der Regel erst mit der Veröffentlichung des zukünftigen Legislativakts im Amtsblatt der EG gem. Art. 254 Abs. 1 EG.40 Ein früherer Zeitpunkt scheidet grundsätzlich aus, weil es bis dahin noch zu Abänderungen kommen kann oder noch überhaupt kein Konsens erzielt wurde. Inhaltlich führt die Sperrwirkung zu keinem generellen Rechtsfortbildungsverbot, sondern nur zu dem Gebot, das intendierte gesetzgeberische Ziel nicht zu vereiteln. Der EuGH hat eine solche Sperrwirkung in seiner grundlegenden Entscheidung InterEnvironnement Walloni für die Vorwirkung von Richtlinien auf nationale Gesetz35 Vgl. Bengoetxea, The legal reasoning of the European Court of Justice, S. 234 ff.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 153 ff. m.w.N. 36 Vgl. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 m.w.N. 37 Einzelheiten bei Streinz-Hummer/Oberwexer, Art. 207 EGV Rn. 59 ff.; Streinz-Gellermann, Art. 255 EGV Rn. 1ff. 38 Siehe zur Vorwirkung von Gemeinschaftsrecht ausführlich Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 110 f. 39 Vgl. näher Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 213 ff. 40 Vgl. auch Furrer, Die Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen, S. 141f.; Messerschmidt, ZG 1993, 11, 22 ff., 28 ff.

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§ 10 Die Rechtsfortbildung

gebungsverfahren bereits formuliert.41 Dieser am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Maßstab ist sachgerecht und als generelle Rechtsfortbildungsschranke geeignet, zumal er eine Parallele im völkerrechtlichen Frustrationsverbot gem. Art. 18 Wiener Vertragsrechtskonvention findet. Neben einer Sperrwirkung können zukünftige Normen eine Rechtsfortbildung auch positiv im Sinne einer „Rechtsgewinnungsquelle“ 42 inspirieren sowie legitimieren, sofern sie Ausdruck eines Konsenses sind und damit zugleich Rechtssicherheit vermitteln. bb)

Die Rückwirkung

Im Unterschied zur Vorwirkung beruht die Rückwirkung auf dem Anwendungsbefehl eines in Kraft befindlichen Gesetzes. Dieses ist prinzipiell bindend, solange es nicht wegen eines Primärrechtsverstoßes für nichtig erklärt wurde.43 Wie der Gerichtshof bereits in der Rechtssache Racke feststellte, verbietet der Grundsatz der Rechtssicherheit in der Regel eine (echte) Rückwirkung, es sei denn, die Rückwirkung ist gemessen am angestrebten Ziel erforderlich und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen wird gebührend beachtet.44

2.

Die Bindung an das Präjudiz

Die richterlichen Rechtsfortbildungsoptionen werden nicht nur durch legislative Vorgaben, sondern auch durch Präjudizien begrenzt. a)

Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit

Im Unterschied zum common law gibt es im Gemeinschaftsrecht keine strikte Präjudizienbindung im Sinne einer Rechtsfortbildungssperre.45 Dadurch wird der Gefahr einer Versteinerung der Rechtsprechung vorgebeugt und es können sich verbesserte Rechtserkenntnisse durchsetzen. Folgerichtig sieht sich auch der Gerichtshof durch anders lautende Urteile nicht prinzipiell an einer Rechtsfortbildung gehindert.46

41 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 35 ff., 44 f.; ebenso EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold (noch nicht in Slg.) Rn. 67; zustimmend Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 102. 42 Ausdruck nach Canaris, in: Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht, S. 9. 43 Siehe dazu auch unten im Text bei Fn. 83 ff. 44 EuGH v. 25.1.1979 – Rs. 98/78 Racke, Slg. 1979, 69 Rn. 20; jüngst EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-459/02 Gerekens and Procola, (noch nicht in Slg.) Rn. 22 f.; EuGH v. 22.11.2001 – Rs. C-110/97 Niederlande ./. Rat, Slg. 2001, I-8763 Rn. 151; siehe ferner auch Streinz-Kopp, Art. 34 EGV Rn. 106 ff. m.w.N. 45 Vgl. auch Langenbucher, JbJZ 1999, S. 75 f.; Edward, in: Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 76; Bengoetxea, The legal reasoning of the European Court of Justice, S. 69; siehe ferner auch schon oben im Text bei Fn. 26. 46 Vgl. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 189 f. m.w.N.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

b)

Der Grundsatz des Vertrauensschutzes

In der Regel orientiert sich der EuGH indes an seiner früheren Rechtsprechung. Diese Selbstbindung ist im Interesse der Rechtsunterworfenen auch geboten, da Präjudizien, ebenso wie Legislativakte, einen herausragenden Vertrauenstatbestand bilden können.47 Ein Vertrauenstatbestand kann dabei schon mit einem einzigen Urteil begründet werden und verfestigt sich im Rahmen einer ständigen Rechtsprechung. Er nimmt noch an Intensität zu, wenn die Rechtsprechung von der Wissenschaft weitgehend konsentiert wird. Ein Schutz des Vertrauens kann allerdings auch hinfällig sein,48 wenn ein Urteil keinen Vertrauenstatbestand verkörpert, weil es zum Beispiel in sich widersprüchlich ist. Das gleiche gilt, wenn Gründe in der Person des Vertrauenden entgegenstehen. Dies ist beispielsweise bei einem treuwidrigen Verhalten der Fall. Die von den Präjudizien des Gerichtshofs ausgehenden Kontinuitätserwartungen sind also keine feststehende, sondern eine variable Größe, die es gegen den konkurrierenden Anspruch auf die materiell an sich gebotene Entscheidung abzuwägen gilt.49

IV.

Die Methodik der Rechtsfortbildung

Jenseits der Wortlautgrenze werden von der traditionellen deutschsprachigen Methodenlehre die Bereiche praeter und contra legem unterschieden.50 Contralegal kann allerdings auch innerhalb der Wortlautgrenze judiziert werden, wenn bei mehreren möglichen Bedeutungen jene gewählt wird, die nicht der gesetzgeberischen Zweckvorstellung entspricht. Mit der Differenzierung zwischen praeter und contra legem korrespondiert zudem eine unterschiedliche Wertung, je nachdem welchen Gesetzesbegriff man zugrunde legt. Nach der objektiven Auslegungstheorie lassen sich grundsätzlich alle inadäquat erscheinenden Ergebnisse durch eine „objektive“ Auslegung bereinigen, so daß mit der Kennzeichnung „contra legem“ zugleich ein normatives Unzulässigkeitsurteil verbunden ist.51 Folgt man hingegen der subjektiven Auslegungslehre, wird der „contra-legem“-Sektor lediglich durch erhöhte Begründungsanforderungen geprägt. Nach dieser vorzugswürdigen Ansicht ist eine Gesetzesderogation nicht a priori illegitim, sondern in exzeptionellen Ausnahmekonstellationen zulässig und geboten.

47 Vgl. auch Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 190 ff., 353. 48 Siehe näher Neuner, ZHR 153 (1993), 243, 280 ff. 49 Vgl. Langenbucher, JZ 2003, 1132, 1134 ff.; dies., Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 121ff. 50 Siehe z.B. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 472 ff. m.w.N. 51 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 250 ff.

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§ 10 Die Rechtsfortbildung

1.

Die Rechtsfindung praeter legem

Analysiert man zunächst die Voraussetzungen und Grenzen einer praeterlegalen Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts, bietet es sich an, auf das Bild der „Lücke“ als „planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts … gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung“ 52 zurückzugreifen.53 Es ist allerdings unschädlich, wenn der EuGH dieser Terminologie nur vereinzelt folgt,54 solange er die maßgeblichen funktionalen Sachkriterien beachtet. a)

Die Lückenfeststellung

In Bezug auf die Feststellung einer Lücke besteht im Gemeinschaftsrecht die Besonderheit, daß nicht die Rechtsordnung als Ganzes, sondern nur die europäische Teilrechtsordnung den Vergleichsmaßstab bildet.55 Im Anschluß an die Terminologie im internationalen Einheitsrecht kann man deshalb interne von externen Lücken unterscheiden 56 und beide Systeme entsprechend abgrenzen. aa)

Das externe System

Eine planwidrige Unvollständigkeit des Europarechts kann von vornherein nur in jenem Bereich auftreten, der kompetentiell der Gemeinschaft zugeordnet und nicht den Mitgliedstaaten vorbehalten ist. Nach dem Plan des Gemeinschaftsrechts gelten die Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität. Die Judikative darf deshalb keine Regelungslücke annehmen, sofern nicht auch der Gemeinschaftsgesetzgeber für diesen Fall zu einer Lückenfüllung befugt wäre.57 bb)

Das interne System

Eine Rechtsfortbildung praeter legem setzt zudem eine Planwidrigkeit im internen System des Sekundärrechts voraus. Diese Feststellung bemißt sich primär aus der Perspektive des Gemeinschaftsgesetzgebers und hängt davon ab, inwieweit jener eine abschließende Regelung treffen wollte oder nur unvollständig legiferierte. Eine gesetzestechnische Besonderheit bildet dabei im Bereich des Sekundärrechts das Instrumentarium der Richtlinie. Richtlinien können zwar ebenso wie Verordnungen Lücken aufweisen, doch gilt dies nicht, soweit die konkrete Auslegung ergibt,58 daß den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel überlassen wird.59 52 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 39, 198. 53 A.A. Flessner, JZ 2002, 14, 21; Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 254. 54 Der Begriff der „Gesetzeslücke“ wird zum Beispiel verwandt in EuGH v. 19.6.1979 Rs. 180/ 78 Brouwer-Kaune, Slg. 1979, 2111 Rn. 8; EuGH v. 6.11.2003 – verb. Rs. C-78/02 bis C-80/02 Karageorgou u.a., Slg. 2003, I-13295 Rn. 49. 55 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 68 ff. m.w.N. 56 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 605 ff. 57 Siehe auch schon oben im Text bei Fn. 32. 58 Siehe näher Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 60 ff. 59 Vgl. auch EuGH v. 6.2.2003 – Rs. C-245/00 Sena, Slg. 2003, S. I-1251 Rn. 34; EuGH v. 19.9. 2000 – Rs. C-454/98 Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I-6973 Rn. 48 f.; zuletzt EuGH v.

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241

2. Teil: Allgemeiner Teil

Räumt eine Richtlinie beispielsweise den Mitgliedstaaten die Wahl zwischen mehreren Regelungsalternativen ein, liegt auf Seiten des Gemeinschaftsrechts keine planwidrige Unvollständigkeit vor. b)

Die Maßstäbe der Lückenausfüllung

Als Mittel zur Ausfüllung von Lücken im Sekundärrecht kommen im wesentlichen der Gleichheitssatz sowie das Primärrecht in Betracht. aa)

Der Gleichheitssatz

Der positive Gleichheitssatz gebietet, daß gleichartige Tatbestände gleich zu behandeln sind, also die Rechtsfolge R nicht nur für den im Gesetz geregelten Tatbestand T1, sondern analog auch für den gleich liegenden Tatbestand T2 gilt.60 Solche Analogieschlüsse finden sich immer wieder in der Rechtsprechung des EuGH.61 Der Gerichtshof machte im Urteil Krohn 62 die Lückenausfüllung mittels Analogie allerdings von einem Verstoß gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht, insbesondere von einem Verstoß gegen Diskriminierungsverbote, abhängig.63 In jüngeren Entscheidungen haben das EuG und der EuGH auf diese besondere Voraussetzung wieder verzichtet und einen Analogieschluß allein auf systematisch-teleologische Erwägungen 64 sowie den Gleichheitssatz 65 gestützt. Diese Auffassung erscheint auch folgerichtig, da eine Rückbindung an das Primärrecht dem Grunde nach nicht erforderlich ist, sofern man den Gleichheitssatz als ein wesentliches Element der Rechtsidee erachtet und damit zu den apriorischen Bestandteilen der Gemeinschaftsrechtsordnung zählt.66 Im Ergebnis dürften diese unterschiedlichen Begründungen eines Analogieschlusses allerdings indifferent bleiben, da zum Primärrecht nicht nur die expliziten Diskriminierungsverbote gehören, sondern auch der induktiv aus diesen Verboten ableitbare allgemeine Gleichheitssatz. Dieser wiederum besagt, daß vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen, es sei denn, daß eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt wäre.67 6.11.2003 – verb. Rs. C-78/02 bis C-80/02 Karageorgou u.a., Slg. 2003, I-13295 Rn. 49; Bultmann, JZ 2004, 1100, 1103 f. 60 Vgl. nur Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 71. 61 Siehe näher Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 321ff. m.w.N. 62 EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997 Rn. 14, 23. 63 Siehe auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 318 ff. m.w.N. 64 Vgl. EuG v. 26.11.2002 – verb. Rs. T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00 Artegodan u.a. ./. Kommission, Slg. 2002, II-4945 Rn. 131ff., 153 ff. 65 Vgl. EuG v. 3.4.2003 – verb. Rs. T-44/01, T-119/01 und T-126/01 Vieira and Vieira Argentina ./. Kommission, Slg. 2003, II-1209 Rn. 163; bestätigt von EuGH v. 13.1.2005 – Rs. C-254/03 Eduardo Vieira ./. Kommission, (noch nicht in Slg.) Rn. 65; siehe ferner auch EuGH v. 4.3.2004 – Rs. C-130/02 Krings, Slg. 2004, I-2121 Rn. 34 ff. 66 Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 57, 71 m.w.N. 67 St. Rspr. EuGH v. 8.10.1980 – Rs. 810/79 Überschär, Slg. 1980, 2747 Rn. 16; EuGH v. 7.7.1993 – Rs. C-217/91 Spanien ./. Kommission, Slg. 1993, I-3923 Rn. 37; EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-313/02 Wippel, (noch nicht in Slg.) Rn. 56; vgl. ferner auch Lenz/Borchardt-Zimmerling, Anh. zu Art. 6 EU Rn. 67 f., 74; von der Groeben/Schwarze-Beutler, Art. 6 EUV Rn. 87.

242

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§ 10 Die Rechtsfortbildung

Der negative Gleichheitssatz verlangt, Ungleichartiges verschieden zu behandeln. Konsequenterweise kennt der EuGH daher nicht nur eine den Wortsinn übersteigende Rechtsfortbildung mittels Analogieschlusses, sondern auch in der Gegenrichtung eine restriktive Interpretation,68 die man nach deutschem Sprachgebrauch als teleologische Reduktion bezeichnet, sofern der Normtext zu weit gefaßt ist und eine erforderliche Einschränkung vermissen läßt. bb)

Das Primärrecht

Ebenso wie im nationalen Recht ist im Gemeinschaftsrecht das niederrangige Recht im Lichte des höherrangigen Rechts zu interpretieren. Im Stufenbau des Gemeinschaftsrechts bildet dabei das Primärrecht die lex superior gegenüber dem Sekundärrecht. Diese Normenhierarchie folgt aus dem verfassungsähnlichen Charakter des Primärrechts, insbesondere aus der Regelung des Art. 249 EG über die Rechtsetzungskompetenz auf der sekundären Ebene.69 Hinsichtlich der materiellen Vorgaben ist kennzeichnend, daß zum Primärrecht alle rechtsstaatlichen Grundsätze, namentlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip, gehören.70 Daneben sind auch die Gemeinschaftsgrundrechte im Rahmen einer primärrechtskonformen Rechtsfindung mit zu berücksichtigen.71 Terminologisch kann man im Hinblick auf die Wortlautgrenze zwischen einer primärrechtskonformen Auslegung und einer primärrechtskonformen Rechtsfortbildung unterscheiden.72 Eine primärrechtskonforme Interpretation kommt aber nur subsidiär in Betracht, wenn nach Ausschöpfung der herkömmlichen canones eine konkrete Regelungsabsicht nicht rekonstruierbar ist.73 Verfolgt der Gesetzgeber einen primärrechtswidrigen Zweck, darf die rechtswidrige Norm nicht in eine primärrechtskonforme Regelung uminterpretiert werden. Der Gerichtshof hat vielmehr eine rechtswidrige Norm für nichtig zu erklären, und zwar entweder im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 234 Abs. 1 lit. b EG oder einer Nichtigkeitsklage gem. Art. 230 Abs. 1 EG.74 Dieses Prozedere ist sachlich geboten, weil dem Gemeinschaftsgesetzgeber sonst potentielle Handlungsalternativen abgeschnitten würden und das institutionelle Gleichgewicht durch eine judikative Normsubstitution aus den Fugen geriete.75

68 Vgl. z.B. EuGH v. 4.10.1991 – Rs. C-183/90 van Dalfsen u.a., Slg. 1991, I-4743 Rn. 19 ff.; siehe ferner auch Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 217 ff. m.w.N. 69 Vgl. auch Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 363 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 323 ff. 70 Vgl. näher Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 127 f. m.w.N. 71 Vgl. näher Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 128 ff. m.w.N. 72 Vgl. auch Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 197. 73 Siehe auch Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 194. 74 Vgl. auch Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 63. 75 Vgl. auch unten im Text nach Fn. 88.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

c)

Die Grenzen der Lückenausfüllung

Das sekundäre Gemeinschaftsrecht ist seiner Natur nach nicht analogiefeindlich, obgleich es zum Teil einen Ausnahmecharakter aufweist. Ein Analogieschluß darf zwar ein Regel-Ausnahme-Verhältnis durch die Herausbildung eines allgemeinen Prinzips nicht auf den Kopf stellen, doch sind auch zwei rechtsähnliche Sondertatbestände grundsätzlich gleich zu behandeln.76 Eine Lückenausfüllung scheidet im wesentlichen nur in zwei Fällen aus: aa)

Analogieverbote

Der noch mögliche Wortsinn kann vor allem zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten der Unionsbürger eine Schranke zulässiger Rechtsfindung bilden. Dies gilt einmal für Regelungen, die eine Bestrafung anordnen oder zumindest einen strafähnlichen Charakter aufweisen.77 Über den Grundsatz nulla poena sine lege stricta hinaus ist ein Analogieverbot ganz generell bei belastenden Eingriffen indiziert.78 So lehnt auch der EuGH namentlich im Abgabenrecht eine analoge Anwendung von Regelungen ab, die den einzelnen Bürger belasten.79 bb)

Unausfüllbare Lücken

Neben Lücken, bei denen eine Ausfüllung aufgrund eines Analogieverbotes unzulässig ist, gibt es Lücken, bei denen eine Ausfüllung rechtlich nicht möglich ist.80 Der EuGH sieht sich zu einer Lückenausfüllung außer Stande, wenn bloße Zweckmäßigkeitserwägungen zu treffen sind. Das gleiche gilt, wenn mehrere primärrechtskonforme Regelungsalternativen bestehen.81 Der EuGH verweist zur Lückenausfüllung dann folgerichtig auf die nationalen Gerichte und Gesetzgeber 82 sowie die zuständigen Gemeinschaftsorgane.83

2.

Die Rechtsfindung contra legem

Mit dem Gebot richterlicher Gesetzesbindung korrespondiert ein grundsätzliches Verbot richterlicher Gesetzesderogation. Der EuGH ist sich dieser Einschränkung bewußt und betont ausdrücklich seine fehlende Kompetenz zur Normkorrektur bei 76 Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 181; Schilling, EuR 1996, 44, 52 f. m.w.N. 77 Vgl. EuGH v. 25.9.1984 – Rs. 117/83 Könecke, Slg. 1984, 3291 Rn. 11, 13, 16; Langenbucher, JbJZ 1999, S. 76 f. m.w.N. 78 Vgl. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 402 f.; Langenbucher, JbJZ 1999, S. 77. 79 EuGH v. 15.12.1987 – Rs. 325/85, Irland ./. Kommission, Slg. 1987, 5041 Rn. 18. 80 Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 172. 81 Vgl. Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. I, S. 221; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 324 ff. 82 EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-454/98 Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I-6973 Rn. 48 f.; EuGH v. 11.5.1983 – Rs. 87/82 Rogers, Slg. 1983, 1579 Rn. 21. 83 EuGH v. 23.3.2000 – verb. Rs. C-310/98 und C-406/98 Met-Trans, Slg. 2000, S. I-1797 Rn. 32; EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel u.a., Slg. 1977, 1753 Rn. 13.

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Jörg Neuner

§ 10 Die Rechtsfortbildung

Bestimmungen, die er für unbefriedigend erachtet.84 Wie bei jedem Prinzip gibt es allerdings auch in Bezug auf die richterliche Gesetzesbindung Ausnahmen.85 Folgerichtig bestimmt Art. 220 EG, daß der Gerichtshof das „Recht“ und nicht allein das „Gesetz“ zu wahren hat.86 a)

Die Feststellung der Nichtigkeit

Im Gemeinschaftsrecht sind die grundsätzlichen rechtstheoretischen Relativierungen der richterlichen Gesetzesbindung insofern hinfällig, als der EuGH gem. Art. 230 Abs. 1, 234 Abs. 1 lit. b EG eine Norm für nichtig erklären kann.87 Diese Verwerfungskompetenz umfaßt alle Fälle, in denen eine Sekundärrechtsnorm mit dem Primärrecht kollidiert. Den Maßstab bilden dabei insbesondere auch die in den Mitgliedstaaten anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätze gem. Art. 6 Abs. 1 EU.88 b)

Die Folgen der Nichtigkeit

Eine Nichtigkeitsfeststellung bewirkt in der Regel eine erneute Zuständigkeit des Gemeinschaftsgesetzgebers. Dieser kann nunmehr anstelle der nichtigen Norm über rechtmäßige Alternativentscheidungen befinden. Angesichts dieser kompetentiellen Rückverlagerung erweist sich eine Nichtigkeitsfeststellung als der moderateste Eingriff in das Gewaltenteilungsgefüge. Dem trägt die subjektive Auslegungstheorie dadurch Rechnung, daß sie bei einer Abweichung von der gesetzgeberischen Regelungsabsicht grundsätzlich eine Nichtigkeitserklärung verlangt. Der objektiven Auslegungstheorie gelingt es zwar, eine Nichtigkeitserklärung tendenziell zu vermeiden, doch besteht die Gefahr, daß der Verzicht auf die Normkassation um den Preis einer richterlichen Normsetzung erkauft wird. Der Gerichtshof ist nur ausnahmsweise zu einer eigenen Lückenausfüllung befugt, falls das Primärrecht keine Alternativen eröffnet und eine bestimmte Regelung fordert. c)

Die Einzelfallgerechtigkeit

Ungeachtet der rechtsstaatlichen Standards des Primärrechts kann die sehr seltene Situation eintreten, daß das allgemein gefaßte Sekundärrecht den Besonderheiten des Einzelfalles nicht gerecht wird. Eine Nichtigkeitserklärung durch den Gerichtshof scheidet in einer solchen Konstellation aus, denn, wie bereits Aristoteles hervorhob, liegt der Fehler hier „weder im Gesetz noch beim Gesetzgeber, sondern in der

84 Siehe z.B. EuGH v. 26.4.1972 – Rs. 92/71 Interfood, Slg. 1972, 231 Rn. 5; weitere Nachweise bei Borchardt, GS Grabitz, S. 41; kritisch zu einzelnen Entscheidungen namentlich Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 395 ff. m.w.N. 85 Siehe dazu näher Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 139 ff. 86 Analoge Formulierungen finden sich auch in den meisten anderen Textfassungen, vgl. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 91f. m.w.N. 87 Vgl. z.B. EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 Rn. 72; EuGH v. 12.11.1996 – Rs. C-84/94 Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1996, I-5755 Rn. 37; siehe zur Kontrolle durch den Gerichtshof auch Everling, FG Gündisch, S. 92 ff., mit kritischen Anmerkungen zu dessen relativ weitgehender Zurückhaltung gegenüber dem Gemeinschaftsgesetzgeber. 88 Siehe dazu auch schon im Text oben bei Fn. 70.

Jörg Neuner

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Natur der Sache“.89 Ein contra-legem-Judizieren kommt also in exzeptionellen Ausnahmekonstellationen in Betracht, wenn der konkrete Streitfall vom gesetzlich fixierten Normaltypus so eklatant abweicht, daß die Gesetzesbindung zu einem untragbaren Ergebnis führen würde.

V.

Schlußbetrachtung

Insgesamt bleibt festzuhalten, daß der Gerichtshof auch im Sekundärrecht zur Rechtsfortbildung grundsätzlich befugt ist. Er hat dabei weder die Aufgabe eines „Integrationsmotors“, noch unterliegt er einem judicial self-restraint. Ersteres birgt die Gefahr der Kompetenzüberschreitung durch eine eigenständige Integrationspolitik, Letzteres die Gefahr der Kompetenzunterschreitung durch eine Mißachtung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben. Hinsichtlich der Kompetenzausübung ist es nicht notwendig, daß der Gerichtshof eine bestimmte Methodenterminologie übernimmt, solange die maßgeblichen Sachkriterien beachtet werden.90 Dazu zählen vor allem die Grundsätze der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung sowie das Prinzip des Vertrauensschutzes. Es ist also auch bei der Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts in erster Linie auf eine sachgerechte Wertungsjurisprudenz zu achten.

89 Die Nikomachische Ethik (Übersetzung von O. Gigon), 6. Aufl., 1986, 1137a. 90 Siehe im übrigen die berechtigte Forderung von Kühling/Lieth, EuR 2003, 371, 384 nach einer behutsamen Übertragung nationaler dogmatischer Figuren auf gemeinschaftsrechtliche Fragestellungen.

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Diskussionsbericht Jens-Uwe Franck Auf Nachfrage von Rebhahn erklärt Neuner, daß seine Analyse sowohl positiv als auch normativ zu verstehen sei; er verweise insbesondere auf seine Ausführungen zur Bedeutung des Wortlauts. Im Hinblick auf das Referat von Röthel stellte Krolop in Frage, inwieweit es überhaupt sinnvoll sei, eine spezifische Methodik zur Generalisierung von Generalklauseln zu entwickeln. Er wies darauf hin, daß nahezu jeder Begriff im Europarecht „offen“ sei und weite Auslegungsspielräume lasse. Denn gerade aufgrund der unterschiedlichen Sprachfassungen sei der Wortsinn selten eindeutig. Mithin sei fraglich, ob eine klare Abgrenzung auslegungsbedürftiger Begriffe gegenüber Generalklauseln überhaupt möglich sei oder ob es nicht vielmehr ein Kontinuum von relativ bestimmten zu relativ unbestimmten Begriffen gebe. Zum anderen sei doch auch zu berücksichtigen, daß die kodifizierte Generalklausel mit Delegationsfunktion im Privatrecht eine Innovation des BGB-Gesetzgebers gewesen sei. Die vom Naturrecht und rein römischer Tradition geprägten Kodifikationen (Österreichisches ABGB, Code Civil) und das englische Recht hätten dies zunächst nicht gekannt. Damit sei die spezifische Dogmatik zur Konkretisierung der Generalklauseln in gewisser Weise deutsche Besonderheit. Röthel stimmte Krolop darin zu, daß die Abgrenzung von Generalklauseln gegenüber schlicht auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffen schwierig sei. Ihrer Meinung nach sei es aber notwendig und hilfreich, eine gesonderte Methodik zur Konkretisierung von Generalklauseln zu entwickeln, so daß die Unterscheidung trotz der Abgrenzungsprobleme sinnvoll sei. Roth wies darauf hin, daß „good faith“ bzw. „Treu und Glauben“ in der Klauselrichtlinie (Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 Nr. L 95/29) auf völlig verschiedene Konzepte mit verschiedenen Konnotationen verweise („da liegen Welten dazwischen“). Der Richtliniengesetzgeber habe damit eine wirkliche Generalklausel schaffen wollen, die die Engländer tatsächlich als „good faith“ und die Deutschen als „Treu und Glauben“ verstehen dürften und deren Ausprägung nicht dem EuGH überlassen werden sollte. Generell sei zu betonen, daß für das Common Law der Umgang mit Generalklauseln und insbesondere mit einem Konzept wie dem von „Treu und Glauben“ sehr problematisch sei. Aus der Entscheidung des EuGH Freiburger Kommunalbauten (v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02) folge, daß der EuGH für sich auch nur eine Konkretisierungskompetenz auf einer sehr abstrakten Ebene in Anspruch nehme. Zu betonen sei in diesem Zusammenhang auch, daß eine Differenzierung zwischen Jens-Uwe Franck

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Richtlinien und Verordnungen notwendig sei: Bei der Auslegung von Verordnungen sei der EuGH ganz natürlich dazu befugt, Generalklauseln zu konkretisieren. Ein anschauliches Beispiel hierfür sei die Auslegung des Begriffes der „Verwechslungsgefahr“, der in der Markenverordnung (Verordnung 40/94 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 1994 Nr. L 11/1) und in der Markenrichtlinie (Erste Richtlinie 89/104/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken, ABl. 1989 Nr. L 40/1) enthalten sei. Festzustellen sei zudem, daß die Rechtsprechung des EuGH auch zwischen verschiedenen Richtlinien differenziere: In der Entscheidung Simone Leitner (v. 12.3.2002 – Rs. C-168/00) habe der EuGH angeordnet, daß auch immaterielle Schäden unter den Begriff des „Schadens“ in der Pauschalreiserichtlinie (Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 Nr. L 158/59) zu fassen seien, wohingegen er für die Produkthaftungsrichtlinie (Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 Nr. L 210/29) die Konkretisierung dieses Begriffes der Judikatur der Mitgliedstaaten überlassen habe. Als Resümee sei festzuhalten, daß das Problem der Konkretisierung von Generalklauseln wesentlich komplexer sei, als man das vielleicht zunächst annehmen könnte. An Neuner gewandt begrüßte Roth, daß dieser auf die Kompetenzgrenzen der Gemeinschaft hingewiesen habe, an die der Gerichtshof bei Auslegung und Rechtsfortbildung genauso gebunden sei wie an das Prinzip der Subsidiarität. Ein Problem bestehe allerdings darin, daß der Gerichtshof nur über die Sachen entscheiden könne, die ihm vorgelegt werden und daß die mitgliedstaatlichen Gerichte die Frage nach der Kompetenzwidrigkeit einer Norm nur selten im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens zur Sprache brächten. Insbesondere die Haustürwiderrufsrichtlinie (Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 Nr. L 372/31) sei kompetenzwidrig erlassen worden. Röthel teilte die Auffassung Roths, daß das Problem der Konkretisierung von Generalklauseln vielschichtig und komplex sei und daß es notwendig sei, hierbei zwischen Verordnungen und Richtlinien zu differenzieren. Sie wies weiter darauf hin, daß sie in ihrem Referat die Sonderstellung Englands hervorgehoben habe und sich lediglich auf kontinentaleuropäische Traditionen berufen habe. Röthel betonte weiter, daß sie nicht Roths Interpretation der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten zustimmen könne. Diese lasse nicht erkennen, daß der EuGH eine Flut von Vorabentscheidungsverfahren befürchtet habe; dafür hätte es angesichts der wenigen Rechtssachen, die dem Gerichtshof bislang zur AGB-Richtlinie vorgelegen hätten auch gar keinen Anlaß gegeben. Auch glaube sie nicht, dass der EuGH sich der Konkretisierungskompetenz soweit begeben habe, wie dies Roth annehme. Grundmann wies darauf hin, daß sich die SECOLA-Konferenz in Paris 2003 mit dem Problem der Konkretisierung von Generalklauseln befaßt habe. Dort seien die englischen Referenten Beale, Whittaker und Collins übereinstimmend davon ausgegangen, daß das englische Rechtssystem gelernt habe, mit Generalklauseln umzugehen. Dies sei insbesondere aufgrund der Umsetzung der EMRK in britisches Recht not-

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Jens-Uwe Franck

Diskussionsbericht

wendig geworden. Insoweit sei die Divergenz zwischen England und dem kontinentaleuropäischen Recht geringer, als man das vielleicht annehme. Es lasse sich auch zwischen den Konzepten von „Treu und Glauben“ und „good faith“ eine starke Konvergenz erkennen. Auf die Frage von Vogel, ob denn die Betonung des Wortlaut nicht die Gefahr von Manipulationen in sich berge, erwiderte Neuner, daß die Gefahr des Mißbrauchs in gleicher Weise für alle Auslegungsmethoden bestehe: Auch der subjektive Wille des historischen Gesetzgebers lasse sich bei der Auslegung manipulieren. Aus dem Publikum wurde die Frage gestellt, ob es denn nicht zu schwierig sei, den subjektiv-historischen Willen des europäischen Gesetzgebers zu ermitteln; insbesondere stünden den Studierenden in Klausuren ja keine Hilfsmittel zur Verfügung. Neuner entgegnete hierauf, daß dies gleichermaßen für die Auslegung des nationalen Rechts gelte und Riesenhuber wies darauf hin, daß bei den Richtlinien dem Rechtsanwender ja in jedem Falle die Begründungserwägungen Hinweise auf den Gesetzgeberwillen offenbaren können. Möslein stellte sodann die Frage, ob es bei der Auslegung von Generalklauseln oder der Rechtsfortbildung von Sekundärrecht einen Unterschied mache, ob der jeweilige Sekundärrechtsakt der zwingenden inhaltlichen Konkretisierung diene oder ein optionales Instrument beinhalte, also ein zusätzliches Regelungsregime neben den mitgliedstaatlichen Regelungen beinhalte. Darauf antwortete zunächst Riesenhuber, daß es für die Auslegung wohl darauf ankäme, wer die jeweilige Option ausüben dürfe: die Mitgliedstaaten oder die Rechtsunterworfenen. Röthel wies darauf hin, daß ihrer Ansicht nach Generalklauseln in einem optionalen Regelwerk, etwa einem Vertragsrechtskodex, allzu komplexe Auslegungsfragen aufwerfen würden; der Gesetzgeber tue deshalb Gut daran, sie zu vermeiden. Dem widersprach dezidiert Grundmann, nach dessen Auffassung ein solcher Kodex nicht ohne Generalklauseln auskommen könne, solle er Chance auf Bewährung in der Rechtspraxis haben. Die Komplexität der Auslegungsfragen sei zu bewältigen. Schließlich stimmte Roth noch ausdrücklich der These Riesenhubers zu, wonach sich für das Europäische Privatrecht kein Auslegungsprinzip „in dubio pro consumatore“ herleiten lasse.

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Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht § 11 Die richtlinienkonforme Auslegung Wulf-Henning Roth Übersicht I.

Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Grundlagen im Gemeinschaftsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Auslegung der lex fori   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Richtlinien- und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  3. Zeitpunkt   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit   .  .  5. Anwendungsbereich   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  6. „Auslegung“ und Rechtsfindung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  7. Methodische Vorgaben für die nationalen Gerichte   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) „So weit wie möglich“   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Umsetzungsgesetzgebung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Methodische Gleichbehandlung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  8. Schranken einer richtlinienkonformen Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Allgemeine Rechtsgrundsätze  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Richtlinienkonforme Auslegung auch zu Lasten des Einzelnen?   .  .  .  c) Schranken des nationalen (Verfassungs-) Rechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  II. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Richtlinienkonforme Auslegung kraft nationalen Rechts   .  .  .  .  .  .  .  .  a) Wille des deutschen Gesetzgebers   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Art. 20 Abs. 3 GG   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden   .  .  3. Die richtlinienkonforme Auslegung als Vorzugsregel   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen im nationalen Recht   5. Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Grundlage: Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3 GG  .  .  .  .  .  b) Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Die Instrumente der Rechtsfortbildung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  d) Die Grenzen der Rechtsfortbildung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  e) Normenkollisionen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Nicht unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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Die folgenden Ausführungen widmen sich der Frage, welche Konsequenzen sich aus der Existenz von Richtlinien für die Auslegung des nationalen Rechts ergeben. Dabei sind zunächst die gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung zu skizzieren (unter I.). Sodann geht es um die Anwendung des Grundsatzes der richtlinienkonformen Auslegung im Rahmen des deutschen Rechts (unter II.).

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Wulf-Henning Roth

§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung

Die richtlinienkonforme Auslegung hat als ihren Gegenstand das nationale Recht. Daher werden im folgenden nicht die Probleme der Auslegung von Richtlinien und ihrer Fortbildung behandelt (dazu unter § 8 und § 10). Ebenso werden zwei weitere Problemkreise ausgeblendet: die Frage der sog. überschießenden Umsetzung einer Richtlinie in das nationale Recht (dazu § 12) und die Rollenverteilung zwischen dem Gerichtshof und den Organen der Mitgliedstaaten bei der Auslegung und Konkretisierung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen in den Richtlinien (dazu § 9).

I.

Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben

1.

Grundlagen im Gemeinschaftsrecht

a)

Auslegung der lex fori

Seit langem geht der Gerichtshof (EuGH) von einer aus dem Gemeinschaftsrecht folgenden Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte aus, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen.1 Diese Verpflichtung folgt nach ständiger Rechtsprechung aus Art. 249 Abs. 3 EG 2 und zusätzlich aus Art. 10 EG.3 Art. 249 Abs. 3 EG statuiert die Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, die Vorgaben einer Richtlinie in das nationale Recht umzusetzen. Diese Verpflichtung richtet sich nicht nur an den Mitgliedstaat selbst, sondern auch an seine Untergliederungen (z.B. Länder und Kommunen).4 Sie ist nicht auf den Gesetzgeber beschränkt, sondern erstreckt sich auf die Gerichte gleichermaßen, alle allgemeinen und besonderen Maßnahmen zu treffen, die für die Zielverfolgung von Bedeutung sind.5 Im Hinblick auf die aus Art. 249 Abs. 3 EG und aus der Richtlinie folgenden „zwingenden Pflicht“ zur Umsetzung 6 ist für die Bindung der Gerichte an die Richtlinienvorgaben ein Rückgriff auf die Kooperationsverpflichtung des Art. 10 EG nicht vonnöten.7 Letztere hat allein ergänzenden Charakter.8

1 Seit EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26. 2 Zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113, vgl. auch EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, NJW 2005, 2839 Rn. 34 (zum gleichlautenden Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU). 3 Etwa in EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26 u.ö. 4 EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Kraaijeveld u.a., Slg. 1996, I-5403 Rn. 55; Calliess/RuffertRuffert, Art. 249 EGV Rn. 92. 5 Z.B. EuGH v. 18.12.1997 – C-129/96 Inter-Environment-Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40. 6 EuGH v. 18.12.1997 – C-129/96 Inter-Environment-Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40. 7 EuGH v. 18.12.1997 – C-129/96 Inter-Environment-Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40 stellt insoweit auch nur auf Art. 249 Abs. 3 EG ab; ebenso EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. Zutreffend erscheint eine Berufung auf Art. 10 EG, wenn der Gerichtshof die nationalen Verwaltungsbehörden der Verpflichtung unterwirft, im Rahmen ihres Verfahrensrechts alles zu tun, um der (nicht umgesetzten) Richtlinie zur Geltung zu verhelfen; z.B. EuGH v. 7.1.2004 – C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 Rn. 65. 8 Der Gerichtshof beruft sich auf Art. 10 EG, um – über die Bindung an Art. 249 Abs. 3 EG hinausgehend – die Mitgliedstaaten zu verpflichten, „alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen“.

Wulf-Henning Roth

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Die Verpflichtung, das nationale Recht an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen, erschöpft sich nicht in dem (korrekten) legislativen Umsetzungsakt, ist also keine einmalige, nach Inkrafttreten der Richtlinie sich ergebende Aufgabe, sondern eine fortdauernde Verpflichtung, die den Gesetzgeber bei all seiner künftigen Tätigkeit bindet. Die Gerichte haben das nationale (umgesetzte) Recht im Lichte der Richtlinien auszulegen, – und auch dies ist als eine fortwährende Pflicht der Gerichte zu verstehen – die Vorgaben der Richtlinien bei der Auslegung in der Zukunft zu beachten. Dies hat Konsequenzen vor allem dann, wenn die Auslegung einer Richtlinie durch den EuGH eine Konkretisierung bzw. Änderung erfährt: Die aus Art. 249 Abs. 3 EG resultierende Pflicht, alle zur Erreichung des durch die Richtlinie vorgeschriebenen Zieles erforderlichen Maßnahmen zu treffen, impliziert auch die Verpflichtung für die nationalen Gerichte, in der Auslegung des eigenen nationalen Rechts die Konkretisierungen und Änderungen in der Auslegung des Richtlinienrechts durch den EuGH nach zu vollziehen. b)

Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats

Art. 249 Abs. 3 EG reicht als Geltungsgrund für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nicht aus, soweit das Gericht eines Mitgliedstaates das Recht eines anderen Mitgliedstaates aufgrund einer kollisionsrechtlichen Regelung anzuwenden hat. Da sich die Umsetzungsverpflichtung an die Organe der jeweiligen Mitgliedstaaten richtet, trifft die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung die Gerichte immer nur im Hinblick auf die lex fori: 9 Ein deutsches Gericht ergänzt durch seine Auslegung die Tätigkeit des eigenen (deutschen) Gesetzgebers und ist in dieser Tätigkeit durch die (verfassungsmäßige) Rollenverteilung zwischen Judikative und Legislative eingeschränkt. Bei der Anwendung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates steht das deutsche Gericht nicht in der Pflicht aus Art. 249 Abs. 3 EG, geht es doch nicht um die Fortbildung deutschen Rechts. Kraft der Verweisung muß das deutsche Gericht vielmehr in die Rolle des Gerichts des jeweils anderen Mitgliedstaates schlüpfen und das Recht dieses Staates so auslegen und anwenden, wie es Gerichte dieses Staates tun 10 bzw. tun würden.11 Aufgrund der Loyalitätspflicht des Art. 10 EG (und nicht des Art. 249 Abs. 3 EG) wird man aber eine weitergehende Rolle der Gerichte der Mitgliedstaaten insoweit annehmen müssen, als die Gerichte im Rahmen einer Verweisung auf das ausländische Recht bei dessen Auslegung auch die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben und insbesondere das Gebot richtlinienkonformer Auslegung, das auch für die Gerichte des anderen Mitgliedstaates gilt, zumindest insoweit in Betracht zu ziehen haben,12

9 W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 879; Gebauer, in: Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, S. 195. 10 BGH, NJW 1992, 3106; BGH, NJW 2003, 2685. 11 Dies schließt eine Fortbildung des ausländischen Rechts nicht aus; Palandt-Heldrich, Einl. vor Art. 3 EGBGB Rn. 34. Eingehender MünchKommBGB-Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 639–641. 12 Pfeiffer, StudZR 2004, 171, 191, scheint annehmen zu wollen, daß Art. 10 EG den Verweisungsbefehl des Gesetzgebers auf das ausländische Recht im Sinne einer Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung mit prägt.

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§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung

wie dies die Gerichte dieses Staates kraft ihrer Stellung im Verhältnis zur Legislative tun können. Insoweit wird für die richtlinienkonforme Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates im Grundsatz dasjenige nachvollzogen, was in ähnlicher Weise für das Gebot der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates gilt: Der Gerichtshof ist schon bisher davon ausgegangen, daß die mitgliedstaatlichen Gerichte – in ihrer Funktion als Gemeinschaftsgerichte – die Rechtssätze des inländischen Rechts wie diejenigen anderer Mitgliedstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht überprüfen müssen.13 Und Generalanwalt Alber hat in seinen Schlußanträgen in der Rechtssache Lennox diese Position noch einmal mit Nachdruck vertreten.14 Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Verweist deutsches Recht auf einen Rechtssatz eines anderen Mitgliedstaates, der mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, ist nicht etwa die Verweisung auf das ausländische Recht gemeinschaftsrechtswidrig. Vielmehr ist im Rahmen des ausländischen Sachrechts nach einer Lösung zu suchen, die zu einem gemeinschaftsrechtskonformen Ergebnis führt. Hier wird oftmals mit dem Mittel der Angleichung, also der Umformulierung des ausländischen Rechtssatzes oder aber der Bildung eines ergänzenden Rechtssatzes, wie dies aus der ordre public-Kontrolle gem. Art. 6 EGBGB bekannt ist,15 geholfen werden können. Nur ganz hilfsweise ist auf die lex fori zurückzugreifen.16

2.

Richtlinien- und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung

Im Urteil Pfeiffer deutet der Gerichtshof – meines Wissens erstmals – das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung als einen (Unter-) Fall des Gebots der „gemeinschaftsrechtskonformen“ Auslegung.17 Im Schrifttum ist dagegen vor allem die Unterschiedlichkeit beider Institute in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen betont worden: 18 Während die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung – bei An-

13 Z.B. EuGH v. 16.12.1981 – Rs. 244/80 Foglia, Slg. 1981, 3045 Rn. 30; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. C-47/90 Delhaize, Slg. 1992, I-3669 (belgischer Kaufvertrag; Vereinbarkeit der spanischen Abfüllregelung mit Art. 29 EG als Vorfrage); vgl. auch den Sachverhalt in EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-318/00 Bacardi-Martini, Slg. 2003, I-905. 14 GA Alber, Schlußanträge – Rs. C-220/01 Lennox, Slg. 2003, I-7091 Tz. 83 – 86: Vorrang des Gemeinschaftsrechts muß sich auch gegenüber dem Recht eines anderen Mitgliedstaates durchsetzen. Auf einem anderen Blatt steht allerdings, daß die Gerichte im Rahmen des Vorlageverfahrens gem. Art. 234 EG besonders sorgfältig begründen müssen, aus welchem Grunde sie ausländisches Recht mit dem Gemeinschaftsrecht für unvereinbar halten; vgl. EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-153/00 der Weduwe, Slg. 2002, I-11319 Rn. 38. 15 AnwKommBGB-Schulze, Art. 6 EGBGB Rn. 30. 16 MünchKomm BGB-Sonnenberger, Art. 6 EGBGB Rn. 95. 17 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114. Der Begriff der „gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung“ wird wiederholt im Urteil Pupino verwendet; EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, NJW 2005, 2839 Rn. 32, 34, 38, 43, 47. 18 Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 299 f. m.w.N.; zuletzt Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

wendung des primären Gemeinschaftsrechts 19 – auf dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts beruht und in seiner Rechtsfolge notfalls zur Unanwendbarkeit einer Bestimmung des nationalen Rechts im konkreten Fall führt, nimmt die richtlinienkonforme Auslegung – außerhalb des Bereichs der unmittelbaren Anwendung einer Richtlinienbestimmung – am Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht teil und führt auch nicht zur Unanwendbarkeit richtlinienwidrigen nationalen Rechts.20 Diese Unterschiede in der Einwirkung des primären Gemeinschaftsrechts auf das nationale Recht einerseits und des (nicht unmittelbar anwendbaren) Richtlinienrechts andererseits werden jedoch keineswegs in Abrede gestellt, wenn man, wie der Gerichtshof es tut, die richtlinienkonforme Auslegung als Unterfall des Gebots der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung begreift, gibt es doch neben dem primären Gemeinschaftsrecht und den Richtlinien auch noch andere Rechtsakte und Verlautbarungen der Gemeinschaft, die nach einer Berücksichtigung auf der Ebene des nationalen Rechts verlangen.21 Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung läßt sich daher als Oberbegriff für in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen durchaus unterschiedliche Formen der Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts verstehen, die alle darauf abzielen, dem Gemeinschaftsrecht in seiner Vielfalt der Rechtsquellen (dazu § 4) zur Beachtung zu verhelfen. Im Urteil Pfeiffer wird das Gebot der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung als dem EG-Vertrag „immanent“ beschrieben.22 Damit wird für die richtlinienkonforme Auslegung nicht die Legitimationsgrundlage ausgewechselt. Da sich die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht mit Art. 249 Abs. 3 EG begründen läßt, bedarf es für sie – mangels ausdrücklicher Regelung im EG-Vertrag – in der Tat eines Bezuges auf Ziele und Zwecke des Vertrages im Allgemeinen. Diese Begründung entwertet aber nicht die Verankerung der richtlinienkonformen Auslegung in Art. 249 Abs. 3 EG.23

3.

Zeitpunkt

Für die Umsetzung der Richtlinienvorgaben gilt die in der jeweiligen Richtlinie vorgegebene Umsetzungsfrist. Dies bedeutet für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, daß diese erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist eingreift. Dies ist in 19 Z.B. EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673. 20 Dies entspricht – entgegen der insoweit mißverständlichen Tenorierung in EuGH v. 13.11. 1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 – der st. Rspr. des Gerichtshofs. 21 Als jüngstes Beispiel EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, NJW 2005, 2839 Rn. 34: Verpflichtung zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung aufgrund eines Rahmenbeschlusses nach Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU. 22 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114. 23 Von Interesse ist allein, daß der Gerichtshof das Gebot der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung mit dem Gedanken der vollen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts verknüpft und begründet und dabei die Verpflichtung der nationalen Gerichte betont, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten; EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114. S. auch schon EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Mau, Slg. 2003, I-4791 Rn. 34.

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§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung

der Rechtsprechung des EuGH (jedenfalls bisher) anerkannt.24 Damit ist eine Richtlinie im Stadium vor Ablauf der Umsetzungspflicht jedoch keineswegs völlig bedeutungslos. Zwar greift noch nicht die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung aus Art. 249 Abs. 3 EG, doch kommt für den Gesetzgeber die auf Art. 10 EG beruhende Loyalitätspflicht 25 der Mitgliedstaaten ins Spiel: Der Mitgliedstaat hat alle Maßnahmen zu unterlassen, die geeignet sind, das von den Richtlinien angestrebte Ziel ernsthaft in Frage zu stellen.26 Für die mitgliedstaatlichen Gerichte ist eine gleichlaufende Pflicht zwar anzunehmen, doch sind Judikate nur schwer vorstellbar, die eine solche Gefahr heraufbeschwören könnten.27 Im übrigen ist es allein eine Frage des nationalen Rechts, ob die Gerichte schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist die Vorgaben der Richtlinie bei der Auslegung ihres nationalen Rechts berücksichtigen können.28 Dies gilt auch für den Fall, daß der Gesetzgeber die Richtlinie rechtzeitig umgesetzt hat und nun das Gericht das Umsetzungsrecht auszulegen hat.

4.

Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit

Im Schrifttum wird die große Bedeutung der richtlinienkonformen Auslegung für diejenigen Fälle betont, in denen die Richtlinienvorschriften keine unmittelbare Wirkung zugunsten der Bürger entfalten können.29 Dies gilt zum einen in solchen Fällen, in denen die einzelne Richtlinienvorschrift nicht unbedingt 30 oder nicht hinreichend genau gefaßt ist.31 Hier kann und muß das Regelungsziel der Richtlinie(nbestimmung) ohne weiteres in die Auslegung des nationalen Rechts mit einfließen. Dem steht das Urteil Pfeiffer nicht entgegen, soweit dort die Eignung einer Richtlinienbestimmung vor der Reichweite der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung erörtert wird. Die Abfolge der Prüfung durch den EuGH ist durch das Vorlageersuchen veranlaßt, in dem das Arbeitsgericht Lörrach danach fragt, ob Artikel 6 der Richtlinie 93/104 „inhaltlich unbedingt und hinreichend genau [ist], so daß sich einzelne Personen auf diese Bestimmungen gegenüber den nationalen Gerichten be-

24 EuGH v. 27.6.2000 – Rs. C-240/98 und C-244/98 Océano Grupo Editorial SA, Slg. 2000, I-4941 Rn. 31; ebenso BGHZ 138, 55, 61. Davon abweichen will GA Tizzano, Schlußanträge v. 30.6. 2005 – Rs. C-144/04 Mangold, (noch nicht in Slg.) Tz. 115 ff. Dem ist EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, NJW 2005, 3695 Rn. 74 ff. in der Begründung und in der Sache nicht gefolgt. 25 Dazu die Nachweise bei Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 296 Fn. 34. 26 EuGH v. 18.12.1997 – C-129/96 Inter-Environment-Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 45; weitergehend Bühring/Lang, ZEuP 2005, 88. 27 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 102. 28 Dazu BGHZ 138, 55, 61. 29 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 75. 30 EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103 Rn. 47– 48. 31 Vgl. EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 27; EuGH v. 12.7.1990 – Rs. C-188/89 Foster, Slg. 1990, I-3348 Rn. 18; EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 103. BGHZ 138, 55, 61 sieht hingegen in der Eindeutigkeit der Richtlinienregelung eine Voraussetzung für eine richtlinienkonforme Auslegung.

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2. Teil: Allgemeiner Teil rufen können […]“. Der Gerichtshof stellt erneut klar, daß trotz der Unbedingtheit und hinreichenden Genauigkeit einer Richtlinienbestimmung eine Berufung auf sie im Verhältnis zwischen Privaten (horizontale Wirkung) ausgeschlossen ist.32 Die darauf folgenden Erörterungen zur richtlinienkonformen Auslegung nehmen auf die Kriterien der Unbedingtheit und hinreichende Bestimmtheit keinen Bezug. Ein solcher Bezug wäre auch mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH unvereinbar.33

Dies gilt zum anderen auch, wenn es um Rechtsstreitigkeiten im Bürger-BürgerVerhältnis geht und von daher eine unmittelbare Anwendung ausscheiden muß.34 Dies berechtigt freilich nicht zu dem Gegenschluß, daß immer dann, wenn eine Berufung des Privaten auf die Richtlinie im Verhältnis zum Staat möglich ist, also die Voraussetzungen einer „unmittelbaren Anwendbarkeit“ einer Richtlinienbestimmung gegeben sind, eine richtlinienkonforme Auslegung auszuscheiden hat. Im Gegenteil: Der nationale Richter hat immer zunächst dem Umsetzungsbefehl des Art. 249 Abs. 3 EG Folge zu leisten und – im Rahmen seiner Möglichkeiten – eine richtlinienkonforme Auslegung zu versuchen. Erst wenn ihm eine solche verwehrt ist, kann eine Richtlinienbestimmung unmittelbar angewendet werden. Diese Subsidiarität der unmittelbaren Anwendbarkeit ist – auch wenn sie in der Praxis nicht immer praktiziert wird – eine notwendige Konsequenz des Instruments der Richtlinie: Primär muß es darum gehen, den Organen der Mitgliedstaaten die Aufgabe zu überlassen, die geeignete Einpassung der Zielsetzungen der Richtlinie in das nationale Recht zu erreichen. Dazu dient die richtlinienkonforme Auslegung. Erst wenn diese Einpassung durch die richtlinienkonforme Auslegung nicht gelingt, kann zum Instrument der unmittelbaren Anwendbarkeit gegriffen werden.35

32 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 109: „Daraus folgt, daß sogar eine klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, nicht als solche Anwendung finden kann.“ 33 Vgl. etwa EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 18, 23, 27 (zu Sanktionen); EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz, Slg. 1984, 1921 Rn. 18, 23, 27; EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103 Rn. 47– 48. 34 Grundlegend EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 24. 35 Dieser Grundsatz ist auch und vor allem zu beachten, wenn es um Bestimmungen geht, die zu Lasten der Einzelnen gehen. Eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen zu Lasten der Einzelnen wird (im Verhältnis zum Staat) in st. Rspr. verneint: EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 13; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 X, Slg. 2004, I-651 Rn. 61 (beide Urteile betreffen die strafrechtliche Verantwortlichkeit). Eine Berufung auf eine Richtlinienbestimmung zugunsten eines Einzelnen scheidet auch aus, wenn dadurch eine Verpflichtung eines Dritten begründet wird, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Begünstigung steht; EuGH v. 7.1.2004 – C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 Rn. 56 – 57. Eine richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts zu Lasten des Einzelnen ist grundsätzlich möglich, soweit dies das nationale Recht zuläßt. Vgl. auch EuGH v. 3.5.2005 – Rs. C-387/02, C-391/02, C-403/02 Berlusconi, Slg. 2005, I-3565 Rn. 74 (mit dem Hinweis, daß eine Richtlinie „für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Vorschriften“ nicht zu Lasten des Einzelnen sich auswirken dürfe).

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§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung

5.

Anwendungsbereich

Seit langem ist anerkannt, daß sich das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung nicht nur auf den Umsetzungsakt erstreckt, mit dem der Gesetzgeber die Vorgaben der Richtlinie erfüllen will, sondern auf das nationale Recht insgesamt und insoweit auch auf Regelungen, die zeitlich vor der Richtlinie erlassen worden sind.36 Diese Tragweite ist in dem kürzlich ergangenen Urteil Pfeiffer noch einmal nachdrücklich bestätigt worden, wenn es dort heißt: Der „vom Gemeinschaftsrecht aufgestellte Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts betrifft zwar in erster Linie die zur Umsetzung der fraglichen Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Bestimmungen, beschränkt sich jedoch nicht auf die Auslegung dieser Bestimmungen, sondern verlangt, daß das nationale Gericht das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, daß es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt“.37

Letztlich kommt hierin die alle Träger der öffentlichen Gewalt der Mitgliedstaaten – und damit auch die Gerichte – treffende Verpflichtung aus Art. 249 Abs. 3 EG zum Ausdruck, für eine Durchsetzung der von der Richtlinie verfolgten Ziele zu sorgen.38 6.

„Auslegung“ und Rechtsfindung

Wenn und soweit der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung die Verpflichtung der Gerichte anspricht, das nationale Recht im Lichte der Richtlinienziele „auszulegen“, sind diese Aussagen nicht auf das in der deutschen Methodenlehre verbreitete Verständnis von Gesetzesauslegung im Sinne einer Sinnermittlung aufgrund der klassischen Auslegungsmethoden beschränkt, sondern beziehen sich auch auf die Methoden zulässiger Rechtsfortbildung.39 Es ist zwar einzuräumen, daß der Gerichtshof seine eigene Rolle im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht als auf die Auslegung im herkömmlichen Sinne beschränkt ansieht: So heißt es in dem jüngst ergangenen Bidar-Urteil, „daß sich die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof darauf beschränkt, zu erläutern und zu verdeutlichen, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite (eine) Vorschrift (des Gemeinschaftsrechts) seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“.40 36 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26; EuGH v. 27.6.2000 – Rs. C-240/98 und C-244/98 Océano Grupo Editorial SA, Slg. 2000, I-4941 Rn. 30. 37 EuGH 5.10.2005 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 115. 38 S. z.B. EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26. 39 Dies verkennt Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 126; zutreffend dagegen Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 291; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 38; Canaris, FS Bydlinski, S. 81ff. Ausführlich zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH Müller/Christensen, Juristische Methodik Bd, II, S. 22 ff. 40 EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 66; vgl. zur Anwendung der „klassischen“ Auslegungsmethoden (Wortlaut; Entstehung; Systematik; Zweck) exemplarisch die

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Generalanwalt Jacobs bestätigt diese Einschätzung, wenn er formuliert: „Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß seine Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts die Bedeutung und Tragweite der betreffenden Vorschrift erläutert und definiert, so wie diese von ihrem Inkrafttreten an hätte verstanden und angewandt werden sollen.“ 41

Auch Generalanwalt Léger scheint die Auslegung des Gemeinschaftsrechts in tradierten klassischen Bahnen und Schranken zu sehen, wenn er davon ausgeht, daß der Wortlaut einer Bestimmung die unüberschreitbare Schranke der Auslegung darstellt, die weder durch eine Berufung auf den Zweck der (Richtlinien-) Bestimmung noch auf den effet utile überwunden werden kann: 42 Bei einem klaren Wortlaut bestehe „die einzige mögliche Lösung somit darin, sich an die durch den Wortlaut der Vorschrift vorgegebene Auslegung zu halten und den Zweck zu vernachlässigen, den die Richtlinie, zu der die Vorschrift gehört, verfolgt. Es wäre mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit nämlich nicht vereinbar, auf die teleologische Auslegung oder den Begriff der „praktischen Wirksamkeit“ zurückzugreifen, um einer Gemeinschaftsrechtsvorschrift aufgrund dessen, daß ihr Wortlaut nicht zur Erreichung des Zieles beiträgt, das mit der Richtlinie, zu der sie gehört, verfolgt wird, einen Sinn zu verleihen, den sie offensichtlich nicht haben kann.“ 43

Der Generalanwalt beruft sich auf den Grundsatz der Rechtssicherheit als einem fundamentalen Prinzip der Gemeinschaftsrechtsordnung, der erfordere, daß die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften klar und ihre Anwendung für alle Betroffenen vorhersehbar sein sollen.44 Man geht freilich kaum fehl in der Annahme, daß solche Aussagen typischerweise in einem Zusammenhang getroffen werden, in dem eine rechtsfortbildende Entwicklung des Gemeinschaftsrechts nicht in Rede steht. Dagegen fehlt es an solchen Aussagen in Urteilen (und Schlußanträgen), in denen eine Fortbildung des Gemeinschaftsrechts angestoßen werden soll – einen Vorgang, den wir besonders häufig im Rahmen des primären Gemeinschaftsrechts beobachten können. Als Beispiel dafür mögen die jüngsten Schlußanträge von Generalanwalt Jacobs zu den Auswirkungen der Unionsbürgerschaft (Art. 17, 18 Abs. 1 EG) auf das internationale Namensrecht dienen: In der Rechtssache Niebüll 45 folgert Generalanwalt Jacobs aus den Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft, daß die nationalen Regelungen des Namensrechts auch ohne Vorliegen jeglicher Diskriminierung in einer Weise ausgestaltet sein müssen, daß der Unionsbürger bei wechselndem Aufenthalt in den verschie-

Schlußanträge des GA Léger v. 13.11.2003 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier AB, Slg. 2004, I-5791 Tz. 29 ff., 44 ff., 79 ff. 41 GA Jacobs, Schlußanträge v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Populare di Cremona, (noch nicht in Slg.) Tz. 74. 42 GA Léger, Schlußanträge v. 28.9.2004 – Rs. C-350/03 Elisabeth Schulte, (noch nicht in Slg.) Tz. 81ff. 43 GA Léger, Schlußanträge v. 28.9.2004 – Rs. C-350/03 Elisabeth Schulte, (noch nicht in Slg.) Tz. 94. 44 GA Jacobs, Schlußanträge v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Populare di Cremona, (noch nicht in Slg.) Tz. 93. 45 GA Jacobs, Schlußanträge v. 30.6.2005 – Rs. C-96/04 Standesamt Stadt Niebüll, (noch nicht in Slg.) Tz. 54 – 56. Daß es sich hier um eine unzulässige Vorlage handelt, steht auf einem anderen Blatt.

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§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung denen Mitgliedstaaten in seiner Identitätsausstattung mit dem einmal erworbenen Namen geschützt wird. In – ungenannter – Parallele zum Sitzwechsel der Gesellschaften soll die im Geburtsstaat des Kindes (rechtmäßig) erfolgende Namensgebung in den anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen sein – eine Konsequenz, die das internationale Namensrecht einiger Mitgliedstaaten aus den Angeln hebt und im Widerspruch zu bestehenden völkerrechtlichen Abkommen steht. Man wird kaum umhinkommen, die Erstreckung der Art. 17 und Art. 18 Abs. 1 EG auf das internationale Namensrecht mit diesen Folgen als einen Vorschlag zur Rechtsfortbildung zu qualifizieren. In der Sache Leffler geht es um Art. 8 Abs. 1 VO Nr. 1348/2000,46 wonach bei einer grenzüberschreitenden Zustellung der Empfänger ein Annahmeverweigerungsrecht hat, wenn das Schriftstück nicht in der Amtssprache des Empfängerstaates oder einer dem Empfänger verständlichen Sprache abgefaßt ist. Die Regelung trifft keine Bestimmung über die Rechtsfolgen. Obwohl die Sprachenregelung zwischen den Mitgliedstaaten streitig gewesen ist und in dem Verfahren unbestritten vorgetragen wurde, daß eine Rechtsfolgenregelung bewußt nicht getroffen worden ist, argumentiert Generalanwältin Stix-Hackl, daß diese ungeregelte Frage nicht etwa – wie bisher – dem nationalen Recht überlassen bleiben, sondern, weil eine einheitliche Regelung wünschenswert sei, durch eine gemeinschaftsautonome „Auslegung“ gelöst werden soll: 47 Rechtsfortbildung als „Auslegung“.

Von daher liegt es nahe anzunehmen, daß die oben zitierten Stellungnahmen auch dazu dienen (sollen), die (auch) rechtsfortbildende Funktion der Judikate des Gerichtshofs zu verschleiern, um einem denkbaren Konflikt mit den Mitgliedstaaten über die legitime Rolle des Gerichtshofs im System der Institutionen der Gemeinschaft aus dem Wege zu gehen. Wie auch immer diese Rolle des Gerichtshofs bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts einzuschätzen ist, so sollte doch eines klar sein: Für das Gebot der richtlinienkonformen „Auslegung“ gilt, daß dieses Gebot nicht auf ein „Auslegungs“-Verständnis verweist, wie es im Umgang mit dem Gemeinschaftsrecht von den Gemeinschaftsgerichten praktiziert wird. Vielmehr geht es um eine von Art. 249 Abs. 3 EG gesteuerte Aufgabe für die nationalen Gerichte, nämlich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Instrumenten das nationale Recht in Übereinstimmung mit den europäischen Vorgaben zu bringen. Im Schrifttum wird deshalb zu Recht vorgeschlagen, statt von einem Gebot richtlinienkonformer Auslegung von einem Gebot richtlinienkonformer Rechtsfindung zu sprechen.48

46 Verordnung Nr. 1348/2000 des Rates v. 29.5.2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten, ABl. 2000 Nr. L 160/37. 47 GA Stix-Hackl, Schlußanträge v. 28.6.2005 – Rs. C-443/03 Götz Leffler, (noch nicht in Slg.) Tz. 62 ff. 48 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 50.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

7.

Methodische Vorgaben für die nationalen Gerichte

Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung auf der Grundlage des Art. 249 Abs. 3 EG und im Hinblick auf den Grundsatz der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts 49 eine Reihe von Vorgaben methodischer Art entwickelt, an die sich der nationale Richter bei der Auslegung und Anwendung seines nationalen Rechts zu halten hat. a)

„So weit wie möglich“

Seit dem Urteil von Colson wird der nationale Richter dazu angehalten, die richtlinienkonforme Auslegung bzw. Rechtsfindung „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums“, den das nationale Recht einräumt,50 zu praktizieren. Damit wird zunächst auf das nationale Recht mit den darin entwickelten und anerkannten Auslegungsmethoden verwiesen. Freilich bleibt es nicht bei dieser Verweisung auf das nationale Recht. Seit dem Urteil Marleasing 51 wird die Zielrichtung für die volle Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums dahingehend umschrieben, daß es darum gehen müsse, die Auslegung des nationalen Rechts „soweit wie möglich“ am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten.52 Die richtlinienkonforme Auslegung gewinnt hier die Bedeutung einer Vorzugsregel,53 wonach einer im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethode gegenüber einer anderen der Vorrang einzuräumen ist, wenn und soweit dies dem Ziel der Richtlinie dient.54 b)

Umsetzungsgesetzgebung

Im Urteil Wagner Miret 55 – und erneut in der Rechtssache Pfeiffer 56 – formuliert der Gerichtshof eine gemeinschaftsrechtliche Vorgabe speziell für die Auslegung solcher innerstaatlicher Vorschriften, die zur Umsetzung der Richtlinie erlassen wurden und dem Einzelnen Rechte verleihen sollen. In einer solchen Konstellation habe, so der Gerichtshof, „[d]as Gericht […] in Anbetracht des Artikels 249 Absatz 3 EG davon auszugehen, daß der Staat, wenn er von dem ihm durch die (Richtlinien-) Bestimmung eingeräumten Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht hat, die Absicht hatte, den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen“.57 49 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114. 50 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 28. 51 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8. An das Urteil Marleasing knüpft sich eine intensive Diskussion der Frage, ob die richtlinienkonforme Auslegung auch zu einer Auslegung contra legem zwingen könne; s. etwa Prechal, Directives in European Community Law, S. 227 f. 52 So die st. Rspr.; z.B. EuGH v. 27.6.2000 – Rs. C-240/98 und C-244/98 Océano Grupo Editorial SA, Slg. 2000, I-494 Rn. 30; EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Mau, Slg. 2003, I-4791 Rn. 36. 53 Dazu auch Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 616. 54 In diesem Sinn wird man die Aussage in EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier AB, Slg. 2004, I-5791 Rn. 13, deuten müssen, wonach das nationale Gericht im Hinblick auf das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung entgegenstehende Auslegungshinweise, die sich aus den vorbereitenden Arbeiten zu der nationalen Regelung ergeben, zu ignorieren habe. 55 EuGH v. 16.12.1993 – Rs. C-334/92 Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911 Rn. 20. 56 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 ff. 57 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112.

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§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung

Die Tragweite dieser Aussage wird deutlich, wenn man sie in Zusammenhang sieht mit einer eher beiläufigen Stellungnahme zum Verhältnis richtlinienkonformer und historischer Auslegung im Urteil Björnekulla Fruktindustrier AB, wo es an der einschlägigen Stelle heißt: Eine richtlinienkonforme Auslegung sei vorzunehmen „und zwar ungeachtet entgegenstehender Auslegungshinweise, die sich aus den vorbereitenden Arbeiten zu der nationalen Regelung ergeben könnten“.58 Hiermit wird die für das nationale Recht diskutierte Frage, ob und inwieweit auf den Willen des Gesetzgebers, die Richtlinie umzusetzen, zurückzugreifen ist,59 durch das Gemeinschaftsrecht überlagert bzw. eingefärbt: Der Wille des Gesetzgebers, die Richtlinie umzusetzen, ist für das nationale Gericht als Auslegungstopos nicht nur relevant; vielmehr soll der nationale Richter bei der Auslegung des Umsetzungsrechts davon ausgehen, daß der Gesetzgeber den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen „in vollem Umfang“ nachkommen wollte. Damit wird eine wichtige Vorgabe für die Auslegung (bzw. Fortbildung) des Umsetzungsrechts festgeschrieben: 60 Die konkrete Zwecksetzung des Gesetzgebers hat hinter seinem zu vermutenden Willen, richtlinienkonform umzusetzen, zurückzutreten – dies zumindest immer dann, solange nicht Hinweise dafür vorliegen, daß der Gesetzgeber eine richtlinienwidrige Lösung (bewußt) verfolgt hat. c)

Methodische Gleichbehandlung

Der für die Behandlung des Gemeinschaftsrechts in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelte Gleichbehandlungsgrundsatz 61 steuert den Auslegungsbzw. Rechtsfindungsvorgang durch das nationale Gericht: Der nationale Richter hat, um richtlinienkonforme Ergebnisse zu erreichen, sich desselben methodischen Instrumentariums zu bedienen, das ihm bei der Entscheidung von Fällen im Rahmen des autonomen nationalen Rechts zur Verfügung steht. Wenn und soweit dem Richter die teleologische Extension oder Reduktion und die Analogie im Umgang mit autonomem nationalen Recht zur Hand sind, muß er diese Instrumente auch zum Zwecke richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts einsetzen, um dem Vorwurf einer Diskriminierung des Gemeinschaftsrechts zu entgehen. Im Urteil Pfeiffer geht der Gerichtshof sogar noch einen Schritt weiter. Dort heißt es – soweit ersichtlich zum ersten Mal –, daß das nationale Gericht, soweit unüberbrückbare Divergenzen zwischen den Richtlinienvorgaben und dem nationalen Recht existieren, solche Kollisionen zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht in entsprechender Weise aufzulösen hat wie Normenkollisionen im Rahmen des

58 EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier AB, Slg. 2004, I-5791 Rn. 13. 59 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 77. 60 Man mag sich freilich fragen, woraus der Gerichtshof seine Anforderungen an die Auslegung hier ableitet. 61 Aus der Rspr. z.B. EuGH v. 14.12.1995 – Rs. C-430/93 und C-431/93 van Schijndel, Slg. 1995, I-4705 Rn. 13; EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draempaehl, Slg. 1997, I-2195 Rn. 28 – 30; EuGH v. 3.5.2005 – Rs. C-387/02, C-391/02, C-403/02 Berlusconi, Slg. 2005, I-3565 Rn. 65 (Gleichbehandlung bei Sanktionen); EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 X, Slg. 2004, I-651 Rn. 67.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

nationalen Rechts.62 Bemerkenswert ist hieran vor allem, daß damit der richtlinienkonformen Auslegung ein erweitertes Anwendungsfeld erschlossen wird: Diese Vorgabe macht eine Besinnung auf die im nationalen Recht verankerten Methoden der Vermeidung von Normenkollisionen durch restriktive Auslegung oder gar Nichtanwendung einer Norm erforderlich. Erneut geht es hier nicht um den Vorrang des Gemeinschaftsrechts, sondern um seine Gleichbehandlung mit dem nationalen Recht. Dabei werden Richtlinienrecht und nationales Recht auf eine Stufe gestellt und bei Widersprüchen auf die nationalen Regeln über die Auflösung von Normenkollisionen verwiesen. In der Rechtssache Pupino formuliert der Gerichtshof – unter entsprechender Wiederholung der Aussage in Pfeiffer, wonach das nationale Gericht gegebenenfalls das gesamte nationale Recht berücksichtigen muß, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, daß es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt 63 – im Hinblick auf einen Rahmenbeschluß nach Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU anscheinend zurückhaltender: Es heißt hier, daß „die Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen Rechts den Inhalt des Rahmenbeschlusses heranzuziehen, endet, wenn diese(r) nicht so angewandt werden kann (können), daß ein Ergebnis erzielt wird, das mit dem durch den Rahmenbeschluß angestrebten Ergebnis vereinbar ist“.64

Von der Behandlung des Konflikts zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht nach Art der Lösung von Normenkollisionen im innerstaatlichen Recht ist hier nicht (mehr) die Rede. Stattdessen wird als Grenze der Auslegung markiert, daß „der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung nicht zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts führen“ dürfe.65 Diese Aussage scheint auf den ersten Blick einen Rückzug von Pfeiffer zu signalisieren. Doch wird man – auf den zweiten Blick – vorsichtiger urteilen müssen. Denn der deutsche Urteilstext formuliert zumindest mißverständlich: Daß das Gemeinschaftsrecht einer contra legem Auslegung durch das nationale Recht entgegenstehen soll, vermag ohne nähere Begründung kaum zu überzeugen. Der Sache näher kommt deshalb auch die englische Version, wenn es dort heißt, daß die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung „cannot serve as the basis for an interpretation of national law contra legem“.66 Das heißt: Das Gemeinschaftsrecht zwingt den nationalen Richter nicht zu einer contra legem-Auslegung, sondern überläßt die Zulässigkeit einer solchen ganz dem nationalen Recht. Vom Urteil Pupino unberührt bleiben damit die in Pfeiffer getroffenen Aussagen zur

62 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116. Gleichsinnig für eine durch das nationale Recht anerkannte contra legem Auslegung: Timmermans, Community Directives Revisited, Yearbook of European Law 17, S. 23. 63 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 115. 64 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, NJW 2005, 2839 Rn. 47. Die deutsche Übersetzung ist nicht geglückt. 65 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, NJW 2005, 2839 Rn. 47. 66 Kursiv von mir. In der französischen Fassung heißt es gleichsinnig „(…) l’interprétation conforme ne peut servir de fondement (…)“.

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§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung

Anwendung der nationalen Auslegungsmethoden zur Lösung von Normkollisionen: soweit solche Methoden im nationalen Recht existieren, sind sie auch anzuwenden, wenn es um die Beachtung und Anwendung von Richtlinien geht. Die zurückhaltende Deutung der Reichweite des Gebots der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung in Pupino findet seine Erklärung auch im unterschiedlichen rechtlichen Umfeld, in dem das Problem angesiedelt ist: Der Rahmenbeschluß i.S.v. Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU ist eine unionsrechtliche Handlungsform im Bereich der „dritten Säule“ und damit von den Mitgliedstaaten bewußt dem Völkerrecht zugeordnet.67 Auch wenn der Gerichtshof das Unionsrecht als Gemeinschaftsrecht qualifiziert und von einer „gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung“ spricht, bleibt der Unterschied zwischen dem Richtlinienrecht als supranationalem Recht und dem Unionsrecht für Zwecke der Reichweite der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung von Bedeutung: Die für die Behandlung von Normenkollisionen im nationalen Recht entwickelten (Auslegungs-) Grundsätze sind für Konflikte des nationalen Rechts mit Richtlinienrecht, nicht aber mit Rahmenbeschlüssen des Unionsrechts anzuwenden.

8.

Schranken einer richtlinienkonformen Auslegung

a)

Allgemeine Rechtsgrundsätze

Das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung setzt für den nationalen Richter voraus, daß er sich des Inhalts und der Tragweite der Richtlinienvorgaben vergewissert, also die Richtlinie nach den für das Gemeinschaftsrecht geltenden Auslegungsgrundsätzen interpretiert (dazu § 8). Bei der Umsetzung einer Richtlinie durch den nationalen Gesetzgeber wie auch bei der richtlinienkonformen Interpretation sind zur Ermittlung der Vorgaben und der Tragweite der Richtlinie die im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze (insbesondere die Grundrechte) mit heranzuziehen,68 in deren Rahmen sich sekundäres Gemeinschaftsrecht bewegen und in deren Licht es interpretiert werden muß (dazu § 6). b)

Richtlinienkonforme Auslegung auch zu Lasten des Einzelnen?

Während der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen im Verhältnis des Einzelnen zum Staat eine Grenze dann gezogen ist, wenn die Anwendung zu Lasten des Einzelnen geht,69 besteht eine solche Schranke für die richtlinienkonforme Auslegung im Bereich strafrechtlicher Regelungen.70 Für den Bereich des Privatrechts gibt es solche Schranken nicht: Die richtlinienkonforme Auslegung

67 So ausdrücklich jüngst BVerfG 18.7.2005 (2 BvR 2236/04) unter I. 1. c. bb (Europäischer Haftbefehl), NJW 2005, 2289, 2291 f. 68 Zuletzt EuGH v. 3.5.2005 – Rs. C-387/02, C-391/02, C-403/02 Berlusconi, Slg. 2005, I-3565 Rn. 66 ff. 69 S. Nachweise in Fn. 35 sowie EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 48; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 20 u.ö. 70 S. etwa EuGH v. 26.9.1996 – Rs. C-168/95 Arcaro, Slg. 1996, I-4705 Rn. 37; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 X, Slg. 2004, I-651 Rn. 61; EuGH v. 3.5.2005 – Rs. C-387/02, C-391/02, C-403/02 Berlusconi, Slg. 2005, I-3565 Rn. 74; s. a. EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, NJW 2005, 2839 Rn. 45.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

einer zivilrechtlichen Bestimmung geht immer auch zu Lasten einer am konkreten Verfahren beteiligten Partei. Darauf basiert – wie selbstverständlich – die bisherige Judikatur des Gerichtshofs.71 Insoweit geht auch der Anwendungsbereich der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts in privatrechtlichen Beziehungen, an denen der Staat oder öffentliche Unternehmen beteiligt sind, über die Konstellationen, in denen Richtlinienbestimmungen unmittelbare Anwendbarkeit zukommt (nämlich nur zugunsten des Einzelnen), hinaus. c)

Schranken des nationalen (Verfassungs-) Rechts

In ständiger Rechtsprechung anerkennt der Gerichtshof aus dem Recht der Mitgliedstaaten erwachsende Begrenzungen bzw. Schranken für eine richtlinienkonforme Auslegung bzw. Rechtsfindung, wenn er formuliert, Art. 249 Abs. 3 EG geböte den mitgliedstaatlichen Gerichten, die Auslegung (nur) „so weit wie möglich“ am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten.72 Mit dieser so gefaßten Einschränkung korrespondiert die Formulierung, das nationale Gericht hätte „im Rahmen seiner Zuständigkeit“ 73 die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Damit wird auf eine aus dem innerstaatlichen Recht resultierende Schranke verwiesen, die aus der – evtl. vom Verfassungsrecht geprägten – Rollenverteilung zwischen Gesetzgeber und Judikative erwachsen oder in der tradierten nationalen Methodenlehre, die die Grenzen der Auslegung und/oder Rechtsfortbildung markiert, verankert sein kann. Darauf ist im folgenden einzugehen. Auf diese Schranke wird im Urteil Pupino Bezug genommen, wenn der Gerichtshof im Hinblick auf einen Rahmenbeschluß nach Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU betont, daß das Gebot der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nicht als Basis für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen könne.74

II.

Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht

1.

Richtlinienkonforme Auslegung kraft nationalen Rechts

a)

Wille des deutschen Gesetzgebers

Neben der aus dem Gemeinschaftsrecht fließenden Verpflichtung kann das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung für die deutschen Gerichte zusätzlich auch aus dem deutschen Recht abgeleitet werden.75 Eine tragende Grundlage dafür kann

71 Zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835. 72 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 5.5.1994 – C-421/92 Habermann-Beltermann, Slg. 1994, I-1657 Rn. 10; EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. 73 Zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114. 74 Vgl. oben im Text bei Fn. 63 – 66. 75 So vor allem Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 303 ff.; zustimmend Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 51.

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§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung

man vor allem im Willen des Gesetzgebers sehen,76 wenn er zur Erfüllung seiner Umsetzungspflicht tätig geworden ist. Diese auf den Willen des Gesetzgebers gestützte richtlinienkonforme Auslegung kraft nationalen Rechts unterscheidet sich in ihrer Tragweite von der aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleiteten Pflicht vor allem in zwei Richtungen: (1) Sie geht einerseits über das gemeinschaftsrechtliche Gebot der richtlinienkonforme Auslegung hinaus, weil sie nicht erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie eingreift, sondern schon mit dem Erlaß des Umsetzungsgesetzes vor Ablauf der Umsetzungsfrist.77 (2) Sie bleibt andererseits hinter der richtlinienkonformen Auslegung kraft Gemeinschaftsrechts insoweit zurück, als sie nicht die vor Erlaß der entsprechenden Richtlinie erlassenen nationalen Rechtsnormen erfassen kann.78 Im Übrigen läßt sich auf der Grundlage nationalen Rechts eine unvollkommene, insbesondere unvollständige (und erst recht eine noch gar nicht erfolgte) Umsetzungsgesetzgebung nur schwer unter Berufung auf den Willen des Gesetzgebers korrigieren.79 b)

Art. 20 Abs. 3 GG

Ein anderer Begründungsansatz für eine richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung kraft nationalen Rechts findet sich in Art. 20 Abs. 3 GG, wonach der Richter an „Gesetz und Recht“ gebunden ist.80 Der Bezug auf „Gesetz und Recht“ bindet den Richter nicht nur an die geltenden methodischen Standards 81 bei der Auslegung 82 und Fortbildung des deutschen (Gesetzes-) Rechts,83 sondern nimmt das Gemeinschaftsrecht mit in die Bindung auf. Dabei sind die deutschen Gerichte über Art. 20 Abs. 3 GG nicht nur an das unmittelbar anwendbare (primäre und sekundäre) Gemeinschaftsrecht gebunden, sondern ebenfalls an das Richtlinienrecht: Der Umstand, daß im Zivilverfahren die Parteien ihren Anspruch mangels unmittelbarer Anwendbarkeit nicht (allein) auf eine Richtlinienbestimmung stützen können, steht der Bindung der Gerichte nicht entgegen. Aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Gebotes der richtlinienkonformen Auslegung 84 zählen die Richtlinien 76 Der Gerichtshof hat in der Rechtssache Pfeiffer für die richtlinienkonforme Auslegung des Umsetzungsrechts sogar eine gemeinschaftsrechtliche Auslegungsvorgabe dahingehend formuliert, daß das nationale Gericht in dieser Konstellation davon auszugehen hat, daß der Staat, wenn er von dem durch Art. 249 Abs. 3 EG eingeräumten Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht hat, „die Absicht hatte, den sich aus der betreffenden Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen“; EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112. S. oben im Text bei Fn. 60. 77 Canaris, FS Bydlinski, S. 51; Wiedmann/Gebauer-Gebauer, Kap. 3 Rn. 30. 78 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 79; Canaris, FS Bydlinski, S. 50 f. 79 Im Ergebnis ebenso Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 81. 80 Canaris, FS Bydlinski, S. 83 f., zur Begründung der Annahme einer Gesetzeslücke bei unvollkommener Richtlinienumsetzung. 81 BVerfG, NJW 2004, 3407, 3411. 82 Zur Auslegung zivilrechtlicher Normen durch das Bundesverfassungsgericht zuletzt BVerfG, NJW 2005, 1561, 1566. 83 Einen Überblick über die Rechtsprechung des BVerfG bietet Bleckmann, JuS 2002, 942. 84 Das BVerfG hat eine Bindung der deutschen Gerichte an die EMRK unter Hinweis auf Art. 20 Abs. 3 GG begründet; BVerfG, NJW 2004, 3407, 3410. Die EMRK ist durch ein Transformationsgesetz in deutschen Recht überführt; insoweit beziehen sich die Aussagen auf eine mittelbare Bin-

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2. Teil: Allgemeiner Teil

zu den von den deutschen Gerichten zu beachtenden „Gesetzen“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG.85

2.

Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden

Das Institut der richtlinienkonformen Auslegung ist – zumindest auch – in die klassischen Auslegungscanones des deutschen Rechts 86 integriert.87 Dies ist kurz zu erläutern. Im Rahmen der historischen Auslegung sind – jedenfalls bei zeitlich noch nicht weit zurückliegenden Regelungen – die Regelungsabsichten des Gesetzgebers 88 – und damit die Absicht der Umsetzung einer Richtlinie 89 – von Belang. Für die teleologische Auslegung muß der Zweck des Gesetzes, eine Richtlinienvorgabe umzusetzen, eine entscheidende Rolle spielen, geht es hier doch nicht um eine autonom getroffene Entscheidung des Gesetzgebers, sondern um die Erfüllung einer aus dem Gemeinschaftsrecht stammenden Pflicht. Schließlich ist für die grammatikalische Auslegung daran zu erinnern, daß der deutsche Gesetzgeber sich in der Umsetzungsregelung möglicherweise nicht mehr in den Traditionen nationaler Begrifflichkeit bewegen will, sondern einen Begriff des Gemeinschaftsrechts eins zu eins, also deckungsgleich in das nationale Recht einführen und damit zu einer Auslegung zwingen will, die auf die autonome Begrifflichkeit des Gemeinschaftsrechts zurückgreift.90 Aber auch für überkommenes und vom Gesetzgeber nach Erlaß der Richtlinie unverändert gelassenes Recht gilt, daß seine Auslegung von den Vorgaben der Richtlinie beeinflußt werden kann, ist doch allgemein anerkannt, daß sich die Auslegung von Normen durch die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, aber auch des rechtlichen Umfeldes 91 wandeln kann.

dungswirkung an die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Richtlinien bedürfen, um eine Geltung und damit Bindung für die deutschen Gerichte zu entfalten, keiner Umsetzung in deutsches Gesetzesrecht. 85 A.A. offenbar Jarass/Pieroth-Jarass, Art. 20 GG Rn. 38 (nur Bindung an unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht); Sachs-Sachs, Art. 20 GG Rn. 65. Die hier vertretene Sicht auf Art. 20 Abs. 3 GG geht Hand in Hand mit der Judikatur des BVerfG, wonach ein Entzug des „gesetzlichen Richters“ gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gegeben sein kann, wenn ein deutsches letztinstanzliches Gericht seiner Vorlageverpflichtung aus Art. 234 Abs. 3 EG nicht nachkommt; vgl. BVerfG, EuZW 2001, 255. Für die Auslegung von Richtlinien setzt dies eine Bindung des deutschen Gerichts an die Richtlinie als „Gesetz“ voraus. 86 Dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 428 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 312 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 133 ff. 87 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 590; anders Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 259 f. (zweistufige Auslegung einerseits; Ausnahmen dazu andererseits). 88 BVerfGE 54, 277, 297 („erhebliches Gewicht“). 89 Als Beispiel jüngst BGH, NJW 2005, 53, 54 f. 90 W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 875. Zum Grundsatz der gemeinschaftsautonomen Auslegung, gestützt auf die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts und den Gleichheitssatz, zuletzt etwa EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 29. Zu diesem Urteil Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97. 91 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 170 ff., sprechen insoweit von einem Wandel der Normsituation.

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§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung

3.

Die richtlinienkonforme Auslegung als Vorzugsregel

Führen die klassischen Auslegungscanones trotz der gerade angedeuteten Einbeziehung des Umsetzungszwecks in die Auslegung zu unterschiedlichen Ergebnissen,92 ist nicht erst aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Gebots zur richtlinienkonformen Auslegung, sondern schon aufgrund der besonderen Zwecksetzung der Umsetzungsgesetzgebung vom Vorrang derjenigen Auslegungsmethode auszugehen, die zu einem richtlinienkonformen Ergebnis führt.93 Eine solche Vorzugsregel kraft nationalen Rechts 94 findet ihre Parallele in der Rechtsprechung des BVerfG zur völkervertragskonformen Auslegung. Zur Umsetzung der EMRK in das deutsche Recht heißt es in einem jüngsten Beschluß: „Soweit im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben“.95

Als Grenze für eine solche völkervertragkonforme Auslegung wird der Fall angedeutet, daß die Auslegung zu einem Verstoß gegen „eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht“ führen würde.96 Die hier für die völkervertragskonforme Auslegung gefundene Lösung ist schon kraft nationalen Rechts ohne weiteres auf die Umsetzung von Richtlinienrecht zu übertragen. Daß das Gemeinschaftsrecht im übrigen zu einer solchen Vorzugsregel zwingt, ist oben bereits gezeigt worden: 97 Da Art. 20 Abs. 3 GG in der hier vertretenen Auslegung die deutschen Gerichte auch an das Richtlinienrecht und an die Verpflichtung richtlinienkonformer Auslegung nach Art. 249 Abs. 3 EG bindet, liegt insoweit ein Gleichlauf zwischen der gemeinschaftsrechtlichen Vorzugsregel und der Vorzugsregel kraft nationalen Rechts vor.

4.

Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen im nationalen Recht

Die richtlinienkonforme Auslegung stößt auf eine erste – jedoch nicht unüberwindbare – Grenze, wenn die Auslegung des nationalen Rechts ihrerseits auf Schranken stößt. Als eine solche Schranke für die Auslegung wird allgemein der mögliche Wort-

92 In der Rechtsprechung wird vielfach die richtlinienkonforme Auslegung als zusätzliche Auslegungsmethode verwendet, um ein bereits erreichtes Ergebnis zu bekräftigen (z. B. BGH, NJW 2005, 418, 420) oder wenigstens nicht in Frage zu stellen (BGH, ZIP 2005, 357, 358). 93 Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 34. 94 Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 616; in der Sache auch M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 591. 95 BVerfG, NJW 2004, 3407, 3411. 96 Dies gilt erst recht, wenn es zu einem Verstoß gegen Verfassungsrecht käme. Andererseits ist das Grundgesetz im Lichte der EMRK (und der Rechtsprechung des EGMR) völkervertragskonform auszulegen; BVerfG, NJW 2005, 1765, 1766. 97 S. oben im Text bei Fn. 53 sowie Lutter, JZ 1992, 593, 604.

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sinn angesehen.98 Nach der Rechtsprechung des BVerfG darf im Wege der Auslegung einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigem Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt, das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden.99 Oder positiv formuliert: Ist der Wortlaut klar und eindeutig, ist der Rückgriff auf andere Auslegungsmethoden gesperrt.100 Freilich sind damit noch keine endgültigen Schranken erreicht, ist doch die Rechtsfortbildung – als Fortsetzung der Auslegung (im engeren Sinne) – in der deutschen Rechtspraxis allgemein anerkannt.101 Kann sich die richtlinienkonforme Auslegung innerhalb der Grenzen des Wortsinns bewegen, so hat sie auch dann zu erfolgen, wenn der Gesetzgeber richtlinienwidrig umsetzen wollte.102 Die historische Auslegung hat der Wortlautauslegung im Lichte der Richtlinienkonformität als Vorzugsregel zu weichen.

5.

Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung

Das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet (kraft Gemeinschaftsrechts) den nationalen Richter dazu, den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum „soweit wie möglich“ auszuschöpfen.103 Damit wird auf die nationale Methodik der Rechtsfortbildung und den ihr durch das nationale Recht gesetzten Schranken verwiesen. Die Konsequenzen des Gebots richtlinienkonformer Auslegung können insoweit nur für jede nationale Rechtsordnung gesondert festgestellt werden.104 Für die deutschen Gerichte bedeutet dies, daß sie sich jenseits nicht mehr zulässiger Auslegung der für das deutsche Recht anerkannten Methoden der Rechtsfortbildung bedienen müssen, soweit diese (verfassungsrechtlich) zulässig sind.105 a)

Grundlage: Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3 GG

Die Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung 106 ist in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannt. Diese Befugnis ist gegeben, wenn das geltende Recht (innere) Regelungslücken aufweist,107 aufgrund der Änderung der wirtschaftlichen oder gesell98 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 467 f. 99 So wörtlich: BVerfGE 54, 277, 299 m.w.N. aus der Rspr.; BVerfGE 71, 81, 105. 100 BVerfGE 63, 131, 148; BVerfGE 67, 369, 380 f.; BVerfGE 69, 92, 104 f.; BVerfGE 69, 209, 219; BVerfGE 71, 81, 105 (jeweils zu den Schranken verfassungskonformer Interpretation). 101 So ausdrücklich Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 241ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 472 ff.; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, § 11; Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 11. 102 Zutreffend Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 51f. 103 S. oben Text bei Fn. 50 ff. 104 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 451. 105 Dieser Ansatz kommt etwa bei Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 53 zu kurz. 106 Zu den rechtsfortbildenden Aufgaben der höchsten Gerichte und deren Grundlage und Absicherung im Verfahrensrecht s. eingehend Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung. 107 BVerfGE 69, 315, 371f.; BVerfGE 87, 273, 280; BVerfGE 88, 145, 167; BVerfGE 98, 49, 59 f.

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§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung

schaftlichen Verhältnisse ein Anpassungsbedarf entsteht 108 oder aber die gesetzlichen Vorgaben sich als unzureichend erweisen.109 Während für den Bereich des Strafrechts und des Eingriffsrechts eine Rechtsfortbildung zu Lasten des Bürgers ausgeschlossen und eine Verkürzung von Rechtspositionen gegen der Wortlaut der Norm unzulässig ist,110 sind die verfassungsrechtlichen Schranken für die Rechtsfortbildung im übrigen noch nicht recht ausgelotet. Als Grenze der Rechtsfortbildung gilt der im Wortlaut und Sinn einer Norm eindeutig zum Ausdruck gelangende Wille des Gesetzgebers 111 wie auch ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz.112 Mit Blick auf die Verpflichtung zu richtlinienkonformer Auslegung sind indessen die Befugnisse der deutschen Gerichte zur Rechtsfortbildung – und die ihr hier gezogenen Schranken – noch nicht ausgelotet. Immerhin ist als Grundlage für eine Rechtsfortbildung (nach hier vertretender Ansicht) Art. 20 Abs. 3 GG anzusehen, wonach die Richtlinien des Gemeinschaftsrechts als „Gesetz bzw. Recht“ von den Gerichten zu beachten und anzuwenden sind. Die vom Gemeinschaftsrecht anerkannte, vom deutschen Recht markierte Grenze der Rechtsfortbildung ist damit aus der Perspektive des Art. 20 Abs. 3 GG zu bestimmen. Hierbei geht es um zweierlei: Mit der Bindung des Richters an „Gesetz und Recht“ i.S.d. Art. 20 Abs. 3 GG wird einerseits eine Bindung der Judikative an die Vorgaben der Legislative dergestalt markiert, daß eine Korrektur der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidungen durch die Gerichte aus (bloß) rechtspolitischen Überlegungen nicht in Betracht kommen kann.113 Andererseits lockert Art. 20 Abs. 3 GG die richterliche Bindung an das Gesetz, soweit mit dem Verweis auf das „Recht“ die allgemeinen rechtlichen Prinzipien in Bezug genommen werden. Die in Art. 20 Abs. 3 GG angeordnete Bindung an „Gesetz und Recht“ verweist den Richter damit auf die Maßstäbe der Gesamtrechtsordnung einschließlich des Gemeinschaftsrechts.114 b)

Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung?

Die Befugnis zur Rechtsfortbildung wird nach hergebrachter,115 aber keineswegs unbestrittener 116 Ansicht an die Existenz einer Regelungs- (Gesetzes-) oder Rechtslücke geknüpft. Freilich macht diese Voraussetzung nur dort Sinn, wo der Gesetz-

108 BVerfGE 82, 6, 12. 109 BVerfGE 84, 212, 226; BVerfGE 88, 103, 116. 110 BVerfGE 69, 315, 372. 111 BVerfGE 59, 330, 334; BVerfGE 71, 81, 105; s. i.ü. BVerfGE 87, 273, 280. 112 BVerfGE 71, 354, 362. 113 Canaris, FS Bydlinski, S. 83 („externe Maßstäbe“). 114 Canaris, FS Bydlinski, S. 84; vgl. auch Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 45. 115 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 370 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 191ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 472 ff. Das BVerfG hat Rechtsfortbildung in Bindung an Art. 20 Abs. 3 GG für den Fall einer Regelungslücke akzeptiert (z.B. BVerfGE 69, 315, 371; BVerfGE 87, 273, 280; BVerfGE 88, 145, 167; BVerfGE 98, 49, 59), aber nicht auf diesen Fall beschränkt. 116 Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Rn. 461ff.; ders., Einführung in die Juristische Methodenlehre, Rn. 208 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 254; weitere Nachweise z.B. bei Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 152 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

geber für einen bestimmten Bereich eine (einigermaßen) vollständige Regelung angestrebt und verwirklicht hat.117 Eine „Lücke“ setzt insoweit eine planwidrige Unvollständigkeit voraus.118 Wo hingegen der Gesetzgeber ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder gar nicht tätig geworden ist, überläßt er – wie etwa im Arbeitsrecht – die Rechtsfindung der Judikative. Von einer „Lücke“ zu sprechen macht hier ebenso wenig Sinn wie in den Fällen, in denen Gesetzgebung einem Alterungsprozeß unterworfen ist.119 Hier sind die Gerichte zur Rechtsfortbildung nicht nur (gem. Art. 20 Abs. 3 GG) berechtigt, sondern ggf. sogar verpflichtet.120 Die Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung ist bei näherem Zusehen denn auch nicht (nur) als Interpretationsproblem, sondern vor allem als ein (verfassungsrechtliches) Problem der Rollenverteilung von Legislative und Judikative bei der Weiterentwicklung und Modernisierung des Rechts unter der Herrschaft des Art. 20 Abs. 3 GG zu begreifen.121 In dieser Perspektive ergibt sich die Legitimation der Gerichte zu rechtsfortbildender Richtlinienumsetzung, solange der Gesetzgeber nicht tätig geworden ist, ohne weiteres aus dem Umstand, daß sich mit dem Richtlinienerlaß das rechtliche Umfeld für das nationale Recht geändert hat 122 und dieses insoweit der Anpassung bedarf. Hat der Gesetzgeber vor Erlaß der Richtlinie eine flächendeckende Regelung geschaffen und stößt eine bloße Auslegung im Lichte der Richtlinienzwecke auf Grenzen, stellt der Erlaß der Richtlinie die Legitimationsbasis für eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung dar.123 Wer eine Lücke als Voraussetzung jeglicher Rechtsfortbildung verlangt, wird hier eine Lücke im weiteren Sinn annehmen können: Sie ergibt sich aus den Erfordernissen der Gesamtrechtsordnung,124 die auf eine Anpassung des nationalen Rechts an die Vorgaben der Richtlinie drängen.125 Anders ist die Lage, wenn der Gesetzgeber nach Erlaß der Richtlinie durch ihre Umsetzung (mehr oder weniger flächendeckend) tätig geworden ist. Hier ist die Rollenverteilung zwischen Legislative und Judikative eine andere: Dem Lückenbegriff

117 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 192. 118 Eine solche planwidrige Unvollständigkeit ist auf der Grundlage des Gesetzeszwecks zu ermitteln: Es geht um das Fehlen einer nach dem Gesetzeszweck zu erwartenden Regel; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 196. Ähnlich auch BVerfGE 82, 6, 13: Es wird „aus den Wertungen des Gesetzes entnommen, ob eine Lücke besteht (…)“. 119 BVerfGE 98, 49, 59 f. Für diesen Fall verwendet BVerfGE 82, 6, 12, auch die Lückenterminologie. Zum Alterungsproblem i.ü. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 148 ff. 120 BVerfGE 82, 6, 13. Zur Bindung an Art. 20 Abs. 3 GG s. BVerfGE 69, 315, 372. 121 Zutreffend Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, S. 57 ff. 122 Zur Änderung des rechtlichen Umfelds s. BVerfGE 82, 6, 12. 123 Zu deren Voraussetzungen und Schranken im übrigen Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 245 ff. Zu kurz greift insoweit die These, das deutsche Recht lasse ein contra legem Judizieren nicht zu; so aber Unberath, ZEuP 2005, 6 f. Siehe unten im Text unter d) und e). 124 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 246. 125 Das Bundesverfassungsgericht hat die Grenzen der Rechtsfortbildung durch Analogie dahingehend umschrieben, daß die Analogie sich nicht als Äußerung unzulässiger richterlicher Eigenmacht, durch die der erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseite geschoben werde, darstellen dürfe; BVerfGE 82, 6, 12. Zur Zulässigkeit der Rechtsfortbildung praeter legem BVerfGE 88, 145, 167.

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§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung

muß hier die Aufgabe zugeschrieben werden, die Entscheidungen des Gesetzgebers vor einer unzulässigen Korrektur aus rechtspolitischen Gründen durch die Judikative abzuschirmen.126 Aber auch hier entsteht ein Bedürfnis nach Rechtsfortbildung, wenn der Gesetzgeber – unbewußt – die Regelungszwecke der Richtlinie verfehlt oder hinter ihnen zurückbleibt. In solchen Konstellationen wird man die für eine Rechtsfortbildung vorauszusetzende „Lücke“ vor dem Hintergrund des Art. 20 Abs. 3 GG darin sehen müssen, daß das Umsetzungsgesetz hinter der Richtlinie zurück bleibt.127 Die für die Rechtsfortbildung notwendige Legitimation 128 des Richters liegt in der Bindung des Gerichts an „Gesetz und Recht“ i.S.d. Art. 20 Abs. 3 GG und damit an die Vorgaben der Richtlinie.129 c)

Die Instrumente der Rechtsfortbildung

Das deutsche Recht kennt verschiedene Instrumente, deren sich die Gerichte bedienen können und müssen, um eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu erreichen.130 Bleibt etwa der Gesetzgeber in der Ausgestaltung des nationalen Umsetzungsrechts hinter den Anforderungen der Richtlinienvorgaben zurück, kann mittels einer teleologischen Extension 131 oder Reduktion 132 der in Betracht kommenden Norm(en) der Zweck der Richtlinie verfolgt werden. Fehlt es an jeglicher Umsetzung, kann u.U. die Analogie helfen. Sind deren Voraussetzungen – Ähnlichkeit der Tatbestände – nicht gegeben, ist den Vorgaben der Richtlinien durch die Ausbildung von Fallnormen 133 zu entsprechen, so wie dies die deutsche Rechtsprechung seit jeher etwa im Bereich des Arbeitsrechts, aber auch des Allgemeinen und des Besonderen Schuldrechts (Delikts- und Bereicherungsrecht; c.i.c.; Störung der Geschäftsgrundlage) praktiziert hat. d)

Die Grenzen der Rechtsfortbildung

Als unübersteigbare Schranke der Rechtsfortbildung gilt allgemein der am Wortlaut der Norm festgemachte Regelungszweck („Wortsinn“) des Gesetzgebers. Diese von

126 S. BVerfGE 82, 6, 12 f.; Canaris, FS Bydlinski, S. 83. 127 Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 416; Gebauer/ Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 40. 128 Zu Voraussetzungen und Grenzen der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung außerhalb des Richtlinien-Kontextes s. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 245 ff. 129 Canaris, FS Bydlinski, S. 84. 130 Die Umsetzung der Richtlinienvorgaben durch die Rechtsprechung wird aber in vielen Fällen nicht genügen; der Gerichtshof betont in st. Rspr., daß etwa der Verbraucher seine Rechte durch klare Regelungen im nationalen Recht erkennen können soll; z.B. EuGH v. 23.3.1995 – Rs. C-365/93 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1995, I-499 Rn. 9; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/199 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17. Dies erfordert nicht immer, aber zumeist eine Regelung durch Gesetz oder Verordnung. 131 Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 48, 51; Canaris, FS Bydlinski, S. 90; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 216, 245. 132 Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 49, 51; Canaris, FS Bydlinski, S. 90; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 210 f. 133 Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV, S. 202 ff., 279 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

der ganz h.L. im Schrifttum vertretene Position 134 wird von den deutschen Höchstgerichten geteilt.135 Als Grenze für eine verfassungs- und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung hat das BAG in seinem Beschluß vom 18.2.2003 festgestellt, daß die Auslegung nicht zum „Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch“ treten dürfe.136 Der XI. Senat des Bundesgerichtshofs hat in seinem „Heininger“-Urteil ebenfalls auf Wortlaut und Zweck der Regelung (§ 5 Abs. 2 HWiG a.F.) abgestellt.137 Darin ist ihm der II. Senat vor kurzem 138 ausdrücklich gefolgt.139 Daß hierbei Wortlaut und Zweck einer gesetzlichen Bestimmung ihrerseits erst durch Auslegung konkretisiert werden müssen, wobei der Wortlaut im Hinblick auf den Gesetzeszweck und umgekehrt der Zweck mit Blick auf den Wortlaut zu bestimmen sind, hat Canaris treffend hervorgehoben.140 Freilich wird man für die Bestimmung des Regelungszwecks einer Norm den Regelungsanlaß und den Willen des Gesetzgebers mit zu bedenken haben: Dient die Norm der Umsetzung einer Richtlinienvorgabe, ist dieser allgemeine Regelungszweck neben dem konkreten, auf die Lösung des Sachproblems bezogenen Zweck mit zu beachten. Wenn und solange der Gesetzgeber eine richtlinienkonforme Umsetzung anstrebt, wird man diesem – ggf. unvollkommen verwirklichten – Zweck Vorrang vor der mit der konkreten Norm verknüpften Zielsetzung einräumen müssen.141 Ein solcher Ansatz deckt sich im Ergebnis auch mit der in den Urteilen Wagner Miret und Pfeiffer gemachten Annahme (Vermutung), daß der Staat, wenn er von dem ihm durch die Richtlinie eingeräumten Gestaltungsspielraum Gebrauch macht, die Absicht hat, den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen.142 e)

Normenkollisionen

Die Problematik der durch Wortlaut und Gesetzeszweck markierten Grenze für eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung wird im deutschen Schrifttum zumeist ohne Bezugnahme auf Konstellationen erörtert, in denen Wortlaut und Regelungszweck von Normen sich widersprechen (Gesetzeskollisionen) oder aber Normen Ausdruck entgegenlaufender Wertungen sind (Wertungswidersprüche). In seiner Pfeiffer-Entscheidung hat der Gerichtshof für Zwecke der richtlinienkonformen Auslegung auch auf solche im nationalen Recht ausgebildeten Grundsätze über die Lösung von Normenkollisionen verwiesen.143

134 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 226; Canaris, FS Bydlinski, S. 92 ff.; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 43; Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, S. 95 f.; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 94. 135 Zur Rspr. des Bundesverfassungsgerichts s. BVerfGE 87, 273, 280. 136 BAG, NZA 2003, 742, 747. 137 BGH, VersR 2002, 1035, 1037. 138 BGH, NJW 2004, 2731, 2732. 139 Allein auf den „klaren Gesetzeswortlaut“ als Schranke stellt ab BGH, NJW 2004, 154, 155. 140 Canaris, FS Bydlinski, S. 92 f. 141 Grundmann, ZEuP 1996, 399, 422; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration, S. 72 ff.; a.A. Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 524 ff. 142 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a.,Slg. 2004, I-8835 Rn. 112. 143 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116.

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§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung

Dies erscheint bedeutsam aus zweierlei Gründen: – Im Gegensatz zu den allein aus dem nationalen Recht erwachsenden Normenkollisionen geht es bei der richtlinienkonformen Auslegung um potentiell kollidierende Regelungen zweier unterschiedlicher Normgeber.144 Der Gerichtshof scheint sich daran nicht zu stören. Für das deutsche Recht erwachsen daraus auch keine Probleme: Da Art. 20 Abs. 3 GG eine Bindung des Richters an die Richtlinie neben die Bindung an deutsches Gesetzesrecht stellt, sind die Normenkollisionen mit denen des innerstaatlichen Rechts durchaus vergleichbar. – Der Gerichtshof sieht die Möglichkeit einer Normenkollision zwischen Richtlinienrecht und nationalem Recht auch dann eröffnet, wenn und soweit nicht von einer unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinienbestimmung auszugehen ist. Dies aber bedeutet: Richtlinie und innerstaatliche Norm stehen für Zwecke der Lösung von Normenkollisionen auf einer Stufe. aa)

Unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht

Soweit – im Verhältnis Bürger-Staat – Richtlinienbestimmungen zugunsten des Einzelnen als unmittelbar anwendbar anzusehen sind, ist die Normenkollision aufgrund des (in den Fällen der unmittelbaren Anwendbarkeit eingreifenden) Vorrangs des Gemeinschaftsrechts zugunsten der konkreten Regelung in der Richtlinie zu lösen. Dies entspricht auch im Ergebnis der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs.145 bb)

Nicht unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht

Das deutsche Recht kennt zur Auflösung von Normenkollisionen verschiedene Methoden. – Normenwidersprüche können etwa nach dem lex posterior-Satz 146 entschärft werden. Dieser Satz kann es rechtfertigen, nach Inkrafttreten einer Richtlinie früher erlassenes, der Richtlinie entgegenstehendes Gesetzesrecht außer Anwendung zu lassen (und ggf. im Wege der Rechtsfortbildung eine Fallnorm zu entwickeln). – Geht es dagegen um nach der Richtlinie in Kraft getretene gesetzliche Regelungen, muß es Aufgabe der Auslegung sein, eine mit der Richtlinie widerspruchsfreie Lösung zu finden, sei es durch eine restriktive Auslegung der nationalen Regelung, oder, wo dies nicht möglich ist, dadurch, daß einer Norm der Vorrang zuerkannt wird.147 Dies wirft die Frage auf, ob und unter welchen Voraussetzungen der Richter bei einer Kollision einer nationalen Norm mit einer Richtlinie an die Vorgaben des nationalen Gesetzes gebunden bleibt, also dem Umsetzungsrecht den Vorrang einzuräumen hat.

144 145 146 147

Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 91. Seit EuGH v. 19.1.1982 – Rs. 8/81 Becker, Slg. 1982, 53. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 572 f. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 155.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Vor dem Hintergrund der in Art. 20 Abs. 3 GG statuierten Gesetzesbindung des Richters liegt es nahe danach zu unterscheiden, welches die Gründe für die Normenkollision sind: 148 Wenn und soweit davon ausgegangen werden kann, daß der Gesetzgeber beim Erlaß des Umsetzungsgesetzes den Vorgaben der Richtlinie entsprechen wollte, dieses Ziel aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht erreicht hat, erscheint (außerhalb des Strafrechts und des Eingriffsrechts) eine Korrektur der nationalen Regelung contra legem – bis hin zur Derogation der Norm 149 – vom Willen des Gesetzgebers, eine richtlinienkonforme Lösung zu verwirklichen, gedeckt.150 Dies gilt etwa, wenn im Gesetzgebungsprozeß fehlerhafte Vorstellungen über die Tragweite einer Richtlinienbestimmung bestanden haben oder aber die Bedeutung einer Richtlinienregelung erst durch spätere Judikatur des Gerichtshofs geklärt worden ist. Eine Gesetzeskorrektur in einer solchen Konstellation verstößt auch nicht gegen die von Art. 20 Abs. 3 GG vorausgesetzte und geschützte Rollenverteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Soweit der Gesetzgeber Richtlinien in das deutsche Recht umsetzt und man davon ausgehen darf,151 daß er ein richtlinienkonformes Ergebnis erreichen will,152 ist dieser allgemeine Regelungszweck, auch wenn er dem konkreten Zweck der (Sach-) Regelung widerspricht, für den Richter bindend. Wird der Umsetzungszweck verfehlt, weil der Gesetzgeber sich falsche Vorstellungen über die Tragweite der Richtlinie macht, sollte die Judikative (außerhalb des Strafund des Eingriffsrechts) als ermächtigt angesehen werden, die erforderlichen Korrekturen bzw. Nachbesserungen vorzunehmen.153

148 Die im Text vorgenommene Differenzierung wird in der Rspr. (BAG, NZA 2003, 742, 747; BGH, NJW 2004, 154, 155) nicht vorgenommen und im Schrifttum zumeist abgelehnt; z. B. Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 524 ff.; Hochleitner/Wolf/Großerichter, WM 2002, 529, 531ff.; Osnabrügge, NJW 2005, 1093; Franzen, JZ 2003, 321, 324; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 98 – 99; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 41; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 94. Im Ansatz wie hier: Grundmann, ZEuP 1996, 399, 422; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration, S. 72 ff. Die im Schrifttum aufgeworfene Parallele zu den Grenzen der verfassungskonformen Auslegung geht fehl, weil sie die aus dem Gemeinschaftsrecht folgende Pflicht der Gerichte verkennt, das nationale Recht so weit wie möglich in Übereinstimmung mit den Richtlinienvorgaben zu bringen. Eine solche Pflicht gibt es im Hinblick auf die verfassungskonforme Auslegung nicht. 149 A.A. Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 53. 150 Vgl. im Ergebnis BGH, NJW 2002, 1881, 1882 f., freilich als Konsequenz der Auslegbarkeit der entsprechenden Bestimmung und nicht als Folge einer Normenkollision; ebenso BGH, NJW 2004, 2731, 2732. 151 Und in der Deutung des Gerichtshofs: davon ausgehen muß; EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/ 01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112. 152 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 273; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 52 (auch mit Hinweis auf die evtl. drohende Staatshaftung). 153 Wenig einleuchtend ist es, wenn in diesem Zusammenhang der Teufel einer „Entmündigung“ des Gesetzgebers an die Wand gemalt wird; so Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 527. Der Gesetzgeber kann doch jederzeit nachsteuern! Es geht allein darum, den richtlinienwidrigen Zustand bis zu einem Tätigwerden des Gesetzgebers, das allemal wegen der gebotenen Normklarheit erforderlich sein mag (!) durch Richterrecht zu beseitigen.

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§ 11 Die richtlinienkonforme Auslegung

Die Situation ist eine andere, wenn sich aus dem Wortlaut der Norm und dem vom Gesetzgeber verfolgtem Regelungszweck klar und eindeutig entnehmen läßt,154 daß von den Richtlinienvorgaben (bewußt) abgewichen werden soll (was in der Praxis durchaus, wenn auch eher selten vorkommen mag). Hier ergibt sich eine unübersteigbare Hürde für eine Gesetzeskorrektur.155 Denn sonst droht die Gefahr, daß der sich im Wortlaut abbildende erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseite geschoben und durch eine autark getroffene richterliche Abwägung der Interessen – einem Akt unzulässiger richterlicher Eigenmacht – ersetzt wird.156 Die Bindung des Richters an die Vorgaben des nationalen Gesetzgebers muß sich insoweit durchsetzen.157 Und diese Bindung wird vom Gemeinschaftsrecht in der Deutung des Gerichtshofs auch respektiert.158 Soweit der BGH in seinem „Heininger“-Urteil § 5 Abs. 2 HWiG a.F. – trotz der (scheinbar) eindeutigen Konkurrenzregelung zugunsten des VerbrKrG a. F. – einschränkend in der Weise ausgelegt hat, daß Kreditverträge insoweit nicht als Geschäfte (im Sinne des HWiG a.F.) anzusehen sind, die „die Voraussetzungen eines Geschäfts nach dem Verbraucherkreditgesetz“ erfüllen, soweit dieses dem Darlehensnehmer kein gleich weit reichendes Widerrufsrecht einräumt,159 hat das Gericht in der Sache eine weitgehende Korrektur im Anwendungsbereich des § 5 Abs. 2 HWiG a.F. vorgenommen. Es war dazu nach dem soeben Ausgeführten auch legitimiert, konnte es doch davon ausgehen, daß der deutsche Gesetzgeber mit § 5 Abs. 2 HWiG a.F. eine richtliniengemäße Regelung schaffen wollte.160

154 Vgl. auch BVerfGE 18, 97, 111; BVerfGE 71, 81, 105, worin als Schranke für eine verfassungskonforme Interpretation auf Wortlaut und den „klar erkennbaren“ Regelungswillen abgestellt wird. 155 In diesem Sinne auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 452. 156 BVerfGE 82, 12 f.; BVerfGE 87, 273, 280. 157 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 269; Grundmann, ZEuP 1996, 399, 420; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51. 158 S. oben im Text bei Fn. 50 f. 159 BGH, NJW 2002, 1881, 1883; BGH, VersR 2002, 1034, 1035; bestätigt durch BGH, NJW 2004, 2731, 2732; BGH, NJW 2004, 2744. 160 Anders insoweit aber BGH, NJW 2004, 154, 155, zu § 1 Abs. 2 Nr. 3 HWiG a.F. Hier sieht der BGH angesichts des klaren und keiner restriktiven Auslegung zugänglichen Wortlauts der Norm keinen Raum für eine richtlinienkonforme Auslegung, ohne freilich die Grundsätze über eine Normenkollision oder eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung anzusprechen.

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung Mathias Habersack/Christian Mayer Übersicht I.

Einleitung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 1. Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2. Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . II. Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung   .  .  . 1. Fallgruppen überschießender Umsetzung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . a) Persönlicher Anwendungsbereich   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . aa) Verbraucherschutz   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . bb) Handels-, Bilanz- und Gesellschaftsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . cc) Lauterkeitsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . b) Sachlicher Anwendungsbereich   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . c) Örtlicher Anwendungsbereich   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2. Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . a) Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . b) Fakultative Umsetzung, opt-out   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . c) Textgleiche Normen  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 3. Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . III. Die Auslegung des nationalen Rechts  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 1. Problemstellung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2. Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Gemeinschaftsrecht?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . a) Unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschußbereich?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . b) Mittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . c) Rechtsprechung des EuGH zu TRIPS   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 3. Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 4. Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschußbereich   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . a) Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . b) Bedeutung des gesetzgeberischen Willens   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . c) Vermutung für einheitliche Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . d) Gründe für eine gespaltene Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . aa) Verfassungskonforme Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . bb) Überwiegende Bedeutung der Sachentscheidung und erhebliche Abweichung von dieser durch die richtlinienkonforme Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . cc) Zusätzliche Auslegungsgesichtspunkte, die nur im überschießenden Bereich der Norm vorhanden sind   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . IV. Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 1. Rechtsprechung des EuGH  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2. Die nach der hier vertretenen Methodik zur Auslegung des nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung entscheidende Frage   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 3. Vorlagemöglichkeit?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . V. Zusammenfassung und Ausblick   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .

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Mathias Habersack/Christian Mayer

§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

I.

Einleitung

1.

Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung

Bei der Umsetzung europäischer Richtlinien entscheidet sich der deutsche Gesetzgeber bisweilen dafür, über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinauszugehen und auch Sachverhalte dem von der Richtlinie vorgegebenen Regelungsregime zu unterwerfen, die von der Richtlinie selbst nicht erfaßt werden. Hierfür hat sich der Begriff der überschießenden Umsetzung von Richtlinien eingebürgert.1 Prominente Beispiele überschießender Umsetzung bilden die Umsetzung der Haustürwiderrufsrichtlinie 2 und die Umsetzung der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf 3: Während die Haustürwiderrufsrichtlinie nach ihrem Art. 1 Abs. 1, 3 und 4 voraussetzt, daß es in der Haustürsituation selbst zum Vertragsschluß oder jedenfalls zur Abgabe eines nach Annahme durch den Unternehmer verbindlichen Angebots durch den Verbraucher kommt,4 ist das deutsche Haustürwiderrufsrecht seit jeher auf alle Geschäfte anzuwenden, bei denen der Verbraucher zu seiner auf den Vertragsschluß gerichteten Willenserklärung durch eine Haustürsituation bestimmt worden ist, mag auch der Vertragsschluß selbst später außerhalb der Haustürsituation erfolgen.5 Und während die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie nach Art. 1 Abs. 1, 4 für Kauf- und Werklieferungsverträge über bewegliche Sachen zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher gilt, wobei Verbraucher nach Art. 1 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie jede natürliche Person ist, die zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann, gelten die §§ 474 ff. für alle Verbraucher im Sinne des § 13 BGB und damit auch für Personen, die zu einem unselbständigen beruflichen Zweck handeln; 6 das allgemeine Kaufrecht gilt für alle Kaufverträge und das Leistungsstörungsrecht für alle Schuldverhältnisse.

1 So erstmals Habersack/Mayer, JZ 1999, 913. Dem folgend z.B. Palandt-Heinrichs, Einl. Rn. 44; MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 Rn. 3; Bärenz, DB 2003, 375; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 23 f., 104 ff.; Lutter-ders., Umwandlungsgesetz, Einl. Rn. 31ff., ders., GS Heinze, S. 571. Daneben werden für die hier interessierende Konstellation auch der Begriff der autonomen Harmonisierung (so Schnorbus, RabelsZ 65 [2001], 654) und derjenige der Übererfüllung von Richtlinien (so Büdenbender, ZEuP 2004, 36) gebraucht. 2 Richtlinie 1985/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 Nr. L 372/31. 3 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 Nr. L 171/12. 4 EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2195 Rn. 35; GA Léger Schlußanträge v. 12.7.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Tz. 23. 5 Zu den Anwendungsvoraussetzungen des deutschen Haustürwiderrufsrechts MünchKomm BGB-Ulmer, § 312 Rn. 28 ff. m.w.N. Zur überschießenden Umsetzung Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 254; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 546 f.; ausführlich und mit Vergleich zu dem die Richtlinienvorgaben exakt abbildenden italienischen Recht Gabrielli, in: Canaris/Zaccaria (Hrsg.), Die Umsetzung von zivilrechtlichen Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft in Italien und Deutschland, S. 42 ff. 6 S. dazu Begr. RegE BT-Drucks. 14/6040, S. 243; Jauernig-Berger, § 474 Rn. 2.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Ausgangspunkt überschießender Umsetzung ist der häufig punktuelle Charakter 7 der umzusetzenden Richtlinie: Zum derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts und mit Blick auf das in Art. 5 EG verankerte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 8 und das Subsidiaritätsprinzip 9 erfolgt europäische Rechtsangleichung namentlich im Privatrecht nicht mit dem Ziel einer systematischen Ausgestaltung der Rechtsordnung, sondern regelmäßig nur zur Beseitigung konkreter Mißstände und zur Vermeidung von Beeinträchtigungen des Binnenmarktes.10 Demgegenüber muß der nationale Gesetzgeber seine Regelung in die Systematik des bestehenden Rechts einpassen und Abgrenzungsschwierigkeiten, Wertungswidersprüche und Überschneidungen vermeiden.11 Auf der Ebene des nationalen Rechts entstehen hierdurch Rechtsnormen, die in einem Teil ihres Anwendungsbereiches der Umsetzung einer europäischen Richtlinie dienen, aber zugleich aufgrund der autonomen Entscheidung des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers auch Fälle außerhalb der gemeinschaftsrechtlichen Regelung erfassen.12

2.

Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem

Setzt der nationale Gesetzgeber europäische Richtlinien überschießend um, so entstehen neben den mit der Umsetzung von Richtlinien allgemein verbundenen Fragen zwei spezifische Probleme: Zum einen ist fraglich, ob auch in Fällen, die außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegen, aber von den der Richtlinienumsetzung dienenden Normen erfaßt werden, eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 234 EG möglich und für letztinstanzliche Gerichte gar verpflichtend ist.13

7 Rittner, JZ 1995, 849, 851 und Palandt-Heinrichs, Einl. Rn. 32 sprechen von europarechtlichen Inseln im nationalen Recht. Der punktuelle Charakter schließt freilich nicht aus, daß sich aus der Zusammenschau mehrere Richtlinien gemeinsame Leitgedanken und Prinzipien finden lassen. Dazu für das Europäische Vertragsrecht Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 886 ff. 8 Ausführlich zur Kompetenz der Gemeinschaft zur Angleichung des Vertragsrechts Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 139 ff. 9 S. zur Geltung des Subsidiaritätsprinzips auch im Rahmen der Rechtsangleichung nach Art. 95 EG EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-491/01 British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453 Rn. 177 ff. 10 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 2 ff. Das schließt eine weitergehende und dann auch systembildende Rechtsangleichung für die Zukunft nicht aus. Für sie bestehen wissenschaftliche Vorüberlegungen namentlich im Bereich des Europäischen Vertragsrechts mit den European Principles of Contract Law (Lando/Beale, dazu Zimmermann, ZEuP 2000, 391ff.) und dem Vorentwurf eines Europäischen Vertragsgesetzbuches der Akademie Europäischer Privatrechtswissenschaftler (Gandolfi-Entwurf, abgedruckt in ZEuP 2002, 135 ff. und 365 ff.). Siehe daneben die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, KOM(2003) endg. 68, ABl. 2003 Nr. C 63/1. 11 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545; näher dazu Tröger, ZEuP 2003, 525 f.; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 847, 880 ff.; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001) 654, 669. 12 S. dazu Drexl, FS Heldrich, S. 68: Hybride Normen. 13 Dazu unten unter IV.

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

Zum anderen ist zu überlegen, wie sich der hybride Charakter der nationalen Norm auf deren Auslegung auswirkt. Dabei versteht es sich von selbst, daß innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie die nationale Norm richtlinienkonform auszulegen ist.14 Schwieriger zu entscheiden ist demgegenüber die Frage nach der richtigen Auslegungsmethode in den Fällen, die nicht von der Richtlinie erfaßt werden: Folgt hier bereits aus europäischem Recht eine Pflicht zu einheitlicher und damit stets richtlinienkonformer Auslegung? 15 Zwingt das nationale Recht zu einheitlicher Auslegung der auf der Ebene des nationalen Rechts einheitlichen Norm 16 oder ist die Auslegung der nationalen Norm in dem nicht richtliniendeterminierten Bereich von der richtlinienkonformen Auslegung innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie zu unterscheiden und kommt im Einzelfall auch ein unterschiedliches Auslegungsergebnis und damit eine gespaltene Auslegung der nationalen Norm in Betracht? 17

II.

Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung

1.

Fallgruppen überschießender Umsetzung

Im deutschen Recht finden sich zahlreiche Beispiele überschießender Umsetzung von Richtlinien.18 Diese lassen sich im Anschluß an Drexl 19 in verschiedene Fallgruppen einordnen: Der Gesetzgeber kann mit den der Umsetzung dienenden Vorschriften über den sachlichen, den persönlichen oder den örtlichen Anwendungsbereich der Richtlinie hinausgehen. a)

Persönlicher Anwendungsbereich

Wohl am häufigsten ist die Konstellation anzutreffen, daß der persönliche Anwendungsbereich des zur Umsetzung dienenden nationalen Rechts weiter ist als der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie.

14 Allgemein zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth, oben, § 11. Zur Pflicht, eine hybride Norm (zumindest) im richtliniendeterminierten Bereich richtlinienkonform auszulegen, Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545 f. 15 Ausführlich Drexl, FS Heldrich, S. 81ff. Ebenso MünchKommBGB-Ernst, vor § 275 Rn. 23; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 883 f.; ders., in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.), Europäisches Kaufgewährleistungsrecht, S. 119. So auch die Interpretation der Rechtsprechung des EuGH bei AnwKomm-Büdenbender, vor § 433 Rn. 20; anders nunmehr ders., ZEuP 2004, 36, 51ff. 16 So für das Umwandlungsgesetz Lutter, GS Heinze, 575 ff., ebenso Lutter-ders., Umwandlungsgesetz3, Einleitung Rn. 31f. Anders aber noch Lutter-ders., Umwandlungsgesetz 2, Einleitung Rn. 30: Pflicht zu einheitlicher Auslegung ergebe sich aus europäischem Recht. 17 So schon Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 921; am Beispiel der Richtlinie über Haustürgeschäfte Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 257 f.; vertiefend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548 ff. 18 Umfassender Überblick bei Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 15 ff.; s. daneben Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 f. 19 Drexl, FS Heldrich, S. 70 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

aa)

Verbraucherschutz

So erfassen im Verbraucherschutzrecht, wie erwähnt, die Vorschriften der §§ 474 ff. BGB i.V.m. § 13 BGB über den Verbrauchsgüterkauf auch Personen, die im Rahmen einer unselbständigen, aber beruflichen Tätigkeit handeln, während die Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf diesen Personenkreis nicht erfaßt. Ganz ähnlich gilt das deutsche Verbraucherkreditrecht gem. § 507 BGB auch für Existenzgründer, obgleich diese von der Verbraucherkreditrichtlinie 20 nicht erfaßt werden,21 und Teile des Rechts über Allgemeine Geschäftsbedingungen, darunter namentlich das Transparenzgebot nach § 307 Abs. 1 S. 2 BGB, gelten für sämtliche Verträge, während die Europäische Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln 22 nur auf Verbraucherverträge Anwendung findet. bb)

Handels-, Bilanz- und Gesellschaftsrecht

Ein im Vergleich zur Richtlinie erweiterter persönlicher Anwendungsbereich findet sich daneben häufig bei der Umsetzung handels-, gesellschafts- und bilanzrechtlicher Richtlinien. So gilt § 15 Abs. 3 HGB für sämtliche Kaufleute, während die Publizitätsrichtlinie 23 nur auf Kapitalgesellschaften Anwendung findet. Die Verschmelzungs- 24 und die Spaltungsrichtlinie 25 gelten nur für Aktiengesellschaften, sie wurden vom deutschen Gesetzgeber jedoch nur zum Teil durch die gleichfalls nur für Aktiengesellschaften geltenden §§ 60 bis 77 und §§ 141 bis 146 UmwG, zum Teil aber auch durch die auf verschiedene Gesellschaftsformen anwendbaren allgemeinen Vorschriften der §§ 2 bis 38 UmwG betreffend die Verschmelzung und der §§ 123 bis 137 UmwG betreffend die Spaltung umgesetzt.26 In diesem Zusammenhang ist schließlich die Umsetzung der bilanzrechtlichen Richtlinien 27 zu nennen.

20 Richtlinie 87/102/EWG des Rates v. 22.12.1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 Nr. L 42/48; geändert durch Richtlinie 90/88/EWG v. 22.2.1990 ABl. 1990 Nr. L 61/14 und durch Richtlinie 98/7/EG v. 16.2.1998, ABl. 1998 Nr. L 101/17. 21 Drexl, FS Heldrich, S. 71. 22 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 Nr. L 95/29. 23 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 Nr. L 65/8 (Publizitätsrichtlinie). Zu ihr Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 77 ff., zu Problemen durch die überschießende Umsetzung dort Rn. 115 f. 24 Dritte Richtlinie 78/855/EWG des Rates vom 9.10.1978 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften, ABl. 1978 Nr. L 295/36. 25 Sechste Richtlinie 82/891/EWG des Rates vom 17.12.1982 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften, ABl. 1982 Nr. L 378/47. 26 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 f.; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 209 ff. 27 Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25.7.1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 1978 Nr. L 222/11 (Jahresabschlußrichtlinie); Siebente Richtlinie 83/349/EWG des Rates vom 13.6.1983 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluß, ABl. 1983 Nr. L 193/1 (Richtlinie über den konsolidierten Abschluß); Achte Richt-

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

Die Richtlinien verlangen Geltung nur für Kapitalgesellschaften und atypische Personenhandelsgesellschaften. Dementsprechend erfolgte die Umsetzung in das deutsche Recht durch die diesen Gesellschaften vorbehaltenen §§ 264 ff. HGB. Daneben wurden wesentliche Bestimmungen der Richtlinie über den Jahresabschluß aber auch durch die allgemeinen, für sämtliche rechnungslegungspflichtige Unternehmen geltenden Vorschriften der §§ 238 bis 263 HGB umgesetzt. cc)

Lauterkeitsrecht

In Zukunft könnte auch das deutsche Lauterkeitsrecht einen Fall der überschießenden Umsetzung infolge eines gegenüber der Richtlinie erweiterten persönlichen Anwendungsbereichs darstellen. Denn während die vom Rat unlängst beschlossene Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken 28 nur Verbraucher schützen soll und dementsprechend nur im Verhältnis Unternehmer-Verbraucher gilt,29 dient das deutsche Lauterkeitsrecht auch dem Schutz anderer Unternehmer und gilt daher auch im Verhältnis zwischen Unternehmern. Soweit der deutsche Gesetzgeber, wie bislang beabsichtigt, sein Konzept beibehält und lediglich die unausweichlichen Anpassungen an die Richtlinie vornimmt, erhält auch das UWG den Charakter einer überschießenden Umsetzung,30 wobei insofern unerheblich ist, daß das deutsche Recht zeitlich vor der Richtlinie bestand.31 b)

Sachlicher Anwendungsbereich

Beispiele für überschießende Umsetzung infolge eines gegenüber der Richtlinie erweiterten sachlichen Anwendungsbereiches der zur Umsetzung dienenden nationalen Norm finden sich im Verbraucherschutz-, im Handels- und – mit Einschränkungen – im Steuerrecht. Zu dieser Fallgruppe zählt die bereits angesprochene Umsetzung der Richtlinie über den Haustürwiderruf durch die §§ 312 f., 355 ff. BGB. Soweit das deutsche Haustürwiderrufsrecht auch auf Verträge anwendbar ist, die nicht in der Haustürsituation abgeschlossen, aber durch eine Haustürsituation mitveranlaßt wurden, geht der sachliche Anwendungsbereich des deutschen Haustürwiderrufsrechts über denjenigen der Haustürwiderrufsrichtlinie hinaus. Ebenso

linie 84/253/EWG des Rates vom 10.4.1984 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über die Zulassung der mit der Pflichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen beauftragten Personen, ABl. 1984 Nr. L 126/60 (Abschlußprüferrichtlinie). 28 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2005 L 149/22. 29 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie; dazu Drexl, FS Heldrich, S. 72; Baumbach/Hefermehl-Köhler, Einleitung UWG Rn. 3.60. Die Bundesrepublik Deutschland hatte sich für eine Geltung der Richtlinie auch im Wirtschaftsverkehr zwischen Unternehmen ausgesprochen, konnte sich aber mit dieser Position im Rat nicht durchsetzen. 30 Drexl, FS Heldrich, S. 72. 31 Dazu, daß auch älteres mitgliedstaatliches Recht der Umsetzung von Richtlinien dienen und der richtlinienkonformen Auslegung unterfallen kann, W.-H. Roth, oben, § 11.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

wird die gleichfalls oben angesprochene und bereits als Beispiel einer Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs vorgestellte Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf auch in bezug auf den sachlichen Anwendungsbereich überschießend umgesetzt, soweit diese Richtlinie durch allgemeines Kaufrecht und durch das allgemeine Leistungsstörungsrecht umgesetzt wird. Beachtlich ist insoweit, daß das allgemeine Leistungsstörungsrecht für sämtliche Verträge und das allgemeine Kaufrecht für alle Kaufverträge gilt, während die Richtlinie nur Kauf und Werklieferung beweglicher Sachen erfaßt. Daneben geht auch der Anwendungsbereich des in §§ 651a ff. BGB geregelten deutschen Reisevertragsrechts über denjenigen der Pauschalreiserichtlinie zumindest insofern hinaus, als das deutsche Reisevertragsrecht, anders als die Richtlinie, nach § 651 Abs. 1 BGB grundsätzlich auch Gastschulaufenthalte erfaßt.32 Zu nennen ist des weiteren auch hier § 15 Abs. 3 HGB, der nicht nur, wie beschrieben, durch die Einbeziehung auch derjenigen Kaufleute, die keine Kapitalgesellschaft sind, über den persönlichen Anwendungsbereich der Publizitätsrichtlinie hinausgeht,33 sondern auch in seinem sachlichen Anwendungsbereich von der Richtlinie abweicht, indem er nicht nur den seltenen, aber in der Richtlinie allein geregelten Fall einer Divergenz von richtiger Eintragung und unrichtiger Bekanntmachung, sondern auch den praktisch wesentlich bedeutsameren Fall erfaßt, daß Eintragung und Bekanntmachung unrichtig sind.34 Ein weiterer, für die Rechtspraxis besonderes bedeutsamer und bereits in der Vergangenheit viel diskutierter 35 Fall überschießender Umsetzung durch erweiterten sachlichen Anwendungsbereich ergibt sich, wenn man die Vorschriften des Handelsgesetzbuchs, welche die Bilanzrichtlinie umsetzen, über den Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 Abs. 1 EStG auch zur Ermittlung der Steuerbilanz heranzieht. Allerdings wird die Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes und damit die Intensität der Verknüpfung von Handels- und Steuerbilanz in letzter Zeit zunehmend in Frage gestellt,36 so daß die Probleme der mittelbaren Richtlinienwirkung bei überschießender Umsetzung insoweit durch die Frage nach der Bedeutung des der Richtlinienumsetzung dienenden nationalen Rechts für die Steuerbilanz als Sachverhalt außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs der Bilanzrichtlinie und damit durch die Frage, ob und inwieweit eine überschießende Umsetzung aus der Perspektive des nationalen Rechts überhaupt vorliegt, zusätzlich erschwert werden. Denn soweit die Steuerbilanz eigenen Regeln unterliegt und nicht mit Rückgriff auf die handelsrechtlichen Grundsätze zu bilden ist, stellt sich auch die Frage nach einer mittelbaren Bedeutung der Bilanzrichtlinie nicht.

32 S. § 651 Abs. 1 BGB und zu dessen Charakter als überschießende Umsetzung Pohar/Sendmeyer, RRa 2004, 247, 250 sowie Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 171. 33 Dazu oben II. 1. a) bb). 34 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 915. 35 Herlinghaus, IStR 1997, 529, 535 ff.; Hennrichs, ZGR 1997, 66, 68 ff., jeweils m.w.N. 36 Dazu statt vieler Tipke/Lang-Lang, Steuerrecht, § 9 Rn. 309.

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

c)

Örtlicher Anwendungsbereich

Die Probleme der überschießenden Umsetzung stellen sich schließlich auch dann, wenn der nationale Gesetzgeber hinsichtlich des örtlichen Anwendungsbereichs über die Vorgaben der Richtlinie hinausgeht. So gelten Richtlinien bisweilen lediglich für grenzüberschreitende Sachverhalte, während der nationale Gesetzgeber zur Vermeidung einer Inländerdiskriminierung 37 eine Anwendung der die Richtlinie umsetzenden Vorschriften auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte vorsehen kann. Aus dem Bereich des deutschen Privatrechts sind hier die Vorschriften des Überweisungsrechts (§§ 676a ff. BGB) zu nennen. Durch sie wird die nur für grenzüberschreitende Überweisungen geltende Überweisungsrichtlinie 38 umgesetzt, die nationalen Vorschriften finden aber auch auf inländische Überweisungen Anwendung.39

2.

Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen

Die hier aufgegriffene Problematik von Auslegung und Rechtsweg bei überschießender Umsetzung von Richtlinien ist gegenüber drei mit ihr eng verwandten, aber nicht identischen Konstellationen abzugrenzen. a)

Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien

Zu unterscheiden ist die überschießende Umsetzung von Richtlinien zunächst von der inhaltlichen Übererfüllung. Eine inhaltliche Übererfüllung ist gegeben, wenn der nationale Gesetzgeber über den von der Richtlinie vorgegebenen Regelungsauftrag hinausgeht, ohne dabei den Anwendungsbereich des nationalen Rechts gegenüber der Richtlinie zu erweitern.40 Ein Beispiel für die inhaltliche Übererfüllung findet sich im Verbraucherdarlehensrecht: Nach § 495 Abs. 1 BGB kann der Verbraucher den Verbraucherdarlehensvertrag widerrufen, während die Verbraucherkreditrichtlinie, deren Umsetzung die §§ 492 ff. BGB dienen, ein Lösungsrecht des Verbrauchers derzeit nicht vorsieht. Von der überschießenden Umsetzung unterscheidet sich die inhaltliche Übererfüllung der Richtlinie insofern, als daß das die

37 S. zu den hiervon erfaßten Sachverhalten Schwarze-Holoubek, Art. 12 EGV Rn. 33. 38 Richtlinie 97/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.1.1997 über grenzüberschreitende Überweisungen, ABl. 1997 Nr. L 43/25. 39 Drexl, FS Heldrich, S. 73, siehe auch dort Fn. 39 zum erweiterten sachlichen Anwendungsbereich des deutschen Überweisungsrechts. 40 Im Grundsatz ebenso Drexl, FS Heldrich, S. 73. Abgrenzung beider Fallgruppen auch bei Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 11ff. Dessen Einschätzung, der Begriff der überschießenden Umsetzung umfasse auch die inhaltliche Übererfüllung, ist freilich unzutreffend, siehe zur Begrenzung der überschießenden Umsetzung auf Fälle, in denen der Anwendungsbereich der nationalen Norm über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinausgeht schon Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914. Dementsprechend geht auch die an die eigene unzutreffende Inhaltsbestimmung anknüpfende Kritik Brandners (Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 11f.) am Begriff der überschießenden Umsetzung ins Leere.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Richtlinie übererfüllende nationale Recht innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegt. Zumindest soweit ein Rechtsstreit, wie regelmäßig, nicht allein auf die übererfüllende Rechtsfolge gründet, ist bei Fragen zur Auslegung der Richtlinie eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof möglich und für letztinstanzliche Gerichte verpflichtend. Soweit es sich hingegen um Auslegungsfragen handelt, die allein den über die Richtlinie hinausgehenden Teil der nationalen Regelung betreffen, stellt sich die Frage des Einflusses des europäischen Rechts und der Möglichkeit der Vorlage an den EuGH schon deshalb nicht, weil die Richtlinie zu diesen Fragen naturgemäß nichts beitragen kann. Der überschießenden Umsetzung gemeinsam ist den Fällen der inhaltlichen Übererfüllung hingegen die unten aufzugreifende Frage, ob ein von der Richtlinie in ihrer Auslegung durch den EuGH vorgegebenes Regelungsziel, welches im nationalen Recht innerhalb des durch die Richtlinie erfaßten Bereiches durch richtlinienkonforme Auslegung erreicht werden kann und muß, auch in dem von der Richtlinie nicht erfaßten Bereich ausschlaggebend zu berücksichtigen ist und ob in diesen Fällen die Möglichkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens und für letztinstanzliche Gerichte eine Vorlagepflicht besteht. b)

Fakultative Umsetzung, opt-out

Zu unterscheiden ist die überschießende Umsetzung wie auch die allein auf nationalem Recht beruhende inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien von denjenigen Fällen, in denen der nationale Gesetzgeber eine Richtlinienvorgabe umsetzt, obgleich er infolge eines in der Richtlinie selbst vorgesehenen Rechts zum opt-out hierzu nicht verpflichtet ist.41 Macht der Mitgliedstaat von der Möglichkeit des optout in der dafür ggf. vorgesehenen Weise 42 Gebrauch, so gilt insoweit die Vorgabe der Richtlinie einschließlich der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung für diesen Mitgliedstaat nicht, während die Richtlinie andernfalls insgesamt, also einschließlich der „fakultativen“ Regelungen, schon kraft europäischen Rechts zu beachten ist.43 c)

Textgleiche Normen

Zu unterscheiden ist der hier im Vordergrund stehende Fall einer nationalen Norm, die zugleich der Umsetzung einer Richtlinie und der Regelung von in der Richtlinie nicht erfaßten Konstellationen dient, schließlich von dem Fall, daß der nationale

41 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 547 f.; dort auch zur Frage eines teilweisen opt-out. 42 S. dazu, daß ein Recht zum opt-out häufig, aber nicht immer, von einer Pflicht zur Notifizierung gegenüber der Kommission begleitet wird Prechal, Directives in European Community Law, S. 51f. 43 So im Ergebnis auch EuGH v. 25.4.2002 – Rs. C-52/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2002, I-3827 Rn. 47: Art. 15 der Richtlinie 85/374/EWG erlaubt zwar, die in Art. 7 lit. e der Richtlinie vorgesehene Haftungsfreistellung insgesamt auszuschließen, ein Mitgliedsstaat handelt aber richtlinienwidrig, wenn er die Haftungsfreistellung von weiteren Voraussetzungen abhängig macht.

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

Gesetzgeber zwei textgleiche Normen schafft, von denen die eine der Umsetzung einer Richtlinie dient, während die andere rein nationale Sachverhalte regelt. Als Beispiel hierfür mag die Zurechnung von Stimmrechten nach dem die Transparenzrichtlinie umsetzenden § 22 WpHG einerseits und nach der bislang 44 rein nationalen, aber textgleichen Zurechnungsnorm des § 30 WpÜG andererseits dienen. Zwar könnte man auch hier angesichts des übereinstimmenden Wortlauts von – im weiteren Sinne – überschießender Umsetzung sprechen,45 doch stellt sich insoweit die Frage nach der Zulässigkeit der Normspaltung und einer europarechtlichen Pflicht zu einheitlicher Auslegung nicht in gleicher Schärfe.46

3.

Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien

Bevor anschließend die Auslegung des nationalen Rechts und damit das Kernproblem überschießender Umsetzung in den Blick genommen werden soll, ist zu klären, ob die überschießende Umsetzung als solche mit dem europäischen Recht vereinbar ist. Hierbei gilt es zweifach zu differenzieren: Zum einen sind für die Frage nach der generellen Zulässigkeit überschießender Umsetzung die Fälle einer unrichtigen Umsetzung und die daran anschließende Frage, wie eine fehlerhafte Umsetzung durch richtlinienkonforme Auslegung beseitigt werden kann, außer Betracht zu lassen. Stattdessen ist zunächst die vorgelagerte Frage zu beantworten, ob schon eine inhaltlich fehlerfreie, aber überschießende Umsetzung europarechtlichen Bedenken begegnet. Zum zweiten ist die bereits oben aufgezeigte Differenzierung zwischen überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung zu beachten. Auszugehen ist hierbei von dem in Art. 249 EG niedergelegten Grundsatz, daß sich Richtlinien an die Mitgliedsstaaten wenden und daß sie nur hinsichtlich ihres Ziels verbindlich sind, die Wahl von Form und Mittel zum Erreichen dieses Ziels aber den innerstaatlichen Stellen überlassen. Richtlinien sind zwar Mittel zur Erzwingung und Absicherung mitgliedstaatlicher Rechtsetzung, sie dienen dabei aber zugleich der Integration unter Schonung mitgliedstaatlicher Entscheidungsspielräume und nationaler Regelungsstrukturen, indem es grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, wie die von der Richtlinie vorgegebenen Ziele durch nationales Recht erreicht werden.47 Der Richtlinie selbst läßt sich daher keine Vorgabe hinsichtlich der Form ihrer (verbindlichen) Umsetzung entnehmen; auch enthält das Gemeinschaftsrecht keine Pflicht, jede Richtlinie für sich durch ein eigenes nationales Ge-

44 S. Art. 5 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 Übernahmerichtlinie (Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 Nr. L 142/12). Die Richtlinie muß von den Mitgliedsstaaten bis spätestens 20.5.2006 umgesetzt werden. 45 So denn auch Franck, BKR 2002, 709, 712 f. 46 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548. 47 S. dazu statt aller Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EGV Rn. 124, 130 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

setz umzusetzen. Ist somit die Form der überschießenden Umsetzung als solche keinen Bedenken ausgesetzt, so ist weiter zu prüfen, ob eine überschießende Umsetzung aus inhaltlichen Gründen gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen kann. Diesbezüglich ist zwischen inhaltlicher Übererfüllung und überschießender Umsetzung zu unterscheiden. Inhaltliche Übererfüllung stellt eine strengere nationale Rechtsfolge innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie dar. Bei ihr sind die Richtlinie und damit das europäisches Recht auf die durch nationale Übererfüllung strenger geregelten Sachverhalte anwendbar, und es folgt ohne weiteres, daß auch die Frage, ob die strengere nationale Regelung zulässig ist, mit Blick auf das Gemeinschaftsrecht beantwortet werden muß. Eine inhaltliche Übererfüllung ist daher nur dann zulässig, wenn die Richtlinie und das sonstige Gemeinschaftsrecht die von der Richtlinie erfaßten Sachverhalte nicht abschließend regeln. In diesem Bereich ist daher die bisweilen schwierige Frage zu beantworten, ob das europäische Recht eine Vollharmonisierung anstrebt und damit weitergehendes nationales Rechts ausschließt, oder ob es lediglich eine Mindestharmonisierung begründet und strengeres nationales Recht zuläßt. Demgegenüber erfolgt durch die überschießende Umsetzung eine Erstreckung des Regelungsplans der Richtlinie auf Sachverhalte, die nicht im Anwendungsbereich der Richtlinie liegen. Steht aber fest, daß die von der nationalen Regelung betroffenen Konstellationen von der Richtlinie gar nicht erfaßt werden, so ist die nationale Regelung auch aus der Perspektive des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich zulässig, ohne daß es darauf ankäme, ob die Richtlinie innerhalb ihres Anwendungsbereiches eine Mindest- oder eine Vollharmonisierung vorgibt.48 Sollte eine Richtlinie demgegenüber bestimmte sachliche Regelungen ausdrücklich spezifischen Konstellationen vorbehalten und die gleiche Regelung damit für einzelne oder auch alle anderen Konstellationen verbieten, so würde bereits der Anwendungsbereich dieser Richtlinie notwendig auch die von ihr negativ geregelten Fälle umfassen.49 Die nationale Erstreckung einer Regelung, die von dieser Richtlinie spezifischen Konstellationen vorbehalten ist, auf andere Sachverhalte stellt dann keinen Fall einer überschießenden, sondern einen Fall der inhaltlich fehlerhaften Richtlinienumsetzung dar. Diesem ist mit dem hierfür vorgesehenen Instrumentarium – richtlinienkonforme Auslegung, ggf. unmittelbare Anwendung der Richtlinie, Vertragsverletzungsverfahren und Haftung des Staates für fehlerhafte Umsetzung – zu begegnen. All dies schließt freilich nicht aus, daß die überschießende Umsetzung im Einzelfall aus anderen Gründen des Gemeinschaftsrechts, beispielsweise wegen einer damit verbundenen Beschränkung einer Grundfreiheit oder eines Verstoßes gegen das

48 Wie hier Drexl, FS Heldrich, S. 76; ähnlich Lutter, GS Heinze, S. 572 f.: Eine solche Erweiterung „stört das europäische Recht in aller Regel nicht“. 49 Soweit erkennbar enthält indes keine Richtlinie im Bereich des Privatrechts einen so umfassenden Anwendungsbereich; in einem solchen Fall wären zudem die Kompetenz der Gemeinschaft zum Erlaß einer so weitgehenden Regelung und deren Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsgrundsatz sorgfältig zu prüfen.

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

Diskriminierungsverbot, gemeinschaftsrechtswidrig ist; insofern unterscheidet sich die überschießende Umsetzung jedoch nicht von jeder anderen nationalen Rechtsetzung.

III.

Die Auslegung des nationalen Rechts

1.

Problemstellung

Im folgenden ist die Frage zu untersuchen, ob und inwieweit in Fällen überschießender Umsetzung die Richtlinie Maßstab für die Auslegung des nationalen Rechts ist. Praktische Bedeutung erlangt diese Frage in den Fällen, in denen das aus rein nationaler Sicht zutreffende Auslegungsergebnis mit den Anforderungen des europäischen Rechts nicht übereinstimmt, die Diskrepanz von europarechtlicher Vorgabe und nationaler Umsetzung aber durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts beseitigt werden kann.50 Zur Verdeutlichung des Problems sei hier auf das Erfordernis einer Fristsetzung vor Rücktritt des Gläubigers bei Nicht- oder nicht vertragsgemäßer Erfüllung durch den Schuldner hingewiesen.51 Nach § 323 Abs. 1 BGB ist ein Rücktritt nur möglich, wenn der Gläubiger dem Schuldner zuvor erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat. Diese Norm gilt vorbehaltlich der in §§ 323 Abs. 2, 440 BGB vorgesehenen Ausnahmen für alle gegenseitigen Verträge und damit, wie die §§ 437 Nr. 2, 440 BGB ausdrücklich klarstellen, auch für das Rücktrittsrecht des Käufers bei Lieferung einer mangelhaften Sache. Demgegenüber soll der Käufer einer mangelhaften Sache nach Art. 3 Abs. 5 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie sich bereits dann von dem Vertrag lösen können, „wenn der Verkäufer nicht innerhalb einer angemessenen Frist Abhilfe geschaffen hat.“ Hieraus wird überwiegend geschlossen, daß nach der Richtlinie Voraussetzung des Rücktritts allein der Ablauf einer angemessenen Frist, nicht aber deren förmliche Setzung durch den Gläubiger ist.52 Folgt man dem und geht man weiter davon aus, daß das deutsche Recht einer richtlinienkonformen Auslegung zugänglich ist,53 so stellt sich die hier interessierende Folgefrage, ob eine solche Auslegung auf die von der Richtlinie erfaßten Fälle und damit auf Kaufver-

50 Für eine ausdrückliche Divergenzprüfung daher Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 155 („dreistufige Rechtsanwendung“); in aller Regel wird es sich freilich eher um einen allgemeinen Abwägungsprozeß handeln. 51 Dazu und zum folgenden Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 546. 52 Ernst/Gsell, ZIP 2000, 1410, 1418; ebenso Canaris, Schuldrechtsmodernisierung, S. XXIII; AnwKomm-Dauner-Lieb, § 323 Rn. 20; MünchKommBGB-Ernst, § 323 Rn. 248; Bamberger/RothFaust, § 437 Rn. 17; Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 160; Tröger, ZEuP 2003, 525, 535. 53 Die Begründung des Gesetzesentwurfs des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes schlägt für diesen – aus Sicht des von Richtlinienkonformität ausgehenden Gesetzgebers: hypothetischen – Fall eine erweiternde Auslegung des § 440 BGB vor, BT-Drs. 14/6040, S. 222. Richtig erscheint demgegenüber eine erweiternde Auslegung des § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB, so Bamberger/Roth-Faust, § 437 Rn. 17 und MünchKommBGB-Ernst, § 323 Rn. 248. Für teleologische Reduktion der Rücktrittsvoraussetzungen Canaris, JZ 2001, 499, 510; ders., Schuldrechtsmodernisierung, S. XXIV sowie Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 160.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

träge über bewegliche Sachen zwischen Unternehmern und Verbrauchern im engen Sinne der Richtlinie zu beschränken ist oder ob eine Erstreckung auf alle Fälle des Verbrauchsgüterkaufs im Sinne der §§ 474 ff. BGB, auf alle Kaufverträge oder gar auf alle gegenseitigen Verträge veranlaßt ist.

2.

Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Gemeinschaftsrecht?

Bisweilen wird vertreten, eine Pflicht zur einheitlichen Auslegung des nationalen Rechts folge schon aus dem Gemeinschaftsrecht selbst, so daß hybride Normen innerhalb und außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie gleich und damit stets richtlinienkonform ausgelegt werden müßten.54 Zur Begründung dieser These wird zumeist auf die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Leur-Bloem 55 und Giloy 56 verwiesen und angeführt, der EuGH habe in diesen Entscheidungen ein klares Interesse der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung konstatiert und damit eine europarechtlich fundierte Pflicht zu einheitlicher Auslegung begründet. Ergänzend hat jüngst Drexl den Versuch unternommen, die Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung von Vorschriften des TRIPS-Abkommens zum Schutz des geistigen Eigentums auch für das Problem der überschießenden Umsetzung von Richtlinien fruchtbar zu machen.57 a)

Unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschußbereich?

Eine unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung (auch) im Überschußbereich setzte voraus, daß die der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung zugrundeliegenden Mechanismen auf die nationale Norm auch insoweit Anwendung finden, als die nationale Norm über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinausreicht. Dagegen spricht vor allem das jedem Handeln der Gemeinschaft zugrunde liegende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, aufgrund dessen das Gemeinschaftsrecht außerhalb seines Anwendungsbereichs eine gemeinschaftsrechtliche Wirkung nicht entfalten kann.58 In den Worten von Generalanwalt Darmon: „Es gibt kein Gemeinschaftsrecht außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“.59 Da aber die überschießende Umsetzung den Anwendungsbereich des umzusetzenden Rechts schon deshalb unberührt läßt, weil den Mitgliedstaaten die Befugnis fehlt, den Anwendungsbereich des Gemein-

54 MünchKommBGB-Ernst, vor § 275 Rn. 23; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 883 f.; ders., in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.), Europäisches Kaufgewährleistungsrecht, S. 119. So auch die Interpretation der Rechtsprechung des EuGH bei AnwKomm-Büdenbender, vor § 433 Rn. 20; anders nunmehr ders., ZEuP 2004, 36, 51ff. 55 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161. 56 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291. 57 Drexl, FS Heldrich, S. 82 f. 58 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919 und Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915 ff. 59 GA Darmon, Schlußanträge v. 3.7.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Massam Dzodzi ./. Belgischer Staat, Slg. 1990, I-3780 Tz. 11.

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

schaftsrechts einseitig zu bestimmen,60 bleibt es dabei, daß der überschießende Teil der nationalen Norm außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie liegt. Es kommt hinzu, daß die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung ihrerseits in der Pflicht des Mitgliedstaates zur Umsetzung der Richtlinie wurzelt. Sie kann deshalb nicht über den mit der Richtlinie den Mitgliedstaaten aufgegebenen Regelungsauftrag hinausgehen und dieser Regelungsauftrag ist durch die inhaltlichen Vorgaben und den Anwendungsbereich der Richtlinie umschrieben und begrenzt.61 b)

Mittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung

Besteht somit richtigerweise keine unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung des nicht richtliniendeterminierten Teils nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung von Richtlinien, so könnte doch eine Pflicht zu einheitlicher und damit einheitlich richtlinienkonformer Auslegung mittelbar daraus entstehen, daß andernfalls die nationale Norm auch im Anwendungsbereich der Richtlinie falsch ausgelegt werden könnte und der Mitgliedstaat damit seine Umsetzungspflicht verletzt.62 In diesem Zusammenhang sind die Entscheidungen in Sachen Leur-Bloem und Giloy zu bedenken. Die Rechtssache Leur-Bloem betrifft mehrere vom Gerichtshof Amsterdam vorgelegte Fragen zur Auslegung der Fusionssteuer-Richtlinie,63 während die vom Hessischen Finanzgericht vorgelegte Rechtssache Giloy Fragen zur Auslegung des gemeinschaftlichen Zollkodex 64 zum Gegenstand hat. Beide Verfahren betrafen allerdings nationales Recht außerhalb des Anwendungsbereichs der jeweiligen europäischen Rechtsnormen. Das Verfahren Leur-Bloem betraf die steuerlichen Auswirkungen der Einbringung von Anteilen zweier niederländischer Gesellschaften in eine dritte, ebenfalls niederländische Gesellschaft, während die Fusionssteuerrichtlinie Steuerhindernisse bei grenzüberschreitenden Fusionen innerhalb der Gemeinschaft beseitigen soll und dementsprechend nur für grenzüberschreitende Vorgänge gilt.65 Die streitgegenständliche Norm des niederländischen Einkommensteuerrechts sieht allerdings eine gleichlautende Definition des Begriffs der „Fusion durch Austausch von Anteilen“ vor und stellt damit einen Fall überschießender Umsetzung durch einen gegenüber der Richtlinie erweiterten örtlichen Anwendungsbereich dar. Das Verfahren Giloy betraf einen Fall der Einfuhrumsatzsteuer. Auf diese ist zwar der Zollkodex nicht anwendbar, doch enthält das nationale Steuerrecht für die Einfuhrumsatzsteuer einen Verweis auf den Zollkodex.

60 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919. 61 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 273 ff.; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 685. 62 In diesem Sinne Drexl, FS Heldrich, S. 83 f. 63 Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. 1990 Nr. L 225/1. 64 Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, ABl. 1992 L 321/23. 65 Dazu ausführlich Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 918.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

In seiner Entscheidung in Sachen Leur-Bloem führt der Gerichtshof aus: „Richten sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Gemeinschaftsrecht getroffenen Regelungen, um insbesondere zu verhindern, daß es zu Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen oder – wie im vorliegenden Fall – zu Wettbewerbsverzerrungen kommt, so besteht ein klares Interesse der Gemeinschaft daran, daß die aus dem Gemeinschaftsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern.“ 66

Damit scheint zwar der Gerichtshof eine europarechtliche Pflicht zu einheitlicher Auslegung zu bejahen (Interesse der Gemeinschaft), doch ist dieses Diktum des EuGH bei näherer Betrachtung keineswegs eindeutig. Beachtlich ist zunächst der Hintergrund, vor dem der Gerichtshof das Interesse der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung betont: In dem Rechtsstreit war, wie in einer Reihe vorangehender Entscheidungen auch,67 schon die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Beantwortung von Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts in Fällen, in denen das Gemeinschaftsrecht nicht von sich aus anwendbar ist, sondern nur durch überschießender Umsetzung bzw. Verweis nationaler Normen auf gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen Bedeutung für den Rechtsstreit erlangt, streitig. Daher zielt das niederländische Gericht mit seiner ersten Vorlagefrage ausdrücklich auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs, und in dem Verfahren sprachen sich Generalanwalt Jacobs 68, aber auch die Kommission, die niederländische und die deutsche Regierung 69 gegen eine Zuständigkeit des EuGH aus. Die Betonung des Interesses der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung kann daher auch als Rechtfertigung der Zuständigkeit des Gerichtshofs und nicht als Begründung einer europarechtlichen Pflicht zu einheitlicher Auslegung verstanden werden. Denn schon in der Entscheidung Leur-Bloem selbst lautet die unmittelbar folgende Randnummer: „In einem solchen Fall ist es jedoch im Rahmen der in Artikel 177 vorgesehenen Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof allein Sache des nationalen Gerichts, die genaue Tragweite dieser Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht zu beurteilen; die Zuständigkeit des Gerichtshofs beschränkt sich auf die Prüfung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (Urteile Dzodzi und Federconsorzi a.a.O., Rn. 41 und 42 bzw. 10). Für die Berücksichtigung der Grenzen, die der nationale Gesetzgeber der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf rein innerstaatliche Sachverhalte setzen wollte, gilt nämlich das nationale Recht, so daß dafür ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind“.70

66 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 32; ähnlich EuGH v. 17.7. 1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 23, 28. 67 Sog. Dzodzi-Rechtsprechung, dazu ausführlich Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 915 ff. 68 Gemeinsame Schlußanträge v. 17.9.1996 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem und Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4161 Tz. 47 ff. 69 S. GA Jacobs, Schlußanträge 17.9.1996 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem und Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4161 Tz. 44. 70 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 33.

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

In der Zusammenschau beider Aussagen läßt sich das Urteil des Gerichtshofs daher nur so verstehen, daß zwar, soweit eine einheitliche Auslegung gewollt ist, ein Interesse der Gemeinschaft daran besteht, daß die Norm auch tatsächlich einheitlich, also richtlinienkonform ausgelegt wird (Rn. 32), und daß deshalb, soweit eine einheitliche Auslegung zu erfolgen hat, der Gerichtshof auch in Fällen außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts eine Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen im Vorabentscheidungsverfahren vornehmen kann,71 die Frage, ob eine einheitliche Auslegung erfolgen soll, aber eine Frage allein des nationalen Rechts ist (Rn. 33). Ihre Bestätigung findet diese Interpretation der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der nachfolgenden Entscheidung des EuGH in Sachen ICI.72 Hier hatte sich der Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsersuchen des House of Lords ebenfalls mit der Frage nach der Auslegung nationaler Normen, die in einem Teil ihres Anwendungsbereiches gemeinschaftsrechtskonform auszulegen waren, zu befassen. Zwar ging es im konkreten Fall nicht um eine Frage der richtlinienkonformen Auslegung, sondern um die Auslegung englischen Konzernsteuerrechts im Lichte der Niederlassungsfreiheit, doch war das Grundproblem insoweit identisch, als die Tochtergesellschaften des steuerbetroffenen englischen Konzerns ihren Sitz mehrheitlich nicht nur außerhalb des Vereinigten Königreichs, sondern auch außerhalb der Gemeinschaft hatten, so daß in casu schon deshalb ein möglicher, durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts ggf. abzuwendender Verstoß gegen Art. 43 EG nicht gegeben war. Das House of Lords legte deshalb die allgemeine Frage vor, ob eine uneinheitliche Auslegung der nationalen Norm möglich ist,73 und der Gerichtshof hat diese Frage mit den nachfolgend wiedergegebenen Worten auch allgemein beantwortet. Die Tatsache, daß es vorliegend um einen Fall gemeinschaftsrechtskonformer und nicht um einen Fall richtlinienkonformer Auslegung ging, steht deshalb einer Bewertung von ICI als Klarstellung zu Leur-Bloem nicht entgegen.74 Denn auch der EuGH stellt bei seiner Betonung des Interesses der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung nicht auf die Besonderheiten gerade der richtlinienkonformen Auslegung und die mitgliedstaatliche Pflicht zur Umsetzung von Richtlinien ab, wie sich mittelbar bereits daraus ergibt, daß der Gerichtshof die oben wiedergegebene Formulierung aus Leur-Bloem nahezu wortgleich in der Entscheidung in Sachen Giloy verwendet,75 bei der die Ausstrahlungswirkung des Zollkodex und damit einer europäischen Verordnung im Mittelpunkt stand, die innerhalb ihres Anwendungsbereichs unmittelbar und zwingend gilt (Art. 249 EG) und keiner Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber bedarf. In ICI stellt der EuGH fest: 71 Was indes durchaus Bedenken begegnet, dazu unten unter IV. 72 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 Imperial Chemical Industries, Slg. 1998, I-4695. 73 S. das Zwischenurteil des House of Lords v. 14.3.1996 zur Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens AllER [1996] 2, S. 23 ff. 74 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919; wie hier Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 889, 892; Bärenz, DB 2003, 375; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 691f.; dezidiert a.A. W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 884, dort Fn. 216; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 101. 75 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 28.

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2. Teil: Allgemeiner Teil „Betrifft der Rechtsstreit vor dem nationalen Gericht also einen Sachverhalt, der nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, so ist dieses Gericht nach dem Gemeinschaftsrecht weder verpflichtet, seine Rechtsvorschriften gemeinschaftsrechtskonform auszulegen, noch, sie unangewendet zu lassen. Falls ein und dieselbe Vorschrift in einer in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallenden Situation unangewendet bleiben müßte, in einer nicht in diesen Anwendungsbereich fallenden Situation jedoch weiterhin angewandt werden könnte, wäre das zuständige Organ des betreffenden Staates verpflichtet, diese Rechtsunsicherheit zu beseitigen, soweit sie die sich aus Gemeinschaftsvorschriften ergebenden Rechte beeinträchtigen könnte.“ 76

Die besseren Gründe sprechen denn auch gegen eine mittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur einheitlichen Auslegung wegen der abstrakten Gefahr einer Beeinträchtigung der Richtlinienwirkung im Anwendungsbereich der Richtlinie. Beachtlich ist, daß schon der Gerichtshof selbst in ICI ein Regel-Ausnahmeverhältnis konstatiert, wonach eine Verpflichtung zu einheitlich gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung grundsätzlich nicht besteht, und ein Tätigwerden des zuständigen Organs nur verlangt ist, soweit eine Rechtsunsicherheit die sich aus Gemeinschaftsrecht ergebenden Rechte beeinträchtigen könnte. Es kommt hinzu, daß die bei uneinheitlicher Auslegung des nationalen Rechts angeführten Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen dem richtliniendeterminierten und dem nicht richtliniendeterminierten Teil der Norm ihren Ursprung nicht in der uneinheitlichen Auslegung, sondern im Anwendungsbereich der Richtlinie selbst haben: Würde der Gesetzgeber die Richtlinie wortgetreu umsetzen, so wären zur Ermittlung des Anwendungsbereichs der nationalen Norm just die in der Richtlinie enthaltenen Merkmale heranzuziehen, ohne daß dem Mitgliedstaat der Vorwurf unrichtiger Umsetzung gemacht werden könnte. Im Kern ist daher aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht das Problem uneinheitlicher Auslegung nicht die Abgrenzung als solche, sondern die Tatsache, daß sich die Abgrenzungskriterien bei überschießender Umsetzung nicht aus der nationalen Norm selbst, sondern nur aus der Richtlinie gewinnen lassen. Soweit man hierin einen Verstoß gegen die Pflicht des Mitgliedstaates, die Richtlinie transparent umzusetzen, sieht 77, ist der Gesetzgeber des Mitgliedsstaates aufgerufen, dieses Transparenzdefizit zu beseitigen – eine Pflicht, die den nationalen Gesetzeber in diesen Fällen aber auch abgesehen vom überschießenden Charakter der Umsetzung schon deshalb trifft, weil eine nur mittels richtlinienkonformer Auslegung zu erreichende Richtlinienkonformität des nationalen Rechts dem Transparenzgebot ohnehin nicht genügt.78

76 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 Imperial Chemical Industries, Slg. 1998, I-4725 Rn. 34. 77 S. zur Transparenzrechtsprechung allgemein EuGH v. 9.9.1999 – Rs. C-217/97 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1999, I-5087 Rn. 31ff.; EuGH v. 23.5.1985 – Rs. 29/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 1661 Rn. 23 sowie Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 51. 78 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 20 f.; EuGH v. 19.9.1996 – Rs. C-236/95 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1996, I-4459 Rn. 13 ff.; Grabitz/HilfNettesheim, Art. 249 EGV Rn. 141 und Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 112 mit abweichenden Stimmen aus dem deutschen Schrifttum.

292

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

c)

Rechtsprechung des EuGH zu TRIPS

Schließlich ist zu prüfen, ob sich aus der Rechtsprechung des EuGH zu dem TRIPSAbkommen Aussagen über die Auslegung nationaler Normen bei überschießender Umsetzung von Richtlinien gewinnen lassen. TRIPS ist ein Abkommen zum Schutz geistigen Eigentums, welches von der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten als gemischtes Abkommen mit Drittstaaten geschlossen wurde. Das Abkommen enthält Vorschriften, die sowohl für die nationale Marke als auch für Gemeinschaftsmarken gelten, darunter der in zwei niederländischen Verfahren streitgegenständliche Art. 50 Abs. 6 TRIPS über die Ausgestaltung des einstweiligen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit Markenverletzungen. Im Urteil Hermes 79, dessen Sachverhalt den einstweiligen Rechtsschutz bei Verletzung einer nationalen Marke betraf, beantwortet der EuGH die Vorlagefrage unter Verweis auf die Rechtsprechung in Sachen Leur-Bloem und bestätigt das Interesse der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung,80 und in Dior und Assco 81 geht der Gerichtshof hierüber noch scheinbar hinaus und konstatiert eine Verpflichtung zur einheitlichen Auslegung des Art. 50 Abs. 6 TRIPS: 82 „Ist eine Vorschrift wie Artikel 50 des TRIPS-Übereinkommens sowohl auf dem innerstaatlichen Recht unterliegende als auch auf dem Gemeinschaftsrecht unterliegende Sachverhalte anwendbar, wie dies im Markenrecht der Fall ist, so ist der Gerichtshof ebenfalls für ihre Auslegung zuständig, um voneinander abweichende Auslegungen in der Zukunft zu verhindern (vgl. Urteil Hermès, Rn. 32 und 34). Insoweit sind die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsorgane bei der Erfüllung der Verpflichtungen, die sie bei der geteilten Zuständigkeit für den Abschluß des WTO-Übereinkommens – einschließlich des TRIPS-Übereinkommens – übernommen haben, zu enger Zusammenarbeit verpflichtet (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/94 Rn. 108). Da Artikel 50 des TRIPS-Übereinkommens eine Verfahrensvorschrift ist, die für alle in ihren Geltungsbereich fallenden Sachverhalte in gleicher Weise gilt und sowohl auf dem innerstaatlichen Recht unterliegende als auch auf dem Gemeinschaftsrecht unterliegende Sachverhalte anwendbar ist, gebietet es diese Verpflichtung sowohl aus praktischen wie aus rechtlichen Gründen, daß die Stellen der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft sie einheitlich auslegen.“ 83

Abgesehen davon, daß schon die Entscheidungszuständigkeit des EuGH in diesen Rechtssachen keineswegs unbestritten war,84 erscheint fraglich, ob sich aus dem Ur-

79 EuGH v. 22.2.1996 – Rs. C-53/96 Hermès International, Slg. 1998, I-3603. 80 EuGH v. 22.2.1996 – Rs. C-53/96 Hermès International, Slg. 1998, I-3603 Rn. 32. 81 EuGH v. 14.12.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Christian Dior und Assco Gerüste, Slg. 2000, I-11307. 82 So zumindest die Interpretation des Urt. v. 14.12.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Christian Dior und Assco Gerüste, Slg. 2000, I-11307, Rn. 36 f. durch Drexl, FS Heldrich, S. 83. 83 EuGH v. 14.12.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Christian Dior und Assco Gerüste, Slg. 2001, I-11307 Rn. 35 ff. 84 Deutlich die Schlußanträge von GA Cosmas in dieser Entscheidung: „Unter diesen Umständen liegt es auf der Hand, daß im Rahmen des Art. 177 EG-Vertrag die Ausdehnung der Auslegungszuständigkeit des Gerichtshofs auf Bestimmungen des TRIPs-Übereinkommens bezüg-

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2. Teil: Allgemeiner Teil

teil für die hier interessierenden Konstellationen Regeln ableiten lassen. Beachtlich ist, daß in den Fällen des TRIPS-Übereinkommens die Anwendung einer gemischten Norm im Raume steht, während es bei überschießender Umsetzung um die mittelbare Wirkung einer gemeinschaftlichen Norm außerhalb ihres Anwendungsbereiches geht. In Dior nimmt der Gerichtshof für sich die Entscheidung über das „ob“ der einheitlichen Anwendung einer gemischten Norm in Anspruch, während im Bereich der überschießenden Umsetzung das „ob“ der einheitlichen Auslegung einer nationalen Norm zu prüfen ist. Aus der Entscheidung in Sachen Dior folgt daher keineswegs, daß der Gerichtshof auch die hier allein interessierende Frage nach dem „ob“ der einheitlichen Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts künftig anders handhaben wird, als in den Entscheidungen Leur-Bloem und ICI vorgegeben. Dafür spricht auch, daß der EuGH in späteren Entscheidungen zur überschießenden Umsetzung von Richtlinien das „ob“ einer einheitlichen Auslegung der Prüfung durch die mitgliedstaatlichen Gerichte überläßt,85 woraus mittelbar folgt, daß es sich dabei nicht um eine Frage des Gemeinschaftsrechts handelt, wären doch zu dessen Auslegung allein die europäischen Gerichte berufen. Insgesamt läßt sich somit in Einklang mit der überwiegenden Literaturmeinung 86 eine europarechtliche Pflicht zu einheitlicher Auslegung nicht begründen; die Frage nach einheitlicher oder gespaltener Auslegung ist vielmehr eine solche des nationalen Rechts.

3.

Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht 87

Läßt sich ein gemeinschaftsrechtlich fundiertes Gebot einheitlicher Auslegung nicht begründen, so könnte doch eine einheitliche und damit richtlinienkonforme Auslegung aus Gründen des nationalen Rechts geboten sein. Hiervon gehen nicht wenige Autoren im Schrifttum aus, wenn auch regelmäßig unter dem Vorbehalt, daß wegen „sehr wichtigen sachlichen Gründen“ oder aufgrund „ganz besonderer Umstände“ im Einzelfall anders zu entscheiden sein könne.88 Nicht nur überfordere eine divergierende Auslegung identischer Normen Gerichte und Rechtsunterwor-

lich der Gebiete, auf denen die (potentielle) Zuständigkeit der Gemeinschaft nicht ausgeübt worden ist, auf eine Politik richterlicher Rechtsschöpfung hinausliefe, die einem verfassungsgemäßem Verständnis zuwiderlaufen und mit Zweckmäßigkeitsgründen kaum gerechtfertigt werden könnte.“, Schlußanträge v. 11.7.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Christian Dior und Assco Gerüste, Slg. 2001, I-11307 Tz. 51. 85 EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 88 ff. 86 Canaris, FS Bydlinski, S. 74; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 39a; Habersack/ Mayer, JZ 1999, 913, 921; Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 892; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 104; MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 Rn. 4; Lutter, GS Heinze, S. 574 f.; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 Rn. 151; Langenbucher-Riehm, § 4 Rn. 35; Schnorbus, RabelsZ (2001) 654, 685 f.; Streinz-Schroeder, Art. 249 Rn. 131. 87 Die folgenden Ausführungen folgen weitgehend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 549 f. 88 Bärenz, DB 2003, 375 f.; Heß, RabelsZ 66 (2002), 470, 486; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 883; Schulze, in: ders. (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 18.

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

fene; sie gerate überdies mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Gebot der Klarheit und Bestimmtheit von Normen in Konflikt. Wenn auch der Hinweis auf die Relativität von Rechtsbegriffen 89 die gespaltene Auslegung identischer Normen nicht unmittelbar zu rechtfertigen vermag,90 so bleibt doch festzuhalten, daß die Normspaltung seit Jahrzehnten ein geläufiges Problem vor allem des Wirtschaftsrechts und des Internationalen Privatrechts darstellt.91 Und auch der Einwand, eine gespaltene Auslegung könne Gerichte wie Rechtsunterworfene verwirren, ist letztlich nicht überzeugend, ist doch die Erwartung, das richtige Verständnis einer Norm durch schlichte Lektüre des Gesetzestextes ermitteln zu können, ein ganz allgemein von einer komplexen und dynamischen Rechtsordnung nicht zu erfüllender Wunsch. Aus dem Rechtsstaatsprinzip läßt sich daher ein generelles Verbot gespaltener Auslegung nicht herleiten.92 Es kommt hinzu, daß nach der bereits oben angesprochenen Transparenz-Rechtsprechung des EuGH 93 die Zeitdauer, während derer eine gespaltene Auslegung inhaltlich zum Tragen kommt, ohnehin begrenzt ist: Die gespaltene Auslegung kommt nur dort in Betracht, wo das nach nationalem Recht ermittelte Auslegungsergebnis mit den Anforderungen der Richtlinie nicht übereinstimmt und deshalb innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie durch richtlinienkonforme Auslegung zu korrigieren ist. Da aber das der Umsetzung europäischer Richtlinien dienende nationale Recht nach der Rechtsprechung des EuGH bestimmt, klar und transparent zu sein hat und eine nur durch richtlinienkonforme Auslegung zu erreichende Rechtslage hierfür regelmäßig nicht ausreicht, bleibt der nationale Gesetzgeber trotz richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts durch die Gerichte verpflichtet, die Vorgaben der Richtlinie korrekt umzusetzen.94 Hierbei hat er Gelegenheit, darüber zu entscheiden, wie er zukünftig die bisher überschießend umgesetzte Fälle behandeln möchte. So hat in Sachen Heininger der EuGH entschieden, daß die Haustürwiderrufsrichtlinie so auszulegen ist, daß auch bei gleichzeitig der Verbraucherkreditrichtlinie unterfallenden Realkreditverträgen dem Verbraucher ein Recht zum Widerruf zu gewähren ist.95 Daraufhin hat der Bundesgerichtshof im Haustürwiderrufsrecht entgegen der bis dahin herrschenden, von ihm zuvor ausdrücklich geteilten Meinung 96 § 5 Abs. 2 HWiG richtlinienkonform einschränkend ausgelegt 97 und diese Auslegung unter

89 Hennrichs, ZGR 1997, 66, 78. 90 Bärenz, DB 2003, 375, 376; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 106. 91 Ausführlich und mit weiteren Nachweisen dazu Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 549. 92 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 550; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EGV Rn. 151. 93 Oben unter III. 2. b) mit Nachweisen in Fn. 77 f. 94 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 20 f.; EuGH v. 19.9.1996 – Rs. C-236/95 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1996, I-4459 Rn. 13 ff.; Grabitz/HilfNettesheim, Art. 249 EGV Rn. 141 und Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 112 mit abweichenden Stimmen aus dem deutschen Schrifttum. 95 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 33. 96 BGH, NJW 2000, 521, 523 mit zahlreichen Nachweisen auch zur Gegenmeinung. 97 BGHZ 150, 248, 253 ff.; BGH, NJW 2003, 199 f.; zustimmend MünchKommBGB-Ulmer, § 312a Rn. 10; Frisch, BKR 2002, 84, 85; Hoffmann, ZIP 2002, 145; Pfeiffer, EWiR 2002, 261; Staudinger, NJW 2002, 653, 655. Die besseren Argumente sprachen indes dafür, daß § 5 Abs. 2 HWiG einer solchen richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich war, so vor Erlaß der Entscheidung

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Berufung auf den Willen des Gesetzgebers zur einheitlichen Behandlung der von der Richtlinie erfaßten Fälle des Vertragsschlusses an der Haustür und der vom Haustürwiderrufsgesetz umfaßten Fälle der Mitveranlassung des Vertrages durch eine Haustürsituation 98 auf alle dem HWiG unterfallenden Konstellationen angewendet. Gleichwohl hat der Gesetzgeber die Rechtslage durch Neufassung der §§ 312 a, 355 BGB und Streichung des § 491 Abs. 3 Nr. 1 BGB mittels des OLG-Vertretungsänderungsgesetzes geklärt und erst damit seine Umsetzungspflicht erfüllt.99 4.

Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschußbereich

a)

Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung

Nachdem bislang festgestellt werden konnte, daß bei überschießender Umsetzung von Richtlinien weder nach europäischem noch nach nationalem Recht eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts im Überschußbereich besteht, sind nachfolgend die (nationalen) Kriterien für die Auslegung zu bestimmen. Dabei gilt es zunächst, die Unterschiede zwischen der richtlinienkonformen Auslegung im Anwendungsbereich der Richtlinie und der nationalen Auslegung außerhalb dieses Anwendungsbereichs zu verdeutlichen.100 Die richtlinienkonforme Auslegung ist ihrer rechtstheoretischen Struktur nach interpretatorische Vorrangregel 101: Innerhalb der Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung muß der nationale Rechtsanwender den europarechtlichen Vorgaben ohne weitere Abwägung Geltung verschaffen.102 Im nicht europarechtlich determinierten Überschußbereich vollzieht sich Auslegung hingegen als interpretatorische Gesamtabwägung aller zu berücksichtigenden Auslegungskriterien, wobei – vorbehaltlich der verfassungskonformen Auslegung – keinem Auslegungskriterium per se Vorrang einzuräumen ist.103 Es empfiehlt sich, worauf erstmals Hommelhoff hingewiesen hat,104 diesen Methodenunterschied auch begrifflich zu markieren, den Rechtsbegriff der richtlinienkonformen Auslegung den Fällen im Anwendungsbereich der Richtlinie vorEdelmann, BKR 2002, 80, 82; Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 256 f.; von Heymann/Annertzok, BKR 2002, 234, 235; Hochleitner/Wolf/Großerichter, WM 2002, 529; für gespaltene Auslegung bereits Habersack, WM 2000, 981, 991. Aus der Rechtsprechung etwa LG München I, WM 2002, 285, 287; OLG Bamberg, WM 2002, 537, 544 f. Zum Ganzen instruktiv Franzen, JZ 2003, 321, 324 f., 327. 98 BGHZ 150, 248, 261f.; BGH, ZIP 2004, 1402, 1403; BGH, ZIP 2005, 565, 567. 99 Ob weitere Umsetzungsdefizite, insbesondere durch die Pflicht des Darlehensnehmers zur Rückgewähr des Darlehens auch in den Fällen, in denen die Valuta – freilich: vereinbarungsgemäß – an Dritte bezahlt wurde, bestehen, war Gegenstand der Vorabentscheidungsersuchen des LG Bochum, NJW 2003, 2612 und des OLG Bremen, NJW 2004, 2238. S. hierzu die Urteile des EuGH vom 25.10.2005, Rs. C-350/03 Schulte und Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, NJW 2005, 3551 und 3555 = JZ 2006, 86 m. Anm. Habersack = BKR 2005, 441 m. Anm. Derleder, in deren Folge sich erneut die Frage nach einheitlicher oder gespaltener Auslegung des deutschen Haustürwiderrufsrechts stellt. S. zum Ganzen auch unten unter 4. d) cc). 100 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 101 Überzeugend Canaris, FS Bydlinski, S. 68 ff. 102 Zutreffend Ulmer, ZIP 2002, 1080, 1081 zur überflüssigen Absicherung des richtlinienkonformen Ergebnisses durch nationale Abwägung in BGHZ 150, 248. 103 Canaris, FS Bydlinski, S. 74; dem folgend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. A.A. Lutterders., Umwandlungsgesetz, Einleitung Rn. 32. 104 Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915.

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

zubehalten und außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie von „Ausstrahlungswirkung der Richtlinie auf das richtlinienfreie Recht“ 105, „quasi-richtlinienkonformer“ 106 oder „richtlinienorientierter“ 107 Auslegung zu sprechen. b)

Bedeutung des gesetzgeberischen Willens

Verbreitet wird für die möglichst einheitliche Auslegung des nationalen Rechts im Überschußbereich und im richtliniendeterminierten Bereich auf den Willen des historischen Gesetzgebers abgestellt, der seinen Ausdruck nicht zuletzt in der Schaffung der einheitlichen Norm gefunden habe und der eine gespaltene Auslegung nur in besonderen Ausnahmefällen zulasse.108 Diese Sichtweise greift jedoch, wie erst unlängst herausgearbeitet wurde, gerade in den kritischen Fällen zu kurz; 109 diese sind vielmehr dadurch gekennzeichnet, daß der Gesetzgeber im nationalen Recht zwei Entscheidungen getroffen hat, von denen sich jedoch unter dem Einfluß der Richtlinie die eine nicht aufrechterhalten läßt: So hat der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes die Strukturentscheidung 110 getroffen, die Voraussetzungen des Rücktritts bei vertragswidriger Kaufsache grundsätzlich nicht für den Verbrauchsgüterkauf getrennt zu regeln, sondern diese in das allgemeine Leistungsstörungsrecht einzupassen und hierfür mit § 323 BGB eine einheitliche Norm zu schaffen. Gleichzeitig hat er aber die Sachentscheidung getroffen, den Rücktritt von Ablauf und Setzen einer angemessenen Frist abhängig zu machen. Soweit sich nun die Sachentscheidung für den Verbrauchsgüterkauf als richtlinienwidrig erweist, wird man kaum allein unter Berufung auf die Strukturentscheidung das Fristsetzungserfordernis in allen von § 323 BGB erfaßten Fällen einschränkend auslegen können. Ebenso hatte der Gesetzgeber des HWiG die Strukturentscheidung getroffen, die der Richtlinie unterfallenden, an der Haustüre abgeschlossenen Verträge so zu behandeln wie diejenigen Verträge, die durch die Haustürsituation lediglich mitveranlaßt wurden, und diese Strukturentscheidung kam seinerzeit im Anwendungsbereich des HWiG zum Ausdruck. Zugleich hat der Gesetzgeber des HWiG jedoch die in § 5 Abs. 2 HWiG seinerzeit ebenso zum Ausdruck kommende Sachentscheidung getroffen, bei Realkreditverträgen, nicht zuletzt mit Blick auf den Grundsatz der taggenauen Refinanzierung, ein Widerrufsrecht auszuschließen.111 Dieses Zusammentreffen von Sach- und Strukturentscheidung führt dazu, daß selbst die Feststellung, der Gesetzgeber habe die Strukturentscheidung bewußt getroffen und eine einheitliche Auslegung auch mit Blick auf die Richtliniengebundenheit des europarechtlich geforderten Teils der Norm gewollt, für sich genom-

105 Canaris, FS Bydlinski, S. 74. 106 So Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915 107 MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 Rn. 4. 108 Etwa BGHZ 150, 248, 261; Staudinger, NJW 2002, 653, 655; Bärenz, DB 2003, 375; Hoffmann, ZIP 2002, 145, 150; aus jüngster Zeit Lutter, GS Heinze, S. 575 f. 109 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 110 Die Bezeichnung als Sach- und Strukturentscheidung verdanken wir Schürnbrand, s. Mayer/ Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 111 Dazu und zum folgenden Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

men noch nicht automatisch zu einer einheitlichen Auslegung führt.112 Stets ist nämlich zu beachten, daß der Gesetzgeber die Richtlinienwidrigkeit der zugleich mit der Strukturentscheidung getroffenen Sachentscheidung nicht kannte. Ein Festhalten an der Strukturentscheidung trotz abweichender Sachentscheidung ist damit letztlich hypothetischer Natur.113 c)

Vermutung für einheitliche Auslegung

Wenn sich die einheitliche Auslegung somit auch nicht allein auf die Strukturentscheidung des historischen Gesetzgebers stützen läßt, so läßt sich doch insgesamt eine Vermutung für eine einheitliche Auslegung formulieren. Diese kann, soweit der Gesetzgeber ausdrücklich auch auf die Richtlinie oder sonstige Normen des Gemeinschaftsrecht in ihrer jeweiligen Auslegung durch den EuGH verweisen wollte, auch den Willen des Gesetzgebers für sich in Anspruch nehmen.114 Aber auch jenseits dieser speziellen Fälle spricht die Einheitlichkeit der nationalen Norm und damit ein systematisches Argument für eine einheitliche Auslegung. Dieses systematische Argument verliert hingegen an Überzeugungskraft, wenn der Gesetzgeber, wie beispielsweise hinsichtlich der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf mit den §§ 474 ff. BGB geschehen, an anderer Stelle Sondernormen für den der Richtlinie unterfallenden Bereich schafft.115 Gleichfalls für einheitliche Auslegung streitet das für sich allein nicht durchschlagende Argument, eine gespaltene Auslegung erschwere die Rechtsanwendung und führe zu neuen Abgrenzungsschwierigkeiten.116 d)

Gründe für eine gespaltene Auslegung

Ist somit die nationale Norm nur im Zweifel einheitlich auszulegen und kommt wegen des Charakters der Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung grundsätzlich eine gespaltene Auslegung durchaus in Betracht, so ist nachfolgend zu untersuchen, welche Gründe im Einzelfall für eine gespaltene Auslegung streiten können.

112 A.A. Lutter, GS Heinze, S. 575 ff. 113 Zutreffend für die Heininger-Argumentation Rohe, BKR 2002, 575, 576; Wolf, BKR 2002, 614, 616. Zum Ganzen Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551f. 114 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 110. Dafür streitet im Überschußbereich aber nicht die vom EuGH in seinem Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a. Slg. 2004, I-8835 Rn. 112 formulierte Vermutung, der nationale Gesetzgeber habe bei Umsetzung einer Richtlinie die Richtlinienkonformität des Umsetzungsgesetzes gewollt, denn auch diese Vermutung gilt nur für den Anwendungsbereich der Richtlinie und läßt sich auf die Frage, ob der Gesetzgeber stets eine einheitliche Auslegung des nationalen Rechts gewollt habe, nicht übertragen. 115 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. Dezidiert a.A. Lutter, GS Heinze, S. 576 und Lutter-Lutter, Umwandlungsgesetz, Einleitung Rn. 32: Gerade das Vorliegen einzelner Sondernormen für den von der Richtlinie erfaßten Bereich spreche dafür, daß der Gesetzgeber außerhalb dieser Sondernormen eine einheitliche Behandlung gewollt habe. Siehe aber zu der Problematik des Abstellens auf die Strukturentscheidung des historischen Gesetzgebers oben unter b). 116 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551.

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

aa)

Verfassungskonforme Auslegung

Am einfachsten ist dabei der – bislang wohl theoretische – Fall zu entscheiden, daß die von der Richtlinie gebotene Auslegung des nationalen Rechts mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren wäre: Zumindest innerhalb des durch die Solange/Maastricht-Rechtsprechung gezogenen Rahmens gilt nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, daß, soweit ein Umsetzungsermessen nicht besteht, nicht nur die europäischen Rechtsakte, sondern auch das der Umsetzung dienende nationale Recht nicht am Maßstab des Grundgesetzes zu messen sind.117 Jedenfalls aber wäre das Grundgesetz seinerseits richtlinienkonform auszulegen.118 Beides gilt indes nur im Anwendungsbereich der Richtlinie, da auch nur insoweit die Gemeinschaft selbst im Sinne von Art. 23 GG rechtsetzend tätig war.119 Für den überschießenden Bereich des nationalen Rechts bewendet es sich daher in jedem Fall bei der uneingeschränkten verfassungsrechtlichen Überprüfbarkeit am Maßstab des nicht richtlinienkonform auszulegenden Grundgesetzes und damit beim Vorrang der verfassungskonformen Auslegung.120 Weicht diese von der durch die Richtlinie gebotenen Auslegung des nationalen Rechts ab, so ist eine gespaltene Auslegung zwingend.121 bb)

Überwiegende Bedeutung der Sachentscheidung und erhebliche Abweichung von dieser durch die richtlinienkonforme Auslegung

Eine gespaltene Auslegung kommt daneben dann in Betracht, wenn die Sachentscheidung des Gesetzgebers besondere Bedeutung beansprucht und die durch die Richtlinie gebotene Auslegung sich von dieser Sachentscheidung weit entfernt. Hierzu ist erforderlich, den Stellenwert, den der Gesetzgeber der Sachentscheidung auf der einen Seite und der Strukturentscheidung auf der anderen Seite jeweils zugemessen hat, zu ermitteln und die Ergebnisse wertend miteinander zu vergleichen. So spricht angesichts der Bedeutung der Fristsetzung und dem in § 323 Abs. 1 BGB klar zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers viel dafür, die ggf. gebotene richtlinienkonform erweiternde Auslegung des § 323 Abs. 2 BGB auf die Fälle des Verbrauchsgüterkaufs im Sinne von § 474 BGB zu beschränken.122 Eine

117 So ausdrücklich BVerfG, NJW 2001, 1267, 1268 unter II. 1 b). Zwar wird dort nur die Überprüfung eines deutschen Umsetzungsgesetzes am Maßstab der Verfassung verweigert, doch kann für die verfassungskonforme Auslegung schwerlich etwas anderes gelten. Ebenso Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 920. Ohne Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung a.A. Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 675, dort Fn. 77; diesem folgend Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 103. 118 Canaris, FS Bydlinski, S. 79 f. 119 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 920. Zur Umgrenzung des in der Richtlinie enthaltenen Regelungsauftrags durch Inhalt und Anwendungsbereich der Richtlinie oben unter III. 2. a). 120 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 550. 121 Dies gilt auch dann, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich die Orientierung am europäischen Recht vorgibt oder unmittelbar auf europäisches Gemeinschaftsrecht verweist; Auslegungsmaxime wie Verweisung erfolgen aus nationalem Recht und unterliegen daher der Bindung durch die Verfassung. 122 So auch Canaris, Schuldrechtsmodernisierung, S. XXV f.; ders., JZ 2003, 831, 838; Mayer/ Schürnbrand, JZ 2004, 545, 552; im Ergebnis ebenso Bamberger/Roth-Faust, § 437 Rn. 19.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

noch weitergehende Beschränkung auf diejenigen Fälle, die auch unter den Anwendungsbereich des engeren Verbraucherbegriffs der Richtlinie fallen,123 ist dagegen abzulehnen, da durch diese ein Differenzierungskriterium in das nationale Recht eingeführt würde, welches diesem bislang fremd ist, und zudem Verwerfungen mit der allgemeinen Wertung des § 13 BGB drohten.124 cc)

Zusätzliche Auslegungsgesichtspunkte, die nur im überschießenden Bereich der Norm vorhanden sind

Die letzte und vermutlich in der Praxis bedeutsamste Gruppe von Fällen, in denen eine gespaltene Auslegung der einheitlichen Norm ernsthaft in Erwägung zu ziehen ist, stellen diejenigen Konstellationen dar, in denen durch den erweiterten und über die Richtlinie hinausgehenden Anwendungsbereich des nationalen Rechts abweichende Auslegungsgesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des EuGH, daß zur Auslegung der Richtlinie deren Anwendungsbereich heranzuziehen ist.125 Da der Gerichtshof aber im Rahmen der Aufgabenteilung des Art. 234 EG stets nur das Gemeinschaftsrecht auslegt, kommen bei der Auslegung der Richtlinie notwendig allein diejenigen Gesichtspunkte zum Tragen, die den Anwendungsbereich der Richtlinie berühren. Insbesondere soweit aus dem weiteren Anwendungsbereich des nationalen Rechts neue Auslegungsgesichtspunkte erwachsen, kommt eine gespaltene Auslegung des nationalen Rechts in Betracht.126 Dies gilt namentlich dann, wenn der Gesetzgeber allein dem Verbraucherschutz dienende Richtlinien durch Normen umsetzt, die in Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs auch für den unternehmerischen Rechtsverkehr Geltung verlangen, wie dies bei der Umsetzung der Klauselrichtlinie durch die §§ 305 ff. BGB, bei der Umsetzung der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf durch das allgemeine Kaufrecht und künftig möglicherweise bei der Umsetzung der Richtlinie zum Schutz der Verbraucher gegen unlautere Geschäftspraktiken durch das deutsche Lauterkeitsrecht der Fall ist. In all diesen Fällen legt der Gerichtshof die Richtlinie allein unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes und dabei nach der gefestigten Maxime aus, wonach die Gemeinschaft insgesamt ein hohes Verbraucherschutzniveau anstrebt und verbraucherschützende Rechte daher im Zweifel weit, Ausnahmen von verbraucherschützenden Bestimmungen hingegen im Zweifel eng auszulegen sind.127 Da diese Maximen im Verkehr zwischen Unternehmern nicht notwendig zu sachgerechten Ergebnissen führen und umgekehrt Gesichtspunkte, die für den Rechtsverkehr zwischen Unternehmen bedeutsam sind, bei der Auslegung der Richtlinie notwendig unberücksichtigt bleiben, kommt in diesen

123 124 125 126 127

300

S. dazu oben II. 1. a) aa). Bamberger/Roth-Faust, § 437 Rn. 19; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 552. Dazu W.-H. Roth, oben, § 11. Palandt-Heinrichs, Einleitung Rn. 44. Dazu zu Recht kritisch Riesenhuber, oben, § 8.

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

Fällen auch ein unterschiedliches Auslegungsergebnis und damit eine gespaltene Auslegung in Betracht.128 Aus den gleichen Gründen liegt eine gespaltene Auslegung auch im Bereich der Bilanzrichtlinien nahe. Denn während der Gerichtshof insoweit stets die Auslegung von Normen vornimmt, die für die Aufstellung des handelsrechtlichen Jahresabschlusses verbindlich sind, und dabei allein die mit dieser Bilanz verfolgten Zwecke berücksichtigt, kommen im Bereich der Steuerbilanz hiervon abweichende Gesichtspunkte wie der Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung und derjenige der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zum Tragen. Schließlich liegt eine gespaltene Auslegung auch dann nahe, wenn es um in der Richtlinie nicht enthaltene und damit im richtliniendeterminierten Bereich – soweit eine einschränkende Auslegung möglich ist – nicht anwendbare Tatbestandsmerkmale geht, die bei Lichte betrachtet nicht der Richtlinienumsetzung, sondern der Begrenzung der Reichweite des überschießenden Charakters der nationalen Norm dienen. Zu nennen ist hier die Frage nach der Zurechnung einer Haustürsituation an den Unternehmer und damit ein neuerliches Versatzstück aus der für die Wissenschaft von der überschießenden Umsetzung noch immer ergiebigen „Heininger-Saga“. Nach der Rechtsprechung des EuGH in Sachen Heininger, der Berücksichtigung dieser Rechtsprechung durch den BGH in seiner Auslegung des § 5 Abs. 2 HWiG und der Neufassung der §§ 312a, 355 und 492 BGB durch das OLG-Vertretungsänderungsgesetz steht mittlerweile fest, daß auch Realkreditverträge, die in den Anwendungsbereich des Haustürwiderrufsrechts fallen, von dem Darlehensnehmer widerrufen werden können. Damit hat sich die aktuelle Auseinandersetzung zum einen auf die Rechtsfolgen des Widerrufs und zum anderen auf die Voraussetzung der Anwendung des Haustürwiderrufsrechts verlagert. Was die letztgenannte Problematik angeht, so vertritt der Bundesgerichtshof bislang in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, daß für das Bestehen eines verbraucherschützenden Widerrufsrechts nach § 312 BGB nicht nur auf das objektive Bestehen einer Haustürsituation abzustellen ist, sondern auch auf deren Zurechenbarkeit gegenüber dem Unternehmer,129 mithin in den Heininger-Fällen gegenüber der darlehensgewährenden Bank. Dieses Zurechenbarkeitskriterium findet zwar im Wortlaut des § 312 BGB keine unmittelbare Stütze, es gründet aber auf der allgemeinen Systematik der Verantwortlichkeit für das Handeln Dritter und entspricht dem Willen des historischen Gesetzgebers.130 Für die Zurechenbarkeit gelten die zu § 123 Abs. 2 entwickelten Kriterien.131 Allerdings findet sich im Wortlaut der Haustürwiderrufsricht128 A.A. für das AGB-Recht MünchKommBGB-Basedow, vor § 305 Rn. 45; wie hier hingegen Palandt-Heinrichs, Überblick vor § 305 Rn. 13. 129 BGH, NJW 2003, 424, 425; ebenso die h.M., s. MünchKommBGB-Ulmer, § 312 Rn. 30; Palandt-Heinrichs, § 312 Rn. 4; a.A. KG, NJW 1996, 1480 und Derleder, in: ders./Knops/Bamberger, Handbuch des deutschen und europäischen Bankrecht, § 11 Rn. 51. 130 Amtliche Begründung zum HWiG, BT-Drs. 10/2876, S. 11. 131 BGH, NJW 2003, 424, 425; ebenso die h.M., s. MünchKommBGB-Ulmer, § 312 Rn. 30; Palandt-Heinrichs, § 312 Rn. 4; a.A. KG, NJW 1996, 1480 und Derleder, in: ders./Knops/Bamberger, Handbuch des deutschen und europäischen Bankrecht, § 11 Rn. 51. S. nunmehr aber auch BGH, ZIP 2006, 221, 222 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

linie nicht eigens ein Zurechenbarkeitskriterium, und daher hatte das OLG Bremen dem EuGH mit Beschluß vom 27.5.2004 unter anderem folgende Frage vorgelegt: „1. Ist es mit Art. 1 I der Richtlinie 85/577/EWG vereinbar, die Rechte des Verbrauchers, insbesondere sein Widerrufsrecht, nicht nur vom Vorliegen einer Haustürsituation nach Art. 1 I der Richtlinie abhängig zu machen, sondern auch von zusätzlichen Zurechnungskriterien wie der vom Gewerbetreibenden bewußt herbeigeführten Einschaltung eines Dritten in den Vertragsabschluß oder von einer Fahrlässigkeit des Gewerbetreibenden hinsichtlich des Handelns des Dritten beim Vertrieb mittels Haustürgeschäft?“ 132

In ihrer Stellungnahme kommt die Kommission zu dem Schluß, daß ein solches Zurechnungskriterium mit der Haustürwiderrufsrichtlinie nicht vereinbar sei, denn nach Art.5 dieser Richtlinie sei Voraussetzung des Widerrufsrechts nur, „a) daß ein Rechtsgeschäft zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden objektiv abgeschlossen wurde, und b) daß dieser Vertragsschluß in einer Haustürsituation zustande kam.“ 133

Dem haben sich Generalanwalt Legèr in seinem Schlußantrag vom 02.06.2005 und der EuGH in seinem Urteil vom 25.10.2005 angeschlossen. Aus Sicht des nationalen Rechts ist daher zu bedenken, ob fürderhin § 312 BGB einheitlich dahingehend auszulegen ist, daß ein Widerrufsrecht allein das objektive Bestehen einer Haustürsituation voraussetzt, oder ob im Überschußbereich der Norm das Zurechnungskriterium weiterhin Anwendung findet, § 312 BGB also gespalten auszulegen ist. In diesem Zusammenhang ist beachtlich, daß das Zurechnungskriterium den Unternehmer vor den Folgen einer durch ihn nicht steuerbaren und nicht veranlaßten Haustürsituation schützen soll. Hierzu kann es aber bei Lichte betrachtet allein im Überschußbereich der Norm kommen, denn der wesentlich engere Anwendungsbereich der Richtlinie setzt einen wirksamen Vertragsschluß zwischen Unternehmer und Verbraucher oder zumindest die Abgabe eines Angebots durch den Verbraucher in der Haustürsituation voraus.134 Innerhalb des Anwendungsbereichs der Haustürwiderrufsrichtlinie kann deshalb schon nach nationalem Recht das Zurechnungskriterium des BGH keine begrenzende Wirkung entfalten, denn soweit der Vermittler als rechtsgeschäftlicher Vertreter des Unternehmers (Vertragsschluß in der Haustürsituation!) oder sonst in dessen Namen und für dessen Rechnung handelt (Art. 2 zweiter Spiegelstrich der Richtlinie), ist auch das Zurechnungskriterium ohne weiteres erfüllt, was freilich der Vorlagebeschluß des OLG Bremen listig verschweigt. Zumindest aber dürfte der Entfall des Zurechnungskriteriums innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie keine gravierende Wirkung haben, innerhalb des überschießenden Bereichs des nationalen Rechts aber eine unabsehbare Ausweitung der Haustürwiderrufsrechts für Unternehmer bewirken. Da umge-

132 OLG Bremen, NJW 2004, 2238. 133 Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Stellungnahme der Kommission v. 14.9.2004, S. 13. Ebenso GA Léger, Schlußanträge v. 2.6.2005, (noch nicht in Slg.) Tz. 31ff. und EuGH, v. 25.10.2005, NJW 2005, 3555. 134 Zum überschießenden Charakter des deutschen Haustürwiderrufsrechts oben unter II. 1. b). Ebenso Thume/Edelmann, BKR 2005, 477, 479 f.

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

kehrt der EuGH wie auch der Richtliniengeber wegen des engeren Anwendungsbereichs der Richtlinie gar keine Veranlassung haben, über ein zusätzliches Zurechnungskriterium nachzudenken, spräche in einem solchen Fall alles dafür, die Wirkung der Richtlinie auf deren Anwendungsbereich zu begrenzen und § 312 BGB gespalten auszulegen.135

IV.

Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs

Schließlich ist auf die Frage nach Möglichkeit und Pflicht mitgliedstaatlicher Gerichte zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens auch in Fällen, die außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegen, aber von den auch der Richtlinienumsetzung dienenden Normen erfaßt werden, einzugehen. Dabei sind an dieser Stelle die bereits andernorts ausführlich beschriebenen, auf nationalem wie auf europäischem Recht gründenden Bedenken gegen eine Vorlagemöglichkeit und erst recht gegen eine Vorlagepflicht in Fällen überschießender Umsetzung nicht nochmals zu wiederholen.136 Vielmehr gilt es, die zwischenzeitlich erfolgte Rechtsprechung des EuGH vor dem Hintergrund der mittlerweile deutlich vorangekommenen mitgliedstaatlichen Dogmatik der Auslegung nationalen Rechts im Überschußbereich zu würdigen.

1.

Rechtsprechung des EuGH

In nunmehr gefestigter Rechtsprechung 137 beantwortet der EuGH Fragen nach der Auslegung europäischer Richtlinien auch dann, wenn der streitgegenständliche Fall außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie siedelt, aber eine Auslegung der Richtlinie infolge einer nationalen Erstreckung zur Entscheidung des Verfahrens vor dem mitgliedstaatlichem Gericht erforderlich ist. Ob eine solche Auslegung erforderlich ist, überläßt der Gerichtshof dabei der Einschätzung des vorlegenden Gerichts und beschränkt sich auf eine Mißbrauchskontrolle 138.

135 Ebenso Palandt/Heinrichs, vor § 1 BGB Rn. 44; § 312 BGB Rn. 6. Mit gleicher Tendenz Habersack, JZ 2006, 91, 94; Hoffmann, ZIP 2005, 1985, 1988 und Thume/Edelmann, BKR 2005, 477, 479 f. A.A. BGH v. 12.12.2005, II ZR 327/04 sowie aus der Literatur Hofmann, BKR 2005, 487, 490 und Staudinger, NJW 2005, 3521, 3522. 136 Dazu ausführlich Habersack/Mayer, JZ 1999, 913. 137 So zuletzt EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 88 ff. mit zahlreichen Nachweisen zur älteren Rechtsprechung. Gleicher Ansicht die überwiegende Meinung in der Literatur, z.B. Heß, RabelsZ 66 (2002), 470, 484 ff.; Lutter, FS Heldrich, S. 577 ff.; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 693 ff.; Schön, JbFfSt 2001/2002, 2002, 29, 31ff. Kritisch demgegenüber neben Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919 ff. insbesondere Hakenberg, RabelsZ 66 (2002), 367, 378 f. und Grigoleit/Herresthal, JZ 2003, 118, 119. 138 Diese Mißbrauchskontrolle hat der EuGH z. B. in seinem Urteil v. 10.12.2002 – Rs. C-153/00 Paul der Weduwe, Slg. 2002, I-11319 ausgeübt.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

2.

Die nach der hier vertretenen Methodik zur Auslegung des nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung entscheidende Frage

Nach den bisherigen Ergebnissen dieser Untersuchung gründet die Richtlinienorientierung der Auslegung des nationalen Rechts im Überschußbereich allein auf nationalem Recht. In diesem Bereich wirkt die Richtlinie nicht durch richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel; sie stellt vielmehr einen Auslegungsgesichtspunkt innerhalb einer interpretatorischen Gesamtabwägung dar. Ob im Ergebnis eine einheitliche oder eine gespaltene Auslegung der nationalen Norm vorzunehmen ist, hängt seinerseits bisweilen von dem Ergebnis der Auslegung der Richtlinie durch den EuGH ab, da im Rahmen dieser Gesamtabwägung auch zu berücksichtigen ist, wie weit sich die richtlinienkonforme Auslegung von der ursprünglichen Sachentscheidung des Gesetzgebers entfernt. Die für die Vorlageberechtigung und ggf. Vorlagepflicht mitgliedstaatlicher Gerichte entscheidende Frage lautet daher, ob eine Vorlage auch dann möglich ist, wenn die Richtlinie weder nach europäischem noch nach nationalem Recht unmittelbar anwendbar ist, die Richtlinie aber nach nationalem Recht einen Auslegungsgesichtspunkt innerhalb einer interpretatorischen Gesamtabwägung bildet und der Richtlinie innerhalb dieser Gesamtabwägung zwar Gewicht, aber kein Vorrang zukommt. 3.

Vorlagemöglichkeit?

Versucht man die soeben gestellte Frage mit den vom EuGH entwickelten Kriterien zu beantworten, so zeigt sich, daß die Rechtsprechung hierzu keineswegs eindeutig ist. Vielmehr finden sich zwei unterschiedliche Begründungsstränge, die zu diametralen Ergebnisse führen. Einerseits betont der EuGH in seiner Dzodzi- Rechtsprechung den Kooperationscharakter des Verfahrens nach Art. 234 EG und gewährt damit den mitgliedstaatlichen Gerichten ein weites Vorlageermessen. Nach diesem Begründungsstrang sind Vorlagen deutscher Gerichte zulässig. Andererseits hat der Gerichtshof bislang davon Abstand genommen, die in Kleinwort Benson entwickelten Kriterien eines unmittelbaren und zwingenden Verweises des nationalen Rechts auf Gemeinschaftsrecht 139 aufzugeben. Den von den Generalanwälten vorgebrachten Bedenken gegen ein Vorabentscheidungsverfahren, welches den Charakter eines Rechtsgutachtens hätte,140 begegnet er durch Verweis auf die Bindung der mitgliedstaatlichen Gerichte an das Ergebnis des Vorabentscheidungsverfahrens.141 Betrachtet man diesen Begründungsstrang, so sind auch nach der Rechtsprechung des EuGH Vorlagen deutscher Gerichte bei überschießender Umsetzung von Richtlinien unzulässig. Die gegenteiligen Sachentscheidungen des EuGH beruhen dann einerseits auf einer Fehleinschätzung der nationalen Gerichte hinsichtlich der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Verfahrens nach Art. 234 EG und

139 EuGH v. 28.3.1995 – Rs. C-346/93 Kleinwort Benson, Slg. 1995, I-615 Rn. 16. 140 Zusammenfassend GA Jacobs, Schlußanträge v. 15.11.2001 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Tz. 61. 141 EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 92.

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§ 12 Die Problematik der überschießenden Umsetzung

andererseits auf einer Fehleinschätzung des EuGH hinsichtlich der Wirkung und Verbindlichkeit seiner Urteile bei richtlinienorientierter Auslegung im Rahmen der überschießenden Umsetzung von Richtlinien. Versucht man einzuschätzen, wohin sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickeln wird, so muß angesichts der bisherigen Tendenz des Gerichtshofs zu einer Ausweitung der eigenen Zuständigkeit auch hier der von Wolfgang Schön in einem Diskussionsbeitrag geprägte Satz gelten: „Und eines ist beim EuGH klar: Wer fragt, der bekommt auch eine Antwort.“ 142 Versucht man hingegen, einzuschätzen, wie sich die Rechtsprechung entwickeln sollte, so sind die bereits bekannten Bedenken nicht geringer geworden. Nicht zuletzt die erste Frage des OLG Bremen im Vorabentscheidungsverfahren in Crailsheimer Volksbank zeigt, daß gerade im Bereich überschießender Umsetzung taktische Vorlagefragen möglich sind. Entscheidet der EuGH die erste Vorlagefrage des Hanseatischen Oberlandesgerichts – aus Sicht des Gemeinschaftsrechts: konsequent – mit einem Verbot zusätzlicher Zurechnungskriterien und wendet das vorlegende Gericht dieses Verbot sodann auf das gesamte nationale Haustürwiderrufsrecht an, so sollte im Revisionsverfahren nach den hier vertretenen Maßstäben der Bundesgerichtshof gleichwohl eine gespaltene Auslegung des § 312 BGB vornehmen und das Berufungsurteil ggf. aufheben. Schwer zu begegnen wäre dann freilich dem tatsächlich gänzlich unbegründeten Eindruck, der BGH halte sich nicht an die Rechtsprechung des EuGH. Im Ergebnis hätte die Vorlage dann weder den Parteien des Rechtsstreits noch der Rechtsfindung gedient, die Reputation aller Beteiligten aber gelitten.

V.

Zusammenfassung und Ausblick

Die mit der überschießenden Umsetzung von Richtlinien verbundenen Probleme gehören zu den dogmatisch reizvollen und dabei gleichzeitig praxisrelevanten Methodenfragen unserer Tage. Nach der hier vertretenen Ansicht bestimmt sich die Auslegung des nationalen Rechts im Überschußbereich allein nach nationalen Kriterien. Eine danach erforderliche richtlinienorientierte Auslegung hat das von der Richtlinie innerhalb ihres Anwendungsbereiches geforderte Auslegungsziel im Wege der interpretatorischen Gesamtabwägung zu bedenken. Hierbei spricht zwar eine generelle Vermutung für die einheitliche Auslegung identischer Normen; doch konnte gezeigt werden, daß in verschiedenen Fallgruppen auch die gespaltene Auslegung der nationalen Norm zutreffendes Auslegungsergebnis sein kann. Der gegenwärtige Trend zu einer Ausdehnung der Grenzen richtlinienkonformer Auslegung 143 und zu einer unmittelbaren Geltung der Grundfreiheiten auch zwi-

142 143

Schön, JbFfSt 2001/2002, 2002, S. 29, 34. EuGH v. 5. 10. 2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

schen Privaten 144 nimmt dem Problem der überschießenden Umsetzung nichts von seiner Bedeutung. Im Gegenteil: Je weiter die Grenzen richtlinienkonformer Auslegung sind und je unmittelbarer Gemeinschaftsrecht innerhalb seines Anwendungsbereiches wirkt, desto schärfer stellt sich die Frage nach der mittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts bei überschießender Umsetzung.

144

306

EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg.2000, I-4139 Rn. 30 ff.

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Diskussionsbericht Ronny Domröse Schmidt-Räntsch leitete die Diskussion ein mit der Frage, ob die von Roth erörterte Problematik der richtlinienkonformen Auslegung ausländischen Privatrechts in praxi überhaupt eine Rolle spiele. Roth verwies auf die Urteile Bacardi-Martini (v. 21.1.2003 – Rs. C-318/00) und Paul der Weduwe (v. 10.12.2002 – Rs. C-153/00), in denen der EuGH mit dieser Frage befaßt war. Der Gerichtshof habe allerdings in beiden Fällen die ihm zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zurückgewiesen. Dabei habe der Gerichtshof postuliert, daß an die Zulässigkeit von Vorabentscheidungsersuchen erhöhte Voraussetzungen zu stellen seien, wenn die Beantwortung von Auslegungsfragen dem vorlegenden Gericht die Beurteilung der Vereinbarkeit von Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates mit dem Gemeinschaftsrecht ermöglichen soll. Grundmann äußerte die Ansicht, daß die Problematik dadurch entschärft werde, daß die Regierungen der Mitgliedstaaten im Verfahren vor dem Gerichtshof die Gelegenheit zur Stellungnahme haben und so jeder Mitgliedstaat erläutern könne, ob eine richtlinienkonforme Auslegung oder Fortbildung seines Rechts möglich ist. Roth stimmte dem zu, wies aber darauf hin, daß die Möglichkeit der Mitgliedstaaten zur Stellungnahme nicht institutionalisiert sei und die Verantwortung für die richtlinienkonforme Auslegung ausländischen Privatrechts bei den nationalen Gerichten und nicht bei den Mitgliedstaaten liege. Im Mittelpunkt der Diskussion stand sodann die Frage, wo die Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfindung verlaufen. Riesenhuber wies darauf hin, daß der EuGH die Anforderungen an die mitgliedstaatlichen Gerichte kürzlich in seinem Urteil Pfeiffer (v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01) gegenüber seiner bisherigen Rechtsprechung deutlich verschärft habe. Die Gerichte seien von Gemeinschaftsrechts wegen verpflichtet, im Grundsatz auch contra legem zu entscheiden, soweit sich die Richtlinienvorgaben nicht durch Auslegung oder gesetzesimmanente Fortbildung des nationalen Rechts durchsetzen ließen. Eine richtlinienkonforme Fortbildung contra legem sei nur dann nicht gemeinschaftsrechtlich verpflichtend, wenn der Gesetzgeber die Umsetzung gänzlich verweigert habe oder bewußt von den Vorgaben der Richtlinie abgewichen sei. Roth fügte hinzu, daß die richtlinienkonforme Rechtsfindung auch dann geboten sei, wenn der Gesetzgeber die Richtlinienvorgaben nicht oder nicht ordnungsgemäß umsetzten wollte, da die deutschen Gerichte über Art. 20 Abs. 3 GG auch an das Richtlinienrecht gebunden seien. Die Bedenken Flessners, Art. 20 Abs. 3 GG komme als Begründungsansatz für die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung nicht in Betracht, weil Richtlinien der Umsetzung in innerstaatliches Recht bedürften, wies Roth mit dem Argument zurück, daß Richtlinien allein aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen GeRonny Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil

botes der richtlinienkonformen Rechtsfindung zu den Gesetzen i.S.v. Art. 20 Abs. 3 GG gehörten, die die Gerichte zu beachten haben. Grundmann gab zu Bedenken, daß sich die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung contra legem und die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen in ihren Wirkungen kaum unterschieden. Den Mitgliedstaaten würde durch die Möglichkeit der richtlinienkonformen Rechtsfindung im Vergleich zur unmittelbaren Anwendbarkeit nur ein letztes Souveränitätsreservat belassen. Ein Teilnehmer widersprach diesem Gedanken energisch. Beide Instrumentarien hätten unterschiedliche Voraussetzungen und würden sich im nationalen Recht verschieden auswirken. Die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen, die – anders als die richtlinienkonforme Rechtsfindung – nicht auf nationales Recht angewiesen sei, hätte zur Folge, daß die Richtlinienvorgaben im nationalen Recht direkt durchgesetzt würden. Hingegen werde bei der richtlinienkonformen Rechtsfindung nationales Recht angewendet, an das der Richter gem. Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG gebunden sei. Auch die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung contra legem sei Anwendung – freilich umgedeuteten – nationalen Rechts, wenngleich die Gesetzeskorrektur der unmittelbaren Anwendbarkeit im Ergebnis gleichkomme. Methodisch richtig sei es deshalb, die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen immer erst dann in Erwägung zu ziehen, wenn auch eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung contra legem nicht möglich sei. Roth stimmte diesen Überlegungen zu. Der Vortrag von Mayer zeigte nach Auffassung von Baldus, wie wichtig es sei, die Möglichkeiten und Grenzen der einheitlichen Auslegung von angeglichenem und richtlinienüberschießendem Recht auszumessen. Vor allem der These Mayers, eine gespaltene Auslegung sei geboten, wenn das Gesetz selbst Anhaltspunkte für eine unterschiedliche Behandlung der Sachverhalte innerhalb und außerhalb des Anwendungsbereichs einer Richtlinie enthalte, stimmte Baldus zu. Ein Teilnehmer bemerkte, daß die Feststellung einer überschießenden Regelung mitunter schwierig sein könne. Schmidt-Räntsch betonte, daß bei der Auslegung richtlinienüberschießender Regelungen Art. 3 GG mehr Berücksichtigung finden müsse. Mayer ergänzte, daß das Gleichbehandlungsgebot sogar ein Kriterium für die überschießende Umsetzung von Richtlinien sein könne. Abschließend zog Köndgen eine Zwischenbilanz. Vor allem die Diskussion zu den Vorträgen zur Auslegung (Riesenhuber), Konkretisierung (Röthel) und Fortbildung (Neuner) des sekundären Gemeinschaftsrechts erinnere an jene, die die Methodenlehre Mitte des 20. Jahrhunderts beherrscht habe. Damals wie heute stehe der Wortlaut als Grenze der Auslegung im Mittelpunkt des Interesses. Dem Wortlaut, so Köndgen, könne aber nur noch eine Hilfsfunktion zukommen; er sei nicht mehr und nicht weniger als der starting point der Rechtsfindung. Die entscheidende Frage sei deshalb, wo die Grenzen der Rechtsfortbildung verlaufen. Vornehmliche Aufgabe der Europäischen Methodenlehre sei es, die methodischen Instrumentarien offenzulegen und so für mehr Transparenz bei der Anwendung Europäischen Rechts zu sorgen.

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3. Teil: Besonderer Teil Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten § 13 Europäisches Vertragsrecht Martin Schmidt-Kessel Übersicht I.

Vertragsrecht als Topos im Europäischen Rechtssystem  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Vertragsrecht statt Obligationenrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Begriffskern und Unschärfen am Begriffsrand   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  II. Methoden des Gemeinschaftsrechts im Vertragsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Normative Besonderheiten des Vertragsrechts und deren Konsequenzen für das methodische Instrumentarium   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Instrumentarium des Vertragsrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Zwingendes Recht als Grenze der Vertragsfreiheit   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  IV. Vertragsauslegung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Parteiwille als maßgebliches Kriterium   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Objektivierungen  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Bestimmung des Auslegungsmaterials   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Risikozuweisungen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  V. Zum Umgang mit dispositivem Vertragsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Anpassung der Methodik  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Beschränkte Bedeutung des klassischen Kanons   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Wortlaut und Entstehungsgeschichte   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Telos der Norm   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Systemgestützte Erwägungen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Auswirkungen auf die Rechtsquellenlehre   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Parteidispositives aber staatenzwingendes Vertragsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  VI. Anwendungsfragen bei zwingendem Vertragsrecht  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Vertragsfreiheit als Auslegungsdirektive   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Anwendung des etablierten Kanons?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Zur Leitbildfunktion des dispositiven Rechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Verbot der Analogie?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  VII. Ausblick: Methodenfragen im Umgang mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen   1. Funktionen des Gemeinsamen Referenzrahmens   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Systembildung durch den Gemeinsamen Referenzrahmen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Zur künftigen Auslegung des Instruments   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  VIII. Zum Schluß   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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„Der Gegenstand bestimmt die Methode.“ Man muß diesem Satz in all seiner Verkürzung nicht zustimmen. Gleichwohl scheint er mir für das Europäische Vertragsrecht und seine Methodik jedenfalls insoweit zuzutreffen, als die Besonderheiten des Gegenstands Vertragsrecht auch Besonderheiten gegenüber der allgemeinen juristischen Methodenlehre zur Folge haben. Hinzu treten die mit dem Attribut „EuMartin Schmidt-Kessel

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3. Teil: Besonderer Teil

ropäisch“ verbundenen Besonderheiten, welche die vorbehaltlose Übernahme nationaler Methodik der eigenen Heimatrechtsordnung ausschließen. Nachzugehen ist im folgenden zunächst die Frage, was den Vertrag und das Vertragsrecht eigentlich ausmacht – eine Frage, bei deren Beantwortung hinsichtlich des Kerns des Vertragsbegriffs in Europa vermutlich Einigkeit besteht, während sich an den Begriffsrändern ganz massive Divergenzen auftun (I.). Zu behandeln ist außerdem die Anwendung der verschiedenen allgemeinen Aspekte der Methoden des Gemeinschafts- und des Gemeinschaftsprivatrechts auf das Vertragsrecht (II.). Bei diesen beiden Punkten kann die Frage nach den Methoden des Europäischen Vertragsrechts jedoch nicht stehen bleiben, zumal Europäisches Vertragsrecht und das Vertragsrecht im Gemeinschaftsprivatrecht sich bei weitem nicht gleichsetzen lassen: Anzusprechen sind vielmehr die normativen Besonderheiten des Vertragsrechts (III.) und deren Konsequenzen für das methodische Instrumentarium, also – dies nur sehr knapp – für die Auslegung des Vertrags respektive der Parteierklärungen (IV.), weiter für den methodischen Umgang mit dispositivem Vertragsrecht (V.) und außerdem für die lex artis der Anwendung zwingenden Rechts (VI.). Schließlich möchte ich noch auf einige Fragen eingehen, welche sich im Zusammenhang mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen für das Europäische Vertragsrecht stellen werden (VII.).

I.

Vertragsrecht als Topos im Europäischen Rechtssystem

1.

Vertragsrecht statt Obligationenrecht

Bemerkenswert erscheint zunächst, daß das Vertragsrecht in einer Vielzahl mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen keinen eigenständigen systematischen Topos darstellt; es erscheint vielmehr regelmäßig und namentlich auf dem Kontinent nur als Subkategorie zum Obligationenrecht,1 also dem Recht der Obligationen oder – wie es in Deutschland im Anschluß an die unglückliche doppeldeutige Begriffsprägung durch das BGB heißt 2 – der Schuldverhältnisse. Im Rahmen dieses Rechts der Rechtsverhältnisse und Pflichten zwischen Personen bilden die vertraglichen Obligationen nur eine Unterkategorie. Vertragsrecht als eigenständiger Topos im System oder jedenfalls in der Darstellung des Rechts ist hingegen heute vor allem in der Tradition des Common Law verwurzelt.3 Für die nordischen Rechtsordnungen läßt sich ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen einem bisweilen anzutreffenden allgemeinen Vertragsgesetz und den ebenso anzutreffenden Lehrbüchern zum Obligationenrecht 4 feststellen.

1 Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 451. 2 Dazu Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 3. 3 Siehe nur die klassischen Lehrbücher Beatson, Anson’s Law of Contracts, 28. Aufl. 2002 und Chitty on Contracts, 29. Aufl. 2005. 4 So etwa für Dänemark das vierbändige Lehrbuch von Gomard, Obligationsrett, Kopenhagen seit 1971 in mehreren Auflagen.

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§ 13 Europäisches Vertragsrecht

In der Rechtsvergleichung wie in zahlreichen Projekten der Rechtsvereinheitlichung ist das Vertragsrecht hingegen ein feststehender Topos: Prominentestes Beispiel ist die entsprechende Ordnung der International Encyclopedia of Comparative Law, welche keine zusammenfassende Behandlung des Obligationenrechts enthält, sondern für das Vertragsrecht, das Deliktsrecht sowie für das Recht der ungerechtfertigten Bereicherung und der negotiorum gestio jeweils eigene Bände vorhält. Die Principles for International Commercial Contracts und die Principles of European Contract Law lassen ihre Ausrichtung bereits im Namen deutlich werden 5 und dasselbe gilt für den Code Européen de Contrats der sog. Gandolfi-Gruppe. Auch komparatistisch angelegte Lehr- und Textbücher sind mehrheitlich dem Europäischen Vertragsrecht 6 und nicht etwa einem Europäischen Obligationenrecht 7 gewidmet. Gemeinschaftsrechtlich ist das Europäische Vertragsrecht als Topos spätestens mit den seit 2001 publizierten Mitteilungen der Kommission und die darum entstandene Diskussion als Gegenstand etabliert; 8 die Literatur hat sich auch insoweit der Thematik angenommen. Ist das Europäische Vertragsrecht insgesamt heute auch eine allgemein anerkannte Kategorie, so wird doch ihr wesentlicher Kern, welche sie von den benachbarten Gebieten des Obligationenrechts scheidet, nur selten angesprochen: der besondere Geltungsgrund der vertraglichen Pflichten in der autonomen Entscheidung der Parteien für eine Bindung.9

2.

Begriffskern und Unschärfen am Begriffsrand

Über die Frage, was ein Vertrag und damit der Gegenstand des Vertragsrechts sei, besteht keine vollständige Einigkeit. Immerhin findet sich jedoch ein gesicherter Begriffskern, welcher aus drei Elementen besteht: der Einordnung des Vertrags als Instrument der Selbstbindung, das Erfordernis des Konsenses als Voraussetzung dieser Bindung und ihre Durchsetzung im Wege des Schadensersatzes. Zugleich ergeben sich jedoch erhebliche Unschärfen am Begriffsrand. Diese betreffen zunächst die Frage, wie weit die Selbstbindung reicht, ob namentlich der Vertrag tendenziell das gesamte Verhältnis zwischen den Parteien einschließlich des Schutzes solcher Integritätsinteressen erfaßt, welche nicht zum Kern des Vertrags gehören.10 Hinzu kommen zwei offene Punkte hinsichtlich des Anwendungsbereichs des Vertragsrechts: Erfaßt dieses auch einseitig verpflichtende Rechtsverhält-

5 Allerdings enthalten beide Werke in ihrer neuesten Fassung auch nicht spezifisch vertragsrechtliche Regeln wie die Abtretung und die Aufrechnung. 6 So Kötz, Europäisches Vertragsrecht; Beale/Hartkamp/Kötz/Tallon (Hrsg.), Contract Law. 7 Prominentestes Gegenbeispiel ist Zimmermann, The Law of Obligations. 8 Siehe Schmidt-Kessel, GPR 2005, 2 ff. m.w.N. 9 Eine wichtige – wenngleich umstrittene – Ausnahme hierzu ist die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 5 Nr. 1 und 3 Brüssel I-VO für Fälle des Fehlverhaltens im Umfeld des Vertragsschlusses, dazu EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 Tacconi, Slg. 2002, I-7257 und dazu Anm. Schmidt-Kessel, ZEuP 2004, 1019. 10 Dazu bis heute grundlegend Schlechtriem, Vertragsordnung und außervertragliche Haftung.

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3. Teil: Besonderer Teil

nisse oder ist die Gegenleistung (consideration) ein konstituierendes Element? 11 Und wie steht es mit Fehlern bei der Vertragsanbahnung? Unterfallen diese dem Vertragsrecht oder zählen sie mangels Eintritt einer Bindung zum außervertraglichen Bereich? 12 Alles andere als gesichert ist schließlich die Rechtsbehelfsseite: Während in Deutschland – ermöglicht erst durch die jedenfalls insoweit unglückliche Windscheid’sche Trennung von materiellem Anspruch und dessen prozessualer Durchsetzung – die Erfüllung in Natur überwiegend in das Zentrum des Systems gerückt wird,13 steht die Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Durchsetzung in Natur deutlich zurückhaltender gegenüber.14 Der in Vorbereitung befindliche gemeinsame Referenzrahmen für ein Europäisches Vertragsrecht wird vermutlich nicht alle dieser Fragen beantworten. Ausgehend von der Erwartung, daß die Principles of European Contract Law die Basis dieses Instruments bilden werden, läßt sich immerhin zunächst erkennen, daß dieses nicht auf gegenseitige Verträge beschränkt sein wird: Europäisches Vertragsrecht erfaßt auch einseitig verpflichtende Rechtsgeschäfte (vgl. Art. 1:107, 2:107 PECL). Selbstverständlicher Kern des Referenzrahmens wird das Leistungsstörungsrecht mit einem System der Rechtsbehelfe des verletzten Teils sein, in welchem der Zwang zur Naturalerfüllung keine Vorzugsstellung genießt (siehe Art. 8:101ff. und 9:101ff. PECL). Auch Fehler bei der Vertragsanbahnung dürften – entgegen der Mehrheitsauffassung unter den Mitgliedstaaten und auch entgegen der Weichenstellung für das Internationale Zivilverfahrensrecht der Gemeinschaft 15 – weitgehend dem Vertragsrecht zugeschlagen werden. Elemente zu einer solchen Haftung für culpa in contrahendo enthalten die Principles an mehren Stellen, insbesondere in Art. 2 : 301f., 4 :117, 15:105 PECL. Offen bleibt hingegen nach den vorliegenden Entwürfen die Behandlung von Integritätsverletzungen, welche nicht auf der Verletzung einer zum Vertragskern gehörenden Pflicht beruhen. Die Abgrenzung vom Deliktsrecht, welche bereits den nationalen Rechtsordnungen vielfach Schwierigkeiten bereitet, wird hier dauerhaft größte Schwierigkeiten bereiten. Das gilt erst recht für den Fall, daß die vorliegenden Entwürfe für European Principles of the Law of Torts keinen Eingang in den Gemeinsamen Referenzrahmen finden werden.16

II.

Methoden des Gemeinschaftsrechts im Vertragsrecht

Das Europäische Vertragsrecht kann sich, jedenfalls soweit es bereits heute der Feder des Gemeinschaftsgesetzgebers entspringt, den methodischen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts selbstverständlich nicht entziehen. Insoweit gelten dann grund11 Vgl. Kötz, Europäisches Vertragsrecht, S. 84 ff. 12 Siehe Art. 2:301f. PECL. Außerdem Artt. 1104–1104-1 des Catala-Entwurfs zur Reform des Code Civil. 13 Dazu das Rabel’sche Wort vom Erfüllungsanspruch als dem „Rückgrat der Obligation“ (Rabel, Recht des Warenverkaufs I, S. 376). 14 Siehe wiederum Text, Kommentar und Notes zu Art. 9:101ff. PECL. 15 Zur Tacconi-Entscheidung des EuGH siehe oben Fn. 9. 16 Zum Verhältnis von Vertrags- und Deliktsrecht (sowie von Vertrags- und Sachenrecht) unlängst wegweisend von Bar/Drobnig, The interaction of contract law and tort and property law in Europe.

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§ 13 Europäisches Vertragsrecht

sätzlich die allgemeinen Regeln und zwar zunächst diejenigen über die Anwendbarkeit und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts unter Privaten. Während jene für die Art. 81f. EG sowie bei Verordnungen, wie sie sich für Verträge vor allem im Transportrecht finden,17 selbstverständlich ist, kommt es bei Richtlinien und bei den Grundfreiheiten jedenfalls im Grundsatz zu keiner unmittelbaren horizontalen Anwendung. Für die Grundfreiheiten läßt sich allerdings eine – vor allem für vertragsrechtliche Bestimmungen bedeutsame – Tendenz zur Anwendung unter Privaten konstatieren: Gesichert ist insoweit, daß der EG-Vertrag die Beschränkung von Grundfreiheiten durch solche Private verbietet, die als sog. intermediäre Gewalten einzuordnen sind und aufgrund ihrer Macht staatsähnlich auftreten.18 Darüber hinaus hat der Gerichtshof bereits vereinzelt erkennen lassen, daß Private auch in anderen Fällen Adressaten von Grundfreiheiten sein können.19 Von praktisch ungleich größerer Bedeutung für das Vertragsrecht sind die Grundfreiheiten jedoch als Maßstab einer primärrechtskonformen Auslegung, wie sie in diesem Band im Beitrag von Leible behandelt wird.20 Auch die zahlreichen vertragsrechtlichen Richtlinien entfalten grundsätzlich keine horizontale Direktwirkung. Zentraler methodischer Aspekt des durch Richtlinien gesteuerten Vertragsrechts sind daher die – im Beitrag von W.-H. Roth 21 näher behandelten – Fragestellungen, welche sich aus dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts ergeben. Die Gemeinschaft stellt damit freilich nur ein Optimierungsgebot auf und verlangt von den mitgliedstaatlichen Rechtsanwendern daher nur solche Schritte, welche sich im Rahmen der für das autonome nationale Recht maßgebenden Methodik halten. Allerdings muß diese auch vollständig ausgeschöpft werden, so daß etwa die Überwindung einzelner Vorschriften durch die Anwendung von Generalklauseln geboten sein kann.22 Soweit in den Mitgliedstaaten die Gerichte auch rechtsfortbildend tätig werden dürfen, ergibt sich aus der mitgliedstaatlichen Umsetzungsverpflichtung nach Art. 249 Abs. 3 EG auch das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung.23

17 Siehe vor allem die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.2.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ABl. 2004 Nr. L 46/1 sowie die Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9.10.1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen, ABl. 1997 Nr. L 285/1, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 ABl. 2002 Nr. L 140/2. Unmittelbar anwendbar sind etwa auch die Verordnungen zur Euroeinführung, dazu Schmidt-Kessel, WM 1997, 1732 ff. 18 Streinz/Leible, EuZW 2000, 459, 468 m.w.N. 19 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139. Dazu Streinz/Leible, EuZW 2000, 459, 460; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 680. 20 Leible, oben, § 6; aus der Sicht des deutschen Vertragsrechts etwa Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 12 ff. 21 Roth, oben, § 11. 22 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004 I-8835 Rn. 116; dazu Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47 ff.; Staffhorst, GPR 2005, 89, 90 f.; Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 154a. 23 Siehe nochmals Roth, oben, § 11.

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Noch weiter reichen die Richtlinienwirkungen bei privatrechtlich ausgestalteten Verträgen zwischen Privaten und der öffentlichen Hand. Praktische Bedeutung hat dieser Punkt bislang vor allem für Beschäftigungsverhältnisse des öffentlichen Dienstes erlangt, für welche insbesondere die arbeitsrechtlichen Richtlinien unmittelbar zugunsten der Beschäftigten gelten, wenn sie nicht rechtzeitig oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt sind und die Richtlinie den Beschäftigten eine hinreichend präzise gefaßte Rechtsposition einräumt.24 Künftig dürfte er im Blick auf die Zahlungsverzugsrichtlinie auch für Vergütungsansprüche Privater gegen die öffentliche Hand Bedeutung erlangen; dies gilt insbesondere für eine Reihe öffentlichrechtlich organisierter Rechtsverhältnisse 25 und für Bauaufträge der öffentlichen Hand. Bislang nicht näher untersucht ist außerdem die Frage einer Francovich-Haftung als Haftung in einem Vertrag.26 Ebenfalls offen ist, ob eine unmittelbare Richtliniengeltung entsprechend der Ausweitung der Wirkung der Grundfreiheiten auf sog. intermediäre Gewalten möglich ist. Die Standardformel des Gerichtshofs zur Abgrenzung erfaßt den Staat sowie Organisationen und Einrichtungen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die sich aus den für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften ergeben.27 Die Ausweitung dieser Formel etwa auf die von den Grundfreiheiten angesprochenen Verbände erscheint zumindest vorstellbar. Soweit das Gemeinschaftsrecht für die Entscheidung vertragsrechtlicher Streitigkeiten Bedeutung erlangt, folgt seine Auslegung im Grundsatz den allgemeinen Regeln gemeinschaftsrechtlicher Methodik.28 Insbesondere sind die betreffenden Vorschriften und ihre Begriffe autonom und nicht etwa nur mit Blick auf die jeweils berufene nationale Rechtsordnung auszulegen. Von den klassischen canones der Auslegung tritt die historische eher in den Hintergrund.29 Die Bedeutung des Wortlauts ist in mehrfacher Hinsicht ambivalent. Ihm müßte zunächst im Blick auf die souveränitätsbeschränkende Wirkung gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakte besondere Bedeutung zukommen. Diese wird jedoch durch die Vielsprachigkeit der Rechtstexte sowie durch die bislang mangelnde Ausbildung einer kohärenten Terminologie des EG-Vertragsrechts erheblich relativiert. Entgegen der – insoweit besonders restriktiven – deutschen Tradition markiert die Wortlautgrenze zudem nicht notwendig eine Grenze zwischen kategorial zu unterscheidender Auslegung und Fortbildung des Gemeinschaftsrechts. Neben den insoweit großzügigeren Traditionen anderer Mitgliedstaaten hat dies seine Ursache auch im zentralen Gewicht der teleo-

24 Grundlegend EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1984, 723. Zu den Einzelheiten etwa Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 106 ff. 25 Siehe die Nachweise bei Gebauer/Wiedmann-Schmidt-Kessel, Kap. 4 Rn. 9, 14. 26 Zur dogmatischen Verortung dieser Haftung etwa Streinz-Gellermann, Art. 288 EGV Rn. 39. 27 Etwa EuGH v. 4.12.1997 – verb. Rs. C-253/96 bis C-258/96 Kampelmann, Slg. 1997, I-6907 Rn. 47. 28 Dazu in diesem Band Pechstein/Drechsler, oben, § 5 sowie Riesenhuber, oben § 8. 29 In diesem Sinne demnächst Baldus, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht; anders Riesenhuber, § 8.

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§ 13 Europäisches Vertragsrecht

logischen Auslegung im Gemeinschaftsrecht. Bei dieser ist das in Bezug genommene Telos zudem ein doppeltes: Zu fragen ist einerseits nach dem Zweck der einzelnen Norm und andererseits – und insoweit auch systemprägend – nach den aus der Binnenmarktfinalität des Gemeinschaftsrechts für die einzelne Sachfrage zu ziehenden Konsequenzen.

III.

Normative Besonderheiten des Vertragsrechts und deren Konsequenzen für das methodische Instrumentarium

Dem Vertragsrecht kommt eine Doppelaufgabe zu: Es organisiert die vertragliche Bindung und es bestimmt den Inhalt des Vertrags einschließlich der Folgen von Störungen. Für die Erfüllung dieser Doppelaufgabe stehen dem Vertragsrecht drei Instrumente zur Verfügung: Maßgebend sind zunächst die Parteierklärungen und ihr Zusammenkommen im vertragsbegründenden Konsens; der Code civil spricht insoweit in Art. 1134 Abs. 1 C.c. treffend davon, der Vertrag sei das Gesetz der Parteien. Weiterhin sind das dispositive Vertragsrecht und weitere Mechanismen heteronomer Vertragsergänzung in den Blick zu nehmen und schließlich das die Freiheit der Parteien beschränkende zwingende Recht.

1.

Instrumentarium des Vertragsrechts

Die – gegenseitigen oder gemeinschaftlichen – Parteierklärungen sind unter der Herrschaft der zweigliedrigen Vertragsfreiheit der notwendige Ausgangspunkt für die Behandlung der den Vertrag betreffenden Rechtsfragen: Zunächst ist jeweils zu klären, ob die Erklärungen hinreichend kongruent sind, um Bindungen zwischen den Parteien hervorrufen zu können, ob also ein Konsens vorliegt. Sodann ist die Frage zu klären, welchen Inhalt dieser Konsens hat. Beide Vorgänge erfolgen mit den Mitteln der Auslegung – zunächst der Parteierklärungen dann des Konsenses. Diese bildet dementsprechend die primäre methodische Aufgabe des Vertragsrechts. Beherrscht wird diese Auslegung bekanntlich durch das Spannungsverhältnis zwischen dem richtigerweise vorrangigem Parteiwillen einerseits und verschiedenen objektiven Gesichtspunkten, welche sich als notwendige Konsequenz aus dem Umstand ergeben, daß der Parteiwille auch kommuniziert werden muß.

2.

Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts

Dem dispositiven Recht kommt die Aufgabe zu, den im Wege der Auslegung von Parteierklärungen und Konsens ermittelten Befund zu ergänzen und zu konkretisieren. Dabei tritt es im Kollisionsfalle hinter diesem Befund zurück, ist also dem Gesetz der Parteien gegenüber nachrangig. Auch soweit das dispositive Recht mit Mechanismen einer individuellen, d.h. auf den einzelnen Vertrag bezogenen, heteronomen Vertragsergänzung, etwa der implication in fact (vgl. Art. 6:102 PECL) oder Martin Schmidt-Kessel

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3. Teil: Besonderer Teil

der ergänzenden Vertragsauslegung, konkurriert, tritt es richtigerweise zurück: Für diese am individuellen Vertrag und damit enger am Willen der Parteien anknüpfenden Mechanismen gebietet dies die Herrschaft der Privatautonomie im Vertragsrecht. Dabei lassen sich dispositives Recht und die Mechanismen zur heteronomen wie autonomen Ergänzung des Vertrags im Einzelfall nicht immer klar voneinander scheiden: Die verschiedenen Elemente von Art. 35 Abs. 2 CISG und – soweit er den Parteien Spielräume beläßt – Art. 2 Abs. 2 Kaufgewährleistungsrichtlinie (KGRL) 30 etwa lassen sich m.E. am besten als Auslegungshilfen auffassen und sind im englischen Recht des 19. Jahrhunderts auch genau so entstanden, nämlich als terms implied in fact. Damit klingt zugleich das Ideal für die inhaltliche Ausgestaltung dispositiven Rechts an: die Ausrichtung am typisiert-hypothetischen Parteiwillen. Dieses Ideal bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Methodik des dispositiven Rechts.

3.

Zwingendes Recht als Grenze der Vertragsfreiheit

Zwingendes Vertragsrecht setzt alldem Grenzen: Wege zur vertraglichen Bindung wie auch Vertragsinhalte werden ausgeschlossen oder – bis hin zum Kontrahierungszwang – vorgegeben. Gleichwohl sind zwingende Normen vom Handeln der Parteien nicht unabhängig: Sie kommen nämlich erst zum Tragen, wenn sich die Parteien – beim Kontrahierungszwang der freie Teil – für ein von ihnen erfaßtes Vertragsschlußverfahren oder eine von ihnen erfaßte Vertragsgestaltung entscheiden. Auch steht das zwingende Vertragsrecht nicht isoliert, sondern knüpft weitgehend an die Vorgaben des dispositiven Rechts an, indem bestimmte – sich auch unter diesem stellende Fragen – der privatautonomen Regelung entzogen werden. Daß sich die Parteien etwa von der Schadensersatzhaftung für eigenen Vorsatz regelmäßig nicht freizeichnen können,31 setzt nicht nur stillschweigend den Vertragsschluß und eine Pflicht des vertragsbrüchigen Teils voraus, sondern verlangt überdies, daß der Rechtsbehelf des Schadensersatzes überhaupt zur Verfügung steht und sich damit die Frage nach dem (Mindest-)Standard der Haftung überhaupt stellt. Auch diese Verknüpfung kann für die heranzuziehende Methodik nicht folgen los bleiben. Diese strukturelle Abhängigkeit des zwingenden vom dispositiven Recht hat der deutsche Gesetzgeber in § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB dadurch perfektioniert, daß er das vornehmlich vom dispositiven Recht gezeichnete gesetzliche Leitbild zum Maßstab der Anwendung einer Norm zwingenden Rechts, nämlich des Verbots unangemessen benachteiligender Vertragsbestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen erhoben hat. Indem bekanntlich § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB außerdem auf die wesentlichen Rechte und Pflichten verweist, die sich aus der Natur des Vertrages er-

30 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 Nr. L 171/12. 31 Siehe nur § 276 Abs. 3 BGB.

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§ 13 Europäisches Vertragsrecht

geben, geht das Gesetz noch einen Schritt weiter und macht sich die Erkenntnis zueigen, daß das dispositive Recht insoweit nicht allein die Standards setzt, welche den Vertragsinhalt bestimmen.32 Diese flächendeckende enge Verknüpfung des dispositiven Rechts mit den Standards der Inhaltskontrolle entspricht europäischem Standard freilich nicht einmal dort, wo das Gemeinschaftsrecht selbst Regeln zur Inhaltskontrolle vorsieht.33 Lediglich Art. 3 Abs. 3 Zahlungsverzugsrichtlinie (ZVerzRL) 34 scheint hier in die Richtung des deutschen Rechts zu verweisen, freilich ist der dortige Verweis auf das „Leitbild“ von Art. 3 Abs. 1 lit. a – d, Abs. 2 ZVerzRL erheblich zurückhaltender, weil die Anknüpfung an die dispositiven Vorschriften dort endet, wo der andere Teil einen „objektiven Grund“ für die Abweichung benennen kann. Selbstverständlich gehören auch in anderen europäischen Rechtsordnungen die Standards, von denen abgewichen wird, zu den Kontrollgesichtspunkten, jedoch kommt es dort nicht zu einer dem deutschen Recht vergleichbaren Engführung.

IV.

Vertragsauslegung

Obwohl die Vertragsauslegung nach dem Vorstehenden den Kern der vertragsrechtlichen Methodik bildet, ist insoweit eine Beschränkung auf wenige einzelne Punkte geboten. Dies zum einen weil hier – einheitsrechtlich vor allem zurückgehend auf Art. 8 CISG und die Praxis seiner Anwendung – weitgehende Einigkeit über die anzulegenden materiellen Maßstäbe besteht und zum anderen, weil sich Schwierigkeiten bei der Vertragsauslegung vor allem im tatsächlichen Bereich ergeben und damit eng mit den prozessualen Rahmenbedingungen verknüpft sind – etwa den zugelassenen Beweismitteln, den Regeln für die richterliche Überzeugungsbildung oder der Frage nach Möglichkeit und Umfang der Kontrolle tatrichterlicher Auslegung durch Rechtsmittelgerichte. Zudem sind die gemeinschaftsrechtlichen Ansätze zu einer allgemeinen Methodik der Vertragsauslegung bislang eher rudimentär, so daß ich mich ohnehin weitgehend auf Art. 5 : 101ff. PECL sowie auf Art. 8 CISG stützen muß.35

1.

Parteiwille als maßgebliches Kriterium

Ausgangspunkt ist jeweils der Parteiwille, zunächst im Blick auf die Vertragsschlußerklärungen und sodann begrenzt darauf, wie er Eingang in den Konsens gefunden hat. Er ist, soweit er sich mit dem Verständnis respektive dem Willen des an-

32 Im Einzelfall hat dies sogar dazu geführt, daß die geübte Vertragspraxis dispositive Normen in einer Weise überspielt hat, daß den Verwendern von AGB die Rückkehr zum Gesetz verwehrt wurde. 33 Art. 3, 4 AGBRL. 34 Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.6.2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. 2000 Nr. L 200/35. 35 Siehe daher zum folgenden meine Kommentierung zu Art. 8 in Schlechtriem/Schwenzer, Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht.

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deren Teils deckt, auch dann maßgebend, wenn er im Wortlaut der getätigten Äußerungen für einen Dritten nicht sichtbar oder nicht erkennbar wird – falsa demonstratio non nocet. Das ergibt sich unmittelbar aus Art. 5:101 Abs. 1 PECL und Art. 8 Abs. 1 CISG, während es für das Gemeinschaftsprivatrecht bislang abgeleitet werden muß und zwar aus der dieses beherrschenden (formalen) Vertragsfreiheit. Der Parteiwille wirkt auch dort fort, wo er nicht mehr hinreichend konkret ist, um unmittelbar die Beantwortung einzelner Detailfragen leisten zu können, nämlich über den – in Randbereichen nicht selten diffusen – Zweck, welchen die Parteien verfolgt haben, Art. 5:102 lit. c PECL, oder welchen eine Partei in Kenntnis und ohne Widerspruch der anderen zum Gegenstand des Vertrags gemacht hat, Art. 5:101 Abs. 2 PECL.36 Die Orientierung der beim Kauf geschuldeten Beschaffenheit der Ware am tatsächlichen oder gewöhnlichen Verwendungszweck, Art. 2 Abs. 2 lit. b und c KGRL und Art. 35 Abs. 2 lit. a und b CISG, ist ein Beispiel für diese Form der vermittelten Wirkung des Parteiwillens.37

2.

Objektivierungen

Im übrigen geht es bei den die Auslegung steuernden Regeln einerseits darum, das zur Feststellung des Parteiwillens und des von den Parteien objektiv zu erwartenden Verständnisses heranzuziehende Auslegungsmaterial festzulegen, und andererseits um Zweifelsregeln, welche die Risiken des Schweigens bei Vertragsschluß und der Beweisbelastung im nachfolgenden Prozeß zuweisen. a)

Bestimmung des Auslegungsmaterials

Dabei ist der gemeinschaftsprivatrechtliche Befund zum Auslegungsmaterial marginal; allenfalls lassen sich Ansätze für ein Gebot zur Auslegung des Vertrags als Ganzes nachweisen (vgl. auch Art. 5 :105 PECL). Der Grund dafür liegt in dem Umstand, daß in Europa ein weitestgehender Konsens darüber besteht, daß grundsätzlich jeder Umstand, welcher Schlüsse auf den Willen und das Verständnis der Parteien erlaubt, bei der Auslegung zu berücksichtigen ist, Art. 8 Abs. 3 CISG. Das Europäische Privatrecht kennt insbesondere keine parol evidence rule im strengen Sinne, also keine strikte Beschränkung der Auslegungsgesichtspunkte auf eine den Vertrag verkörpernde Urkunde, soweit die Parteien dies nicht mittels einer merger clause vereinbart haben. Das Gemeinschaftsrecht stünde vielmehr umgekehrt einer solchen Regel – oder ggf. auch Vertragsklausel – entgegen, wo diese die effektive Durchsetzung einer gewährten Rechtsposition beschränkt. So wäre eine parol evidence rule im strengen Sinne etwa mit Art. 2 Abs. 2 KGRL unvereinbar. Auch die deutsche Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit einer Urkunde bedarf insoweit

36 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 356. 37 Vgl. BGer, 22.12.2000, CISG-online Nr. 628; Schlechtriem/Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 Rn. 26.

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§ 13 Europäisches Vertragsrecht

einer behutsamen Anwendung.38 Generell dürften dem Gemeinschaftsrecht solche nationalen Auslegungsregeln entgegenstehen, welche die praktische Verwirklichung der betreffenden Regel verhindern.39 Dem Gemeinschaftsrecht sogar inhärent dürfte hingegen angesichts von Art. 4 Abs. 1 AGB-Richtlinie (AGBRL) 40 die Regel sein, daß der Vertrag als ganzes auszulegen ist.41 b)

Risikozuweisungen

Auch an Regeln welche bewußt Auslegungsrisiken zuweisen, ist das Gemeinschaftsprivatrecht nicht eben reich. Selbstverständlich ergeben sich solche Risikozuweisungen als Nebenfunktion einer jeden dispositiven Norm, weshalb auch hier die Abgrenzung von der Auslegungsregel oder Vermutung häufig nicht zu leisten ist. An allgemeinen Risikozuweisungen enthält das Gemeinschaftsprivatrecht ausdrücklich nur das Gebot einer Auslegung contra proferentem von nicht im einzelnen ausgehandelten Klauseln in Art. 5 Abs. 2 AGBRL, welches – angesichts der europaweiten Akzeptanz dieses Grundsatzes – über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinaus verallgemeinern läßt, Art. 5 :103 PECL: Wer einseitig Vertragsinhalte vorgibt, trägt das Risiko einer nicht hinreichend klaren Formulierung.42 Für die im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr bedeutsame Frage nach der Zuweisung von Sprachrisiken 43 läßt sich hingegen bislang nicht klar beantworten, wie Art. 4 Sps. 3 Timesharingrichtlinie (TSRL) 44 und Art. 36 Lebensversicherungsrichtlinie (LVersRL) 45 einzuordnen sind: 46 Ist die mit der Pflicht zur beglaubigten Übersetzung des Vertrags nach der Timesharingrichtlinie richtigerweise verbundene Zuweisung des Sprachrisikos für Mängel der Übersetzung an den Unternehmer verallgemeinerungsfähig oder handelt es sich insoweit um eine Ausnahme von Art. 5:107 PECL? Noch weniger aussagekräftig ist die nicht einmal durchweg zwingende versicherungsrechtliche Regel. Manches spricht hier für eine auf Verbraucherverträge beschränkte Verallgemeinerung, aus welcher sich eine Generalausnahme vom Grundsatz der Maßgeblichkeit der Ursprungsfassung für Verbraucherverträge ergäbe.

38 Vgl. zur entsprechenden Rechtslage unter dem UN-Kaufrecht Schlechtriem/SchwenzerSchmidt-Kessel, Art. 8 Rn. 31ff. Anders als dort könnte freilich der Verkäufer seine Haftung nicht durch eine merger clause zu beschränken suchen (s. ebd. Rn. 35). 39 Siehe aber Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 359. 40 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 Nr. L 95/29. 41 S. Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 357; vgl. Schlechtriem/Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 CISG Rn. 29. 42 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 357 f.; Schlechtriem/ Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 CISG Rn. 47 f. 43 Zu den Sprachrisiken im internationalen Einheitsrecht s. Schlechtriem/Schwenzer-SchmidtKessel, Art. 8 CISG Rn. 41ff. m.w.N. 44 Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 Nr. L 280/83. 45 Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.11.2002 über Lebensversicherungen, ABl. 2002 Nr. L 345/1. 46 Dazu Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 280 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

V.

Zum Umgang mit dispositivem Vertragsrecht

Bislang fehlt es – jedenfalls in Deutschland – an einer generellen Theorie vom dispositiven Recht. Ansätze finden sich lediglich im Kontext der deutschen Leitbildfunktion bei der AGB-Kontrolle sowie bei Äußerungen zur ökonomischen Analyse des Vertragsrechts. Dementsprechend fehlt es auch weitgehend an der Vergewisserung, ob die klassischen Auslegungsregeln tatsächlich auch dann ummodifiziert Anwendung finden können, wenn nicht zwingende, sondern dispositive Normen Gegenstand der Auslegung sind.

1.

Anpassung der Methodik

Dispositivität von Normen erfordert, wie noch im einzelnen auszuführen sein wird, m.E. eine nicht unerhebliche Anpassung der Methodik; diese läßt sich auf zwei Wegen begründen, nämlich entweder systemimmanent mit dem Argument, daß das Telos des dispositiven Rechts einen besonderen methodischen Umgang mit diesem erfordere, oder mit dem Hinweis, der Gegenstand dispositives Recht weise eine vom Recht im übrigen verschiedene Qualität auf, welche die Entwicklung einer eigenständigen Methodik erfordere. Ich sehe derzeit keine unterschiedlichen Folgen beider Begründungsstränge und möchte sie nebeneinander stehen lassen. Ein weiteres Argument läßt sich anfügen: Gemeinhin wird das methodengeleitete Vorgehen bei der Anwendung und Auslegung von Normen auf den allgemeinen Gleichheitssatz zurückgeführt. Dieser gilt freilich im Vertragsrecht nur eingeschränkt, weil die Parteien dem Gebot der Gleichbehandlung zumindest grundsätzlich nicht unterworfen sind: Vertrag ist Diskriminierung. Bereits die Verschiedenheit der beteiligten Parteien genügt, um die Ergebnisse unterschiedlich ausfallen zu lassen. Die Anforderungen an die Methodik des dispositiven Rechts dürfen daher geringer sein, als bei anderen Materien.

2.

Beschränkte Bedeutung des klassischen Kanons

Soweit eine Norm des dispositiven Rechts in Ergänzung eines Vertrags zur Anwendung kommt, erlangt der klassische Kanon der Auslegungsgesichtspunkte nur eingeschränkte Bedeutung für deren Auslegung. Der Grund dafür liegt in der Einstellung der Norm in den individuellen vertraglichen Kontext und der damit verbundenen Einbindung in das System des individuellen Vertrags; wie einzelne express terms des Vertrags ist die dispositive Norm nur als Teil des Vertragsganzen zu behandeln und im Blick auf dieses auszulegen – Art. 5 : 104 PECL. Hierin liegt auch die methodische Rechtfertigung für die gelegentlich anzutreffende und etwas hilflos wirkende Formulierung, die Norm passe auf die konkrete Situation nicht.47

47

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Etwa BGH, NJW 1975, 1116, 1117.

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§ 13 Europäisches Vertragsrecht

a)

Wortlaut und Entstehungsgeschichte

Überwindbar werden damit zunächst Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm. Für den individuellen Vertrag ist die gelegentlich auf die frühe römische Republik zurückreichende Vor- und Entstehungsgeschichte einer Norm nicht bindend. Gerade im Vertragsrecht älterer Kodifikationen ist der Erlaßgrund mancher Normen die Tradition und nicht eine bewußte politische Entscheidung eines Gesetzgebers. Und selbst wenn eine solche – wie bei den allermeisten Bestimmungen in EGRichtlinien – vorliegt, überspielt im Zweifelsfalle die konkrete vertragliche Konstellation inter partes den historischen Willen des Gesetzgebers bereits allein aufgrund der Dispositivität der Norm. Das kann bei Fehleinschätzungen des Gesetzgebers bezüglich des typischen Parteiwillens zur praktischen Derogation der Norm führen.48 Auch der Wortlaut einer Norm erscheint vor diesem Hintergrund nicht als unüberwindbar: Die Sprache und – vor allem – die damit verbundenen Grenzziehungen durch den Gesetzgeber entsprechen vielfach nicht denjenigen der Parteien. Das gilt um so mehr für das Gemeinschaftsprivatrecht mit seiner Vielsprachigkeit, wo die Termini regelmäßig überdies nicht denjenigen der Rechtsprache des eigenen Umfelds entsprechen. Wichtiger noch ist, daß auch wesentliche Funktionen der Wortlautgrenze nicht zum Tragen kommen. Das gilt zum einen für die Funktion des Schutzes der Gewaltenteilung: Da die Kompetenz zur Feststellung des individuellen Vertragsinhalts ohnehin bei den (nationalen) Gerichten liegt 49 und sich der Gesetzgeber mit der Setzung dispositiven Rechts in seinem Regelungsanspruch selbst zurücknimmt 50, besteht bei dessen Auslegung ohnehin nur eine eingeschränkte Konfliktlage zwischen Legislative und Judikative. Der Wortlautgrenze kommt aber auch nicht die gewohnte Funktion einer vertikalen Kompetenzabgrenzung zu: Auch dies hat seinen Grund in der Selbstbeschränkung des Gemeinschaftsgesetzgebers, welcher zwar den nationalen Gesetzgeber hinsichtlich der Umsetzungsverpflichtung bindet nicht jedoch die Parteien, und damit den nationalen Gerichten die typischen Spielräume dispositiven Rechts beläßt: Insbesondere ist der von den nationalen Gerichten festgestellte typische Parteiwille – etwa über die Begründung tatsächlicher Vermutungen – auch dazu geeignet, dispositive Normen des Gemeinschaftsrechts zu überspielen und damit – inter partes – zu derogieren. Die Kompetenzausübung des Gemeinschaftsgesetzgebers ist bei der Setzung dispositiven Rechts also weit weniger einschneidend und verringert damit auch in diesem Punkt das Gewicht der Wortlautgrenze und damit des Wortlauts. b)

Telos der Norm

Auch ein besonderes Telos, welches der Gemeinschaftsgesetzgeber mit einer Norm verbindet und welchem im Blick auf die Pflichten des nationalen Gesetzgebers zur

48 Siehe etwa BGH, NJW 1979, 1705 zu §§ 161 Abs. 2, 131 Nr. 4 HGB a.F. 49 Vgl. EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 21ff. 50 Das gilt unabhängig davon, ob er dazu vielleicht gezwungen ist, weil er nach den Maßgaben des vorrangigen Rechts – etwa der Grundfreiheiten – an der Setzung zwingenden Rechts gehindert ist.

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3. Teil: Besonderer Teil

Umsetzung, zur effektiven Durchsetzung oder zur Nichtdiskriminierung besondere Bedeutung zukommt, hat bei dispositivem Recht bei weitem nicht das gewohnte Gewicht: Geht es über die Abbildung eines feststellbaren typischen Parteiwillens hinaus, wird die betreffende Norm schnell leerlaufen, ohne daß die nationalen Rechtsanwender insoweit pflichtwidrig handeln. Ein solches Schicksal könnte für bestimmte Branchen etwa Art. 3 Abs. 1 lit. d ZVerzRL drohen, soweit die dort festgelegten Zinssätze über den für diese Branchen üblichen und allseitig akzeptierten liegen. Ein solches Vorgehen entspricht der Binnenmarktfinalität des Gemeinschaftsrechts, weil es der damit verbundenen Vorstellung von der Selbstorganisation der Parteien am Markt in den Grenzen des wettbewerbsrechtlichen und des ordnungsrechtlichen Rahmens Vorschub leistet. c)

Systemgestützte Erwägungen

Gravierend sind schließlich die Auswirkungen der Dispositivität auf das System und systematische Argumente bei der Auslegung der betreffenden Normen: Auch soweit die gesetzliche – äußere – oder die dogmatische – innere – Ordnung des Normgefüges den Anforderungen entspricht, die herkömmlich an ein System gestellt werden, tritt dieses bei der Anwendung des Gesetzes hinter den individuellen Vertrag und dessen Regelungen zurück. Das Phänomen läßt sich als das systematische Paradoxon des dispositiven Rechts bezeichnen: Der individuelle Vertrag, das heißt der Anwendungsfall für das gesetzliche System, bewirkt eine Systemstörung und beschränkt daher die Bedeutung des gesetzlichen Systems. Die Störung ist jedem individuellen Vertrag inhärent, sie wirkt sich um so stärker aus, je atypischer der Vertrag ist. Die probate gesetzgeberische Reaktion heißt Generalklausel; durch sie erst öffnet der Gesetzgeber seine Regelung dem individuellen Vertrag und muß damit richtigerweise den Primat seines Systems verloren geben. Die vielfach kritisierte Zunahme von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen durch die deutsche Schuldrechtsmodernisierung ist daher nicht mehr als den Realitäten der Privatautonomie geschuldet. Dasselbe gilt im Gemeinschaftsrecht etwa für den auf die „Verantwortlichkeit“ des Schuldners für die Verzögerung abstellenden Haftungsstandard nach Art. 3 Abs. 1 lit. c Nr. ii ZVerzRL sowie für die Generalklauseln zur Inhaltsbestimmung des Handelsvertretervertrags in Art. 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 Handelsvertreterrichtlinie (HVertrRL). 51 Mit der Bedeutung des Systems fallen auch wesentliche systemgestützte Argumente: Das gilt vor allem für das argumentum e contrario, weil dieses auf der Überlegung beruht, ein System erhebe den Anspruch der Vollständigkeit. Ohne diesen Vollständigkeitsanspruch fehlt es nämlich am tertium non datur, was den Umkehrschluß zu einem unvollständigen und damit nicht tragfähigen werden läßt. Soweit nun Normen des gesetzlichen Systems unter dem individuellen Vertrag Anwen-

51 Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 Nr. L 382/17.

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§ 13 Europäisches Vertragsrecht

dung finden, fehlt es notwendig an der Vollständigkeit dieser in den Vertrag integrierten Systemteile. Die Dispositivität der Normen nimmt dem gesetzlichen System somit – für den Fall der Anwendung – den Vollständigkeitsanspruch; das argumentum e contrario trägt folglich nicht. Umgekehrt scheitert eine zentrale systemgestützte Argumentationsform in ihrer klassischen Ausprägung an der Vollständigkeit des Systems des individuellen Vertrags, nämlich die Analogie. Insoweit fehlt es schlicht an der nach in Deutschland vorherrschender Auffassung erforderlichen planwidrigen Regelungslücke.52 Dem Vertrag liegt nämlich unter der Herrschaft der Privatautonomie die Regel zugrunde, daß eine inter partes geltend gemachte Rechtsposition einer Basis im Vertrag bedarf. Fehlt diese, kommt es nicht etwa zur Rechtsverweigerung, sondern zur Klageabweisung respektive zur Zurückweisung des entsprechenden Verteidigungsvorbringens. Mit dieser ex lege jedem Vertrag zugrundeliegenden Regel aber ist kein Vertrag unvollständig respektive lückenhaft. Das Festhalten am Lückenerfordernis ließe die Analogie im dispositiven Vertragsrecht leerlaufen.

3.

Auswirkungen auf die Rechtsquellenlehre

Die vorstehenden Ausführungen lassen in der Konsequenz auch die Rechtsquellenlehre nicht unberührt: Zu erwägen sind einerseits Zweifel an der Qualität dispositiver Gesetzesregeln als Rechtsquelle und andererseits die Frage nach den Wirkungen von Präjudizien im Vertragsrecht. Zweifel an der Einordnung dispositiver gesetzlicher Regeln als Rechtquelle nährt deren Bezogenheit auf den individuellen Vertrag. Insbesondere kommen sie nur im Einklang mit dem Parteiwillen zur Anwendung und sind damit – soweit es um ihre Anwendung geht – Teil der „lex contractus“.53 Norm und Rechtquelle ist die dispositive Regel insoweit nicht mehr als der Vertrag selbst. Umgekehrt kommt der Rechtsprechung bei der Suche nach dem typischen Parteiwillen in aller Regel eine zentrale Bedeutung zu, verfügt sie doch über weit größere praktische Erfahrung im Umgang mit den entsprechenden Verträgen als der Gesetzgeber. Eine ständige Rechtsprechung im Bereich dispositiven Rechts läßt sich daher als Verkörperung eines typisierten Parteiwillens und damit zugleich als Aussage über den typischen Parteiwillen begreifen. Damit aber kommt ihr für die Bestimmung des Vertragsinhalts keine geringere Dignität zu als dem dispositiven Gesetzesrecht. Ordnet man dieses noch als Rechtsquelle ein, könnte für jene nichts anderes gelten.

52 Grundlegend für das von dieser Auffassung postulierte Erfordernis der Lücke bis heute Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz. 53 Vgl. Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 3 Rn. 5. Vorliegend geht es selbstverständlich um die rechtstheoretische und nicht um die kollisionsrechtliche Bedeutung dieses Terminus.

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3. Teil: Besonderer Teil

4.

Parteidispositives aber staatenzwingendes Vertragsrecht

Ein Sonderproblem ergibt sich aus der Doppelung der Adressaten des Gemeinschaftsrechts. Dieses richtet sich ganz generell an die Mitgliedstaaten (Art. 10 EG) und gibt dieser Rechtsanwendungs- und -durchsetzungspflicht bei der Richtlinienumsetzung in Art. 249 Abs. 3 EG eine besondere Gestalt. Alle davon erfaßten Regeln sind für die Mitgliedstaaten nicht dispositiv und zwar auch dann nicht, wenn parteidispositive privatrechtliche Normen gesetzt werden. Vor allem dispositives Vertragsrecht der Gemeinschaft ist daher staatenzwingend und zugleich parteidipositiv. Bei der Auslegung solch doppelt adressierter Regeln ist danach zu unterscheiden, welche Durchsetzungs- und gegebenenfalls Umsetzungspflichten den Mitgliedstaaten entstehen und welche Bedeutung der jeweiligen Norm – respektive ihrer Umsetzung – bei der Anwendung im Rahmen des einzelnen Vertrags hat. Legt man die hier entwickelten Sonderregeln für die Auslegung dispositiven Rechts zugrunde, können sich hier ganz erhebliche Unterschiede zwischen den Auslegungsergebnissen ergeben. So ist insbesondere der Umsetzungsgesetzgeber an das Binnenmarktziel und das konkrete Telos des Gemeinschaftsgesetzgebers gebunden, welches gelegentlich auch auf die Setzung eines Symbols gerichtet sein kann. Die Parteien sind es hingegen nicht und für sie mag die betreffende Norm im Einzelfall eine gänzlich andere Bedeutung erlangen. So würde die Zahlungsverzugsrichtlinie eine Umsetzung der hohen – aber dispositiven – Verzugszinssätze auch dort verlangen, wo ihre Derogation eine völlige Selbstverständlichkeit wäre. Das Ziel des Gemeinschaftsgesetzgebers, den typischen Parteiwillen auch durch das Umsetzungsgesetz selbst zu beeinflussen gäbe dem auch einen Sinn.

VI.

Anwendungsfragen bei zwingendem Vertragsrecht

Die gesonderte Frage nach der Methode in der Anwendung des dispositiven Vertragsrechts erlaubt nun den Blick auf das Komplement, das zwingende Vertragsrecht. Dabei wird zunächst und vorrangig zu erwägen sein, inwieweit dessen Methodik vom Grundsatz der Vertragsfreiheit gesteuert ist. Ferner stellt sich die Frage nach der Anwendung des etablierten Methodenkanons. Schließlich ist auf zwei Sonderfragen einzugehen, nämlich die Konkretisierung von unabdingbar wirkenden Generalklauseln anhand dispositiver Normen und Möglichkeiten und Grenzen einer Analogie im zwingenden Vertragsrecht.

1.

Vertragsfreiheit als Auslegungsdirektive

In einem von der Vertragsfreiheit beherrschten Vertragsrecht ist jene die beherrschende allgemeine Auslegungsdirektive für freiheitsbeschränkende Vorschriften. Das ergibt sich national wie gemeinschaftsrechtlich aus den betreffenden Freiheits-

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§ 13 Europäisches Vertragsrecht

grundrechten und Grundfreiheiten.54 Zwingende Vorschriften sind daher eng auszulegen, soweit dies den Umfang der Zwingendstellung reduziert. Gemeinschaftsrechtlich entspricht eine derartige Restriktion zwingender Normen dem Binnenmarktziel, wie es vor allem in den Grundfreiheiten seinen Niederschlag gefunden hat.

2.

Anwendung des etablierten Kanons?

Anders als beim dispositiven Recht, ist der klassische deutsche Kanon der Auslegungsgesichtspunkte auch für die Auslegung zwingenden Gemeinschaftsrechts von Belang. Das gilt zunächst für den Wortlaut und die durch diesen gezogene Grenze richterlicher Gesetzesauslegung. Während diese bei dispositiven Normen im Blick auf deren Funktion respektive das Telos der Norm ohne weiteres überwindbar ist, kommt ihr bei zwingendem Privatrecht sowohl unter dem Gesichtspunkt des Gesetzesvorbehalts als auch unter demjenigen der Kompetenzabgrenzung zwischen den Staatsgewalten entscheidende Bedeutung zu: Überwindbar ist der Wortlaut daher nur zugunsten der eingeschränkten Freiheit. Ähnlich beschränkt ist letztlich die Funktion der historischen Auslegung (i.e.S.): Ein Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte der Norm erscheint bei der Auslegung zwingenden Vertragsrechts vor allem zugunsten der in ihrer Gestaltungsfreiheit eingeschränkten Partei möglich. Daraus ergibt sich letztlich auch für die Lösung des Konflikts eines mit der Wortlautschranke oder der Entstehungsgeschichte in Widerspruch stehenden Telos der Norm: Es läßt sich in Anwendung der Norm insoweit nicht verwirklichen, als die Vertragsfreiheit dadurch beschnitten wird. Von besonderem Interesse ist schließlich die Frage nach dem Wert systematischer Argumente bei der Auslegung zwingenden Vertragsrechts. Zunächst ist dazu festzuhalten, daß ein eigenständiges, von den dispositiven Normen gelöstes System zwingenden Vertragsrechts weder in den Mitgliedstaaten noch im Gemeinschaftsrecht existiert. Mag es auch – in sich in bestimmter Hinsicht geschlossene – systematische Inseln zwingenden Rechts geben, so knüpfen Beschränkungen der Vertragsfreiheit durchweg tatsächlich an deren Ausübung und regelungstechnisch an das dispositive Recht an. Wegen der Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts hat sich dessen System jedoch als ein rein darstellendes ohne Regelungswirkungen entpuppt, welches genau ohne normativen Verlust auch erheblich andere Gestalt haben könnte.55 Damit ist der – durch die Regelungstechnik nahegelegte – Verweis auf das System des dispositiven Rechts für die Auslegung des ius strictum bestenfalls wertlos. Eine Auslegungsstütze kann sich allein aus Regelungszusammenhängen zwingen-

54 Vgl. für das deutsche Recht Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 130. 55 Darin liegt wohl auch der tiefere Grund für die – jedenfalls insoweit zutreffende – These der am Vertragsrecht geschulten Rechtsvergleichung, nationale Rechtsordnungen kämen jeweils zu grundsätzlich identischen Ergebnissen und seien daher funktional äquivalent: siehe Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

den Rechts ergeben. Denkbar erscheint etwa im Blick auf Art. 82 EG eine restriktive Auslegung der verschiedenen Antidiskriminierungsverbote des sekundären Gemeinschaftsrechts dort, wo es überhaupt – also auch in der heterogenen Gruppe der potentiellen Diskriminierenden – an jeder Spur einer marktbeherrschenden Stellung respektive an entsprechenden Wirkungen als allgemeines Zugangshindernis fehlt.56

3.

Zur Leitbildfunktion des dispositiven Rechts

Besondere Fragen stellen sich dort, wo das Vertragsrecht dispositives Recht zum Maßstab der Inhaltskontrolle, also zum Maßstab der Konkretisierung zwingender Normen erhebt; auf die entsprechende Ausnahmestellung des deutschen Rechts wurde oben schon hingewiesen. Hier scheint der Gesetzgeber dem zuvor nur darstellenden System dispositiven Rechts einen normativen Wert verliehen zu haben. Entscheidend ist insoweit wiederum § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB: Indem der Gesetzgeber jenseits des dispositiven Gesetzesrechts Maßstäbe vorsieht, die gegebenenfalls auch in Widerspruch zu diesem stehen können, bleibt es beim Vorrang des typischen Parteiwillens.

4.

Verbot der Analogie?

Die besondere Bedeutung des Wortlauts und die weitgehende Relativierung systematischer Argumente für die Auslegung zwingenden Vertragsrechts lassen schließlich die Analogie auch im Bereich des zwingenden Vertragsrechts als ein fragwürdiges methodisches Instrument erscheinen. Hinzuweisen ist insoweit zunächst einmal auf den Gesetzesvorbehalt, welcher bei eingreifenden hoheitlichen Akten nicht nur eine Rechtsfertigung fordert, sondern an diese auch formale Anforderungen stellt und damit zugleich die Zuständigkeiten klarstellt: Ohne gesetzlich geschrieben Rechtfertigung darf der Eingriff nicht stattfinden.57 Soll eine Analogie zu zwingenden Normen wiederum zu einem unabdingbaren Satz führen, gerät dieser Vorgang in Konflikt mit der staatlichen Zuständigkeitsverteilung. Dürfte dieses erste Bedenken angesichts der offenbaren Rechtsfortbildungszuständigkeiten der Rechtsprechung noch überwindbar sein, scheitert die Analogie in ihrem strengen klassischen Sinne auch für das zwingende Vertragsrecht am Fehlen der Lücke: Ist nämlich die Vertragsfreiheit Grundnorm des Vertragsrechts, ist den Parteien jegliche Gestaltung gestattet, soweit nicht Regeln des ius strictum eingreifen. Damit bleibt auch im zwingenden Vertragsrecht der denis de justice immer aus; es fehlt immer an einer Lücke.

56 Zu Parallelen zwischen wettbewerbsrechtlichen Diskriminierungsverboten und denjenigen des Antidiskriminierungsrechts siehe demnächst die Andeutung bei Schmidt-Kessel, in: Leible/ Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz im Privatrecht. 57 Vgl. BVerfG, NJW 1996, 3146.

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VII. Ausblick: Methodenfragen im Umgang mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen Den Abschluß soll nun ein Ausblick auf Methodenfragen im Umgang mit dem künftigen Gemeinsamen Referenzrahmen für ein Europäisches Vertragsrecht bilden. Entscheidend für das methodische Instrumentarium sind dabei die Funktionen, welche dieses neuartige Gebilde erfüllen soll. Von Interesse ist außerdem die mit dem ersten Punkt eng verknüpfte Frage, ob und inwieweit durch den Gemeinsamen Referenzrahmen Systembildung betrieben wird. Schließlich ist ein Blick auf die Relevanz des klassischen Kanons der Auslegungsgesichtspunkte für das Verständnis des neuen Instruments.

1.

Funktionen des Gemeinsamen Referenzrahmens

Der Gemeinsame Referenzrahmen ist zunächst einmal nicht mehr als eine rechtsvergleichende Großstudie von kaum vorstellbarem Ausmaß. Das zeigt bereits die Zahl von 25 Staaten, deren teilweise regional sehr unterschiedlichen Vertragsrechtsordnungen neben dem acquis communautaire Eingang in das Projekt finden sollen. Die Verlautbarungen der Kommission zum Zweck des Referenzrahmens gehen freilich deutlich darüber hinaus: 58 Die Kommission möchte zunächst eine „Toolbox“, welcher sie bei Gelegenheit rechtsvergleichend abgesicherte Versatzstücke entnehmen kann, um diese in neue oder zu überarbeitende Rechtsakte einzufügen. Insoweit steht die Verbesserung der Qualität vorhandener wie zukünftiger Rechtssetzung im Mittelpunkt. Tatsächlich reicht die Funktion des Gemeinsamen Referenzrahmens damit viel tiefer: Er soll die Lücke schließen, welche sich aus dem Fehlen einer – bislang nur in Ansätzen erkennbaren – europäischen Vertragsrechtsdogmatik ergibt. Es geht mithin um Ordnung, zunächst um eine Ordnung der Diskussion, in welcher viele Akteure an einander vorbei argumentieren, sodann um eine Ordnung der Begriffe und schließlich – aber erst auf dem vorangehenden aufbauend – um eine Ordnung des Gemeinschaftsprivatrechts selbst.

2.

Systembildung durch den Gemeinsamen Referenzrahmen

Bereits aus dem bisherigen Stand der Arbeiten an einem Entwurf für einen Gemeinsamen Referenzrahmen wird deutlich, daß dieser systematisch gefaßt sein wird. Geht es also um die Schaffung eines Systems des Europäischen Vertragsrechts? Dafür spricht vor allem die beschriebene Funktion des Instruments als Ersatz für die fehlende gemeinsame Vertragsrechtsdogmatik, während die „Toolbox“-Funk-

58 Siehe Schmidt-Kessel, GPR 2005, 2 ff. m.w.N. sowie zum letzten Stand Schmidt-Kessel, GPR 2005, 204 f.

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3. Teil: Besonderer Teil

tion einer solchen Systembildung jedenfalls tendenziell zuwiderläuft. Jenseits aller möglichen Herauslösungen einzelner Teile des Referenzrahmens im Zuge verschiedener denkbarer Gesetzgebungsvorhaben einschließlich der von der Kommission erwogenen optionalen Instrumente 59 kann die Bedeutung des Systems im Gemeinschaftsvertragsrecht nicht höher sein als in einer auf der zweigliedrigen Vertragsfreiheit beruhenden Rechtsordnung generell. Das zu erwartende System ist also Lehr- und Darstellungssystem, dem ganz überwiegend keine normativen Folgen eignen.

3.

Zur künftigen Auslegung des Instruments

Der perspektivische Blick auf die mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen verbundenen Methodenfragen richtet sich schließlich auf den klassischen deutschen Kanon der Auslegungsgesichtspunkte und deren mögliche Bedeutung unter dem neuen Instrument. Entsprechend den vorstehenden allgemeinen Überlegungen zur Methodik des Vertragsrechts, ist auch insoweit Zurückhaltung angezeigt. Kern dieser Methodik bleiben auch unter einem Gemeinsamen Referenzrahmen die Regeln über die Vertragsinhaltsbestimmung. Zusätzlich geschwächt werden demgegenüber zunächst historische Argumente betreffend den Normtext. Einer Rückbindung an den Inhaber der Kompetenz zur Rechtssetzung ist nämlich mangels Verbindlichkeit des Gemeinsamen Referenzrahmens nicht geboten. Zwar dürfte das politische Gewicht des Instruments beträchtlich sein, jedoch resultiert dieses Gewicht mehr aus der Sachkompetenz der mit dem Entwurf betrauten Wissenschaftler denn auf einer besonderen politischen Legitimation. Der primäre Charakter des Referenzrahmens als rechtsvergleichende Großstudie wirkt damit zurück auf die Auslegung des künftigen Instruments; verschiedene Schichten des Entstehungsprozesses werden vor allem Widersprüchlichkeiten erklären helfen. Beim Rückgriff auf Wortlautargumente gelten zusätzliche Besonderheiten. Diese beruhen zunächst auf der hervorgehobenen Bedeutung des Englischen als der Arbeitssprache der wissenschaftlichen Vorarbeiten. Der englischen Fassung wird daher selbstverständlich eine gewisse Oberhof-Funktion zukommen. Ein zweiter Punkt ergibt sich aus der ursprünglichen Idee der Principles of European Contract Law (PECL), lediglich Grundprinzipien zu formulieren: Zwar bieten die Principles damit eine gewisse Sicherheit bei der Bedeutung des jeweiligen Begriffskerns (beispielsweise kann ein Vertrag danach auch nur eine Seite zu Leistungen verpflichten), jedoch erlaubt die ursprüngliche Formulierung als „Prinzipien“ bisweilen keinen sicheren Schluß auf die Bedeutung an den Begriffsrändern. Während die teleologische Auslegung des Referenzrahmens vor allem die generellen Schwächen einer auf das Telos bezogenen Argumentation im Vertragsrecht tei-

59

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Vgl. Schmidt-Kessel, GPR 2005, 204 f.

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§ 13 Europäisches Vertragsrecht

len würde, ergibt sich eine zusätzliche Besonderheit schließlich im Blick auf systemgestützte Argumente: Der Gemeinsame Referenzrahmen ist von vornherein nicht auf eine vollständige Abbildung des Vertragsrechts gerichtet. Jenseits aller generellen Bedenken gegen eine systemgestützte Argumentation im Bereich des Vertragsrechts wird hierdurch vor allem das argumentum e contrario entscheidend geschwächt.

VIII. Zum Schluß Viele der vorstehenden Überlegungen werden nicht auf verbreitete Zustimmung hoffen können. Wenn ich gleichwohl wage sie vorzutragen, dann tue ich das vor allem im Blick auf die Notwendigkeit die herrschende deutsche Methodik einerseits nicht unbesehen auf das Gemeinschaftsrecht zu übertragen und andererseits nicht ohne Blick auf den jeweiligen Gegenstand anzuwenden. Der entscheidende Unterschied weiter Teile des Vertragsrechts gegenüber anderen Rechtsgebieten liegt in der ganz überwiegenden Dispositivität seiner Normen. Diese kann – ich wiederhole mich – nicht ohne Einfluß auf die Methodik bleiben, welche bei der Auslegung des Vertragsrechts zum Tragen kommt.

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§ 14 Europäisches Arbeitsrecht Robert Rebhahn Übersicht I. Einleitung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  II. Allgemeines zu den Methoden der Entscheidungsfindung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Unterschiede je nach Rechtssatzform?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Verweis auf Vorjudikatur   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Schlußanträge der Generalanwälte   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Wichtige Argumente: Wortlaut, Rechtstextzusammenhang, Regelungszweck  .  5. Weniger wichtige Argumente: Entstehungsgeschichte und Rechtsvergleichung   6. Kompetenzkonforme Interpretation?   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  7. Inneres System, Eindimensionalität und favor laboris als Argumente?   .  .  .  .  .  8. Pragmatische Schlüsse   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  9. Allgemeine Rechtsgrundsätze: Grundrechte, Verhältnismäßigkeit, Vertrauensschutz   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Grundrechte   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Vertrauensschutz   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  10. Rechtsfortbildung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Ausgewählte Entscheidungen und Fragen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Begriff des Arbeitnehmers   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Verbot der Diskriminierung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Grundfreiheiten und Arbeitsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Individualarbeitsrecht: Arbeitszeit, Betriebsübergang, Nachweis   .  .  .  .  .  .  .  5. Kollektives Arbeitsrecht und Mitwirkung der Sozialpartner   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  6. Unmittelbare Wirkung von Richtlinien   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  IV. Schlußbemerkung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

I.

.  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

. . . . . . . . . .

330 332 332 333 334 334 339 339 341 344

.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

. . . . . . . . . . . . .

345 345 346 347 347 348 348 349 351 352 354 355 356

Einleitung

Der Beitrag befaßt sich nur mit der Bestimmung des Inhaltes der für das Arbeitsrecht unmittelbar relevanten Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte, und dazu primär mit den Aussagen des EuGH,1 nicht mit jener der nationalen Gerichte. Der Beitrag befaßt sich also nicht näher mit der Methode der Rechtssetzung der Gemeinschaft zum Arbeitsrecht, nur am Rande mit der Frage, ob die vorhandenen Normen eine Systembildung erlauben (dazu kurz II.7.), und auch

1 Vgl. dazu allgemein z.B. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 445 ff.; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 61ff.; Grundmann/ Riesenhuber, JuS 2001, 529 ff.; Hanau/Steinmeyer/Wank-Wank, § 9 Rn. 175 ff. (der Beitrag geht leider kaum auf spezifische Fragen ein).

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§ 14 Europäisches Arbeitsrecht

nicht mit den Fragen der Anpassung des nationalen Rechts an das eindringende Gemeinschaftsrecht.2 Der EuGH hat entscheidende Schritte bei der Ausdehnung/Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts anhand arbeitsrechtlicher Fälle getan. Zu nennen sind insbesondere die unmittelbare Anwendung von Primärrecht zwischen Privaten, die unmittelbare Anwendung von Richtlinien gegenüber dem Staat, die Haftung der Mitgliedstaaten für fehlerhafte Ausführung von Richtlinien, und nun die Verschärfung der richtlinienkonformen Anwendung nationalen Rechts.3 Auf diese allgemeinen Fragen kann hier nicht eingegangen werden. Die Gerichte treffen Aussagen über den Inhalt, die Bedeutung einer Norm, die jedenfalls für den Einzelfall rechtlich verbindlich sind, und für vergleichbare Fälle in der Regel faktisch verbindlich sind. Im deutschen und überwiegend im österreichischen Recht geht es der Methodenlehre primär um die Begründung der rechtlich „richtigen“ Aussage zum Rechtsinhalt und damit häufig um die Ableitung dieser Aussage aus dem Gesetz. Man unterscheidet zwischen Auslegung im engeren Sinne und Rechtsfortbildung. Jedenfalls bei der Auslegung im engeren Sinne handelt es sich nach verbreiteter Auffassung um eine Frage der Erkenntnis, die als „wahr“ oder „falsch“ qualifiziert werden kann; und in Bezug auf die Rechtsfortbildung versucht man Regeln legitimer Fortbildung anzugeben. Diese Sichtweise findet sich aber keineswegs in allen Mitgliedstaaten. In mehreren wird nicht scharf zwischen Auslegung und Fortbildung unterschieden, und die Funktion der Gerichte wird nicht primär nur in der Anwendung des Gesetzes gesehen.4 Aussagen zur Methodenlehre des Gemeinschaftsrechts müssen auf diese verschiedenen Traditionen Bedacht nehmen. Sie müssen daher die Hauptfunktion der Methodenlehre in den Mittelpunkt stellen: Eine Methodenlehre für gerichtliche Entscheidungen zum Gemeinschaftsrecht hat meines Erachtens primär die Aufgabe jene Regeln anzugeben, welche die Aussage des Gerichts zur Norm legitimieren können: Sie soll jene Bedingungen angeben, bei deren Einhaltung auch jene Personen, welche das Ergebnis der Entscheidung rechtspolitisch nicht billigen, dieses Ergebnis als legitime Aussage zum geltenden Recht ansehen und damit akzeptieren können. Dafür ist entscheidend, ob das Gericht – insbesondere der EuGH – seine Auffassung nachvollziehbar begründet, und zwar mit dem erforderlichen, aber auch ausreichenden Aufwand an Argumenten und damit Überzeugungsarbeit. Bleibt der Be-

2 Zum Umgang der nationalen Gerichte mit dem Arbeitsrecht der EG und den Anpassungsschwierigkeiten Vgl. Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts; sowie aus deutscher Sicht Schlachter, Der Europäische Gerichtshof und die Arbeitsgerichtsbarkeit; Kaiser, NZA 2000, 1144 ff. 3 Primärrecht: EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1976, 455 Rn. 8 ff. (Defrenne II); Unmittelbare Anwendung: EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall ./. Southampton and SouthWest Hampshire Area Health Authority, Slg. 1986, 723 Rn. 48 f. (Marshall I); Staatshaftung: EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich und Bonifaci ./. Italien, Slg. 1991, I-5357 (Francovich I); Interpretation: EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., (noch nicht in Slg.) NJW 2004, 3547. 4 Vgl. dazu Assmann/Brüggemeier/Sethe (Hrsg.), Unterschiedliche Rechtskulturen – Konvergenz des Rechtsdenkens; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, insbesondere S. 418 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

gründungsaufwand dahinter zurück, dann erscheint die Entscheidung als Dezision, die man hinnehmen, oder als Offenbarung, die man glauben kann oder auch nicht. Der vorliegende Spezialbeitrag zum Arbeitsrecht kann nur die Rahmenbedingungen für diese Begründungsarbeit speziell im Arbeitsrecht skizzieren und einige ausgewählte Entscheidungen des EuGH daraufhin beleuchten, ob sie dem genannten Postulat genügen.

II.

Allgemeines zu den Methoden der Entscheidungsfindung

1.

Unterschiede je nach Rechtssatzform?

Verbreitet wird zwischen der Anwendung des Primär- und des Sekundärrechts unterschieden (so auch in diesem Buch). Fraglich ist, ob allfällige Unterschiede nicht eher zwischen Primärrecht und Verordnungen auf der einen Seite und Richtlinien auf der anderen Seite zu suchen sind, weil nur die erste Gruppe von Normen auf unmittelbare Anwendung angelegt sind. Bei Richtlinien weist schon die Rechtssatzform auf eine zusätzliche Ausführung durch die Mitgliedstaaten hin; die Kompetenz des EuGH reicht dann grundsätzlich nur soweit als die Richtlinie wirklich eine bindende Vorgabe trifft. Unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht soll hingegen einen Fall entscheiden, so daß auch die Kompetenz des EuGH entsprechend weiter reicht, außer die Norm verweist ausdrücklich auf Entscheidungen der Mitgliedstaaten. Allerdings kommt diesen Unterschieden wohl auch nicht allzuviel Bedeutung bei, weil Primärrecht oft der Ausführung durch nationale Gesetze bedarf und Richtlinien häufig sehr detailliert sind. Hinzuweisen ist hier aber auf die im Arbeitsrecht zunehmende Anzahl von Bestimmungen, welche auf die „Gesetze und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten“ verweisen. Zu nennen sind insbesondere die Arbeitszeitrichtlinie 5 (Art. 7, 8, 10 und 18), die Richtlinie über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE 6 (Art. 2, 3, 12 und 15), die Gleichbehandlungsrichtlinie 7 (Art. 7, 8b und 8c), und die Richtlinie zu Unterrichtung und Anhörung 8 (Art. 2 und 4). Diese Verweise finden sich zum Teil in 5 Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23.11.1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl. 1993 Nr. L 307/18; geändert durch Richtlinie 2000/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 2000 zur Änderung der Richtlinie 93/104/EG des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung hinsichtlich der Sektoren und Tätigkeitsbereiche, die von jener Richtlinie ausgeschlossen sind, ABl. 2000 L 195/41. 6 Richtlinie 2001/68/EG des Rates v. 8.10.2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. 2001 Nr. L 294/22. 7 Richtlinie 76/207/EWG des Rates v. 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 1976 Nr. L 39/40; geändert durch Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.9.2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 2002 L 269/15. 8 Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.3.2002 zur Festle-

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Begriffsbestimmungen (z.B. „Betrieb“), zum Teil auch bei materiellen Regeln. Aus ihrer Existenz darf aber nicht geschlossen werden, daß die anderen Richtlinien die dort geregelten Fragen abschließend, also ohne Ausführung durch die Mitgliedstaaten regeln. Vielmehr enthalten die generellen Normen der Gemeinschaft auch sonst oft nur Verweise auf nationale Begriffe. So ist es etwa häufig beim Begriff der Arbeitnehmer (dazu später). Wenn das Gemeinschaftsrecht auf den jeweiligen nationalen Begriff z.B. des Arbeitnehmers verweist, dann sind die Mitgliedstaaten an den üblichen nationalen Begriffsinhalt aber auch bei der Ausführung von Richtlinien gebunden.9 Die Formel vom Verweis auf „Gesetze und Gepflogenheiten“ stellt daher wohl nur eine zusätzliche Art des Verweises auf die nationalen Lagen dar, die auch nichtnormative Übungen einbezieht und dem Mitgliedstaat wohl mehr Spielraum läßt als andere Verweisungen.

2.

Verweis auf Vorjudikatur

Auch für die Entscheidungen zum Arbeitsrecht gilt, daß sich die Entscheidungen des EuGH primär an der Vorjudikatur orientieren.10 Andere Auslegungsaspekte sind demgegenüber in der Regel zweitrangig. Am wichtigsten ist daher die zeitlich erste Entscheidung zu einer Frage. Der Verweis auf eigene Vorjudikatur stellt zwar genau betrachtet kein wirkliches Argument zur Auslegung der Norm dar, das den anderen Begründungsargumenten an die Seite gestellt werden kann. Es kann aber faktisch die Rolle eines Begründungsargumentes einnehmen – und tut dies beim EuGH wohl auch stets, wenn es eine Vorentscheidung gibt. Zuweilen geht der EuGH von einer Vorentscheidung auch wieder ab, auch wenn dies bislang kaum offen gelegt wird. Besonders zu nennen sind zwei Fälle, in denen die Politik durch die Judikatur sehr irritiert war: die Entscheidung Schmidt zum Betriebsübergang und die Entscheidung Kalanke zu Quotenregelungen. In beiden Fällen ruderte der EuGH alsbald zurück.11

gung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 2002 Nr. L 80/29. 9 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 59. Vgl. auch GA Cosmas, Schlußanträge v. 14.5.1998 – Rs. C-125/97 A.G.R. Regeling ./. Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, Slg. 1998, I-4493 Tz. 49 (A.G.R.). 10 So allgemein z.B. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 224 ff. Ausführlich Dederichs, Die Methodik des EuGH. 11 EuGH v. 14.4.1994 – Rs.C-392/92 Schmidt ./. Spar- und Leihkasse der früheren Ämter Bordesholm, Kiel und Cronshagen, Slg. 1994, I-1311; korrigiert von EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95, Süzen ./. Zehnacker Gebäudereinigung Krankenhausservice, Slg. 1997, I-1259. EuGH v. 17.10.1995 – Rs. C-450/93 Kalanke ./. Freie Hansestadt Bremen, Slg. 1995, I-3051; korrigiert durch EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-409/ 95 Marschall ./. Land Nordrhein-Westfalen, Slg. 1997, I-6363. Zur Entwicklung nach der Entscheidung Schmidt vgl. Lo Faro, in: Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts, S. 210 ff.

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3.

Schlußanträge der Generalanwälte

Schwierig zu beantworten ist, welche Bedeutung den Anträgen der Generalanwälte aus methodischer Sicht zukommt. Sie sind nicht nur theoretisch, sondern (anders als die Vorjudikatur) auch praktisch nun sicher keine Argumente zur Auslegung der Norm. Meist sind die Schlußanträge allerdings viel ausführlicher begründet als das Urteil. Man sagt häufig, daß man die Urteile des EuGH vor dem Hintergrund der Schlußanträge lesen müsse. Was aber heißt dies? Eine Übernahme der Begründung im Schlußantrag – und damit der darin angewendeten Methode – kann man mit Sicherheit nur bejahen, falls das Gericht dem Schlußantrag ausdrücklich zustimmt. Auch im Arbeitsrecht war dies, betrachtet man die Entscheidungen der letzten Jahre, wohl nur in einem geringen Teil der Entscheidungen der Fall.12 Und auch hier wäre erst zu prüfen, ob die Entscheidung den Schlußantrag zur wesentlichen Frage heranzieht oder zu einem Randproblem. Auf der anderen Seite folgt das Gericht dem Schlußantrag nicht selten nicht, und zwar ohne dies offen zu legen oder gar sich mit den Argumenten des Generalanwaltes auseinanderzusetzen. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung Hlozek aus 2004 zu Sozialplanzahlungen.13 Das Diskriminierungsverbot des Art. 141 Abs. 1 EG gilt auch nach der Judikatur nur, wenn sich die Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage befinden. Differenziert eine Regelung direkt nach einem mißbilligten Kriterium, etwa zwischen Frauen und Männern, so läßt sich mit der Behauptung, es liege keine vergleichbare Lage vor, die Unzulässigkeit vermeiden. Denn eine unmittelbare Diskriminierung kann in der Regel nicht gerechtfertigt werden. Generalanwältin Kokott hat sich redlich bemüht darzutun, daß die Lagen vergleichbar sind, der EuGH hat mit drei Absätzen anders befunden, ohne sich mit den Ausführungen der Generalanwältin auseinanderzusetzen.

4.

Wichtige Argumente: Wortlaut, Rechtstextzusammenhang, Regelungszweck

Bei den Argumenten zur Sache unterscheidet der EuGH – anders als etwa die deutsche Methodenlehre – nicht scharf anhand der Wortlautgrenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Und selbst in der deutschsprachigen Literatur wird die

12 Zu nennen sind insbesondere folgende Entscheidungen, in denen die Schlußanträge zustimmend erwähnt werden: EuGH v. 11.5.1999 – Rs. C-309/97 Angestelltenbetriebsrat der Wiener Gebietskrankenkasse, Slg. 1999, I-2865 Rn. 19; EuGH v. 9.9.1999 – Rs. C-281/97 Krüger, Slg. 1999, I-5127 Rn. 11; EuGH v. 25.5.2000 – Rs. C-50/99 Podesta, Slg. 2000, I-4039 Rn. 34; EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 50; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-438/99 Jiménez Melgar, Slg. 2001, I-6915 Rn. 46; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-133/00 Bowden u.a., Slg. 2001, I-7031 Rn. 40; EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-476/99 Lommers, Slg. 2002, I-2891 Rn. 29; EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/ 01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn. 48; EuGH v. 23.10.2003 – Rs. C-4/02 Schönheit, Slg. 2003, I-12575 Rn. 103; EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-380/01 Schneider, Slg. 2004, I-1389 Rn. 27. 13 EuGH v. 9.12.2004 – Rs. C-19/02 Hlozek, (noch nicht in Slg.) insb. Rn. 44 ff.

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Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung auch ganz anders gezogen, indem etwa Analogie und Reduktion noch zur Auslegung gezogen werden.14 a) Auch in der Judikatur des EuGH zum Arbeitsrecht spielt der Wortlaut der an sich anzuwendenden Norm eine herausragende Rolle. Er ist in allen Entscheidungen der Ausgangspunkt der Entscheidung. Allerdings schöpft der EuGH nur in wenigen Entscheidungen die Möglichkeiten der Wortlautinterpretation wirklich aus. So ist es z.B. auch in der Entscheidung Simap zur Frage, ob Arbeitsbereitschaft zur Arbeitszeit zählt (dazu später). In nicht wenigen Entscheidungen begnügt der EuGH sich mit der Bezugnahme auf den Wortlaut, ohne daß dazu vertiefte Überlegungen angestellt werden. Die Rolle des Wortlautes kann allerdings in Frage gestellt werden, weil jede Sprachfassung des Gemeinschaftsrechts an sich gleich verbindlich ist und es daher keinen wirklich verbindlichen Wortlaut gibt, den man „abhören“ könnte.15 Nur in wenigen Entscheidungen argumentiert der EuGH mit dem Wortlaut in verschiedenen Sprachfassungen. So ist es etwa in der Entscheidung Henke betreffend den Begriff „Betrieb“ der Betriebsübergangsrichtlinie 16 und der Entscheidung Junk zur Massenentlassung.17 Bei der Massenentlassungsrichtlinie 18 stellt sich die Frage, ob unter „Entlassung“ in der Richtlinie bereits der Ausspruch der Kündigung oder erst das Ende des Arbeitsverhältnisses nach Ablauf der Kündigungsfrist zu verstehen ist. In Deutschland vertrat man das zweite. Der EuGH sagt, daß die anderen Sprachfassungen entweder die Kündigungserklärung meinen oder aber beide Varianten abdecken. Die Entscheidung sagt dies aber nur kurz, ohne es näher darzutun; der Schlußantrag geht nur auf die englische Fassung ein. Allerdings hat schon die österreichische Regierung die Meinung der deutschen Regierung zur Bedeutung des Wortlautes nicht geteilt – wohl weil sie den Begriff „Entlassung“ nicht aus der Sicht des deutschen Rechts, sondern eher aus der Sicht der deutschen Sprache verstanden hat. Auch die Entscheidung Henke behauptet eher, daß die verschiedenen Sprachfassungen das Ergebnis stützen, als daß sie es nachweist. Die Überlegungen des EuGH zum Wortlaut bleiben auch in Fällen, in denen dies eines oder gar das entscheidende Argument ist, meines Erachtens häufig hinter dem Niveau zurück, das in manchen Mitgliedstaaten bei der Wortlautinterpretation er-

14 Vgl. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 33 ff., S. 277, der die Grenze danach zieht, ob sich eine Begründung noch auf die Ableitung aus einer Norm mit Hilfe anerkannter Kommunikationsregeln stützen kann. 15 Man kann geradezu vom „Verlust des Normtextes“ sprechen. 16 Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 Nr. L 82/16. 17 EuGH v. 15.10.1996 – Rs. C-298/94 Henke ./. Gemeinde Schierke and Verwaltungsgemeinschaft „Brocken“, Slg. 1996, I-4989 Rn. 15; EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, (noch nicht in Slg.) Rn. 34; GA Tizzano, Schlußanträge v. 30.9.2004. Zur Entscheidung Junk vgl. Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97 ff. 18 Richtlinie 98/59/EG des Rates v. 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. 1998 Nr. L 225/16.

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reicht wird. Kaum jemals versucht das Gericht, die Nuancen des Wortlautes aufzudecken und damit zu argumentieren. Der Grund dafür liegt wohl darin, daß alle Sprachfassungen gleich verbindlich sind. Es gibt daher keinen wirklich verbindlichen Normtext mehr, den der Interpret auf seine Bedeutung hin „abhören“ könnte. Im Gemeinschaftsrecht scheint der Wortlaut wirklich nur mehr der Ausgangspunkt für die Begründung sein zu können. Allerdings müßte dieses Manko durch den verstärkten Einsatz anderer Argumente ausgeglichen werden, was aber oft nicht der Fall ist. b) Neben dem Wortlaut spielt die Systematik eine entscheidende Rolle. Mit Potacs sollte man besser vom Rechtstextzusammenhang als (semantisches) Interpretationsmittel sprechen.19 Ein Aspekt davon ist die These von der Einheit der Rechtssprache. Der EuGH wendet sie etwa beim Begriff des Arbeitnehmers in Art. 141 EG an (dazu später). Ein anderer Aspekt ist die These/Regel, daß Ausnahmen eng auszulegen sind. Diese wurde beim Verbot der Diskriminierung bei den sonstigen Arbeitsbedingungen nach der Gleichbehandlungsrichtlinie wiederholt verwendet, und findet sich heute noch in anderen Bereichen.20 Zum Diskriminierungsverbot ist an die Stelle dieser Regel hingegen eher der Satz getreten, daß bei Ausnahmen von einem Individualrecht (wie jenem auf Gleichbehandlung) „der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist, wonach Ausnahmen nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung des verfolgten Zieles angemessen und erforderlich ist, und der Grundsatz der Gleichbehandlung so weit wie möglich mit den Erfordernissen des auf diese Weise angestrebten Zieles in Einklang gebracht werden muß.“ 21 Der Satz von der engen Auslegung von Ausnahmen wird zur Gleichbehandlung seit der Entscheidung Kalanke wohl nicht mehr verwendet.22 Hier zu nennen ist auch die Erwägung, ob das Gemeinschaftsrecht eine Total- oder nur eine Teilharmonisierung der geregelten Angelegenheit enthält. In mehreren einschlägigen Entscheidungen zu den Richtlinien über Betriebsübergang, Massenentlassung und Insolvenzschutz 23 kommt diese Überlegung vor. In manchen hat sie zur Entscheidung beigetragen, insbesondere wenn es um das Anknüpfen an die na-

19 Vgl. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 71ff. 20 EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 Johnston ./. Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Slg. 1986, 1651 Rn. 36, 44; EuGH v. 17.10.1995 – Rs. C-450/93 Kalanke ./. Freie Hansestadt Bremen, Slg. 1995, I-3051 Rn. 21. Zur Arbeitszeit siehe EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 35 und EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., (noch nicht in Slg.) NJW 2004, 3547 Rn. 52, 65. 21 Wohl erstmals in EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 Johnston ./. Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Slg. 1986, 1651 Rn. 38; z.B. EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-476/99 Lommers, Slg. 2002, I-2891 Rn. 39. 22 Deutlich zeigen dies die späteren Entscheidungen zu Vorrangregeln; EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-409/95 Marschall ./. Land Nordrhein-Westfalen, Slg. 1997, I-6363; EuGH v. 28.3.2000 – Rs. C-158/ 97 Badeck u.a., Slg. 2000, I-1875; EuGH v. 6.7.2000 – Rs. C-407/98 Abrahamsson und Anderson, Slg. 2000, I-5539. 23 Richtlinie 80/987/EWG des Rates v. 20.10.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 1980 Nr. L 283/23.

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tionalen Begriffe des Arbeitnehmers geht.24 In anderen hat sie hingegen nicht zu einer Verringerung der Pflichten der Mitgliedstaaten geführt.25 Meist sind die Überlegungen des EuGH überzeugend. Anders ist es bei der Entscheidung Delahaye.26 Sie stützt sich auf das Argument der Teilharmonisierung, das hier meines Erachtens aber nichts besagt. c) Als nächstes ist dann der Regelungszweck zu nennen. In erster Linie geht es dabei um den Zweck der konkreten Regelung und des Rechtsaktes; davon zu unterscheiden ist die Frage, ob der Rechtsakt Teil hat an einem inneren System, aus dem sich auf den Zweck der konkreten Regelung schließen läßt (dazu 4). Für die Zwecke der Regelung orientiert sich der EuGH auch im Arbeitsrecht vorwiegend an den Erwägungsgründen oder direkt am Normtext und dessen Inhalt, nur selten an anderen Quellen.27 Die erwähnte Entscheidung Junk leitet zur Massenentlassungsrichtlinie die Auffassung, daß unter „Entlassung“ bereits der Ausspruch der Kündigung zu verstehen ist, vor allem aus dem Inhalt der Regelung ab. Ansonsten wären nämlich die von der Richtlinie verlangten Beratungen wenig sinnvoll, weil sie auf die Entscheidung des Arbeitgebers keinen Einfluß mehr haben können. Dies ist methodisch überzeugend,28 auch wenn es in Staaten, in denen das nationale Recht die Kündigung stark beschränkt, zusätzliche Probleme bereitet. In einem früheren Verfahren zur Massenentlassungsrichtlinie ging es um die Frage, ob diese die Mitgliedstaaten auch verpflichtet, gesetzliche Regelungen über eine Arbeitnehmervertretung zu schaffen, auch wenn es sonst keine gibt. Der EuGH hat zugestanden, daß die Richtlinie nur eine Teilharmonisierung der Frage einer Anhörung der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen enthalte. Die Tatsache einer Teilharmonisierung befreie aber nicht von der Pflicht jene Maßnahmen zu treffen, welche für die Ausführung des Inhalts der Richtlinie „zweckmäßig“ sind (gemeint war wohl: „erforderlich sind“). Parallel war die Argumentation zur Betriebsübergangsrichtlinie.29 Der Regelungszweck war auch in den Entscheidungen zur Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat das entscheidende Argument. Alle drei Entscheidungen betrafen die Mitwirkung der Arbeitgebers bei der Organisation des Europäischen Betriebsrats, und in allen hat der EuGH seine Entscheidung mit dem Argument begründet, das ordnungsgemäße Funktionieren des Europäischen Betriebsrats oder doch die 24 Z.B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Foreningen af Arbejdsledere i Danmark ./. Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639 Rn. 26 ff. Vgl. auch EuGH v. 12.5.1985 – Rs. 284/83 Dansk Metalarbejderforbund ./. Nielsen & Søn, Slg. 1985, 553 Rn. 12 ff. 25 Vgl. insb. EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 Rn. 24 ff; EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-382/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2435 Rn. 27 ff; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-125/97 A.G.R. Regeling ./. Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, Slg. 1998, I-4493 Rn. 19 (A.G.R.) zur Insolvenzrichtlinie. 26 EuGH v. 11.11.2004 – Rs. C-425/02 Delahaye, (noch nicht in Slg.) insb. Rn. 32 ff. 27 Vgl. allgemein Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 76 ff. 28 Ebenso Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97 ff. 29 Massenentlassungen: EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 Rn. 24 ff. Betriebsübergang: EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-382/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2435 Rn. 27 ff.

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Möglichkeit dafür erforderten eine bestimmte Auslegung.30 Er hat also primär auf den Zweck der Regelung abgestellt. In der Entscheidung Pfeiffer hat der EuGH 2004 – soweit zu sehen erstmals – die Unterlegenheit des Arbeitnehmers als Argument bei der Auslegung verwendet. Art. 18 der Arbeitszeitrichtlinie erlaubt es, die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden zu überschreiten, wenn der Arbeitnehmer individuell zustimmt. Der EuGH hat für diesen Verzicht verlangt, daß der Arbeitnehmer dies „frei und in voller Sachkenntnis“ selbst tut. Und er fährt fort: „Diese Anforderungen sind umso bedeutsamer, als der Arbeitnehmer als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen ist, so daß verhindert werden muß, daß der Arbeitgeber den Willen des Vertragspartners umgehen oder ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegen kann, ohne daß dieser dem ausdrücklich zugestimmt hätte.“ 31 Im Ausland hat diese Passage aus dem Urteil der Großen Kammer bereits große Aufmerksamkeit gefunden, weil der EuGH sich darin die These von der typischen Unterlegenheit zu eigen gemacht hat.32 Sehr fein nach dem Zweck differenziert der EuGH in der Entscheidung Paletta II. Es ging um die Anerkennung von Bestätigungen der Erkrankung aus Sizilien, an deren Richtigkeit der deutsche Arbeitgeber nachvollziehbar zweifelte. Die relevante gemeinschaftsrechtliche Norm war zwar primär sozialrechtlich, der Inhalt aber arbeitsrechtlich.33 Der EuGH hatte schon wiederholt gesagt, daß „die mißbräuchliche oder betrügerische Geltendmachung von Gemeinschaftsrecht nicht gestattet ist.“ „Die nationalen Gerichte können also das mißbräuchliche oder betrügerische Verhalten des Betroffenen auf der Grundlage objektiver Kriterien zwar in Rechnung stellen, … haben jedoch bei der Würdigung eines solchen Verhaltens die Ziele der fraglichen Bestimmungen zu beachten.“ Aus dem Zweck der Bestimmungen zur Anerkennung ausländischer Bestätigungen folgert der EuGH dann, daß bei deren Vorliegen dem Arbeitnehmer nicht die volle Beweislast für die Arbeitsunfähigkeit zugeschoben werden darf, wenn der Arbeitgeber nur ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit dartun kann. Die Arbeitsunfähigkeit darf entgegen der Bestätigung erst verneint werden, falls der Arbeitgeber selbst Beweise für den Mißbrauch dartun kann. Allerdings liegt es dann beim nationalen Gericht, wann es den Beweis des Mißbrauches für erbracht ansieht.

30 EuGH v. 29.3. 2001 – Rs. C-62/99 Bofrost, Slg. 2001, I-2579; EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C440/00 Kühne & Nagel, Slg. 2004, I-787; EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-349/01 ADS Anker (noch nicht in Slg.). 31 EuGH v. 5. 10. 2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., (noch nicht in Slg.) NJW 2004, 3547 Rn. 82. 32 Collins, ERCL 1 (2005), 115, 124; Sargos, Droit social 2005, 123 f. 33 EuGH v. 3.6.1992 – Rs. C-45/90 Paletta ./. Brennet, Slg. 1992, I-3423 (Paletta I); EuGH v. 2.5. 1996 – Rs. C-206/94 Brennet ./. Paletta, Slg. 1996, I-2357 Rn. 24 ff. (Paletta II). Vgl. zum ganzen Verfahren Kaiser, NZA 2000, 1144, 1146 mwN. Der EuGH ging in der Entscheidung Paletta I sehr formal an die Sache heran und meinte wie üblich: Alles was in Europa den gleichen Namen hat, sei auch gleichwertig. Erst auf den Widerstand der deutschen Gerichte hin fand er einen Ausweg, der beiden das Gesicht wahrte, nämlich eine Mißbrauchsklausel.

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§ 14 Europäisches Arbeitsrecht

5.

Weniger wichtige Argumente: Entstehungsgeschichte und Rechtsvergleichung

Die Entstehungsgeschichte spielt jedenfalls in den Entscheidungen zum Arbeitsrecht eine nur untergeordnete Rolle.34 Die Schlußanträge nehmen häufiger auf die Entstehungsgeschichte Bezug,35 auch weil sich nationale Regierungen darauf berufen. In einer wichtigen Frage hat sich der EuGH schon früh von der historischen Motivation der Norm gelöst, nämlich beim früheren Art. 119 EGV, dem Vorläufer zu Art. 141 EG. Das Verbot der Diskriminierung beim Entgelt war eindeutig mit dem Ziel erlassen worden, eine Verfälschung des Wettbewerbs durch unterschiedliche nationale Regelungen zu verhindern. Der EuGH hat es hingegen sofort als sozialpolitische und wenig später als menschenrechtliche Norm verstanden.36 Der wirtschaftspolitische Zweck tritt demgegenüber zurück.37 Auch die Rechtsvergleichung spielt in den arbeitsrechtlichen Entscheidungen keine herausragende Rolle.38 Insbesondere läßt sich der EuGH durch rechtsvergleichende Erwägungen nicht in seiner Auslegung beschränken.39 Die Stellungnahmen der Generalanwälte enthalten zuweilen rechtsvergleichende Ausführungen; zu nennen sind insbesondere jene von Generalanwalt Jacobs zur Frage, ob es eine gemeinschaftsrechtliche Absicherung der Tarifautonomie gebe.40

6.

Kompetenzkonforme Interpretation?

Der Gedanke der rechtskonformen Interpretation erfordert es an sich auch Sekundärrecht im Zweifel so auszulegen, daß die Grenze der jeweils in Anspruch genommenen Kompetenz der Gemeinschaft nicht überschritten wird.41 Bei den arbeitsrechtlichen Richtlinien gibt es eine Reihe von Fragen, in denen diese Überlegung von Interesse ist. Allerdings kommt die genannte Überlegung in der Judikatur soweit zu sehen kaum vor, wohl weil der EuGH sich damit nur befaßt, wenn er ausdrücklich danach gefragt wird, was nur selten geschieht.

34 Es gibt kaum Entscheidungen, in denen das Wort „Entstehungsgeschichte“ neben „Arbeitnehmer“ vorkommt. Eine Ausnahme – allerdings zum Sozialrecht – ist EuGH v. 30.3.2000 – Rs. C-178/97 Barry Banks u.a., Slg 2000, I-2005 Rn. 23. 35 Z.B. GA Geelhoed, Schlußantrag v. 6.2.2003 – Rs. C-25/02 Rinke, Slg.2003, I-8349 Tz. 63 f. 36 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1976, 455 Rn. 8 ff. (Defrenne II), dort Sozialpolitik; EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1978, 1365 Rn. 27 (Defrenne III), dort Menschenrecht. 37 EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Deutsche Post ./. Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-929 Rn. 53 ff. 38 Bei allgemeinen Fragen wie Staatshaftung, Verhältnismäßigkeit und Grundrechte hat die Rechtsvergleichung mehr Bedeutung; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 305 ff. 39 Zum Versuch mancher Autoren, dies zur Betriebsübergangsrichtlinie zu tun, vgl. Simitis, in: Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts, S. 297 ff. Zu Zielen einer Interpretation auf rechtsvergleichender Grundlage vgl. Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 289 ff. m.w.N. 40 GA Jacobs, Schlußanträge v. 28.1.1999 – Rs. C-67/96 Albany, Slg. 1999, I-5751. 41 Es handelt sich um einen Fall der primärrechtskonformen Interpretation von Sekundärrecht; vgl. Potacs, Auslegung im Öffentlichen Recht, S. 75 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

Die Gemeinschaft darf heute auf der Grundlage des Art. 137 EG verschiedene Fragen des Arbeitsrechts regeln, wie die Arbeitsbedingungen oder den Schutz bei Beendigung des Arbeitsvertrages. Der EuGH hatte sich dazu noch nicht zu äußern. Die wichtigste Entscheidung zur früheren Kompetenzlage war jene zur Arbeitszeitrichtlinie.42 Der Gerichtshof hat dort primär mit Wortlaut und Zweck der Kompetenznorm argumentiert. Und er hat eine Detailbestimmung, welche die Wochenruhe verpflichtend auf das Wochenende festlegte, aufgehoben, weil diese Festlegung von der Kompetenz zum Schutz der Arbeitnehmer nicht mehr erfaßt war – was meines Erachtens auch zu Art. 137 EG gilt. Wichtig war die Aussage, daß die Kompetenz zu „Mindestvorschriften“ nicht bloß zu einem sozialen Minimalprogramm ermächtigte, wie auch deutsche Autoren meinten, sondern den Mitgliedstaaten das Erlassen strengerer Vorschriften erlaubte. Heute sagt Art. 137 Abs. 5 EG, daß die aufgrund dieses Artikels erlassenen Bestimmungen die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, „strengere Schutzmaßnahmen“ zu treffen. Fraglich ist, was „strenger“ hier bedeutet. Die Problematik ist anders als beim Günstigkeitsvergleich im nationalen Recht, weil es bei Art. 137 EG nicht auf die Günstigkeit für den oder die Arbeitnehmer ankommt, sondern nur darauf, ob eine nationale Bestimmung objektiv und für sich betrachtet die Arbeitnehmer mehr schützt. Die Frage von Kompensationsmöglichkeiten kommt in der Regel gar nicht ins Spiel.43 Die bei vielen Richtlinien außerhalb des Arbeitsrechts relevante Frage, ob die Mitgliedstaaten strengere Vorschriften erlassen dürfen, stellt sich bei Richtlinien, die aufgrund des Art. 137 EG erlassen werden, daher gar nicht. Relevant ist sie im Bereich des Arbeitsrechts nur bei der Entsenderichtlinie.44 Für eine abschließende Regelung spricht vor allem deren Art. 3 Abs. 10, wonach das Recht der Mitgliedstaaten unberührt bleibt, bestimmte weitergehende Maßnahmen vorzuschreiben. Überdies spricht auch die Kompetenzgrundlage der Richtlinie dafür, nämlich die Art. 55 und 47 Abs. 2 EG.45 Gleichwohl wird die abschließende Regelung in der Literatur oft verneint. Meines Erachtens liegt darin primär ein methodisches Problem, nämlich welche Bedeutung die Kompetenzgrundlage für die Wirkungen einer Richtlinie hat.46 Art. 137 EG gilt nach seinem Abs. 5 nicht für das Arbeitsentgelt. Fraglich ist daher, inwieweit bei Ausübung der Kompetenzen nach Abs. 1 und 3 auch Fragen des Arbeitsentgelts mitgeregelt werden dürfen.47 Konkret ist fraglich, ob etwa die Teil-

42 EuGH v. 12.11.1996 – Rs. C-84/94 Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1996, I-5755. 43 Vgl. zur Frage Schwarze-Rebhahn, Art. 137 EGV Rn. 30 f. 44 Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. 1996 Nr. L 18/1. 45 Erfurter Kommentar-Schlachter, § 1 AEntG Rn. 2; Rebhahn, DRdA 1999, 177. 46 Vgl. allgemein Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 323 ff. (wenig weiterführend). 47 Vgl. Schwarze-Rebhahn, Art. 137 EGV Rn. 23.

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zeitrichtlinie 48 die Gleichbehandlung auch beim Entgelt anordnen darf, die Mutterschutzrichtlinie 49 die Fortzahlung des Entgelts verlangen darf, oder jene zur Gleichbehandlung, daß nach dem Ende eines Elternurlaubes die Entgeltbedingungen fortgeschrieben werden. Der EuGH hat sich zur Frage noch nicht explizit geäußert, und aus dem Schweigen in Verfahren, in denen die Frage nicht aufgeworfen wird, darf man wohl nicht auf eine Billigung schließen. Methodisch geht es um eine Interpretation von Kompetenznormen. Meines Erachtens ist Abs. 5 zwar nicht eng auszulegen, aber nur auf eine Regelung des Entgelts selbst anzuwenden, nicht auch auf Normen, die bloß an das Entgelt anknüpfen.

7.

Inneres System, Eindimensionalität und favor laboris als Argumente?

a) Fraglich ist, inwieweit zum Arbeitsrecht – so wie in anderen Teilgebieten des Gemeinschaftsrechts – von einem übergreifenden Zweck ausgegangen werden kann, der dann die Anwendung einzelner Vorschriften (zusätzlich) steuern könnte. Das gemeinschaftsrechtliche Arbeitsrecht dient, jedenfalls soweit es auf den Art. 137 ff. EG beruht, heute nicht primär dem Ziel des Binnenmarktes. Dessen Förderung kann daher auch nicht als Leitlinie der Interpretation herangezogen werden. Das Arbeitsrecht ist nun wohl jener Teil des wirtschaftsrelevanten Privatrechts, in dem die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten noch am größten sind.50 Die Vorgaben betreffen nur Teile des Arbeitsrechts. Im Individualarbeitsrecht sind vor allem Arbeitsschutz und Arbeitszeit einschließlich Mindesturlaub, Diskriminierungsverbote, Information über Arbeitsbedingungen, manche „atypischen“ Arbeitsverhältnisse wie Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse, Verfahren bei Massenentlassung, Betriebsübergang sowie Mutterschutz zu nennen, im Kollektiven Arbeitsrecht nur Europäischer Betriebsrat, Information und Konsultation sowie Vertretung der Arbeitnehmer in Unternehmensorganen bei der SE. Manche sehen zumindest in einem Teil dieser Regelungen ein inneres System.51 Geht man hingegen von dem aus, was in den Mitgliedstaaten üblicherweise geregelt ist, so stellen die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zum Arbeitsrecht jedoch nur vereinzelte Regelungen dar, die wichtige Fragen aussparen, insbesondere folgende: Kündigungsschutz, Entgeltfortzahlung, Haftung, Risikoverteilung und Nebenpflichten, sowie das Recht der Koalitionen, der Tarifverträge und der Kollektiven Konflikte. Das Recht der Koalitionen und der Konflikte sind sogar ausdrücklich von der Kompetenz nach Art. 137 EG ausgenommen. Man kann daher sagen, daß das Gemein48 Richtlinie 97/81/EG des Rates v. 15.12.1997 zu der von UNICE, CEEP and EGB geschlossenen Rahmenvereinigung über Teilzeitarbeit – Anhang: Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit, ABl. 1997 Nr. L 14/9. 49 Richtlinie 92/85/EWG des Rates v. 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG), ABl. 1992 Nr. L 348/1. 50 Vgl. den Überblick bei Hanau/Steinmeyer/Wank-Wank, §§ 3, 11f.; sowie z.B. Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 3 ff. 51 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, § 6 Rn. 35 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

schaftsrecht nur Bruchstücke des Arbeitsrechts regelt.52 Das erschwert eine systematische Interpretation, wie sie im Gemeinschaftsrecht etwa beim Wettbewerbsrecht und zunehmend beim Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht möglich ist. Jenes Teilstück, das am weitesten in sich geschlossen ist, sind die Diskriminierungsverbote. Dazu hat der EuGH lange Zeit im Zweifel häufig jene Interpretation gewählt, die das Verbot am weitesten ausdehnte, auch bei den erforderlichen Sanktionen.53 Für die letzten Jahre läßt sich dies so wohl nicht mehr sagen. Beleg dafür ist die Judikatur zur vergleichbaren Lage oder zur gemeinsamen Quelle der Regelung (dazu später). Und auch zur extensiven Auslegung bleibt anzumerken: Das Diskriminierungsverbot normiert, sieht man vom Schutz der Schwangeren ab, keinen typischen Mindeststandard, weil es den Arbeitgeber nicht hindert, alle gleich schlecht zu behandeln. b) Bei den typischen arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften, die einen Mindeststandard setzen sollen, zeigt sich der Mangel eines einheitlichen Hintergrundes der Normen – und damit die Möglichkeit eines Vorverständnisses – besonders stark. Die Eigenschaft einer Richtlinie als Mindestvorschriften bewirkt, daß der Gedanke der wirklichen Vereinheitlichung des Rechts bei der Auslegung keine Rolle spielen kann. Es geht dann um die relative Position der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. In der politischen Diskussion ist oft von einem Europäischen Sozialmodell die Rede. Diese Vorstellung hat aber in der Rechtsprechung des EuGH noch nie eine Rolle gespielt; und sie ist wohl auch sonst heute eher ein Mythos denn ein Postulat. Real stellt sich bei der Anwendung von Vorschriften, die einen arbeitsrechtlichen Mindeststandard vorsehen, rechtspolitisch vielmehr stets die Frage, inwieweit die EU aktiv dazu beitragen soll, diese Unterschiede einzuebnen. Die einen meinen, über die Unterschiede und deren Ausgleich solle der Markt entscheiden; geringere Arbeitsstandards und damit Arbeitskosten seien ein Wettbewerbsfaktor, den man den betroffenen Staaten nicht gegen ihren Willen nehmen dürfe, weder innerhalb der EG noch gegenüber anderen Staaten. Die anderen meinen, daß die staatlich gesetzten Sozialstandards von Lissabon bis Helsinki möglichst einheitlich sein sollen, um einen Wettbewerb mit Arbeitskosten insoweit zu verhindern, weil man befürchtet, daß es ein Wettbewerb nach unten wird.54 Das eine führt im Zweifel zu einer restriktiven Interpretation der Richtlinie, das andere zu einer extensiven. Methodisch bedeutet dies, daß die Gerichte bei der Auslegung einzelner Rechtsakte kaum von einem geschlossenen Konzept des Arbeitsrechts ausgehen können.55 Man muß letztlich jeden arbeitsrechtlichen Rechtsakt – jedes der Fragmente – aus sich

52 Vgl. zur Einschätzung z.B. Birk, in: Richardi/Wlotzke (Hrsg.), Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht , § 18 Rn. 15 ff. 53 Zur Bedeutung des EuGH z. B. Barnard, EC Employment Law, S. 28 ff. 54 Vgl. zur Diskussion z. B. Barnard, EC Emplyoment Law, S. 20 ff.; Schwarze-Rebhahn, Art. 136 EGV Rn. 34 ff. 55 Zur Bedeutung des normativen Umfeldes einer Norm für deren Verständnis Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 442 ff. (systematische Auslegung), S. 472 ff. (ergänzende Auslegung).

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selbst heraus auslegen. Und soweit zu sehen gibt es auch beim EuGH kein einheitliches Vorverständnis zur Frage, ob arbeitsrechtliche Mindestvorschriften eher extensiv oder restriktiv auszulegen sind. Zu manchen nicht eindeutigen Fragen urteilt er eher restriktiv, wie zum Begriff des Arbeitnehmers oder zur Bedeutung der Nachweisrichtlinie,56 zu anderen eher extensiv, wie zum Begriff der Arbeitszeit oder dem Vorliegen eines Betriebsüberganges. Allenfalls kann man sagen, daß der EuGH früher eher jene Auslegung gewählt hat, welche den Arbeitnehmerschutz stärkt. Man kann dafür etwa jene Entscheidungen nennen, die in Deutschland große Aufregung verursacht haben: Paletta zur Entgeltfortzahlung, Schmidt zum Betriebsübergang, und Bötel zur Fortbildung teilzeitbeschäftigter Betriebsräte. Junker hat von der „schwarzen Serie“ des EuGH gesprochen.57 Fraglich ist dann, inwieweit der EuGH explizit den Schutz der Arbeitnehmer als Auslegungsargument – über den Zweck der konkreten Regelung hinaus – einsetzt. Denn bei den Mindestvorschriften geht es ja letztlich stets um die relativen Positionen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Auf der einen Seite hat der EuGH bisher – soweit zu sehen – noch nie ausdrücklich in die Erwägung einbezogen, inwieweit eine Regelung die Arbeitgeber belastet. Offenkundig – und fast schon anstößig – ist diese Nichtberücksichtigung insbesondere bei der Rückwirkung der Anwendung des Art. 141 EG auf Betriebspensionen (vgl. unten bei 9.c). Auf der anderen Seite hat der EuGH aber noch nie explizit gesagt, daß arbeitsrechtliche Schutzvorschriften im Zweifel zugunsten der Arbeitnehmer auszulegen seien. Soweit zu sehen praktiziert er diese Regel bei den Mindestvorschriften auch nicht. Bei der Interpretation arbeitsrechtlicher Mindestvorschriften blickt der EuGH also wohl nur auf den konkreten Zweck der Richtlinie, und nicht auf einen dahinter stehenden allgemeinen Schutz der Arbeitnehmer. Allerdings nennen die arbeitsrechtlichen Richtlinien in der Regel letztlich nur den Schutz der Arbeitnehmer als Regelungsziel. Nationale Gerichte würden sich dadurch nicht abhalten lassen, auch die Interessen der anderen Seite und Dritter bei der Interpretation zu bedenken. Die eher beschränkte Argumentationsweise des EuGH tut dies jedenfalls nicht ausdrücklich. Sie begünstigt die in der Literatur wiederholt konstatierte Eindimensionalität der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften.58 Die Interpretation arbeitsrechtlicher Normen wäre danach primär nur am Arbeitsverhältnis (und nicht der Gesamtheit der Rechtsordnung) und hier wiederum primär an den Arbeitnehmern ausgerichtet. Diese Eindimensionalität ist aber jedenfalls durch die Normen nicht zwingend vorgegeben.59

56 Richtlinie 91/533/EWG des Rates v. 14.10.1991 über die Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung des Arbeitnehmers über die für seinen Arbeitsvertrag oder sein Arbeitsverhältnis geltenden Bedingungen, ABl. 1991 Nr. L 288/32. 57 Junker, NJW 1994, 2527 ff. Zu diesen Entscheidungen – weit zurückhaltender – Kaiser, NZA 2000, 1144 ff. 58 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 461ff.; Kaiser, NZA 2000, 1144, 1149. Soweit zu sehen gibt es in keinem Mitgliedstaat eine Interpretationsregel, daß arbeitsrechtliche Gesetze im Zweifel zugunsten der Arbeitnehmer ausgelegt werden, auch wenn die Gerichtspraxis mancher Länder in diese Richtung gehen mag. 59 So zutreffend schon Schlachter, Der Europäischer Gerichtshof und die Arbeitsgerichtsbarkeit, S. 36.

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3. Teil: Besonderer Teil

Sonderfälle stellen die Richtlinien zum Betriebsübergang und zur Entsendung dar. Bei der Entsenderichtlinie ist fraglich, welche Arbeitnehmer sie schützen soll (dazu später). Bei der Betriebsübergangsrichtlinie ist fraglich, ob sie primär überhaupt die Arbeitnehmer schützen oder nicht eher für gleiche Investitionsbedingungen sorgen will. De facto dient die vom EuGH gepflogene extensive Interpretation dieser Richtlinie aber vorwiegend dem Schutz der Arbeitnehmer. Dies vergrößert im Ergebnis die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, anstatt sie zu verringern. c) Die Betriebsübergangsrichtlinie liefert ein Beispiel für das Nebeneinander verschiedener Regelungszwecke im Gemeinschaftsrecht und deren – fehlende – Abstimmung. Besonders kraß ist die Entscheidung Abler, wo es um die Neuverpachtung einer Krankenhausküche ging; das bisherige Essen war den Patienten nicht länger zuzumuten.60 Sie verlangt bei einem gepachteten Betrieb, der auf der Seite des Pächters im wesentlichen aus Kundenbeziehungen und der verpachteten Kücheneinrichtung besteht, die Übernahme des Personals durch den neuen Pächter. Damit wird jede Ausschreibung zur Farce. Es ist unverständlich, wie der EuGH bei seiner Judikatur zum Betriebsübergang die Grundwertungen des Vergaberechts, die er dort bis zum Exzeß strapaziert, völlig vergessen kann und so alle Bemühungen um eine Ausschreibung von Dienstleistungsaufträgen konterkariert.

8.

Pragmatische Schlüsse

Potacs faßt unter pragmatischen Schlüssen Umkehr-, Analogie- und Größenschluß zusammen. Soweit zu sehen, hat der EuGH noch in keinem Urteil zu arbeitsrechtlichen Fragen ausdrücklich einen Analogieschluß bejaht oder abgelehnt, obwohl er diesen Begriff in anderen Sachbereichen durchaus verwendet. Und auch die Schlußanträge argumentieren nur selten damit. Soweit zu sehen haben sie den von Verfahrensbeteiligten befürworteten Analogieschluß nur abgelehnt.61 Bislang hat auch kein Urteil zu arbeitsrechtlichen Fragen ausdrücklich mit dem Umkehrschluß argumentiert. In der Entscheidung Simap hat das vorlegende Gericht gefragt, ob die Ausnahme (nur) der Ärzte in Ausbildung e contrario für die Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie auf andere Ärzte spreche. Der EuGH geht darauf nicht ein, und bejaht die Anwendbarkeit ohne Bezugnahme auf die genannte Ausnahme.62 Auch in den einschlägigen Schlußanträgen kommt das Wort Umkehrschluß kaum vor.63 Daraus darf man aber nicht schließen, daß der EuGH auch faktisch nicht jene Erwägungen und Interpretationen anstellt, die wir unter Analogie- und Umkehrschluß verste-

60 EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 Abler u.a., Slg. 2003, I-14023 Rn. 30 ff. 61 Vgl. GA van Gerven v. 30.1.1990 – Rs. 262/88 Barber ./. Guardian Royal Exchange Assurance Group, Slg. 1990, I-1889 Tz. 21; GA Cosmas, Schlußanträge v. 29.5.1997 – Rs. C-117/96 Mosbæk ./. Lønmodtagernes Garantifond, Slg. 1997, I-5017 Tz. 60; GA Jacobs, Schlußanträge v. 23.3.2000 – Rs. C-180/98 Pavel Pavlov u.a., Slg. 2000, I-6451 Tz. 94. 62 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 29 – 38. 63 Vgl. aber GA Kokott v. 18.5.2004 – Rs. C-313/02 Wippel, (noch nicht in Slg.) Rn. 82.

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§ 14 Europäisches Arbeitsrecht

hen.64 Er spricht nur leider nicht davon, was die Diskussion der Begründungen erschwert.

9.

Allgemeine Rechtsgrundsätze: Grundrechte, Verhältnismäßigkeit, Vertrauensschutz

a)

Grundrechte

Der EuGH argumentiert auch zum Arbeitsrecht nicht selten – und wohl mit zunehmender Häufigkeit – mit Grundrechten. Von allgemeiner Bedeutung ist die Aussage: „Die Befugnis des nationalen Gesetzgebers“, – hier: festzulegen, welche Leistungen zu Lasten der Garantieeinrichtung gehen – „findet ihre Grenze in der Beachtung der Grundrechte, zu denen insbesondere der allgemeine Grundsatz der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung gehört. Nach diesem Grundsatz dürfen gleiche Sachverhalte nur unterschiedlich behandelt werden, wenn eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist.“ 65 Ferner gehört die Beseitigung der auf dem Geschlecht beruhenden Diskriminierungen zu den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts.66 In internationalen Verträgen anerkannte Grundrechte auf Nichtdiskriminierung können allerdings nicht die Zuständigkeiten der Gemeinschaft erweitern.67 Einige Jahre lang hat der EuGH auch in manchen Entscheidungen auf die Gemeinschaftscharta über die Grundrechte der Arbeitnehmer Bezug genommen, allerdings hatten diese Hinweise wohl nie tragende Bedeutung. Die Vereinigungsfreiheit wurde erstmals im Fall Bosmann als Gemeinschaftsgrundrecht anerkannt.68 Allerdings ging die Freizügigkeit der Arbeitnehmer vor. Auch die Tarifautonomie wurde in einigen Verfahren an sich anerkannt, konnte bisher aber die Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht verhindern.69 Die Frage eines Grundrechts auf Tarifautonomie oder jenes auf Arbeitskampf hat sich dem EuGH bislang noch nicht ausdrücklich gestellt. Am nächsten kam er der Tarifautonomie in der Entscheidung Albany aus 1999.70 Dort hat er entschieden, daß Tarifverträge, welche von Sozialpartnern ausgehandelt wurden und der Verbesserung von Arbeitsbedin-

64 Vgl. z.B. EuGH v. 12.5.1985 – Rs. 284/83 Dansk Metalarbejderforbund ./. Nielsen & Søn, Slg. 1985, 553 Rn. 10 zur Massenentlassungsrichtlinie. 65 EuGH v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 Rodríguez Caballero, Slg. 2002, I-11915 Rn. 29 ff; EuGH v. 16.12.2004 – Rs. C-520/03 Olaso Valero, (noch nicht in Slg.) Rn. 34. 66 EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1978, 1365 Rn. 26 (Defrenne III); EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-13/94 P. ./. S. and Cornwall County Council, Slg. 1996, I-2143 Rn. 19. 67 EuGH v. 17.2.1998 – Rs. C-249/96 Grant ./. South-West Trains, Slg. 1998, I-621 Rn. 45 f. 68 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Union royale belge des sociétés de football association u.a. ./. Bosman u.a., Slg. 1995, I-4921 Rn. 79. 69 Vgl. z.B. EuGH v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89 Nimz ./. Freie und Hansestadt Hamburg, Slg. 1991, I-297 Rn. 11; EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, Slg. 1999, I-7243 Rn. 26; EuGH v. 28.10. 1999 – Rs. C-187/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1999, I-7713 Rn. 46, alle zu Art. 141 EGV. Ferner z.B. EuGH v. 30.1.1985 – Rs. 143/83 Kommission ./. Dänemark, Slg. 1985, 427 Rn. 8. 70 EuGH v. 21.9.1999 – Rs. C-67/96 Albany, Slg. 1999, I-5751.

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3. Teil: Besonderer Teil

gungen dienen, nicht unter Art. 85 EG fallen. Der EuGH konzentriert seine Überlegungen hier aber auf das Allernotwendigste. Generalanwalt Jacobs hat hingegen umfassende Überlegungen angestellt. Mit dem Streik von Arbeitnehmern hatte der EuGH sich noch nie explizit zu befassen, auch nicht im Zusammenhang mit der Warenverkehrsfreiheit.71 Der Abwägung zwischen arbeitsrechtlichen Grundrechten auf der einen und Grundfreiheiten auf der anderen Seite mußte sich der EuGH daher noch nicht stellen. Entscheidungswesentlich war das Argument des Grundrechts wohl in der Entscheidung Katsikas. Es ging um die Frage, ob die in der Betriebsübergangsrichtlinie vorgesehenen Rechtsfolgen auch eintreten, falls der Arbeitnehmer dem Übergang des Arbeitsverhältnisses ausdrücklich widerspricht. Frühere Entscheidungen waren von manchen dahin interpretiert worden, daß ein Widerspruch unbeachtlich sei. 1992 erklärte der EuGH aber, daß er derartiges nie entschieden habe, und läßt den Widerspruch ausdrücklich zu.72 Ein wesentliches Argument dafür ist auch, daß eine Verpflichtung der Arbeitnehmer, gegen ihren Willen beim Erwerber zu arbeiten, gegen Grundrechte des Arbeitnehmers verstieße, der bei der Wahl seines Arbeitgebers frei sein muß. b)

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Der EuGH hat schon früh zur mittelbaren Diskriminierung eine Rechtfertigung – nur – zugelassen, wenn die Unterscheidung zum Erreichen eines legitimen Zieles geeignet und erforderlich ist. Er hat damit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – ohne direkte Grundlage im positiven Recht der Gemeinschaft – in das Arbeitsverhältnis eingeführt. Inzwischen hat der Gemeinschaftsgesetzgeber nachgezogen.73 Das Anwenden des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zwischen Privaten ist aus unserer Sicht durchaus bemerkenswert wenn nicht systemfremd. Die Frage, ob eine Differenzierung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, ist derzeit wohl der wichtigste unbestimmte Begriff im gemeinschaftsrechtlichen Arbeitsrecht. Der EuGH überläßt die Prüfung der Verhältnismäßigkeit aber in weitem Umfang den nationalen Gerichten, und gibt nur wenige Vorgaben. Das ist dort, wo es um die Anwendung einer Richtlinie geht, durchaus nachvollziehbar, weil die Richtlinie hier die Entscheidung eben nicht voll determiniert. Allerdings zerfällt auf diese Weise gerade der entscheidende Teil der mittelbaren Diskriminierung in nationale Teilrechtsordnungen. Auch methodisch fragwürdig ist die Verweisung auf die nationale Judikatur hingegen bei der mittelbaren Diskriminierung beim Entgelt, weil das Verbot des Art. 141 EG unmittelbar anwendbar ist. Allerdings erreicht der EuGH so einen Gleichklang der Kontrolldichte bei Entgelt und sonstigen Arbeitsbedingungen. 71 EuGH v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1997, I-6959 (Bauernproteste). Bisher ging es um Blockaden. Vgl. nun Art. 2 der Verordnung 2679/98 des Rates vom 7.12.1998 über das Funktionieren des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. 1998 L 337/8. 72 EuGH v. 16.12.1992 – Rs. C-132/91 Katsikas u.a. ./. Konstantinidis u.a., Slg. 1992, I-6577. 73 Z.B. Art. 2 Abs 2 2.Spst. der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207 i.d. F. RL 2002/73.

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§ 14 Europäisches Arbeitsrecht

c)

Vertrauensschutz

Der EuGH berücksichtigt im allgemeinen bei der Auslegung auch das Argument des Vertrauensschutzes, auch wenn die Norm es nicht ausdrücklich nennt. Im Arbeitsrecht stellt sich die Frage des Vertrauensschutzes vor allem bei den Sanktionen für Diskriminierung insbesondere bei Betriebspensionen. Hat der Arbeitgeber etwa teilzeitbeschäftigte Frauen benachteiligt, so fragt sich, inwieweit er auch für die Vergangenheit nachträglich Anwartschaften begründen oder Pensionen nachbezahlen muß. Der EuGH vertritt nun grundsätzlich eine sehr scharfe Haltung zur Frage, inwieweit seine Judikatur auch dann zurückwirkt, wenn die Rechtslage eher unklar ist. Er hat diese Haltung auch bei den Betriebspensionen grundsätzlich vertreten.74 Die Judikatur zum Verbot der mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere von teilzeitbeschäftigten Frauen, wirkt daher bereits seit jenem Zeitpunkt, zu dem der EuGH erstmals die unmittelbare Wirkung des Art. 119 EGV im Arbeitsverhältnis und dessen Anwendbarkeit auf Betriebspensionen ausgesprochen hat, also seit 1976 – auch wenn der EuGH das Verbot der mittelbaren Diskriminierung erst später konkret angewendet hat. Der EuGH kümmert sich hier wenig um die methodische Frage, ob es nicht Gründe gegen diese Rückwirkung gibt, zumal die Rückwirkung für die Durchsetzung in der Zukunft nicht notwendig ist. Der EuGH begrenzt die Rückwirkung vielmehr nur dann, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber selbst den Eindruck erweckt hat, daß eine Diskriminierung auch den privaten Arbeitgebern erlaubt sei, nämlich beim Anfallsalter der Betriebspensionen. Vertrauensschutz wird also nur bei Maßnahmen des Gesetzgebers gewährt.75

10.

Rechtsfortbildung

Wie erwähnt haben häufig arbeitsrechtliche Fälle dem EuGH den Anlaß für entscheidende Schritte bei der Ausdehnung/Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts gegeben, die man nur mehr als Rechtsfortbildung einordnen kann.76 Am Anfang war es insbesondere das Verbot der Entgeltdiskriminierung des alten Art. 119 EGV. 1976 hat die Entscheidung Defrenne II die unmittelbare Anwendung zwischen Privaten bejaht.77 Begründet wurde dies vergleichsweise wenig und nur mit Argumenten, welche die Mitgliedstaaten betreffen; auf die Pflichten, die sich daraus für Private ergeben, geht die Entscheidung mit keinem Wort ein. Sie spricht auch schon von den mittelbaren Diskriminierungen, verweist dafür aber noch auf nationale Vorschriften. 1981 wurde dann auch das Verbot der mittelbaren Diskriminierung als unmittelbar anwendbar angesehen, ohne Anhaltspunkt im Normtext.78 Auch 74 Vgl. z.B. EuGH v. 28.9.1994 -Rs. C-57/93 Vroege ./. NCIV, Slg. 1994, I-4541. 75 Vgl. Blomeyer, NZA 1995, 49 ff.; ders., NZA-RR 1999, 337 f. 76 Umstritten ist allerdings schon die Grenze, ab der Rechtsfortbildung vorliegt; Vgl. z.B. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 277 ff., der die Grenze eher spät zieht. 77 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1976, 455 Rn. 8 ff. (Defrenne II). 78 EuGH v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 Jenkins ./. Kingsgate, Slg. 1981, 911 Rn. 17 f; Vgl. auch EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 129/79 Macarthys ./. Smith, Slg. 1980, 1275; EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 Worringham and Humphreys ./. Lloyds Bank, Slg. 1981, 767.

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3. Teil: Besonderer Teil

die Begründung entspricht bei weitem nicht jenen methodischen Anforderungen, die in vielen Rechtsordnungen gestellt werden. 1986 wurde dann für die Gleichbehandlungsrichtlinie erstmals die unmittelbare Anwendung von Richtlinien gegenüber dem Staat bejaht.79 Ebenfalls 1986 wurde erstmals gesagt, daß eine mittelbare Diskriminierung nur zulässig ist, wenn die vom Arbeitgeber „gewählten Mittel einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens dienen und für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind.“ 80 Damit hat der EuGH den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in das Arbeitsrechtsverhältnis eingeführt. Er hatte dafür zwar Vorbilder bei den Grundfreiheiten, die Geltung des Grundsatzes zwischen Privaten ist aber doch eine andere Dimension. 1991 hat die Entscheidung Francovich an der Insolvenzschutzrichtlinie die Haftung der Mitgliedstaaten für eine fehlerhafte Ausführung von Richtlinien begründet.81 2004 schließlich hat die Entscheidung Pfeiffer die Anforderungen an die richtlinienkonforme Interpretation nach Ansicht vieler entscheidend erhöht.82 Damit wurde der Unterschied zwischen Richtlinie und Verordnung weiter eingeebnet, weil sich Richtlinien nun im Ergebnis auch an Private wenden. In all diesen Entscheidungen begnügt sich der EuGH zum wesentlichen Punkt letztlich mit der folgenden Aussage: Es soll so sein, weil wir es so wollen. Näher kann auf diese allgemeinen Fragen hier nicht eingegangen werden.

III.

Ausgewählte Entscheidungen und Fragen

1.

Begriff des Arbeitnehmers

Ausgangspunkt der arbeitsrechtlichen Normen der EG ist der Begriff der Arbeitnehmer. Das Primärrecht verwendet ihn vor allem in Art. 39 EG zur Freizügigkeit, in Art. 137 EG zur Kompetenz der Gemeinschaft, und in Art. 141 EG zum Diskriminierungsverbot. Die Judikatur hatte sich lange nur mit der Freizügigkeit zu befassen, und diesen Begriff eher traditionell ausgelegt.83 Dabei konnte und mußte sie den systematischen Zusammenhang mit den Grundfreiheiten der Selbständigen beachten; eine Tätigkeit konnte nur entweder unter die Arbeitnehmer- oder unter die Niederlassungsfreiheit fallen. Bei Art. 137 EG und Art. 141 EG fehlt diese Beschränkung durch systematische Interpretation.84 In der ersten Entscheidung, in der es zentral um den Arbeitnehmerbegriff des Art. 141 EG ging, der Entscheidung Allonby aus 2004, geht der EuGH zwar davon aus, daß das Gemeinschaftsrecht keinen einheitlichen Begriff des Arbeitnehmers kennt.85 Gleichwohl hat er die Rechtspre79 EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall ./. Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1986, 723 Rn. 48 f. (Marshall I). 80 EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 Bilka ./. Weber von Hartz, Slg. 1986, 1607 Rn. 36. 81 EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich und Bonifaci ./. Italien, Slg. 1991, I-5357 (Francovich I). Die Rechtsfortbildung lag hier darin, daß nationale Parlamente als Vollzugsorgane angesehen werden. 82 EuGH v. 5. 10. 2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835. 83 Vgl. z.B. Hanau/Steinmeyer/Wank-Wank, § 14 Rn. 3 ff. 84 Vgl. Schwarze-Rebhahn, Art. 136 EGV Rn. 22. 85 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 Allonby, Slg. 2004, I-873 Rn. 62 ff.

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chung zu Art. 39 EG im wesentlichen auf Art. 141 EG übertragen und setzt sich mit dem Vortrag der Kommission, daß man bei Art. 141 EG den Begriff der Arbeitnehmer weiter verstehen könne, nicht wirklich auseinander. Den Begriff des Arbeitnehmers versteht er als typologischen Begriff, bei dem es im wesentlichen auf die persönliche Unterordnung, und nicht auf die wirtschaftliche Abhängigkeit ankommt. Dies entspricht zwar dem Verständnis der meisten Mitgliedstaaten,86 allerdings läßt der EuGH hier jene Orientierung am effet utile und ähnlichem vermissen, die ihn ansonsten angeblich so auszeichnet. Arbeitnehmer im Sinne des Gemeinschaftsrechts könnten grundsätzlich auch Personen sein, die nach nationalem Recht nicht Arbeitnehmer sind. Gerade aus diesem Grund verwenden viele arbeitsrechtlichen Richtlinien aber keinen einheitlichen Begriff der Arbeitnehmer, sondern wollen nur auf jene Personen Anwendung finden, welche nach nationalem Recht Arbeitnehmer sind. Neuere Richtlinien verbieten allenfalls zusätzlich, die Arbeitnehmereigenschaft aus bestimmten Gründen zu verneinen. Das führt zu dem seltsamen Ergebnis, daß das Gemeinschaftsrecht für dasselbe wirtschaftliche Phänomen in manchen Staaten gilt, in anderen nicht. Und die Bedeutung dieser Unterschiede wächst mit der Zahl der Fälle im Bereich zwischen eindeutiger Unselbständigkeit und eindeutiger Selbständigkeit. Inhaltlich halte ich diesen national unterschiedlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts für fragwürdig.87

2.

Verbot der Diskriminierung

Gerade bei den Verboten der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts hat der EuGH in wichtigen Fragen wohl die Grenzen dessen überschritten, was in Deutschland und Österreich als Aufgabe der Rechtsprechung angesehen würde; darauf wurde bereits hingewiesen (vgl. insbesondere II. 10). Hier soll nur auf drei weitere Fragen hingewiesen werden. Zentral für Art. 141 EG ist auch der Begriff des Entgelts. Der EuGH interpretiert hier Entgelt sehr weit und schließt jede Zuwendung ein, die ihre Ursache im Arbeitsverhältnis hat. Ob auch das nationale Arbeitsrecht einen Vorteil als Entgelt ansieht, oder im Gegenteil als entgeltfremden Vorteil, spiele keine Rolle. Die Diskussion um die Fortbildung teilzeitbeschäftigter Betriebsratsmitglieder hat dies deutlich gezeigt.88 Die weite Auslegung kann sich auf den Wortlaut des EG-Vertrags stützen, der schon früher in Art. 119 „aufgrund des Dienstverhältnisses“ sagte. Überdies führt der EuGH für die weite Auslegung wiederholt auch den Zweck an. Methodisch ist die weite Auslegung des EuGH grundsätzlich überzeugend; die konkrete Entscheidung zu den Betriebsratsmitgliedern soll hier nicht beurteilt werden.

86 Vgl. z.B. Supiot, (Hrsg.), Au-delà de l’emploi, 36 ff. 87 So kann z.B. die Betriebsübergangs-RL bei Privatisierung auf Beschäftigte mit öffentlichrechtlichem Dienstverhältnis unanwendbar sein; Vgl. GA Maduro v. 27.1.2005 zur Rs. C-478/03 Celtec, (noch nicht in Slg.) Tz. 16 f. 88 Vgl. EuGH v. 4.6.1992 – Rs. C-360/90 Arbeiterwohlfahrt der Stadt Berlin ./. Bötel, Slg. 1992, I-3589 und EuGH v. 6.2.1996 – Rs. C-457/93 Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation ./. Lewark, Slg. 1996, I-243 und dazu z.B. Kaiser NZA 2000, 1144, 1146 f. mwN.

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3. Teil: Besonderer Teil

Ein aktuelles Problem zum Inhalt des Verbotes stellt der Satz dar, daß die Diskriminierungsverbote nur gelten, wenn sich die Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage befinden. Differenziert eine Regelung direkt nach einem mißbilligten Kriterium, etwa zwischen Frauen und Männern, so läßt sich mit der Behauptung, es liege gar keine vergleichbare Lage vor, die Unzulässigkeit vermeiden. Denn eine unmittelbare Diskriminierung kann in der Regel nicht gerechtfertigt werden. Der Ausgangssatz ist kaum angreifbar, weil jede Anwendung des Gleichheitssatzes voraussetzt, daß vergleichbare Lagen vorliegen. Der EuGH verwendet die genannte Behauptung aber zunehmend. So hat sich zum Fall Hlozek, es ging um Sozialplanzahlungen,89 die Generalanwältin Kokott bemüht darzutun, daß die Lagen vergleichbar sind, der EuGH hat mit wenigen Absätzen anders befunden, ohne sich mit den Ausführungen der Generalanwältin auseinanderzusetzen. Meist wird mit dem Argument der nicht vergleichbaren Lage einer nachprüfbaren Diskussion ausgewichen. Es wäre besser, stattdessen auch bei unmittelbarer Diskriminierung eine Rechtfertigung potentiell zuzulassen, und diese dafür streng zu handhaben. Methodisch interessant sind auch die Entscheidungen zur erforderlichen Sanktion. In den Entscheidungen Dekker und Draehmpaehl wurde primär aus dem Wortlaut der Richtlinie abgeleitet, daß es nicht auf Verschulden oder Rechtfertigungsgründe ankommen darf, weil die Richtlinie eine solche Einschränkung nicht vorsieht. Überdies wird gesagt, daß andernfalls die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigt wäre.90 Das überzeugt in der Sache jedenfalls dort, wo der Arbeitgeber die Diskriminierung noch in der Zukunft beheben kann sowie in jenen Fällen, in denen die Diskriminierung durch Nachzahlung des Vorenthaltenen beseitigt werden kann. Bei weitergehenden Ersatzansprüchen ist die Lage hingegen fraglicher, auch weil der Mitgliedstaat damals auch eine rein öffentlichrechtliche Strafsanktion hätte wählen können, und diese schon wegen der EMRK wohl nur bei Verschulden verhängt werden kann. Der EuGH hätte sein Ergebnis also wohl besser begründen sollen. Heute verlangen die Richtlinien nur bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes ausdrücklich einen verschuldensunabhängigen Ersatzanspruch, während die Antidiskriminierungsrichtlinie 91 nur abschreckende Sanktionen verlangt. Man steht dann vor der Frage, ob aus dem Vergleich sachlich verwandter Richtlinien ein Analogie- oder ein Gegenschluß gezogen werden kann.92

89 EuGH v. 9.12.2004 – Rs. C-19/02 Hlozek, (noch nicht in Slg.) insb. Rn. 44 ff. 90 EuGH v. 8.11.1990 – Rs. C-177/88 Dekker ./. Stichting Vormingscentrum voor Jong Volwassenen, Slg. 1990, I-3941 Rn. 22; EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draehmpaehl ./. Urania Immobilienservice, Slg. 1997, I-2195 Rn. 17 ff. 91 Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 Nr. L 303/16. 92 Vgl. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 159 ff. und Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 68 ff. nehmen dazu nicht Stellung.

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3.

Grundfreiheiten und Arbeitsrecht

Die arbeitsrechtlichen Vorschriften stehen zuweilen in engem Zusammenhang mit anderen Teilgebieten des Gemeinschaftsrechts. Dies gilt vor allem für die Grundfreiheiten. Zuweilen wurde vorgetragen, daß arbeitsrechtliche Vorschriften, welche die Betriebstreue belohnen, die Freizügigkeit behindern. Der EuGH hat hier den Eigenwert der arbeitsrechtlichen Vorschriften berücksichtigt.93 Anders ist es bei den Entsendefällen. Bei Entsendungen von Arbeitnehmern über die Grenze darf der Dienstleistungsverkehr nur durch Regelungen beschränkt werden, die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, soweit dieses Interesse nicht bereits durch die Vorschriften des Herkunftsstaates geschützt wird. Zu den vom EuGH anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehört auch der Schutz der Arbeitnehmer.94 Fraglich war allerdings, welche Arbeitnehmer bei Entsendungen geschützt werden dürfen – nur die Entsendeten oder auch die Arbeitnehmer in jenem Gebiet, in das entsendet wird. In der Entscheidung Finalarte aus 2001 hat der EuGH erstmals deutlich ausgeführt, das vorlegende Gericht müsse „prüfen, ob die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung bei objektiver Betrachtung den Schutz der entsandten Arbeitnehmer fördert.“ Er lehnt zwar den Schutz der inländischen Arbeitnehmer als Rechtfertigungsgrund nicht ausdrücklich ab, sagt aber sehr wohl, daß Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs nicht durch den Schutz der inländischen Unternehmen gerechtfertigt werden können.95 Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts werden die inländischen Arbeitnehmer so zu unselbständigen Bestandteilen der inländischen Unternehmen. Sie sind der 5. Kammer des EuGH keine Ausführungen wert. Der Schutz einer nationalen Arbeitsrechtsordnung ist kein legitimes Ziel. 1974 hat der EuGH noch anders entschieden: Die in Art. 39 Abs. 2 EG ausgesprochene Pflicht, die „freizügigen“ Arbeitnehmer bei den Arbeitsbedingungen mit den heimischen Arbeitnehmer gleichzubehandeln, dient auch dem Schutz der inländischen Arbeitnehmer.96 Ende 2004 hat der EuGH nun zumindest erkannt, daß die Einhaltung eines Mindestlohnes neben dem Schutz der entsendeten Arbeitnehmer auch dem Schutz des fairen Wettbewerbes dienen kann.97 Darin spiegelt sich das Grundproblem, daß der EG-Vertrag keine umfassende Grundlage für eine staatliche Ordnung ist. Er konzentriert sich noch immer auf wirtschaft-

93 Z.B. EuGH v. 27.1.2000 – Rs. C-190/98 Graf, Slg. 2000, I-493 Rn. 24 f. 94 Vgl. Insb. EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96 Arblade, Slg. 1999, I-8453 Rn. 36; EuGH v. 15.3. 2001 – Rs. C-165/98 Mazzoleni und ISA, Slg. 2001, I-2189 Rn. 27 ff; EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/ 98 Finalarte u.a., Slg. 2001, I-7831 Rn. 39 f; EuGH v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99 Portugaia Construções, Slg. 2002, I-787. Vgl. zur Entsendproblematik z. B. Junker, JZ 2005, 481ff. 95 EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/98 Finalarte u.a., Slg. 2001, I-7831 Rn. 39 f. 96 EuGH v. 4.4.1974 – Rs. 167/73 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1974, 359. 97 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-60/03 Wolff & Müller, (noch nicht in Slg.) Rn. 42. Vgl. nun auch EuGH v. 14.4.2005 – Rs. C-341/02 Kommission ./. Deutschland (noch nicht in Slg.).

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3. Teil: Besonderer Teil

liche Fragen, und regelt damit nur einen Teil des Ganzen.98 Auch die Überführung in die Verfassung würde daran nichts ändern. Soziale Ziele sind nach wir vor nur ungeschriebene Rechtfertigungsgründe und daher von vorneherein in der schwächeren Position. Methodisch bemerkenswert ist auch, daß der EuGH in der Entscheidung Finalarte inhaltlich überhaupt nicht auf die Entsenderichtlinie eingeht, die zwar auf den Sachverhalt nicht anwendbar war, aber doch schon seit 1996 vorlag.

4.

Individualarbeitsrecht: Arbeitszeit, Betriebsübergang, Nachweis

Auf die Interpretation der Begriffe „Entgelt“ und „Entlassung“ wurde bereits eingegangen. Ein weiterer Zentralbegriff ist die Arbeitszeit. Das Gemeinschaftsrecht verwendet ihn in der Arbeitszeitrichtlinie. Der EuGH hatte erstmals 2000 darüber zu entscheiden, inwieweit Bereitschaftszeiten, während derer die Arbeitnehmer am Arbeitsort nur anwesend zu sein haben (aber auch schlafen können), unter Arbeitszeit fallen.99 Bei der Verabschiedung der Richtlinie 1989 ist man politisch wohl davon ausgegangen, daß diese Arbeitsbereitschaft nicht zur Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie zählt.100 Der Wortlaut des zentralen Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie ist zwar nicht eindeutig, er spricht aber für eine restriktive Interpretation.101 Der EuGH kommt hingegen in bloß sechs Sätzen zum gegenteiligen Ergebnis. Er argumentiert kaum zum Wortlaut, sondern behauptet nur, daß die Bereitschaftszeiten die charakteristischen Merkmale der Arbeitszeit aufweisen und das weite Verständnis dem Ziel der Richtlinie entspreche. Methodisch ist die Begründung des EuGH äußerst dünn. Das stärkste Argument wird nämlich kaum entwickelt, nämlich der Zusammenhang mit der Ruhezeit; allerdings hätte dann geprüft werden müssen, ob es nicht auch möglich gewesen wäre, Bereitschaftsdienst weder als Arbeitszeit noch als Ruhezeit zu qualifizieren. Erstaunlich ist im übrigen, daß sich die deutsche Regierung nicht am Verfahren beteiligt hat – später aber die Entscheidung beklagt hat; man hat wohl die Bedeutung des Verfahrens nicht erkannt. Die Betriebsübergangsrichtlinie knüpft ihre Rechtsfolgen an den Übergang eines Betriebs oder Betriebsteiles. Der EuGH hatte und hat die größten Schwierigkeiten mit diesem Tatbestand. Erinnert sei nur an die Entscheidungen Schmidt und Süzen.102 Die Entscheidung Süzen korrigiert die Entscheidung Schmidt im entscheidenden Punkt, nämlich daß allein der Übergang des Dienstleistungsauftrags zum Be-

98 Vgl. dazu z.B. Supiot, Critique du Droit du travail, Préface, XXII; Birk, in: Richardi/Wlotzke (Hrsg.), Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 18 Rn. 4 ff. 99 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 47– 49; seither einige andere Entscheidungen. Vgl. zum Problem Kreft, Grundfragen von Arbeitszeitdauerregulierungen, S. 138 ff. 100 Vgl. GA Saggio, Schlußanträge v. 16.12.1999 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Tz. 33. 101 Dies sagt auch GA Saggio, Schlußanträge v. 16.12.1999 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Tz. 34–36, der für das Einbeziehen plädiert. 102 EuGH v. 14.4.1994 – Rs.C-392/92 Schmidt ./. Spar- und Leihkasse der früheren Ämter Bordesholm, Kiel und Cronshagen, Slg. 1994, I-1311 Rn. 17; EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95, Süzen ./. Zehnacker Gebäudereinigung Krankenhausservice, Slg. 1997, I-1259 Rn. 16 ff.

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§ 14 Europäisches Arbeitsrecht

triebsübergang führt.103 Methodisch fällt allerdings auf, daß die Entscheidung Süzen die Änderung der Rechtssprechung nicht offenlegt und sich auch nicht mit der Entscheidung Schmidt auseinandersetzt. In der Sache hatte sich der EuGH schon vor der Entscheidung Schmidt vom Wortlaut der ursprünglichen Richtlinie weit entfernt und gesagt, diese finde auf den Übergang einer wirtschaftlichen Einheit Anwendung, und diesen Begriff dann als typologischen entfaltet, bei dem mehrere Elemente in einer Zusammenschau zu würdigen sind.104 Der EuGH nahm für dieses Verständnis wohl die Orientierung am Zweck der Richtlinie in Anspruch, allerdings ist gerade hier der Zweck fraglich: geht es um den Schutz der Arbeitnehmer oder die Gleichheit der Investitionsbedingungen.105 Dieses Problem wird bei der Darstellung der Richtlinie jedoch nur selten offen angesprochen; die zentrale Entscheidung Spijkers, auf der alle Folgeentscheidungen aufbauen, stellt in einem Satz die „soziale Zielsetzung“ der Richtlinie in den Vordergrund.106 Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat die Auslegung des EuGH in die Neufassung durch die Richtlinie 98/50/EG ausdrücklich aufgenommen, allerdings neben dem alten Text. Die neue Fassung könnte – falls man sich um den Normtext kümmert – Probleme aufwerfen, weil der neue Tatbestand nur vorbehaltlich des alten gelten soll.107 Die Nachweisrichtlinie verpflichtet den Arbeitgeber zu einer Mitteilung an den Arbeitnehmer über Arbeitsbedingungen. Praktisch relevant ist, welcher Beweiswert der Mitteilung zukommt. Nach Art. 6 der Richtlinie berührt diese an sich nicht die nationalen Beweislastregeln. Gleichwohl hat der EuGH zuerst dargelegt, der Zweck der Richtlinie verlange, daß die Mitteilung eine gewisse Beweiskraft habe, die der Arbeitgeber – nur – durch den Beweis des Gegenteils entkräften könne.108 In der Entscheidung Lange hat er hingegen wieder mehr den Wortlaut des Art. 6 in den Vordergrund gerückt und gesagt, daß sich die Folgen einer fehlenden Mitteilung allein nach nationalem Recht richten – obwohl der Regelungszweck mehr rechtfertigen könnte.109

103 Im Sachverhalt der Entscheidung Schmidt hat der neue Auftragnehmer nämlich der Arbeitnehmerin die Übernahme nur angeboten, diese hat sie aber abgelehnt, so daß die „Hauptbelegschaft“ rechtlich nicht übernommen wurde. Hätte Frau Schmidt das Angebot mit den schlechteren Arbeitsbedingungen akzeptiert und sich dann auf die Rechte bei Betriebsübergang berufen, so wäre auch nach den Kriterien der Entscheidung Süzen ein Betriebsübergang vorgelegen. 104 Vgl. insb. EuGH v. 18.3.1986 – Rs. 24/85 Spijkers ./. Benedik, Slg. 1986, 1119 Rn. 12 f. 105 Die RL wurde nicht mit dem Schutz der Arbeitnehmer sondern mit der Beeinträchtigung des Binnenmarktes durch Unterschiede in der Rechtslage begründet. Vgl. auch Bercusson, European Labour Law, S. 234 ff. 106 EuGH v. 18.3.1986 – Rs. 24/85 Spijkers ./. Benedik, Slg. 1986, 1119 Rn. 10 f. 107 Der EuGH hat bisher noch nicht zur Neufassung der Richtlinie entschieden. 108 EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-253/96 Kampelmann u.a. ./. Landschaftsverband Westfalen-Lippe u.a., Slg. 1997, I-6907 Rn. 29 ff. 109 EuGH v. 8.2.2001 – Rs. C-350/99 Lange, Slg. 2001, I-1061 Rn. 32 f.

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3. Teil: Besonderer Teil

5.

Kollektives Arbeitsrecht und Mitwirkung der Sozialpartner

Zum Kollektiven Arbeitsrecht gibt es nur wenige Richtlinien. Auf jene zum Betriebsrat wurde bereits eingegangen. Schwierige Auslegungsprobleme wird die Richtlinie zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer aufwerfen. Zum einen ist es bei allen Informationspflichten schwer, das geschuldete Ausmaß an Information zu bestimmen. Darüber hinaus verlangt die Richtlinie „Sanktionen, die wirksam, angemessen und abschreckend“ sind (Art. 8 Abs. 2). Die Kommission hatte viel schärfere Formulierungen vorgeschlagen, die bei Nichtunterrichtung über die geplante Schließung eines Betriebes auch dessen Wiedereröffnung oder doch die finanzielle Abgeltung für das Nichtwiedereröffnen eingeschlossen hätten.110 Die Diskussion darüber hat die Verabschiedung der Richtlinie um Jahre verschoben. Methodisch käme in Betracht aus dem Gesetzgebungsverfahren zu schließen, daß die Richtlinie nun nicht so scharfe Sanktionen verlangt. Es ist aber fraglich, ob der EuGH solche Schlüsse zieht.111 Für das – kollektive – Arbeitsrecht ist die Mitwirkung der Sozialpartner charakteristisch, und auch diese kann spezifische Methodenprobleme aufwerfen. Auf Gemeinschaftsebene können die Sozialpartner an der Rechtssetzung der Gemeinschaft beteiligt sein, indem ein von den Europäischen Sozialpartnern abgeschlossene Vereinbarung vom Gemeinschaftsgesetzgeber beschlossen und damit übernommen wird. In der Folge findet sich der eigentliche Normtext – die Vereinbarung der Sozialpartner – als Anhang zu einer Richtlinie des Rates und des Parlamentes. Das kann zur Frage führen, wessen Vorstellungen bei einer historischen Interpretation mehr zählen, die der Gemeinschaft oder jene der Sozialpartner. Da der EuGH aber ohnehin kaum nachprüfbar historisch interpretiert,112 spielt dies praktisch keine große Rolle. Störender ist schon die Verdoppelung der Erwägungsgründe, welche zu den mit diesen verbundenen Problemen noch zusätzlich beitragen. Auf der Ebene der Mitgliedstaaten können die Vorschriften des Gemeinschaftsrechtes auch für Kollektive Verträge gelten. Das unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrecht hat Vorrang vor einem Kollektivvertrag, der – wie in den meisten Mitgliedstaaten – aufgrund staatlicher Ermächtigung Normwirkung entfaltet. Unbestritten ist dies für das Diskriminierungsverbot des Art. 141 EG beim Entgelt. Fraglich kann nur die Sanktion sein. Aber auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit darf durch Kollektive Verträge nicht beschränkt werden, auch nicht für Fußballer.113 Richtlinien wirken sich auf normativ wirkende Kollektivverträge sicher nicht stärker aus als auf Gesetze. So wie diese werden sie so weit wie möglich gemeinschafts-

110 Vgl. KOM/98/0612, ABl 1999 C 2, S 3 und dort Art. 7 Abs. 3. 111 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 64 ff., S. 258 ff. zum genetischen Argument. 112 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 256 ff. 113 Vgl. zu Art. 141 z.B. EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, Slg. 1999, I-7243 Rn. 26; zur Freizügigkeit EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Union royale belge des sociétés de football association u.a. ./. Bosman u.a., Slg. 1995, I-4921.

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§ 14 Europäisches Arbeitsrecht

rechtskonform zu interpretieren sein, wenn und weil es sich um Normenverträge handelt.114 Im übrigen hängt die Rechtsfolge eines Verstoßes gegen die Richtlinie primär vom nationalen Recht ab (Nichtigkeit mit Anpassung oder nicht). Schließlich können die Mitgliedstaaten die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts auch den Sozialpartnern anvertrauen. Auch das kann Methodenfragen aufwerfen, etwa inwieweit dann das staatliche Recht zur systematischen Interpretation heranzuziehen ist.

6.

Unmittelbare Wirkung von Richtlinien

Die unmittelbare Anwendung einer Richtlinie kommt jedenfalls im Verhältnis zum Staat in Betracht, auch wenn dieser nicht als Hoheitsträger, sondern als Arbeitgeber auftritt.115 Für die Zurechnung einer juristischen Person zum Staat hat der EuGH eine Formel entwickelt, die zwar eher weit ist, aber in vielen Fällen keine klaren Schlüsse erlaubt.116 Die genauen Kriterien blieben bisher eher im Dunkeln. Der EuGH hat die Formel offenbar nach reinen Zwecküberlegungen gebildet; eine methodische Begründung ist nicht ersichtlich. Die allgemeine Formel ist auch zum Arbeitsrecht maßgebend. Im Verhältnis zu anderen Arbeitgebern, die also dem Staat nicht zurechenbar sind, sind Richtlinien nach der wohl noch h.M. hingegen nicht unmittelbar anwendbar – jedenfalls dann, wenn der Private dadurch verpflichtet würde.117 Das führt gerade im Arbeitsrecht zu unerfreulichen Diskrepanzen, weil der Staat und seine Trabanten viele Arbeitnehmer beschäftigen. Wird eine Richtlinie für beide Bereiche nicht ausgeführt, so können sich nur die Arbeitnehmer des Staates auf die Richtlinie berufen, nicht aber jene der Privatwirtschaft. Diese sehen darin eine erneute Bevorzugung der Staatsbediensteten, obwohl die dogmatische Begründung für die Unterscheidung gerade den Staat treffen und benachteiligen will. In der Entscheidung Pfeiffer zur Arbeitszeitrichtlinie sehen viele eine Tendenzwende.118 Fraglich war, ob sich ein Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber unmittelbar auf die Beschränkung der wöchentlichen Arbeitszeit mit 48 Stunden berufen kann, wenn das nationale Recht – hier aufgrund des Tarifvertrages – längere Arbeitszeiten zuläßt. Aus arbeitsrechtlicher Sicht ist anzumerken, daß der EuGH in

114 Vgl. in diesem Sinn z.B. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rn. 414. 115 So z.B. zur Gleichbehandlungsrichtlinie EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall ./. Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1986, 723 Rn. 46 ff. (Marshall I); EuGH v. 12.7.1990 – Rs. C-188/89 Foster u.a. ./. British Gas, Slg. 1990, I-3313; EuGH v. 2.8.1993 – Rs. C-271/ 91 Marshall / Southampton and South West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1993, I-4367 Rn. 21 (Marshall II); EuGH v. 20.3.2003 – Rs. C-187/00 Kutz-Bauer, Slg. 2003, I-2741 Rn. 71. 116 EuGH v. 12.7.1990 – Rs. C-188/89 Foster u.a. ./. British Gas, Slg. 1990, I-3313 Rn. 18 – 20; EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-253/96 Kampelmann u.a. ./. Landschaftsverband Westfalen-Lippe u.a., Slg. 1997, I-6907 Rn. 46. Vgl. allgemein Wernicke, Die Privatwirkung im Europäischen Gemeinschaftsrecht. 117 Vgl. z.B. Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 116. 118 EuGH v. 5. 10. 2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., (noch nicht in Slg.) NJW 2004, 3547 Rn. 102 ff. Vgl. aus arbeitsrechtlicher Sicht z.B. Schlachter, RdA 2005, 115 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

Rn. 82 zwar von einem dem Arbeitnehmer „unmittelbar durch die Richtlinie eingeräumte(n) soziale(n) Recht“ spricht, in der Folge aber die unmittelbare Anwendbarkeit prüft. Offenbar steht die Einräumung des Rechts unter dem Vorbehalt der unmittelbaren Anwendbarkeit.

IV.

Schlußbemerkung

Mehrere Entscheidungen des EuGH, die für die Methodenlehre zu Fragen des Privatrechts wichtig sind, betrafen arbeitsrechtliche Probleme. Ein Grund dafür dürfte sein, daß es schon sehr früh gerade zum Arbeitsrecht gemeinschaftsrechtliche Vorschriften gab, die Gelegenheit zu Vorlagen boten. Im übrigen stellen sich im Arbeitsrecht der Gemeinschaft keine grundsätzlich anderen Probleme als in anderen Rechtsbereichen. Dies gilt auch für die spezifischen Phänomene des Arbeitsrechts, wie die Kollektiven Verträge. Das Arbeitsrecht bietet aber reiches Anschauungsmaterial für die vielfältigen methodischen Fragen, die sich bei der Auslegung, Interpretation und Anwendung des gemeinschaftsrechtlichen Privatrechts stellen. Allerdings bleiben die Begründungen des EuGH (auch) im Arbeitsrecht hinter jenem Argumentationsniveau zurück, das in einigen Mitgliedstaaten bisher üblich war. Darüber hinaus gelingt des dem EuGH meines Erachtens gerade in zentralen Fragen oft nicht, seine Auffassung so zu begründen, daß man seine Entscheidung als überzeugende Ableitung aus dem geltenden Recht anerkennen kann. Das beeinträchtigt die Legitimität seiner Judikatur. Der Begründungsaufwand sollte der Bedeutung der Entscheidung angemessen sein. Nur erwähnt sei, daß die Politik – einschließlich der Kommission – auf die Entscheidungen des EuGH unterschiedlich reagiert. Die Entwicklungen des EuGH zur mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts fanden ebenso Eingang in spätere Richtlinien wie jene zum Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie. Irritiert reagierte die Politik hingegen auf die Entscheidungen Schmidt und Kalanke. In beiden Fällen ruderte der EuGH zurück. Und über die Korrektur der Entscheidung zur Arbeitsbereitschaft durch eine neue Richtlinie wird noch gerungen.

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Robert Rebhahn

§ 15 Europäisches Gesellschaftsrecht Christine Windbichler/Kaspar Krolop Übersicht I.

„Gesellschaftsrecht“ im europäischen Recht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Eingrenzung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Europäische Regelungsdichte   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Primärrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Sekundärrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Verordnungen  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Richtlinien   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Dynamik der Rechtsentwicklung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Aktuelle Entwicklung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Allgemeine Tendenzen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Methodische Aspekte der aktuellen Entwicklung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Besonderheiten des Gesellschaftsrechts und die Frage der Systemkonvergenz II. Anwendungsbeispiel: Die verdeckte Sacheinlage   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Praktisches Ausgangsproblem   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Sachverhalt in BGHZ 110, 47 – IBH/Lemmerz   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Interessenlage   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Inferent   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Die Gesellschaft selbst  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  cc) Gläubiger   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  dd) Übrige Gesellschafter   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Ökonomische Implikationen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Rechtlicher Einstieg: Deutsches Gesellschaftsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Forderungseinbringung als Sacheinlage   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) „Lästigkeit“ des Sacheinlageverfahrens und der Versuch der Vermeidung   c) Die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als Reaktion   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Erschließung der europäischen Dimension   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Vorlage beim EuGH   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) 1. Fragenkreis: Mindest- oder Höchstnorm   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) 2. Fragenkreis: Rechtfertigung allgemeinen Umgehungsschutzes   .  .  b) Methodische Erträge   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Europäische und nationale Entwicklungsperspektive   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Europäische Ebene   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Gesellschaftsrecht allgemein   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Kapitalaufbringungsschutz im besonderen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Nationale Ebene   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Gesellschaftsrecht allgemein   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Kapitalaufbringungsschutz im besonderen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .    .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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3. Teil: Besonderer Teil

I.

„Gesellschaftsrecht“ im europäischen Recht

1.

Eingrenzung

Das europäische Primärrecht bezeichnet grundsätzlich keine Rechtsgebiete. Art. 48 Abs. 1 EG stellt „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründete Gesellschaften“ natürlichen Personen gleich; Art. 44 Abs. 2 lit. g spricht die Koordination von Schutzbestimmungen an, die den Gesellschaften im Sinne des Art. 48 Abs. 2 EG vorgeschrieben sind. Damit ist nicht entscheidend, ob eine Materie, die das Kollisionsrecht, anderes nationales Recht oder die Definition in Lehrbüchern dem Gesellschaftsrecht zuweist, betroffen, sondern nur ob eine Gesellschaft i.S.d. Art. 48 Abs. 1 EG 1 Regelungsadressat ist.2 Theoretisch kommen somit sämtliche Gesellschaftsformen als Gegenstand europäischen Rechts in Betracht; praktisch liegt der Schwerpunkt z.Z. aber im Kapitalgesellschaftsrecht. Ferner bedeutet „Gesellschaftsrecht“ nicht nur Gesellschaftsorganisationsrecht, die „off the shelf housekeeping rules“,3 sondern auch andere Regelungskomplexe, die die Beziehungen von Gesellschaften zu ihrer wirtschaftlichen Umwelt gestalten. In diesem umfassenden Sinne schließt „Gesellschaftsrecht“ Fragen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Gesellschaftsorganen, des Bilanz-, Insolvenz- und des Kollisionsrechts, vor allem aber auch des Kapitalmarktrechts ein.4 Letzteres hat seinen Hauptsitz bei der Kapitalverkehrsfreiheit, eine Reihe von älteren kapitalmarktrechtlichen Richtlinien 5 wurde jedoch zumindest auch auf Art. 44 Abs. 2 lit. g EG gestützt.6 Bilanzrecht, in deutscher Rechtstradition dem Handelsrecht zugeordnet, und Kapitalmarktrecht wiederum sind eng verflochten.7 Teilweise wird das Bilanz-

1 Dieser Begriff ist sehr weit: Alle Gesellschaften des bürgerlichen und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und der sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts sowie nach h.M. auch nicht-rechtsfähige Gesellschaften, soweit sie einen Erwerbszweck verfolgen (Geiger-Geiger, Art. 48 Rn. 2 f.; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 12 ff.). 2 Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff, Art. 44 EG Rn. 14. 3 Hansmann/Kraakman, in: Kraakman u.a. (Hrsg.), The Anatomy of Corporate Law, S. 2. 4 Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 4, 20 m.w.N. Speziell zum Kollisionsrecht s. EuGH v. 27.9.1988 – Rs. C-81/87 The Queen ./. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, Slg. 1988, I-5505 Rn. 22 (Daily Mail). 5 Richtlinie 79/279/EWG des Rates vom 5. März 1979 zur Koordinierung der Bedingungen für die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse, ABl. 1979, Nr. 16/21 (Börsenzulassungsrichtlinie, nicht mehr in Kraft); Richtlinie 89/298/EWG des Rates vom 17. April 1989 zur Koordinierung der Bedingungen für die Erstellung, Kontrolle und Verbreitung des Prospekts, der im Falle öffentlicher Angebote von Wertpapieren zu veröffentlichen ist, ABl. 1989, Nr. L 124/8 (Emissionsprospektrichtlinie); Richtlinie 89/592/EWG des Rates vom 13. November 1989 zur Koordinierung der Vorschriften betreffend Insider-Geschäfte (Insiderrichtlinie), ABl. 1989, Nr. L 334/30. 6 Vgl. Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff, Art. 44 Rn. 14. 7 Charakteristisch sind hier vor allem die vierte Richtlinie 78/660 EWG des Rates v. 25.7.1978 aufgrund von Art. 54 Abs. 3 lit g über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 1978 Nr. L 222/11 (Jahresabschlußrichtlinie) und die siebente Richtlinie 83/349

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§ 15 Europäisches Gesellschaftsrecht

recht sogar als Herzstück des europäischen Gesellschaftsrechts bezeichnet.8 Das Steuerrecht, die unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts, ist nur in einem engen Bereich (Art. 90 ff. EG) nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung europäisiert. Mittelbar stehen allerdings auch steuerliche Vorschriften zunehmend auf dem Prüfstand der Grundfreiheiten.9 Einheitliche Mindeststandards für Transparenz und Anlegerschutz sind zentrale Anliegen der europäischen Rechtsangleichung zur Verwirklichung des gemeinsamen Marktes 10, die zu den Kernaufgaben der Gemeinschaft zählt (vgl. Art 3 lit c, 94, 95 EG). Zur Herstellung eines Mindeststandards bei der Transparenz von unternehmens- und bewertungsrelevanten Informationen wirken Kapitalmarktrecht und Gesellschaftsrecht einschließlich Bilanzrecht komplementär zusammen.11 Vielfach ist deshalb zwischen rechtlichen Vorgaben, die sich an kapitalmarktorientierte Unternehmen wenden und solchen, die Gesellschaften allgemein betreffen, zu unterscheiden. Das dürfte, sowohl für die wissenschaftliche Analyse als auch die Auslegung anhand von Regelungszielen, ertragreicher sein als eine formale Trennung von Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht. Letztere ist gleichwohl wichtig und wird z.B. bei kollisionsrechtlichen Fragestellungen relevant.

EWG des Rates v. 13.6.1983 aufgrund von Art. 54 Abs. 3 lit g des Vertrages über den konsolidierten Abschluss ABl. 1983, Nr. L193/1 (Konzernbilanzrichtlinie sowie die VO (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002, L 243/1 (IFRS-VO). Näher zu dieser Überschneidung u.a. auch Großfeld, NZG 2005, 1, 2 ff.; Schwark, WM 1997, 293, 304; Weitbrecht/Wilken, EWS 1994, 418 ff. 8 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 491, vgl. auch Großfeld, NZG 2005, 1, 2 ff. 9 Vgl. EuGH v. 11.3.2004 – Rs. C-9/02 Hughes de Lasteyrie du Saillant ./. Ministère de l’Economie, Slg. 2004, I-2409. Die zu erwartende Entscheidung des EuGH in Sachen Marks & Spencer wird Auswirkungen auf die Konzerngestaltung haben; vgl. auch Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. 1990, Nr. L 225/1 in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2005/19/EG des Rates vom 17.2.2005, ABl. 2005 Nr. L 7/41, insbes. Erwägungsgründe. 10 Vgl. nur Claussen, Bank- und Börsenrecht, § 9 Rn. 11, 13. Dabei findet der Anlegerschutz im EG-Vertrag keine eigene Erwähnung. Zu kapitalmarktrechtlichen Schutzbestimmungen als Mittel zum Zweck zur Verwirklichung des europäischen Kapital- bzw. des Binnenmarkts vgl. Grundmann, ZIP 2004, 2401, 2406 ff.; Mülbert, WM 2001, 2085, 2092 jeweils m.w.N. Zum Standpunkt der Kommission vgl. stellvertretend BE 6 des Vorschlags der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, KOM 2003/138: „ein gemeinschaftsweit hoher Anlegerschutz würde es ermöglichen, Hindernisse für die Zulassung von Wertpapieren zu geregelten Märkten … zu beseitigen“. Vgl. auch BE 43 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation, ABl 2003, Nr. L 96/16 (Marktmißbrauchsrichtlinie), wo die Ziele des europäischen Kapitalmarktrechts beispielhaft zusammengefaßt sind. 11 Ein aktuelles Beispiel für die Überlappungen ist die Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004, Nr. L 142/12 (Übernahmerichtlinie); so Kleindieck, ZGR 2002, 546, 558 ff.; Schnorbus, ZHR 166 (2002), 72, 86 f. (im Hinblick auf das WpÜG). Ausdruck zunehmender Verzahnung ist auch, daß Grundmann in seinem Lehrbuch zum „Europäischen Gesellschaftsrecht“ im Kapitel „Finanzierung an Kapitalmärkten“ auch kapitalmarktrechtliche Richtlinien erläutert.

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3. Teil: Besonderer Teil

Das für Gesellschaften relevante Insolvenzrecht ist grundsätzlich mit einzubeziehen,12 denn die Qualifizierung einer Vorschrift als insolvenzrechtlich oder gesellschaftsrechtlich hängt von nationalen Traditionen ab, die Funktion mag gleichwohl dieselbe sein.13

2.

Europäische Regelungsdichte

a)

Primärrecht

Zentraler Anknüpfungspunkt für die Harmonisierung im Gesellschaftsrecht ist Art. 44 Abs. 2 lit. g EG, der bei der Niederlassungsfreiheit angesiedelt ist und zu Einzelmaßnahmen ermächtigt, die zur Beseitigung von Hindernissen erforderlich sind. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist diese Vorschrift weit auszulegen; sie ist im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 1 lit. h EG zu sehen. Danach umfaßt die Tätigkeit der Gemeinschaft die Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften, soweit dies für das Funktionieren des Gemeinsamen Markts erforderlich ist.14 Somit kann Art. 44 Abs. 2 lit. g EG Grundlage für jede Regelung sein, die Gesellschafter oder Dritte schützt und dieser Schutz die Verwirklichung einer Grundfreiheit fördert.15 Gleichwohl ist Art. 44 Abs. 2 lit. g EG eine Einzelermächtigung und keine Grundlage für eine Vollharmonisierung. Die Kommission hat in ihren Planungen die Vollharmonisierung zugunsten einer Kombination von Mindeststandards durch punktuelle Harmonisierung und Wettbewerb der Rechtsordnungen im übrigen aufgegeben.16 Der Gemeinschaftsgesetzgeber unterliegt den Einschränkungen des Subsidiaritätsprinzips und dem Gebot der Erforderlichkeit (Art. 5 Abs. 2, 3 EG).17 Keine Kompetenzbeschränkung liegt in dem Begriff „Schutzbestimmung“. Letztlich erfolgt jeder gesetzgeberische Eingriff zum Schutze der Interessen eines Beteiligten. Im Gesellschaftsrecht sind das die typischen Gefahren opportunistischen

12 Ehricke, in: Hommelhoff/Helms (Hrsg.): Neue Wege in die Privatgesellschaft, S. 76 ff.; K. Schmidt, FS Großfeld, S. 1037 ff. 13 Beispiel: § 64 GmbHG in Deutschland und Haftung für wrongful trading in England (dazu Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 197 ff.). Allerdings hat der Rat die von ihm erlassene Verordnung Nr. 1346/2000 über das Insolvenzverfahren v. 29.5.2000, ABl. 2000 Nr. L 160/1 nicht auf Art. 44 Abs. 2 lit. g EG gestützt, die weitgehend das europäische Abkommen über das Insolvenzverfahren (abgedr. in ZIP 1996, 976) übernommen hat. Becker, ZEuP 2002, 287 ff. 14 EuGH v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1997, I-6858, Rn. 18 (Daihatsu) = JZ 1998, 193 m.A.v. Schön; näher dazu Leible, ZHR 162 (1998), 594, 597 ff.; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 20 f.; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 98. 15 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 98; vgl. auch Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht Rn. 14a, jeweils m.w.N. 16 Vgl. Aktionsplan zur Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union der Kommission v. 21.5.2003, KOM 2003/284; dazu van Hulle/Maul, ZGR 2004, 484 ff.; Habersack, NZG 2004, 1, 8 f.; vgl. auch Großfeld, NZG 2005, 1ff.; zu den skeptischen Stimmen vgl. Merkt, RabelsZ 59 (1995), 545 ff. 17 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 100.

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§ 15 Europäisches Gesellschaftsrecht

Verhaltens in Agentursituationen zwischen der Gesellschaft und ihren Gläubigern, den Gesellschaftern und dem Management und der Gesellschafter untereinander.18 Eine wachsende Rolle im Gesellschaftsrecht spielt die Kapitalverkehrsfreiheit. Die Urteile des EuGH zu Beschränkungen des Anteilserwerbs hat diese vor allem an Art. 56 EG gemessen.19 Die Beschränkungen waren aber gesellschaftsrechtlich vermittelt, insbesondere in Form der berühmten golden shares. Die genannte Überschneidung von Gesellschafts- und Kapitalmarkrecht setzt sich in der Überlappung von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit fort. Die Abgrenzung ist schwierig und nicht abschließend geklärt. Aber damit kann man leben, da sich mittlerweile die Vorgaben des EuGH für die Rechtfertigung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit einerseits und der Kapitalverkehrsfreiheit anderseits nicht mehr wesentlich unterscheiden. Insofern verliert der Streit um die Reichweite der Kompetenzzuweisung in Art. 44 Abs. 2 lit. g EG an Bedeutung.20 Richtlinien, die primär der Gewährleistung der Kapitalverkehrsfreiheit dienen, sind unmittelbar für die Herstellung eines Europäischen Kapitalmarkts und damit unmittelbar für die Verwirklichung des Binnenmarkts relevant.21 Daher können diese Richtlinien unabhängig von der rechtssystematischen Einordnung auf Art. 94, 95 EG gestützt werden.22 b)

Sekundärrecht

aa)

Verordnungen

Die Verordnung ist das Instrument der Wahl zur Schaffung neuer, europäischer Gesellschaftsformen. Die EWIV und die SE sind die prominenten Beispiele dafür.23 Mangels praktischer Relevanz stehen sie (zunächst) nicht im Vordergrund. Ein rechtstechnischer Hinweis erscheint aber angebracht. Die Verordnungen arbeiten mit zahlreichen Verweisen auf nationales Recht (die EWIV-VO auf das Recht der oHGäquivalenten Rechtsform, die SE-VO auf das Recht der AG).24 Wie „europäisch“ die

18 Hansmann/Kraakman, in: Kraakman u.a., The Anatomy of Corporate Law, S. 21ff. 19 EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-503/99 Kommission ./. Belgien, Slg. 2002, I-4809; EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-483/99 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2002, I-4781; EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-367/98 Kommission ./. Portugal, Slg. 2002, I-4731. Zu weiteren Urteilen in Sachen golden shares und zur Entwicklung über diese Konstellation hinaus vgl. nur Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317 ff. 20 Jedenfalls ist die Kapitalverkehrsfreiheit im Bereich des hier umrissenen Gesellschaftsrechts weitgehend nur als Diskriminierungs- bzw. Beschränkungsverbot relevant. Nach Grundmann (FS Raiser, S. 81, 84) ergibt sich in der Gesamtschau von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit ein allgemeines Gebot der Gewährleistung der Mobilität von Kapitalgesellschaften. 21 S.o. Fn. 10. 22 Vgl. Präambel der Marktmißbrauchsrichtlinie (s.o. Fn. 10): „gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere Artikel 95“. 23 VO (EWG) Nr. 2137/85 über die Schaffung einer Europäischen Interessenvereinigung (EWIV), ABl. 1985 Nr. L 199/1; VO (EG) Nr. 2157/2001 v. 8.10.2001 über das Statut der SE (SE-VO), ABl. 2001 Nr. L 294/1; s. auch Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft (SEEG) v. 22.12.2004, BGBl. I 2004, S. 3675; zu diesem Gesetz näher Neye, Die Europäische Aktiengesellschaft; zum Zusammenspiel mit der SE-VO vgl. Brandt, BB Beilage 3/2005, 1ff. m.w.N. 24 Zur EWIV vgl. Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 1070; zur SE ders. ebd., Rn. 1006 ff.; Hopt/Cahn (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft – Umsetzungsfragen und Per-

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3. Teil: Besonderer Teil

jeweilige Rechtsform ist, läßt sich am Umfang der Verweisungen jedoch nicht feststellen. Wenn nämlich die Materie keine oder nur mäßige Harmonisierung erfahren hat, ist die europäische Form nur eine äußerliche Hülle. Ist die Materie Gegenstand von Richtlinien, ist die Divergenz zwischen den nationalen Rechten verringert. Als Beispiel können das Gründungsrecht der SE 25 einerseits, die Bilanzvorschriften für die SE andererseits dienen. Leben und Tod von Gesellschaften werden vom Insolvenzrecht wesentlich mitbestimmt. Hier findet die Insolvenzverordnung 26 als (teilweise) Vereinheitlichung von Kollisionsrecht ihren Platz im Gesellschaftsrecht. Wiederum im Überschneidungsbereich von Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht bewegt sich die IFRS-Verordnung.27 Die IFRS-Verordnung ist nur der vorläufig letzte Akt einer verhältnismäßig weitgehenden Harmonisierung auf dem Gebiet der Rechnungslegung, das eine beträchtliche Regelungsdichte erreicht hat. Im Bereich der börsennotierten Gesellschaften hat der nationale Gesetzgeber immer weniger eigenen Regelungsspielraum. bb)

Richtlinien

Zum Richtlinienbestand, der hier nicht im einzelnen vorzustellen ist, gehören auch die Bilanzrichtlinien, die für alle Kapitalgesellschaften und einige kapitalgesellschaftsähnliche Personengesellschaften gelten.28 Das Bilanzrecht hat im deutschen Recht seinen Platz im HGB und gilt nach h.M. als öffentliches Recht. Die gesellschaftsrechtliche Einordnung ergibt sich hier aber nicht nur durch die Bezeichnung durch den europäischen Gesetzgeber selbst, sondern auch materiell. Ferner wird die Kapitalrichtlinie 29, die für Aktiengesellschaften ein Mindestgrundkapital und dessen Aufbringung und Erhaltung vorschreibt, in ihrem Inhalt auch dadurch bestimmt, wie bilanziert wird. Entsprechendes gilt für die Einpersonengesellschaftsrichtlinie 30. spektiven; Lächler/Oplustil, NZG 2005, 381ff. Dies kommt auch deutlich im SEEG (s.o. Fn. 23) zum Ausdruck. 25 S. dazu Zöllter-Petzoldt, Die Verknüpfung von europäischem und nationalem Recht bei der Gründung einer Societas Europaea (SE). 26 S.o. Fn. 13. 27 S.o. Fn. 7. 28 Jahresabschlußrichtlinie (s.o. Fn. 7); Konzernbilanzrichtlinie (s.o. Rn. 7); flankierend die achte Richtlinie 84/253/EWG des Rates v. 10.4.1984 aufgrund von Artikel 54 Abs. 3 lit. g des Vertrages über die Zulassung der mit der Pflichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen beauftragten Personen, Abl. 1984 Nr. L 126/20 (Abschlußprüferrichtlinie. Zusammenfassende Darstellung dieses Komplexes mit Abdruck der Vorschriften in Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 260 ff.; s. auch Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 224 ff. 29 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates v. 13.12.1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, Abl. 1977 Nr. L 26/1 (Kapitalrichtlinie). 30 Zwölfte Richtlinie 89/667/EWG des Rates v. 21.12.1989 auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter, ABl. 1989 Nr. L 395/40 (Einpersonengesellschaftsrichtlinie).

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§ 15 Europäisches Gesellschaftsrecht

Die insgesamt große Harmonisierungsdichte durch Richtlinien ist durch das sog. Informationsmodell geprägt. Ein zentraler Ansatzpunkt des europäischen Gesellschaftsrechts ist Gewährleistung von Information, nach der die Marktteilnehmer ihr Verhalten ausrichten können.31 Darin bestätigt sich die Binnenmarktdimension, die über die Niederlassungsfreiheit hinausgeht; die Vergleichbarkeit der Abschlüsse aufgrund eines gemeinsamen Mindeststandards ist Grundlage für den grenzüberschreitenden Erwerb von Anteilen und für die grenzüberschreitende Kreditvergabe und damit für die Kapitalverkehrsfreiheit. Als erster und prägender Transparenzansatz ist die Publizitätsrichtlinie 32 zu nennen, welche die Offenlegung der Vertretungsverhältnisse von Kapitalgesellschaften gewährleistet. Jüngere und jüngste Aktivitäten konzentrieren sich auf Bereiche, die von besonderer Relevanz für den grenzüberschreitenden Verkehr sind: Gründung von Tochtergesellschaften und Zweigniederlassungen (Zweigniederlassungsrichtlinie 33), grenzüberschreitende Verschmelzung (vgl. die jüngst verabschiedete Verschmelzungsrichtlinie),34 Vorentwurf einer 14. Richtlinie zur Sitzverlegung 35 sowie – in der Schnittmenge mit dem Kapitalmarktrecht – die Übernahmerichtlinie.36

3.

Dynamik der Rechtsentwicklung

a)

Aktuelle Entwicklung

Die Publizitätsrichtlinie wurde kürzlich umfassend geändert 37 und der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung angepaßt. Nach Ablauf der Umsetzungsfrist zum 31.12.2006 können sämtliche Angaben, die nach der Richtlinie offen zu legen

31 Näher zum Informationsmodell als einem tragenden Leitgedanken der Harmonisierung im europäischen Gesellschaftsrecht Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 227 ff.; ders., ZIP 2004, 2401, 2405 ff. 32 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 Nr. L 065/8 (Publizitätsrichtlinie). 33 Elfte Richtlinie 89/666/EWG des Rates v. 21. Dezember 1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, ABl. 1989 Nr. L 395/36. 34 Vorschlag der Kommission v. 18.11.2003 für eine Richtlinie des Europäischen Rates und des Rates über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedsstaaten, KOM 2003/703 (Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verschmelzung); näheres in Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 895 ff. 35 Konsultationspapier der Kommission für die Grundzüge einer Richtlinie zur Koordinierung des für die Verlegung des Satzungssitzes maßgebenden Rechts v. 20.4.1997, abgedr. in ZIP 1997, 1721 und ZGR 1999, 157, im Internet unter http://europa.eu.int/comm/internal_market/ company/seat-transfer/2004-consult_de.htm; näher dazu Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 813 ff. 36 S.o. Fn. 11; zur Relevanz des Übernahmerechts für die Grundfreiheiten näher Kaiser, ZHR 168 (2004), 542 ff.; Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317, 355 ff.; zu Umsetzungsfragen Maul/MuffatJeandet, AG 2004, 221ff., 306 ff.; Mülbert, NZG 2004, 633 ff.; Seibt/Heiser, ZGR 2005, 200 ff. 37 Richtlinie 2003/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.07.2003, ABl. 2003 Nr. L 221/13 zur Änderung der Publizitätsrichtlinie (s.o. Fn. 32).

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3. Teil: Besonderer Teil

sind, in elektronischer Form eingereicht werden, Art. 3 Abs. 2. Der Referentenentwurf zur Umsetzung in Deutschland 38 zeigt ein typisches Problem für das Verhältnis von europäischem und nationalem Recht: Die Handelsregister werden weiter von den Ländern geführt, darüber wird ein (Bundes-)Unternehmensregister gestülpt, was zu einigen Anpassungsschwierigkeiten führen dürfte. Der am 21.5.2003 vorgelegte Aktionsplan der Kommission „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union“ 39 sieht u.a. weitere Initiativen im Gesellschaftsrecht vor, die in einem gestuften Zeitplan in verschiedenen Formen (VO, RL, Empfehlung, Studien) ergriffen werden. Wiederum Schwerpunkte sind kapitalmarktorientierte Unternehmen und Transparenz.40 Die Kapitalrichtlinie wurde teilweise als Keimzelle für eine Vollharmonisierung angesehen. Von diesem Ziel hat man sich mittlerweile verabschiedet.41 Gerade im Bereich der Kapitalrichtlinie sind im Vorschlag für eine Änderungsrichtlinie 42 sogar Lockerungen vorgesehen. Die ohnehin nur punktuellen Vorgaben für die Haftungsverfassung der Gesellschaft und die Rechte der Aktionäre bei Kapitalmaßnahmen sollen gelockert werden; das gesetzliche Mindestkapital steht insgesamt auf dem Prüfstand. b)

Allgemeine Tendenzen

Die Skizze der Entwicklung im Sekundärrecht zeigt, daß der Rechtsanwender mit den Anwendungsproblemen einer gestuften Rechtsordnung konfrontiert ist,43 darüber hinaus in verschiedener Hinsicht mitten in einer Trendwende steht. Die klassische Richtlinie scheint an Bedeutung zu verlieren. Statt Richtlinien, die viel Umsetzungsspielraum lassen, werden entweder detaillierte Verordnungen oder sehr enge Richtlinien erlassen (Beispiele sind die IFRS-VO sowie die Sekundär-

38 Referentenentwurf eines Gesetzes über das elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister (EHUG), im Internet unter http://www.jura.uniaugsburg.de/ Prof. Moellers/ Materialien/Gesellschaftsrecht/ EHUG/ Entstehungsgeschichte. 39 S.o. Fn. 16. 40 Nach 3.1.1. des Aktionsplans (s.o. Fn. 16) sollen z.B. – vergleichbar mit § 161 AktG – börsennotierte Gesellschaften zur Abgabe einer Corporate-Governance-Erklärung verpflichtet werden. 41 S.o. die Nachweise in Fn. 16. 42 Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 77/91/EWG des Rates in Bezug auf die Gründung von Aktiengesellschaften und die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals v. 21.9.2004 KOM 2004/endg, zurückgehend auf die Vorschläge der Empfehlung der Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des Gesellschaftsrechts bezüglich der Vereinfachung der ersten und der zweiten Gesellschaftsrechts-Richtlinie, KOM 1999/6037 (sog. SLIM-Gruppe), vgl. BE 2.1. des genannten Änderungsvorschlags; Regelungsschwerpunkte: Erleichterung bei der Einbringung von Sacheinlagen, wenn objektive Maßstäbe für die Bewertung zur Verfügung stehen (z.B. börsennotierte Wertpapiere als Sacheinlage, (vgl. Art. 10 ff.); Erleichterungen bei Erwerb eigener Aktien (vgl. Art. 19). Die Vorschläge zu Regelungen eines squeeze out und sell out haben sich mit der Einführung entsprechender Vorgaben in der Übernahmerichtlinie (s.o. Fn. 11) erledigt. 43 Schönes Beispiel: Art. 9 SE-VO (s.o. 23).

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§ 15 Europäisches Gesellschaftsrecht

rechtsnormen im Kapitalmarktrecht, welche kapitalmarktorientierte Gesellschaften betreffen, wie die Verordnung zur Durchführung der Prospektrichtlinie 44 oder die Richtlinie zur Durchführung der Marktmißbrauchsrichtlinie 45), oder es werden alternative flexiblere bzw. „weichere“ Instrumente eingesetzt wie Empfehlungen (Empfehlungen zur Vergütung der Mitglieder der Unternehmensleitung 46 und zur Tätigkeit der Aufsichtsratsmitglieder/nicht geschäftsführender Direktoren,47 geplante Verpflichtung zur Erklärung zur Corporate Governance 48) . Die Übernahmerichtlinie ist hier kein geeignetes Gegenbeispiel. Zwar enthält sie ein sehr komplexes System von Wahlrechten für die Mitgliedstaaten, im übrigen aber sind die Vorgaben so ausführlich, daß sie nur wenig Raum für die individuelle Gestaltung durch den nationalen Gesetzgeber lassen.49 Die Aufgabe der Idee der Vollharmonisierung setzt an deren Stelle das Konzept der Gestaltung von Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Wettbewerb der Regelungsgeber 50 und – im Bereich der kapitalmarktorientierten Gesellschaften – für einen funktionierenden Wettbewerb um das Kapital der Anleger in einem europäischen Kapitalmarkt.51 Zugespitzt formuliert geht die Entwicklung weg von einer Harmonisierung in die Breite und in die Richtung einer Harmonisierung in die Tiefe 52 an den Punkten, die für die Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit und der Schaffung eines funktionierenden europäischen Kapitalmarkts von besonderer Bedeutung sind.

44 VO (EG) Nr. 809/2004 der Kommission v. 29.4.2004 zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die in Prospekten enthaltenen Informationen sowie das Format, die Aufnahme von Informationen mittels Verweis und die Veröffentlichung solcher Prospekte und die Verbreitung von Werbung (ABl. 2003 Nr. L 345/64, Prospektrichtlinie) ABl. 2004 Nr. L 149/1 (Prospekt-VO). 45 S.o. Fn. 10. 46 Empfehlung 2004/913/EG der Kommission v. 14.12.2004 zur Einführung einer angemessenen Regelung der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften, ABl. 2004 Nr. 385/55. 47 Empfehlung 2005/162/EG der Kommission v. 15.2.2005 zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats, ABl. 2005 Nr. L 52/51. 48 Vorgesehen im Vorschlag der Kommission v. 27.10.2004 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Abänderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG hinsichtlich der Jahresabschlüsse bestimmter Arten von Unternehmen und konsolidierter Abschlüsse, KOM 2004/endg. Daneben enthält der genannte Entwurf Erweiterungen der Transparenz, insbes. im Bereich der Offenlegung von Geschäften zwischen Organmitgliedern und den Unternehmern sowie die Festschreibung des Prinzips der Gesamtverantwortung aller Organmitglieder für die korrekte Erstellung der Jahresabschlüsse. Näher dazu Habersack, NZG 2004, 1, 6 f.; van Hulle/Maul, ZGR 2004, 484, 490 f. 49 Zu Umsetzungsfragen s.o. Fn. 36. 50 So auch Grundmann, oben § 7 I.2; ders., ZGR 2001, 783 ff.; Happ, ZHR 169 (2005), 6, 7 f.; Hommelhoff, ZGR 2001, 238 ff.; Roth, ZGR 2005, 348, 349 ff. Zu den Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Wettbewerb der Regelungsgeber s. Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt. 51 Grundmann, ZIP 2004, 2401, 2405 f.; ders, oben § 7 I.2; ders., ZGR 2001, 783 ff. 52 Vgl. Habersack zum Aktionsplan (NZG 2004, 1, 3): „Konzentration auf punktuelle Maßnahmen“.

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3. Teil: Besonderer Teil

c)

Methodische Aspekte der aktuellen Entwicklung

Das europäische Gesellschaftsrecht ist, was für das Europarecht allgemein gilt, in besonderem Maße „law in action“ 53 und die Gemeinschaft nicht Sein, sondern Werden.54 Der EuGH verlangt, bei der Auslegung europäischen Rechts den jeweiligen Stand der Harmonisierung der Rechtsvorschriften und Integrationstiefe im entscheidungsrelevanten Bereich zu berücksichtigen.55 Methodisch wird das teilweise als „Grundsatz der dynamischen Auslegung“ bezeichnet.56 Dabei handelt es sich wohl um eine besondere Ausprägung der teleologischen Auslegung.57 Jedenfalls besteht im Ergebnis Einigkeit, daß bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht dessen Dynamik und Fortentwicklung eine besondere Rolle spielen. Damit ist der Integrationsfortschritt ein wichtiges Leitprinzip bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts.58 Im einzelnen bedeutet das: Je stärker die Harmonisierung fortgeschritten ist, desto stärker rechtfertigungsbedürftig sind nationale Besonderheiten, desto eher sind europäische Vorgaben im Zweifel weit auszulegen, desto eher können Regelungslücken im Sekundärrecht angenommen werden, desto eher stellt sich die Frage, ob Vorschriften des nationalen Rechts, auch wenn sie nicht unmittelbar im Anwendungsbereich von Primär- oder Sekundärrecht liegen, europarechtskonform 59 oder wenigstens europarechtsfreundlich 60 auszulegen sind. Damit gilt auch im Gesellschaftsrecht ganz allgemein, daß europarechtlich relevante Normen im Hinblick auf den Harmonisierungsstand und die Harmonisierungsziele auszulegen sind. Hinzu kommen Besonderheiten des Gesellschaftsrechts, die in der internationalen rechtsvergleichenden und empirischen Forschung herausgearbeitet wurden. Dieser Ansatz geht möglicherweise über die Frage nach

53 So zum Gemeinschaftsrecht allgemein bereits Oppermann, in: Gernhuber (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht, S. 428. 54 So Hallstein, FS Müller-Armack, S. 275, 277. 55 Das Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Wortlaut und Systematik der Richtlinie einerseits und der Vergemeinschaftung sowie den allgemeinen Zielen der europäischen Integration anderseits wird besonders deutlich bei der Rspr. des EuGH zu Art.18 EG (Freizügigkeit), worin er ein Konzept der Unionsbürgerschaft entwickelt, wonach das Gebot der Gleichbehandlung mit Inländern auch den Zugang zu sozialen Leistungen beinhalte (EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/ 99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193; EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-85/96 Martínez Sala ./. Freistaat Bayern, Slg. 1998, I-2691; EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-413/99 Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091); sehr krit. Hailbronner, NJW 2004, 2185 ff. 56 Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 555; Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 213 f. m.w.N.; Meyer, Jura 1994, 455, 457 f. 57 So auch Riesenhuber, oben § 8 IV.4.b; vgl. auch Fn. 55. Nach der Kritik von Hailbronner (NJW 2004, 2185, 2187) soll es sich um ein Verdecken der Vernachlässigung „klassischer“ Auslegungsmethoden handeln. 58 S.o. Fn. 54, vgl. auch die in Fn. 55 zitierte Rspr. 59 Diese letzte Frage betrifft auch die Problematik der sog. überschießenden Umsetzung, die Habersack/Mayer in ihrem Beitrag (oben, § 12) ausführlich behandelt haben. 60 Hopt/Wiedemann-Windbichler, AktG vor § 15 Rn. 48. Auf den Topos der „europarechtsfreundlichen“ Auslegung hat bereits Domröse in seinem vorbereiteten Diskussionsbeitrag (oben, § 6.1) hingewiesen.

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§ 15 Europäisches Gesellschaftsrecht

einer europäischen Methodenlehre hinaus, ergänzt aber den speziellen Aspekt der Dynamik. Gleichwohl können die nachfolgend genannten Forschungen hilfreich sein für die Beurteilung, welche Auslegungsvariante im Hinblick auf die Erreichung der mit der Richtlinie verfolgten Zwecke und der europäischen Integration zielführend ist. Die „Sachgerechtigkeit“ ist ein Gesichtspunkt der – unter unterschiedlichen Bezeichnungen 61 – in Entscheidungen des EuGH immer wieder angesprochen wird, insbesondere im Rahmen der teleologischen Auslegung.62 Nach Pistor et al. gilt Gesellschaftsrecht als „gut“ und „leistungsfähig“, wenn es sich flexibel veränderten Verhältnissen anzupassen vermag. Die genannten Autoren haben Indizien für Anpassungsfähigkeit entwickelt und untersucht, nämlich häufige Gesetzesänderungen, Entwicklung neuer Durchsetzungsmechanismen und ein hoher Anteil an Gestaltungsspielräumen bzw. dispositivem Recht.63 Vergleichsgruppen waren sog. „countries of origin“ und sog. „transplant countries“. Das besondere Zusammenspiel von europäischem und nationalem Recht wurde dabei nicht thematisiert, gleichwohl stellen sich hier dieselben Fragen. Insbesondere die neuen Mitglieder der EU haben zu großen Teilen den Prozeß der Institutionenbildung noch nicht vollständig abgeschlossen und finden sich generell in der Rolle der „transplant countries“. Ähnliches gilt für Mitgliedstaaten, die im Wege der Richtlinienumsetzung Modelle einführen, die ihrer eigenen Rechtsentwicklung fremd sind. Die Schwerfälligkeit der europäischen Gesetzgebung beschwört die Gefahr von Erstarrung herauf. Explizite Gegenmaßnahmen (die SLIM-Initiative, der Aktionsplan) wurden bereits ergriffen. Die Entwicklung nationalen Rechts könnte angesichts der Vielstufigkeit der europäischen Rechtsordnung an Dynamik verlieren. Vor diesem Hintergrund kommt der Tatsache, daß die europäische Rechtsetzung im Gesellschaftsrecht oft nationale Regulierung zurückdrängt – Grundfreiheiten als Beschränkungsverbot –, besondere Bedeutung zu. Das Informationsmodell fördert privatautonome Gestaltung und damit Innovation durch Kautelarjurisprudenz. Wie die Rechtsprechung des EuGH zu Inspire Art 64 zeigt, kommt der Wahlfreiheit im Hinblick auf Gesellschaftsstatut, Ort der Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft, Gründungsort und Sitz der Gesellschaft zentrale Bedeutung zu. Der Einsatz von Empfehlungen und anderen Formen des soft law ermöglicht die Herausbildung

61 „Sinnvoll“ (EuGH v. 29.11.1956 – Rs. 8/55 Fédération charbonnière de Belgium ./. Hohe Behörde, Slg. 1955/56, 297, 328); „Gesunder Menschenverstand“ (EuGH v. 17.12.1959 – Rs. 14/59 Société des Fondières de Pont-à Mousson ./. Hohe Behörde, Slg. 1958/59, 445, 491); Verhinderung von im Hinblick auf die Ziele der Richtlinie „unsinnigen Ergebnissen“ (vgl. EuGH v. 21.4.1988 – Rs. 338/85 Pardini ./. Ministero del Commercio con l’estoro, Slg. 1988, 2041 Rn. 22, 24; EuGH v. 22.03.1990 – Rs C-234/88 Lampe-Mühle ./. Bundesanstalt für marktwirtschaftliche Marktordnung, Slg. 1990, I-1109 Rn. 16); vgl. dazu Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 207 f. 62 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 207 f. 63 Pistor/Keinan/Kleinheisterkamp/West, Innovation in Corporate Law, http://ssrn.com/abstract = 419861 = JCE 2003, 676; dies., The Evolution of Corporate Law. A Cross-Country Comparison, http://ssrn.com/abstract=419881 = Pa. JIEL 2002, 791. 64 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155; s. auch EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919.

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3. Teil: Besonderer Teil

von akzeptanzgetragenen Strukturen.65 Diese andere Form von Dynamik steht im Einklang mit der Aufgabe des Ziels der Vollharmonisierung und der Betonung des Subsidiaritätsprinzips.

4.

Besonderheiten des Gesellschaftsrechts und die Frage der Systemkonvergenz

Bisher nur gestreift wurden inhaltliche Elemente des europäischen Gesellschaftsrechts. Das gesetzliche Mindestkapital, seine Aufbringung und Erhaltung i.S.d. Kapitalrichtlinie 66 könnten materielle Systemelemente sein. Gerade diese Regelung steht aber zur Reform an. Insgesamt gibt es im Gesellschaftsrecht wohl keinen so ausgeprägten gemeineuropäischen Rechtsbestand wie etwa im Vertragsrecht. Deshalb soll hier ein methodisch relevanter Gesichtspunkt aus der internationalen Corporate Governance-Diskussion eingeführt werden. Dort geht es um die Frage, ob es eine Konvergenz in Richtung auf ein optimales Governance-System gibt.67 Eine umfassende, einheitliche Antwort auf diese Frage wird es nicht geben. Hartnäckig fortbestehende Divergenzen erklären sich zumeist aus Pfadabhängigkeiten. Interessant ist aber auch die Feststellung, daß selbst bei Konsens über eine erstrebenswerte Regelung die Veränderung als solche Kosten verursacht (switching costs), mit vorhandenen anderen Regeln nicht harmoniert (Vernetzungsproblem) und deshalb unterbleibt oder doch zu suboptimalen Ergebnissen führt.68 Darüber hinaus haben die nationalen, pfadabhängigen Entwicklungen ihre eigene Optimierung erfahren. Im eigenen Land wurde nicht etwa ein europäischer Gipfel des besten Gesellschaftsrechts in Angriff genommen, sondern der lokale Hügel erstiegen (local hill phenomenon).69 Die im europäischen Kontext erforderliche Rechtsvergleichung auf der Ebene der Richtlinienumsetzung, der Ebene des sonstigen nationalen Rechts und auch von soft law gewinnt an Gehalt und Plausibilität, indem sie Pfadabhängigkeiten, Vernetzungen und „lokale Hügel“ identifiziert.

65 Vgl. M.A. Eisenberg, Corporate Law and Social Norms, 99 (1999) Colum.L.Rev., 1253. 66 S.o. Fn. 29. 67 Hertig/Kanda, in: Kraakman u.a. (Hrsg.), The Anatomy of Corporate Law, S. 99; Bratton/ McCahery, Comparative Corporate Governance and the Theory of the Firm: The Case Against Global Cross Reference, 38 Colum. J. Transnat’l L. 1999, 313, 233 ff.; Gordon/Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance. 68 Bebchuk/Roe, in: Gordon/Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance, S. 69 ff. 69 Schmidt/Spindler, in: Gordon/Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance, S. 114 ff.

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§ 15 Europäisches Gesellschaftsrecht

II.

Anwendungsbeispiel: Die verdeckte Sacheinlage

1.

Praktisches Ausgangsproblem

a)

Sachverhalt in BGHZ 110, 47 – IBH/Lemmerz

Im entschiedenen Fall war eine Aktiengesellschaft nicht mehr in der Lage, Lieferantenverbindlichkeiten in Höhe von rund 5 Mio. DM zu bedienen. Daraufhin einigte sie sich mit dem Gläubiger auf Folgendes: Die AG führte eine Kapitalerhöhung im Nennwert von ca. 1,5 Mio. DM (1.562.500 DM) gegen eine Bareinlage von 5 Mio. DM durch. Der Gläubiger (= Inferent) brachte die 5 Mio. DM auf und legte sie in bar ein. Entsprechend einer zuvor getroffenen Abrede tilgte der Vorstand daraus die Lieferantenverbindlichkeiten gegenüber dem Inferenten. Die Einlage des Inferenten war damit wirtschaftlich nicht die Barsumme von 5 Mio. DM, sondern die gegen die Gesellschaft gerichtete Forderung. Rechtstechnisch hätte die Forderung (nach deutschem Recht) offen als Sacheinlage eingebracht werden können. b)

Interessenlage

Im internationalen Vergleich ist die Umwandlung von Forderungen in Einlagen, hauptsächlich im Sanierungsfall, aber auch zu anderen Zwecken, nichts Ungewöhnliches. Zur besseren Einordnung in den ökonomischen und europäischen Kontext sei deshalb ein kurzer Überblick über die betroffenen Interessen gegeben. aa)

Inferent

Für den Inferenten tritt eine Bilanzentlastung ein. Die Umwandlung der Forderung in Eigenkapital ist faktisch ein Besserungsschein, nämlich wenn die (wertlose) Forderung bei gelingender Sanierung als Beteiligung werthaltig wird. Für die Wahl der Konstruktion über eine Bareinlage wird die Umständlichkeit und Beschwerlichkeit der Sacheinlagevorschriften genannt. Das gilt auch außerhalb von Sanierungsfällen. Ist der Inferent ein Kreditinstitut, ist dieses grundsätzlich verpflichtet, Eigenmittel, d.h. sog. aufsichtsrechtliches Eigenkapital, zu halten, die in einem angemessenen Verhältnis zum Umfang der vergebenen Kredite und den damit verbundenen Ausfallrisiken stehen. Der Umfang der vorzuhaltenden Eigenmittel hängt von der Risikogewichtung ab, die sich wiederum nach der Bonität des Kreditnehmers richtet.70 Je

70 Für diese Risikogewichtung sind die Vorgaben in §§ 10 ff. KWG i.V.m. der Solvabilitätsverordnung der BaFin maßgeblich. Die Neue Baseler Eigenkapitalvereinbarung „Basel II“ (Wortlaut unter www.bundesbank.de/bankenaufsicht/bankenaufsicht_basel.php) ist eine internationale Vereinbarung, die u.a. die Konvergenz der Risikobewertung im Hinblick auf die gesetzlich vorgeschriebene Eigenkapitalausstattung der Banken zum Gegenstand hat. Die Implementierung soll bis Ende 2006 durch den Erlaß einer neuen Solvabilitätsverordnung erfolgen (s. dazu Wittig, ZHR 169 (2005), 212 f.) Diese wird tendenziell eine Verschärfung der Anforderungen an die Eigenmittelausstattung zur Folge haben (vgl. Wittig, ZHR 169 (2005), 231ff.; Langenbucher, Umsetzung von Basel II gegenüber dem Kunden, insbesondere beim internen Rating, in: Hadding/Hopt/Schimansky (Hrsg.) Aktuelle Entwicklungen im Recht der Kreditsicherheiten – national und international, Bankrechtstag 2004, Schriftenreihe der Bankrechtlichen Vereinigung, Bd. 24, 2005 (im Druck).

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3. Teil: Besonderer Teil

gefährdeter der Kredit ist, desto mehr Eigenmittel müssen vorgehalten werden. Mit der Umwandlung in eine Einlage kann ohne Abschreibung die Bilanz um einen Risikokredit bereinigt werden, Eigenmittel werden frei. Letztlich besteht bei der Forderungseinbringung eine ähnliche Interessenlage wie diejenige, die dem Geschäftsmodell der Unternehmen zugrunde liegt, die Banken „faule“ Kredite abkaufen. bb)

Die Gesellschaft selbst

Für die Gesellschaft ist die Umwandlung attraktiv, da sie die Forderung „aus den Büchern bekommt“, d.h. sie die Forderung nicht mehr passivieren muß und so die Überschuldung, bei der sie zur Beantragung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verpflichtet ist, abwenden kann (§ 92 Abs. 2 S. 2 AktG i.V.m. § 19 Abs. 2 S. 1 InsO). Ferner entfallen laufende Zinszahlungen (vgl. § 57 Abs. 2 AktG). Auch unabhängig von der Gefahr der Insolvenzantragspflicht hat die Umwandlung von Forderungen in Grundkapital Vorteile. Es erhöht sich die Eigenkapitalquote, die ein wichtiger Faktor für das Rating nach Basel II und damit für die Kreditbedingungen, insbesondere die Höhe der Zinsen ist. cc)

Gläubiger

Auf den ersten Blick kommt die Transaktion den Gläubigern zugute. Die Forderung wird getilgt, ohne daß sich das Nettovermögen der Gesellschaft vermindert. Sie kann von dem Inferenten nicht mehr geltend gemacht werden. Damit gibt es einen weniger, mit dem der Kuchen geteilt werden muß. Dennoch ist die geschilderte verdeckte Sacheinlage im Hinblick auf den Gläubigerschutz problematisch. Durch die Barkapitalerhöhung entsteht der Eindruck, der Gesellschaft werde frisches Eigenkapital zugeführt. Für die sonstigen Gläubiger ist nur die Kapitalerhöhung erkennbar, die Rückzahlung an den Inferenten bleibt ihnen verborgen. Dadurch wird die wahre wirtschaftliche Lage, womöglich Insolvenzreife, verschleiert.71 dd)

Übrige Gesellschafter

Grundsätzlich besteht die Gefahr des Verwässerungseffekts: Es werden neue Anteile ohne einen wertmäßig adäquaten Vermögenszufluß ausgegeben. Hierdurch kommt es zu einer wirtschaftlichen Abwertung der bestehenden Anteile.72 Ferner sinkt aufgrund der Neuaufnahme eines Gesellschafters die nominelle Beteiligung, das Stimmgewicht verschiebt sich. Dadurch können Beteiligungen unter für die Ausübung von Minderheitsrechten relevante Quoren absinken. Anderseits droht den Gesellschaftern im Falle der Insolvenz der Totalverlust ihrer Einlagen. Daher dürfte bei einer stark insolvenzgefährdeten Gesellschaft die Verwässerung der Anteile von den übrigen Gesellschaftern häufig als das kleinere Übel angesehen werden.

71 72

370

BGHZ 110, 47, 62. BGH ebd.

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§ 15 Europäisches Gesellschaftsrecht

Der flexiblen Handhabung der Wiederanlage von Gewinnen dient das sog. Schüttaus-Hol-zurück-Verfahren, in dem ausgeschüttete Gewinne sogleich zur Kapitalerhöhung wieder eingezahlt werden. Auch hier handelt es sich um ein Hin- undHer-Zahlen, das das Aufrechnungsverbot umgehen könnte. Bei transparenter Gestaltung sind nachteilige Effekte aber nicht zu befürchten. c)

Ökonomische Implikationen

Die geschilderten Interessen beschreiben bereits eine Reihe von ökonomischen Implikationen. Je komplizierter die Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital ist, desto schwerer wird es den Unternehmen gemacht, die in Deutschland vergleichsweise geringe Eigenkapitalquote zu erhöhen. Gesamtwirtschaftlich und im Hinblick auf Basel II ist das nicht unproblematisch. Ferner wird hier ein grundsätzliches ökonomisch-rechtspolitisches Problem berührt: Wie lange soll ein Unternehmen am Rande der Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung ohne geregeltes Reorganisationsverfahren am Markt agieren dürfen? 73 Die Bewertung hängt stark davon ab, wie man Sanierungschance und Gläubigergefährdung gewichtet. Das deutsche Gesellschafts- und Insolvenzrecht ist tendenziell eher gläubigerfreundlich, andere Rechtsordnungen stehen mehr in der Tradition der Unternehmensfortführung und Sanierung.74 Nicht zuletzt handelt es sich um ein Informationsproblem der übrigen Gläubiger und Gesellschafter, die durch die verdeckte Sacheinlage ein unzutreffendes Bild von der Gesellschaft erhalten. Die Regeln zur Aufbringung und Erhaltung des Grundkapitals werden in ihrer Leistungsfähigkeit als Gläubigerschutz zunehmend kritisiert.75 Die Kapitalschutzvorschriften wiederum sind eng verbunden mit dem Bilanzrecht, das für die Bewertung maßgebend ist (s.o. Kapitalrichtlinie 76).

2.

Rechtlicher Einstieg: Deutsches Gesellschaftsrecht

a)

Forderungseinbringung als Sacheinlage

Eine Forderung ist als Sacheinlage einzubringen. Deren Wert bemißt sich nicht nach dem Nominalwert, sondern auch nach der Durchsetzbarkeit und Liquidität der Forderung, was wiederum von der Bonität und Liquidität des Schuldners, also hier der AG, abhängt. Um zu gewährleisten, daß der tatsächliche Wert von eingebrachten Vermögensgegenständen der nominellen Erhöhung des Stammkapitals

73 Vgl. Kübler, ZHR 168 (2004), 216 ff. (mit vergleichendem Blick auf die Entwicklung in den USA); Paulus, ZGR 2005, 309, 312 ff. (mit Blick auf die internationale Entwicklung). 74 Vgl. Paulus, ZGR 2005, 309, 312 ff.; Kübler, ZHR 168 (2004), 216. 75 Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 227 f.; Bericht der High Level Group of Company Law Experts v. 4.11.2002, abgedr. in ZIP 2002, 1310, 1318; Aktionsplan s.o. Fn. 16, 3.2.; Kübler in: Hopt/Wymeersch (Hrsg.) Capital Markets and Company Law, (2003), 95 ff.; im deutschen Schrifttum grundlegend Kübler, Aktie, Unternehmensfinanzierung und Kapitalmarkt, S. 59 ff.; w.N. bei Merkt, ZGR 2004, 305, 310 Fn. 21. Näher dazu unten III.1.b) und 2.b). 76 S.o. Fn. 29.

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3. Teil: Besonderer Teil

entspricht, sieht das deutsche Aktiengesetz (und auch die Kapitalrichtlinie) vor, daß ein neutraler Sachverständiger die Werthaltigkeit prüfen muß (§§ 183, 27 AktG, Art. 10 Kapitalrichtlinie 77). Denn nur soweit die Einlage, hier: die Forderung, werthaltig ist, kommt es zu einer realen Vermögensmehrung bei der Gesellschaft. Daher sieht die ganz h.M. in Deutschland auch im Forderungsverzicht die Einbringung einer Sacheinlage. Diese geschieht durch Erlaßvertrag oder Abtretung an die Gesellschaft, woraufhin die Forderung infolge Konfusion erlischt.78 In dem oben geschilderten Sachverhalt handelt es sich in der Sache um den Verzicht auf eine Forderung gegen Gewährung von Gesellschaftsanteilen. Deshalb wurden die Vorschriften über Sacheinlagen angewandt mit der Folge, daß die Zahlung der 5 Mio. DM nicht befreiend wirkte (nicht zur freien Verfügung des Vorstands, vgl. §§ 188 Abs. 2 S. 1, 36 Abs. 2 S. 2 AktG) und der Inferent nochmals zahlen mußte. b)

„Lästigkeit“ des Sacheinlageverfahrens und der Versuch der Vermeidung

Die Durchführung einer Sachkapitalerhöhung nach den gesetzlichen Regeln ist „zeitraubend, teuer und lästig“.79 Gerade in Sanierungsfällen fehlt es meinst an Zeit und Geld. Hinzu kommt, daß bei realistischer Bewertung die Transaktion aus der Sicht des Inferenten oft wirtschaftlich sinnlos wird. Da in Sanierungsfällen die Bewertung der Forderung der zu erwartenden Insolvenzquote entspricht, könnte die Gesellschaft nur Geschäftsanteile in Höhe dieses Werts neu ausgeben. Aber eine derart geringe Beteiligung ist für den Inferenten nicht attraktiv. Selbst wenn seine „Wette auf die Zukunft“ Erfolg haben sollte, wäre der Ertrag hieraus nicht ausreichend, um den durch den Verzicht entstandenen Nachteil zu kompensieren.80 Um diese Nachteile zu vermeiden, hat sich die Praxis der Barkapitalerhöhung bedient, bei der die Bareinlage hin- und hergezahlt wird. c)

Die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als Reaktion

Wenn, wie im vorliegenden Fall, der Aktionär zwar formal eine Bareinlage erbringt, er diese jedoch in einem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang durch ein zweites Rechtsgeschäft gegen Zuführung einer anderen Leistung zurückerhält, liegt nach ständiger Rechtsprechung des BGH eine sog. verdeckte Sacheinlage vor.81 Es wird eine Abrede vermutet, in der sich die Gesellschaft zur Rückzahlung der auf die Bareinlage geleisteten Zahlungen verpflichtet. Wegen dieser Verwendungsabrede fehle es an einer ordnungsgemäßen Erbringung einer Bareinlage, da die Einlage zu keinem Zeitpunkt – wie von § 36 Abs. 2 S. 2 AktG verlangt – zur freien Verfü-

77 S.o. Fn. 29. 78 BGHZ 110, 47, 60; ferner BGHZ 113, 225, 341; Hüffer, Aktiengesetz, § 27 Rn. 25; Hopt/Wiedemann-Röhricht, § 27 Rn. 80. 79 Lutter/Gehling, WM 1989, 1445. 80 Meilicke, DB 1989, 1067 ff. 81 BGH NJW 2000, 725, 726; MünchKommAktG-Pentz, § 27 Rn. 85; Hüffer, Aktiengesetz, § 27 Rn. 10 ff.

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gung des Vorstands gestanden habe. Zudem wird in dem Hin- und Herzahlen eine Umgehung des Verbots des § 66 Abs. 1 S. 2 AktG gesehen, das dem Inferenten die Aufrechnung gegen Einlageforderungen der Gesellschaft mit eigenen Forderungen verbietet. Einer Umgehungsabsicht bedarf es nicht. Es geht vielmehr um die Durchsetzung des Prinzips der realen Kapitalaufbringung. Die praktischen Folgen sind, um ein Wort von Lutter zu zitieren, „katastrophal“.82 Da der Anspruch der Gesellschaft auf Leistung der vereinbarten Bareinlage fortbesteht, muß der Aktionär die Bareinlage erneut aufbringen (§ 54 Abs. 1 AktG).83 Zwar steht dem Gesellschafter ein Gegenanspruch aus Bereicherungsrecht zu, da der mit der Zahlung auf die Bareinlage befolgte Leistungszweck – Erfüllung einer Verbindlichkeit – nicht eingetreten ist. Dieser ist aber meist wertlos. Häufig ist die Gesellschaft entreichert (§ 818 Abs. 3 BGB), die Forderung ist mangels Liquidität der Gesellschaft nicht werthaltig. Wegen des Aufrechnungsverbots kann der Aktionär weder Aufrechnung noch Zurückbehaltungsrechte geltend machen. Auch aus der Abrede mit der Gesellschaft kann der Aktionär nichts herleiten. Diese ist nämlich gemäß § 27 Abs. 3 S. 1 AktG nichtig.84 Als Hauptargument für diese drakonischen Rechtsfolgen wird vorgebracht, daß die Vorschriften zur Kapitalaufbringung zum Schutz der Gläubiger und auch der übrigen Gesellschafter gegen Umgehung abgesichert werden müssen.85 Die Möglichkeit der Umgehung der Vorschriften zur Einbringung von Sacheinlagen ist in Deutschland seit mehr als 100 Jahren bekannt. Bereits der Gesetzgeber des Aktiengesetzes von 1884 war mit der Problematik vertraut 86 und schon das Reichsgericht hat die Lehre von der verdeckten Sacheinlage entwickelt. Eine erste Entscheidung erging bereits 1898,87 weitere folgten.88 Hervorzuheben ist die IDUNA Transport- und

82 Lutter, FS Stiefel, S. 517, 524; Lutter/Gehling, WM 1989, 446; vgl. auch Grunewald, FS Rowedder, S. 114: „drakonisch“. 83 Eine Gegenansicht spricht sich für Differenzhaftung aus, Grunewald, FS Rowedder, S. 111ff.; Schöpflin, GmbHR 2003, 57, 64; de lege ferenda Brandner, FS Boujong, S. 44 ff. 84 BGHZ 110, 47, 65. 85 Vgl. nur BGHZ 110, 47 f.: „Ein Umgehungsschutz ist … um so dringlicher, als sich die Kapitalerhöhung mit Sacheinlagen in der modernen Wirtschaft zu einem für die Aktiengesellschaft bedeutenden und unverzichtbaren Finanzierungsinstitut entwickelt hat und … um die Institute der bedingten Kapitalerhöhung (§§ 192 ff. AktG), des genehmigten Kapitals (§§ 202 ff. AktG) und der Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln (§§ 207 ff. AktG) erweitert worden ist. […] Die Lehre von der „verdeckten Sacheinlage“ stellt angesichts der Bedeutung der Kapitalerhöhung in ihren verschiedenen Gestaltungsformen sowie mit Rücksicht auf die Ausgestaltung, die diese Formen bis zum heutigen Zeitpunkt vor allem im Zuge der europäischen Rechtsangleichung erfahren haben, nicht nur einen zweckmäßigen, sondern auch einen notwendigen Bestandteil des Aktienrechts dar, mit dem die Umgehung der Vorschriften über den präventiven Kapitalaufbringungsschutz verhindert werden kann.“ 86 Begr. zum Entwurf eines Aktiengesetzes, 1884, § 10 III, B, 3 abgedr. in Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre Aktienrecht, ZGR Sonderheft 4, 1985, 453. 87 RGZ 41, 120, 122 zu § 186 Abs. 2 HGB 1897, der Vorgängervorschrift von § 27 Abs. 1 AktG 1965: „Auch das Gesetz vom 20. April 1892 will, wie sich aus dem Zusammenhange seiner Bestimmungen unzweideutig ergibt, das Erfordernis aufstellen, daß die Gesellschaft bei ihrer Entstehung nicht bloß in den Besitz gewisser Werte, sondern in den Besitz von Geldern gelangt, über welche sie – in deren Eigenschaft eben als Geldes entsprechend – verfügen, und zwar frei verfü-

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Rückversicherungs-AG Entscheidung,89 bei der es – wie bei der hier besprochenen Problematik – um ein Hin- und Herzahlen ging. In Deutschland blickt man vorliegend auf einen langen Zeitraum mit Umgehungserfahrungen zurück.90 Das deutsche Recht hat hier offenbar nicht nur einen Hügel, sondern einen veritablen lokalen Berg erstiegen. In Großbritannien wurde erst mit der Umsetzung der Kapitalrichtlinie das Prinzip der Aufbringung eines Mindestgrundkapitals eingeführt; der Gläubigerschutz wird traditionell über insolvenzrechtliche Instrumente und Durchgriffstatbestände bewirkt.91 Hier ist der Umgehungsschutz, obwohl die Problematik im Kern altbekannt ist,92 für den Gläubigerschutz von stark untergeordneter Bedeutung.93 Bei der Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital kommt Umgehung der Vorschriften zur Aufbringung von Sacheinlagen ohnehin kaum in Betracht, da Section 738 (2) 94 Companies Act 1985 „Bareinlage“ sehr breit definiert und den Erlaß einer gegen die Gesellschaft gerichteten, fälligen Verbindlichkeit als ordnungsgemäße Erbringung der Bareinlage anerkennt.95

gen, kann. Es will ferner Vorkehrungen dagegen treffen, daß durch Einverständnis zwischen dem einzahlungspflichtigen Gesellschafter und dem Geschäftsführer anstelle der bedungenen Geldanlagen Gegenstände gegeben werden, von deren Übernahme der Gesellschaftsvertrag nichts enthält, und für deren zutreffende Schätzung daher eine ausreichende Kontrolle mangelt“. 88 Vgl. RGZ 121, 99. 89 RGZ 157, 213, 223: Barkapitalerhöhung, bei welcher der zur Erfüllung hingegebene Scheck absprachegemäß sofort wieder zurückgegeben wurde. Schon in dieser Entscheidung war das tragende Argument, daß es an der freien Verfügbarkeit des gezeichneten Geldbetrags fehle. 90 Abriß der historischen Entwicklung in Hopt/Wiedemann-Wiedemann, § 183 Rn. 89; Lutter/ Gehling, WM 1989, 1445, 1448 ff. 91 Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 226 f., 232 f. 92 Vgl. Entscheidung Ooeregum Gold Mining Co of India vs. Roper (1892): Keine Anerkennung einer Transaktion, die offensichtlich dazu führt, daß letztlich Anteile unter dem Nominalwert ausgegeben werden (zitiert in Hannigan, Annotated Guide to the Companies Act, S. 157); vgl. auch Boyle/Birds, Company Law, S. 181. Zwar bezieht sich der Umgehungsschutz auf das Verbot der Unterpariemmission, das auch für die private limited gilt (vgl. Section 100 I CA: „A company’s shares shall not be allotted at a discount“; näher dazu Micheler, ZGR 2004, 324, 325 f.), aber mittelbar wird damit auch die Aufbringung des Mindesthaftkapitals geschützt. Daher trifft die Aussage von Lutter/Gehling (WM 1989, 1445, 1457 f.), es fehlten Erfahrungen mit dem Umgehungsphänomen ganz, nur bedingt zu. 93 Zur geringen praktischen Relevanz vgl. Boyle/Birds, Company Law, S. 180: „… these rules often have less significance than their volume and complexity would otherwise suggest … It must be said that some of the Directive’s provisions appear to be rather pointless in practise …“ Zu Reformbestrebungen Micheler, ZGR 2004, 324, 330 ff. 94 Wortlaut von Section 738 (2): „For purposes of this Act, a share in a company is deemed paid up (as to its nominal value or any premium on it) in cash, or allotted for cash, if the consideration for the allotment or payment up is cash received by the company, or is a cheque received by it in good faith which the directors have no reason for suspecting will not be paid, or is a release of a liability of the company for a liquidated sum, or is an undertaking to pay cash to the company at a future date.“ 95 Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 235 f. Allerdings werden für einen Forderungsverzicht i.S.v. Section 738 (2) Bestimmtheit der Schuld und Zustimmung der Gesellschaft verlangt, vgl. Gansen, Kapitalaufbringung im englischen und deutschen Kapitalgesellschaftsrecht, S. 36 ff.; Hannigan, Annotated Guide to the Companies Act, S. 1092, jeweils m.w.N.

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3.

Erschließung der europäischen Dimension

a)

Vorlage beim EuGH

Wie bereits angedeutet war die Praxis in Deutschland mit der Rechtsprechung zur verdeckten Sacheinlage unglücklich. Davon zeugt auch die intensive Befassung von Rechtsprechung und Lehre mit Möglichkeiten für eine „Heilung“ der verdeckten Sacheinlage.96 Meilicke hatte die Kapitalrichtlinie gegen die Lehre von der verdeckten Sacheinlage mobilisiert.97 Er argumentierte, daß der europäische Gesetzgeber mit der Kapitalrichtlinie nicht nur einen Mindestschutz festschreiben wollte, sondern damit eine umfassende Harmonisierung der Vorgaben für die Kapitalaufbringung und Erhaltung bezwecke. Auch das Problem der Umgehung sei vom Richtliniengeber erkannt und in den Vorgaben zur Nachgründung in Art. 11 der Kapitalrichtlinie abschließend geregelt. Damit lege die Richtlinie nicht nur einen Mindest-, sondern auch einen Höchststandard fest, über den der nationale Gesetzgeber (und die Rechtsprechung) nicht hinausgehen dürfe. Damit war die Gretchenfrage gestellt: Ist die Kapitalrichtlinie allgemein bzw. Art. 10, 11 Mindest- oder Höchstnorm? Bei dem geschilderten Fall war es für den BGH derart eindeutig, daß es sich nur um eine Mindestnorm handele, daß er, wie es Habersack 98 formulierte, unter „beherztem“ Rückgriff auf die acte-clair-Doktrin 99 eine Vorlage an den EuGH ablehnte. Die Vereinbarkeit der Lehre der verdeckten Sacheinlage mit der Richtlinie stehe außerhalb jedes vernünftigen Zweifels.100 Angesichts der Kritik an der Nichtvorlage 101 hat im Verfahren Meilicke/ADV-ORGA, dem ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde lag, das LG Hannover dem EuGH die Frage, ob die Lehre von der verdeckten Sacheinlage mit der Richtlinie vereinbar sei, zur Entscheidung vorgelegt.102 Der EuGH hat eine Entscheidung über die Vorlagefragen aus prozessualen Gründen abgelehnt.103 Die 96 Für die GmbH läßt der BGH eine Heilung durch Satzungsänderung zu (BGHZ 132, 141, 150 ff.). Ob dies auf das Aktienrecht übertragen werden kann, ist umstr. (befürwortend Hopt/Wiedemann-Röhricht, AktG § 27 Rn. 31; die h.M. will mit Hinweis auf § 27 Abs. 4 AktG Heilung nur zulassen, wenn die Satzungsänderung vor Eintragung der Kapitalerhöhung erfolgt, vgl. Hüffer, Aktiengesetz, § 27 Rn. 31; MünchKommAktG-Pentz, § 27 Rn. 81f.). Daneben wird diskutiert, ob und inwieweit eine Heilung durch eine sog. Nachgründung nach § 52 AktG analog möglich ist (vgl. dazu Hüffer, ebd., Rn. 32; Pentz, ebd., Rn. 83). 97 Meilicke, DB 1989, 1067 ff. 98 Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn.162. 99 Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 15. 100 BGHZ 110, 47, 68 ff. 101 Vgl. statt aller Steindorff, EuZW 1990, 251, 254; vergleichsweise wohlwollend Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 39: „sehr großzügige Interpretation“. 102 LG Hannover, Beschl. v. 15.01.1991 – Meilicke ./. ADV-ORGA, ZIP 1991, 369; Vorlagefrage wörtlich: „Ist es mit dem Recht der Europäischen Gemeinschaft vereinbar, die Tilgung von einer Kapitalerhöhung einer Aktiengesellschaft begründeten Darlehensverbindlichkeiten der Gesellschaft mit Barmitteln des Darlehensgläubigers nach den Schutzvorschriften für das Sacheinlagegeschäft abzuwickeln?“ Das Gericht stellte noch weitere sieben Vorlagefragen mit Alternativen und Unterfragen, u.a. ob die Vorschriften der Richtlinie unmittelbar anwendbar sind und ob Art. 10, 11 nur Mindestregelungen sind oder eine abschließende Regelung des Umgehungsschutzes darstellen; vgl. Darstellung im Schlussantrag des Generalanwalts (Slg. 1992, 4871, Tz. 16 ff. = ZIP 1992, 1033, 1037. 103 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871.

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angeschnittenen Fragen sind also nach wie vor nicht abschließend entschieden. Deshalb ist das Plädoyer des Generalanwalts beim EuGH Tesauro besonders beachtenswert, der eine sehr differenzierte Sichtweise dieser Problematik entwickelt und dabei sehr sauber zwischen verschiedenen Fragekreisen trennt.104 aa)

1. Fragenkreis: Mindest- oder Höchstnorm

In einem ersten Schritt stellt Tesauro fest, daß die abstrakte Frage, ob eine Richtlinie Mindest- oder Höchstnorm sei, nicht allgemein beantwortet werden könne. Es müsse vielmehr jede Bestimmung der Richtlinie individuell analysiert werden.105 Bei systematischer Betrachtung der Kapitalrichtlinie ergebe sich kein eindeutiges Bild. Einerseits sprechen die Begründungserwägungen lediglich von einem „Mindestmaß an Gleichwertigkeit“, andererseits sprechen einige Vorschriften expressis verbis von einem „Mindeststandard“ und wieder andere räumen Mitgliedstaaten ausdrücklich ein Ermessen ein. Dies lege nahe, daß strengere Vorschriften nur dann zulässig seien, wenn eine solche Möglichkeit ausdrücklich eingeräumt sei.106 Der zweite Schritt ist die Anwendung dieser Überlegung. Da Art. 11 den Mitgliedstaaten für zwei Fälle ausdrücklich das Recht einräume, strengere Regeln zu erlassen,107 sei im Umkehrschluß zu folgern, daß die Bestimmungen im übrigen abschließend seien und damit einen verbindlichen Mindest- und Höchststandard festlegten.108 Dabei sei zu berücksichtigen, daß jedes Hinausgehen über den Mindeststandard nicht nur den Schutz verbessere, sondern gleichzeitig andere schützenswerte Interessen beeinträchtige, da Gläubiger- und Gesellschafterinteressen nicht zwingend gleichlaufend seien.109 Damit sei die Kapitalrichtlinie zwar nicht generell eine Höchstnorm, aber der nationale Gesetzgeber dürfe nicht über den in Art. 10, 11 festgelegten Schutzstandard hinausgehen.

104 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, 4871 Tz. 16 ff. 105 Dieser Befund, auf den Tesauro in der Sache „Siemens Nold“ verwiesen hat, wurde vom EuGH bestätigt. In diesem Verfahren ging es um die Frage, ob die Vorgaben des AktG und des BGH zum Bezugsrecht bei Sachkapitalerhöhungen und dessen Ausschluß mit der Kapitalrichtlinie vereinbar sind. Der EuGH hat dies mit Hinweis darauf bejaht, daß die Richtlinie nur für die Barkapitalerhöhung Vorgaben mache; GA Tesauro, Schlußanträge v. 19.9.1995 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1995, I-6017 Tz. 10; EuGH v. 19.11.1995 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1995, I-6017 Rn. 18. Daneben spielte die Erwägung eine Rolle, daß gegen eine Verstärkung des Aktionärsschutzes regelmäßig dann keine Einwände bestehen, wenn diese nicht unmittelbar auf Kosten des Gläubigerschutzes geht (EuGH ebd. Rn. 19); ähnlich auch Meilicke, DB 1989, 1067 ff. 106 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 12. 107 Vgl. Art. 11 Abs. 1 UAbs. 2: „Die Mitgliedstaaten können diese Vorschriften auch vorsehen, wenn der Vermögensgegenstand einem Aktionär oder einer anderen Person gehört.“ 108 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 18 f. 109 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 12, 13.

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bb)

2. Fragenkreis: Rechtfertigung allgemeinen Umgehungsschutzes

Im allgemeinen werden die Mitgliedstaaten durch eine Richtlinie nicht gehindert, ihre allgemeinen Rechtsvorschriften und Rechtsinstitute anzuwenden, zu denen auch der Umgehungsschutz zähle. Im deutschen Schrifttum zudem wird mit Hinweis auf den effet utile 110 darauf verwiesen, daß einer jeden europarechtlichen Norm das Gebot eines effektiven Umgehungsschutzes immanent sei 111. Die Frage der Umgehung stelle sich aber nicht, wenn es sich bei der Einbringung einer Forderung um eine Bareinlage i.S.d. Kapitalrichtlinie handele, da ja dann nichts mehr umgangen werde.112 Dabei könne die Definition des Begriffs der Sacheinlage nicht dem nationalen Gesetzgeber überlassen werden, da es dieser sonst in der Hand hätte, über den Anwendungsbereich der Richtlinie zu entscheiden.113 Damit sind wir bei dem bei dieser Tagung schon häufig besprochenen Problem der „autonomen Auslegung“ von gemeinschaftsrechtlichen Begriffen angelangt.114 Tesauro gelangt zu dem Ergebnis, daß die Einbringung einer gegen die Gesellschaft gerichteten Forderung jedenfalls dann als Bareinlage anzusehen sei, wenn diese liquide und fällig sei.115 Er begründet dies mit dem rechtsvergleichenden Hinweis, daß nahezu alle Mitgliedstaaten zu diesem Ergebnis kämen. Dies sei auch mit dem Zweck der Richtlinie zu vereinbaren, da – anders als bei den klassischen Sacheinlagen – der Nominalwert der Forderung eindeutig zu ermitteln sei und die Bilanz der Gesellschaft ja auch in voller nomineller Höhe der Forderung entlastet werde.116 Wenn nicht eindeutig feststellbar sei, ob die Forderung liquide ist, dann sei der nationale Gesetzgeber grundsätzlich berechtigt, die Transaktion als Umgehung der Vorgaben zur Sacheinlage zu behandeln. Jedoch setze die Annahme eines Umgehungstatbestandes den Nachweis einer Umgehungsabsicht des Inferenten voraus.117 110 Das Gebot der möglichst effektiven Umsetzung des Europarechts ist st. Rspr. und gilt auch im Gesellschaftsrecht; vgl. Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 37 m.w.N. 111 Vgl. Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 6 Rn. 163; Lutter/Gehling, WM 1989, 1445, 1456 ff.; Kindler, FS Boujong, S. 299, 308 f.; Hopt/Wiedemann-Röhricht, AktG § 27 Rn. 192. 112 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 11. 113 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 13. 114 Vgl. Beiträge von Riesenhuber (oben § 8); Röthel (oben § 9) und Roth (oben § 11). 115 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 14. Wenn man der Auffassung des Generalanwalts folgt, daß der Bareinlagebegriff richtlinienautonom im Hinblick auf die Übung in der übergroßen Mehrzahl der Länder einheitlich auszulegen ist, dann ist die Einbringung einer Forderung als Bareinlage anzusehen, und damit die Behandlung des Hin- und Herzahlens als verdeckte Sacheinlage problematisch. Denn daß die Richtlinie erlaubt, bei einer Sacheinlage über die Mindestanforderungen hinauszugehen, bedeutet nicht zwangsläufig, daß die Richtlinie erlaubt, einen Vorgang, der nach der Richtlinie (vermeintlich) zwingend als Bareinlage anzusehen ist, wie eine Sacheinlage zu behandeln. 116 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 14. So auch das Argument der deutschen Stimmen im Schrifttum, die sich für die Behandlung der sanierenden Forderungseinbringung als Bareinlage aussprechen; vgl. Geßler, FS Möhring, S. 173, 191; Meilicke, Die verschleierte Sacheinlage, S. 2. 117 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 20, 21.

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Die rechtsvergleichende Aussage, die Tesauro zum Ausgangspunkt seiner Argumentation macht, ist allerdings verkürzt und teilweise auch überholt. Eine echte Gleichstellung mit der Bareinlage findet sich vor allem in England.118 Frankreich und Belgien differenzieren durchaus zwischen Bareinlage und Einlage der Forderung, lassen aber eine Aufrechnung bzw. Verrechnung von Forderungen des Gesellschafters mit Bareinlageforderungen zum Wert der Forderung zu,119 wobei es umstritten ist, ob und wann die Aufrechnung zum nominellen Wert erfolgen darf und wann eine Prüfung der Werthaltigkeit der Forderung erfolgen muß.120 Ähnlich ist die Rechtslage in Spanien.121 Angesichts dieses doch verhältnismäßig uneinheitlichen Bildes wäre es exakter zu formulieren: Die Einbringung einer Forderung wird oft wie eine Bareinlage behandelt. Andere Länder haben sich hingegen der strengen Auffassung des deutschen Rechts angenähert. So ist in Österreich unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung von „Umwegkonstruktionen“ die Aufrechnung gegen die Bareinlageverpflichtung nur dann zulässig, wenn die Forderung vollwertig sowie fällig ist, bereits vor der Kapitalerhöhung bestand und die Aufrechnung von allen Beteiligten zum Zeitpunkt der Kapitalerhöhung vereinbart war.122 In Italien ist die Einlage einer Forderung hingegen als eine eigene, dritte Art der Einlage geregelt (stima die conferementi di crediti), wobei Forderungen grundsätzlich wie eine Sacheinlage behandelt werden (Art. 2343 Codice Civile). Ob bei Forderungen gegen die Gesellschaft eine Ausnahme zu machen ist und diese wie Bareinlagen zu behandeln sind, wurde in der Kommission zur Umsetzung der Kapitalrichtlinie kontrovers diskutiert.123 Mittlerweile verlangen die wohl h.M. und die Rechtsprechung eine Prüfung der Werthaltigkeit der Forderungen und die Einhaltung der sonstigen Vorgaben für die Sachkapitalaufbringung.124 Um die oben angesprochenen Transformationsländer nicht unberücksichtigt zu lassen, sei als weiteres Beispiel Tschechien erwähnt. Hier ist weitgehend unstreitig, daß dieser als „Kapitalisierung von Forderungen“ bezeichnete Vorgang als Sacheinlage anzusehen ist und eine entsprechende Prüfung der Werthaltigkeit stattfinden muß.125 118 S. o. II. 2. c) bei Fn. 91–95. 119 Art. 178 Abs. 2 loi 66; vgl. dazu Meilicke, DB 1989, 1070; Drinkuth, Die Kapitalrichtlinie: Mindest- oder Höchstnorm, S. 158. 120 Darstellung bei Meilicke und Drinkuth (ebd.) insoweit mißverständlich und verkürzt. Eingehend zu dieser Problematik Hansen, Die verdeckten Sacheinlagen in Frankreich, Belgien und Deutschland, S. 160 ff. 121 Art. 156 Abs. 1 LSA (spanisches AktG); näher dazu Franzmann, Kapitalaufbringung im spanischen Kapitalgesellschaftsrecht, S. 75 ff., 80. 122 OGH SZ 66/90 = ÖJZ 1993, 155; näher dazu MünchKommAktG-Doralt, § 27 Rn. 145. 123 Zu dieser Diskussion Meilicke, DB 1989, 1069. 124 Cian/Trabucchi, Commentario breve al Codice Civile 2004, S. 2343 m.N. zur aktuellen Rspr. Die Darstellung des Streitstands in Meilicke (DB 1989, 1070) ist überholt. 125 „Kapitalizace pohledávky“, vgl. Stenglová/Plíva/Tomas, Obchodní zákoník, S. 187, 193. Seit der Handelsrechtsnovelle von 1998 wurde in § 59 Abs. 2 TschechHGB das Erfordernis eingeführt, daß die Gesellschaft den Einlagegegenstand für die Zwecke des Unternehmens wirtschaftlich nutzen können muss. Inwieweit die Einbringung einer gegen die Gesellschaft gerichteten Forderung mit diesem Merkmal vereinbar ist, ist nicht abschließend geklärt, sodaß in diesem Punkt das tschechische Recht tendenziell sogar strenger ist als das deutsche.

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§ 15 Europäisches Gesellschaftsrecht

b)

Methodische Erträge

Das Beispiel zeigt, daß im Gesellschaftsrecht – wie meist – ein konkreter Konflikt der Ausgangspunkt ist, der zunächst die nationalen Gerichte beschäftigt. Es wird aber auch deutlich, daß die europäische Dimension oftmals nicht wegen ihrer selbst erschlossen wird, sondern als Instrument im Rechtsstreit 126 oder gegen eine nationale Rechtsentwicklung. Der europäische Gehalt gesellschaftsrechtlicher Fragestellungen ist gleichwohl unabhängig von der Instrumentalisierung sowohl in der Beratungspraxis wie in der richterlichen Tätigkeit.127 An erster Stelle steht die Ermittlung primären und sekundären Gemeinschaftsrechts und des Stands der Harmonisierung einschließlich des Entwicklungszieles. Vorliegend ist der Abschied vom Gedanken der Vollharmonisierung des Gesellschaftsrechts also von unmittelbarer Bedeutung für die Auslegung der Richtlinien. Bei der (richtlinienkonformen) Auslegung des nationalen Rechts ist der so ermittelte Stand zugrunde zu legen. Desweiteren ist das nationale Recht im europäischen Kontext zu positionieren, d.h. der nationale Regelgeber muß entscheiden, welches Angebot im Wettbewerb der Rechtsordnungen unterbreitet werden soll. Insofern besteht eine Wechselwirkung mit der Wahlfreiheit hinsichtlich des Gesellschaftsstatuts. Rechtsvergleichende Betrachtungen helfen, das local-hill-Phänomen zu erkennen.128 Das dient aber nicht nur der reiferen Selbsterkenntnis, sondern auch dem europäischen Überblick über die nationalen Täler und Hügel. Denn dort, wo ein Tal durch Harmonisierung aufgefüllt wurde, bleibt immer noch eine gewisse Senke – in Großbritannien etwa erfreut sich das Mindestgrundkapital nach wie vor keiner überwältigenden Sympathie. Eine lebendige Fortentwicklung ist nicht zu erwarten, es handelt sich um ein legal transplant.129 Und das Abtragen von Hügeln ist mühsam, wie die Lehre von der verdeckten Sacheinlage zeigt. Der Rechtsvergleich ist aber schon auf der vorgelagerten Ebene der Auslegung der Richtlinie erforderlich. Nur so ist nämlich zu verhindern, daß kraft nationalen Vorverständnisses die acte-clair-Doktrin in Anspruch genommen wird, obwohl für Unklarheiten aller Anlass besteht. Im vorliegenden Beispiel der verdeckten Sacheinlage

126 So im Ausgangsfall „Überseering“ (EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919), der der Abwehr von Gewährleistungsansprüchen diente, vgl. Eidenmüller, ZIP 2002, 2233 ff.; Neye, EWiR 2002, 1113 f. 127 Hier schon wegen des evtl. Erfordernisses einer Vorlage nach Art. 234 EG, das nach Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG verfassungsrechtlich geschützt ist; BVerfGE 45, 142, 181ff.; 73, 339, 366 ff.; Münch/ Kunig-Kunig, Art. 14 Rn. 14. 128 Rechtsvergleichender Überblick zur verdeckten Sacheinlage etwa in Hopt/Wiedemann-Wiedemann, § 183 Rn. 10 ff.; Kindler, ZHR 158 (1994), 339, 342 ff.; vgl. auch rechtsvergleichende Betrachtungen o. II. 3. a) bb). 129 Diese Metapher geht auf Alan Watson (Legal Transplants, An Approach to Comparative Law, S. 21ff.) zurück und soll die Übertragung von Rechtssätzen von einem Land zum anderen versinnbildlichen; näher dazu Pistor/Keinan/Kleinheisterkamp/West, Innovation in Corporate Law, http://ssrn.com/abstract = 419861 = JCE 2003, 676; dies., The Evolution of Corporate Law. A CrossCountry Comparison, http://ssrn.com/abstract = 419881 = Pa. JIEL 2002, 791. Zur umgekehrten Problematik der „Transplantation“ angelsächsischer Rechtsfiguren in das deutsche Aktienrecht Fleischer, NZG 2004, 1129 ff.

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ist die Frage, ob die Umwandlung von Forderungen in Eigenkapital Sacheinlagen i.S.d. Richtlinie sind. Denn die Abgrenzung Bareinlage/Sacheinlage geht in den Mitgliedstaaten verschiedene Wege.130 Das Beispiel der Kapitalaufbringungsvorschriften und der Bekämpfung ihrer Umgehung verdeutlicht, daß die Anwendung von Gesellschaftsrecht im europarechtlichen Kontext einen breiten Zugriff braucht, der aktuelle europäische und internationale Entwicklungen einbezieht und die Gesamtkonzeption des europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts berücksichtigt. Dieses Postulat gilt auch in Bereichen, in denen sekundäres Gemeinschaftsrecht keine zwingenden Vorgaben macht. Selbst wenn viel dafür spricht, daß der deutsche Gesetzgeber bzw. die deutsche Rechtsprechung die Freiheit haben, an der Lehre von der verdeckten Sacheinlage festzuhalten, sollte man den Gebrauch dieser Freiheit kritisch hinterfragen. Die strenge Handhabung dürfte insbesondere ausländische Inferenten überraschen,131 enthält also vor allem auch ein Informationsproblem.

III.

Europäische und nationale Entwicklungsperspektive

1.

Europäische Ebene

a)

Gesellschaftsrecht allgemein

Wie oben ausgeführt, ist das europäische Gesellschaftsrecht in besonderem Maße „law in action“. Das betrifft nicht nur den Harmonisierungsstand, sondern ebenso materielle Weiterentwicklungen. Dieses hohe Maß an Dynamik bedarf eines stimmigen Zusammenspiels, einer laufenden Anpassung und Abstimmung. Dynamische Auslegung kann daher hier nicht bedeuten, von der schieren Anzahl der Rechtsakte 132 im Bereich des Gesellschaftsrechts auf einen hohen Harmonisierungsgrad zu schließen und die europarechtlichen Vorgaben allgemein im Zweifel weit mit dem Ziel einer möglichst weit gehenden Vereinheitlichung auszulegen. Da es aufwendiger ist, europarechtliche Vorgaben zu ändern als nationales Recht, würde bei einer Harmonisierung des Gesellschaftsrechts „in die Breite“ Erstarrung drohen. Hinzu kommt die besondere Problematik einer komplexen Vielstufigkeit und eines

130 S.o. a) bb). Hier zeigt sich auch die Gefahr einer spontanen Ausrichtung auf ein „Vorbildrecht“, nämlich des deutschen Rechts hinsichtlich der Kapitalaufbringungsgrundsätze. Der eigene Standort mag der Gipfel eines local hill sein. Methodisch gibt es aber keinen grundsätzlichen Vorrang eines „Vorbildrechts“, vgl. Riesenhuber, oben, § 8 IV.3.d). 131 Ein gravierender Fall der fehlgeschlagenen Einbringung von Forderungen betraf General Motors. Das Unternehmen wurde im Zuge des Konkurses der IBH Holding AG durch das LG Mainz (AG 1987, 91ff.) zu einer Nachzahlung von 62,8 Millionen DM verurteilt, vgl. dazu Lutter/ Gehling, WM 1989, 1445, 1446; Hommelhoff, ZIP 1987, 477, 480 f.; vgl. auch BGH ZIP 1992, 1464 ff. (IBH/Scheich Kamel); dazu Wiedemann, EWiR 1992, 1153 f. 132 Vgl. Pistor/Keinan/Kleinheisterkamp/West, Innovation in Corporate Law, http://ssrn.com/ abstract = 419861 = JCE 2003, 676; dies., The Evolution of Corporate Law. A Cross-Country Comparison, http://ssrn.com/abstract = 419881 = Pa. JIEL 2002, 791: Anzahl von Veränderungen als Flexibilitätsmaßstab.

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§ 15 Europäisches Gesellschaftsrecht

vielschichtigen Zusammenspiels von Normen. Ausgangspunkt sind nationale Vorgaben für das Gesellschaftsrecht. Darauf setzen die europäischen Regeln für Kapitalgesellschaften auf. Von denen gelten wiederum einige nur für die AG, von denen wiederum einige nur für börsennotierte AG. Bei letzteren kommt das Zusammenspiel mit dem Kapitalmarktrecht hinzu. Daher droht dem Recht gerade der börsennotierten Gesellschaften bzw. nationalem Aktiengesellschaftsrecht, daß es zwischen den mannigfaltigen kapitalmarktrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Vorgaben eingezwängt wird und Handlungs- und damit Anpassungsspielräume schrumpfen.133 Ein gesellschaftsrechtliches Gegengewicht können hier dispositive Vorschriften bilden, genauer: die europarechtliche Festschreibung der Dispositivität. Mittelbar ist das geschehen hinsichtlich der Auswahl des Gründungsstatuts (Inspire Art),134 unmittelbar im SE-Statut betreffend Aufsichtsrats- oder Board-System.135 Vor diesem Hintergrund bedeutet „dynamisch“ auslegen, den Harmonisierungsstand differenziert zu betrachten und zwischen Gewährleistung der primären Niederlassungsfreiheit (grenzüberschreitende Gründung und unternehmerische Beteiligung an Gesellschaften, Wahlfreiheit hinsichtlich des Gesellschaftsstatuts) einerseits und Beurteilung des nationalen Rechts aufgrund des Gesellschaftsstatuts anderseits zu unterscheiden. b)

Kapitalaufbringungsschutz im besonderen

Das Konzept des Gläubigerschutzes durch Kapitalaufbringung und -erhaltung war nie unumstritten und seine Sinnhaftigkeit wird – vor allem aufgrund ökonomischer und rechtsvergleichender Überlegungen – zunehmend in Frage gestellt. Das System sei aufwendig, teuer, bewirke keinen wirklich effizienten Schutz 136 und benachteilige unfreiwillige Gläubiger.137 Auch in ihrem Aktionsplan 138 gelangt die Kommission zu dem Schluß, daß das Mindestkapitalkonzept zwar nicht aufgegeben werden soll, jedoch eine Vereinfachung der Kapitalrichtlinie 139 wesentlich

133 Ähnlich für das deutsche Aktienrecht Ekkenga, ZGR 1999, 165, 200: „Die börsennotierte AG droht, zwischen zwei aufeinander nicht ausreichend abgestimmten Normenkomplexen eingezwängt zu werden: Hier das zwingende Aktienorganisationsrecht mit seinem institutionalisierten Minderheitenschutz, dort die zunehmende Reglementierung des Marktverhaltens zum Zwecke des Anlegerschutzes.“ 134 S.o. Fn. 64. Zur Wahlfreiheit in der Praxis s. Riegger, ZGR 2004, 510 ff. 135 Die SE-VO (s.o. Fn. 23) gewährt in Art. 38 ein Wahlrecht und macht für beide Varianten Vorgaben (vgl. Art. 39 zum dualistischen System; Art. 43 ff. zum monistischen System). 136 Enriques/Macey, 86 Cornell Law Review 2001, 1165 ff. „Creditors Versus Capital Formation: The Case Against the European Legal Capital Rules; Hansmann/Kraakmann, 110 (2000) Yale L.J. 1879 ff.; so bereits aus rechtsvergleichender Sicht Kübler, ZHR 168 (2004), S. 216 ff.; ders., in: Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law, 2003; S. 95 ff.; ders., EBLR 2004, 1031. Zur aktuellen Diskussion im Hinblick auf die Zukunft des deutschen Aktienrechts siehe Eidenmüller/Engert, AG 2005, 97 ff.; Mülbert, Der Konzern 2004, 151ff.; Schön, Der Konzern 2004, 162 ff. 137 Speziell zu diesem Aspekt Hansmann/Kraakmann, Toward unlimited shareholder liability for corporate torts, 110 (2000) Yale L. J., 1879; Escher-Weingart, Reform durch Deregulierung im Kapitalgesellschaftsrecht, S. 138 ff.; vgl. auch die Beiträge in der vorhergehenden Fn. 138 S.o. Fn. 16. 139 S.o. Fn. 29.

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3. Teil: Besonderer Teil

zur Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beitragen würde. Ferner hat sie angekündigt, langfristig Überlegungen anzustellen, ob das System des festen Garantiekapitals durch alternative Systeme des Gläubigerschutzes ersetzt werden sollte. Spätestens 2008 soll hierzu eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben werden.140 Darauf folgte der Entwurf der Änderungsrichtlinie zur Kapitalrichtlinie.141 Diese sieht in einem neuen Art. 10a vor, daß die Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen von dem Erfordernis der Erstellung eines Sachgründungs- bzw. -einlageberichts über die Werthaltigkeit der Einlage absehen können. Dabei handelt es sich um Umstände, bei denen eine objektive Bewertung gewährleistet erscheint (Einlage wurde vor kurzem bereits bewertet, Wert geht aus der Vermögensaufstellung eines gesetzlichen Abschlusses hervor, der im Einklang mit den entsprechenden europarechtlichen Vorgaben aufgestellt wurde). Dem Minderheitenschutz soll dadurch Rechnung getragen werden, daß Aktionäre, die zusammengenommen mindestens 5 % am gezeichneten Kapital halten, eine Neubewertung des betreffenden Vermögensgegenstands verlangen können. Was folgt aus dem Vorliegen eines solchen Entwurfs für die Auslegung der existierenden Richtlinie? Ein echtes Vorwirkungsproblem stellt sich wohl nicht, da die gegenwärtige strenge Handhabung der Kapitalaufbringungspflicht keine vollendeten Tatsachen schafft, die die Zielsetzung einer späteren, großzügigeren Richtlinie vorab vereiteln würde.142 Jedenfalls aber wird es der aktuellen Entwicklung nicht gerecht, der Kapitalrichtlinie zu unterstellen, sie wolle einen möglichst umfassenden, in jeder Hinsicht abgesicherten Kapitalaufbringungsschutz gewährleisten.143 Ferner sieht die Richtlinie nicht eine generelle Absenkung des Schutzniveaus vor, sondern schafft ein Wahlrecht. Dies bestätigt den bereits oben erhobenen Befund, daß keine vollständige Vereinheitlichung gewollt ist, sondern der Richtliniengeber in kauf nimmt, daß in einigen Staaten ein höherer Kapitalaufbringungsschutz betrieben wird als in anderen Staaten. Eine eindeutige Aussage, ob Höchst- oder Mindestnorm, läßt sich daraus aber nicht ableiten. Für die Frage Mindest- oder Höchstnorm ist auch zu berücksichtigen, inwieweit das nationale Recht, das für die Gesellschaft maßgeblich ist (Gesellschaftsstatut), frei wählbar ist. Eine tragende Erwägung, die wohl letztlich hinter der Befürwortung der Einordnung der Kapitalrichtlinie als Höchstnorm stehen dürfte, liegt darin, daß (vermeintlich) überzogene Schutzvorgaben nach deutschem Recht, ausländische 140 Dazu näher Habersack, NZG 2004, 1, 2; van Hulle/Maul, ZGR 2004, 484, 499. 141 S.o. Fn. 42. 142 Vgl. EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie ./. Région wallonne, Slg. 1997, I-7411 Rn. 44, gestützt auf den Grundsatz des effet utile; BVerwGE 107, 1: Stillhalten bei offener Umsetzungspflicht als vorgezogene, europarechtsfreundliche Verhaltenspflicht; BGHZ 138, 55 (Vergleichende Werbung): richtlinienkonforme Auslegung vor Umsetzung innerhalb offener Frist. Zur Vorwirkung allg. vgl. Schliesky, DVBl. 2003, 631, 639. 143 Vgl. BE 2: „… gelangt die Kommission zu dem Schluß, daß eine Vereinfachung der Richtlinie 77/91/EWG wesentlich zur Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beitragen würde, ohne den Aktionärs- und Gläubigerschutz zu verringern.“

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Gesellschafter/Gesellschaften von der Gründung und damit von der wirtschaftlichen Betätigung in dem jeweiligen Mitgliedstaat abhalten.144 Hier kommt nun die neuere Rechtsprechung des EuGH zur Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit im Gesellschaftsrecht für die Auslegung im Lichte der Grundfreiheiten zum Tragen. Grundsätzlich darf einer im EG-Ausland gegründeten Gesellschaft die Eintragung einer Zweigniederlassung in das Handelsregister nicht mit Hinweis auf die Gefahr der Umgehung nationaler gesellschaftsrechtlichen Bestimmungen verweigert werden. Wenn aber der Ort der Gründung der Gesellschaft für deren Rechtsstatut maßgeblich ist und die Gesellschaft dieses huckepack überall hin mitnehmen kann, dann ist nicht einzusehen, inwieweit Vorgaben im deutschen Gesellschaftsrecht, die über den Mindeststandard hinausgehen, die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv machen sollen. Daher ist die Interpretation als Höchstnorm zur Förderung der Niederlassungsfreiheit nicht zwingend erforderlich, so daß sich die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 2, 3 EG) stellt. Wenn man davon ausgeht, daß das Ziel der Vollharmonisierung zugunsten des Konzepts eines transparenten (s.o. I.2.b)bb) „Informationsmodell“) Wettbewerbs der Regelungsgeber aufgegeben wurde, dann ist das Verständnis der Richtlinie als Mindest- und Höchstnorm sogar kontraproduktiv. Denn dem nationalen Gesetzgeber werden Gestaltungsspielräume verschlossen, innerhalb seiner eigenen Pfadabhängigkeiten individuelle Lösungen, die eben keinen gleichen, aber gleichwertigen Gläubiger- und Minderheitenschutz bieten, zu suchen. Es droht die oben genannte Gefahr der Erstarrung. In Sachen „Siemens ./. Nold“ hat der EuGH auch angedeutet, daß ein über die Richtlinie hinausgehendes Schutzniveau durchaus im Sinne der Vorschriften zur Rechtsangleichung sein könne.145

2.

Nationale Ebene

a)

Gesellschaftsrecht allgemein

Mit den Verbesserungen bei der Gewährleistung der Wahlfreiheit im Hinblick auf Sitz und Gesellschaftsstatut ist zunehmend Zurückhaltung bei der Annahme geboten, Schutzvorgaben, die über den in den Richtlinien vorgesehen Mindeststandard hinausgehen, seien wegen Beschränkung von Grundfreiheiten unzulässig. Zurückhaltung ist außerdem geboten, wenn punktuelle Regelungen in Richtlinien (vermeintlich) europarechtskonform auf weitere Sachverhalte angewandt werden sollen. Ferner bedarf es dann keiner zwingenden materiellen Schutzvorgaben, wenn durch Gewährleistung von Transparenz und Bereitstellung der erforderlichen Informationen den Marktteilnehmern ermöglicht wird, sich effektiv selbst zu schützen. Euro-

144 Drinkuth, Die Kapitalrichtlinie: Mindest- oder Höchstnorm, S. 174 f.; Steindorff, EuZW 1990, 251, 252 f. 145 S. dazu o. II 3. a) aa) mit Fn. 105. Christine Windbichler/Kaspar Krolop

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3. Teil: Besonderer Teil

parechtlich läßt sich der Vorrang des Informationsmodells vor inhaltlichen Vorgaben am Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 2 EG) festmachen.146 Der Wettbewerb der Regelungsgeber kann seinen Zweck – Optimierung der rechtlichen Regelungen – besser erreichen, wenn nicht nur die Nachfrager, sondern vor allem auch die Anbieter Rechtsvergleich betreiben.147 b)

Kapitalaufbringungsschutz im besonderen

Anhand des Rechtsvergleichs läßt sich feststellen, daß es sich bei der Lehre von der verdeckten Sacheinlage um einen „local hill“ handelt. Daran schließt sich die Frage an, ob dieser gar nicht, teilweise oder ganz abgetragen werden soll. Die Rechtstechnik dafür wäre eine europarechtliche Höchstnorm, die (kraft besserer Erkenntnis guten Gesellschaftsrechts) unterhalb des Gipfels bleibt (s.o.). Dies vermag die Probleme der switching costs und der Vernetzungseffekte aber nicht zu lösen. Hier ist deshalb die Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten im nationalen Recht aufgeworfen. Die Diskussion über Reformen ist lebhaft in Gang gekommen. Gerade der sich aufgrund von Inspire Art 148 verschärfende Wettbewerbsdruck auf das deutsche Gesellschaftsrecht hat den bereits seit geraumer Zeit angestellten Überlegungen zum deutschen Recht der Kapitalaufbringung bei der GmbH neue Bedeutung verliehen.149 Ähnlich wie auf der europäische Ebene spricht sich die überwiegende Anzahl der Stimmen für eine Reform anstatt Abschaffung aus.150 So sah ein Regierungsentwurf für eine GmbH-Novelle in § 5 Abs. 1 GmbHG die Absenkung des Mindeststammkapitals von EUR 25.000 auf EUR 10.000 vor.151 Ferner soll nach dem Entwurf das eingezahlte Stammkapital bekannt gemacht werden. Auf die GmbH findet die Zweite Richtlinie zwar keine Anwendung. Es ist aber ein Beispiel für den Ver-

146 Grundmann, ZIP 2004, 2401ff. 147 So die Forderung von Flessner, JZ 2002, 14, 16, 21 hinsichtlich der Anwendung des Privatrechts und der Juristenausbildung allgemein. Zu den ökonomischen und institutionellen Bedingungen für wirksame ökonomische Anreize für die Regelungsgeber Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt; Heine, Regulierungswettbewerb im Gesellschaftsrecht, S. 120 ff.; vgl. auch Merkt, RabelsZ 59 (1995), 545 ff. 148 S.o. Fn. 64. 149 Grundlegend Kübler, Aktie, Unternehmensfinanzierung und Kapitalmarkt, S. 59 ff. Zur aktuellen Diskussion vgl. Eidenmüller/Engert, AG 2005, 97 ff.; Mülbert, Der Konzern 2004, 151ff.; Schön, Der Konzern 2004, 162 ff.; vgl. Begründung des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Mindestkapitals bei der GmbH (MindestkapG) v. 1.6.2005, (im Internet unter http://www.jura.uni-augsburg.de/ Prof. Moellers/ Materialien/Gesellschaftsrecht / MindestkapG/ Entstehungsgeschichte, Teil A: „…die Rechtsform der GmbH wird damit gegen den Wettbewerbsdruck europäischer Alternativen gestärkt“. 150 Vgl. die differenzierenden Ansätze in Eidenmüller/Engert, AG 2005, 97 ff.; Mülbert, Der Konzern 2004, 151ff.; Schön, Der Konzern 2004, 162 ff. Zu einer „Radikallösung“ tendierend hingegen Kübler, in: Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law, S. 95 ff. 151 Regierungsentwurf des MindestkapG (s.o. Fn. 149). Der Gesetzesentwurf unterfällt infolge der frühzeitigen Auflösung des 15. Bundestages der Diskontinuität des Parlaments. Zu weitergehenden Reformvorschlägen s. Happ, ZHR 169 (2005), 6 ff.

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§ 15 Europäisches Gesellschaftsrecht

netzungseffekt, daß die Kapitalaufbringungsvorschriften bei harmonisierten und nicht harmonisierten Kapitalgesellschaften innerhalb einer nationalen Rechtsordnung nur begrenzt auseinander driften werden. Hinzu kommt ein anderer Aspekt des Vernetzungseffekts. Die strenge Einstellung zur Kapitalaufbringung in Deutschland geht einher mit einem tendenziell gläubigerfreundlichen Recht (das gilt nicht nur für das Gesellschaftsrecht, sondern auch für das Bilanz- und Insolvenzrecht).152 Die praktische Unhandlichkeit hat zu kautelarjuristischen Produkten geführt, die in anderen Ländern nicht geläufig sind und die über die nationale Umgehungsrechtsprechung eingefangen wurden. Diese Produkte sind in der Welt und werden im Falle einer Liberalisierung kräftig genutzt, ggf. sogar exportiert werden. Mit anderen Worten, man kann den erreichten Stand der Rechtswirklichkeit nicht zum Verschwinden bringen. Die Unschuld, die die Briten in puncto Kapitalaufbringung haben (weil sie sie sowieso nicht sehr ernst nehmen), haben die Deutschen schon vor langer Zeit verloren. Bei der Diskussion um Liberalisierung und Deregulierung darf nicht übersehen werden, daß die Lehre von der verdeckten Sacheinlage, flankiert vom umfassenden Verbot verdeckter Gewinnausschüttungen und der Rechtsprechung zu den eigenkapitalersetzenden Leistungen, die Lücken ausfüllt, die das deutsche Insolvenzrecht läßt.153 Hinzu kommt die sog. Durchgriffshaftung. Das englische Recht kennt zwar keine Lehre von der verdeckten Sacheinlage, aber dafür wurde an der Schnittstelle von Gesellschafts- und Insolvenzrecht ein ausdifferenziertes System von Durchgriffstatbeständen entwickelt, die es erlauben, den Gesellschafter und/oder die Leitung des Unternehmens unter bestimmten Umständen, insbesondere bei Mißbrauch und vorsätzlicher Schädigung von Gläubigern, persönlich in Anspruch zu nehmen.154 Es wäre also problematisch, die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als „Investitionshindernis“ ersatzlos zu streichen, ohne zu prüfen, ob Schutzlücken entstehen, die im Hinblick auf den Gläubigerschutz nicht hingenommen werden können und auch in anderen Rechtsordnungen nicht hingenommen werden. Hier ist die Entwicklung von Rechtsprechung und Lehre zur Durchgriffshaftung zu nennen. Wenn auf der Grundlage der Urteile des BGH zu „Bremer Vulkan“ 155 und „KBV“ 156 praktikable, differenzierte und interessengerechte Fallgruppen entwickelt werden können,157 ist man in geringerem Maße auf die Konstruktion von Rückzahlungs- bzw.

152 Vgl. dazu nur Merkt, ZGR 2004, 305, 311f. 153 Besonders deutlich wird dies im Recht der GmbH bei §§ 32a, 32b GmbHG, bei denen der Gesetzgeber die gesellschaftsrechtlichen Regelungen eng mit der Insolvenzordnung verknüpft. Dieser Schutz wird vom BGH als nicht ausreichend angesehen, der deshalb die Grundsätze der früheren Rechtsprechung zur Erweiterung des Verbots von § 30 GmbHG weiterhin neben §§ 32 a, 32b GmbHG anwendet (grundlegend BGHZ 90, 370, 381). 154 Dazu Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 180 ff., 226 f.; 232 f. 155 BGHZ 149, 10 ff., bestätigt durch BGH, ZIP 2004, 2138 ff. 156 BGHZ 151, 181ff., bestätigt durch BGH, GmbHR 2005, 229 ff. 157 Die Diskussion hierzu ist in vollem Gange; vgl. nur Kerber, ZGR 2005, 437 ff.; Schön, ZHR 168 (2004), 268 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

Ersatzansprüchen wegen Verletzung der Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsvorschriften angewiesen. Um auf unser Beispiel der Forderungseinbringung zurückzukommen: Wir hatten festgestellt, daß die Forderungseinbringung durchaus ein nützliches und stark nachgefragtes Sanierungsinstrument ist, aber auf der anderen Seite Risiken birgt, insbesondere im Hinblick auf den Gläubigerschutz. Man kann versuchen, diese Risiken präventiv auszuschalten, indem man die Einhaltung der Vorgaben für die Aufbringung einer Sacheinlage, insbesondere eine Werthaltigkeitskontrolle verlangt (so der traditionelle Ansatz). Das Aufstellen solcher Vorgaben macht aber einen großen Teil der Vorteile dieses Sanierungsinstruments zunichte.158 Statt dessen könnte es interessengerechter sein, auf die umfassende präventive Kontrolle zu verzichten und stattdessen ex post eine persönliche Haftung des Inferenten für den Mißbrauch dieses Instruments vorzusehen. Ansatzpunkt könnte die genannte Rechtsprechung 159 zum sog. existenzvernichtenden Eingriff sein.160 Das ist im Moment reine Spekulation. Was könnte sonst noch hilfreich sein? Zuvor wurde wiederholt die Bedeutung des Informationsmodells, insbesondere für das Gesellschaftsrecht, hervorgehoben.161 Wenn ein nationaler Gesetzgeber strenge Bräuche für gut und richtig hält, muß das kommuniziert werden. Gesellschafter und Gläubiger können dann klar darüber entscheiden, was ihnen wichtig ist. Local hills müssen bei diesem Ansatz nicht zwingend geschleift werden. Der durch die Rechtswahlfreiheit eröffnete Wettbewerb zwingt den Regelungsgeber aber dazu, sich Gedanken zu machen, welche Elemente local hills sind, die eigene „Hügellandschaft“ mit anderen zu vergleichen und sein Angebot entsprechend zu formulieren. Damit sind die Gewährleistung der Grundfreiheiten und die Offenheit für Gesellschaften mit einem ausländischen Gesellschaftsstatut nicht Bedrohung, sondern Fitneßstudio für das nationale Gesellschaftsrecht.

158 S. o. II.1. b). 159 S.o. Fn. 155, 156. 160 Vgl. auch Merkt, ZGR 2004, 305, 323, der fordert, im Gegenzug zur Liberalisierung bei der Kapitalaufbringung und -erhaltung die Insolvenzverschleppungshaftung auszubauen; zur Frage der Harmonisierbarkeit dieser Haftung nach dem Vorbild des wrongful trading s. Habersack/Verse, ZHR 168 (2005), 174 ff. 161 Vgl. vor allem Grundmann, oben § 7 II.1.

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Christine Windbichler/Kaspar Krolop

§ 16 Europäisches Kapitalmarktrecht Susanne Kalss Übersicht I. Einleitung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  II. Junges dynamisches Rechtsgebiet   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Dramatische Änderung des Marktes   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Das neue kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren 3. Die Rolle von CESR bei Normsetzung und -auslegung  .  .  4. Besonderheiten für die Interpretation der Normen   .  .  .  5. CESR – Dritte Regelungsebene  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittmaterie   .  .  .  .  .  .  .  1. Öffentliches – Privates Recht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur   .  .  .  .  .  .  4. Vertragliche Regelungen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  5. Schutzgesetzcharakter von Normen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  6. Gespaltene Interpretation   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  IV. Resümee   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

I.

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Einleitung

Das europäische wie nationale Kapitalmarktrecht wird durch zwei Charakteristika geprägt, die sich unmittelbar in der Auslegung und Methodik widerspiegeln. Zum einen ist das Kapitalmarktrecht ein sehr junges Gebiet, das sich durch eine dynamische Entwicklung auszeichnet und das ganz wesentlich durch eine neue mehrstufige Regelungstechnik geprägt ist. Zum anderen bildet das Kapitalmarktrecht eine Querschnittsmaterie,1 was bedeutet, daß sich kapitalmarktrechtliche Regelungen sowohl aus dem traditionell öffentlich-rechtlichen (regulativen) als auch aus dem traditionell privatrechtlichen Rechtsbereich zusammenfinden. Die großen Bereiche finden wiederum in unterschiedlichen Teildisziplinen Anknüpfungspunkte, wie etwa im Wertpapierrecht, Gesellschaftsrecht, Handelsrecht, Verwaltungsrecht, Wirtschaftsaufsichtsrecht, Strafrecht etc. Dieser Mix von Normen verschiedener Regelungsebenen des europäischen und nationalen Rechts und aus verschiedenen Rechtsbereichen erfordert gerade dort, wo Privat- und öffentliches Recht bzw. europäisches und nationales Recht unmittelbar aufeinander treffen, besonderes Augenmerk auf Fragen der Auslegung, um allfällige Diskrepanzen von Auslegungstraditionen bzw. Arbeitstechniken in den unterschiedlichen Disziplinen zu überbrücken und ein stimmiges Verständnis der Gesamtregelungen zu entwickeln. 1 Siehe nur Kalss, in: Rill (Hrsg.), 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien, S. 194; Schneider, AG 2001, 269.

Susanne Kalss

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3. Teil: Besonderer Teil

II.

Junges dynamisches Rechtsgebiet

1.

Dramatische Änderung des Marktes

Das europäische ebenso wie das nationale Kapitalmarktrecht bilden ein junges Rechtsgebiet, das sich erst in den letzten rund 20 Jahren in breiter Form entwickelt hat. Zwar war den Architekten eines einheitlichen europäischen Markts von Anfang an klar, daß das Kapitalmarktrecht einer unverzüglichen einheitlichen Regelung bedürfe,2 dennoch dauerte es bis in die 80er und 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts, daß sich ein relativ einheitliches europäisches Kapitalmarktrecht herausbilden konnte,3 das eine angemessene sachliche Reichweite der Regelungen und Regelungstiefe erreichte.4 Trotz dieses Schubs an sekundärrechtlichen Regelungen zeigte sich bald die Unzulänglichkeit des europäischen Normgefüges, um den Marktanforderungen auf Anbieter- und Nachfragerseite tatsächlich gerecht zu werden.5 Seit rund 10 –15 Jahren unterliegen die Finanzindustrie und der Kapitalmarkt fundamentalen Änderungen.6 Neben der Einführung und der steigenden Bedeutung des Euro prägen ein rasanter Forschritt in der Informations- und Kommunikationstechnologie, die Institutionalisierung und Professionalisierung der Marktteilnehmer, die Einflußund Machtverschiebung unter den verschiedenen Marktteilnehmern (institutionellen Investoren), die verstärkte Intermediation von Kapitalflüssen, umgekehrt die Disintermediation für andere Bereiche das Marktgeschehen. Die Globalisierung des Markts, die Zunahme der Mobilität der Marktteilnehmer, die in immer kürzeren Zyklen stattfindende Kreation neuer Finanzinstrumente und Techniken tragen ebenso zum neuen Umfeld bei wie eine offene Politik. Die dramatischen Änderungen veranlaßten die europäische Kommission 1999 einen Aktionsplan für Finanzdienstleistungen vorzulegen (Financial Services Action Plan – FSAP).7 Die Kommission setzte eine Expertengruppe ein, um sowohl inhaltlich Prioritäten als auch verfahrensmäßige Regelungen für die Fortentwicklung des europäischen Kapitalmarktrechts zu formulieren. Auf der Grundlage des Berichts dieser Experten (Bericht der Weisen – Lamfalussy-Bericht) vom November 2000 8 legte der

2 Beredtes Zeugnis davon ist etwa der sog. Segré-Bericht: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – EG-Kommission, Der Aufbau eines europäischen Kapitalmarkts – Bericht einer von der EWGKommission eingesetzten Sachverständigengruppe 1966. 3 Siehe dazu etwa Assmann/Schütze-Assmann, Handbuch zum Kapitalanlagerecht, § 1 Rn. 81ff.; Weber, in: Dauses, Europäisches Wirtschaftsrecht, F III; Moloney, EC Securities Regulation, S. 4 ff. 4 Moloney, EC Securities Regulation, S. 5; Moloney, EBOR 2002, 293, 309, 336. 5 Ferrarini, in: Ferrarini/Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets in the Age of the Euro, S. 241. 6 Siehe Baum, in: Kono/Paulus/Rajak (Hrsg.), The legal issues of E-commerce, S. 99; Kalss, in: Ferrarini/Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital markets in the Age of the Euro, S. 193. 7 Kommission – Umsetzung des Finanzmarktrahmens: Aktionsplan Mitteilung der Kommission vom 11.5.1999, KOM(1999) 232 endg., abgedruckt in ZBB 1999, 103. 8 Bericht des Ausschusses der Weisen über die Reglementierung der europäischen Wertpapiermärkte vom 9.11.2000, siehe europa.eu.int/comm/internal_market/securities/lamfalussy/ index_de.htm. europa.eu.int/comm/internal_market/en/finances/banks/report/de.pdf.

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Susanne Kalss

§ 16 Europäisches Kapitalmarktrecht

europäische Rat in einer Entschließung im März 2001 seine Vorstellung einer wirksameren Regelung des Kapitalmarkts vor. Im November 2005 bat die Kommission in einer Pressemitteilung um Kommentare betreffend der Bewertung des FSAP. 9

2.

Das neue kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren

Auf der Grundlage des Lamfalussy-Berichts und der Entschließung des europäischen Rats wurde für das europäische Kapitalmarktrecht ein vierstufiges Regelungskonzept etabliert. Dabei wurde das bereits in anderen regelungsintensiven Bereichen wie Landwirtschaft, Lebensmittelrecht und ähnlichen Marktordnungen verwendete Komitologieverfahren auf das Kapitalmarktrecht übertragen. Das kapitalmarktrechtliche Regelungsregime ist vierstufig aufgebaut.10 Europaweit werden vom Rat nur mehr (i) einheitliche Rahmenregelungen und Prinzipien geschaffen; (ii) konkretisierende flexible Durchführungsmaßnahmen legt die Kommission unter Beiziehung von Sachverständigen fest, die (iii) möglichst einheitlich in den Mitgliedstaaten umgesetzt und (iv) durch die Kommission in effizienter Weise durchgesetzt werden sollen.11 Auf der ersten Stufe werden somit die generellen Sekundärrechtsakte, dh Richtlinien und Verordnungen, auf Vorschlag der Europäischen Kommission vom Rat und vom Europäischen Parlament beschlossen. Die Richtlinien sind bloß als Rahmenrichtlinien gestaltet und sollen nur die Eckpunkte der jeweiligen Regelungen erfassen. Gerade aber in der Festlegung der notwendigen Konkretheit liegt wiederum der entscheidende Punkt in der gesamten Festlegung des Regelungsprozederes.12 Da der genaue Grad der Konkretheit der Rahmenrichtlinien nicht voll ausgelotet und bei politisch heiklen Fragen tendenziell zu hoch ist,13 besteht die Gefahr, daß jede künftige kapitalmarktrechtliche Richtlinienbestimmung der Überprüfung durch den EuGH auf die Vertragskonformität zur Überprüfung der Konkretheit gem. Art. 202 EG unterzogen wird.14 Entsprechend dem Komitologieverfahren werden auf der zweiten Stufe des Regelungsprozesses die technischen Durchführungsmaßnahmen, entweder in Gestalt einer Durchführungsrichtlinie (DurchführungsRL) oder einer Durchführungsverordnung (DurchführungsVO), nur von der Kommission erlassen. Das Komitologieverfahren verschiebt somit die Kompetenz für die Festlegung von Durchführungsbestimmungen und technischen Einzelheiten von Rat und Parlament zur Kommission, die sich des Sachverstands von Expertengremien bedienen muß. Die Instrumente der DurchführungsRL oder -VO 9 IP/05/1377, 7.11.2005 10 Karpf/Kuras-Eder, ÖBA 2002, 758; Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 1 Rz 43 ff. 11 Siehe dazu nur Doralt/Kalss, in: Bermann/Pistor, Law and governance in an enlarged European Union, S. 272. 12 Siehe zum Ausmaß der Konkretheit Ferran, Building an EU-securities market, S. 99, vor allem zur ProspektRL S. 134 ff.; Ferrarini, Contract standards and the markets in financial instruments directive and assessment of the Lamfalussy regulatory achitecture (ILF working paper Nr. 39) zur Richtlinie über Märkte von Finanzinstrumenten, S. 12 ff.; Ferrarini, ERCL 2005, 19, 29. 13 Krit. daher Ferrarini, ERCL 2005, 19, 27 ff. 14 Kalss, in: Basedow/Baum/Hopt/Kanda/Kono (Hrsg.), Economic regulation and competition, S. 118 f.

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3. Teil: Besonderer Teil

entsprechen funktional der bisher mehrfach von der Kommission eingesetzten „Amtlichen Mitteilung“,15 mittels der die Kommission den vom Rat gesetzten und von ihr nur vorbereiteten Rechtsakt mehr oder weniger authentisch interpretierte. Die Ermächtigung zur Erlassung von Durchführungsmaßnahmen gibt der Kommission nunmehr eine klare Kompetenz, zudem leistet sie nicht nur einen Auslegungsvorschlag, sondern erläßt eine verbindliche Regelung, um Regelungsspielräume zu konkretisieren. 3.

Die Rolle von CESR bei Normsetzung und -auslegung

Die im Jahr 2001 etablierten Ausschüsse, nämlich der EU-Wertpapierausschuß (European Securities Comitee – ESC) 16 und der Ausschuß der EU-Wertpapierregulierungsbehörden (Comitee of European Securities Regulators – CESR) 17 werden auf den ersten drei Ebenen in den Regelungsprozeß einbezogen. Die Rolle von CESR 18 spielt gerade auch für die Auslegung des europäischen Kapitalmarktrechts eine herausragende Rolle. Während der EU-Wertpapierausschuß, der vorwiegend aus hochrangigen Vertretern der Mitgliedstaaten zusammengesetzt ist, Beratungsfunktion auf der ersten und zweiten Regelungsebene ausübt, kommt dem Ausschuß der Wertpapierregulierungsbehörden (CESR), der aus Vertretern der nationalen Wertpapier- und Finanzmarktaufsichtsbehörden besteht, beratende Funktion auf der ersten, vor allem aber auf der zweiten Regelungsebene und schließlich vollziehende Funktion auf der dritten Regelungsebene zu. Auf der dritten Ebene soll CESR zur Sicherung der möglichst hohen Kohärenz des europäischen Kapitalmarktrechts Empfehlungen zu Auslegungsfragen und Leitlinien für die Umsetzung bzw. Anwendung der allgemeinen Rahmenrichtlinien der konkreten Durchführungsmaßnahmen erarbeiten, zusätzlich soll er gemeinsame Standards etablieren, sofern keine gemeinsamen Rechtsvorschriften bestehen. Auf der vierten Stufe des Regelungsregimes soll schließlich die Kommission um eine effiziente Durchsetzung der kapitalmarktrechtlichen Regelungen bemüht sein, indem eine enge Kooperation der Wertpapieraufsichtsbehörden ebenso angestrebt wird wie eine effiziente sonstige Sanktionierung der Regelung. Von herausragender Bedeutung für die Auslegung des derart mehrschichtig aufgebauten europäischen Kapitalmarktrechts ist somit die Aufgabenstellung von CESR, des Ausschusses für Wertpapierregulierungsbehörden. Diese massive Einbindung des Ausschusses der Wertpapierregulierungsbehörden zeigt die Verlagerung der Regelungskompetenz von politischen Vertretern hin zu Experten, was einerseits eine Erhöhung fachlicher Kompetenz und auch Flexibilisierung des Regelungsprozesses 15 Vgl. etwa die Mitteilung der Kommission zur zweiten Bankrechtsrichtlinie v. 15.12.1989. ABl. L 386 v. 30.12.1989. 16 2001/528/EG: Beschluß der Kommission v. 6.6.2001 zur Einsetzung des Europäischen Wertpapierausschusses, ABl. 2001 L 191/45. 17 2001/527/EG: Beschluß der Kommission v. 6.6.2001 zur Einsetzung des Ausschusses der europäischen Wertpapierregulierungsbehörden, ABl. 2001 L 191/43. 18 Docters van Leeuwen, European Company Law, 2005, 9 ff.

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bewirken kann,19 was gerade bei speziellen Aufsichtsfragen im Grundsatz gerechtfertigt ist; aber auch dort kann die zu hohe Detailliertheit und Kasuistik der Regelungen, die vielfach in Kompromissen enden, hemmende Wirkung haben. Zugleich markiert diese prominente Stellung der mit Experten besetzten Ausschüsse eine dramatische Zuspitzung der Regelungsdominanz von zum Teil eng ausgerichteten Sachverständigen, somit zu einer Regelung von fachlich hochspezialisierten Insidern,20 die vielfach den Markt durch die Brille des Aufsehers beobachten.21 Zudem besteht die Gefahr, daß die starke Einbindung von Aufsehern und Regulatoren in den Rechtssetzungsprozeß die Zahl und Dichte der Regelungen jedenfalls erhöht.22 Die Verschiebung der Verabschiedung der Ausführungsnormen der MiFiD sowie der Umsetzung in nationales Recht bis ins Jahr 2007 zeigen diese Problematik deutlich. Zwar wird von CESR im Stadium der Erarbeitung und Beratung der einzelnen Durchführungsmaßnahmen ein hoher Grad an Einbindung der gesamten Praxis und interessierten Öffentlichkeit durch umfangreiche elektronisch gestützte Konsultationsverfahren herbeigeführt, die ein hohes Maß an Publizität und Transparenz des Willensbildungsprozesses im Vergleich zu sonstigen Verfahren bewirken.23 Vielfach ist dieser Schub an Publizität und Transparenz im Normwerdungsprozeß aber bloß ein scheinbarer und führt die komplexe Regelsetzungsstruktur dazu, daß außenstehende Rechtsanwender und Interessierte einen klaren Informationsnachteil haben und daher Regelungen nur sehr schwer auf ihren tatsächlichen normativen Gehalt ausloten können.24 Gerade die Fragen der Regelungstechnik und -gestaltung sollen nunmehr noch einmal vertieft überprüft werden (vgl. vorne 1). 4.

Besonderheiten für die Interpretation der Normen

Bislang wurden nach dem neuen Vierstufen-Regelungsverfahren (Lamfalussy-Verfahren) die Marktmißbrauchsrichtlinie,25 die Prospektrichtlinie,26 die Richtlinie für 19 Ferrarini, Contract Standards and the Markets in Financial Instruments Directive (MiFID): an assessement of the Lamfalussy regulatory architecture (ILF working paper series nr 39) 12; CESR, The European regime of investor protection: The harmonisation of business rules, April 2002, 3; Ferrarini, ERCL 2005, 19, 27 ff. 20 Krit. Zimmer, BKR 2004, 420: „Die Experten übernehmen“; ferner Hopt, Diskussionsbeitrag beim Symposion der deutsch-griechischen Juristenvereinigung, Europäisches Wirtschaftsrecht im Umbruch am 2.7.2004 in Hamburg. 21 Zahlreiche expert comitees und subgroups von CESR werden aber nicht nur aus Angehörigen der Kapitalmarktaufsichtsbehörden, sondern auch aus Praktikern (Marktteilnehmern) zusammengesetzt. 22 Vgl. nur Zimmer, BKR 2004, 420. 23 Ferran, Building an EU-securities market, S. 82; Kalss, in: Basedow/Baums/Hopt/Kanda/Kono (Hrsg.), Economic regulation and competition, S. 117; Schmolke, Der Lamfalussy-Prozess, NZG 2005, 916. 24 So auch Hopt, Diskussionsbeitrag beim Symposion der deutsch-griechischen Juristenvereinigung am 2.7.2004 in Hamburg. 25 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003 über InsiderGeschäfte und Marktmanipulation (Marktmißbrauch), ABl. 2003 Nr. L 96/16. 26 Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 4.11.2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. 2003 Nr. L 345/64.

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Märkte von Finanzinstrumenten (vormals Wertpapierdienstleistungsrichtlinie) 27 und schließlich zuletzt die Transparenzrichtlinie 28 in Kraft gesetzt. Die meisten im Folgenden angeführten Beispiele stammen aus der Marktmißbrauchsrichtlinie, was sich einfach daraus erklärt, daß diese als erste gemäß dem Komitologieverfahren in Kraft gesetzt wurde und auch bereits in nationales Recht umgesetzt ist. Die Prospektrichtlinie ist bis zum Juli 2005 in nationales Recht umzusetzen, so daß die Fragen erst unmittelbar anstehen. Die Komplexität des Regelungsgeflechts zeigt sich etwa dadurch, daß die Marktmißbrauchsrichtlinie als Rahmenrichtlinie von drei Durchführungsrichtlinien 29 und einer Durchführungsverordnung 30 ergänzt wird und diese Ausführung der Normen der Kommission von einer Vielzahl vorbereitender und Beratungstexte von CESR begleitet wird. Allein dieser mehrschichtige Aufbau und die vielen begleitenden Unterlagen zeigen die neue Dimension des Kapitalmarktrechts. Welche Besonderheiten ergeben sich nun – abgesehen von den eben genannten Schwierigkeiten – aus diesem besonderen Rechtssetzungsregime für die Auslegung kapitalmarktrechtlicher Bestimmungen? a) CESR wurde gerade auch zu dem Zweck geschaffen, eine einheitliche Auslegung der kapitalmarktrechtlichen Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU sicherzustellen. In diesem Bereich wurde somit zur Sicherstellung einer einheitlichen Auslegung eine eigenständige Einrichtung etabliert, die Auslegungsaufgaben zu erfüllen hat, was sowohl auf der zweiten Ebene und explizit auf der dritten Ebene des Normsetzungsprozesses verwirklicht wird. Offenbar wird für den Kapitalmarkt und das Kapitalmarktrecht die Einheitlichkeit des Regelungsverständnisses aufgrund des hohen transnationalen Handelsvolumens und des Verflechtungsgrads

27 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates, ABl. 2004 Nr. L 145/1. 28 Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. 2004 Nr. L 390/38. 29 Richtlinie 2004/72/EG der Kommission v. 29.4.2004 zur Durchführung der Richtlinie 2003/ 6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates – Zulässige Marktpraktiken, Definition von Insider-Informationen in Bezug auf Warenderivate, Erstellung von Insider-Verzeichnissen, Meldung von Eigengeschäften und Meldung verdächtiger Transaktionen, ABl. 2004 Nr. L 162/70; Richtlinie 2003/124/EG der Kommission vom 22.12.2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/ 6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Begriffsbestimmung und die Veröffentlichung von Insider-Informationen und die Begriffsbestimmung der Marktmanipulation, ABl. 2003 Nr. L 399/70; Richtlinie 2003/125/EG der Kommission v. 22.12.2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die sachgerechte Darbietung von Anlageempfehlungen und die Offenlegung von Interessenkonflikten, ABl. 2003 Nr. L 399/73. 30 Verordnung 2273/2003/EG der Kommission v. 22.12.2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates – Ausnahmeregelungen für Rückkaufprogramme und Kursstabilisierungsmaßnahmen, ABl. 2003 Nr. L 336/33.

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zumindest von Teilbereichen (Wertpapiermärkte, Abwicklung etc) für so wichtig erachtet, daß die Auslegung nicht allein den Rechtsunterworfenen, sondern zusätzlich einem europaweit wirkenden Gremium überantwortet wird. b) Die Regelungstechnik zwingt den Anwender sowohl zur Zusammenschau und stimmigen Auslegung von mehreren Rechtstexten auf europäischer Ebene als auch auf nationaler Ebene, worin allein schon eine Komplizierung des Auslegungsprozesses und der Anwendung der Regelungen verbunden ist. Die nationalen Texte sind nicht allein auf ihre Europakonformität 31 zu überprüfen, zudem ist Sekundärrecht nicht allein am Primärrecht zu messen.32 Vielmehr wird eine eigene Stufe der Auslegung eingezogen, nämlich die Überprüfung der Konformität der DurchführungsRL bzw. -VO mit der RahmenRL, um den normativen Gehalt auszumessen. c) Die mehrfache Einbindung von CESR in den Regelungsprozeß, vor allem auf der zweiten Regelungsebene sowie auf der dritten Ebene, führen in der Realität zu einer Explosion von Dokumenten, Unterlagen und Materialien, die aufgrund der technischen Möglichkeiten (Download im Internet) dem Rechtsunterworfenen zwar relativ einfach zugänglich (ausgedruckt als Halbmeterstöße) sind, ihn aber vor die schwierige Aufgabe stellen, diese Informationsflut zu strukturieren und zu bewältigen, um sie sinnvoll für die Auslegung der kapitalmarktrechtlichen Normen verwenden zu können (mangelnde Transparenz wegen Informationsfülle). Diese Flut von Materialien ist vielfach nur für Experten verfaßt worden. Dem Außenstehenden fehlen vielfach die notwendigen Insiderkenntnisse, zum Teil replizierende oder absichtlich knapp gehaltene Erläuterungen und Erklärungen richtig deuten zu können. d) Zwei unterschiedliche Arten von Unterlagen von CESR, die der Auslegung auf der zweiten Ebene dienen, stehen zur Verfügung: 33 Advices 34 (Beratungsunterlagen über einzelne Fragen der geplanten Regelungen der Durchführungs RL bzw. Verordnung der Kommission) und Feedback Statements. Advices sind nicht als schlichte Erläuterungen der geplanten Regelungen konzipiert, sondern geben Antwort auf eine Vielzahl von Fragen, die rund um einzelne Bestimmungen und Tatbestände gestellt werden. Diese Advice-Dokumente, die im Laufe eines Rechtsetzungsverfahrens mehrfach in verschiedenen Stadien erarbeitet und offen gelegt werden, akzentuieren die einzelnen Fragestellungen unterschiedlich, so daß auch die Qualität der Aussagen divergiert und der Nutzen für die konkrete Auslegung einer nationalen bzw. europarechtlichen Bestimmung unterschiedlich ist. Zwar sind die Advice-Dokumente chronologisch geordnet und legen offen, auf welchen Stand der geplanten Richtlinie oder Durchführungsmaßnahme sie sich beziehen; allerdings wird kein abschließendes vollständiges Schlußdokument, das alle erörterten Fragen zusammenfaßt, erstellt; vielmehr bleiben die Unterlagen Stückwerk.

31 32 33 34

Vgl. dazu W.-H. Roth, oben, § 11. Vgl dazu Leible, oben, § 6. Die Unterlagen sind unter: www.cesr-eu.org. abrufbar und sind chronologisch geordnet. Technical Advices beschäftigen sich mit einzelnen Spezialfragen.

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Feedback Statements sind die zusammengefaßten und ausgewerteten Antworten, die CESR im Rahmen der dem Rechtssetzungsakt vorgeschalteten Konsultationsverfahren erarbeitet; im Regelfall werden von CESR relativ präzise Fragen zu einzelnen Regelungsbereichen gestellt. Die Feedback Statements lassen die Autorenschaft der Antworten nicht mehr erkennen.35 Jedenfalls spiegelt sich aber die Diskussion wider und werden wesentliche Argumentationslinien erkennbar. Ein Feedback Statement bildet aber nicht den historischen Willen des Gesetzgebers ab, sondern gibt nur Einblick in die rechtspolitische Diskussion. Ein Advice von CESR stellt keine Erläuterung in dem Sinn dar, daß die Bestimmung vom Regelungsgeber selbst erläutert und erklärt wird, vielmehr bildet ein Advice den Meinungsstand der nationalen Regulierungsbehörden ab und verkörpert mit dem Feedback Statement den Succus der bearbeiteten und vereinheitlichten Antworten durch die Praxis. Aus den Unterlagen kann daher vor allem das Verständnis der kraft Gesetzes eingeschalteten Beratungsgremien ermittelt werden und kann vielfach, wenn nicht regelmäßig, auf eine Erarbeitung eines europäischen Verständnisses hingearbeitet werden, indem die Unterlagen zur Interpretation herangezogen werden. Es handelt sich dabei aber nicht um eine subjektiv historische Interpretation im engen eigentlichen Sinn, wonach die Überlegungen des Normgebers selbst zur Ermittlung des normativen Gehalts der Bestimmung herangezogen werden, vielmehr sind die CESR-Papiere Vorbereitungs- und sonstige Unterlagen, die die eine oder andere Konstellation derart aufhellen und illustrieren, so daß auch eine allgemeine Interpretation einer Bestimmung möglich wird. e) Ein Beispiel für die Bedeutung der Arbeit und Dokumente von CESR bildet etwa die Konkretisierung der meldepflichtigen Geschäfte von Führungskräften einer Gesellschaft. Gem. Art. 6 Abs. 4 der MarktmißbrauchsRL sind alle Eigengeschäfte mit Aktien bzw. gleichgestellten Wertpapieren des Emittenten von den Führungskräften der Wertpapieraufsichtsbehörde zu melden und dem Publikum offen zu legen. Nach Auffassung der Kommission sollten aber die Geschäfte, die im Rahmen von Dienstverhältnissen getätigt werden, von der Melde- und Offenlegungspflicht ausgeklammert werden. Eine Differenzierung, ob diese Transaktion im Zusammenhang mit einem Dienstverhältnis getätigt worden ist oder nicht, ist aber weder nach dem Regelungswortlaut geboten noch entspricht es dem Zweck der Offenlegungspflicht,36 soll doch gerade der Aktienerwerb bzw. die Disposition der Führungskräfte aus Anlaß von „Entgeltleistungen“ dem Markt offen gelegt werden.37 Entgegen der Kommission wandte sich CESR in den Stellungnahmen klar gegen die Ausklammerung von Aktienoptionsprogrammen und belegte damit wesentlich die Notwendigkeit der weiten Interpretation, was die Bedeutung dieser Unterlagen als Interpretationshilfe unterstreicht.38

35 Dies unterscheidet das Verfahren auch von nationalen Begutachtungsverfahren, bei denen seit geraumer Zeit jedenfalls in Österreich nicht bloß der Ministerialentwurf im Netz von der Homepage des jeweiligen Ministeriums abrufbar ist, sondern auch alle Stellungnahmen dazu. 36 Zum Zweck siehe Fleischer, ZIP 2002, 1217, 1220; Kalss/Zollner, GeS 2005, 106. 37 Siehe dazu Kalss/Zollner, GeS 2005, 106, 110 f. 38 Vgl. Empfehlung Nr. 39 des advice for the market abuse directive on the second level, CESR/ 03-212c, 16; Empfehlung Nr. 80 des Feedback Statement, CESR/03-213b, 15.

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Ein weiteres Beispiel für die Notwendigkeit der Berücksichtigung der vorbereitenden Unterlagen von CESR liegt etwa im Begriff der Auslegung der sonstigen Führungskraft gem. Art. 6 Abs. 4 der MarktmißbrauchsRL. Nach § 48d Abs. 4 BörseG bzw. Art. 6 Abs. 4 der ersten DurchführungsRL haben nicht nur Organmitglieder des Emittenten, sondern auch sonstige geschäftsführende Führungskräfte, die die Befugnis haben, unternehmerische Entscheidungen über zukünftige Entwicklungen und Geschäftsperspektiven im Unternehmen zu treffen und auch regelmäßig Zugang zu Insiderinformation haben, die Geschäfte mit Aktien der Gesellschaft offen zu legen. Gerade aus den Unterlagen von CESR ist zu erkennen, daß damit tatsächlich nur Personen mit eigenständigen unternehmerischen Tätigkeiten erfaßt werden sollen.39 Nach europäischem Verständnis ist der Begriff der sonstigen Führungskraft eng zu verstehen.40 Aus den Konkretisierungen in den Unterlagen von CESR ergibt sich für die Bestimmung von Art. 6 Abs. 4 klar ein europäisches Verständnis,41 wonach tatsächlich primär nur Organmitglieder erfaßt werden sollen. Nur in wenigen Ausnahmefällen, in denen sonstigen Führungskräften tatsächlich dieser eigenständige Entscheidungsspielraum zukommt, sollten diese ebenfalls dem Directors’ Dealings unterworfen werden. Als möglicher Beispielsfall kann der Geschäftsführer nach schwedischem Recht genannt werden, der in eigener Verantwortung unternehmerische Entscheidungen zu tätigen hat.42 f) Die Vorbereitungs- und Beratungsunterlagen von CESR sind Unterlagen eines Gremiums, dem selbst gerade nicht Gesetzgebungskompetenz, sondern bloß die – zweifellos wichtige – Begleitfunktion zukommt, so daß die Unterlagen (advices und feedback statements) zwar vielfach instruktiv und weiterführend, sie aber wegen der Verschiedenheit von Regelgeber und Verfasser der Unterlagen nur in begrenztem Maß einsetzbar sind. Ein Beispiel aus der Marktmißbrauchsrichtlinie soll dies veranschaulichen: Nach § 48d Abs. 4 BörseG sind alle Geschäfte der Führungskräfte offenlegungspflichtig. Der Zweck der Regelung spricht aber ebenso wie die systematische Einbettung dafür, daß bloß entgeltliche Geschäfte der Offenlegung unterworfen werden sollen; ganz deutlich weist auch der Wortlaut gem. Art. 6 Abs. 4 der englischen Fassung der RL und der Durchführungs RL in diese Richtung. Schenkungen oder Erbschaften als typisch unentgeltliche Geschäfte sind für den Erwerber risikolos und er wird sie daher jedenfalls annehmen. Es wird somit bei deren Erwerb kein Signal an den Markt gegeben, weshalb die Offenlegung nicht zweckgerecht ist, sondern sogar irreführend sein könnte.43 CESR argumentiert hingegen – unter Hinweis auf Umgehungsmöglichkeiten – genau in die gegenteilige Richtung.44 Darin zeigt sich, daß die Dokumente von CESR eben nur als ein wichtiger Baustein der Ausle-

39 Empfehlung Nr. 40 des Advice for the market abuse directive on the second level, CESR/ 03-212c, 16 (the material responsabilities). 40 Kalss/Zollner, GeS 2005, 106, 108 f. 41 Vgl. CESR Pkt. 79 des Feedback Statement, CESR/03-213b, 15. 42 Vgl. Art. 43 Abs. 1 Verordnung 2001/2157 des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2000 Nr. L 294/1. 43 Kalss/Zollner, GeS 2005, 106, 110; von Buttlar, BB 2003, 2133, 2137. 44 CESR Empfehlung Nr. 80 des Feedback Statements CESR/03-213b, S. 15.

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3. Teil: Besonderer Teil

gung herangezogen werden können; daß aber die Meinung der Aufsichtsbehörden bzw. konsultierten Praxis durchaus auch fehlliegen kann, was bei Verwertung der Unterlagen stets im Auge zu behalten ist. g) Die Durchführungsrichtlinien sind von unterschiedlichem Determinierungsgrad; zum Teil wiederholen sie faktisch den Text der RahmenRL, die ihrerseits schon sehr – zum Teil zu – detailliert ist,45 zum Teil sind sie derart gestaltet, daß sie beispielhaft aufzählen, was unter bestimmten Formulierungen der RahmenRL zu verstehen ist. Als Beispiel sei etwa der Begriff der „berechtigten Interessen“ gem. Art. 1 bzw. 2 der MarktmißbrauchsRL im Rahmen der Ad-hoc-Publizität genannt, die den Emittenten berechtigen, eine Insiderinformation nicht sofort zu veröffentlichen. Aus der zusätzlichen Ebene auf europäischer Ebene ergibt sich für den nationalen Gesetzgeber eine neue Form der Umsetzung. Wegen des weiter fortgeschrittenen Determinierungsgrades der Durchführungsbestimmungen verbleibt für den nationalen Gesetzgeber vielfach – abgesehen von ausdrücklichen Regelungsermächtigungen bzw. Aufträgen 46 – beinahe kein Regelungsspielraum. Die nationalen – etwa der österreichische – Gesetzgeber begnügen sich vielfach mit der wortwörtlichen Übernahme der europäischen Normtexte, ohne auf den nationalen Kontext einzugehen, dh ohne die Systematik der nationalen Gesetze, die Terminologie des nationalen Rechts, den bisherigen Regelungsbestand und das sonstige Regelungsumfeld in angemessener Weise zu berücksichtigen.47 Dies führt dazu, daß die nationalen Regelungen, die zum Teil tatsächlich bloße Abschreibübungen der europäischen Durchführungsnormen sind, bisweilen für das nationale Recht „überschießend“ sind und daher jeweils den nationalen Gegebenheiten entsprechend einschränkend interpretiert werden müssen. Die Besonderheit liegt dabei nicht in der Art der Interpretationstechnik, vielmehr in der unangemessenen Umsetzung, die zum Teil auch durch die mehrstufige Regelungstechnik gefördert wird. Als Beispiel dieser mangelnden Einpassung in den nationalen Normenkontext mag noch einmal – nunmehr unter einem anderen Blickwinkel – der Begriff der sonstigen Führungskräfte gem. § 48 d Abs. 4 BörseG herangezogen werden. Die Einschränkung der Offenlegungs- und Meldepflicht auf Organmitglieder von österreichischen – sowie auch deutschen – Gesellschaften ergibt sich nicht bloß aus der europarechtlichen Auslegung mit Hilfe der CESR-Dokumente, sondern auch aus einer systematischen Interpretation der Kompetenzzuweisung in österreichischen oder deutschen Aktiengesellschaften, in denen allein dem Vorstand Leitungskompetenz und damit die Befugnis der strategischen Ausrichtung und der unternehmerischen Entscheidungsführung zukommt, die er zum Teil mit dem Aufsichtsrat teilt.48 Sonstige Einrichtungen bzw. Personen mit der Befugnis zu unternehmerischen Entscheidungen anerkennen das österreichische bzw. deutsche Aktienrecht nicht, woraus folgt, daß Führungskräfte im Sinne der Richtlinie nur Organmitglieder sein können.

45 Krit. Ferrarini, ECLR 2005, 19, 27 ff. 46 Vgl. etwa Art. 6 der MarktmißbrauchsRL bezogen auf den Zeitpunkt der Mitteilung einer aufgeschobenen Ad-hoc-Publizität gegenüber der Aufsichtsbehörde. 47 Vgl. krit. Kalss/Oppitz/Zollner, Österreichisches Kapitalmarktrecht § 14 Rz 32. 48 Vgl. auch MünchKommAktG-Hefermehl/Spindler, § 76 Rn. 18; Kalss/Zollner, GeS 2005, 104, 109.

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§ 16 Europäisches Kapitalmarktrecht

5.

CESR – Dritte Regelungsebene

Abschließend sei noch auf die Rolle von CESR bei der Vollziehung hingewiesen. Generell hat CESR auf der dritten Ebene dafür zu sorgen, konsistente Anwendungsleitlinien für die Verhaltenspflichten auf nationaler Ebene zu erstellen, Empfehlungen für eine gemeinschaftsweite Interpretation und gemeinsame Standards 49 für Bereiche, die noch nicht explizit geregelt sind,50 zu erlassen, Regulierungs- und Vollziehungspraktiken zu vergleichen und zu überprüfen, um eine effektive Durchsetzung in der gesamten Gemeinschaft sicherzustellen und best practice zu definieren.51 CESR ist ermächtigt, Empfehlungen für die Vollziehung von einzelnen Durchführungsbestimmungen zu erteilen. Während auf der zweiten Ebene CESR bloß einen Rat (Advice) an die Kommission erteilt bzw. die Antworten aus der Praxis aufbereitet und derart auf den Regelungsvorgang einwirkt, kommt ihm auf der dritten Regelungsebene keine Mitwirkungsbefugnis unmittelbar bei einem Rechtsetzungsvorgang zu, vielmehr hat er bereits in Kraft gesetzte Normen zu interpretieren und dadurch zu konkretisieren. Vergleichbar ist diese Aufgabe mit der innerstaatlichen Befugnis, allgemeine Erlässe zur Konkretisierung von Gesetzen zu veröffentlichen; besonders häufig spricht dies etwa im Abgabenrecht eine Rolle.52 Noch näher als die Erlässe von Ministerien stehen die Richtlinien bzw. Empfehlungen, die die nationalen Aufsichtsbehörden zur Auslegung bestimmter Regelungsbereiche erlassen.53 CESR steht somit mit dieser Rolle grundsätzlich parallel zu den Rechtsanwendern; seine Aufgabe gibt ihm aber faktisch rechtsetzende Leitfunktion,54 zumal sich diese Auslegungsvorgaben gerade an die nationalen Aufsichtsbehörden richten. Zwar sind die Marktteilnehmer, dh die Rechtsunterworfenen, nicht die unmittelbaren Adressaten der Empfehlungen von CESR, die Normierungsfunktion folgt aber ganz entscheidend aus der ausdrücklich angeordneten und gerade intendierten Publizität der internen Anleitungen und der damit einhergehenden Vorhersehbarkeit

49 Vgl. CESR-Standard: European Regime of Investor Protection the Harmonisation of Contact of Business Rules, 9.4.2002 REF CESR/01-014d, www.europefesco.org; siehe dazu Birnbaum/Kittelberger, WM 2002, 1911. 50 Ein weiteres Beispiel bilden etwa Standards zum Enforcement von Rechnungslegungsbestimmungen. 51 CESR, Consultation paper, the role of CESR at level 3 under the Lamfalussy-Process, CESR/ 04 ~104b, www.cesr-eu.org. 52 Vgl. dazu Wiesner, in: Lang/Schuch/Staringer (Hrsg.), Soft Law in der Praxis, S. 79; ein historisches Beispiel in Österreich bildet das Aktienregulativ 1899, das als Verwaltungsverordnung das Aktienrecht des AHGB 1861 konkretisierte, indem es den Verwaltungsorganen der Konzessionsbehörden die Vorgaben machte, ob und unter welchen Voraussetzungen der Satzungsgestaltung der Aktiengesellschaften die Konzession zu erteilen wäre; vgl. dazu Kalss/Burger/Eckert, Die Entwicklung der österreichischen Rechts, S. 245 ff.; Kalss/Burger, GesRZ-Sonderheft 2002, 51ff. 53 In Österreich: FMA, Mindeststandard für die Information der Pensionskassen an Leistungsund Anwartschaftsberechtigte; in Deutschland: BAFin, Richtlinie gem § 35 Abs. 6 des Gesetzes über den Wertpapierhandel zur Konkretisierung der §§ 31 und 32 WpHG für das Kommissionsgeschäft, den Eigenhandel für andere und das Vermittlungsgeschäft der Wertpapierdienstleistungsunternehmen. 54 Ferran, Building an EU Securities Market, S. 100.

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3. Teil: Besonderer Teil

und Planungssicherheit für die Rechtsunterworfenen.55 Gerichte sind daran bei einer nachfolgenden bzw. endgültigen Beurteilung ebensowenig gebunden wie an nationale verwaltungsinterne Erlässe oder Richtlinien.56 Dabei darf CESR nicht über die in der Rahmen- bzw. DurchführungsRL bzw. -VO gesetzten Regelungsrahmen hinausgehen und etwa zusätzliche Kriterien verlangen.57 Als Beispiel einer derartigen Empfehlung sei die Recommandation zur konsistenten Anwendung der DurchführungsVO zur ProspektRL genannt, in der die inhaltlichen Angaben für Prospekte, wie sie die Durchführungs VO sowie die ProspektRL vorsehen, beispielhaft konkretisiert werden. Diese Recommandation hat nur klarstellende Funktion, sie dient der Auslegung und Konkretisierung der allgemein gehaltenen Begriffe in den verschiedenen Regelwerken. Zwar ist die Empfehlung nicht verbindlich, jedenfalls kommt ihr aber hohe Präjudizwirkung zu und muß ein Abgehen von dieser interpretativen Leitlinie von einem Rechtsunterworfenen überzeugend begründet werden.

III.

Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittmaterie

1.

Öffentliches – Privates Recht

Kapitalmarktrecht bildet – wie bereits erwähnt – eine Gemengelage und eine Querschnittsmaterie aus einer Vielzahl unterschiedlicher Rechtsbereiche, die nach traditioneller Sichtweise einerseits eher dem öffentlichen (regulativen) Recht, andererseits eher dem Privatrecht zugeschlagen werden.58 Elemente finden sich aus dem Verwaltungsrecht, dem Wirtschaftsverwaltungsrecht, Privatrecht und Gesellschaftsrecht.59 Bei einem Vergleich einzelner Regelungsinstitute ist stets darauf zu achten, daß die Steuerungsinstrumente Privatrecht und Öffentliches Recht in unterschiedlichem Maß eingesetzt werden.60 Nicht zufällig spricht man in einzelnen Regelungsbereichen von der Zwitter- oder Mehrfachstellung einzelner Instrumente.

2.

Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur

Als typisches Beispiel eines Instruments, das einer doppelten Rechtsnatur folgt, sind die Wohlverhaltensregeln (Art. 11 WertpapierdienstleistungsRL; §§ 31ff. WpHG;

55 Siehe dazu Kalss/Burger, GesRZ-Sonderheft 2002, 51, 55 f., 60 f. 56 Siehe dazu etwa Assmann/Schneider-Koller, § 35 Rn. 6. 57 Siehe etwa deutsches Aktieninstitut, Response to the consultation paper related to the role of CESR at level 3 under the Lamfalussy-process, CESR/04-104b, www.dai.de; siehe ferner Fischer zu Cramburg , AG 2005, R114 f. 58 Vgl. zu dieser Teilung Köndgen, oben, § 4. 59 Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien, S. 194; Gruber, in: Koppensteiner (Hrsg.), Österreichisches und europäisches Wirtschaftsprivatrecht, Teil IV, S.10; Klenke, WM 1995, 1089, 1092. 60 Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien, S. 194; Dallo, Das Verhältnis der öffentlichrechtlichen und privatrechtlichen Bestimmungen im Schweizer Anlagefondsrecht, S. 49.

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§§ 13 ff. österreichisches WertpapieraufsichtsG) für Wertpapierdienstleistungsunternehmen (Wertpapierfirmen nach der WertpapierdienstleistungsRL) zu nennen, die einerseits öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtliche Verhaltensnormen verkörpern, zugleich aber auch als Ausdruck des privatrechtlichen vertraglichen bzw. vorvertraglichen Schuldverhältnisses (Geschäftsbesorgungsvertrag als zentrales Verbindungsglied) anzusehen sind.61 Der öffentlich-rechtliche Charakter der Wohlverhaltensregelungen wird durch einen CESR-Standard über die Berichtspflicht von schwerwiegenden Verstößen gegen Verhaltensregeln von Wertpapierdienstleistungsunternehmen untermauert.62 Während diese Doppelseitigkeit der Rechtsnatur der Wohlverhaltensregeln nach österreichischem Verständnis ziemlich eindeutig ist, und durch § 15 WAG, der ausdrücklich einen Schadenersatzanspruch bei Verletzung der Wohlverhaltensregeln vorsieht und zusätzlich eine Haftausschlußklausel enthält, noch unterstrichen wird, ist die privatrechtliche Seite der Wohlverhaltensregeln in anderen Ländern nicht von dieser Klarheit.63 Zum Teil wird geradezu umgekehrt der alleinige aufsichtsrechtlich-öffentliche Charakter der Wohlverhaltensregeln hervorgekehrt, wie etwa das englische Recht gem. Section 150 FSMA zeigt. Das englische Recht schließt die privatrechtliche Seite der Regelung aus und statuiert explizit, daß sich ein Anleger auf die Verletzung dieser Regelung nicht berufen könne, sondern diese bloß das Verhältnis zwischen dem Marktteilnehmer und der Aufsichtsbehörde regeln.64 Zwar wird auch nach deutschem Recht zum Teil vertreten, daß den Wohlverhaltensregelungen ausschließlich öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtlicher Charakter zukomme und die Durchsetzung ausschließlich Angelegenheit der Aufsichtsbehörde (BAFin) sei.65 Die überwiegende Lehre anerkennt aber zumindest eine Ausstrahlungswirkung auf das privatrechtliche Verhältnis,66 auch wenn die Wohlverhaltensregelungen selbst eindeutig nur als gesetzliche Regelungen mit ausschließlich oder vorwiegend Aufsichtscharakter gesehen werden.67 Der Ausstrahlungswirkung der Wohlverhaltensregelungen 68 wird dadurch Rechnung getragen, daß die §§ 31f. WpHG als Konkretisierungen des Rechtsgedankens von Geschäftsbesorgungsverträgen gem. § 675 BGB und § 383 HGB angesehen werden. Nur die Konkretisierung des Rechtsgedankens wird anerkannt, hingegen wird nicht angenommen, daß die Wohlverhaltenspflichten eine Konkretisierung der ohnehin

61 Frölichsthal/Hausmaninger/Knobl/Oppitz/Zeipelt-Knobl, § 11 Rn. 1ff.; Knobl, ÖBA 1997, 3 ff.; Winternitz-Winternitz, § 11 Rn. 1; Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien S. 194. 62 Vgl. CESR-Standard: European regime of investor protection the harmonisation of contact of business rules, 9.4.2002 REF CESR/01-014d, www.europefesco.org; siehe dazu Birnbaum/Kittelberger, WM 2002, 1911. 63 Siehe dazu ausführlich Tison, in: Ferrarini/Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets in the Age of the Euro, S. 77 f. 64 Tison, in: Ferrarini/Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets in the age of the Euro, S. 78. 65 Bliesener, Aufsichtsrechtliche Verhaltenspflichten beim Wertpapierhandel, S. 140 ff. 66 Schäfer-Schäfer, Vor § 31 WpHG, Rn. 8; Assmann/Schneider-Koller, Vor § 31 Rn. 17; Ebenroth/ Boujong/Joost-Grundmann, HGB, BankR VI Rn. 184. 67 Lang, Informationspflichten bei Wertpapierdienstleistungen, S. 215 ff.; Bliesener, Aufsichtsrechtliche Verhaltenspflichten beim Wertpapierhandel, S. 140 ff.; Assmann/Schneider-Koller, Vor § 31 Rn. 17. 68 Assmann/Schneider-Koller, Vor § 31 Rn. 19; Balzer, ZBB 1997, 260, 167.

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bestehenden vertraglichen bzw. vorvertraglichen Aufklärungs- und Beratungspflichten darstellen.69 Dogmatisch wird der Weg beschritten, daß die §§ 31f. WpHG als Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB qualifiziert werden.70 Nach österreichischem Verständnis bilden die Wohlverhaltensregeln nicht bloß aufsichtsrechtliche Bestimmungen mit Schutzgesetzcharakter, sondern sind Bauelemente des jeweiligen vertraglichen oder vorvertraglichen Rechtsverhältnisses.71 Umgekehrt anerkennt aber ein Teil der deutschen Lehre auch bereits für die Wohlverhaltensregelungen nach der WertpapierdienstleistungsRL einen starken vertragsrechtlichen Charakter, der durch die Wohlverhaltensregelungen der Richtlinie für Märkte von Finanzinstrumenten (MiFiD) 72 noch verstärkt wird.73 Ein weiteres Beispiel für die Zwitter- bzw. Doppelstellung von kapitalmarktrechtlichen Regelungen bilden die Bestimmungen über die Informationserteilung und die entsprechenden Dokumentationspflichten für Versicherungsvermittler, die in Umsetzung der VersicherungsvermittlerRL in Kraft gesetzt wurden. Gem. §§ 137 ff. GewO haben Versicherungsvermittler Informations- und spezielle Dokumentationspflichten einzuhalten, die auch verwaltungsstrafrechtlich sanktioniert werden. Zugleich sind sie aber auch Ausfluß der vertragsrechtlichen Beziehung und der damit einhergehenden Sorgfalts- und Schutzpflichten des Versicherungsvermittlers.74 Die Etablierung dieser eigenständigen Informationspflichten der Verwalter führt etwa dazu, daß nicht nur das Versicherungsunternehmen, sondern auch der bloße Verhandlungsgehilfe in Pflicht genommen wird und auch zur Haftung herangezogen werden kann.75 Jedenfalls kann aber auch auf sie die Aufsichtsbehörde unmittelbar zugreifen.76 Weiters lassen sich die in Art. 9 der PensionsfondsRL sowie § 19 PKG statuierten expliziten Informationspflichten des Arbeitgebers nennen, die durch einen Mindeststandard der Finanzmarktaufsicht 77 konkretisiert werden und

69 Assmann/Schneider-Koller, Vor § 31 Rn. 19; Balzer, ZBB 1997, 260, 167. 70 Assmann/Schneider-Koller, Vor § 31 Rn. 17; Hopt, ZHR 159 (1995), 135, 160; Schäfer-Schäfer, Vor § 31 WpHG Rn. 8. 71 So ausdrücklich der Gesetzgeber zum WAG; Knobl, ÖBA 1997, 783, 784. 72 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates, ABl. 2004 L 145/1. 73 Mülbert, The eclipse of contract law in the investment firm client relationship, paper presented at the Milan-Conference on investor protection and capital markets integration in Europe, 11. – 12. November 2004, zitiert nach Ferrarini, Contract standards and the markets in financial instruments directive (MiFiD): An assessment of the Lamfalussy regulatory architecture; Institute for Law and Finance (ILF working paper series nr. 39), S. 3 f.; Ferrarini, ERCL 2005, 19, 22 f.; Ferrarini selbst sieht dies eher gegenteilig. 74 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht § 1 Rz 105, § 7 Rz 12, 38, 42 f.; siehe allg. ausdrücklich EB 616 BlgNR 22.GP 12, 13 (Gewerbenovelle 2004). 75 Schauer, in: Fenyves/Koban/Schauer (Hrsg.), Die Versicherungsvermittlungs-Richtlinie, S. 77 f.; Fenyves, FS Kolhosser, Bd. I, S. 111; Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht § 7 Rz 37 ff. 76 Zur Doppelnatur der Aufklärungspflichten Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien, S. 194; Schwintowski, FS Männer, S. 384 f. 77 FMA-Mindeststandard für die Information von Pensionskassen an Anwartschaft- und Leistungsberechtigte vom 1. Jänner 2005, abrufbar unter www.fma.gv.at.

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unter diesem Aspekt klar als öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtliche Bestimmungen zu deuten sind. Bereits vor Inkraftsetzung dieser Regelungen und der Konkretisierungen durch die Aufsichtsbehörde wurde aber schon aus dem Vertrags- bzw. Schuldverhältnis der hohe Standard an Informations- und Aufklärungspflichten abgeleitet.78 Wiederum zeigt sich, daß hier allgemeine vertragliche Schutz- und Sorgfaltspflichten in Gestalt besonderer Informations- und Aufklärungspflichten bestehen, die vertragsrechtlich zu sanktionieren sind, dh jedenfalls zu Haftungsansprüchen führen können, umgekehrt zugleich eine aufsichtsrechtliche Komponente den Pflichten innewohnt und deren Verletzung zu aufsichtsrechtlichen und auch verwaltungsstrafrechtlichen Maßnahmen berechtigt.

3.

Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur

Die verschiedene Qualifikation der Wohlverhaltensregelungen hat unterschiedliche Auswirkungen auf das Verständnis der Wohlverhaltensregelungen, ihre unmittelbare Inanspruchnahmemöglichkeit durch den einzelnen Anleger und letztlich auch auf die Auslegung dieser Normen. Einigkeit besteht jedenfalls darüber, daß das Aufsichtsrecht und das Privatrecht nicht auseinander laufen sollen; 79 für die Sanktionierung sind die Wege aber verschieden. Inwieweit wirkt sich nun diese zweifache Rechtsnatur auf die Gestaltung der zivilrechtlichen Position einerseits bzw. auf die Auslegung der jeweiligen Bestimmungen der Wohlverhaltensregeln aus?

4.

Vertragliche Regelungen

Betrachtet man die Wohlverhaltensregelungen tatsächlich als Ausdruck der vertraglichen und vorvertraglichen Pflichten, denen auch ein öffentlich-rechtlicher bzw. aufsichtsrechtlicher Charakter zukommt, sind sie jedenfalls als vertragsrechtliche Regelungen anzusehen und sind für den Zweck der Auslegung des Vertrags nach allgemeinen vertragsrechtlichen Grundsätzen heranzuziehen. Nach österreichischem Recht ist für die vertraglichen Regelungen vor allem § 914 ABGB anzuwenden, der seine Parallele in § 133 BGB hat, wonach der Wille der Vertragsparteien wesentliches Element der Auslegung darstellt.80 Wenn eine Regelung im Wortlaut der Vereinbarung keine Deckung mehr findet, ist auf die ergänzende Vertragsauslegung zurückzugreifen, dh es ist zu überlegen, was vernünftige Parteien – wären sie in Kenntnis der Situation – vereinbart hätten. Betrachtet man die vertraglichen oder vorvertraglichen Pflichten hingegen unter dem Brennglas des öffentlichen Rechts, ist auf sie der Kanon der Gesetzesinterpreta-

78 79 80

OGH v. 25.6.2003, ecolex 2003, 856 (ORF) sowie OGH v. 24.6.2004, 8 ObA 52/03k (BA-CA). Assmann/Schneider-Koller, Vor § 31 Rn. 19; Knobl, ÖBA 1995, 741, 742. Siehe nur Rummel-Rummel, § 914 Rn. 4.

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tion öffentlicher und insbesondere strafrechtlicher Normen anzuwenden. Maßgeblich ist nicht der Wille der Parteien, sondern allein der normative Gehalt der gesetzlichen Norm. Für dessen Ermittlung stehen die traditionellen öffentlich-rechtlichen Instrumente der Wortlautinterpretation, der historischen und systematischen Interpretation und mit gebotener Vorsicht auch der teleologischen Interpretation zur Verfügung. Allein aus der unterschiedlichen Zugänglichkeit der Interpretationstechniken können verschiedene Ergebnisse der Rechte- und Pflichtenkonkretisierung erzielt werden.

5.

Schutzgesetzcharakter von Normen

Betrachtet man die Wohlverhaltensregelungen gem. §§ 31f. WpHG als Schutzgesetze, ändert sich der Auslegungsmodus: Nicht mehr vertragliche, sondern gesetzliche Normen gilt es zu interpretieren, so daß nicht das Repertoire der Vertragsauslegung, sondern jenes der Gesetzesauslegung heranzuziehen ist, woraus divergierende Ergebnisse bei der Ausfüllung der konkreten Pflicht möglich sind. Bedeutender ist aber die Doppelqualifikation Schutzgesetz – öffentlich rechtliche Verhaltensnorm. Diese Parallele gilt auch bei anderen Schutzgesetzen im Rahmen kapitalmarktrechtlicher Regelungen. Beispiele für Schutzgesetze bilden etwa die Offenlegungspflichten für Emittenten nach dem BörseG, die in Umsetzung einzelner Richtlinien ergangen sind. Als Schutzgesetz genannt sei nach österreichischem Verständnis die Ad-hoc-Publizitätspflicht 81 gem. § 48d BörseG (idF BörseG-Novelle 2004, früher § 82 Abs. 6 BörseG), der Art. 6 MarktmißbrauchsRL umsetzt, und der die Offenlegung von Insiderinformationen, die einen Emittenten unmittelbar betreffen, anordnet. Nach deutschem Verständnis wird die Schutzgesetzqualifikation von § 15 WpHG abgelehnt.82 Ein weiteres Beispiel für ein Schutzgesetz stellt etwa das Verbot der Marktmanipulation gem. § 48 a BörseG (entspricht § 20 a WpHG) dar 83 sowie die Offenlegungspflicht der Stimmrechtsanteile durch einen Anleger gem. §§ 91 ff BörseG (Beteiligungspublizität – §§ 21ff. WpHG).84 Die Schutzgesetze sind im Regelfall kapitalmarktrechtliche Verhaltenspflichten, insbesondere Informations- und sonstige Pflichten von Emittenten oder deren Organen oder sonstigen Marktteilnehmern (Wertpapierdienstleistungsunternehmen), deren Verletzung in Österreich mit von der Finanzmarktaufsicht (FMA) zu verhängenden verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionen zu ahnden ist. In Deutschland hat das BAFin den Verstoß gegen die öffentlich-rechtlichen Verhaltenspflichten mit der Verhängung von Bußgeldern zu sanktionieren. Die kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten

81 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht § 19 Rz 12; Kalss/Oppitz, in: Hopt/Voigt (Hrsg.), Prospekthaftung und Kapitalmarktinformationshaftung, S. 857. 82 Vgl. nur Assmann/Schneider-Kümpel/Assmann, § 15 Rn. 268. 83 Oppitz, ÖBA 2005, 169; Kalss/Puck, in: Aicher/Kalss/Opitz (Hrsg.), Grundfragen des neuen Börserechts, S. 358; Altendorfer, in: Aicher/Kalss/Opitz (Hrsg.), Grundfragen des neuen Börserechts, S. 234. 84 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht § 19 Rz 40, 42; Kalss, ÖBA 1993, 918.

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stellen somit verwaltungsrechtliche Pflichten dar, die mit einer verwaltungsstrafrechtlichen Sanktion bzw. einem Bußgeld bewehrt sind.

6.

Gespaltene Interpretation

Der Zwitterstellung der kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten (Schutzgesetz – öffentlich-rechtliche Pflicht) ist bei der Auslegung dadurch Rechnung zu tragen, daß sie weder zur Gänze den allgemeinen zivilrechtlichen Auslegungsgrundsätzen unterliegen, noch allein der regelmäßig engeren Auslegung nach dem öffentlichen Recht. Insbesondere ist das im Verwaltungsstrafrecht geltende Analogieverbot nicht für die zivilrechtliche Auslegung zu übernehmen,85 vielmehr ist – ähnlich wie etwa im Kartellrecht – von einer gespaltenen Gesetzesauslegung auszugehen.86 Dies bedeutet, daß die Auslegung der zivilrechtlichen Verhaltenspflichten dem allgemeinen Bürgerlichen Recht folgt, soweit es um die Auslotung des Schutzgesetzes als Grundlage der Beurteilung von Haftungsfolgen geht. Unter dem Gesichtspunkt der verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionierung gelten die für das Verwaltungsstrafrecht geltenden methodologischen Restriktionen. Insbesondere bedeutet dies, daß die Methodenbeschränkung des Verbots der Analogie und einer extensiven Interpretation innerhalb der äußersten Wortlautgrenze zu Lasten des Täters zu berücksichtigen ist.87 Während für die Interpretation der verwaltungsstrafrechtlich sanktionierten Verhaltenspflichten somit im Lichte des öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtlichen Regimes das Analogieverbot ebenso wie die Grenze des äußert möglichen Wortsinns zu beachten sind, gelten diese Auslegungsgrundsätze nicht für die zivilrechtliche Pflicht einschließlich ihrer Absicherung durch Haftungsansprüche. Die Auslegung der zivilrechtlich abgesicherten Verhaltenspflichten folgt den bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen, insbesondere können auffüllungsbedürftige Gesetzeslücken durch Analogie beseitigt werden. Pflichten, die die Wohlverhaltensregeln widerspiegeln, können daher vor allem nach österreichischem Verständnis durch analoge Anwendung ausgedehnt werden. Die Zulässigkeit der analogen Anwendung beschränkt sich nicht nur auf die unmittelbaren kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten, sondern schließt auch deren zivilrechtliche Absicherung durch Haftung ein.88 Die durch ausdehnende Interpretation oder durch Analogie gewonnene Verhaltenspflicht kann daher ebenso wie die ausdrücklich normierte Norm als Schutzgesetz i.S.v. § 1311 ABGB (§ 823 BGB) qualifiziert werden, so daß insbesondere auch die Verletzung der über den Gesetzeswortlaut hinausgehenden Pflichten eine Haftung auslösen kann.89 Für die deliktische Schutzgesetzhaftung können daher auch Straftatbestände, insbesondere auch Verwaltungsstraftatbestände, durch Analogie

85 Vgl. nur Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht, Rn. 731. 86 Cahn, ZHR 162 (1998), 1, 8 f. 87 Siehe nur Leukauf/Steininger-Leukauf/Steininger, § 1 Rn. 16, 20; Kienapfel, ÖJZ 1986, 338 ff.; OGH EvBl 1975/268, OGH EvBl 1976/278. 88 Cahn, ZHR 162 (1998), 1, 8 f. 89 Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung, S. 218 f.

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erweitert werden.90 Das Analogieverbot beschränkt sich unmittelbar auf die Verhängung der Strafsanktion. Für den deliktischen, dh zivilrechtlichen Bereich, besteht aber kein Anlaß, die auch sonst zulässige Analogie zu verbieten, weil durch die sekundäre deliktische Anknüpfung der strafrechtliche Anwendungsbereich nicht berührt wird.91 Das für das Analogieverbot maßgebliche Moment der Tatbestandsvorausbestimmtheit trägt nicht in der gleichen Intensität für die deliktische Haftung. Vom Straftatbestand wird nur die Verhaltenspflicht übernommen, der strafrechtliche Eingriff wird aber in das Zivilrecht nicht transferiert. Wegen Fehlens dieses Eingriffscharakters bedarf es im Zivilrecht nicht dieser engen wortlautabhängigen Auslegung. Beispiele für die Notwendigkeit derart gespaltener Gesetzesanlegungen bilden etwa die Herstellung einer parallelen Frist für die Mitteilung an die Aufsichtsbehörde und die Offenlegung gegenüber dem Publikum von directors’ dealings-Geschäften (Geschäfte von Führungskräften mit Aktien der eigenen Gesellschaft).92 Ein weiteres Beispiel bildet die Ausdehnung der Pflicht zur Beteiligungspublizität auf EU-Gesellschaften, die ihren Sitz nicht in Österreich haben, aber deren Aktien an der Wiener Börse notieren. Schließlich ist die Regelung von § 92 Z 9 BörseG zu nennen. § 92 BörseG stellt bestimmte Konstellationen dem unmittelbaren Erwerb bzw. der Veräußerung von Aktien gleich, die der Beteiligungspublizität gem. § 91 BörseG unterworfen werden. Nach Nr. 9 der Vorschrift sollen auch gemeinsam vorgehende Erwerber, wie sie § 23 ÜbG regelt, dem unmittelbaren Erwerber gleichgestellt werden. Da das BörseG auf das ÜbG verweist, das vom Bieter bzw den erwerbenden Aktionären ausgeht, erfaßt der Wortlaut des Verweises auch nur Erwerber, so daß unmittelbar nur gemeinsam vorgehende Erwerber der Offenlegungspflicht unterworfen werden, nicht aber gemeinsam vorgehende Veräußerer. Aus teleologischen Überlegungen muß die Pflicht aber auch auf den Veräußerer angewendet werden; 93 allein eine Bestrafung der gemeinsam vorgehenden, aber nicht offen legenden Veräußerer wird an den Grenzen des Wortlauts scheitern. Sollte aber einem Anleger bzw der Gesellschaft daraus ein Schaden entstehen, könnte ein Schadenersatz auf die Verletzung der Offenlegungspflicht gestützt werden.

IV.

Resümee

Das europäische Kapitalmarktrecht stellt den Rechtsanwender mit seiner neuen mehrschichtigen Regelungstechnik bei Anwendung und Auslegung europäischer

90 Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung, S. 218; Dellinger, ÖBA 1989, 1124; Dellinger, Vorstandshaftung und Geschäftsführerhaftung im Insolvenzfall insbesondere gegenüber sogenannten Neugläubigern, S. 105 f.; Schmiedel, Deliktsobligationen nach deutschem Kartellrecht; erster Teil, S. 239 f. 91 Schmiedel, Deliktsobligationen nach deutschem Kartellrecht; erster Teil, S. 240; Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung, S. 219. 92 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht § 18 Rz 48; Kalss/Zollner, GeS 2005, 106, 113. 93 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht § 17 Rz 58.

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wie nationaler Normen vor neue Aufgaben. Wegen der Fülle des Materials, der neu gewichteten Bedeutung einzelner Auslegungshilfen und des Auslegungsprozederes müssen sich Markt- und Rechtsanwender neuen Fragen der Interpretation stellen. Die Umsetzung und erste Erfahrungen mit den einzelnen Richtlinien werden zeigen, wie gut das Instrumentarium für die neuen Aufgaben geeignet ist. Der querschnitthafte Charakter zahlreicher kapitalmarktrechtlicher Regelungen soll nicht durch eine krampfhaft verfolgte Einheitlichmachung der verschiedenen Regelungsaspekte hergestellt werden, sondern vielmehr muß der traditionellen Zuordnung durch Anerkennung verschiedener Auslegungsmethoden und gleichzeitige Anwendung dieser unterschiedlichen Methoden Rechnung getragen werden.

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Diskussionsbericht Florian Möslein Mit der provokanten These, die einzelnen Kerngebiete des europäischen Privatrechts drohten sich angesichts der Vielfalt ihrer Rechtssetzungsmechanismen als „Gruselkabinett der Methodenlehre“ zu erweisen, wurde die lebhafte Diskussion eröffnet. Ein erster Schwerpunkt betraf die kapitalmarktrechtlichen Ausführungsverordnungen. Köndgen wies zunächst darauf hin, daß diese Regelungsinstrumente, die heute im Kapitalmarktrecht intensiv Verwendung fänden, keine neue Erfindung seien, sondern Ähnlichkeit zu den interpretativen Mitteilungen aufwiesen, die die Kommission schon früher zu bankrechtlichen Richtlinien erlassen habe. Im Vergleich zu diesen sehe er aufgrund des transparenteren Rechtssetzungsverfahrens Ausführungsverordnungen als „legalere“ Gestaltung an. Rechtsquellentheoretisch gelte es vor allem, das Einflußpotential bei der richtlinienkonformen Auslegung auszuloten. Ein Ausführungsakt könne allerdings ebensowenig wie innerstaatlich eine Richtlinie der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen die gerichtliche Interpretationshoheit beschränken. In ähnliche Richtung zielte die Wortmeldung von Roth, der auf Parallelen zu „technischeren“ Rechtsgebieten, etwa dem Arzneimittelrecht, hinwies, wo eine entsprechende Regelungstechnik bereits seit zwanzig Jahren üblich sei. Sie sei im Rahmen der Lamfalussy-Reform lediglich ins Kapitalmarktrecht übernommen worden; eine „Entdemokratisierung“ brauche deshalb keineswegs befürchtet zu werden. Aufschlußreich sei im übrigen ein vergleichender Blick aufs Kartellrecht, das ähnlich dem Kapitalmarktrecht zivilrechtliche und öffentlichrechtliche Regelungsansätze in sich vereine. Auch dort kenne man aufsichtliche Mitteilungen, die der BGH neuerdings ausdrücklich zitiere. Ausführungsrechtsakte könnten insofern sehr wohl eine gewisse Bindungswirkung entfalten; deshalb müsse man ihnen den Charakter einer Rechtsquelle zubilligen. Auf vergleichbare Normierungsansätze verwies auch Schmidt-Räntsch, und zwar auf öffentlich-rechtliche Rechtsverordnungen, die etwa im deutschen Umweltrecht seit jeher verbindliche Vorgaben der Gesetzesanwendung statuierten. Mayer fragte schließlich nach dem Adressaten solcher Ausführungserlasse. In ihrer Antwort räumte Kalss ein, daß die Regelungstechnik keineswegs neu sei, aber an Bedeutung erheblich zugenommen habe. Als noch erheblich ältere Parallele schilderte sie einen Erlaß des österreichischen Kaisers aus dem Jahre 1899, der den damaligen Konzessionsbehörden Auslegungshinweise für die seinerzeit vagen aktienrechtlichen Eintragungsvoraussetzungen geben sollte. Das Beispiel zeige, daß primärer Adressat solcher Ausführungsakte zwar die Vollziehungsorgane seien, infolge der Veröffentlichung eine Reflexwirkung auf das Verhalten der Regelunterworfenen jedoch mitnichten von der Hand gewiesen werden könne: Die Gründer österreichischer Aktiengesellschaften hätten sich nämlich fortan durchaus nach den kaiserlichen Vorgaben gerichtet

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Diskussionsbericht

und zugleich höhere Rechtssicherheit erlangt. Eine gerichtliche Überprüfung folge, wenn überhaupt, erst auf nachgelagerter Ebene. In deren Rahmen entfalteten Ausführungsakte keinerlei Präjudizienwirkung für den EuGH; doch sinke wegen der skizzierten Verhaltenssteuerung die Wahrscheinlichkeit einer gerichtlichen Auseinandersetzung und damit auch die Bedeutung gerichtlicher Interpretation. In seiner Wortmeldung sprach Schmidt-Räntsch als zweites Problemfeld die Auslegungsrelevanz eines künftigen Gemeinsamen Referenzrahmens an. Fraglich sei insbesondere, ob er für die Auslegung der Kaufrechtsrichtlinie herangezogen werden könne. Schmidt-Kessel hielt die Berücksichtigung einer solchen Empfehlung für durchaus legitim, nicht zuletzt, weil die europäischen Organe bei deren Erstellung beteiligt gewesen seien. Der Referent zog einen Vergleich zur Grundrechtscharta, die vom EuGH sogar dann herangezogen werde, wenn in den Erwägungsgründen des jeweils auszulegenden Rechtsaktes nicht auf diese Charta verwiesen werde. Insofern sei die Bezugnahme in den Erwägungsgründen zwar keine Voraussetzung, aber gleichwohl ein starkes Indiz für die Zulässigkeit der interpretatorischen Heranziehung solcher Instrumente, die ansonsten jeweils im Wege der Auslegung ermittelt werden müsse. Der dritte Schwerpunkt der Diskussion betraf den Stil der dargestellten Privatrechtsgebiete, der von Grundmann thematisiert wurde. Er führte aus, daß im Kapitalmarktrecht der rechtsquellentheoretische Paradigmenwechsel darin liege, daß wichtige Fragen oft erst auf nachgelagerten Ebenen (also etwa in den Ausführungserlassen) geregelt würden. Im Gesellschaftsrecht habe man andererseits zu überlegen, ob die Modernisierungsimpulse von den nationalen oder dem europäischen Regelgeber ausgingen; im Vertragsrecht müsse schließlich gefragt werden, ob der acquis communautaire oder andere Quellen wichtigster Modernisierungsmotor seien. In seiner Antwort betonte Schmidt-Kessel, daß im Vertragsrecht der Stilwechsel seiner Ansicht nach im gesetzgeberischen Ansatz liege: Während zwingende Verbraucherschutzregeln nach wie vor präsent seien, habe man erst neuerdings dispositive Regeln wie etwa in der Zahlungsverzugsrichtlinie statuiert; noch jüngeren Datums sei schließlich die Idee eines optionalen Instruments auf europäischer Ebene, wie sie jetzt im Gemeinsamen Referenzrahmen angedacht sei. Die Frage nach den Modernisierungsquellen lasse sich andererseits nur sektorspezifisch beantworten. So spiele der acquis etwa bei der Rückabwicklung von Verträgen eine bedeutende Rolle, lasse aber umgekehrt etwa für die Frage nach dem Beginn der Widerrufsfrist ungleich größeren Spielraum. Insgesamt sei der acquis zwar wichtig, aber für sich genommen nicht ausreichend, weil beispielsweise unterschiedliche begriffliche Vorprägungen in den nationalen Rechten nur durch Rechtsvergleichung überwunden werden könnten. Mit Blick auf das Gesellschaftsrecht betonte Windbichler, daß eine einheitliche Antwort auf die Stilfrage nicht durchgehend möglich sei. So stehe außer Zweifel, daß sich Europa in Sachen Mitbestimmung dezidiert enthalten und mithin gerade keine Modernisierungsimpulse habe setzen wollen; gleichwohl könne eine erhebliche Sprengkraft des europäischen Rechts gerade in diesem Bereich nicht ernsthaft geleugnet werden. Zu bedenken sei nämlich andererseits, daß im Wettbewerb der Gesellschaftsrechte, den die Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit Florian Möslein

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zur Folge habe, mangelnde Modernisierungsbereitschaft der nationalen Gesetzgeber bestraft werde. Für das Kapitalmarktrecht bestätigte Kalss schließlich den konstatierten Paradigmenwechsel, wies aber zugleich darauf hin, daß die Rechtssetzung durch Aufsichtsorgane zu technokratischeren Regeln führe; dies beobachte sie durchaus mit gemischten Gefühlen.

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Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung § 17 Die Rechtsprechung des EuGH Rüdiger Stotz Übersicht I. Die Herausforderung – Über Heterogenität zur Einheitlichkeit   .  .  .  .  .  .  .  .  II. Die Auslegung nationalen Rechts  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Der Auslegungskanon   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. „Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  IV. Die Bedeutung von Präjudizien   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  V. Ausblick   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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Als vorletzter Redner einer zweitägigen Veranstaltung zu Methodenfragen des Europäischen Privatrechts mit brillanten Referaten und intensiven Diskussionen ein Referat über die Rechtsprechung des EuGH zu halten und dabei noch originelle Einsichten zu vermitteln, ist ein schwieriges Unterfangen. Ich nutze die Freiheit, die mir mein Thema läßt, um einige Aspekte zu beleuchten, die sich mir im Lichte meiner beruflichen Erfahrungen als bedeutsam erschlossen haben. Zunächst werde ich bestimmte externe Faktoren benennen, die auf die Methodik des Gerichtshofs Einfluß haben. Sodann wende ich mich der Auslegungsthematik im engeren Sinne zu und werde insbesondere näher auf die Aufgabenverteilung zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten und die Problematik der richtlinienkonformen Auslegung eingehen. Schließen werde ich mit einigen Hinweisen zum Wert von Präjudizien in der Rechtsprechung des EuGH.

I.

Die Herausforderung – Über Heterogenität zur Einheitlichkeit

Lassen Sie mich zu Beginn einige Faktoren benennen, die die Schwierigkeiten verdeutlichen, unter denen der Gerichtshof seine Aufgabe wahrnimmt und die unmittelbaren Einfluß auf die Methode haben. Zunächst zum Akteur: Die personelle Heterogenität der Mitglieder des EuGH – er ist mit Persönlichkeiten besetzt, die vor ihrer Berufung in unterschiedlichen Bereichen als Richter, Hochschullehrer, Politiker, oberste Verwaltungsbeamte, Rechtsanwälte oder in vergleichbar herausgehobenen Positionen tätig waren – ist als solche nicht singulär. Eine solche Besetzung kennzeichnet, im Unterschied zu den regelRüdiger Stotz

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mäßig homogen, d.h. mit spezialisierten Berufsrichtern besetzten obersten nationalen Fachgerichten, regelmäßig auch nationale Verfassungsgerichte. Die Heterogenität wird im Fall des Gerichtshofs aber dadurch signifikant verstärkt, daß die Richter und Generalanwälte in 25 unterschiedlichen Rechtskulturen beheimatet sind. Ulrich Everling, von 1980 bis 1988 Richter am Gerichtshof und bis heute unermüdlicher Mittler des europäischen Rechts, hebt diesen Umstand stets besonders hervor. Er weist darauf hin, daß die Mitglieder des Gerichtshofs ihre jeweiligen Traditionen, Grundvorstellungen, Wertungen und materiellen wie formellen Eigenheiten in die gemeinsame Willensbildung mit einbringen und sich aus den individuellen Beiträgen dieser unterschiedlichen Persönlichkeiten das vom Gerichtshof gesprochene Recht formt.1 Je mehr Europa politisch, rechtlich und kulturell zusammenwächst und sich vor allem die juristische Ausbildung noch stärker europäisch vernetzt, desto weniger markant mögen diese Unterschiede zukünftig sein. Gegenwärtig stellt diese heterogene Zusammensetzung für den Gerichtshof jedoch eine besondere Herausforderung dar. Denn ihm obliegen nicht lediglich verfassungsgerichtliche Aufgaben, d.h. die Kontrolle der Vertragskonformität sekundärrechtlicher und nationaler Maßnahmen, sondern er nimmt gerade bei der Auslegung des sekundären Gemeinschaftsrechts regelmäßig auch eine fachgerichtliche Funktion ein, die mittlerweile einen denkbar weiten Rechtsbereich umfaßt. Nicht nur wächst der Bestand sekundärrechtlicher Normen stetig an und erobert bislang rein national geregelte Bereiche – das Privatrecht ist hierfür das beste Beispiel. Auch die Komplexität der geregelten Materien nimmt stark zu – man denke nur an die in jüngster Zeit erlassenen oder noch im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Regelungen im Bereich des europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts. Dies ist zwar von den gesetzgebenden Organen als Problem erkannt und wird unter den Stichworten „Bessere Rechtsetzung“ und „Folgenabschätzung“ gegenwärtig als wesentliches Element der Strategie für Wettbewerbsfähigkeit und des Lissabon-Prozesses im Rat diskutiert.2 In der Rechtssetzungspraxis finden diese Bemühungen aber bislang noch nicht den wünschenswerten Widerklang. Die Konsensfindung in einem Rat von 25 Mitgliedstaaten bei voller Mitwirkung des Europäischen Parlaments gestaltet sich extrem schwierig und führt mitunter dazu, daß strittige Punkte im Text der Rechtsakte nicht geklärt, sondern im claire obscure gelassen werden, um nach langen und kontroversen Verhandlungen die Verabschiedung zu ermöglichen und der Ratspräsidentschaft den angestrebten Erfolg zu verschaffen. Es ist politische Realität, daß in der letzten Verhandlungsphase rechtsdogmatische und -systematische Erwägungen, denen bis dahin nicht Rechnung getragen wurde – entsprechenden Empfehlungen

1 Everling, JZ 2000, 217, 222. 2 Vgl. Ratsdokument 6443/05 v. 21.2.2005, Bessere Rechtssetzung – Vereinfachung von Rechtsvorschriften; ferner Ratsdokument 7797/05 v. 5.4.2005, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament „Bessere Rechtssetzung für Wachstum und Arbeitsplätze in der Europäischen Union“; ferner die Schlußfolgerungen des Rates vom 28./29.11.2005 zur besseren Rechtssetzung, Ratsdokument 14531/05 v. 23.11.2005 und das gemeinsame interinstitutionelle Konzept für die Folgenabschätzung, Ratsdokument 14301/05 v. 24.11.2005.

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der Juristischen Dienste von Rat und Kommission wird insoweit durchaus nicht immer gefolgt –, einen erreichten Kompromiß nicht mehr in Frage stellen dürfen („Wir gewinnen hier keinen Schönheitspreis“). Die Folgen einer solchen Verfahrensweise zeigen sich, wenn die Rechtsakte von den nationalen Gesetzgebern umgesetzt, den Verwaltungen angewandt und letztlich den Gerichten ausgelegt werden. Der Gerichtshof muß sich dann mit Fragen auseinandersetzen, die im Gesetzgebungsprozeß bewußt oder unbewußt offengeblieben sind und möglicherweise sogar widersprüchlich geregelt wurden. Sicherlich ist die mangelhafte Qualität der Rechtsetzung kein typisch europäisches Phänomen, sondern hinlänglich auch aus dem nationalen Bereich bekannt. Auf europäischer Ebene potenzieren sich aber die Probleme, die damit einhergehen. Der Gerichtshof, dem es in letzter Instanz zufällt, eine in sich schlüssige und verbindliche Auslegung zu geben, muß bei der Wahrnehmung seiner Aufgabe nicht nur der begrenzten Verbandskompetenz der Gemeinschaft, die auch für ihn gilt, Rechnung tragen sowie die Prärogativen des europäischen Gesetzgebers respektieren. Er muß auch und vor allem das ihm unterbreitete Rechtsproblem einer sachgerechten Lösung zuführen und dies mit Richtern, die aufgrund ihrer Herkunft, Ausbildung und beruflichen Erfahrung ganz unterschiedlichen Ansätzen folgen. Dabei kommt ein Wertungselement ins Spiel, das Axel Flessner 3 trefflich als „Gedanken der Mäßigung und der Bescheidung“ identifiziert hat. „[Dieser muß] in der Union herrschen […], sollen alle gegensätzlichen nationalen und rechtskulturellen Interessen unter ihrem Dach ein Auskommen finden. Es darf nicht übertrieben oder auch nur bis ans logische Ende getrieben werden. Dieser Gedanke herrscht offenbar und muß herrschen bei der Schaffung von Normen und er wird (und darf) auch herrschen bei ihrer Anwendung, d.h. faktisch: unter den Mitgliedern des EuGH.“ Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß der Gerichtshof jedem Versuch energisch widersteht, instrumentalisiert zu werden. Dies bedeutet in erster Linie, daß Mitgliedstaaten, denen es nicht gelungen ist, ihren Standpunkt in den Verhandlungen in Brüssel durchzusetzen, regelmäßig nicht darauf hoffen dürfen, diesen nachträglich in Luxemburg anerkannt zu bekommen. Aber auch subtileren Formen der Instrumentalisierung, selbst wenn sie unbewußt erfolgen, erteilt der Gerichtshof eine Absage. Diese bestehen darin, das Gemeinschaftsrecht ausschließlich oder vorwiegend aus dem Blickwinkel des vertrauten nationalen Rechts zu betrachten. Es gehört zu den alltäglichen Erfahrungen des Gerichtshofs, daß Prozeßparteien immer wieder wie selbstverständlich davon ausgehen, daß europäische Normen denselben Bedeutungsgehalt haben wie entsprechende nationale Bestimmungen oder daß sie sich erkennbar länderspezifisch geprägter Argumentationsmuster bedienen. Bei den Richtern und Generalanwälten verfängt ein solcher Vortrag in der Regel schon allein deshalb nicht, weil diese mit den nationalen Vergleichsparametern nicht hinreichend vertraut sind. Ein solch einseitiger Vortrag kann daher nicht überzeugen. Nicht nur methodisch, sondern bereits rein faktisch besteht da-

3

Flessner, JZ 2002, 14, 20.

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her zu einem autonomen, ggf. rechtsvergleichend unterstützten, Ansatz bei der Interpretation des europäischen Rechts keine Alternative. Dies alles ist weitgehend bekannt, wird aber in der Praxis immer noch nicht hinreichend berücksichtigt. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Zwar ist die Kenntnis des europäischen Rechts im Vergleich zu früher mittlerweile stark gewachsen, in erster Linie dank einer wesentlich intensiveren universitären Ausbildung, der Blickwinkel bleibt aber dennoch oftmals interessengeleitet national. Fundierte rechtsvergleichende Analysen sind aufwendig und kostspielig. Von Rechtsanwaltskanzleien kleineren oder mittleren Zuschnitts sind sie per se kaum zu erwarten und selbst multinational operierende Kanzleien leisten dies nur in Ausnahmefällen. Allenfalls die Kommission ist hierzu in der Lage. Zwar bedarf es zur Lösung anhängiger Streitfragen in vielen Fällen nicht des Rechtsvergleichs im materiellrechtlichen Sinn, wenn etwa gemeinschaftliche Konzepte keiner unmittelbaren Ableitung aus dem nationalen Recht zugänglich sind.4 Auch dann ist aber der rechtsvergleichend geschulte Blick der Richter auf Wertung und Interessenausgleich im europäischen Kontext gerichtet und orientiert sich nicht an einseitigen nationalen Belangen. Schließlich ist die Bedeutung des Parteivortrags für die Auslegung hervorzuheben. Bekanntlich prüft der Gerichtshof nach Klagegründen (moyens).5 Was nicht gerügt wird, sei es vom Kläger in Direktklagen oder vom nationalen Gericht im Verfahren der Gültigkeitsprüfung nach Art. 234 EG,6 ist regelmäßig auch nicht Gegenstand der rechtlichen Überprüfung. Qualität und Aussagekraft des Urteils hängen deshalb entscheidend vom Parteivortrag ab und können, falls dieser mangelhaft ist, durch das Urteil nur bedingt aufgefangen werden. Daher empfiehlt es sich, ähnlich wie bei Urteilen amerikanischer Gerichte, nicht nur abstrakt die Urteilsgründe zu analysieren, sondern sie stets im Lichte von Sachverhalt und Parteivortrag zu lesen. Generell kann man feststellen, daß die Prozeßparteien die Möglichkeiten, die Rechtsprechung des EuGH und des Gerichts erster Instanz durch fundierte Argumentation zu beeinflussen, nicht in allen Fällen optimal ausschöpfen. Vor allem wird regelmäßig versäumt, dem Gerichtshof die ökonomischen und administrativen Auswirkungen seiner Rechtsprechung vor Augen zu führen.7 Adressat dieses Petitums sind aber nicht nur die Prozeßparteien und vor allem die Kommission, die in allen Vorabentscheidungsverfahren interveniert. Auch der europäische Gesetzgeber ist hier insoweit angesprochen, als er die Begründungserwägungen seiner Rechtsakte nicht entsprechend ausrichtet und dem Gerichtshof damit wesentliche

4 Edward, The Role and Relevance of the Civil Law Tradition in the Work of the European Court of Justice, in: Carey Miller/Zimmermann (Hrsg.), The Civilian Tradition and Scots Law – Aberdeen Quincentenary Essays, S. 310. 5 Vgl. Art. 21 der Satzung des Gerichtshofs. 6 Vgl. EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-408/95 Eurotunnel, Slg. 1997, I-6315 Rn. 34, im einzelnen Stotz, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen Umweltrecht, Bd. I, § 45, Rn. 201. 7 Vgl. Schwarze, Der Schutz der Grundrechte durch den EuGH, NJW 2005, 3459, 3464 f., der eine gesteigerte Sensibilität des EuGH auch für die finanziellen Folgen seiner Rechtsprechung anmahnt.

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§ 17 Die Rechtsprechung des EuGH

Begründungselemente vorenthält. In dieser Hinsicht ist zu hoffen, daß die ins Auge gefaßte Folgenabschätzung 8 in Zukunft umfassend in den Rechtsakten ihren Niederschlag findet.

II.

Die Auslegung nationalen Rechts

Ich komme nunmehr zur Auslegung im engeren Sinn. Hier sei zunächst daran erinnert, daß der Gerichtshof nicht nur Gemeinschaftsrecht, sondern in bestimmten Fallkonstellationen auch unmittelbar nationales Recht auslegt bzw. anwendet. Der bekannteste Fall ist die Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG,9 bei der der Gerichtshof in einem streitigen Verfahren über die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht befindet. Die Aufgabe, den Sinngehalt des nationalen Rechts zu ermitteln, wird ihm dadurch erleichtert, daß der betroffene Mitgliedstaat an dem Verfahren als Partei beteiligt ist und seine streitige Regelung erläutern und rechtfertigen kann und daß es letztlich der Kommission obliegt, den Beweis der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit zu erbringen.10 Unklarheiten des nationalen Rechts gehen allerdings zu Lasten des Mitgliedstaats. Der Gerichtshof kehrt in diesen Fällen die Beweislast um. Wesentlich größere Probleme stellen sich in dem – allerdings seltenen – Fall, daß die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf der Schiedsklausel eines privatrechtlichen Vertrags zwischen der Kommission und einem Unternehmen nach Art. 238 EG beruht, in dem die Geltung nationalen Rechts vereinbart ist und der Gerichtshof die Vertragsklauseln im Lichte des nationalen Rechts auslegen muß. Von der Kommission, die in diesem Verfahren als Partei auftritt, kann der Gerichtshof insoweit keine „neutrale“ Stellungnahme wie üblicherweise in den Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG erwarten. Der Mitgliedstaat wiederum, dessen Recht dem Vertrag zugrunde liegt, tritt dem Rechtsstreit in aller Regel nicht bei. Der Gerichtshof ist deshalb in der Situation eines jeden nationalen Richters, der in einem Fall mit Auslandsberührung nach den Regeln des Internationalen Privatrechts ausländisches Recht anwenden muß und dabei naturgemäß größeren Risiken der Fehlinterpretation ausgesetzt ist als bei der Auslegung des ihm vertrauten Rechts. Über eine solche Schiedsklausel, in der die Anwendung deutschen Rechts vereinbart war, war der Gerichtshof mit der Frage befaßt, ob die Kündigung eines Vertrags, mit dem die Kommission ein Pilotvorhaben im Energiebereich finanziell gefördert hatte, rechtmäßig war und diese zur Rückforderung geleisteter Vorschüsse berechtigte.11 Von Anfang an war absehbar, daß eine sachgerechte Lösung des komplexen Falles nur über eine souveräne Auslegung des deutschen Zivilrechts ereicht werden konnte. Aus den Urteilsgründen geht hervor, daß der Gerichtshof letztlich den

8 9 10 11

S.o. I. bei Fn. 2. Entsprechendes gilt für die Staatenklage nach Art. 227 EG. Unter bestimmten Umständen kommt es allerdings zur Beweislastumkehr. EuGH v. 17.2.2000 – Rs. C-156/97 Van Balkom, Slg. 2000, I-1095.

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3. Teil: Besonderer Teil

Grundsatz von Treu und Glauben nach den §§ 157 und 242 BGB bemüht hat, um die Kündigung des Vertrags durch die Kommission zu rechtfertigen. In den seltenen Fällen, in denen der Gerichtshof mit derartigen rein nationalen Rechtsfragen konfrontiert ist, nutzt deshalb der Präsident seine Befugnis, den Berichterstatter zu bestimmen,12 regelmäßig dazu, entweder unmittelbar den mit dem jeweiligen nationalen Recht vertrauten Richter zum Berichterstatter zu ernennen oder doch mit der Benennung eines anderen Berichterstatters zugleich sicherzustellen, daß der mit dem nationalen Recht vertraute Richter Mitglied der entscheidenden Formation wird und damit bestimmenden Einfluß auf die Rechtsfindung nehmen kann. Im konkreten Fall wurde der deutsche Richter Hirsch zum Berichterstatter bestimmt.13

III.

Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts

1.

Der Auslegungskanon

Formal betrachtet folgt der Gerichtshof bei seiner Auslegung des Gemeinschaftsrechts, wie nationale Gerichte auch, dem hinlänglich bekannten Kanon der Auslegungsmethoden. Dies gilt auch für das Europäische Privat- und Schuldvertragsrecht.14 Es gelten allerdings einige gemeinschaftstypische Besonderheiten. Ausgangspunkt jeder rationalen Interpretation ist zunächst der Wortlaut. Bei divergierenden Sprachversionen eines auszulegenden Textes gibt der Gerichtshof zunächst den stereotypen Hinweis, grundsätzlich sei allen Sprachfassungen einer Gemeinschaftsvorschrift der gleiche Wert beizumessen. Er folgert u.a. daraus, daß keine Unterschiede nach der Größe der Bevölkerung der Mitgliedstaaten gemacht werden können, die die betreffende Sprache gebraucht.15 Um die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu wahren, müsse dann, wenn die Sprachfassungen voneinander abweichen, die betreffende Vorschrift anhand von Sinn und Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört. Auch wenn die sprachliche Auslegung nicht divergiert, stützt sie der Gerichtshof bisweilen durch eine teleologische Interpretation ab. Eine Regel, wann dies der Fall ist, besteht nicht und hängt von den Umständen des Falles, nicht zuletzt vom individuellen Argumentationsstil des jeweiligen Berichterstatters ab. Die Arbeitssprachen, denen sich die Gemeinschaftsorgane im Gesetzgebungsprozeß ggf. bedienen, spielen dagegen, anders als in der Literatur bisweilen angenommen,16 keine Rolle bei der Lösung sprachlicher Diver12 Vgl. Art. 9 § 2 VerfO-EuGH. 13 Der Fall war der Dritten Kammer des Gerichtshofs, bestehend aus den Richtern Schintgen, Mancini und Hirsch zugewiesen worden. Bevor der Fall abschließend beraten werden konnte, starb Richter Mancini. Da das Quorum hierdurch nicht mehr erreicht war, mußte die mündliche Verhandlung in neuer Besetzung wiedereröffnet werden. Generalanwalt Mischo, der seine Schlußanträge erneut stellen mußte, nutzte die Gelegenheit, um seine rechtlichen Ausführungen zum deutschen Zivilrecht zu präzisieren. In der amtlichen Sammlung des Gerichtshofs sind lediglich die auf die letzte mündliche Verhandlung folgenden Schlußanträge veröffentlicht. 14 Vgl. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529. 15 Vgl. zuletzt EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-152/01 Kyocera, Slg. 2003, I-13821 Rn. 32 f. 16 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 530 unter Hinweis auf Oppermann, Europarecht, Rn. 683.

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§ 17 Die Rechtsprechung des EuGH

genzen, weil dies die postulierte Gleichheit aller Sprachversionen gerade wieder in Frage stellen würde. Die historische Auslegung, die sich auf Materialien bei der Genese der auszulegenden Bestimmungen stützt, kommt nur vergleichsweise selten zum Tragen. Diese Materialien werden zwar ggf. im Urteil bei der Schilderung der Entstehungsgeschichte des Rechtsstreits bzw. der Darstellung des rechtlichen Rahmens erwähnt, dienen aber sehr selten als eigentliches Begründungselement bei der rechtlichen „Wertung durch den Gerichtshof“.17 Die Zurückhaltung des Gerichtshofs in diesem Punkt ist nachvollziehbar, denn bei den bis zu ihrem Erlaß regelmäßig höchst umstrittenen Gemeinschaftsrechtsakten kann letztlich nur der im Amtsblatt veröffentlichte Text autoritativen Charakter beanspruchen. Nach ständiger Rechtsprechung können deshalb auch Erklärungen, selbst wenn sie von Rat und Kommission gemeinsam aus Anlaß der Verabschiedung eines Rechtsakts zu Protokoll gegeben werden, nicht zu dessen Auslegung herangezogen werden, wenn ihr Inhalt in der fraglichen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden hat.18 Die systematische Auslegung, d.h. die Auslegung einer Vorschrift nach ihrer Stellung der Vorschrift im äußeren System des Rechtsakts, ist dagegen recht verbreitet und dient vor allem der Abrundung von textlicher und teleologischer Interpretation. Die teleologische Auslegung, die nach Sinn und Zweck der Regelung fragt, gibt dem Urteil schließlich die notwendige inhaltliche Fundierung. Sie „trägt“ in aller Regel das Judikat. Die Erwägungen, die der Gerichtshof in diesem Zusammenhang anstellt, reichen von grundlegenden Erkenntnissen über Legitimation und Substanz der Gemeinschaftsrechtsordnung bis hin zur Ermittlung des konkreten Sinngehalts einer einzelnen sekundärrechtlichen Vorschrift. Da der EG-Vertrag keine fertige Rechtsordnung geschaffen hat, liegt auch die Rechtsfortbildung im Spektrum der teleologischen Auslegung.19 So zählt gerade die wegweisende Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Grundlagen der gemeinschaftlichen Rechtsordnung zum kommunitären Besitzstand. Dabei sollte nicht verkannt werden, daß der Gerichtshof nur maßvoll und mit Zurückhaltung das primäre Gemeinschaftsrecht systemkonform fortentwickelt. Der Anteil rechtsfortbildender Judikate ist begrenzt und erstreckt sich von den Inkunabeln europäischer Rechtsprechung van Gend & Loos und Costa/E.N.E.L. über die Rechtsprechung zur Geltung der Grundrechte bis hin zur Entwicklung des gemeinschaftlichen Staatshaftungssystems in Francovich. In bestimmten Bereichen, so bei der Fortentwicklung des gemeinschaftlichen Rechts17 Vgl. etwa den Hinweis im Urteil EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easyCar, (noch nicht in Slg.) Rn. 20 = EuZW 2005, 245, daß weder die Fernabsatzrichtlinie 97/7/EG noch „die für ihre Auslegung maßgebenden Dokumente, wie etwa die vorbereitenden Arbeiten, Aufschluß über die genaue Bedeutung des in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie genannten Begriffs Dienstleistungen [im Bereich] Beförderung“ geben. 18 EuGH v. 26.2.1991 – C-292/89 Antonissen, Slg. 1991, I-745 Rn. 18; EuGH v. 29.5.1997 – C-329/ 95 VAG Sverige, Slg. 1997, I-2675 Rn. 23; EuGH v. 24.6.2004 – Rs. C-49/02 Heidelberger Bauchemie, Slg. 2004, I-6129 Rn. 17. 19 Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einem eindrucksvollen Urteil vom 8.4.1987 anerkannt, BVerfG 75, 223 – Kloppenburg.

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schutzsystems, hat der Gerichtshof die Tür zur Rechtsfortbildung zunächst aufgestoßen,20 in jüngster Zeit aber wieder geschlossen und auf den Verfassungsgesetzgeber verwiesen.21 Ein Indiz dafür, daß der Gerichtshof in den Bereich der Rechtsfortbildung vorstößt, ist regelmäßig die sonst sehr spärliche kombinierte Zitierung der Urteile van Gend & Loos und Costa/E.N.E.L. Ein Beispiel hierfür aus jüngerer Zeit ist das Urteil Courage,22 in dem der Gerichtshof begründet, daß ein Einzelner, auch wenn er selbst Partei eines wettbewerbsbeschränkenden Vertrags ist, berechtigt ist, sich auf die Nichtigkeit dieses Vertrages nach Art. 81 Abs. 2 EG zu berufen und Schadensersatz zu verlangen. Auch eine dieser Rechtsordnung entsprechende Auslegungsregel hat die Rechtsprechung entwickelt. Danach verlangen es die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts und der Gleichheitsgrundsatz, die Begriffe einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Gemeinschaft autonom und einheitlich auszulegen.23 Handelt es sich um eine Norm des sekundären Gemeinschaftsrechts, so greift der Gerichtshof zur Interpretation regelmäßig auf die Begründungserwägungen des Rechtsakts zurück. Vielfach stellt dieser notwendige Vorspann zum verfügenden Teil der Regelung (Art. 253 EG) die wichtigste Orientierung für deren Zielsetzung und Sinngehalt dar.24 Ein allzu unkritischer Umgang mit den Begründungserwägungen ist jedoch nicht angezeigt. Zu Recht hat der Gerichtshof darauf verwiesen, daß die Begründungserwägungen eines Rechtsakts der Gemeinschaften rechtlich nicht verbindlich sind und nicht zur Rechtfertigung einer Abweichung von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsaktes angeführt werden können.25 Aber selbst dann, wenn kein offensichtlicher Widerspruch zwischen dem Text des Rechtsakts und den Begründungserwägungen vorliegt, ist zu berücksichtigen, das letztere nach ständiger Rechtsprechung nur die „Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, […] zum Ausdruck bringen“.26 Begründungserwä-

20 EuGH v. 23.4.1986 – Rs. C-294/83 Les Verts ./. Parlament, Slg. 1986, 1339 und EuGH v. 22.5. 1990 – Rs. 70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 (Tschernobyl). 21 EuGH v. 25.7.2002 – Rs. C-50/00 Unión de Pequeños Agricultores ./. Rat, Slg. 2002, I-6677 Rn. 41 und EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-263/02 Kommission ./. Jégo-Quéré, Slg. 2004, I-3425 Rn. 31. 22 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297 Rn. 19. 23 EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-287/98 Linster, Slg. 2000, I-6917 Rn. 43. Nach Auffassung des Gerichts erster Instanz kann jedoch auch ohne eine solche ausdrückliche Verweisung die Anwendung des Gemeinschaftsrechts eine Verweisung auf das Recht der Mitgliedstaaten einschließen, wenn der Gemeinschaftsrichter dem Gemeinschaftsrecht oder den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts keine Anhaltspunkte entnehmen kann, die es ihm erlauben, Inhalt und Tragweite einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift durch eine autonome Auslegung zu ermitteln, EuG v. 21.4.2004 – Rs. T-172/01 M ./. Gerichtshof, (noch nicht in Slg.) Rn. 71. 24 S.o. S. 402. 25 EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-162/97 Nilsson u. a., Slg. 1998, I-7477 Rn. 54. 26 Dies allerdings so klar und eindeutig, daß die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann, vgl. EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-372/97 Italien ./. Kommission, Slg. 2004, I-3679 Rn. 69.

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gungen können daher nicht den Rechtstext selbst inhaltlich konkretisieren.27 Dieser Maxime wird die Redaktion der Legislativakte nicht immer gerecht und auch der Gerichtshof greift die Problematik mangels entsprechender Rügen bislang nicht auf.28 Im Gegenteil, manche Urteilspassagen erwecken ebenfalls den Eindruck, als stünden Erwägungsgründe und verfügende Bestimmungen eines Rechtsakts auf derselben Stufe. Daß dies nicht so ist, sollten gerade die Urteile deutlich machen. Derartige redaktionelle Ungereimtheiten sind aber bei der Fülle der Verfahren unvermeidbar und auch solange unschädlich, als die Erwägungsgründe nicht qualitativ an die Stelle des Rechtstextes treten.

2.

„Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht

Der Gerichtshof betont insoweit in ständiger Rechtsprechung,29 daß das in Art. 234 EG vorgesehene Verfahren auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht. In die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fallen danach die Entscheidung über den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens sowie die Anwendung der vom Gerichtshof ausgelegten Gemeinschaftsvorschriften auf nationale Maßnahmen oder Gegebenheiten; ferner obliegt ihm die Prüfung der Erforderlichkeit der Vorabentscheidung als auch die Erheblichkeit der Fragen, die es dem Gerichtshof vorlegt.30 Dem Gerichtshof fällt die Aufgabe zu, das Gemeinschaftsrecht auszulegen und ggf. die Gültigkeit von sekundärem Gemeinschaftsrecht mit dem Vertrag zu überprüfen. a) Auch soweit die Aufgaben im Rahmen dieses justiziellen Dialogs den nationalen Gerichten obliegen, sieht sich der Gerichtshof zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit jedoch befugt, zu untersuchen, ob diese die formalen Mindestvoraussetzungen an eine aus sich heraus verständliche Vorlage erfüllt hat, d.h. den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die von ihm gestellten Fragen einfügen, festgelegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert hat,31 auf denen seine Fragen beruhen. Ferner prüft er die Umstände, unter denen er von den nationalen Gerichten angerufen wird, um nicht über offensichtlich konstruierte Rechtsstreite entscheiden oder Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben zu müssen, bei denen die begehrte Auslegung des Gemeinschaftsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Rechtsstreits steht.32 Berücksicht man, daß auch das Urteil des Gerichtshofs in dem bekannten

27 Zur insoweit parallelen Problematik der Protokollerklärungen vgl. EuGH v. 16.10.2003 – Rs. C-363/01 Flughafen Hannover-Langenhagen, Slg. 2003, I-11893 Rn. 51. 28 Vgl. allerdings GA Léger, Schlußanträge v. 27.1.2005 – Rs. C-444/03 Meta Fackler, (noch nicht in Slg.) Tz. 69-71; dazu EuGH v. 12.5.2005 – Rs. C-444/03 Meta Fackler (noch nicht in Slg.). 29 Vgl. EuGH v.19.2.2004 – Rs. C-329/01 British Sugar, Slg. 2004, I-1899 Rn. 70 f. 30 Vgl. zuletzt EuGH v. 7.10.2004 – Rs. C-247/02 Sintesi, Slg. 2004, I-9215 Rn. 22. 31 Vgl. zuletzt EuGH v. 12.4.2005 – Rs. C-145/03 Keller, (noch nicht in Slg.) Rn. 29. 32 EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 89.

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Fall Heininger, in dem sich der Gerichtshof erstmalig zu dieser Thematik geäußert hat, letztlich hypothetisch war, da eine Beweisaufnahme in letzter Instanz das Fehlen einer Haustürsituation feststellte,33 so wird verständlich, daß der Gerichtshof die Frage der Erheblichkeit der Vorlagefragen jedenfalls dann kritisch hinterfragt, wenn hierzu Anhaltspunkte vorliegen. 34 Dies schließt nicht aus, daß der Gerichtshof gelegentlich Vorabentscheidungsersuchen aufgreift, deren Zulässigkeit zwar höchst zweifelhaft ist, die er aber nutzt, um sich aus gegebenem Anlaß zu bestimmten Rechtsfragen zu äußern. Prominentes Beispiel für diese Art von Judikatur ist das Urteil Draehmpaehl,35 in dem der Gerichtshof festgestellt hat, daß die Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG einer innerstaatlichen gesetzlichen Regelung entgegensteht, die für den Schadensersatz, den ein Bewerber verlangen kann, der bei einem Auswahlverfahren aufgrund des Geschlechts diskriminiert worden ist, im Gegensatz zu sonstigen zivil- und arbeitsrechtlichen Regelungen eine Höchstgrenze von drei Monatsgehältern vorschreibt, wenn nachgewiesen wird, daß der Bewerber anderenfalls die zu besetzende Position erhalten hätte, oder sechs Monatsgehälter, wenn es mehrere Bewerber gibt. Im Ausgangsfall hatte sich ein Arbeitnehmer auf eine an Frauen gerichtete und in einer Tageszeitung veröffentlichten Stellenanzeige beworben, ohne daß das Unternehmen ihm geantwortet oder ihm die eingereichten Unterlagen zurückgesandt hätte. Er rief das Arbeitsgericht Hamburg an und machte geltend, er sei der am besten Qualifizierte und sei diskriminiert worden. Das beklagte Unternehmen trat in keinem Verfahrensstadium vor dem Gericht auf,36 d.h. es erschien weder zum Gütetermin noch ließ es sich auf die anhängige Klage ein. Bemühungen des vorlegenden Gerichts und des Klägers, das Unternehmen zu erreichen, blieben erfolglos. Auch die Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem EuGH scheiterte. Sie kam als unzustellbar zurück. Im Anschluß an das Urteil des Gerichtshofs verpflichtete das Arbeitsgericht Hamburg das beklagte Unternehmen im Wege des Versäumnisurteils dazu, dem Kläger wie beantragt einen Betrag in Höhe von dreieinhalb Monatsgehältern zuzusprechen. Nach den vom vorlegenden Gericht übermittelten Angaben

33 Vgl. OLG München, WM 2003, 69. 34 Im Fall Schulte, in dem es um die Auslegung der Haustürgeschäfterichtlinie (Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABL. 1985 Nr. L 372/31) im Zusammenhang mit dem Widerruf von Realkreditverträgen zur Finanzierung sog. Schrottimmobilien ging, schlug GA Léger dem Gerichtshof vor, das Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Bochum als hypothetisch und damit unzulässig zu verwerfen, da es das Gericht ausdrücklich offengelassen habe, ob im Ausgangsverfahren tatsächlich eine die Anwendung der Richtlinie rechtfertigende „Haustürsituation“ vorliege; Schlußanträge Tz. 43–47. Der Gerichtshof ist dem nicht gefolgt, sondern hat das Ersuchen für zulässig erklärt; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, (noch nicht in Slg.) Rn. 44. Wenn die Eheleute Schulte die Darlehnsvaluta sofort vollständig zurückzahlen müßten, könne dahingestellt bleiben, ob die Bausparkasse den Darlehnsvertrag wirksam gekündigt oder die Eheleute Schulte ihre auf Abschluß des Darlehnsvertrags gerichtete Willenserklärung wirksam nach dem HWiG widerrufen hätten. In beiden Fällen wären sie nämlich zur sofortigen vollständigen Rückzahlung der Darlehnsvaluta verpflichtet. 35 EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draehmpaehl, Sgl. 1997, I-2195. 36 Vgl. GA Léger, Schlußanträge v. 14.1.1997 – Rs. C-180/95 Dreahmpaehl, Slg. 1997, 2195 Tz. 15.

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§ 17 Die Rechtsprechung des EuGH

wurde das Urteil nicht angefochten.37 Obwohl starke Indizien dafür sprachen, daß es sich hier um einen konstruierten Rechtsstreit handelte, beantwortete der Gerichtshof die gestellten Fragen. Offensichtlich hielt er die Zeit für gekommen, seine Rechtsprechung zur Entschädigung im Fall von Diskriminierung beim Zugang zur Beschäftigung zu konkretisieren. Aus derartigen Fällen sollte nicht abgeleitet werden, daß der Gerichtshof die Zulässigkeitskriterien bei Vorabentscheidungsersuchen generell dann besonders großzügig auslegt, wenn die (rechts)politische oder ökonomische Bedeutung der vorgelegten Fragen dies gebietet. Noch gar besteht ein Anspruch Einzelner darauf, daß der Gerichtshof so verfährt. Im Gegenteil, bei weiter wachsender Arbeitsbelastung dürfte der Gerichtshof in Zukunft noch eingehender darauf achten, daß seine Antworten im Ausgangsrechtsstreit auch tatsächlich entscheidungserheblich sind und daß nicht, wie im Fall Heininger, die Aussagen des Gerichtshofs zwar abstrakt zu einer Klärung wichtiger Rechtsfragen führen, für die konkrete Entscheidung des Ausgangsfalls aber irrelevant sind. Schließlich betont der Gerichtshof, daß er dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts geben kann, die es diesem ermöglichen, die Frage der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens zu beurteilen.38 Dementsprechend deutet er derartige Fragen nach der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht in eine abstrakte Auslegungsfrage um. Gerade weil der Gerichtshof dem nationalen Gericht eine „nützliche“ Antwort geben will, hält er sich bei der Beantwortung der Vorlagefragen nicht sklavisch an deren Wortlaut, sondern formuliert sie je nach Bedarf um, ändert ihre Reihenfolge oder faßt sie zusammen. Dabei präzisiert er ggf. auch diejenigen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, die das vorlegende Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat, die aber unter Berücksichtigung des Streitgegenstands der Auslegung bedürfen.39 Dieses Vorgehen verdeutlicht, daß der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen vor ihrer Beantwortung sehr sorgfältig aufbereitet und sie ggf. im Hinblick auf die vorgelegte Problematik filtert. Ohne eine solche Steuerung könnte der Gerichtshof seiner Aufgabe, dem vorlegenden Gericht eine nützliche Antwort zu geben, nicht nachkommen. b) Vor diesem Hintergrund wird bereits deutlich, daß die Funktionsteilung, die nach der Rechtsprechung das Vorabentscheidungsverfahren bestimmt – der Gerichtshof ist für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, das nationale Gericht für dessen Anwendung im Einzelfall zuständig –, zwar primärrechtlich in Art. 220 und Art. 234 Abs. 1 EG angelegt ist, sich in der Praxis aber als problematisch erweist. Der ehemalige Präsident des Gerichtshofs, Rodríguez Iglesias, räumt ein, daß für eine effiziente Kooperation zwischen innerstaatlichen Gerichten und Gerichtshof nicht in

37 Vgl. die Angaben in den Schlußanträgen des GA Colomer v. 27.1.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Tz. 33. 38 So bereits EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1268; zuletzt EuGH v. 16.1.2003 – Rs. C-265/01 Annie Pansard u.a., Slg. 2003, I-683, Rn. 18. 39 EuGH v. 16.1.2003 – Rs. C-265/01 Annie Pansard u.a., Slg. 2003, I-683, Rn. 19.

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3. Teil: Besonderer Teil

jedem Fall eine abstrakte Aufgabentrennung möglich ist.40 So könne es Situationen geben, in denen der Gerichtshof zur Herstellung der Rechtssicherheit konkrete Aussagen zu treffen habe, die normalerweise den nationalen Richtern vorbehalten seien.41 Eine jüngst erschienene Studie 42 weist nach, daß die Zuordnung zahlreicher Beurteilungsvorgänge zu Auslegung bzw. Anwendung durch den Gerichtshof alles andere als einheitlich ist. So prüft er in einigen Fällen selbst, ob eine mitgliedstaatliche Maßnahme verhältnismäßig ist,43 in anderen überläßt er die Prüfung dagegen dem nationalen Gericht.44 Ebenso verfährt er bei Fragen, ob ein Betriebsübergang im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG 45 vorliegt 46, ob ein Verhalten irreführend ist 47 oder ob im Rahmen der gemeinschaftlichen Staatshaftung ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht als hinreichend qualifiziert angesehen werden kann.48 40 Iglesias/Carlos, Der Europäische Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten, S. 10. 41 Iglesias/Carlos, Der Europäische Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten, S. 8. 42 Siehe hierzu die jüngst erschienene brillante Studie von Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. 43 Vgl. z. B. EuGH v. 18.5.1993 – Rs. C-126/91 Yves Rocher, Slg. 1993, I-2361 Rn. 15 ff.; EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139 Rn. 44; EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-58/98 Corsten, Slg. 2000, I-7919 Rn. 39 f.; EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-17/00 De Coster, Slg. 2001, I-9445 Rn. 36 ff.; EuGH v. 21.3.2002 – Rs. C-451/99 Cura Anlagen, Slg. 2002, I-3193 Rn. 47 und 50; EuGH v. 17.9. 2002 – Rs. C-413/99 Baumbast, Slg. 2002, I-7091 Rn. 93. 44 Vgl. z.B. EuGH v. 31.3.1993 – Rs. C-19/92 Kraus, Slg. 1993, I-1663 Rn. 41; und EuGH v. 1.2. 2001 – Rs. C-108/96 Mac Quen, Slg. 2001, I-837 Rn. 31ff. Vgl. ferner EuGH v. 8.3.2001 – Rs. C-405/ 98 Gourmet International Products, Slg. 2001, I-795 Rn. 33 und 41, wo die Verhältnismäßigkeitsprüfung dem nationalen Gericht überlassen wird, da dieses für die hierzu erforderliche Untersuchung der rechtlichen und tatsächlichen Umstände besser in der Lage sei als der EuGH (vgl. zur Notwendigkeit, bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit die konkreten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, Slg. 2003, I-4431 Rn. 67 f.). Mit entgegengesetzter Argumentation – die Verhältnismäßigkeit einer nationalen Maßnahme und damit ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht könne nicht von Sachverhaltsfeststellungen der nationalen Gerichte abhängen – prüfte der EuGH in seinem Urteil v. 16.12.1992 – Rs. C-169/91 B&Q, Slg. 1992, I-6635 Rn. 14 die Verhältnismäßigkeit selbst. 45 Richtlinie 77/187 des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 Nr. L 61/26, inzwischen ersetzt durch Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 Nr. L 82/16. 46 Beispiele für die Prüfung durch den EuGH selbst: EuGH v. 5.5.1988 – verb. Rs. C-144/87 und C-145/87 Berg ./. Besselsen, Slg. 1988, 2559 Rn. 18; EuGH v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 Schmidt, Slg. 1994, I-1311 Rn. 17 und 20; Beispiele für die Überantwortung der Prüfung an das nationale Gericht: EuGH v. 18.3.1986 – Rs. C-24/85 Spijkers/Benedik, Slg. 1986, 1119 Rn. 14; vom 19.5.1992 – Rs. C-29/91 Redmond Stichting, Slg. 1992, I-3189 Rn. 25 und 29; EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95 Süzen, Slg. 1997, I-1259 Rn. 22; EuGH v. 2.12.1999 – Rs. C-234/98 Allen u.a., Slg. 1999, I-8643 Rn. 38; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-175/99 Mayeur, Slg. 2000, I-7755 Rn. 55. 47 Beispiele für die Prüfung durch den EuGH selbst: EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93 Mars, Slg. 1995, I-1923 Rn. 21ff.; EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-383/97 van der Laan, Slg. 1999, I-731 Rn. 41; EuGH v. 4.4.2000 – Rs. C-465/98 Darbo, Slg. 2000, I-2297 Rn. 33, anders im selben Urteil Rn. 20; Beispiele für die Überantwortung der Prüfung an das vorlegende Gericht: EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-303/97 Sektkellerei Kessler, Slg. 1999, I-513 Rn. 36 m.w.N. aus der früheren Rechtsprechung; EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 30 f. 48 Beispiele für die Beurteilung durch den EuGH selbst: EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-392/93 British Telecommunications, Slg. 1996, I-1631 Rn. 45; EuGH v. 17.10.1996 – verb. Rs. C-283/94, C-291/

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§ 17 Die Rechtsprechung des EuGH

In diesen Befund scheint sich auch die Rechtsprechung zur Generalklausel der Richtlinie 13/93/EWG über mißbräuchliche Klauseln einzureihen. Hatte der Gerichtshof im Urteil Océano Grupo 49 entschieden, daß eine von einem Gewerbetreibenden vorformulierte Vertragsklausel, die die Zuständigkeit für alle Rechtsstreitigkeiten dem Gericht zuwies, in dessen Bezirk dieser Gewerbetreibende seine Niederlassung hatte, als mißbräuchlich im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie anzusehen sei, so entschied er im Urteil Freiburger Kommunalbauten,50 es sei Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob eine Vertragsklausel wie die des Ausgangsverfahrens 51 die Kriterien erfüllt, um als mißbräuchlich im Sinne von Art. 3 der Klauselrichtlinie qualifiziert zu werden. Die unterschiedliche Beurteilung rechtfertigte der Gerichtshof damit, daß die Klausel in Océano Grupo ausschließlich und ohne Gegenleistung zugunsten des Verbrauchers vorteilhaft war, weil sie unabhängig vom Vertragstyp die Wirksamkeit des gerichtlichen Schutzes der Rechte in Frage stellte, die die Klauselrichtlinie dem Verbraucher zuerkennt, während die Klausel im Fall Freiburger Kommunalbauten für beide Parteien sowohl vorteilhafte als auch nachteilige Aspekte aufwies. Daher konnte die Mißbräuchlichkeit wie die der streitigen Klausel im Fall Océano Grupo ohne weiteres festgestellt werden, ohne daß die Umstände des Vertragsschlusses im einzelnen zu prüfen waren, während im anderen Fall die mit der streitigen Klausel verbundenen Vor- und Nachteile im Rahmen des auf den Vertrag anwendbaren nationalen Rechts gewürdigt werden mußten. Der Gerichtshof betont, er könne zwar die vom Gemeinschaftsgesetzgeber verwendeten allgemeinen Kriterien zur Definition des Begriffs der mißbräuchlichen Klausel auslegen, sich aber nicht zur Anwendung dieser allgemeinen Kriterien auf eine bestimmte Klausel äußern, die anhand der Umstände des konkreten Falles zu prüfen sei. Wo die Grenzlinie zwischen der Definition allgemeiner Kriterien und der Anwendung dieser Kriterien auf den Einzelfall verläuft, bleibt abzuwarten. Wulff-Henning Roth hat sich mit beachtlichen Argumenten für eine restriktive Rolle des Gerichtshofs bei der Konkretisierung von Generalklauseln in Richtlinien ausgesprochen.52 94 und C-292/94 Denkavit u.a., Slg. 1996, I-5063 Rn. 53; Beispiel für die Überantwortung der Beurteilung an das vorlegende Gericht: EuGH v. 1.6.1999 – Rs. C-302/97 Konle, Slg. 1999, I-3099 Rn. 59. 49 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Groupo Editorial und Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 21– 24. 50 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 51 Die Klausel verpflichtete die Erwerber eines Stellplatzes (Beklagte) in einem von einer kommunalen Baugesellschaft (Klägerin) zu errichtenden Parkhaus, den Preis für den Stellplatz nach Stellung einer Bürgschaft durch die Baugesellschaft zu zahlen, ohne daß die Klägerin bereits mit den Bauarbeiten begonnen haben mußte. Die Bürgschaft sollte als Ausgleich für die Vorleistungspflicht der Erwerber sämtliche Geldansprüche der Erwerber sichern, die ihnen wegen mangelhafter oder unterlassener Vertragserfüllung durch die Klägerin zustehen, und auch den Fall erfassen, daß die Klägerin in Insolvenz fällt. Der BGH neigte dazu, die Unwirksamkeit der Klausel nach §§ 24 a, 9 AGBG zu verneinen, da sie nicht mißbräuchlich erscheine, legte die Klausel aber dennoch dem EuGH zur Prüfung nach Art. 3 der Klauselrichtlinie vor, da „die in der Klausel vorgesehene Bürgschaft […] bei einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der Vielfalt der Rechtsordnungen innerhalb der Europäischen Union nicht als ein angemessener Ausgleich für die vom dispositiven Recht abweichende Vorleistungspflicht der Erwerber anzusehen sein [könnte].“ Die Klausel könne deshalb mißbräuchlich sein. 52 W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 140 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

Dagegen setzen andere auf eine wichtige Rolle des Gerichtshofs bei der Fortentwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Mißbrauchskriteriums.53 Das Signal, das das Urteil im Fall Freiburger Kommunalbauten aussendet, geht eindeutig dahin, die nationalen Gerichte sollten die Mißbräuchlichkeit von Vertragsklauseln nach Möglichkeit in eigener Verantwortung prüfen. Es dürfte seine Wirkung schon deshalb nicht verfehlen, weil die Gerichte sich zukünftig wohl nicht sehenden Auges der Gefahr einer Zurückweisung ihrer Vorlage aussetzen werden. Ob die Bemerkung des Generalanwalts Geelhoed, aufgrund des allgemeinen Charakters des Begriffs „mißbräuchlich“ könnten Klauseln, die in einer großen Bandbreite an Formen und Inhalten in Verbraucherverträgen vorkommen, immer wieder Anlaß geben, Vorabentscheidungsfragen vorzulegen,54 den Gerichtshof zu einer in erster Linie prozeßökonomisch vorteilhafteren Lösung veranaßt haben, läßt das Urteil nicht erkennen. Näher liegt, daß der Gerichtshof gerade auf dem Feld der Konkretisierung von Generalklauseln der Gefahr des Dezisionismus vorbeugen wollte. Denn auf anderen Rechtsgebieten ist eine solche Entwicklung längst zu beobachten, etwa bei der Rechtsprechung zur zollrechtlichen Tarifierung, zum Betriebsübergang oder auch zur Gleichbehandlung von Mann und Frau, um nur diese Bereiche zu nennen. Daher verwundert es nicht, daß gerade anläßlich einer Vorlage zur zollrechtlichen Tarifierung Generalanwalt Jacobs die Diskussion darüber eröffnete, welche Fragen im Rahmen des Art. 234 EG sinnvollerweise dem Gerichtshof zur Auslegung vorzulegen seien und welche durch die nationalen Gerichte in eigener Verantwortung entschieden werden sollten.55 Dabei wandte er sich gegen eine immer filigranere Rechtsprechung, mit der nicht die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts gefördert werde, sondern die tendenziell zu weniger denn zu mehr Rechtssicherheit führe.56 Vorlagen sollten deshalb dem Gerichtshof nur dann unterbreitet werden, wenn es sich um eine Frage von allgemeiner Bedeutung handele und eine einheitliche Auslegung wirklich erforderlich sei.57 Die Kriterien der C.I.L.F.I.T.Rechtsprechung zur Reichweite der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte müßten hierzu angepaßt werden. In einem markenrechtlichen Fall präzisierte er, daß der Gerichtshof zur einheitlichen Anwendung der Richtlinie und der Rechtssicherheit effektiver dadurch beitragen könne, daß er die allgemeinen Kriterien und insbesondere den Maßstab für die Beurteilung der Verwechslungsgefahr eindeutig festlege, als durch den Erlaß von Entscheidungen, die zu sehr auf die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls eingehen.58 Trotz dieser Anregungen 59 hat der Gerichtshof die Gelegenheit bislang nicht genutzt, der Dichotomie – hier Auslegung durch den Gerichtshof, dort Anwendung 53 Vgl. Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525. 54 GA Jacobs, Schlußanträge v. 5.7.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 29. 55 GA Jacobs, Schlußanträge v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, Slg. 1997, I-6495. 56 GA Jacobs, Schlußanträge v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, Slg. 1997, I-6495 Tz. 20 f. 57 GA Jacobs, Schlußanträge v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, Slg. 1997, I-6495 Tz. 64. 58 GA Jacobs, Schlußanträge v. 29.10.1998 – Rs. C-342/97 Lloyd Schuhfabrik, Slg. 1999, I-3821 Tz. 13. 59 Auch andere Generalanwälte haben sich gegen eine zu starke Einzelfallorientierung der Rechtsprechung ausgesprochen, vgl. GA van Gerven, Schlußanträge v. 22.11.1990 – Rs. C-312/89

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§ 17 Die Rechtsprechung des EuGH

durch das nationale Gericht – schärfere Konturen zu verleihen. Noch vermeidet er über die C.I.L.F.I.T-Formel hinausgehende Konkretisierungen und entscheidet die Zuordnungsproblematik fallweise, mit den genannten dezisionistischen Folgen. Eine jüngst erschienene Studie von Thomas Groh plädiert mit beachtlichen Argumenten dafür, das Auslegungsbedürfnis der Vorlagefragen kritischer als bisher an den Zielen des Vorabentscheidungsverfahrens zu messen, d.h. (1) ob sie zur Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts erforderlich sind, (2) ob sie den nationalen Gerichten bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts dienen, sofern diese bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts vor besonderen Schwierigkeiten stehen, und (3) ob sie dem Schutz individueller Rechtspositionen förderlich sind, sofern die Vorlage zu einem erheblichen Zuwachs an Rechtsschutzqualität führt.60 Die Entwicklung hin zu einem dreistufigen Gerichtsaufbau auf europäischer Ebene mit dem Gerichtshof als Verfassungsgericht an der Spitze und die wachsende Arbeitslast wird es jenseits institutioneller Änderungen zwangsläufig mit sich bringen, daß dieser die Arbeitsteilung mit den nationalen Gerichten neu wird justieren müssen. Möglicherweise ist das Urteil Freiburger Kommunalbauten hierfür ein Vorbote. 3.

Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung

Eine Auslegungsregel besonderer Art stellt die Forderung des Gerichtshofs dar, nationales Recht so weit wie möglich gemeinschaftsrechtskonform auszulegen. Diese Regel kommt zum Einsatz, um einen Konflikt zwischen der kommunitären und der nationalen Rechtsordnung im Wege der Auslegung zu verhindern. Ihren Ursprung hat sie in dem allgemeinen Auslegungsgrundsatz, eine Vorschrift nach Möglichkeit so auszulegen, daß ihre Gültigkeit nicht infrage steht.61 Diese Regel, als verfassungskonforme Auslegung aus dem innerstaatlichen Bereich bekannt und ebenso im Verhältnis des sekundären zum primären Gemeinschaftsrecht anwendbar, liegt auch der Rechtsprechung zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts zugrunde.62 Den nationalen Gerichten obliegt es dabei, „das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen ihr nationales Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden.“ 63 Gelingt dies nicht, wird der Konflikt im Falle unmittelbar wirksamen Gemeinschaftsrechts durch die Vorrangregel entschieden, d.h. die Gerichte dürfen entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden. Aber auch dort, wo die Vorrangregel nicht greift, verpflichtet der Gerichtshof die mitgliedstaatlichen Gerichte zu gemeinschaftsrechtsConforam u. a., Slg. 1990, I-1007, Tz. 7; GA Gulmann, Schlußanträge v. 29.9.1993, Rs. C-315/92 Verband Sozialer Wettbewerb Slg. 1994, I-319, Tz. 9 [Clinique]; und GA Fennelly, Schlußanträge v. 16.9. 1999, Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-119, Tz. 31. 60 Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, S. 118 f. 61 EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-403/99 Italien ./. Kommission, Slg. 2001, I-6883 Rn. 37. 62 Seit EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 van Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891; vgl. EuGH v. 5.10. 2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 ff. 63 Vgl. zuletzt EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641 Rn. 58.

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3. Teil: Besonderer Teil

konformer Auslegung. Relevant wird dies bei Richtlinienbestimmungen, bei denen entweder nicht alle Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirksamkeit – inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt – vorliegen oder die zwar diese Voraussetzungen erfüllen, eine unmittelbare Wirkung aber dennoch nicht in Betracht kommt, weil die entsprechende Richtlinienbestimmung in einem Rechtsstreit, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, unmittelbar zur Anwendung kommen soll, was der der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung bekanntlich zu Recht ablehnt. In dem jüngst entschiedenen Fall Pfeiffer 64 hat der Gerichtshof die mitgliedstaatlichen Gerichte noch einmal eindringlich daran erinnert, alle im nationalen Recht vorhandenen Auslegungsmethoden zu nutzen, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen. Konkret fordert er: „Ermöglicht es das nationale Recht durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, daß eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist, so ist das nationale Gericht verpflichtet, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.“ 65 Riesenhuber und Domröse haben daraus nach deutschem Recht die Verpflichtung für das nationale Gericht abgeleitet, für den Fall, daß es dem nationalen Gesetzgeber unbewußt mißlungen sei, die Richtlinienvorgaben korrekt umzusetzen, diesem Mangel ggf. durch eine richtlinienkonforme contra legem-Auslegung des nationalen Rechts abzuhelfen.66 Diese weitreichende Forderung begegnet Bedenken. Zunächst dürfte die Unterscheidung zwischen bewußten und unbewußten Fehlern bei der Umsetzung von Richtlinien als Abgrenzungskriterium einer zulässigen contra legem-Auslegung wenig tauglich sein. Ein Mitgliedstaat wird realistischerweise nicht eingestehen, Richtlinienvorgaben bewußt fehlerhaft umzusetzen, da er sich mit diesem Eingeständnis einer sicheren Verurteilung durch den Gerichtshof und dem unmittelbaren Risiko nachfolgender Sanktionen (Art 228 EG) sowie von Staatshaftungsansprüchen aussetzt.67 Hält ein Mitgliedstaat eine Richtlinienbestimmung für primärrechtswidrig, muß er von sich aus den Gerichtshof im Wege der Nichtigkeitsklage anrufen und die Aufhebung der Bestimmung beantragen. An seiner unbedingten Verpflichtung, die aus seiner Sicht fehlerhafte Bestimmung in nationales Recht umzusetzen, ändert dies nichts. Vor allem aber verlangt das Urteil Pfeiffer vom innerstaatlichen Gericht nicht, sein nationales Recht im Zweifel contra legem auszulegen. Der Gerichtshof mahnt in die-

64 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 ff. 65 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116. 66 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51ff. 67 Der Staatssekretärausschuß für Europafragen der Bundesregierung hat deshalb strikte Regeln zur rechtzeitigen Umsetzung von EU-Richtlinien sowie zur Abstellung von Vertragsverstößen sowie zur Abwendung drohender Sanktionen erlassen.

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§ 17 Die Rechtsprechung des EuGH

sem Urteil lediglich in eindringlichen Worten an, das nationale Gericht möge alle ihm zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden zu nutzen, um im Sinne des Richtlinienziels entweder eine Kollision zwischen zwei Normen zu vermeiden 68 oder zumindest eine Norm teleologisch zu reduzieren. Durch eine Auslegung contra legem wird eine Kollision aber nicht vermieden – beide Normen gelten weiter, ggf. eingeschränkt –, sondern zu Lasten einer der Normen aufgelöst. In welche Richtung die Aussagen des Gerichtshofs zu verstehen sind, ergibt sich aus dem Hinweis in dem Urteil, der Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts betreffe zwar in erster Linie die zur Umsetzung der fraglichen Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Bestimmungen, beschränke sich jedoch nicht auf die Auslegung dieser Bestimmungen, sondern verlange, daß das nationale Gericht das gesamte nationale Recht berücksichtige, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden könne, daß es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führe.69 Handelt es sich beispielsweise bei der im Widerspruch zum Richtlinienziel stehenden nationalen Bestimmung um eine Ausnahmevorschrift, die von einem im nationalen Recht geltenden Grundsatz abweicht, muß das nationale Gericht prüfen, inwieweit diese Ausnahmevorschrift eingeschränkt interpretiert werden kann. Eine contra legem-Auslegung ist damit nicht verbunden. Der Gerichtshof selbst hat dies jüngst eindrucksvoll bestätigt: In einem Urteil zur Auslegung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren 70 hat er wie folgt argumentiert: „Die Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen Rechts den Inhalt eines Rahmenbeschlusses heranzuziehen, endet, wenn dieser nicht so angewandt werden kann, daß ein Ergebnis erzielt wird, das mit dem durch den Rahmenbeschluß angestrebten Ergebnis vereinbar ist. Mit anderen Worten darf der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung nicht zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts führen. Er verlangt jedoch, daß das nationale Gericht gegebenenfalls das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, daß kein dem Rahmenbeschluß widersprechendes Ergebnis erzielt wird.“ 71

Zwar erging dieses Urteil zu einem auf die dritte Säule gestützten Rahmenbeschluß und nicht zu einer Richtlinie gemäß Art. 249 Abs. 3 EG. Dies ist im vorliegenden Zusammenhang aber nicht relevant. Denn beide Rechtsakte unterscheiden sich lediglich darin, daß der EU-Vertrag in Art. 34 Abs. 2 lit. b die unmittelbare Wirksamkeit von Rahmenbeschlüssen explizit ausschließt, während die Rechtsprechung den Richtlinien nach dem EG-Vertrag diese Eigenschaft unter bestimmten Voraussetzungen zuerkennt. Wo die Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung von EG-Richtlinien aber nicht gegeben sind, wie etwa im Bereich der Beziehungen zwi-

68 Nicht den Fall der Derogation, wie Riesenhuber und Domröse meinen, Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51. 69 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 115. 70 ABl. L 82, S. 1. 71 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, (noch nicht in Slg.) Rn. 45.

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3. Teil: Besonderer Teil

schen den Bürgern, sind Rahmenbeschluß und Richtlinie identisch und unterliegen folglich denselben Auslegungsmaximen. Indirekt bestätigt der Gerichtshof mit dieser Entscheidung seine Rechtsprechung zur Ablehnung der horizontalen Wirkung von Richtlinien.72 Davon abgesehen dürfte die contra legem-Auslegung wohl in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in höchstem Maße problematisch, wenn nicht gar generell unzulässig sein. Das Arbeitsgericht Lörrach hat daher auch in einem der Schlußurteile auf die Rechtssachen Pfeiffer u.a. eine richtlinienkonforme contra legemAuslegung im Anschluß an das Bundesarbeitsgericht 73 zu Recht abgelehnt.74 Kommt eine contra legem-Auslegung damit nicht in Betracht, so bleibt noch der vom Gerichtshof im Wege der Rechtsfortbildung anerkannte Staatshaftungsanspruch, der bekanntlich aus Anlaß einer fehlgeschlagenen horizontalen Richtlinienanwendung kreiert worden ist.75

IV.

Die Bedeutung von Präjudizien

Eine bedeutende Rolle nehmen in der Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs die eigenen Präjudizien ein. Bekanntlich setzt sich der Gerichtshof in seinen Urteilen – sehr zum Leidwesen der rechtslehrenden Zunft – nicht mit der wissenschaftlichen Literatur auseinander. Die Gründe hierfür hat der erste deutsche Richter am Gerichtshof, Otto Riese, wie folgt beschrieben: „Bei seiner Rechtsprechung berücksichtigt der Gerichtshof selbstverständlich soweit als möglich alle erreichbaren Quellen, setzt sich mit der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur auseinander und nimmt häufig eingehende rechtsvergleichende Studien vor, die freilich zuweilen noch weiter hätten vertieft werden sollen. Dies alles kommt in den Urteilen – im Gegensatz zu den Schlußanträgen der Generalanwälte – nicht zum Ausdruck, da der Gerichtshof sich seit Beginn seiner Tätigkeit dazu entschlossen hat, in den Urteilen auf Zitate zu verzichten, ausgehend von der Ansicht, daß es nicht Aufgabe der Rechtsprechung sei, zu wissenschaftlichen Diskussionen Stellung zu nehmen, aber auch aus der Erkenntnis, daß in einigen Mitgliedstaaten sehr zahlreiche Publikationen zum neuen europäischen Gemeinschaftsrecht erscheinen, in anderen nur weinige, und daß es dem Gemeinschaftsgefühl abträglich sein könnte, wenn ein Urteil sich nur oder ganz überwiegend auf die Literatur eines der Mitgliedstaaten stützte.“ 76

Diese Aussage von Anfang der sechziger Jahre hat noch heute Gültigkeit. Mit Ausnahme von gelegentlichen Referenzen auf die Schlußanträge der Generalanwälte, mit denen der Gerichtshof Mitte der neunziger Jahre eine frühe Praxis wieder aufleben ließ, greift der Gerichtshof in der Begründung seiner Urteile ausschließlich auf seine frühere Rechtsprechung zurück. Nach der Wiedergabe des wesentlichen Par72 Vgl. EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 24 f.; dieser Rechtsprechung stimmen auch Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48 zu. 73 BAG, AP Nr. 14 zu § 17 KSchG 1969, unter B.III.4. m.w.N. 74 ArbG Lörrach v. 15.4.2005 – 5 Ca 146/01, BeckRS 2005 41791, unter II.3. 75 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u. a, Slg. 1990, I-5357. 76 Riese, Das Sprachproblem in der Praxis des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 507, 516.

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Rüdiger Stotz

§ 17 Die Rechtsprechung des EuGH

teivortrags und der anwendbaren Rechtsvorschrift zitiert er als Einstieg zu seiner Begründung in aller Regel zunächst die zu der streitigen Rechtsfrage bereits bestehende Rechtsprechung und entwickelt davon ausgehend seine Argumentationslinie. Diese Art der Urteilsbegründung hat interpretationsbegrenzende, teilweise sogar interpretationsersetzende Funktion. Sie begünstigt tendenziell das Denken in Fällen gegenüber dem Denken in allgemeinen Regeln. Die Auslegung anhand der üblichen Methoden wird so gewissermaßen zum Sediment, das über die stetigen Verweise in späteren Entscheidungen kontinuierlich mitgetragen wird. Dieses schrittweise Vorgehen jeweils aufbauend auf vorherigen Urteilen dient der Vorhersehbarkeit, Kohärenz 77 und letztlich Akzeptanz der Rechtsprechung.78 Im Unterschied zum U.S. Supreme Court 79 hat der Gerichtshof die Existenz einer stare decisis Regel niemals anerkannt. Dennoch sind Fälle, in denen der Gerichtshof offen von seiner früheren Rechtsprechung abweicht, äußerst rar. Das ist nicht auf Mangel an Gelegenheit zurückzuführen. Der Gerichtshof steht bisweilen durchaus vor der Frage, ob er, statt einer einmal eingeschlagenen, sich mittlerweile als aber problematisch erweisenden Rechtsprechung weiterhin zu folgen, sich nicht besser offen von dieser distanziert, insbesondere wenn mehrere Generalanwälte ihm dies überzeugend nahelegen.80 Hält der Gerichtshof dennoch an seiner Rechtsprechung fest, so dürfte dies für ihn mehr noch als eine Frage der Rechtssicherheit eine Frage der eigenen Glaubwürdigkeit sein. Jedenfalls stellt ein Overruling heute keine Existenzfrage der Gemeinschaft mehr dar. Der Gerichtshof ist fest etabliert und genießt hohes Renommee. Ein sorgfältig begründetes Abweichen von früherer Rechtsprechung kann auch vom souveränen und lebendigen Umgang mit dem Recht zeugen.

V.

Ausblick

Ein Blick in die Zukunft: Die größte Herausforderung für den Gerichtshof dürfte darin bestehen, angesichts komplexer werdender Sachverhalte und Rechtsnormen die Qualität seiner Rechtsprechung zu wahren. Hierzu müssen die Aufgaben zwischen europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens partiell neu justiert werden. Ferner wird er nicht umhin kommen, wie auch der Gesetzgeber, die ökonomischen und administrativen Folgen seines Handelns stärker als bisher ins Kalkül zu ziehen. Das wäre ein konkreter Beitrag zur Stärkung der Subsidiarität. 77 Vgl. Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, S. 180 f. 78 Vgl. Everling, JZ 2000, 217, 227. 79 Vgl. Supreme Court of the United States v. 29.6.1992 Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey, No. 91-744, 505 U.S. 833 (1992), Docket Number 91-744. 80 Vgl. etwa die Rechtssachen, in denen der Gerichtshof gegen die überzeugenden Stellungnahmen mehrerer Generalanwälte daran festgehalten hat, auch auf solche Vorabentscheidungsersuchen zu antworten, in denen die Gemeinschaftsvorschriften, deren Auslegung begehrt wurde, nur aufgrund einer vom nationalen Recht vorgenommenen Verweisung anwendbar waren, vgl. u.a. EuGH v. 18.10.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Dzodzi, Slg. 1990, I-3763 Rn. 37; EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 28; sowie die entsprechenden Schlußanträge; seither st. Rspr., vgl. zuletzt EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-300/01 Salzmann, Slg. 2003, I-4899 Rn. 34; EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-222/01 British American Tobacco Manufacturing, Slg. 2004, I-4683 Rn. 40.

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH Jürgen Schmidt-Räntsch Übersicht I.

Mögliche Gegenstände der Auslegung durch den BGH  .  .  .  1. Zivilrecht  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Strafrecht  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Öffentliches Recht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  II. Auslegungskompetenz des BGH   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Auslegungsmonopol des EuGH   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Auslegung des Gemeinschaftsrechts   .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Anwendung des Gemeinschaftsrechts  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Vorlagerecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Entscheidungserhebliche Fragen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Vorlagezeitpunkt   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Vorlageberechtigte Gerichte   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  d) Vorlageermessen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Vorlagepflicht des BGH gemäß Art. 234 Abs. 3 EG   .  .  .  .  a) Grundsatz   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Klärung durch den EuGH   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Offenkundigkeit der Auslegung des EG-Rechts   .  .  cc) Klärung anhand der Rechtsprechung des EuGH   .  c) Verstöße gegen die Vorlagepflicht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Vorlageverfahren vor dem BGH   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Form und Anlaß der Vorlage   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Inhalt des Vorlagebeschlusses   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Tenor   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Begründung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  cc) Praxis des BGH   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Technische Abwicklung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  5. Vorlageverfahren vor dem EuGH   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Schriftliches Vorverfahren   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Mündliche Verhandlung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Urteil des EuGH   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  III. Auslegungssituationen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Vorabentscheidungsersuchen   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts   a) Primäres Gemeinschaftsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Verordnungsrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  aa) Öffentliches Recht  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Zivilrecht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  c) Richtlinien   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Anwendung von Umsetzungsvorschriften  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Umsetzungspflicht   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Auslegung von Umsetzungsvorschriften   .  .  .  .  .  .  .  aa) EG-konforme Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  bb) Überschießende Umsetzung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH c) Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln   .  .  .  .  .  .  5. Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften   6. Haftung für verspätete Umsetzung von EG-Recht   .  .  .  .  .  .  a) EG-rechtliche Haftung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  b) Amtshaftung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  7. Überbrückung von Umsetzungsdefiziten   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  a) Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten  .  .  .  .  .  .  .  b) Überbrückung durch Rechtsprechung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  IV. Auslegungsmethoden   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  1. Vorbemerkung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  2. Wortlautauslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  3. Systematische Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  4. Historische Auslegung   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  5. Teleologische Auslegung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  V. Fazit   .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 

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I.

Mögliche Gegenstände der Auslegung durch den BGH

1.

Zivilrecht

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Als oberster Gerichtshof der ordentlichen Gerichtsbarkeit hat der BGH in erster Linie Vorschriften des Zivilprozeßrechts, des materiellen Zivil- und Handelsrechts und des Strafrechts anzuwenden. Dazu gehören in inzwischen nicht unbeträchtlichem, allerdings gebietsweise unterschiedlichem Umfang auch unmittelbar geltende EG-Rechtsnormen. Das sind neben einigen Vorschriften des Primärrechts vor allem Normen des Verordnungsrechts. Gelegenheit zur Anwendung von EG-Recht findet der BGH aber nicht nur hier. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des deutschen Zivilprozeßrechts und des materiellen deutschen Zivil- und Handelsrechts ist nämlich inzwischen durch Richtlinien inhaltlich mehr oder weniger weitgehend vorbestimmt. Die EG-rechtliche Durchdringung dieser Bereiche des deutschen Rechts ist unterschiedlich stark. Die Rechtssetzung der EG folgt dabei, was oft übersehen wird, nicht der Systematik der Zivilrechtskodifikationen der Mitgliedstaaten. Die EG hat nämlich, anders als z.B. der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG, keine umfassende Rechtssetzungskompetenz für das bürgerliche Recht und das Verfahrensrecht der Gerichte. Die Kompetenzen des EG-Gesetzgebers sind vielmehr nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung an den Zielen des Vertrags und den zu verwirklichenden Freiheiten ausgerichtet. Es sind Querschnittskompetenzen, die sich an der Erreichung des Ziels ausrichten und dazu alle Normbereiche des nationalen Rechts erfassen, die bei der Durchsetzung der Vertragsziele und der Freiheiten berührt werden, aber gleichzeitig alle Teile desselben Normbereichs ausblenden, die keinen Bezug hierzu haben.1 Das nationale Zivilrecht der Mitgliedstaaten wird deshalb von der Natur der Kompetenzen her nur im Bereich der Vertragsziele und -frei-

1 Dazu: Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 132 ff.; StreinzLeible, Art. 95 EGV Rn. 4.

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3. Teil: Besonderer Teil

heiten EG-rechtlich vorbestimmt, auch wenn es vielleicht aus der Sicht des nationalen Rechts zweckmäßig wäre, andere Bereiche abzudecken. Die EG-rechtlich vorbestimmten Bereiche des deutschen Zivilprozeß-, Zivil- und Handelsrechts sind vor allem: das internationale Zivilprozeß- und Insolvenzrecht, das Gesellschaftsrecht, das Recht der gewerblichen Schutzrechte und das Urheberrecht, das Handelsvertreterrecht, das Verbraucherschutzrecht und das Arbeitsrecht, das aber weitgehend von der Rechtsprechung des BAG und nicht des BGH abgedeckt wird.

2.

Strafrecht

Das Strafrecht der Mitgliedstaaten der EG ist sehr heterogen und deshalb bislang in seinem Kernbestand noch nicht so tief EG-rechtlich vorbestimmt wie das Zivilrecht. Das bedeutet aber nicht, daß das Strafrecht einer solchen Durchdringung von vornherein entzogen wäre. Die Querschnittskompetenzen der EG erfassen auf ihrem Sektor alle Rechtsgebiete ohne Ausnahme, auch das Strafrecht. Bislang hat die EG aber meist davon abgesehen, den Mitgliedstaaten speziell strafrechtliche Sanktionen vorzugeben, sondern ihnen die Wahl der Sanktion, oft auch das Durchsetzungsmittel überhaupt freigestellt. Deshalb besteht oft kein EG-rechtlicher Zwang zur Umsetzung in Form von Strafrechtsnormen, der aber entgegen verbreiteter Ansicht möglich wäre.2 Allerdings müssen auch Tatbestände von Strafrechtsnormen bisweilen unter Rückgriff auf Normen anderer Rechtsgebiete ausgefüllt werden. Soweit diese EG-rechtlich geregelt oder vorbestimmt sind, muß ggf. auch bei der Anwendung von Strafrechtsnormen EG-Recht angewendet werden. Bislang ist das meist auf dem Gebiet des Nebenstrafrechts der Fall. Eine solche Notwendigkeit kann aber auch bei den Normen des StGB auftreten. Beispiele sind das Steuer- und Umweltstrafrecht 3 oder § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG, den der BGH unter Rückgriff auf Art. 72 ff. Börsenrechtsrichtlinie 4 und Kommentare der Kommission 5 auslegte.6 Neben der Ausfüllung von Straftatbeständen durch das Gemeinschaftsrecht ergibt sich bisweilen auch die Notwendigkeit, nationale Strafnormen EG-rechtskonform einzuschränken.7 Es ist zu erwarten, daß das EG-Recht nicht nur das Strafverfahrensrecht 8 weiter durchdringen wird.

2 EuGH v. 13.9.2005 – Rs. C-176/03 Kommission./.Rat, NVWZ 2005, 1289, 1291 Rn. 48. 3 Vgl. etwa BGHSt 43, 219; BGHSt 37, 168. 4 Richtlinie 2001/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.5.2001 über die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Börsennotierung und über die hinsichtlich dieser Wertpapiere zu veröffentlichenden Informationen, ABl. 2001 L 184/1. 5 Kommentare zu bestimmten Artikeln der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 sowie zur Siebenten Richtlinie 83/349/EWG v. 13.6.1983 über Rechnungslegung vom November 2003, unveröffentlicht, abrufbar unter: http://europa.eu.int/comm/internal_market/accounting/docs/ias/ 200311-comments/ias-200311-comments_de.pdf 6 BGHSt 49, 381, 389. 7 BGH, NJW 2003, 2842, 2843. 8 Daran ändert auch die Erklärung des Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH

3.

Öffentliches Recht

Der weit überwiegende Bestand der Normen des EG-Rechts ist aber aus deutscher Sicht dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Fragen der Anwendung und Auslegung solcher EG-Rechtsnormen stellen sich deshalb in erster Linie nicht dem BGH, sondern den für das öffentliche Recht zuständigen obersten Gerichtshöfen des Bundes, dem BVerwG, dem BFH und dem BSG. Das bedeutet aber nicht, daß solche EGRechtsnormen in der Rechtsprechung des BGH keine Rolle spielten. Wichtige Teilbereiche des öffentlichen Rechts sind nämlich dem BGH gesetzlich zugewiesen: das sind vor allem das Kartellrecht, das Vergaberecht, die Überprüfung der Entscheidungen des BPMA und das Berufsrecht der Rechtsanwälte und Notare. Die ersten drei Bereiche sind sehr stark, der vierte Bereich schon merklich EG-rechtlich durchdrungen. Der BGH muß sich auch außerhalb solcher Rechtswegzuweisungen mit deutschem öffentlichem Recht und damit auch mit Verordnungen oder mit den das deutsche öffentliche Recht vorbestimmenden EG-Rechtsnormen befassen. Das ist beim Amtshaftungs- und Wettbewerbs- und auch im Strafrecht der Fall. Amtshaftungsfälle, Straftaten und Wettbewerbsverstöße können sich auf nahezu allen Feldern des öffentlichen Rechts ereignen. Dementsprechend lassen sich die Gebiete des öffentlichen Rechts, mit denen der BGH auf diesen Wegen befaßt wird, nicht thematisch eingrenzen.

II.

Auslegungskompetenz des BGH

1.

Auslegungsmonopol des EuGH

a)

Auslegung des Gemeinschaftsrechts

Dieses thematisch breit angelegte Spektrum von Fallgestaltungen, die der BGH unter unmittelbarer oder mittelbarer Anwendung und Auslegung von EG-Recht zu lösen hat, gibt inhaltlich vielfältige Möglichkeiten zur Entwicklung methodischer Grundsätze zur Anwendung und Auslegung des EG-Rechts. Diese kann der BGH aber nur in eingeschränktem Umfang nutzen. Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist nach Art. 234 Abs. 1 EG Sache des EuGH. Ihm allein steht es zu, den Vertrag und das Sekundärrecht auszulegen und die Gültigkeit 9 von Handlungen der Organe zu überprüfen. Handlungen der Organe sind im vorliegenden Kontext vor allem die Verordnung, die Richtlinie, die Entscheidung 10 (des Rates oder der Kommission) und, nach Maßgabe von Art. 35 EU, auch der Rahmenbeschluß nach Art. 34 EU. Könnten die Mitgliedstaaten über den Inhalt des Vertrages und des Gemein-

europäischen Haftbefehl für nichtig durch das BVerfG, NJW 2005, 2289, nichts. Vorbehalte gegenüber dem Gemeinschaftsrecht hat das BVerfG in seiner Entscheidung nicht gemacht. Ein Beispiel ist der Rahmenbeschluß 2005/214/JI des Rates v. 24.2.2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. 2005 L 76/16. 9 Z.B. BGH, GRUR 2000, 392, 393 ff. – Omeprazol. 10 Z.B. BGHZ 146, 153.

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3. Teil: Besonderer Teil

schaftsrechts und über die Gültigkeit der Gemeinschaftsrechtsakte entscheiden, würde das die Durchsetzungskraft des Gemeinschaftsrechts entscheidend schwächen. Es bestünde nämlich die Gefahr, daß das Gemeinschaftsrecht in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich verstanden und auch die Gültigkeit von sekundärem Gemeinschaftsrecht dort unterschiedlich bewertet wird. Das läßt sich nur vermeiden, wenn die Kompetenz hierfür ausschließlich einem Gemeinschaftsorgan, nämlich dem EuGH, übertragen wird. Seine Auslegungskompetenz könnte der EuGH nicht wahrnehmen, wenn die Gerichte der Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit und unter bestimmten Voraussetzungen auch die Verpflichtung hätten, Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts und der Gültigkeit von Sekundärrechtsakten dem EuGH vorzulegen. Das ist der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 Abs. 2 und 3 EG. b)

Anwendung des Gemeinschaftsrechts

Von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist seine Anwendung auf den konkreten Einzelfall zu unterscheiden.11 Diese Unterscheidung hat der EuGH im Fall Freiburger Kommunalbauten 12 noch einmal herausgearbeitet. In jenem Fall hatte der VII. Zivilsenat des BGH dem EuGH die Frage vorgelegt, ob das Klauselwerk einer Bürgschaft nach der MABV mit der Klauselrichtlinie in Übereinstimmung steht.13 Diese Vorlage hat der EuGH als unzulässig zurückgewiesen. Er hat dabei in Abgrenzung zu seiner Océano-Entscheidung 14 entschieden, daß es bei der Auslegung des Rechts im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens, wie im nationalen Recht, im wesentlichen darum geht, die für die Subsumtion eines Einzelfalls unter das Gesetz erforderlichen Obersätze und ihren Inhalt festzustellen. Ob aber im Einzelfall die Erfordernisse des so konkretisierten EG-Rechts erfüllt sind oder nicht, sei, so der EuGH,15 nicht mehr eine Frage der Auslegung des EG-Rechts, sondern seiner Anwendung auf den Einzelfall, die den Gerichten der Mitgliedstaaten obliege. Weitere Beispiele hierfür sind die Anwendung des Markenrechts 16 oder des Arznei- und Lebensmittelrechts 17 im konkreten Einzelfall oder die Prüfung von Mietvertragsklauseln in der Form von AGB.18

11 von der Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EGV Rn. 32. 12 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 13 BGH, BGH-Report 2002, 835, 836. 14 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 21– 24. 15 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 16 BGH, BGH-Report 2005, 446 – Maglite; BGHZ 139, 59, 63 f. – Fläminger. 17 BGH, BGHZ 151, 286, 293 – Muskelaufbaupräparate; BGH, ZLR 2002, 660, 665 – Sportlernahrung m.w.N. zur Rechtsprechung des EuGH. 18 BGH, NJW 2004, 2961.

432

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH

2.

Vorlagerecht

a)

Entscheidungserhebliche Fragen

Fragen der Auslegung des EG-Rechts können die Gerichte der Mitgliedstaaten nach Art. 234 Abs. 2 EG dem EuGH vorlegen, wenn sie entscheidungserheblich sind. Aus welchen Gründen das der Fall ist, ist unerheblich. Die Entscheidungserheblichkeit kann sich schon daraus ergeben, daß es sich um eine unmittelbar anwendbare Verordnung handelt. Sie kann sich daraus ergeben, daß eine nationale Vorschrift zur Umsetzung einer Richtlinie oder eine nicht speziell zur Umsetzung von EG-Recht geschaffene, dazu aber auch dienende allgemeine nationale Vorschrift unter Rückgriff auf die Richtlinie EG-konform auszulegen oder durch EG-Recht auszufüllen und zu diesem Zweck festzustellen ist, welche inhaltlichen Vorgaben das EG-Recht hierfür macht. Bei der Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit steht dem nationalen Richter ein Ermessen zu. Der EuGH prüft nicht, ob der vorlegende Richter die Erheblichkeit der ihm gestellten Frage nach dem nationalen Recht zutreffend beantwortet hat.19 Die Grenzen des Ermessens sind aber erreicht, wenn die Erheblichkeit der dem EuGH vorgelegten Frage für die Entscheidung des Rechtsstreits aus dem Vorlagebeschluß nicht mehr erkennbar wird oder die dem EuGH vorgelegte Frage nur hypothetischen Charakter hat.20 Unerheblich ist etwa die Frage nach den Grenzen des Anwendungsbereichs einer Richtlinie dann, wenn der nationale Gesetzgeber über die Richtlinie hinausgehen kann.21 b)

Vorlagezeitpunkt

Art. 234 Abs. 2 EG schreibt nicht vor, wann der nationale Richter das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten hat. Der EuGH verlangt aber, daß der Sachverhalt und die ausschließlich nach nationalem Recht zu beurteilenden Fragen so weit geklärt sind, daß der Gerichtshof sich über alle Tatsachen- und Rechtsfragen unterrichten kann, auf die es bei der von ihm vorzunehmenden Auslegung des Gemeinschaftsrechts möglicherweise ankommt.22 Auch dabei hat der nationale Richter einen Beurteilungsspielraum, den er aber überschreitet, wenn im Zeitpunkt der Vorlage nicht absehbar ist, daß und weshalb es auf die Frage ankommt.23 Fehlt es an der Sachaufklärung, ist sie vor einer Vorlage an den EuGH nachzuholen.24 Wenn

19 Streinz-Ehricke, Art. 234 Rn. 34; Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 791 jeweils m.w.N. 20 EuGH v. 13.3.2001 – Rs. C-379/98 PreussenElektra, Slg. 2001, I-2099 Rn. 39; EuGH v. 17.5. 2001 – Rs. C-340/99 TNT Traco, Slg. 2001, I-4109 Rn. 31; EuGH v. 6.12.2001 – Rs. C-472/99 Clean Car Autoservice, Slg. 2001, I-9687 Rn. 14; in der Sache Mangold hat der EuGH ein objektives Bedürfnis zur Klärung der angesprochenen Fragen ausreichen lassen. EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, NJW 2005, 3695, 3696 Rn. 38. 21 BGH, NJW 2005, 53, 55 für Versteigerung nach § 312d Abs. 4 BGB; BGHSt 43, 219, 225 ff. für Umweltstrafrecht. 22 Nr. 19 der Hinweise des EuGH zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte v. 11.6.2005, ABl. 2005 Nr. C 143/1. 23 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke, Slg. 1992, I-4871 Rn. 23, 26, 29. 24 Z.B. BGH, NJW 1999, 3261, 3263: Zurückverweisung mit der Maßgabe, nach Aufklärung selbst vorzulegen.

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3. Teil: Besonderer Teil

aber die Ermittlungen eine sachgerechte Beantwortung der Vorlagefrage erlauben, prüft der EuGH nicht nach, ob sich nach nationalem Recht oder nach dem Vortrag der Parteien eine Lösung ohne Beantwortung der Frage finden ließe. Dabei läßt sich nicht immer ausschließen, daß der EuGH eine Frage zur Auslegung des EG-Rechts beantwortet, obwohl dies ex post betrachtet nicht notwendig gewesen wäre. Ein Beispiel hierfür ist das Vorabentscheidungsersuchen des BGH im Fall Heininger zur Reichweite der Haustürwiderrufsrichtlinie 25, in dem sich nach der Entscheidung des EuGH 26 und der Aufhebung des Berufungsurteils durch den BGH 27 ergab, daß es an einer Haustürsituation im Sinne der Richtlinie 28 fehlte.29 c)

Vorlageberechtigte Gerichte

Vorlageberechtigt ist jedes Gericht. Es kommt nicht darauf an, welchem Gerichtszweig es angehört. Unerheblich ist, ob es sich um ein erstinstanzliches, ein Berufungs- oder ein Revisionsgericht handelt. Ohne Bedeutung ist auch, welcher Spruchkörper in dem Gericht zu entscheiden hat, ob es sich um einen allein entscheidenden Amtsrichter, einen Einzelrichter, eine Kammer oder einen Senat handelt. Ein zur Entscheidung berufener Einzelrichter müßte allerdings prüfen, ob das Erfordernis eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH die Sache nicht als rechtlich schwierig oder von grundsätzlicher Bedeutung erscheinen läßt. Er müßte dann vor einem Vorabentscheidungsersuchen die Sache der Kammer vorlegen, die dann ihrerseits den EuGH ersuchen müßte. Unterbleibt eine Vorlage an die Kammer, dann bleibt das Ersuchen des Einzelrichters an den EuGH wirksam. Das hat der BGH für die Zulassung eines Einzelrichters wegen grundsätzlicher Bedeutung entschieden.30 Bei nationalen Verfahren wäre die Entscheidung aber wegen Verstoßes gegen den gesetzlichen Richter aufzuheben und an das Vordergericht zurückzuverweisen.31 Diese Möglichkeit besteht bei einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH nicht. Dieser prüft vielmehr nicht, ob der nationale Richter nach den nationalen Vorschriften zuständig war. Entscheidend für ihn ist nur, daß ein wirksames Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH vorliegt. Die Frage der Vorlage an die Kammer oder den Senat wird der Einzelrichter deshalb erst nach Rückkehr der Sache zu entscheiden haben. Dabei ist nicht auszuschließen, daß die Sache nach Klärung durch den EuGH ihre rechtlichen Schwierigkeiten oder ihre grundsätzliche Bedeutung verloren hat, was in entsprechender Anwendung von den §§ 348 a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und 526 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO sowohl bei einer originären Einzelrich-

25 BGH, NJW 2000, 521. 26 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945. 27 BGHZ 150, 248, 251. 28 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1986 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1986 Nr. L 372/ 31 ist strenger als § 312 BGB, wonach der Vertrag nicht in der Haustürsituation geschlossen, sondern nur durch diese bestimmt werden muß: BGH, NJW 2004, 362, 363 – SIVA; AnwaltKommBGB-Ring, § 312 BGB Rn. 2. 29 OLG München, WM 2003, 69 f. 30 BGHZ 154, 200, 201. 31 BGHZ 154, 200, 202.

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH

terzuständigkeit nach § 348 ZPO als auch bei der Übertragung nach den §§ 348 a, 526 ZPO möglich sein sollte.32 d)

Vorlageermessen

Das nationale Gericht ist nach Art. 234 Abs. 2 EG grundsätzlich nicht verpflichtet, vorzulegen. Es kann die EG-rechtliche Vorfrage auch selbst entscheiden und die Anrufung des EuGH dem Berufungs- oder Revisionsverfahren überlassen. Bei der Ausübung des Ermessens sollte allerdings der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens berücksichtigt werden. Es soll in erster Linie divergierende Entscheidungen der Gerichte der Mitgliedstaaten über den Inhalt des Gemeinschaftsrechts vermeiden. Deshalb sollte auch der nicht zur Vorlage verpflichtete Richter von einer Vorlage nur absehen, wenn ein zur Vorlage verpflichteter Richter dazu nicht verpflichtet wäre,33 also nur, wenn der Inhalt des EG-Rechts offenkundig oder anhand der gefestigten Rechtsprechung zu ermitteln ist.34

3.

Vorlagepflicht des BGH gemäß Art. 234 Abs. 3 EG

a)

Grundsatz

Vorlagepflichtig sind nach Art. 234 Abs. 3 EG Gerichte, deren Entscheidungen mit Rechtsmitteln nach dem innerstaatlichen Recht nicht mehr angefochten werden können. Das sind in erster Linie die obersten Gerichtshöfe des Bundes und damit auch der BGH. Dazu gehören aber auch andere Gerichte, wenn sie Entscheidungen erlassen, gegen die förmliche Rechtsmittel wie die Berufung oder Revision, die Beschwerde oder die Rechtsbeschwerde oder die Nichtzulassungsbeschwerde 35 nicht gegeben sind. Das ist etwa bei Urteilen der Amtsgerichte ohne Berufungszulassung mit einem Streitwert bis zu 600 € und Berufungsurteilen der Landgerichte ohne Revisionszulassung in vermögensrechtlichen Streitigkeiten bis zu 20.000 € der Fall. Denn hier ist nach § 26 Nr. 8 EGZPO eine Nichtzulassungsbeschwerde ausgeschlossen, so daß ein solches Urteil nicht mehr angefochten werden kann. Entsprechendes gilt nach § 574 Abs. 1 ZPO für Beschwerdeentscheidungen, die die Rechtsbeschwerde nicht zulassen. Auch sie können nicht mehr angegriffen werden, es sei denn, daß die Rechtsbeschwerde ausnahmsweise kraft Gesetzes statthaft ist. Diese Gerichte haben anders als sonst nur die Wahl zwischen einer Vorlage an den EuGH und einer Zulassung des möglichen Rechtsmittels. Kommt eine Zulassung ernstlich in Betracht, ist das Rechtsmittel zuzulassen.36 Bislang hatte der BGH nicht zu entscheiden, ob die Zulassung unter dem Gesichtspunkt der grundsätzlichen Bedeutung oder unter dem Gesichtspunkt der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu erfolgen

32 Ein Grund, die Revision zuzulassen, entfiele in dieser Lage: BGH, NJW 2004, 3188; BGH, NJW 2005, 154. 33 Davon gehen BGH, NJW 1999, 3261, 3263 und wohl auch BGHSt 37, 168, 175 aus. 34 In diesem Sinne wohl BVerwG, NVwZ 2005, 598, 601. 35 Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 798. 36 BGH, LRE 46, 279.

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3. Teil: Besonderer Teil

hat. Dem Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens entspricht der erste Ansatz.37 Die Zulassung eines Rechtsmittels aus dem Gesichtspunkt der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung scheidet zwar nicht bei allen Rechtsmitteln,38 wohl aber bei der Zulassung der Revision aus, wenn sich die Entscheidung aus anderen Gründen als richtig darstellt.39 Dann aber bliebe eine u.U. fehlerhafte Auslegung des EGRechts gewissermaßen „stehen“, ohne daß der EuGH Gelegenheit hätte sie zu korrigieren. Das entspricht nicht dem Ziel von Art. 234 EG. b)

Ausnahmen von der Vorlagepflicht

Die nach Wortlaut und Zweck des Art. 234 Abs. 3 GG an sich unbeschränkte Pflicht zur Vorlage kennt allerdings doch einige Ausnahmen. aa)

Klärung durch den EuGH

Eine Vorlage ist nicht erforderlich, wenn die anstehenden Fragen durch den EuGH bereits geklärt sind. Dann hat das Vorabentscheidungsverfahren nämlich seinen Zweck erreicht. Zu einer solchen wiederholten Anfrage kann es, außer bei einem Versehen des nationalen Gerichts, vor allem dann kommen, wenn das nationale Gericht nicht weiß, daß der EuGH mit der von ihm gestellten Frage bereits befaßt ist. Um das zu vermeiden, werden die Vorabentscheidungsersuchen der nationalen Gerichte und die von ihnen vorgelegten Fragen im Teil C des Amtsblatts der EU veröffentlicht. Allerdings geht der Sachverhalt, der dem Ersuchen zugrunde liegt, aus dem Veröffentlichungstext nicht hervor, so daß das nationale Gerichte nicht ohne weiteres beurteilen kann, ob das dem EuGH vorliegende Vorabentscheidungsersuchen alle Aspekte des zu entscheidenden Falls abdeckt. Das kann, wenn auch nicht beim BGH, zu Doppelvorlagen führen. Vergleichbare Schwierigkeiten können sich auch bei der Zulassung der Revision zum BGH ergeben. Unnötige mehrfache Revisionsverfahren 40 werden hier mit einer vereinfachten Zurückweisung durch Beschluß nach § 552a ZPO möglich. Oft ist es aber nicht das nationale Gericht, das ein unzulässiges Vorabentscheidungsersuchen stellt, sondern ein Verfahrensbeteiligter, der ein solches Ersuchen anregt, ohne zu wissen oder zu beachten, daß der EuGH die Frage bereits entschieden hat. Dann weist das Gericht die Anregung, meist im Urteil, unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH zurück. bb)

Offenkundigkeit der Auslegung des EG-Rechts

Wie das nationale Recht ist auch das EG-Recht nicht immer auslegungsbedürftig. Es gibt auch im EG-Recht zahlreiche Vorschriften, deren Inhalt sich ohne weiteres erschließt. Solche Fragen können die nationalen Gerichte selbst entscheiden, ohne

37 Zweifelnd Streinz-Ehricke, Art. 234 EGV Rn. 48; in dem hier vorgeschlagene Sinne aber Ehricke, a.a.O., Rn. 49 f. und für § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO: BVerwG, Buchholz 402.26 § 12 AufenthG/ EWG Nr. 7. 38 Nicht bei der Rechtsbeschwerde, BGH, NJW 2004, 367, 368. 39 BGH, NJW 2002, 3180, 3181; BGH, NJW 2003, 831; BGH, NJW 2003, 3205, 3206. 40 BT-Drs. 15/3482, S. 18 f.

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH

daß eine Schwächung des EG-Rechts durch widersprüchliche Auslegungen der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten zu befürchten ist. Deshalb ist eine Vorlage nach ständiger Rechtsprechung des EuGH entbehrlich, wenn die Auslegung des EGRechts offenkundig ist. Offenkundig ist die Auslegung dann, wenn keinerlei Raum für vernünftige Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt und die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und der EuGH auch keine Zweifel an dem Auslegungsergebnis haben würden.41 Beispiele aus der Rechtsprechung des BGH sind die Anforderungen an eine verdeckte Sacheinlage,42 die Eignung eines Zahlwortes als Marke 43 und der Begriff des Reisenden in der Pauschalreiserichtlinie.44 Offenkundig ist eine Auslegung nach dem Verständnis des BGH nicht nur, wenn sie keiner weiteren Erklärung bedarf. Es genügt vielmehr, was aber regelmäßig nicht ausdrücklich ausgeführt wird, wenn das Auslegungsergebnis ohne Schwierigkeiten aus dem Gemeinschaftsrecht entwickelt werden kann.45 cc)

Klärung anhand der Rechtsprechung des EuGH

Zwischen den beiden vorgenannten Fallgruppen liegt ein Fall, der in der Praxis häufig vorkommt: Der Fall vor dem nationalen Gericht wirft eine Frage der Anwendung und Auslegung des EG-Rechts auf, die der EuGH zwar noch nicht exakt in dieser Form entschieden hat, die sich aber anhand der Rechtsprechung des EuGH ohne weiteres beantworten läßt. In dieser Fallgestaltung ist das EG-Recht durch die bereits vorhandene Rechtsprechung des EuGH bereits so klar geworden, daß es weitergehender Konkretisierung nicht bedarf. Voraussetzung hierfür ist eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH, unabhängig davon, in welcher Verfahrensart sie sich gebildet hat; das nationale Gericht ist an einer neuen Vorlage nicht gehindert, wenn es diese für angebracht hält.46 Wann diese Voraussetzung zu bejahen ist, läßt sich naturgemäß nicht allgemein bestimmen. Dies richtet sich vielmehr nach dem Grad der Durchdringung des betreffenden Rechtsgebiets durch den EuGH und dem Inhalt der Frage. Allerdings lassen sich unter diesem Vorbehalt doch graduelle Unterschiede in der Rechtsprechung der Senate ausmachen. Es läßt sich eine Tendenz beobachten, daß in EG-rechtlichen und durch die EuGH-Rechtsprechung stärker durchdrungenen Bereichen von der Ausnahme etwas großzügiger Gebrauch gemacht wird als in Bereichen, die durch das Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung des EuGH weniger durchdrungen sind. Als Beispiele mögen der Umfang der Pflicht zur Anerkennung ausländischer Eignungsprüfungen für die Zulassung als Wirtschaftprüfer, der sich nach Ansicht des BGH aus der Rechtsprechung des EuGH ohne die Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH ermitteln läßt 47, die An-

41 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 16; von der Groeben/ Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EGV Rn. 67; Streinz-Ehricke, Art. 234 EGV Rn. 44. 42 BGHZ 110, 47, 69 ff. 43 BGH, NJW 1995, 1752, 1754 – Quattro II. 44 BGH, NJW 2002, 2238, 2239 f. 45 Z.B. BGHZ 161, 79, 83 f. 46 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 14 f. 47 BGH, NJW 2005, 747 f.

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3. Teil: Besonderer Teil

wendung des Eignungsprüfungsgesetzes auf ausländische Rechtsanwälte 48 und die Rechtsprechung des EuGH zur Übertragung der Milch-Referenzmengen auf den Verpächter nach der VO (EWG) Nr. 3950/92 49 oder seine Rechtsprechung zu den Schranken des markenrechtlichen Schutzes bei einer unzulässigen Beschränkung des freien Warenverkehrs 50 dienen. c)

Verstöße gegen die Vorlagepflicht

Verstöße gegen die Vorlagepflicht stellen eine Verletzung des EG-Vertrages dar, die grundsätzlich mit den Mitteln des Vertragsverletzungsverfahrens verfolgt werden kann.51 In der Regel wird es allerdings bei einem feststellenden Urteil des EuGH nach Art. 226 EG sein Bewenden haben. Zu der Verhängung von Zwangsgeldern nach Art. 228 EG wird es kaum kommen können, da das einzelstaatliche Verfahren nicht wiederholbar ist. Unter besonderen Umständen kann die Verletzung der Vorlagepflicht aber auch einen Staatshaftungsanspruch nach sich ziehen.52 Das setzt allerdings voraus, daß der Verstoß offenkundig 53 ist. Daran kann es fehlen, wenn das Gericht eine Vorlage in der irrigen Annahme zurückzieht, die Frage sei schon entschieden. Die Verletzung der Vorlagepflicht stellt zudem auch eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG dar. Eine Verfassungsbeschwerde läßt sich allerdings mit diesem Verstoß nur begründen, wenn die Verletzung der Vorlagepflicht bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.54 Das ist normalerweise der Fall, wenn das Gericht die europarechtlichen Dimensionen des Falles völlig verkannt und deshalb nicht vorgelegt hat, obwohl es von der Rechtsprechung des EuGH abwich, und wohl auch, wenn die Rechtsprechung des EuGH Lücken aufweist und es sich einer eindeutig vorzuziehenden Meinung nicht angeschlossen und dem EuGH die Frage nicht vorgelegt hat.

4.

Vorlageverfahren vor dem BGH

a)

Form und Anlaß der Vorlage

Über die Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens entscheiden das nationale Gericht und damit auch der BGH von Amts wegen. Das gilt nicht nur in Verfahren, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, sondern auch im Zivilrechtsstreit, der vom Beibringungsgrundsatz geprägt ist. Das ergibt sich daraus, daß die Vorlage an

48 BGH, NJW 1997, 867, 868. 49 BGH, RdL 2005, 82, 83; BGH, NJW-RR 2004, 210, 211. 50 BGH, GRUR 2005, 52. 51 Eingehend Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung, S. 106 ff. 52 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn. 54 ff.; BGH, NJW 2005, 747. 53 Eingehend Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung, S. 129 ff. 54 von der Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EGV Rn. 71; Streinz-Ehricke, Art. 234 Rn. 47.

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH

den EuGH nach Art. 234 EG nicht im Ermessen der Parteien steht, sondern in dem Ermessen des nationalen Gerichts, sofern dieses überhaupt ein Ermessen hat. Beim BGH und Gerichten, deren Entscheidung nicht angegriffen werden können, ist dieses Ermessen nicht gegeben. Deshalb können die Parteien des Rechtsstreits eine Vorlage nur anregen, aber nicht beantragen. Im Verfahren über eine Nichtzulassungsbeschwerde wird die Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH regelmäßig als Grund für die Zulassung der Revision angeführt. In welcher Form die Vorlage des nationalen Gerichts zu erfolgen hat, legt das EG-Recht nicht fest. Das bestimmt sich vielmehr nach dem nationalen Verfahrensrecht. In Deutschland ist das der Beschluß, weil über eine Vorlagefrage an den EuGH regelmäßig nicht mündlich verhandelt werden muß. b)

Inhalt des Vorlagebeschlusses

aa)

Tenor

Der Tenor des Beschlusses besteht aus der Aussetzung des Verfahrens 55 und Formulierung der Frage, die dem EuGH zur Beantwortung vorgelegt werden soll. Da der EuGH nur abstrakte Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts klären darf, darf die Frage nicht konkret auf den Einzelfall bezogen werden. Das Gericht hat vielmehr aus dem ihm vorliegenden Sachverhalt eine abstrakte Rechtsfrage zu entwickeln, die der EuGH losgelöst vom Einzelfall und abstrakt beantworten kann. bb)

Begründung

Der Vorlagebeschluß ist zu begründen. Eine solche Begründung und ihre Ausgestaltung sind gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Allerdings ergeben sich aus der dem EuGH mit Art. 234 EG gestellten Aufgabe gewisse Mindestanforderungen, die der EuGH in Hinweisen 56 zusammengestellt hat. Diese Hinweise sind rechtlich nicht verbindlich. Ihre Beachtung empfiehlt sich aber, soll die Vorlage nicht als unzulässig zurückgewiesen werden. Die Begründung des Vorlagebeschlusses besteht aus zwei Teilen. In einem ersten Teil ist der tatsächliche und rechtliche Rahmen darzustellen, in dem sich die Vorlagefrage stellt. Der nationale Richter hat dem EuGH also den Sachverhalt zu schildern, den er zu beurteilen hat. Außerdem hat er dem EuGH darzulegen, wie der Fall vorbehaltlich der zu klärenden Rechtsfrage zu lösen ist und in welcher Hinsicht es auf die Klärung der dem EuGH vorgelegten Frage ankommt. Nach Nr. 22 Anstrich 2 der Hinweise des EuGH soll dabei auch der Wortlaut der einschlägigen nationalen Vorschriften mitgeteilt werden, was je nach dem Umfang im Text des Beschlusses oder durch Beifügung als Anlage geschehen kann. Umfang und Ausführlichkeit stehen im Ermessen des vorliegenden Richters. Nr. 22 der

55 In der Praxis des BGH wird stets ausdrücklich ausgesetzt. Die von Brück, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof als Bestandteil des deutschen Zivilprozesses, S. 133 ff., aufgeworfene Streitfrage spielt hier keine Rolle. Rein praktisch kann das Verfahren schon mangels Akten nicht betrieben werden. 56 Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte v. 11.6.2005, ABl. 2005 Nr. C 143/1.

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3. Teil: Besonderer Teil

Hinweise des EuGH gibt als Richtschnur einen Umfang von zehn Seiten an, weist aber darauf hin, daß sich der Umfang letztlich nach der Sache richten muß. Die Schilderung muß deshalb zwar nicht immer lang, wohl aber so ausführlich sein, daß der EuGH die Frage ggf. zuspitzen oder umformulieren kann, um sie sachgerecht und zielführend zu beantworten. Nur so können auch die anderen am Verfahren vor dem EuGH beteiligten Stellen eine sachgerechte Stellungnahme abgeben. Das sind neben den Organen der EG auch die Regierungen der Mitgliedstaaten, die jedenfalls an einem Verfahren vor dem BGH in dieser Eigenschaft nicht beteiligt sind. Im Verfahren vor dem BVerwG und dem BFH gilt das mit der Einschränkung, daß sich die Bundesregierung an jedem Verfahren durch den Vertreter des Bundesinteresses beteiligen kann, was gerade bei Verfahren mit EG-Rechtsbezug angezeigt ist. In einem zweiten Teil der Begründung ist die Fragestellung aufzubereiten. Dem EuGH ist darzustellen, welche Auslegungszweifel geklärt werden sollen, wo jedenfalls aber welche Auslegungsmöglichkeiten bestehen. Wird die Gültigkeit eines EGRechtsaktes in Zweifel gezogen, sind diese Zweifel näher zu erläutern. Auch hier haben die vorlegenden Gerichte ein Gestaltungsermessen. Zweck der Darstellung ist es, dem EuGH die Feststellung zu erlauben, worum es dem nationalen Richter geht. cc)

Praxis des BGH

Die Vorlagebeschlüsse des BGH folgen durchweg dem dargestellten Grundmuster. In der Ausgestaltung dieses Grundmusters sind sie allerdings durchaus unterschiedlich. Es gibt eher knapp gehaltene Vorlagebeschlüsse.57 Andere Vorlagebeschlüsse setzen sich mit der Auslegung des EG-Rechts sehr eingehend auseinander 58 und entlasten schon den Generalanwalt des EuGH. c)

Technische Abwicklung

Der Beschluß wird den Verfahrensbeteiligten zugestellt und ist dann in 20facher Ausfertigung dem Kanzler des Gerichtshofs zuzustellen. Nach Nr. 29 der Hinweise des EuGH sollen auch die Verfahrensakten, jedenfalls aber Kopien davon, übersandt werden. Der BGH legt dem EuGH deshalb die gesamte Verfahrensakte, also die bei dem BGH selbst entstehende Akte und die bei den Vorinstanzen entstandenen Akten, vor.59 Zurück bleibt nur ein Senatsheft, in dem Kopien der Schriftsätze der Verfahrensbeteiligten und Vorbereitungsunterlagen des Senats enthalten sind. Die Verfahrensakte wird beim EuGH, jedenfalls beim Generalanwalt, auch durchaus verwertet.60 57 Z.B. BGH, WRP 2002, 547, 549 – GERRI/KERRY Spring; BGH, BB 2000, 1507, 1508 – Solokünstler; BGH, GRUR 1999, 600, 601 – Haarfärbemittel; BGH, GRUR 1998, 738 f. – Diät-Käse; BGH, NJW 1996, 930, 932 (Bürgschaft als Haustürgeschäft); BGH, ZIP 1995, 372, 373 f. – Siemens. 58 Z.B. BGH, GRUR 2005, 348 – Bestellnummernübernahme; BGH, WRP 2004, 1388, 1390 f. – Polifeprosan; BGH, EuZW 2005, 156, 158 f.; BGH, NJW 2002, 2464, 2467 f., 2468 ff. 59 Vgl. BGH, BGH-Report 2001, 223, 223 f. 60 Vgl. z.B. GA Léger, Schlußanträge v. 2.6.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, ZfIR 2005, 455 Tz. 47.

440

Jürgen Schmidt-Räntsch

§ 18 Die Rechtsprechung des BGH

5.

Vorlageverfahren vor dem EuGH

a)

Schriftliches Vorverfahren

Beim EuGH wird der Vorlagebeschluß in die anderen Amtssprachen übersetzt und den Verfahrensbeteiligten zur Stellungnahme zugeleitet. Verfahrensbeteiligte sind nicht nur die am nationalen Gerichtsverfahren beteiligten Parteien unter Einschluß von Nebenintervenienten oder Beigeladenen. Dazu gehören darüber hinaus auch alle Mitgliedstaaten und die Kommission. Der Rat und die Europäische Zentralbank werden nur beteiligt, wenn die Vorlagefrage dies nahe legt. Im schriftlichen Vorverfahren haben die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme. In der Regel äußern sich die Parteien des Rechtsstreits und die Kommission. Die Mitgliedstaaten äußern sich dann, wenn die Klärung der einen oder anderen Rechtsfrage für sie übergeordnete Bedeutung hat. Die Stellungnahmen werden den anderen Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis übersandt. Diese haben keinen Anspruch darauf, sich noch einmal schriftsätzlich zu diesen Stellungnahmen zu äußern. Sie können dies aber tun, wenn sie das für angezeigt halten und die Stellungnahmefrist noch nicht abgelaufen ist. b)

Mündliche Verhandlung

Im Anschluß an das schriftliche Vorverfahren findet eine mündliche Verhandlung vor dem EuGH statt. Sie wird eingeleitet durch die Schlußanträge des Generalanwalts, in welchen dieser den Fall EG-rechtlich aufarbeitet und dem EuGH eine Beantwortung der Vorlagefrage aus EG-rechtlicher Sicht vorschlägt. Hierüber wird vor dem EuGH mündlich verhandelt. An der mündlichen Verhandlung können alle Verfahrensbeteiligten teilnehmen.61 c)

Urteil des EuGH

Den Abschluß des Verfahrens bildet das Vorabentscheidungsurteil des EuGH. Darin schildert der EuGH gewöhnlich den ihm vorgestellten Sachverhalt. Er beantwortet dann die ihm vorgelegten Fragen der Reihe nach, indem er jeweils zunächst den EGrechtlichen Hintergrund erläutert und anschließend die Frage beantwortet. Das Urteil bindet das vorlegende Gericht.62 Das Verfahren vor dem EuGH ist kostenfrei. Über die sonst entstehenden Kosten entscheidet das nationale Gericht in seiner abschließenden Entscheidung.

61 Streinz-Ehricke, Art. 234 Rn. 57. 62 Zur Bindungswirkung im übrigen: von der Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EGV Rn. 90 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

III.

Auslegungssituationen

1.

Vorabentscheidungsersuchen

Die Situation, in welcher der BGH am intensivsten Gelegenheit zur Auslegung des EG-Rechts hat, ist das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Das klingt auf den ersten Blick paradox. Denn das Vorabentscheidungsersuchen stellt der BGH ja gerade dann, wenn er keine Auslegungskompetenz hat und die Auslegung dem EuGH im Wege eben seines Ersuchens überlassen muß. Wie ausgeführt, muß der BGH in seinem Ersuchen indes nicht nur die Vorlagefragen benennen, sondern auch darstellen, warum die EG-Norm Auslegungsfragen aufwirft und welche Auslegungsalternativen bestehen. Dieses Erfordernis zwingt den BGH zwar nicht dazu, sich eingehend mit der Auslegung der EG-Norm auseinanderzusetzen. Sie gibt ihm aber Gelegenheit dazu. Von dieser Möglichkeit macht der BGH in unterschiedlichem Umfang Gebrauch. Manche Senate nehmen zu der Auslegung des EG-Rechts sehr eingehend Stellung und schlagen auch eine konkrete Auslegung vor.63 Andere halten sich hier eher zurück. Dies hängt in erster Linie von den konkreten Fragen ab. Hierbei sollte aber auch nicht außer Acht gelassen werden, daß die deutschen Gerichte an dem Auslegungsprozeß nicht nur gewissermaßen passiv teilnehmen müssen. Sie haben vielmehr durchaus die Möglichkeit, sich aktiv in den judiziellen Dialog 64 einzuschalten, indem sie aus ihrer Sicht zur Auslegung der Normen Stellung beziehen und ggf. auch einen Auslegungsvorschlag machen. Das ist gerade dann angezeigt, wenn der BGH für das fragliche Rechtsgebiet in Deutschland sozusagen federführend ist. Denn auf diesen Gebieten hat der BGH ausgeprägte Expertise, die er dem EuGH nicht vorenthalten sollte.

2.

Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen

Gelegenheit zur Auslegung des EG-Rechts hat der BGH auch im umgekehrten Fall der Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen. Darüber, ob ein Vorabentscheidungsersuchen zu stellen ist, entscheidet das nationale Gericht von Amts wegen. Das hindert die Parteien gerade auch beim BGH nicht daran, die Stellung eines solchen Ersuchens anzuregen. Mitunter hat ein solcher Vorschlag aber auch taktische Gründe, nämlich den Zweck, beim EuGH eine Änderung der nationalen Rechtsprechung zu erreichen. Das ist legitim. Das nationale Gericht kann und muß aber prüfen, ob die Vorlage an den EuGH wirklich sachgerecht oder, beim BGH, rechtlich geboten ist. Fehlt es daran, muß der BGH die Ablehnung eines Vorabentscheidungsersuchens begründen.65 Auch das erfordert eine Auslegung des EG-Rechts, die allerdings von der Natur der Sache her nicht ausgeprägt sein kann. Beispiele sind die sog. Schrott-

63 BGH, GRUR 2005, 348. 64 Dazu Schmidt-Räntsch, EWiR 2005, 282. 65 Dazu genügt allerdings der Hinweis auf die erfolgte Umsetzung als solcher nicht, anders BGH, NJW-RR 1998, 1661, 1662.

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH

immobilien 66 oder der vergebliche Versuch, den BGH dazu zu bewegen, den EuGH im Hinblick auf das Entfallen von Anerkennungshindernissen nach Art. 34 Nr. 2 EuGVVO erneut mit der Frage einer Anerkennung von Versäumnisurteilen 67, dem Stromeinspeisungsgesetz 68 oder mit der Auslegung von Mietvertragsklauseln am Maßstab der Klauselrichtlinie zu befassen.69

3.

Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts

a)

Primäres Gemeinschaftsrecht

Gelegenheit zur eigenständigen Auslegung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht hat der BGH, soweit er dazu nach den Ausführungen unter II. berufen ist, zunächst bei den unmittelbar auch für Bürger und Unternehmen geltenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts. Das primäre Gemeinschaftsrecht regelt zwar in erster Linie die Rechtsbeziehungen der Organe der Gemeinschaften untereinander und zwischen den Mitgliedstaaten. Es begründet auch Handlungspflichten der Mitgliedstaaten, die aber nicht der Einzelne, sondern nur die Organe der Gemeinschaft durchsetzen können. Streitigkeiten über die wechselseitigen Rechte und Pflichten der Organe und der Mitgliedstaaten haben nicht die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten zu entscheiden, sondern die Gemeinschaftsgerichte, das Europäische Gericht erster Instanz (EuG) und der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH). Es gibt aber auch Vorschriften des primären Gemeinschaftsrechts, die unmittelbar gelten und in Verfahren vor den ordentlichen Gerichten Bedeutung erlangen. Das sind vor allem die Vorschriften der Art. 81 und 82 EG über wettbewerbshindernden Vereinbarungen 70 und den Mißbrauch einer den Markt beherrschenden Stellung. Die Vorschriften des EG-Beihilfenrechts der Art. 87 ff. EG gehören dazu.71 Auch andere Vorschriften der Gemeinschaftsverträge, z.B. Art. 30 EG,72 können unmittelbare Wirkung haben und in Verfahren vor dem BGH anzuwenden sein. b)

Verordnungsrecht

aa)

Öffentliches Recht

Häufiger werden die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten mit Verordnungsrecht konfrontiert. Es gilt nach Art. 249 Abs. 2 EG unmittelbar in jedem Mitgliedstaat und ist auch für Bürger und Unternehmen und nicht nur für die Mitgliedstaaten verbindlich. Gegenstand des Verordnungsrechts sind aber überwiegend Mate-

66 BGH, NJW 2004, 153, 154; BGH, NJW 2004, 154, 155; BGH, WM 2003, 2186. 67 BGH, NJW 2004, 3189. 68 BGHZ 155, 141, 157 f. 69 BGH, NJW 2004, 2961 f. 70 Beispiel: BGH, WRP 2004, 1378, 1380 f. – Citroen. 71 Dazu Schmidt-Räntsch, NJW 2005, 106, 107 f.; aus der Rechtsprechung des BGH: BGH, EuZW 2003, 444; BGH, EuZW 2004, 252; BGH, VIZ 2004, 77; BGHZ 155, 141, 157 f. 72 BGHZ 155, 141, 158.

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3. Teil: Besonderer Teil

rien, die nach deutschem Rechtsverständnis dem öffentlichen Recht zuzuordnen und deshalb in erster Linie von den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Finanz- und der Sozialgerichtsbarkeit zu beurteilen sind. Allerdings kann die Anwendung und Umsetzung von Verordnungsrecht auch von den ordentlichen Gerichten zu beurteilen sein. Das ist vor allem in Fällen aus dem Bereich des Amts- und Staatshaftungsrechts, des Wettbewerbsrechts und des Strafrechts der Fall. Verordnungen mit öffentlich-rechtlichem Inhalt richten sich oft (auch) an die Behörden der Mitgliedstaaten und sind von ihnen bei ihrem Amtswalten zu beachten. Geschieht dies nicht, so löst dies unter den gleichen Voraussetzungen Schadensersatzansprüche aus wie ein Verstoß gegen nationale Vorschriften. Vor allem Verordnungen mit lebensmittelrechtlichem oder gewerberechtlichem Inhalt richten sich oft nicht nur an Behörden, sondern in erster Linie an die Gewerbetreibenden selbst. Sie geben ihnen bestimmte Rezepturen vor, verbieten die Verwendung bestimmter Stoffe und Verfahren und dergleichen mehr. Hält sich ein Gewerbetreibender nicht an diese Vorschriften, verschafft er sich einen unerlaubten Sondervorteil gegenüber seinen Wettbewerbern, die sich an die Vorschriften halten und handelt deshalb wettbewerbswidrig im Sinne von § 3 UWG.73 Verlangt ein Wettbewerber nach § 13 UWG Unterlassung, haben die ordentlichen Gerichte in solchen Fällen im Kern zu prüfen, ob die lebensmittel- oder gewerberechtlichen Vorschriften eingehalten sind. Handelt es sich dabei um Verordnungsrecht, ist dieses heranzuziehen.74 Aus Verordnungsrecht können sich auch in anderen Bereichen Vorgaben für die Anwendung des nationalen Rechts ergeben. Das war etwa bei der pachtrechtlichen Zuordnung der Milchreferenzmenge der Fall, die durch das EGMarktordnungsrecht 75 bestimmt wurde.76 bb)

Zivilrecht

Auf dem Gebiet des Zivil- und Handelsrechts gab und gibt es vergleichsweise wenig Verordnungsrecht. Der Gemeinschaftsgesetzgeber zieht hier bisher die Rechtsform der Richtlinie vor, weil sie den Mitgliedstaaten das Einpassen der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben in die nationale Zivilrechtsordnung erleichtert. Die recht häufigen Verzögerungen bei der Umsetzung und vor allem die sich bei der Umsetzung ergebenden Regelungsunterschiede in den Mitgliedstaaten haben bei der Kommission die Neigung verstärkt, auch auf dem Gebiet des Zivil- und Handelsrechts unmittelbar geltendes Verordnungsrecht vorzuschlagen, das dann in Deutschland von den jetzt in erster Linie berufenen ordentlichen Gerichten und dem BGH zu beurteilen ist. Zu nennen sind hier die Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung

73 BGH, GRUR 2004, 1037, 1038 f. – Johanniskraut (betraf allerdings eine Richtlinie). 74 BGH, BGH-Report 2004, 1430, 1432 – Honigwein. 75 Verordnung (EWG) Nr. 3950/92 des Rates v. 28.12.1992 über die Erhebung einer Zusatzabgabe im Milchsektor, ABl. 1992 Nr. L 405/1, aufgehoben mit Wirkung v. 1.4.2004 durch Art. 25 der Verordnung (EG) Nr. 1788/2003 des Rates v. 29.9.2003 über die Erhebung einer Abgabe im Milchsektor, ABl. 2003 Nr. L 270/123. 76 BGH, RdL 2005, 82, 83; BGH, NJW-RR 2004, 210, 211. Diese Beihilfe ist inzwischen durch eine unternehmensbezogene Beihilfe ersetzt worden.

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH

(Brüssel I),77 die Brüssel II-Verordnung,78 die Zustellungsverordnung,79 die Insolvenzverordnung 80, die Beweisaufnahmeverordnung,81 die Vollstreckungsverordnung 82. Verordnungsrecht gibt es nicht nur auf dem Gebiet des internationalen Insolvenz- und Prozeßrechts. Es gibt dies, wenn auch in geringerem Umfang, im Bereich des materiellen Zivil- und Handelsrechts. Zu nennen sind hier vor allem gewerbliche Schutzrechte 83 und die supranationalen Gesellschaftsformen der EWIV 84 und der SE 85, etwa auch die Verordnung über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro 86 und, im Zusammenhang mit der Umstellung auf den Euro die Vorschriften über die Einführung des Euro, die sich auch mit der Umstellung von vertraglichen Preisregelungen befassen.87 c)

Richtlinien

Unmittelbar gelten können im Einzelfall auch Vorschriften von Richtlinien. Voraussetzung hierfür ist neben dem Ablauf der Umsetzungsfrist vor allem, daß die Richtlinienvorschrift hinreichend bestimmt ist, der Mitgliedstaat also kein Gestaltungs-

77 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22.12.2000 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 L 12/6. 78 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. Nr. L 338/19. 79 Verordnung Nr. 1348/2000 des Rates vom 29.5.2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten, ABl. 2000 L 160/37. 80 Verordnung EG Nr. 1346/2000 des Rates vom 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. 2000 L 160/1. 81 Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28.5.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, ABl. Nr. L 174/1. 82 Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.4.2004 zur Einführung eines Europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen, ABl. Nr. L 143/15. 83 Vgl. z.B. Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates v. 20.12.1993 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 1993 Nr. L 11/1; Verordnung (EG) Nr. 2100/94 v. 27.7.1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, ABl. 1994 Nr. L 227/1, i.d.F. der Verordnung (EG) Nr. 873/2004 des Rates v. 29.4.2004 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, ABl. 2004 Nr. L 162/38; Verordnung (EG) Nr. 1610/96 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.7.1996 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Pflanzenschutzmittel, ABl. 1996 Nr. L 198/30; Verordnung (EWG) Nr. 1768/92 des Rates v. 18.6.1992 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel, ABl. 1992 Nr. L 182/1. 84 Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates v. 25.7.1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), ABl. 1985 Nr. L 199/1. 85 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2001 Nr. L 294/1. 86 Verordnung (EG) Nr. 2569/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.12.2001 über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro, ABl. 2001 Nr. L 344/13. 87 Vgl. etwa BGH, RdL 2005, 147; zu den Einzelheiten der Euro-Einführung Schmidt-Räntsch, ZIP 1998, 2041ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

ermessen hat.88 Teilweise wird darüber hinaus auch verlangt, daß die Richtlinie subjektive Rechte des Einzelnen formuliert, was sich in der Rechtsprechung des EuGH aber nicht zwingend widerspiegelt.89 Eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie kommt auch nur im Verhältnis des Bürgers zum Staat in Frage. Eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien im Verhältnis der Bürger untereinander ist bislang außerhalb des Arbeitsrechts nicht anerkannt.90 Das bedeutet, daß die unmittelbare Wirkung einzelner Richtlinienvorschriften nur im Bereich des öffentlichen Rechts zum Tragen kommt. Die ordentlichen Gerichte werden hiermit nur im Rahmen von Haftungs-, Wettbewerbs- und Strafprozessen konfrontiert.

4.

Anwendung von Umsetzungsvorschriften

a)

Umsetzungspflicht

Der weit überwiegende Teil des Gemeinschaftsrechts mit prozeßrechtlichem ziviloder handelsrechtlichem Inhalt ist bislang nicht in der Form der Verordnung, sondern in der Form der Richtlinie erlassen worden. Richtlinien gelten aber, wie ausgeführt, im Unterschied zu Verordnungen im Verhältnis Privater untereinander nicht unmittelbar. Sie sind vielmehr an die Mitgliedstaaten gerichtet und verpflichten diese, ihre Rechtsordnung an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen. Da die Vorgaben solcher Richtlinien regelmäßig das Verhältnis der Bürger und Unternehmen untereinander betreffen, liegen bei ihnen die Voraussetzungen einer unmittelbaren Anwendung in der Regel nicht vor. Das nationale Gericht hat deshalb grundsätzlich nicht die Richtlinie, sondern allein die Vorschriften zu ihrer Umsetzung auszulegen und anzuwenden und muß, auch wenn diese verspätet erlassen werden, grundsätzlich erst deren Erlaß abwarten. Er hat also vorbehaltlich noch zu erläuternder Ausnahmen zunächst keine Gelegenheit, solche Richtlinien auszulegen und anzuwenden. Umzusetzen hat der nationale Gesetzgeber die inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie. Sie sind in älteren Richtlinien auf dem Gebiet des Zivilrechts zurückhaltender als in neueren Richtlinien, deren Vorgaben zum Teil ausgesprochen engmaschig sind. Wie der nationale Gesetzgeber das erreicht, steht ihm nach der Natur der Richtlinie frei. Er kann ein Sondergesetz erlassen, wie dies etwa mit dem Haustürwiderrufs- 91 oder dem Teilzeit-Wohnrechtsgesetz 92 geschehen ist, die jetzt beide in das BGB 88 von der Groeben/Schwarze-Schmidt, Art. 249 EGV Rn. 42; Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 106 ff. 89 Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 110. 90 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I 8835 Rn. 108 f.; zum Arbeitsrecht vgl. jetzt aber EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, NJW 2005, 3695, 3698 Rn. 77. 91 Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften i.d.F. der Bekanntmachung v. 29.6.2000, BGBl. I S. 956, das die Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 Nr. L 372/31, umsetzt. 92 I.d.F. der Bekanntmachung v. 29.6.2000, BGBl. I S. 958, das die Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 Nr. L 280/82, umsetzt.

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH

überführt worden sind. Er kann sich, wie etwa im Reiserecht 93 und im Recht der AGB-Kontrolle 94, zur Umsetzung der Richtlinie aber auch vorhandener Vorschriften bedienen. Der Gesetzgeber hat auch die Möglichkeit, neue allgemeine Vorschriften zu erlassen. Ein Beispiel hierfür ist die Umsetzung der Kaufrechtsrichtlinie.95 Wie auch immer der Mitgliedstaat seine Umsetzungspflicht erfüllt, sie endet wie stets nicht mit dem Erlaß der Gesetze. Vielmehr hat er durch die zuständigen Stellen sicherzustellen, daß die erlassenen Vorschriften auch so angewendet werden, daß die Vorgaben und Ziele der Richtlinie erreicht werden. b)

Auslegung von Umsetzungsvorschriften

aa)

EG-konforme Auslegung

Bei der Auslegung der zur Umsetzung von Richtlinien erlassenen Vorschriften ist der nationale Richter deshalb nicht frei. Er kann sie nicht autonom so auslegen, wie das aus nationaler deutscher Sicht empfehlenswert oder geboten ist. Die Pflicht zur Umsetzung einer Richtlinie nach Art. 249 Abs. 3 EG erschöpft sich nicht nur in dem Erlaß der erforderlichen nationalen Umsetzungsvorschriften. Diese Umsetzungsvorschriften sind vielmehr von den Verwaltungsorganen und von den Gerichten so anzuwenden, daß Inhalt und Ziele der Richtlinie effektiv verwirklicht werden. Zu diesem Zweck haben die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten das Umsetzungsrecht unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH EG-Rechts-konform auszulegen.96 Dabei ist allerdings auch zu berücksichtigen, inwieweit sich der zu entscheidende Fall von den in der Rechtsprechung des EuGH bereits entschiedenen Fällen unterscheidet.97 Die Grenze der EG-konformen Auslegung bildet zwar grundsätzlich der Wortlaut des nationalen Umsetzungsrechts.98 Die Gerichte der Mitgliedstaaten haben aber alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel der Auslegung zu nutzen, um ein der Richtlinie entsprechendes Rechtsanwendungsergebnis zu erzielen. Sie müssen deshalb die Techniken, mit denen im nationalen Kontext Normenkonflikte vermieden werden, auch in einem Konflikt des nationalen mit dem EG-Recht anwenden.99 Dieses Anforderungsprofil relativiert die Wortlautgrenze stark.100 93 Gesetz zur Durchführung der Richtlinie des Rates vom 23. Juni 1990 über Pauschalreisen vom 24.6.1994, BGBl. I S. 1322, mit dem die Richtlinie 90/314/EWG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. EG Nr. L 158 S. 59, umgesetzt wird. 94 Gesetz zur Änderung des AGB-Gesetzes und der Insolvenzordnung vom 19.7.1996, BGBl. I S. 1013, mit dem die Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 Nr. L 95/29, umgesetzt wird. 95 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 Nr. L 171/12. 96 Eingehend dazu Roth, oben, § 11. 97 Z.B. im Fall Zulassungsnummer III, BGH, NJW-RR 2003, 327, 328. 98 BGH, NJW-RR 2005, 354, 355; BGH, NJW 2004, 153, 154; BGH, WM 2003, 2186, 2187. 99 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., (noch nicht in Slg.) ZIP 2004, 2342, 2343 Rn. 115 f.; ähnlich auch BGHZ 150, 248, 253. 100 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51f.; BGHZ 160, 134, 140 und BGH, NJW 2004, 2971 (fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen) sprechen von „berichtigender Auslegung“, die er aber in casu verneint; sehr weit geht bei der Auslegung von § 5 Abs. 2 HTWG auch BGHZ 150, 248, 253.

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bb)

Überschießende Umsetzung

Eine EG-konforme Auslegung bereitet bei Vorschriften keine Schwierigkeiten, die ausschließlich Fälle betreffen, die von den Richtlinien erfaßt werden. Das ist regelmäßig bei Sondergesetzen der Fall, die zur Umsetzung einzelner Richtlinien erlassen werden. Anders liegt es aber bei allgemeinen oder besonderen Vorschriften, die auch auf Fälle anwendbar sind, die von den Richtlinien selbst nicht erfaßt werden. Eine solch überschießende Umsetzung ergab sich etwa in dem früheren Verbraucherkreditgesetz, dessen Anwendungsbereich sich nicht vollständig mit der Verbraucherkreditrichtlinie deckte und das auch ein dort nicht vorgesehenes Widerrufsrecht einführte.101 Ein anderes Beispiel sind die Vorschriften des mit dem Gesetz zur Modernisierung umgestalteten Leistungsstörungs- und Kaufrechts, die nicht nur für Verbrauchsgüterkäufe im Sinne der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie gelten, sondern schlechthin für alle Kaufverträge und auch für ganz andere Verträge. In diesen Fällen besteht eine Verpflichtung zur EG-konformen Auslegung nur, soweit es sich um Fälle handelt, die von den Richtlinien erfaßt werden. Im übrigen aber besteht eine EG-rechtliche Pflicht zur EG-konformen Auslegung nicht.102 Sicherzustellen ist nach der Rechtsprechung des EuGH lediglich, daß der Rechtsanwender klar erkennen kann, wie die von der Richtlinie erfaßten Fälle behandelt werden sollen.103 Das bedeutet, daß überschießende nationale Umsetzungsvorschriften EG-rechtlich gespalten ausgelegt werden können, nämlich EG-konform für die von den Richtlinien erfaßten Fälle und autonom im übrigen.104 Eine solche gespaltene Auslegung ist aber nur möglich, wenn sie den nationalen Vorgaben genügt. Sie darf also nicht im Widerspruch zu dem im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers und zur Systematik des Gesetzes stehen, außerdem muß für eine unterschiedliche Behandlung der Fallgruppen ein sachlicher Grund gegeben sein. Es läßt sich zwar nicht ausschließen, daß diese Vorgaben in dem einen oder anderen Fall erfüllt sind. In der Regel werden sie aber nicht erfüllt sein. Es wäre zum Beispiel nicht möglich, den Begriff des geringfügigen Mangels bei Verbrauchsgüterkäufen anders auszulegen als bei Immobilienkäufen 105 oder das Widerrufsrecht nach Haustürwiderrufsrecht nur bei Realkreditverträgen, nicht aber auch bei Personalkreditverträgen zu geben.106 c)

Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln

Der nationale Gesetzgeber kann sich, wie ausgeführt, zur Umsetzung von Richtlinien auch vorhandener nationaler Vorschriften bedienen. Nationale Generalklauseln sind dafür aber nur geeignet, wenn sie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine gefestigte Ausprägung in Fallgruppen erfahren haben, die die Vorgaben

101 102 103 104 105 106

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Dazu Schmidt-Räntsch, MDR 2005, 6, 11f. Einzelheiten dazu bei Schmidt-Räntsch, FS Wenzel, S. 413 f. EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4695 Rn. 34. Eingehend dazu Habersack/Mayer, oben, § 12. Schmidt-Räntsch, FS Wenzel, S. 415 f. BGH, NJW 2002, 1881, 1883; BGH, BB 2004, 2711, 2712.

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH

der umzusetzenden Richtlinie hinreichend konkret abbildet.107 Das war etwa bei § 1 UWG (heute § 3 UWG) der Fall, der in der Rechtsprechung des BGH eine Konkretisierung in festen Fallgruppen erfahren hat, die Vorgaben der früheren wettbewerbsrechtlichen Richtlinien deutlich abbildete. Dagegen hat der EuGH eine Vorschrift des Niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht ausreichen lassen, die inhaltlich § 307 Abs. 1 BGB entsprach.108 Es fehlten nämlich konkretisierende Vorschriften, wie sie das BGB in den §§ 308 und 309 aufweist. Ein solches Defizit ist für die meisten Generalklauseln typisch, die zwar eine gewisse Ausprägung in Fallgruppen erfahren haben, regelmäßig aber nicht so konturenscharf sind, daß die Umsetzung einer Richtlinie durch Verweis auf die Generalklausel erspart werden kann. Das führt dazu, daß EG-Vorgaben bei der Auslegung von Generalklauseln in unterschiedlichem Umfang zu berücksichtigen sind. Dient die Generalklausel des nationalen Rechts allein der Umsetzung einer Richtlinie, dann ist sie wie jede andere Umsetzungsvorschrift auch EG-konform auszulegen. Denn anders ließe sich in einem solchen Fall die Vorgabe zur effizienten Umsetzung der Richtlinie nicht erfüllen. Das bedeutet aber auch, daß die Rechtsprechung zur Auslegung der Generalklausel den Inhalt der Richtlinie und ihre Auslegung durch den EuGH genau abbilden muß.109 Geschieht das nicht, muß das nationale Recht um spezielle Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie ergänzt werden.

5.

Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften

Anders liegt es bei Generalklauseln, die nicht speziell zur Umsetzung einer Richtlinie gedacht sind. Solche Generalklauseln müssen regelmäßig konkretisiert werden. Die Konkretisierung ist oft nur unter Rückgriff auf Vorschriften aus anderen Rechtsbereichen möglich. Dazu kann unmittelbar geltendes EG-Recht, dazu können aber auch EG-rechtlich vorbestimmte nationale Vorschriften gehören. Ein Beispiel ist die Beachtung der Verkehrssicherungspflicht, die sowohl im vertragsrechtlichen als auch im deliktsrechtlichen Kontext eine Rolle spielt. Die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht ergeben sich regelmäßig aus gewerberechtlichen Vorschriften oder DIN und ähnlichen Normen.110 Diese können auf EG-Recht behoben oder selbst EG-Recht sein. Ein anderes Beispiel ist eine jüngere Entscheidung des V. Zivilsenats des BGH.111 Hier verlangte der Nachbar eines Flughafens von der Betreibergesellschaft Ersatz der Kosten für Lärmschutzmaßnahmen nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB. Das setzt voraus, daß die Lärmimmissionen über das ortübliche Maß hin-

107 Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 93. 108 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17 f., 21; weniger streng aber EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 Rn. 18, 20. 109 BGH, NJW-RR 2005, 342, 343 f. – Streßtest; BGHZ 158, 26, 31 – Genealogie der Düfte; BGHZ 138, 55, 61ff. – Testpreis-Angebot (vergleichende Werbung im Rahmen von § 1 UWG a. F. UWG [§ 3 UWG n.F.]). 110 BGH, NJW 2004, 1449, 1450. 111 BGH, NJW 2005, 660.

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ausgingen. Dafür kam es nach § 906 Abs. 1 S. 2 BGB auf das Vorhandensein technischer Vorschriften und Normen an. Solche Vorgaben konnten sich auch aus EGRecht ergeben, weshalb der Senat auch geprüft hat, ob sie in der Richtlinie über Umgebungslärm 112 vorgegeben waren, was nicht der Fall ist.113 Wäre das der Fall, hätte der Senat sie berücksichtigen müssen, obwohl die Richtlinie zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht umgesetzt war. Ein anderes Beispiel ist die Ausfüllung von § 400 Abs. 1 Nr. AktG durch die einschlägigen EG-Rechtsnormen.114

6.

Haftung für verspätete Umsetzung von EG-Recht

a)

EG-rechtliche Haftung

Bürgern und Unternehmen kann aber aus der verspäteten Umsetzung ein Schaden entstehen. Diesen Schaden haben die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH dem Bürger unter besonderen Umständen zu ersetzen. Die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm muß den Zweck haben, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß muß hinreichend qualifiziert 115 sein. Außerdem muß zwischen dem Verstoß gegen die dem Mitgliedstaat obliegenden Verpflichtung und dem dem Geschädigten entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen.116 Diese Voraussetzungen waren etwa bei Art. 7 der Pauschalreiserichtlinie 117 gegeben, derzufolge der Mitgliedstaat den Pauschalreisenden gegen das Risiko einer Insolvenz des Reisenveranstalters abzusichern hat.118 Bei der Einlagensicherungsrichtlinie 119, nach der die Mitgliedstaaten zur Sicherung der Einlagen einen Fonds einzurichten haben, lag es genauso.120 Für das Versäumnis haftet in Deutschland die Körperschaft, die für die Umsetzung zuständig ist, bei Bundesvorschriften also der Bund, der sich aber entlasten kann, wenn die ausführenden Landesbehörden ein eigenes Verschulden bei der Umsetzung des nationalen Rechts trifft.121 Über solche Schadensersatzansprüche entscheiden die ordentlichen Gerichte. Der Schadensersatzanspruch hängt jedenfalls dem Grunde nach entscheidend davon ab, ob die nicht fristgerecht umgesetzte Richtlinie subjektive Rechte des Einzelnen hinreichend konkret bestimmt oder nicht.

112 Richtlinie 2002/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.6.2002 über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm, ABl. 2002 L 189/12. 113 BGH, NJW 2005, 660, 663. 114 BGH, NJW 2005, 445, 448. 115 Dazu z.B. BGHZ 146, 153, 160 ff. 116 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn. 30 f.; BGH, NJW 2005, 742. 117 Richtlinie 90/314/EWG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 Nr. L 158/59. 118 EuGH v. 8.10.1996 – verb. Rs. C-178, 179, 188, 189 und 190/94 Dillenkofer u. a., Slg. 1996, I-4845 Rn. 22, 36 ff.; EuGH v. 15.6.1999 – Rs. C-140/97 Rechberger, Slg. 1999, I-3499 Rn. 44 ff. 119 Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30.5.1994 über Einlagensicherungssysteme, ABl. 1994 Nr. L 135/5. 120 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-222/02 Paul, (noch nicht in Slg.) NJW 2004, 3479, 3480 Rn. 26 f. 121 BGHZ 161, 224; ähnlich BGHZ 146, 153, 164.

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH

b)

Amtshaftung

Die Vorgaben einer nicht rechtzeitig umgesetzten Richtlinie können allerdings von den ordentlichen Gerichten auch im Zusammenhang mit einem Amtshaftungsrechtsstreit zu beachten sein. Einmal kann es sein, daß die Richtlinie den Behörden der Mitgliedstaaten besondere Amtspflichten dafür auferlegt, daß die vorzusehenden Einrichtungen auch tatsächlich eingerichtet werden. Das war etwa der eigentliche Gegenstand der schon erwähnten Rechtssache Paul, in der eine solche Amtspflicht kraft Richtlinie aber verneint wurde.122 Ferner kann es sein, daß eine nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinie mit öffentlich-rechtlichem Inhalt unmittelbar anzuwenden und das Verhalten der Behörde an den Vorgaben der Richtlinie unmittelbar zu messen sein kann. Dem hätten die ordentlichen Gerichte im Amtshaftungsprozeß nachzugehen.

7.

Überbrückung von Umsetzungsdefiziten

a)

Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten

Das nationale Recht der Mitgliedstaaten kann dem EG-Recht widersprechen. Widerspricht es unmittelbar geltendem Verordnungsrecht, haben die nationalen Gerichte nur das vorrangige und unmittelbar geltende Verordnungsrecht anzuwenden. Das ihm widersprechende nationale Recht bleibt außer Anwendung.123 Etwas anderes könnte nur gelten, wenn ausnahmsweise der Verfassungsvorbehalt greift.124 Das ist aber regelmäßig nicht der Fall, weil die bisher vorgenommenen Übertragungen von Kompetenzen an die Gemeinschaften verfassungsrechtlich unbedenklich waren und das Gemeinschaftsrecht ebenfalls nach Erlaß der Charta auch unabhängig von dem Scheitern des Verfassungsvertrages eine ausreichende Grundrechtsgarantie enthält. Anders liegt es bei einem Widerspruch des nationalen Rechts zu einer EGRichtlinie. Die EG-Richtlinie verpflichtet den Mitgliedstaat dazu, sein Recht an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen. Sie kann aber das Recht der Mitgliedstaaten nicht ändern oder außer Kraft setzen. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn die Umsetzungsfrist abgelaufen ist. Der ergebnislose Ablauf der Umsetzungsfrist führt dazu, daß die Kommission nach Art. 226 EG gegen den säumigen Mitgliedsstaat ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet und daß der EuGH die nachgewiesene Vertragsverletzung in einem Urteil feststellt. Kommt der Mitgliedstaat auch nach einer solchen Feststellung einer ihm von der Kommission gesetzten Frist zur Umsetzung der Richtlinie nicht nach, kann die Kommission nach Art. 228 EG beim EuGH die Festsetzung eines Zwangsgeldes gegen den Mitgliedstaat beantragen. Diese Mög-

122 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-222/02 Paul, (noch nicht in Slg.) NJW 2004, 3479, 3480 Rn. 30 f.; ihm folgend BGH, NJW 2005, 742, 743. 123 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1270; von der Groeben/ Schwarze-Schmidt, Art. 249 EGV Rn. 2, 6; Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 46, 62. 124 Dazu Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EGV Rn. 46 ff.; von der Groeben/Schwarze-Schmidt, Art. 249 EGV Rn. 5.

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3. Teil: Besonderer Teil

lichkeiten stehen aber ausschließlich der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten zur Verfügung. Bürger und Unternehmen haben diese Rechtsbehelfe nicht. b)

Überbrückung durch Rechtsprechung

Die Versäumung der Frist zur Umsetzung einer Richtlinie ist regelmäßig in erster Linie ein Versäumnis des nationalen Gesetz- oder Verordnungsgebers. Der Gesetzund der Verordnungsgeber des Mitgliedstaates sind aber nicht die einzigen Adressaten der Umsetzungspflicht. Die Umsetzungspflicht trifft vielmehr alle Organe des Staates, die dazu beitragen können. Das sind auch die Gerichte.125 Sie können eine privatrechtswirksame Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist zwar nicht unmittelbar anwenden. Sie haben sich aber bei der Auslegung des nationalen Rechts unabhängig davon, ob es vor oder nach der Richtlinie erlassen wurde, jedenfalls dann, wenn die Richtlinie unbedingt und hinreichend bestimmt ist 126, soweit wie möglich an Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten, so daß das mit dieser verfolgte Ziel, auch im Verhältnis von Privaten untereinander, in größtmöglichem Umfang erreicht wird 127. Das gilt auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist.128 Deshalb würden die ordentliche Gerichte beispielsweise die Vorgaben der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft 129 zu beachten haben, wenn sich ein Farbiger gegen die Verweigerung eines Mietvertrags zivilrechtlich wehren will oder ein Verbraucherverband im Unterlassungsklageverfahren nach § 1 UKlaG ethnische Gruppen benachteiligende Allgemeine Geschäftsbedingungen zur Überprüfung stellt. Das gilt nicht nur im Rahmen von den §§ 138, 826 BGB,130 sondern auch im Rahmen anderer offener Tatbestände wie z.B. den §§ 307, 906 BGB und den §§ 1, 2 UKlaG. Das allerdings enthebt den Gesetzgeber nicht seiner EG-rechtlichen Verpflichtungen.131

IV.

Auslegungsmethoden

1.

Vorbemerkung

Der BGH ist zwar inhaltlich mit den unterschiedlichsten Fragen der Anwendung des Gemeinschaftsrechts befaßt. Gelegenheit zu einer vertieften Auslegung dieser Vorschriften hat der BGH aber selten. Wenn sich nämlich das Bedürfnis nach der

125 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., (noch nicht in Slg.) ZIP 2004, 2342, 2343 Rn. 110 f. 126 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26; BGHZ 151, 300, 315 – Elektronischer Pressespiegel. 127 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 30; BGH, NJW 2001, 3698, 3699 f. – U-Bahn-Waggons; BGH, NJW 1993, 3139 – Dos; BGHSt 37, 168, 174 f. 128 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environment-Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 44 ff.; BGHZ 138, 55, 62 – Testpreis-Angebot. 129 ABl. 2000 Nr. L 180/22. 130 So etwa Palandt-Heinrichs, Anh nach § 319 BGB Rn. 10. 131 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 21.

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH

eingehenden Auslegung dieser Vorschriften stellt, ist der BGH zur Vorlage an den EuGH verpflichtet. In den Vorabentscheidungsersuchen nimmt der BGH allerdings zum Teil sehr ausführlich zur Auslegung von Richtlinien Stellung. Wenn der BGH EG-Vorschriften auslegt, wendet er je nach den Bedürfnissen des konkreten Einzelfalls die klassischen Auslegungsmethoden an und berücksichtigt bei dem EG-Recht zusätzlich auch die Erwägungsgründe. Im einzelnen ergibt sich folgendes.

2.

Wortlautauslegung

Die in der Rechtsprechung des BGH am häufigsten verwandte Auslegungsmethode ist die Wortauslegung.132 Das ist auch nicht verwunderlich, da der BGH von einer Vorlagepflicht vor allem dann befreit und zu einer eigenständigen Auslegung des EG-Rechts vor allem dann befugt ist, wenn sein Inhalt klar und eindeutig ist. Das ist er normalerweise nur, wenn sich der Inhalt des EG-Rechts im Wege der Wortauslegung ergibt. Dabei greift der BGH, wenn es eine einschlägige EuGH-Rechtsprechung zur Auslegung der Vorschrift gibt, auch auf diese Rechtsprechung zurück.133 Gelegentlich spielen auch die verschiedenen Sprachfassungen eine Rolle.134

3.

Systematische Auslegung

Eine systematische Auslegung des EG-Rechts unter Einbeziehung auch der Erwägungsgründe kommt in der Rechtsprechung des BGH häufiger vor. Gelegenheit hierzu besteht bei Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Hier kann der BGH nur einen Auslegungsvorschlag unterbreiten, die Vorschriften allerdings nicht selbst verbindlich auslegen. Gerade im Bereich des Marken- und Wettbewerbsrechts finden sich oft sehr eingehende Ausführungen auch zu den systematischen Zusammenhängen. Beispiele sind der Fall Bestellnummernübernahme 135 zum Zusammenspiel von Art. 3a Abs. 1 lit. d und g der Werbungsrichtlinie 136 oder der Fall Omeprazol 137 zur Gültigkeit und Auslegung der Art. 15 und 19 der Arzneimittel-Schutzzertifikat-

132 Beispiele: BGH, NJW 2005, 747; BGH, GRUR 2005, 258; BGH, GRUR 2004, 1037, 1038 f. – Johanniskraut; BGH, NJW 2004, 2664, 2668; BGH, NJW 2004, 2971 (fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen); BGH, WRP 2004, 1378, 1380 – Citroen; BGH, MDR 2004, 1415, 1416; BGH, BGH-Report 2004, 1430, 1432 – Honigwein; BGH, GRUR 2004, 793, 796 – Sportlernahrung II; BGHZ 158, 236, 244, 247 f. – Internet-Versteigerung; BGH, WM 2003, 2186 (Schrottimmobilien); BGHZ 151, 286, 293 – Muskelaufbaupräparate; BGH, ZLR 2002, 660, 665 – Sportlernahrung; BGH, NJW 2001, 2963, 2965 (Vollmacht für Verbraucherkreditvertrag). 133 Z.B. BGH, RdL 2005, 82, 83; BGH, NJW-RR 2004, 210, 211; BGH, MDR 2004, 1415, 1416; BGH, NJW-RR 2000, 438, 439. 134 Z.B. BGH, WRP 2004, 1388, 1390 f. – Polifeprosan; BGH, EuZW 2004, 537 – Nachbauvergütung. 135 BGH, GRUR 2005, 348 f. 136 Richtlinie 84/450/EWG des Rates v. 10.9.1984 über irreführende und vergleichende Werbung, ABl. 1984 L 250/17, i.d.F. der Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.10.1997, ABl. 1997 L 290/18. 137 BGH, GRUR 2000, 392, 393 ff. – Opremazol.

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3. Teil: Besonderer Teil

Richtlinie 138. Eine systematische Auslegung ist aber auch möglich, wenn der BGH ohne Vorlage an den EuGH selbst entscheiden kann. Denn eine Vorschrift ist nicht nur dann klar und eindeutig, wenn sich das aus dem Wortlaut ergibt. Das kann sich auch aus systematischen Zusammenhängen ergeben. Beispiele sind das ReitunfallUrteil des BGH zu den EG-rechtlichen Vorgaben für die Möglichkeit des Reiseveranstalters, sich von der Haftung für Schäden des Reisenden zu entlasten,139 oder der Fall Kerosinzuschlag I 140 zu den EG-Vorgaben für nachträgliche Preiserhöhungen bei Pauschalreisen. Ausführungen zur Systematik von Gemeinschaftsrecht finden sich in geeigneten Fällen auch in Urteilen ohne vorherige Befassung des EuGH.141

4.

Historische Auslegung

Die historische Auslegung ist bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts in der Rechtspraxis des BGH ebenso wie bei der Auslegung des nationalen Rechts eher selten.142 Sie findet sich tendenziell eher bei Entscheidungen, die EG-rechtlich stärker durchdrungen sind.143 Bei Rechtsgebieten, die EG-rechtlich weniger stark durchdrungen sind, findet sich eine historische Auslegung nicht.

5.

Teleologische Auslegung

In der Rechtsprechung des BGH zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts findet sich auch die teleologische Auslegung. Zu berücksichtigen ist aber, daß der Rückgriff auf einen Zweck der Vorschrift in der Regel dann erforderlich ist, wenn sie nicht mehr klar und eindeutig und deshalb verbindlich vom EuGH auszulegen ist. Einige Ansätze für eine teleologische Auslegung finden sich deshalb vor allem in Vorabentscheidungsersuchen, in denen der BGH nur einen Entscheidungsvorschlag machen, aber nicht selbst entscheiden kann.144 Allerdings gibt es auch Fälle, in denen eine am Zweck des EG-Rechts ausgerichtete Auslegung durch das nationale Gericht möglich ist. Ein Beispiel ist das unberechtigte Festhalten eines ausländischen Schiffs unter Verstoß gegen die Anforderung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Hier hatten sich die Landesbehörden mit einem Hinweis auf die Richtlinie 95/21/EG 145 zu verteidi-

138 Verordnung (EWG) Nr. 1768/92 des Rates vom 18.6.1992 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel, ABl. 1992 L 182/1. 139 BGH, NJW 2005, 418, 420. 140 BGH, NJW 2003, 507, 508 f. 141 Z.B. BGH, NJW 2000, 3212, 3214 – Programmfehlerbeseitigung. 142 Z.B. BGH, NJW-RR 2002, 1615, 1616 – Bodensee-Tafelwasser. 143 Z.B. BGH, GRUR 2000, 1020, 1021 – La Bohème; BGH, NJW 2000, 521, 523 (Vorlage Heininger); ansatzweise auch BGH, GRUR 2000, 392, 393 ff. – Opremazol. 144 Z.B. BGH, GRUR Int. 2001, 462, 463 f. – Stabtaschenlampen I; BGH, GRUR Int. 2000, 1017, 1020 – Davidoff I. 145 Richtlinie des Rates v. 19.6.1995 zur Durchsetzung internationaler Normen für die Schiffssicherheit, die Verhütung von Verschmutzung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord von Schiffen, die Gemeinschaftshäfen anlaufen und in Hoheitsgewässern der Mitgliedstaaten fahren (Hafenstaatkontrolle), ABl. 1995 Nr. L 157/1.

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§ 18 Die Rechtsprechung des BGH

gen versucht. Dies hielt einer an ihrem Zweck ausgerichteten Auslegung der Richtlinie offensichtlich nicht stand.146 Weitere Beispiele sind das Schriftformerfordernis nach Art.17 Abs. 1 EuGVÜ/LugÜ 147, die Auslegung des § 312b Abs. 2 BGB 148 nach dem Schutzzweck der Fernabsatzrichtlinie 149, die Auslegung des § 137h UrhG 150 unter Rückgriff auf den Zweck des Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/83/EWG 151, die Bewertung von Vergabeentscheidungen am Zweck der maßgeblichen Koordinierungsrichtlinie 152, die Anforderungen an Packungsbeilagen für Humanarzneimittel 153 oder die Vorlagebeschlüsse zur Bemessung der Nachbauentschädigung im Sortenschutz 154. Dabei werden auch die bei deutschen Normen nicht vorhandenen Erwägungsgründe 155 berücksichtigt.156

V.

Fazit

– Der BGH kann EG-Recht nur auslegen, wenn es klar oder in der Rechtsprechung des EuGH geklärt ist. – Der BGH befaßt sich mit der Auslegung des EG-Rechts häufiger, als es dieser enge Rahmen erwarten läßt. – Gegenstand der Auslegung sind nicht nur EG-Vorschriften mit typisch zivilrechtlichem Inhalt, sondern auch Normen mit öffentlich-rechtlichem Inhalt. – Der BGH folgt den klassischen Auslegungsmethoden, meist in einer knappen Wortauslegung. Gerade bei Vorabentscheidungsersuchen, aber auch in anderen Fällen, wendet er auch die anderen möglichen Auslegungsmethoden an.

146 BGHZ 161, 224. 147 BGH, MDR 2004, 1371. 148 BGH, NJW 2004, 3699, 3670. 149 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. Nr. L 144/19. 150 BGH, GRUR 2005, 348 f. 151 Richtlinie 93/83/EWG des Rates v. 27.9.1993 zur Koordinierung bestimmter urheber- und leistungsschutzrechtlicher Vorschriften betreffend Satellitenrundfunk- und Kabelweiterverbreitung, ABl. 1993 Nr. L 248/15. 152 BGH, NZBau 2004, 517, 518; BGHZ 148, 55, 62 f. 153 BGH, NJW 1998, 3412, 3413 – Neutrotat forte. 154 BGH, EuZW 2005, 156, 158 f. 155 Dazu Riesenhuber, oben, § 8; zu ihrer Bedeutung bei überschießender Umsetzung: BGH, NJW 2004, 362, 363 – SIVA. 156 BGH, NJW-RR 2000, 631, 632 f. – Generika-Werbung.

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Diskussionsbericht Stefan Wichary Riesenhuber dankte Stotz für seine Ausführungen zur richtlinienkonformen Auslegung. Er sei, ebenso wie Roth, der Ansicht, daß auch die gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien den Begriffen „Recht und Gesetz“ in Art. 20 Abs. 3 GG unterfallen würden, die deutsche Gerichte also daraus zur richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet seien. Beim Urteil des ArbG Lörrach (v. 24.3.2005 – 2 Ca 496/04), das in Folge des Junk-Urteils des EuGH (v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03) ergangen ist, sehe er eine klare Vermeidungsstrategie. Auch das BAG werde wohl eine Rückwirkung dieses EuGH-Urteils zu verhindern suchen, indem es für Fälle vor dem 27.1.2005 einen Vertrauensschutz postuliere. Er halte dies „dogmatisch für falsch“. Interessant erachtete Riesenhuber auch die Forderung Stotz’, der EuGH solle bei seinen Vorgaben für die richtlinienkonforme Auslegung zurückhaltender sein. In diesem Zusammenhang stellte Riesenhuber die Frage, was der EuGH mit einer solchen Zurückhaltung erreichen wolle. Stotz führte aus, er halte eine Ausdehnung der richtlinienkonformen Auslegung über das, was schon jetzt gefordert sei, hinaus für problematisch. Man solle hier „den Bogen nicht überspannen“. Gerade mit seiner neueren Rechtsprechung in den Urteilen Pfeiffer (v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01) und Junk spiele der EuGH den Ball an die Mitgliedstaaten. Diese würden ihn freudig aufnehmen und sogar eine Rechtsfortbildung contra legem oder die horizontale Richtlinienwirkung in Betracht ziehen. Riesenhuber entgegnete, er habe sich in seinen Beiträgen zu den genannten Entscheidungen weder für eine (unzulässige) richtlinienkonforme Rechtsfortbildung contra legem noch für die horizontale Richtlinienanwendung ausgesprochen. Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung müsse aber soweit gehen können, wie die nationale Methodik dies allgemein hergäbe. Roth erinnerte unter Bezugnahme auf Schmidt-Räntschs Einschätzung, alle BGH-Senate würden heute gern vorlegen, daran, daß es auch andere Zeiten gegeben habe. Damals meinte ein Richter am BGH, solange er Vorsitzender sei, werde dem EuGH von „seinem“ Senat nicht vorgelegt. Dabei habe es sich um einen nach Roths Einschätzung wichtigen Senat gehandelt, der tatsächlich erst dann den EuGH um Vorabentscheidungen ersuchte, als der Richter in Pension gegangen war. Schmidt-Räntsch räumte daraufhin ein, daß es in der Tat Unterschiede je nach Senat und Vorsitzendem Richter gegeben haben möge. Heute mache er aber eine klare Tendenz zu mehr Vorlagen an den EuGH aus. In diesem Zusammenhang wies Roth auf die aus seiner Sicht außerordentliche Bedeutung der Begründung einer Vorlagefrage hin. So könne man möglicherweise Gedanken an den EuGH herantragen, die dieser sonst nicht berücksichtigen würde.

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Stefan Wichary

Diskussionsbericht

Doch sei wichtig, daß der BGH bei seinen Ausführungen nicht durch „eine nationale Brille“ sehe. Roth schlug daher vor, daß der BGH rechtsvergleichend argumentieren solle. Jedenfalls aber seien rechtspolitische Aufladungen wegen drohender Schwierigkeiten hinsichtlich der Umsetzung des EuGH-Judikats in das nationale Recht zu vermeiden. Abschließend drückte Roth seine Hoffnung aus, daß dadurch die deutschen Gerichte und damit die deutsche Rechtswissenschaft intensiver am Dialog mit dem EuGH teilnehmen würden, unabhängig davon, ob der EuGH dann tatsächlich alle vorgebrachten Argumente abhandle. Hinsichtlich der von Stotz geforderten Zurückhaltung des EuGH bei der Beantwortung von Vorlagefragen in bereits weitgehend ausjudizierten Bereichen wollte Krolop wissen, wo dieser hier die Grenze ziehen wolle. Ihm erscheine der von Stotz angedeutete Ansatz doch „noch ein bißchen weit“. Beispielhaft bezeichnete Stotz die detaillierten Ausführungen des EuGH im Junk-Urteil als „bedauerlich“. Hier hätte der EuGH wieder Detailfragen beantwortet, anstatt konsequent auf seine Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung zu verweisen und die Details den nationalen Gerichten zu überlassen. Ihm, Stotz, scheine es, als traue sich der EuGH einfach nicht, den vorlegenden Gerichten zu sagen, sie sollen „das nun aber mal allein machen“. Zum Abschluß wußte Stotz noch zu berichten, daß die Entscheidung, wie eine Vorlagefrage vom EuGH beantwortet wird, nach seiner Erfahrung erheblich von der Person des Berichterstatters abhänge. Zu den Ausführungen Breidenbachs merkte Krolop an, daß es natürlich sehr wichtig sei, die Betroffenen im Gesetzgebungsverfahren zu den Tatsachen zu hören. Dies sei aber auch sehr aufwendig. Krolop bezweifelte, daß die Europäische Kommission alle Stellungnahmen Betroffener lesen könne. Provokant wies Krolop darauf hin, daß es die Betroffenen doch selbst in der Hand hätten, dem Gesetzgeber zu schreiben, „wie es wirklich läuft.“ Wenn sie das aber nicht täten, etwa weil sie sich nicht entsprechend koordinieren könnten, würden die Betroffenen eine Mitschuld tragen. Die Frage sei dann, inwieweit man der Europäischen Kommission bzw. dem europäischen Gesetzgeber angesichts des materiellen und personellen Aufwands aufgeben könne, insoweit auch noch Feldforschung zu betreiben. Breidenbach wandte sich zunächst schon gegen den Begriff „Feldforschung“. Es ginge hier nicht nur um Rechtssoziologie. Vielmehr solle auch die Rechtswissenschaft die Fragen nach guter Gesetzgebung behandeln. Dies beinhalte aber gerade auch, Erkenntnisse aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen zu berücksichtigen. Im Übrigen sei das schriftliche Konsultationsverfahren der Europäischen Kommission insoweit unzureichend, als nur mündliche Konsultationen es ermöglichen, einen echten Dialog mit den Betroffenen zu führen und dabei gegenseitig Rückmeldungen zu bekommen. Zum Abschluß der Diskussion meinte Schmidt-Kessel, die Tagung habe gezeigt, wie wichtig die Entwicklung der bzw. einer Europäischen Methodenlehre sei. Zudem dankte er Riesenhuber für die Einladung zur und Organisation der Tagung. In seinem Schlußwort dankte Riesenhuber seinerseits den Referenten, Teilnehmern und Zuhörern für ihre Beiträge und ihre Aufmerksamkeit.

Stefan Wichary

457

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