Ordnungsökonomische Analyse des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes: Eine Untersuchung richterlicher Regelsetzung [1 ed.] 9783428512829, 9783428112821

Der Autor analysiert die Rechtsprechung zum arbeitsrechtlichen Bestandsschutz als Teil des Regelrahmens, der das Gescheh

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German Pages 371 Year 2004

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Ordnungsökonomische Analyse des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes: Eine Untersuchung richterlicher Regelsetzung [1 ed.]
 9783428512829, 9783428112821

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Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 229

Ordnungsökonomische Analyse des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes Eine Untersuchung richterlicher Regelsetzung

Von

Henning von Klitzing

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

HENNING VON KLITZING

Ordnungsökonomische Analyse des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 229

Ordnungsökonomische Analyse des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes Eine Untersuchung richterlicher Regelsetzung

Von

Henning von Klitzing

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat diese Arbeit im Jahre 2001 / 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D 25 Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-11282-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit widmet sich der ordnungsökonomischen Analyse des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes. Der Bestandsschutz stellt einen oder den Kernbereich des Arbeitsrechts und damit einen wesentlichen Teil der rechtlichen Rahmenbedingungen dar, die unsere Wirtschaftsordnung prägen. Dieses Rechtsgebiet wird aus ordnungsökonomischer Sicht analysiert, wobei der Schwerpunkt der Untersuchung auf der richterlichen Regelsetzung liegt. Die Darstellung wird durch eine enge Verknüpfung von Rechts- und Wirtschaftswissenschaften gekennzeichnet. Sie soll insofern der Tradition der Freiburger Schule folgen, die entscheidend von der engen Verknüpfung dieser Wissenschaften geprägt ist.1 Diese Ausrichtung der Arbeit hat im Wesentlichen drei Gründe. Erstens hängt sie mit dem Lehrstuhl zusammen, der diese Arbeit, die als Dissertationsschrift an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angefertigt wurde, betreut hat. Der Lehrstuhl für Allgemeine Wirtschaftspolitik steht in der Tradition von Walter Eucken und Friedrich August v. Hayek und war zuletzt der Reihe nach besetzt von Erich Hoppmann, Manfred Streit und nun von Viktor Vanberg. Diese sind oder waren alle dem Gedankengut der Freiburger Schule und damit der Ordnungsökonomie verbunden und haben diese mit geprägt. Zweitens liegt dem Themenkreis dieser Arbeit auch meine eigene Ausbildung zugrunde, da ich die Möglichkeit hatte, an der Freiburger Universität sowohl mein Erstes Juristisches Staatsexamen als auch die Diplomprüfung in Volkswirtschaft zu absolvieren. Seit 1999 arbeite ich zudem als Anwalt bei einer der großen europäischen Wirtschaftskanzleien und so gehört die Verbindung von wirtschaftlichen und rechtlichen Aspekten auch zu meiner täglichen Arbeit. Vor allem beruht die Ausrichtung dieser Untersuchung aber auf meiner Überzeugung, dass die Verbindung von Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft nützlich und notwendig ist. Wenn die Volkswirtschaft mehr als nur eine rein beschreibende Wissenschaft sein soll, dass heißt insbesondere gestaltend auf die Lebenswirklichkeit einwirken soll, kommt man um eine juristische Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse nicht herum. Anders ausgedrückt: Die Sprache, der man sich bedienen muss, um volkswirtschaftliche Erkenntnisse umzusetzen, ist die juristische. Auf der anderen Seite ist aber auch eine richtig verstandene Rechtswissenschaft auf die Volkswirtschaft angewiesen. Wenn das Recht seine gesamt1

Siehe dazu sehr ausführlich Streit, M. (1992), S. 71 ff.

6

Vorwort

gesellschaftliche Steuerungsfunktion erfolgreich wahrnehmen will, müssen die langfristigen Folgen rechtlicher Entscheidungen und Maßnahmen berücksichtigt werden. Hierfür stellt die Volkswirtschaft das benötigte Instrumentarium zur Verfügung.2 Dies gilt natürlich vorrangig für ökonomische Folgen, es sollte aber nicht verkannt werden, dass die in der Volkswirtschaft entwickelten Arbeitsmethoden vielfach auch auf nicht primär ökonomische Fragestellungen anwendbar sind. Der Zusammenhang und die notwendige Zusammenarbeit von Rechtswissenschaft und Ökonomie war den Begründern der Volkswirtschaft wie z. B. Adam Smith aber auch einigen Größen der Rechtswissenschaft wie z. B. Rudolf von Ihering oder Philipp Heck völlig selbstverständlich.3 Zur Zeit ist aber die Zusammenarbeit der beiden Wissenschaften besonders in Deutschland eher dürftig.4 Da beide Wissenschaften von den Denkansätzen und Arbeitsmethoden der jeweils anderen profitieren können, sollten insbesondere gesamtgesellschaftliche Problembereiche fachübergreifend analysiert werden. Dadurch könnten diese Wissenschaften vermutlich ihrer gemeinsamen Lenkungsfunktion in unserer Gesellschaft besser gerecht werden. Die vorliegende Arbeit ist eine aktualisierte und geringfügig überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Wintersemester 2001 / 2002 am Fachbereich Volkswirtschaft der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg vorgelegt wurde. Literatur, Rechtsprechung und Gesetzesänderungen konnten bis Ende 2001 zum Teil bis Ende 2002 berücksichtigt werden.

2 Friedrich August von Hayek drückt den Zusammenhang folgendermaßen aus: “.. obwohl das Problem einer angemessenen sozialen Ordnung heutzutage von den verschiedenen Gesichtswinkeln der Ökonomie, der Jurisprudenz, der Politikwissenschaft, der Soziologie und der Ethik studiert wird, ist das Problem von der Art, daß es erfolgreich nur als ein Ganzes in Angriff genommen werden kann. ( . . . ) Nirgends ist die schädliche Wirkung der Teilung in Spezialfächer deutlicher als in den beiden ältesten Disziplinen, der Ökonomie und dem Recht. Die Denker des achtzehnten Jahrhunderts, denen wir die Grundbegriffe des liberalen Konstitutionalismus verdanken, David Hume und Adam Smith nicht weniger als Montesquieu, befaßten sich noch mit dem, was einige von ihnen ,die Wissenschaft der Gesetzgebung‘ nannten, oder mit Prinzipien der Politik im weitesten Sinne dieses Ausdrucks. Eines der Hauptthemen dieses Buches wird sein, daß die Regeln des gerechten Verhaltens, die der Jurist untersucht, einer Art von Ordnung dienen, von deren Charakter der Jurist im allgemeinen keine Kenntnis besitzt; und daß diese Ordnung hauptsächlich von dem Nationalökonomen untersucht wird, der seinerseits in gleicher Weise keine Kenntnis vom Charakter der Verhaltensregeln besitzt, auf denen die Ordnung beruht, die er studiert.“ (v. Hayek, F. (1980), S. 16 f.). 3 Vgl. ausführlicher Behrens, P. (1989), S. 210. 4 Vielfach werden die wenigen fachübergreifenden Ansätze von der jeweils anderen Wissenschaft sogar als unerwünschte Einmischung betrachtet. Beispielhaft ist hierfür die Diskussion über die Ökonomische Analyse des Rechts zwischen Ott und Fezer in der JZ (Fezer, K. (1986), S. 817 – 824; oder auch Fezer, K. (1988), S. 223 – 228; Ott, C. / Schäfer, B. (1988), S. 213 – 223). In Franz, W. / Rüthers, B. (1999), S. 32 heißt es dazu: „Juristen und Ökonomen haben Kommunikationsprobleme.“

Vorwort

7

Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Viktor Vanberg. Er ließ mir großzügige Freiräume bei der Wahl und Bearbeitung des Themas und war zugleich ein sehr engagierter und immer ansprechbarer Betreuer dieser Arbeit. Ferner bedanke ich mich herzlich bei Herrn Prof. Dr. Bernhard Külp und Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Löwisch für die bereitwillige Übernahme des Zweit- und Drittgutachtens. Nicht zuletzt gilt mein Dank meinen Eltern. Berlin, im Juli 2003

Henning von Klitzing

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

1. Kapitel Überblick

23

A. Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

I. Aufgaben des Arbeitsmarktes und Folgen einer mangelnden Aufgabenerfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

1. Aufgaben des Arbeitsmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

2. Folgen einer mangelnden Aufgabenerfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

a) Folgen für den Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

b) Folgen für die Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

II. Daten zum Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

III. Funktionsweise des Arbeitsmarktes und Arbeitsmarkttheorien . . . . . . . . . . . . . . . .

31

1. Funktionsweise generell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

2. Neoklassische Arbeitsmarkttheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

3. Keynsianische Arbeitsmarkttheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

4. Theorie von der natürlichen Arbeitslosenrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

5. Humankapitaltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

6. Kapitalknappheitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

7. Insider-Outsider Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

8. Effizienzlohntheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

9. Segmentationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

10. Vertragstheoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

IV. Einflussfaktoren auf den Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

10

Inhaltsverzeichnis

B. Ordnungsökonomisches Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

I. Regelerstellungsordnung, Regelordnung und Handelnsordnung . . . . . . . . . . . . . . .

48

II. Constitutional Political Economy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

III. Konkrete Prüfungsschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

1. Rechtfertigungsgründe für bestehende Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

2. Referenzsystem für Folgen bestehender Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

a) Marktmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

aa) Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

bb) Verfügungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

cc) Preismechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

dd) Offenheit von Märkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

b) Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

aa) Schutz der Persönlichkeitsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

bb) Schutz vor existentiellen Risiken im Vermögensbereich . . . . . . . . . . .

66

cc) Schaffung der Voraussetzungen für eine gute Versorgung der Arbeitswilligen und -fähigen mit Arbeitsplätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

dd) Schutz besonderer Problemgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

c) Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

aa) Grundrechteals Abwehrrechte gegen den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

bb) Gewaltenteilung und effektiver Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

cc) Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

3. Folgenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

C. Arbeitsrechtlicher Bestandsschutz als Teil der Arbeitsmarktordnung . . . . . . . . . . . . . . . .

74

I. Bedeutung des Arbeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

II. Normsetzende Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

1. Politiker und ihr Handlungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

a) Handlungsraum der Politiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

b) Annahmen zum Verhalten von Politikern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

2. Richter und ihr Handlungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

a) Handlungsraum der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

b) Annahmen zum Verhalten von Richtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

aa) Higgins / Rubin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

bb) Cooter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

Inhaltsverzeichnis

11

cc) Posner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

dd) Rechtssoziologische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

c) Annahmen zu Ergebnissen der richterlichen Regelbildung . . . . . . . . . . . .

88

III. Verfassungsrechtlicher Rahmen und Grundstruktur des heutigen Arbeitsrechts

89

1. Verfassungsrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

2. Grundstruktur des Arbeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

2. Kapitel Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

95

A. Grundstruktur und Regeln des BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

B. Allgemeiner Kündigungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

I. Gesetzliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

II. Richterliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Personenbedingte Kündigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Verhaltensbedingte Kündigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3. Betriebsbedingte Kündigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4. Negative Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5. Verhältnismäßigkeitsprinzip und Ultima-ratio Prinzip, Prognoseprinzip, Interessenabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 6. Rechtsprechung zu sonstigen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 C. Besonderer Kündigungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 I. Gesetzliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Kündigungsschutz für besondere Gruppen von Arbeitnehmern . . . . . . . . . . . 128 2. Massenentlassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3. Sozialplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 II. Richterliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Kündigungsschutz für besondere Gruppen von Arbeitnehmern . . . . . . . . . . . 131 2. Massenentlassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3. Sozialplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

12

Inhaltsverzeichnis

D. Sonstige Bestandsschutzregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 I. Gesetzliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Änderungskündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Befristete Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3. Arbeitnehmerüberlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4. Schutz bei Betriebsübergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 II. Richterliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Änderungskündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Befristete Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3. Arbeitnehmerüberlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4. Schutz bei Betriebsübergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 E. Zusammenfassende Würdigung des Anteils der Rechtsprechung an der Rechtslage . . 147

3. Kapitel Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

151

A. Rechtfertigungsgründe für staatliche Eingriffe mittels des Bestandsschutzes . . . . . . . . 152 I. Unnatürliche Reaktion des Arbeitsangebotes auf Preisschwankungen . . . . . . . . . 153 II. Schutzbedürftigkeit des einzelnen Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1. Abhängigkeitsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Übermacht des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3. Arbeitsvertrag als unvollständiger Vertrag und Direktionsrecht des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4. Zusammenfassende Bewertung des Arguments der Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 III. Transaktionskostentheoretische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 IV. Unvollständige Information der Marktteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 V. Produktivitätsvorteile stabiler Arbeitsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 VI. Sonstige Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 VII. Ergebnis zu den Rechtfertigungsgründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Inhaltsverzeichnis

13

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 I. Marktmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 1. Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Wirkungen der Beschränkung der Beendigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kostenbelastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beeinträchtigung von Selektionsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beeinträchtigung der Sicherheit als ökonomisches Gut . . . . . . . . . . .

174 174 178 179

b) Rückwirkungen auf das Verhalten der Arbeitgeber und gesamtwirtschaftliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Veränderungen des Einstellungsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Umgehungen des Bestandsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Veränderungen der Selektionsmechanismen bei Einstellungen . . . .

182 183 190 200

c) Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 2. Verfügungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 3. Preissystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 4. Offenheit von Märkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 5. Weitere Beeinträchtigungen der Marktmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 a) Beschränkung des exit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 b) Beeinträchtigung der Auswahlentscheidung zwischen Selbständigkeit und Arbeitnehmerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 II. Sozialstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Schutz der Persönlichkeitsgüter des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2. Absicherung gegen existentielle Risiken im Vermögensbereich . . . . . . . . . . . 211 3. Versorgung der Erwerbsbevölkerung mit Arbeitsplätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 4. Schutz besonderer Problemgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 III. Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 1. Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Gewaltenteilung und effektiver Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3. Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 C. Zusammenfassung und Bewertung der geltenden Bestandsschutzregeln . . . . . . . . . . . . . 226

14

Inhaltsverzeichnis 4. Kapitel Einzelwirkungen richterlicher Regelbildungen (TOP 10)

238

A. Verhältnismäßigkeits- und ultima-ratio Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 I. Bildung interner Arbeitsmärkte / Insider-Outsider Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 II. Kostenfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 III. Formale contra materiale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 IV. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 B. Umfassende Interessenabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 C. Prognoseprinzip und Abmahnung bei verhaltensbedingter Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . 247 D. Wiederbeschäftigungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 E. Änderungskündigungsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 F. Abfindungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 G. Arbeitnehmerüberlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 H. Befristete Arbeitsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 I. Sozialauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 J. Sozialplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

5. Kapitel Gründe für die mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung – eigener Erklärungsansatz

269

A. Gründe für die ordnungspolitische Irrationalität der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . 269 I. Bisherige These: Effizienz der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 1. Ordnungsökonomische Rationalität versus Effizienz im Sinne der Ökonomischen Analyse des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2. Gründe für die bisherige These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 3. Untersuchung des angeblichen Effizienz-Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Inhaltsverzeichnis

15

II. Vor- und Nachteile des Richterrechts gegenüber Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 278 1. Vorteile des Richterrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 a) Flexibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 b) Keine Lobby-Arbeit („no spezial interest legislation“) . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 2. Nachteile des Richterrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 a) Schlechteres Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 aa) Mängel bei der Entscheidungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 bb) Mängel bei der Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 cc) Mängel bei der Folgenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 b) Rechtsunsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 c) Demokratie- bzw. Legitimationsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 3. Zusammenfassende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 B. Gründe für Tendenz der Rechtsprechung Arbeitnehmerrechte zu verstärken . . . . . . . . . 291 I. Eigenständigkeit der Arbeitsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 II. Eigener Erklärungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 1. Tätigkeit des Richters und die auf ihn einwirkenden drifts . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Analyse der einzelnen drifts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 a) Proceeding drift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 aa) Auftreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 bb) Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 cc) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 b) Social drift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 aa) Auftreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 bb) Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 cc) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 c) Constitutional drift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 aa) Auftreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 bb) Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 cc) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 3. Gesamtwirkung der drifts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 C. Möglichkeiten zur Verbesserung der Rechtsprechungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 I. Beseitigung / Ausgleich der Irrationalitäten bei der Regelsetzung . . . . . . . . . . . . . 325 1. Notwendigkeit des Ausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

16

Inhaltsverzeichnis 2. Mittel zum Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 3. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 II. Beseitigung / Ausgleich der richterlichen Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 1. Notwendigkeit des Ausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 2. Mittel zum Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 a) Appelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 b) Einzelgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 c) Veränderungen der Regelerstellungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 3. Konkrete Ansätze zum Ausgleich der einzelnen drifts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 a) Ausgleich der proceeding drift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 b) Ausgleich der social drift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 c) Ausgleich der constitutional drift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340

Zusammenfassung und Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

Abkürzungsverzeichnis a. A. Abs. Abschn. AcP a. E. a. F. AFG AFRG AG Alt. a. M. amtl. AnBA Anm. AP ArbGG ArbPlSchG Art. AuA AuB AÜG Aufl. AuR ausf. AVAVG BaBl. BAG BAGE BAnz BB Bd. Bearb. BErzGG BeschFG BetrVG 2 von Klitzing

andere(r) Ansicht Absatz Abschnitt Archiv für die civilistische Praxis am Ende alte Fassung Arbeitsförderungsgesetz Arbeitsförderungsreformgesetz Amtsgericht Alternative anderer Meinung amtlich Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit Anmerkung Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts (seit 1954 vorher: Arbeitsrechtliche Praxis) Arbeitsgerichtsgesetz Arbeitsplatzschutzgesetz Artikel Arbeit und Arbeitsrecht Arbeit und Beruf Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Auflage Arbeit und Recht ausführlich Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung Bundesarbeitsblatt Bundesarbeitsgericht Bundesarbeitsgerichtsentscheidung Bundesanzeiger Betriebs-Berater Band Bearbeiter Bundeserziehungsgeldgesetz Beschäftigungsförderungsgesetz Betriebsverfassungsgesetz

18 BfA BGB BGBl BRAGO BR-Dr. BT-Dr. BVerfG BVerfGE CDU DB DIHT DJT DM DRiG DRiZ EG Einf. Einl. Erl. etc. EuGH EWG EzA f. FAZ ff. FS GBl. GG ggf. GKG GMH GS GWB h. A. h. L. h. M. Hrsg. Hs. IAB IAW

Abkürzungsverzeichnis Bundesanstalt für Arbeit Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung Bundesratsdrucksache Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsentscheid Christlich Demokratische Union Deutschlands Der Betrieb Deutscher Industrie- und Handelstag Deutscher Juristentag Deutsche Mark Deutsches Richtergesetz Deutsche Richter-Zeitung Europäische Gemeinschaft Einführung Einleitung Erläuterung et cetera (und so weiter) Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht und folgende Seite Frankfurter Allgemeine Zeitung und folgende Seiten Festschrift Gesetzblatt Grundgesetz gegebenenfalls Gerichtskostengesetz Gewerkschaftliche Monatshefte Großer Senat Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen herrschende Ansicht herrschende Lehre herrschende Meinung Herausgeber Halbsatz Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit Institut für angewandte Wirtschaftsforschung

Abkürzungsverzeichnis i. d. F. i. d. R. ifo InsO i. S. i. V. iw Iwd JA JArbSchG JuS JZ KSchG LAG Lit. MDR m. E. MittAB Mrd. MuSchG n. F. NJW NZA NZA-RR OECD RAG RAGE RdA Rdnr RN Rspr. RZ S. SAE SchbwG SGB SPD SZ TVG TzBfG u. a. Urt. 2*

in der Fassung in der Regel Institut für Wirtschaftsforschung Insolvenzordnung im Sinne in Verbindung Institut der deutschen Wirtschaft Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft Juristische Arbeitsblätter Jugendarbeitsschutzgesetz Juristische Schulung Juristen Zeitung Kündigungsschutzgesetz Landesarbeitsgericht Literatur Monatsschrift für Deutsches Recht meines Erachtens Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Milliarden Mutterschutzgesetz neue Fassung Neue Juristische Wochenzeitschrift Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht und Sozialrecht NZA-Rechtsprechungs-Report Arbeitsrecht Organization for Economic Cooperation and Development Reichsarbeitsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts Recht der Arbeit Randnummer Randnummer Rechtsprechung Randziffer Seite Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen Schwerbehindertengesetz Sozialgesetzbuch Sozialdemokratische Partei Deutschlands Süddeutsche Zeitung Tarifvertragsgesetz Gesetz für Teilzeitarbeit und befristete Verträge und andere Urteil

19

20 Verh. vgl. WiST WSI z. B. ZDH ZfA ZGB ZPO ZRP

Abkürzungsverzeichnis Verhandlungen vergleiche Wirtschaftswissenschaftliches Studium Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Beispiel Zentralverband des Deutschen Handwerks Zeitschrift für Arbeitsrecht Zivilgesetzbuch Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik

Einleitung Die vorliegende Arbeit ist von der engen Verknüpfung von Wirtschafts- und Rechtswissenschaften gekennzeichnet. Diese Verknüpfung spiegelt sich auch in dem Thema der Arbeit „Ordnungsökonomische Analyse des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes – Eine Untersuchung richterlicher Regelsetzung“ wider. Mit dem Bereich des Arbeitsrechts wurde eines der wirtschaftlich bedeutendsten, politisch umstrittensten und auch eines der umfangreichsten Rechtsgebiete als Analyseobjekt ausgewählt. Die Darstellung konzentriert sich auf den Bestandsschutz1 und damit auf einen bzw. den Kernbereich des Arbeitsrechts oder wie Schwerdtner es ausdrückt, auf das „Nervenzentrum des Arbeitsrechts“2. Dabei soll der Schwerpunkt der Untersuchung auf der richterlichen Regelsetzung liegen, da diese im Gegensatz zur gesetzlichen bisher vielfach vernachlässigt wird. Die Analyse soll aus ordnungsökonomischer Sicht erfolgen, dass heißt das Arbeitsrecht wird als Teil der Regeln und Institutionen betrachtet, die unsere gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung bestimmen. Diese Regeln und Institutionen bilden den Rahmen, (Regelrahmen oder die Regelordnung) in dem wir uns bewegen (handeln) und unseren eigenen Zielen nachgehen können. Dabei hat der Rahmen einen maßgeblichen Einfluss darauf, welche Handlungsmöglichkeiten der Einzelne hat und welche Ergebnisse aus seinen Handlungen resultieren. Ziel der Arbeit ist es zu prüfen, welche Auswirkungen unser momentan geltendes Bestandsschutzrecht und insbesondere seine Ausgestaltung und Fortbildung durch die Rechtsprechung für die Handlungsmöglichkeiten der Individuen und die Folgen ihrer Handlungen hat. Des weiteren soll untersucht werden, welche Gründe und inneren Beweggründe die Richter zu der festgestellten Ausgestaltung und Fortbildung des Rechts bewegt haben. Um den Aufbau der Arbeit und den Zusammenhang der einzelnen Teile zu verdeutlichen, wird zunächst ein kurzer Abriss über den Gang der Untersuchung gegeben werden. Im ersten Kapitel wird ein Überblick über das Thema dieser Arbeit, seine Bedeutung für die Gesamtordnung unserer Gesellschaft und die Untersuchungsmethoden, die zur Analyse angewandt werden, geboten. Dazu werden in 1 Als Bestandsschutz wird die Gesamtheit der Regeln verstanden, die die arbeitgeberseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses regeln bzw. einschränken sowie diesen inhaltlich verwandte Regelungen. Näheres dazu wird in Kapitel 2 erläutert. 2 Zitiert aus Oetker, H. (1997), S. 9, der auf das Vorwort zu Coen, M.: Das Recht auf Arbeit und der Bestandsschutz des gekündigten Arbeitsverhältnisses, S. VIII; Köln 1979 verweist.

22

Einleitung

Abschnitt A. die grundsätzliche Funktionsweise des Arbeitsmarkts, die aktuelle Arbeitsmarktsituation und die wichtigsten Arbeitsmarkttheorien dargestellt. Der Abschnitt B. befasst sich dann mit der Ordnungsökonomie als dem Teil der volkswirtschaftlichen Theorie, der sich der Gestaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen widmet. Das erste Kapitel endet mit einer Einführung in das Arbeitsrecht als Teil des Regelrahmens, der das Geschehen auf dem Arbeitsmarkt beeinflusst [Abschnitt C.]. Das zweite Kapitel widmet sich dann der Darstellung und Analyse des Bestandsschutzes. Da es eine Vielzahl von arbeitsrechtlichen Vorschriften zum Bestandsschutz gibt und die dazu ergangene Rechtsprechung sehr umfangreich ist, werden sich die Ausführungen auf die wesentlichsten Regelungen beschränken. Der Bereich wird nach grundsätzlichen Ausführungen [A.] im Wesentlichen in den allgemeinen [B.] und den besonderen Kündigungsschutz [C.] eingeteilt. Die weiteren Regelungen werden, soweit interessant, in einem zusätzlichen Abschnitt [D.] behandelt. Dabei wird in den einzelnen Abschnitten [B. – D.] jeweils zuerst die geltende Gesetzeslage und danach deren Ausgestaltung und Fortbildung durch die Rechtsprechung beschrieben. Im dritten Kapitel wird dann die geltende Rechtslage, d. h. das Bestandsschutzsystem mit den gesetzlichen und von der Rechtsprechung entwickelten Regeln als Ganzes einer Ordnungsökonomischen Analyse unterzogen. Hier soll zunächst untersucht werden, welche Rechtfertigungsgründe dafür sprechen, dass der Staat mit Hilfe des Bestandsschutzes überhaupt regelnd und steuernd in das Geschehen auf dem Arbeitsmarkt eingreift [A.]. Es folgt die Analyse, welche Folgen das Bestandsschutzsystem auf das wirtschaftliche Geschehen hat [B.]. Diese Folgen werden dann daraufhin untersucht, ob sie im Interesse der Bürger sind [C.] oder in welcher Hinsicht sie davon abweichen. Im vierten Kapitel werden dann noch einmal die Wirkungen der zehn wichtigsten Bereiche richterlicher Regelbildungen einzeln auf ihre Folgen und deren Bewertung hin analysiert. In Kapitel fünf, das die Arbeit abschließt, sollen die Gründe für Defizite und Tendenzen der richterlichen Normsetzung im arbeitsrechtlichen Bestandsschutz und Vorschläge zu ihrer Verbesserung diskutiert werden. Dabei werden zunächst in den Abschnitten [A.] und [B.] Gründe für Irrationalitäten und Tendenzen der Rechtsprechung ausführlich analysiert. In dem folgenden Abschnitt [C.] werden dann Möglichkeiten zur Verbesserung der Rechtsprechungsergebnisse in Bezug auf ihre gesamtgesellschaftliche Steuerungsfunktion diskutiert. Dieser Abschnitt hat den Charakter eines Thesenpapiers, d. h. die vorgeschlagenen Reformen werden nur kurz angerissen und keineswegs erschöpfend diskutiert. Eine ausführlichere Diskussion kann aufgrund des Umfanges und Themas der Arbeit nicht erfolgen.

1. Kapitel

Überblick Das größte wirtschaftspolitische Problem dieses Jahrzehntes in Deutschland, sowie in den meisten anderen Ländern der Europäischen Union, ist die Arbeitslosigkeit. In Deutschland waren im März 2003 ca. 4,61 Millionen Menschen als Arbeitslose registriert, was einer Quote von 11,1% entspricht.1 Auch in der politischen Diskussion ist die Massenarbeitslosigkeit zum beherrschenden Thema geworden. Es gehört mittlerweile schon fast zum politischen Ritual einer Regierung zu betonen, dass die Arbeitslosigkeit das schwerste Problem des entsprechenden Landes sei und sich die Regierung vorrangig mit diesem Problem befassen werde. Besonders betont wurde die Bedeutung der Massenarbeitslosigkeit auch in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder zum Antritt seiner ersten Amtsperiode im Jahre 1998. Dort heißt es: „Unser drängenstes und schmerzhaftestes Problem bleibt die Massenarbeitslosigkeit. ( . . . ) Die Bundesregierung ist sich völlig im klaren darüber, dass sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung verdankt, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zu können. Dieser Herausforderung stellen wir uns. Jede Maßnahme, jedes Instrument kommt auf den Prüfstand, ob es vorhandene Arbeit sichert oder neue Arbeit schafft. Und wir wollen uns jederzeit, nicht erst in vier Jahren daran messen lassen, in welchem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen.“2 Auch in der Einschätzung der Bevölkerung ist die Arbeitslosigkeit das größte gesellschaftliche Problem und deren Bekämpfung das dringlichste Problem in der deutschen Politik, wie demoskopische Zahlen regelmäßig belegen. Die hohen Arbeitslosenzahlen sowie die Einschätzung der Regierung und der Bevölkerung lassen erkennen, dass auf dem Arbeitsmarkt schwerwiegende Probleme existieren.

1 2

Aus den Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit 4 / 2003, S. 356 ff. Zitiert aus Frankfurter Allgemeiner Zeitung v. 11. 11. 1998, S. 10.

24

1. Kap.: Überblick

A. Arbeitsmarkt Volkswirtschaftlich definiert ist ein Markt der ökonomische Ort des Zusammentreffens von Angebot und Nachfrage, an dem sich Preisbildung und Tausch vollziehen. Der Arbeitsmarkt ist dabei der Teilmarkt, auf dem Arbeitsleistungen von Haushalten angeboten und von Unternehmen nachgefragt werden,3 wobei in dieser Arbeit nur der Markt für abhängige Arbeitsleistungen betrachtet wird. Um die Probleme auf dem Arbeitsmarkt besser zu lokalisieren und zu verstehen, werden zunächst die wichtigsten Aufgaben des Arbeitsmarktes und die Folgen einer mangelnden Aufgabenerfüllung dargestellt [I.]. Danach werden einige Daten zum Arbeitsmarkt aufgeführt [II.], um dann die grundsätzliche Funktionsweise des Arbeitsmarktes und die wichtigsten Arbeitsmarkttheorien zu erklären [III.]. Zuletzt folgt eine kurze Beschreibung der Einflussfaktoren, die auf den Arbeitsmarkt einwirken [IV.].

I. Aufgaben des Arbeitsmarktes und Folgen einer mangelnden Aufgabenerfüllung 1. Aufgaben des Arbeitsmarktes Auf Märkten mit abhängiger Arbeit werden rund 70% des Volkseinkommens der Bundesrepublik erwirtschaftet.4 Insofern ist schon rein zahlenmäßig die Einschätzung, „Arbeitsmärkte sind das Herzstück der Volkswirtschaft“5 gerechtfertigt. Hauptaufgabe des Arbeitsmarktes, wie im Prinzip auch jedes anderen Marktes, ist es, Angebot und Nachfrage zum Ausgleich zu bringen. Aber auch der Lebensstandard der meisten Bürger sowie die Möglichkeit ihrer Selbstverwirklichung im Beruf hängt ganz maßgeblich von der Funktionsweise und -fähigkeit des Arbeitsmarktes ab. Außerdem wird durch den Arbeitsmarkt auch die Wohlfahrt der Gesamtgesellschaft beeinflusst, da über ihn jede Arbeitskraft an dem Ort eingesetzt werden soll, an dem sie den höchsten Beitrag zum Volkseinkommen leisten kann. Diese Funktionen werden vom Arbeitsmarkt in wirtschaftlich ruhigen Zeiten fast unbemerkt erfüllt. Aber gerade wenn durchgreifende und weitreichende Umwälzungen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen erfolgen und dadurch hoher Anpassungsbedarf entsteht, ist ein gut funktionierender Arbeitsmarkt besonders wichtig. Nur mit seiner Hilfe ist es möglich, verfügbare Produktionsfaktoren effizient und innovativ zu nutzen und so den Erfolg der Volkswirtschaft zu ermöglichen.6 3 4 5 6

Woll, A. (1996), S. 40 und 463 (Wirtschaftslexikon). Monopolkommission (1994), S. 363. Soltwedel et al. (1990), S. 1. Soltwedel et al. (1990), S. 1.

A. Arbeitsmarkt

25

2. Folgen einer mangelnden Aufgabenerfüllung Erfüllt der Arbeitsmarkt jedoch seine Aufgaben, vor allem den Ausgleich von Angebot und Nachfrage, nicht, hat dies sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft insgesamt schwerwiegende Folgen.

a) Folgen für den Einzelnen Einerseits hat die Arbeitslosigkeit für die Betroffenen und ihre Familien natürlich wirtschaftliche Folgen. Da der Lohn meist die Haupteinnahmequelle der Person oder sogar der ganzen Familie ist, sind Einschränkungen des Lebensstandards häufig unausweichlich. Allerdings werden die wirtschaftlichen Folgen der Arbeitslosigkeit durch die Existenz eines engmaschigen Netzes sozialer Absicherungen erheblich gemildert. Deshalb gehen viele Soziologen davon aus, dass die sozialen und psychischen Belastungen der Arbeitslosigkeit von den Betroffenen wesentlich stärker empfunden werden als die wirtschaftlichen bzw. finanziellen. 7 Der Beruf und die Arbeit sind für die meisten wichtigste Quelle sozialer Geltung und ihres Selbstwertgefühls. Auch soziale Kontakte werden zum großen Teil über den Beruf geschlossen und aufrechterhalten. Ein Verlust des Arbeitsplatzes in Verbindung mit länger andauernder Arbeitslosigkeit führen daher häufig zur Schrumpfung des Selbstwertgefühls und der Abnahme des Umfanges und der Qualität sozialer Beziehungen. Dabei ist der Wegfall der Kontakte zu Arbeitskollegen häufig erst der Beginn. Der Verlust sozialer Kontakte setzt sich vielfach im Freundes- und Bekanntenkreis fort und wirkt sich bis in die familiären Bindungen aus.8 Auch das Entfallen einer geregelten Zeiteinteilung fällt vielen Betroffenen schwer. Nicht selten führt vor allem langanhaltende Arbeitslosigkeit sogar zu Passivität, Resignation, Depressionen, Alkohol- und Drogensucht.9

b) Folgen für die Gesellschaft Die gerade beschriebenen Folgen für den Einzelnen haben aber natürlich auch Rückwirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes. So entsprechen den finanziellen Verlusten für den Einzelnen auch Einbußen für die Gesamtheit. So müssen die Lohnersatzleistungen, in Form von Arbeitslosengeld oder -hilfe, oder auch die Sozialhilfe, von der Allgemeinheit finanziert werden. Außerdem fällt der Arbeitslose als Steuerzahler zumindest zum Teil weg, und wirkt so bei der Finanzierung öffentlicher Aufgaben in geringerem Maße mit. Diese Kosten beziffert das Nürnberger 7 So z. B. Kutsch, T. (1986), S. 30 oder Mikl-Horke, G. (1991), S. 229, die auch diesbezügliche Studien anführen. 8 Vgl. z. B. Kutsch, T. (1986), S. 31. 9 Vgl. für alle Hillmann, K. (1988), S. 260.

26

1. Kap.: Überblick

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei 4 Millionen Arbeitslosen für das Jahr 1996 auf 159 Mrd. DM. Davon machen das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe 47 Mrd. DM, die übernommenen Sozialbeiträge 34 Mrd. DM, die Mehrausgaben für Sozialhilfe und Wohngeld 9 Mrd. DM, die Mindereinnahmen der Sozialversicherung 36 Mrd. DM und die Steuermindereinnahmen 34 Mrd. DM aus. Im Durchschnitt belaufen sich die so errechneten Kosten auf etwa 40.000 DM pro fehlendem Arbeitsplatz.10 Diese Kosten dürften sich mittlerweile nicht unerheblich erhöht haben. So kosten 100.000 zusätzliche Arbeitslose alleine die Bundesanstalt für Arbeit mittlerweile ca. 3,3 Mrd. DM.11 Wachstumspolitisch gesehen ist Arbeitslosigkeit weiterhin eine Vergeudung knapper Produktivkräfte. Da der Faktor Arbeitskraft nicht speicherbar ist, geht der Volkswirtschaft mit einer Nichtbeschäftigung Produktionspotential verloren. Die Kenntnisse und Fähigkeiten des einzelnen Arbeitnehmers sind ein Produktionsfaktor, der allgemein als Humankapital bezeichnet wird. Vor allem bei langandauernder Arbeitslosigkeit entwertet sich dieses Humankapital, da der Arbeitslose Fähigkeiten und Kenntnisse einbüßt, weil es ihm an der erforderlichen Übung fehlt.12 Das Vorliegen von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit ist auch aus der Sicht der Wohlfahrtsökonomie ein Verlust. Besteht unfreiwillige Arbeitslosigkeit, so entspricht die Grenzrate der Substitution13 zwischen Arbeit und Konsum nicht dem Reallohn und damit auch nicht der Grenzrate der Transformation.14 Die Haushalte würden ihre Wohlfahrt erhöhen, wenn sie die aufgezwungene Freizeit durch Arbeitszeit ersetzen könnten. Auch politisch gesehen ist Massenarbeitslosigkeit problematisch. So erhöht sich bei Zunahme von Arbeitslosigkeit tendenziell der Zulauf zu radikalen Parteien. Vgl. Jagoda, B. (1997), S. 441. Vgl. Financial Times Deutschland v. 3. 9. 2001, S. 26. 12 Es muß allerdings auch erwähnt werden, dass Arbeitslosigkeit nicht nur negative Wirkungen auf den Wirtschaftsablauf hat. So können sich bei zunehmendem Beschäftigungsgrad auch die Leistungsanreize für den einzelnen Arbeitnehmer vermindern und es wird für die einzelnen Unternehmen schwieriger, geeignete Kräfte zur Besetzung freier Stellen zu finden. Diese Probleme sind bei hoher Arbeitslosigkeit nicht so ausgeprägt. Diese positiven Effekte von Arbeitslosigkeit sind aber eher gering und fallen in der momentanen Situation im Vergleich zu den negativen nicht ins Gewicht. 13 Die Grenzrate der Substitution stellt in der Theorie vom Haushalt die subjektive Wertschätzung eines bestimmten Gutes durch einen Haushalt in Form von Mengeneinheiten eines anderen Gutes dar. Sie kann als Maß der Bereitschaft des Haushalts interpretiert werden, auf Mengeneinheiten des einen Gutes zugunsten des anderen Gutes zu verzichten, ohne daß sich das Nutzenniveau verändert. Vgl. zu dieser Definition Gabler Wirtschaftslexikon (1997), S. 1634. 14 Die Grenzrate der Transformation gibt das Austauschverhältnis zwischen zwei Gütern bei deren Produktion an. Die Produktion des einen kann nur auf Kosten des anderen gesteigert werden. Sie kann daher auch als Ausdruck für die Opportunitätskosten verwendet werden. Vgl. dazu Gabler Wirtschaftslexikon (1997), S. 3812. Ein Haushalt erreicht nach der Wohlfahrtsökonomie dort sein Wohlfahrtsoptimum, wo Grenzrate der Transformation und Grenzrate der Substitution übereinstimmen. 10 11

A. Arbeitsmarkt

27

Politische Instabilität bis zum Zusammenbruch des gesellschaftlichen Systems kann die Folge seien. Bekanntestes Beispiel dafür ist sicherlich das Schicksal der Weimarer Republik in den 30er Jahren.

II. Daten zum Arbeitsmarkt Zu den schon oben genannten 4,61 Millionen registrierter Arbeitsloser im März 200315 kommen noch etwa 1,7 Millionen hinzu, die als verdeckte Arbeitslose gelten können16, da sie nur durch arbeitspolitische Maßnahmen wie z. B. berufliche Weiterbildungsmaßnahmen bzw. Umschulungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Kurzarbeit oder vorzeitigen Ruhestand aufgefangen werden17 oder aus anderen Gründen nicht in der Arbeitslosenstatistik erscheinen. Demgegenüber waren dem Arbeitsamt im März 2003 nur ca. 414.800 freie Stellen gemeldet.18 Selbst wenn man davon ausgeht, dass sicherlich nicht alle freien Arbeitsplätze dem Arbeitsamt gemeldet sind, wird aus diesen Zahlen ersichtlich, dass einer großen Anzahl von Arbeitsuchenden nur wenige freie Stellen gegenüberstehen. Obwohl bereits aus diesen Zahlen deutlich wird, dass etwa 5 – 6 Millionen reguläre Arbeitsplätze fehlen, ist dies noch nicht einmal das Beunruhigendste. Denn die Höhe der Arbeitslosigkeit ist nicht das einzige Problem. Vielmehr sind es die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und ihre strukturellen Hintergründe, die die Größe des Problems ausmachen. Die Arbeitslosigkeit19 ist in Deutschland kein neues Phänomen. Bereits seit 1973, dem Jahr des ersten Ölpreisschocks, ist es nicht mehr gelungen, Vollbeschäftigung zu erreichen. Der Sockel der Arbeitslosen, d. h. der Teil der Arbeitslosen, 15 In der Arbeitslosenstatistik der Bundesanstalt für Arbeit zählen alle Personen unter 65 Jahren als arbeitslos, die als arbeitslos registriert, nicht arbeitsunfähig erkrankt und nicht oder nur kurzzeitig erwerbstätig sind. Außerdem muß eine über drei Monate hinausgehende Beschäftigung als Arbeitnehmer mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von mindestens 18 Stunden gesucht werden. Dazu und zu weiteren Anforderungen siehe Franz, W. (1994), S. 330. Dort auch zu den Problemen der Arbeitslosenstatistik bzgl. der Erfassung der tatsächlich Arbeitslosen (S. 328 f.). 16 So Sachverständigenrat (2002), RZ 423. 17 Dazu zählen z. B. etwa 800.000 Teilnehmer an Bildungsmaßnahmen sowie etwa 140.000 in beschäftigungsschaffenden Maßnahmen Eingebundene. Des weiteren waren fast 250.000 Kurzarbeiter gemeldet, was einem Vollzeitäquivalent von über 100.000 entspricht (vgl. Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit 04 / 2003, S. 367 ff.). 18 Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit 04 / 2003, S. 368 f. 19 Arbeitslosigkeit heißt in diesem Zusammenhang gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit. Diese liegt vor, wenn die Rate der Arbeitslosen die der offenen Stellen übersteigt. Wann dies der Fall ist, läßt sich gut an der Beveridge-Kurve erkennen. Die Beveridge-Kurve stellt eine beobachtete, negative Beziehung zwischen der Rate der offenen Stellen und der Arbeitslosenrate dar. Punkte der Kurve unterhalb der Winkelhalbierenden stellen dabei Situationen mit gesamtwirtschaftlicher Arbeitslosigkeit dar.

28

1. Kap.: Überblick

die selbst in Hochkonjunkturjahren ohne Arbeit sind, ist vielmehr von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus angewachsen. So hat die Rezession der Jahre 1974 / 1975 diesen Sockel um etwa 700.000 und die Rezession der Jahre 1981 / 1982 um weitere 830.000 Personen erhöht.20 Unter den etwa 2 Millionen Arbeitslosen, die zum Sockel gerechnet werden können, finden sich insbesondere die typischen Problemgruppen des Arbeitsmarktes wieder. Vor allem Personen ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung, ältere oder gesundheitlich beeinträchtigte Mitbürger sind von der Arbeitslosigkeit besonders stark betroffen. Dies zeigt auch die folgende Tabelle. Von je 100 Arbeitslosen waren / hatten Ende September 1995 sowie Ende September 2000 ca. . . . im September 1995

im September 2000

. . . keine abgeschlossene Berufsausbildung

39

38

. . . Berufstätigkeit unterbrochen

35

46

. . . ein Jahr und länger ohne Arbeit

32

37

. . . gesundheitlich beeinträchtigt

26

16

. . . Ältere (ab 55 J.)

23

22

. . . ohne Berufserfahrung

7

5

. . . Jugendliche (unter 20 J.)

3

3

Quelle: Berechnet aus Sondernummer der Amtl. Nachrichten der BfA 03 / 2001, S. 8 ff. sowie Süddeutsche Zeitung vom 20. 06. 1997 unter Berufung auf Globus, Bundesanstalt für Arbeit.

Bemerkenswert ist hierbei insbesondere, dass Arbeitskräfte ohne abgeschlossene Berufsausbildung etwa 38% aller Arbeitslosen ausmachen. Ein weiteres Problem, das sehr eng mit dem Problem der ansteigenden Sockelarbeitslosigkeit verbunden ist, ist das der Langzeitarbeitslosen. Ihr Anteil, d. h. der Anteil der Arbeitslosen, die mehr als ein Jahr arbeitslos sind, lag noch in den 70er Jahren bei rund 9 %21. Mittlerweile beträgt allein die Zahl der registrierten Langzeitarbeitslosen 1,439 Millionen. Das entspricht einem Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen von ca. 30 %.22 Unter Berücksichtigung der nicht registrierten Arbeitslosen dürfte dieser Anteil noch höher liegen. Auch die durchschnittliche Länge der Arbeitslosigkeit ist stark angestiegen. Dass Massenarbeitslosigkeit aber nicht ein unabwendbares Ereignis gleich einer Naturkatastrophe ist, lässt sich an einem Vergleich beispielsweise mit den USA Monopolkommission (1994), S. 360. Quelle: OECD, Employment Outlook, Labour Force Statistics, aus Winkler-Büttner, D. (1997), S. 355. 22 Amtl. Nachrichten der BfA 04 / 2003, S. 391. 20 21

A. Arbeitsmarkt

29

erkennen.23 In den USA erhöhte sich zwischen Januar 93 und Juni 96 die Zahl der abhängig Beschäftigten außerhalb der Landwirtschaft um 10 Millionen. Dadurch sank die Arbeitslosenrate von 9,7 % im Jahr 1982 auf 4,5% im Jahr 1998.24 Im ersten Halbjahr 96 wurden z. B. im Monat durchschnittlich 230.000 neue Arbeitsplätze geschaffen.25 Dieser Trend hielt im Wesentlichen bis ins Jahr 2001 an. So wurden alleine im Januar 2000 387.000 neue Arbeitsplätze geschaffen.26 Vergleicht man diese Zahlen mit denen für Deutschland, so ist der Unterschied sehr deutlich. Man spracht in Bezug auf die Entwicklung der US-amerikanischen Wirtschaft vielfach schon von einer „Job Machine“27. Aber auch in den USA zeigten sich Arbeitsmarktprobleme. So stagnierten dort die Reallöhne etwa 25 Jahren lang und fielen in diesem Zeitraum für das verarbeitende Gewerbe sogar um 5 bis 10%.28 Erst in den letzten Jahren sind sie wieder angestiegen. In Deutschland haben das Lohnniveau und vor allem die Arbeitskosten für die Unternehmen eine sehr beachtliche Höhe erreicht. So liegen die Nettolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer für das Jahr 2001 bei 17030 Euro, während sie noch im Jahr 1970 Euro 5500 betrug.29 Mit dem heutigen Lohnniveau liegt Deutschland mit an der Weltspitze. Die nachstehende Tabelle gibt die Arbeitskosten je Arbeiterstunde in der Verarbeitenden Industrie 2001 in Deutschland und anderen Ländern (in Euro) an. Land

Direktentgelte

Personalzusatzkosten

Gesamt

Portugal

3,79

2,96

6,75

Griechenland

5,27

3,59

8,86

Spanien

8,01

6,67

15,92

Italien

8,14

7,77

15,92

Irland

11,47

4,54

16,01

Ost-Deutschland

10,09

6,76

16,86

Kanada

13,07

4,97

18,03

9,89

9,03

18,93

Frankreich

23

Vergleiche zu weiteren Ländern mit positiver Beschäftigungsentwicklung Iwd 12 / 1998,

S. 7. 24 25 26 27 28

Quelle: OECD, Employment Outlook, December 1999, S. 216. Die Zahlen stammen aus Sachverständigenrat (1996), S. 41 f. Vgl. FAZ v. 7. 2. 2000, S. 17. So z. B. Barbier in FAZ vom 5. 4. 1997. Die zugrundeliegenden Daten stammen aus Sachverständigenrat (1995), S. 362, 363,

349. 29 Die Zahlen für 1970 beziehen sich auf das frühere Bundesgebiet, während die Zahlen für 2001 für das gesamte Bundesgebiet gelten. Die Zahlen stammen aus: Sachverständigenrat (2002), Tabelle 19.

30

1. Kap.: Überblick Land

Direktentgelte

Personalzusatzkosten

Gesamt

Großbritannien

13,41

5,82

19,23

Schweden

12,35

8,56

20,91

Österreich

10,90

10,10

21,00

Luxemburg

13,99

7,12

21,12

Niederlande

12,18

9,80

21,98

Finnland

12,51

9,61

22,12

Japan

13,13

9,09

22,22

USA

16,57

6,42

22,99

Belgien

11,84

11,31

23,15

Dänemark

19,58

4,91

24,50

Schweiz

16,37

8,59

24,96

Norwegen

17,12

8,22

25,33

Westdeutschland

14,44

11,72

26,16

Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft (Iwd 2 / 2002).

Wie die Tabelle zeigt, sind die Lohnkosten in Deutschland (West) am höchsten. Zwar sind die Direktentgelte in den USA, Dänemark, Schweiz und Norwegen höher, aber aufgrund der in Deutschland ausgesprochen hohen Lohnnebenkosten sind die Gesamtkosten wesentlich größer. Aber nicht nur die Lohnhöhe ist in Deutschland erstaunlich hoch, sondern auch die Produktivität. Sie stieg von 33.700 Euro je Erwerbstätigem im Jahr 1970 auf 50.900 im Jahr 2001.30 Trotz dieser erfreulich hohen Produktivität bleibt es eine Tatsache, dass etwa 5 – 6 Millionen reguläre Arbeitsplätze fehlen. Bei der Höhe dieser Zahl ist es augenscheinlich, dass der Arbeitsmarkt eine seiner Hauptaufgaben, den Ausgleich von Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot, nicht ausreichend erfüllt. Die Gründe dafür sind nur zu verstehen, wenn man die Funktionsweise des Arbeitsmarktes in der Volkswirtschaft kennt. Deshalb wird diese im Folgenden skizziert. Außerdem werden die wichtigsten Arbeitsmarkttheorien kurz dargestellt und diskutiert.

30 Die Zahlen für 1970 beziehen sich auf das frühere Bundesgebiet, während die Zahlen für 2001 für das gesamte Bundesgebiet gelten. Die Zahlen stammen aus: Sachverständigenrat (2002), Tabelle 19.

A. Arbeitsmarkt

31

III. Funktionsweise des Arbeitsmarktes und Arbeitsmarkttheorien 1. Funktionsweise generell Vom Grundprinzip her funktioniert der Arbeitsmarkt wie jeder andere Markt auch. Die Entscheidungen von Millionen von Haushalten und Unternehmen über das Anbieten und Nachfragen von Arbeitsleistungen werden unabhängig voneinander getroffen. Sie gehen jeweils von verschiedenem Wissen und Erwartungen bezüglich jetziger und zukünftiger Datenkonstellationen aus. Es ist dabei unmöglich, dass die aufgrund des unterschiedlichen Wissens und der verschiedenen Erwartungen getroffenen Entscheidungen vollständig vereinbar sind. So werden die von den Haushalten angebotene Arbeit und die von den Unternehmen nachgefragte Arbeit nicht von vornherein übereinstimmen. Insofern muss eine Koordination des Angebotes und der Nachfrage erfolgen. In marktwirtschaftlich ausgerichteten Gesellschaften erfolgt diese Koordination über den Preismechanismus. Der Preis für Arbeit, der für abhängige Arbeit im Folgenden vereinfachend als Lohn bezeichnet wird, hat somit die Aufgabe, das Angebot und die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zum Ausgleich zu bringen. Der Preis für Arbeitsleistungen steigt, wenn die Nachfrage nach Arbeit höher als das Angebot ist. Steigt der Lohnsatz, steigt auch die Bereitschaft der Haushalte, mehr Arbeit anzubieten, und die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeit sinkt. Somit gleichen sich Angebot und Nachfrage an, bis der Lohnsatz herrscht, bei dem Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht sind. Im umgekehrten Fall, wenn also mehr Arbeit angeboten als nachgefragt wird, fällt der Lohnsatz. Dadurch fragen die Unternehmen mehr Arbeit nach und die Haushalte bieten weniger an.31 Es kommt erneut zu einem Gleichgewicht. Graphisch lässt sich der Arbeitsmarkt wie in Abbildung 1 auf Seite 32 darstellen. Aus dieser vereinfachten, „naiven“ Darstellung des Arbeitsmarktes lässt sich erkennen, dass der Arbeitsmarkt eine Tendenz zum Gleichgewicht hat.

31 Zu der entgegengesetzten These, dass Arbeiter bei niedrigeren Löhnen mehr Arbeit anbieten mit der Folge der sog. Verelendungskonkurrenz, siehe unten [3. Kap. I.] oder auch ausführlich Reuter, D. (1985), S. 56 f.

32

1. Kap.: Überblick

Lohnsatz

Nachfrage

Angebot Arbeitsleistung Abbildung 1

2. Neoklassische Arbeitsmarkttheorien Nach der traditionellen, neoklassischen Sicht werden Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt schnell durch den (Real)Lohnmechanismus ausgeglichen. Es kommt daher nach exogenen Schocks immer wieder schnell zu einem Gleichgewicht, bei dem jeder, der zu dem herrschenden Gleichgewichtslohn arbeiten will, auch tatsächlich arbeiten kann. Arbeitslosigkeit kann danach nur sehr kurzfristig aufgrund exogener Schocks als freiwillige oder als friktionelle32 Arbeitslosigkeit auftreten. Längerfristige Arbeitslosigkeit kann nach dieser Theorie nur dann auftreten, wenn der Preismechanismus wegen Reallohnrigiditäten nicht richtig funktioniert. In diesem Fall kann es bei einem Reallohnniveau, das für die gegebene Produktivität zu hoch ist, zu unfreiwilliger Arbeitslosigkeit kommen. Grund für die sogenannte „klassische Arbeitslosigkeit“33 ist also ein zu hoher Reallohn bzw. zu geringe Produktivität als Folge eines spezifischen Arbeitsmarktversagens. Die Theorie der Neoklassik kommt zu einer grundsätzlich positiven Einschätzung der Funktionsweise des Arbeitsmarktes aufgrund von sehr strikten Annahmen. Die Hauptannahmen sind dabei die der vollständigen Konkurrenz auf Angebots- und Nachfrageseite, Homogenität der Arbeit, vollkommene Markttransparenz und Mobilität der Arbeitnehmer sowie die Gültigkeit des Say’schen Gesetzes34. 32 Friktionelle Arbeitslosigkeit ist durch kurzfristige Anpassungsschwierigkeiten, Arbeitsplatzwechsel und Umschulung entstehende Arbeitslosigkeit (Gabler (1992), S. 186). 33 Siehe zu diesem Ausdruck z. B. Külp, B. / Berthold, N. (1992), S. 105. 34 Das Say‘sche Gesetz besagt, dass jedes Angebot sich (über die mit ihm verbundene Einkommensentstehung) seine eigene Nachfrage im notwendigen Umfang selbst schafft. Siehe dazu Gabler Wirtschaftslexikon (1997), S. 3330.

A. Arbeitsmarkt

33

Vor allem an diesen sehr rigiden und lebensfremden Annahmen setzt die Kritik an diesem Ansatz an.

3. Keynsianische Arbeitsmarkttheorien Die als Reaktion auf die Massenarbeitslosigkeit der 30er Jahre entstandene Keynsianische Theorie setzt vor allem an den Annahmen der Markttransparenz und der Gültigkeit des Say’schen Theorems an. Nach der keynsianischen Theorie gilt das Say’sche Gesetz nicht, da es in der Realität für den Unternehmer eine Absatzschranke in Form der effektiven Güternachfrage gibt. Existiert eine feststehende effektive Güternachfrage und kann deshalb auch bei Erhöhung der Produktion und damit des Angebots nicht mehr verkauft werden, dann besteht für den Unternehmer kein Anlass mehr, Arbeitskräfte einzustellen, auch wenn Arbeitslosigkeit herrscht und deshalb der Reallohn sinkt. Daher wird nach dieser Theorie das Beschäftigungsniveau in erster Linie auf dem Gütermarkt festgelegt. Folglich ist nicht die Höhe des Reallohnniveaus für die Nachfrage nach Arbeit entscheidend, sondern die effektive Nachfrage nach Gütern. Ist die effektive Nachfrage zu klein, was vor allem an den Finanzmärkten liegen kann, kommt es zu konjunktureller Arbeitslosigkeit. Die sogenannte „keynsianische Arbeitslosigkeit“35 stellt kein spezifisches Versagen des Arbeitsmarktes, sondern ein generelles Problem des gesamten ökonomischen Systems dar. Die neoklassische und die keynsianische Theorie beherrschten bis etwa Mitte der 70er Jahre die politische und wissenschaftliche Diskussion. Dabei standen sich die beiden Schulen unversöhnlich gegenüber.36 Eine befriedigende Erklärung des Phänomens Massenarbeitslosigkeit bieten hingegen beide Schulen nicht. Stark vereinfacht gesagt, definieren viele neoklassische Erklärungsansätze die Arbeitslosigkeit weg, indem sie diese als freiwillig oder friktionell einstufen. Andere stellen ausschließlich auf zu hohe Reallöhne ab, deren dauerhaften Bestand sie nicht schlüssig begründen können. Denn dazu müsste erklärt werden, warum es den Arbeitslosen nicht gelingt, durch Lohnunterbietung die Nominallöhne und bei von der Notenbank bestimmtem Preisniveau, die Reallöhne zu senken, um dadurch Arbeit zu bekommen.37 Die zwei wohl bekanntesten Erklärungsansätze für die Unwirksamkeit von Lohnunterbietungsprozessen trotz Hochlohnarbeitslosigkeit, nämlich die Effizienzlohntheorie und die Insider-Outsider Theorie, werden unten dargestellt. Keynsianische Ansätze hingegen erklären Arbeitslosigkeit einseitig aus Defiziten in der Güternachfrage, ohne die Gründe für ein dauerhaftes Defizit schlüssig Siehe zu diesem Ausdruck z. B. Külp, B. / Berthold, N. (1992), S. 105 Später gelang es vor allem einigen „Ungleichgewichtstheoretikern“, insbesondere Malinvaud zu zeigen, dass beide Ansätze nur Unterfälle einer gemeinsamen allgemeineren Theorie sind. Siehe Berthold, N. (1988), S. 485. 37 Berthold, N. / Fehn, R. (1995a), S. 112. 35 36

3 von Klitzing

34

1. Kap.: Überblick

erklären zu können. Außerdem werden die Angebotsseite und die mangelnde Funktionsfähigkeit der Arbeitsmärkte vernachlässigt.38 4. Theorie von der natürlichen Arbeitslosenrate In den 70er Jahren setzte sich die vor allem von Friedman39 propagierte Vorstellung von einer langfristig relativ konstanten „natürlichen Arbeitslosenrate“ durch. Nach dieser Vorstellung existiert auch im Gleichgewicht zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage eine gewisse Anzahl bzw. Rate von Arbeitslosen. Ein Teil der Arbeitslosen ist dabei „freiwillig“ arbeitslos, da ihnen der gebotene Lohn zu niedrig ist, die anderen sind aufgrund von unvollständiger Information im Zusammenhang mit Suchprozessen der Arbeitnehmer und -geber arbeitslos. Diese Rate soll ein Gleichgewichtswert sein, um den die Arbeitslosenrate schwanken kann, wenn es zu Erwartungsfehlern der Individuen bezüglich der Inflation kommt. Trotz dieser Schwankungen tendiert der Anteil der Arbeitslosen aber langfristig immer wieder zu der natürlichen Rate hin, weil die Individuen ihre Erwartungen anpassen. Steigt die Inflation beispielsweise unerwartet an, so akzeptieren die Arbeitnehmer einen geringeren Reallohn, da sie noch mit der alten Inflationsrate rechnen. Die Arbeitgeber hingegen wissen von dem Anstieg der Inflation, weil sie nur den Preis ihres eigenen Produktes verfolgen müssen. Sie dehnen ihre Produktion und damit ihr Arbeitsplatzangebot aus, da der Reallohn gesunken ist. Nach einer gewissen Weile erkennen die Arbeitnehmer, dass sie sich über die Inflation getäuscht haben und passen ihre Lohnforderungen der neuen Inflation an, wodurch auch die Beschäftigung auf ihren Ursprungswert zurückgeht. Die natürliche Arbeitslosenrate pendelt sich wieder ein.40 Nach dieser Vorstellung werden negative Schocks über einen funktionierenden Preismechanismus auf den Arbeits- und Gütermärkten verarbeitet. Dadurch kommt es nur zu kurzfristigen Abweichungen der tatsächlichen von der natürlichen Arbeitslosenrate.41 Langfristig zeigt das Modell von Friedman neoklassische Züge, während es kurzfristig durchaus keynsianische Züge trägt.42 Erst das starke AnsteiSiehe dazu insbesondere Berthold, N. / Fehn, R. (1995a), S. 110. Friedman, M. (1968) zur Definition der natürlichen Arbeitslosenrate schreibt er auf S. 8: „At any moment of time, there is some level of unemployment which has the property that it is consistent with equilibrum in the strukture of real wage rates ( . . . ). The ,natural rate of unemployment‘, in other words, is the level that would be ground out by the Walrasian system of general equilibrum equations, provided there is imbedded in them the actual structural characteristics of the labor and commoditiy markets, including market imperfections, stochastic variability in demands and supplies, the cost of gathering information about job vacancies and labor availabilities, the costs of mobility, and so on.“ 40 Eine gute Beschreibung des Mechanismus wird in Schmid, H. (1996), S. 125 – 135 gegeben. 41 Berthold, N. / Fehn, R. (1995a), S. 115 f. 42 Vgl. Schmid, H. et al. (1996), S. 134. 38 39

A. Arbeitsmarkt

35

gen der Sockelarbeitslosigkeit in Westeuropa infolge der Ölpreisschocks erschütterte den Glauben an diese Vorstellung, da die hohen Arbeitslosenraten nicht mehr nur als natürliche Arbeitslosigkeit erklärt werden konnten.43 Die Erfahrungen mit dem Ansteigen der Sockelarbeitslosigkeit von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus führte dann zu der Erkenntnis, dass die Arbeitslosigkeit zumindest in Westeuropa stark persistente Züge trägt. Persistente Arbeitslosigkeit bedeutet, dass ein Anstieg der Arbeitslosigkeit bei einem temporären, negativen Schock nur langsam wieder abgebaut wird.44 Teilweise geht man sogar in diesem Zusammenhang von hysteretischen Effekten aus. Diese führen dazu, dass sich langanhaltende Arbeitslosigkeit selbst durch hohes reales Wirtschaftswachstum nicht auflösen lässt. Die Folge von persistenten oder hysteretischen Effekten ist, dass sich die Arbeitslosigkeit sehr viel schneller auf- als abbaut. Als Ursache für persistente und hysteretische Effekte werden in der Literatur vor allem drei Gründe genannt: Entwertung von Humankapital, Kapitalmangel und Insider-Outsider-Beziehungen.45 5. Humankapitaltheorie Die Humankapitaltheorie führt die Persistenz auf dem Arbeitsmarkt darauf zurück, dass sich die nach einem externen negativem Schock entstehende Arbeitslosigkeit durch Selektionsprozesse zu Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt. Da Langzeitarbeitslose aber nur sehr schwer vermittelbar sind, stellen sie für die Beschäftigten keine ernstzunehmende Konkurrenz dar, es kommt zu keinem Unterbietungswettbewerb und Angebot und Nachfrage nähern sich einander deshalb nicht an. Es werden vor allem drei Gründe für die schwere Vermittelbarkeit von Langzeitarbeitslosen angeführt. Erstens verlieren Arbeitsuchende mit zunehmender Dauer ihrer Arbeitslosigkeit auch ihre Qualifikationen, d. h. ihr Humankapital. Dies liegt an der mangelnden Übung und der fortschreitenden Technik, die sie nicht mehr anzuwenden lernen. Zweitens lässt meist auch ihre Arbeits-Suchintensität nach, da gewisse Resignationserscheinungen und auch eine Gewöhnung an einen niedrigeren Lebensstandard mit länger anhaltender Beschäftigungslosigkeit einhergeht. Drittens ist eine längere Beschäftigungslosigkeit für viele Arbeitgeber ein Indiz für mangelnde Qualität der Bewerber. Die Länge der Arbeitslosigkeit wird somit zum negativen Einstellungskriterium, das bewirkt, dass Langzeitarbeitslose meist auch in einem konjunkturellen Aufschwung vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben.46 43 Siehe dazu sowie zur generellen Kritik Schmid, H. (1996), S. 139 – 145 und Berthold, N. / Fehn, R. (1995a), S. 115 f. 44 Berthold, N. / Fehn, R. (1995a), S. 116. 45 Pfahler, T. (1995), S. 287.

3*

36

1. Kap.: Überblick

Mit der Humankapitaltheorie lässt sich gut ein Zusammenhang zwischen klassischer und keynsianischer Arbeitslosigkeit herstellen.47 Entsteht aufgrund eines gesamtwirtschaftlichen Nachfragemangels keynsianische Arbeitslosigkeit und bleibt diese eine Weile bestehen, so entwertet sich das Humankapital der Arbeitslosen. Ihre potentielle Produktivität nimmt ab, wodurch ihre Beschäftigung bei einem konstanten Lohnniveau nicht mehr rentabel wäre, auch wenn die konjunkturellen Gründe für ihre Entlassung nicht mehr vorliegen. So wandelt sich keynsianische Arbeitslosigkeit in klassische.48 Die Humankapitaltheorie hilft bei der Erklärung mit, warum der tatsächliche Reallohn über dem Gleichgewichtslohn liegen kann, indem sie Gründe liefert, weshalb Langzeitarbeitslose an einem Unterbietungswettbewerb nicht wirksam teilnehmen. Dadurch trägt sie dazu bei, das Vorhandensein von klassischer Arbeitslosigkeit und Persistenz auf dem Arbeitsmarkt zu erklären.49 Die Humankapitaltheorie allein bietet aber noch keine ausreichende Erklärung für Persistenz auf dem Arbeitsmarkt, denn weder ein Humankapitalverlust, noch die Länge der Arbeitslosigkeit als negatives Einstellungskriterium würden die Langzeitarbeitslosen hindern, einen Arbeitsplatz zu finden, wenn sie die Nachteile durch einen entsprechend niedrigen Anspruchslohn ausgleichen würden. Gegen die Humankapitaltheorie spricht zudem die Tatsache, dass ein sehr hoher Prozentsatz der Arbeitslosen ungelernt ist. Gerade bei diesen ist aber ein Humankapitalverlust aufgrund von Arbeitslosigkeit eher gering und wohl leicht kompensierbar.50

6. Kapitalknappheitstheorie Nach der sogenannten Kapitalknappheitstheorie hängt die Höhe der Arbeitslosigkeit ganz entscheidend von der Höhe des realen Kapitalstocks ab. Wesentlicher Ausgangspunkt dieser Theorie war, dass Mitte der 80er Jahre die europäische Arbeitslosigkeit neue Höchstwerte erreichte, obwohl auch die Auslastung bei den Firmen sehr hohe Werte erreichte. Dies wurde damit erklärt, dass durch frühere negative Schocks (z. B. Ölpreisschocks) die Höhe des realen Kapitalstocks Vgl. Berthold, N. / Fehn, R. (1995b), S. 205 f. Zur Humankapitaltheorie generell siehe Becker, G. (1975) oder auch Franz, W. (1994a), S. 87 ff. Als einführender Überblick auch Sesselmeier, W. / Blaumerl, G. (1990), S. 57 – 60. 47 Von klassischer Arbeitslosigkeit spricht man meist, wenn die Ursache der Arbeitslosigkeit in zu hohen Löhnen liegt, während man von keynsianischer spricht, wenn sie durch gesamtwirtschaftlichen Nachfragemangel verursacht wurde. Siehe dazu auch bereits Abschnitt A. III. 2. und 3. 48 Berthold, N. / Fehn, R. (1995b), S. 191 f. 49 Zur Kritik an der Humankapitaltheorie siehe Scheuer, M. (1987), S. 77 – 82. 50 Berthold, N. / Fehn, R. (1995b), S. 206. 46

A. Arbeitsmarkt

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gesunken oder zumindest nur sehr langsam gewachsen sei, und sich dies weiterhin negativ auf die Arbeitsnachfrage auswirke. Der Mechanismus ist nach dieser Theorie folgender: Ein negativer Schock führt zu einer geringen Auslastung des bestehenden Kapitalstocks. Dieser wird bei andauernder Unterbeschäftigung zunehmend abgebaut. Außerdem führen die gesunkenen Gewinnaussichten zu geringerer Neuinvestition. Nach Ende der ursprünglichen Krise ist der Kapitalstock zu klein geworden, um alle Arbeitskräfte beschäftigen zu können.51 Kritik wurde an dieser Theorie vor allem dahingehend vorgebracht, dass die Investitionstätigkeit endogen sei und z. B. durch sinkende Realzinsen angeregt werde, was in dieser Theorie nicht ausreichend berücksichtigt werde. Vor allem wird aber an diesem Ansatz kritisiert, dass Arbeit und Kapital substituierbar sind, so dass auch bei einem geringerem Kapitalstock Vollbeschäftigung herrschen kann, solange der Arbeitsmarkt hinreichend flexibel ist.52

7. Insider-Outsider Theorie Die Insider-Outsider Theorie führt die Arbeitslosigkeit auf einen Interessenkonflikt zwischen den beschäftigten Arbeitnehmern (Insidern) und den Arbeitslosen (Outsidern) zurück.53 Nach dieser Theorie kann Hochlohnarbeitslosigkeit nicht abgebaut werden, da der Einfluss der Outsider auf das Lohnniveau stark beschränkt ist. Grund dafür ist, dass es für Unternehmen teuer ist, Insider durch Outsider zu ersetzen. Bei einer Ersetzung entstehen Kosten in Form von z. B. Abfindungs- oder Kündigungskosten, von Einstellungskosten54 und auch von indirekten Kosten, infolge von sinkender Arbeitsmoral bei den verbleibenden Insidern. Diese Kosten bewirken, dass die Insiderlöhne über dem Anspruchslohn55 der Outsider liegen können und zwar bis zur Höhe der Ersetzungskosten, ohne dass es zu einem Unterbietungswettbewerb kommt. Darüber hinaus können die Insider die sowieso schon bestehenden Lohnsetzungsspielräume noch vergrößern, wenn es ihnen gelingt, durch sogenannte „rent-creating“-Aktivitäten die Ersetzungskosten zu erhöhen. Zu diesem Zweck können insbesondere Gewerkschaften benutzt werden,56 die für Insiderbegünstigung anfällig sind.57 Diese können über Tarifverhandlungen die 51 Sehr ausführlich zu dieser Theorie Landmann, O. (1989), S. 70 – 84; vergleiche aber auch Schmid, H. (1996), S. 165 ff. 52 Berthold, H. / Fehn, R. (1995a), S. 116. 53 Insgesamt zur Insider-Outsider Theorie vergleiche Lindbeck, A. / Snower, D. (1988). 54 Einstellungskosten sind z. B. Such-, Anwerbungs-, Verhandlungs- und Verwaltungskosten, die bei Neueinstellungen entstehen. 55 Lohn zu dem ein Arbeitnehmer bereit wäre zu arbeiten. 56 Siehe dazu z. B. Berthold, N. / Fehn, R. (1995b), S. 198 f.

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1. Kap.: Überblick

Einstellungshürden für Outsider erhöhen und damit die Verhandlungsmacht der Insider stärken. Aber viele Fluktuationskosten sind auch politisch bedingt. Mit diesen Kosten, die in Form von Kündigungskosten, Sozialplankosten oder Abfindungskosten auftreten, werden wir uns später noch ausführlich beschäftigen. Die Folge von hohen Ersetzungskosten ist eine höhere Marktmacht der Insider, die diese zur Erreichung höherer Löhne nutzen. Die negativen Folgen tragen vor allem die Outsider aber auch die Allgemeinheit. Die Outsider können ihre Arbeitskraft nicht zur Lohnerzielung einsetzen und sind daher auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen, die wiederum von der Allgemeinheit finanziert werden müssen.58 Die Insider-Outsider Theorie bietet eine Erklärung für zu hohe Reallöhne und damit dauerhafte klassische Arbeitslosigkeit, indem sie diese auf einen Interessenkonflikt zwischen Insidern und Outsidern zurückführt. Die Insider benutzen ihre zum Teil politisch bewirkte Marktmacht, um nicht vollbeschäftigungskonforme Löhne durchzusetzen.59 Auch die Persistenz auf dem Arbeitsmarkt begründet die Insider-Outsider Theorie einleuchtend. Durch negative Schocks werden Insider durch Entlassungen zu Outsidern. Aufgrund von hohen Einstellungskosten werden diese nur wieder beschäftigt, wenn ihr Anspruchslohn stark unter ihrem vorherigen Lohn liegt. Ist dies nicht der Fall, treten sie nicht als Konkurrenz zu den Insidern auf, so dass sie auch keinen Einfluss auf die Lohnbildung haben. Die Löhne bleiben deshalb trotz gestiegener Arbeitslosigkeit auf der bisherigen Höhe und die Outsider finden deshalb keine Arbeit.60 Des weiteren werden die Effizienzlohn-, die Segmentationstheorie und die Kontrakttheorie in der neueren Literatur stark diskutiert.

8. Effizienzlohntheorie Die Effizienzlohntheorie versucht zu erklären, wieso es trotz hoher Arbeitslosigkeit nicht zu Lohnunterbietung bzw. Lohnkürzung kommt.61 Der Grund für das Nicht-Funktionieren des Lohnunterbietungsmechanismus ist danach, dass die Unternehmen an ihm kein Interesse haben, da die Produktivität der Arbeitnehmer positiv (und überproportional) von der Lohnhöhe abhängt. 57 Diese Anfälligkeit läßt sich über den Medianwähler der Gewerkschaft erklären. Siehe dazu z. B. Berthold, N. (1987), S. 174 – 186. 58 Berthold, N. / Fehn, R. (1995b), S. 199. 59 Berthold, N. / Fehn, R. (1995b), S. 199. 60 Berthold, N. / Fehn, R. (1995b), S. 206. Zur Kritik an dieser Theorie siehe Sesselmeier, W. / Blauermel, G. (1990), S. 126 f. 61 Ausführliche Darstellung und Kritik der Effizienzlohntheorie in Scheuer, M. (1987), S. 111 – 152 oder auch Sesselmeier, W. / Blaumerl, G. (1990), S. 97 – 122 mit vielen weiteren Literaturhinweisen.

A. Arbeitsmarkt

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Diese Theorie geht davon aus, dass die Unternehmen schlechter als die Arbeitnehmer über deren Produktivität informiert sind und es den Unternehmen nicht möglich ist, die Leistung der Arbeitnehmer wirksam zu kontrollieren.62 Deswegen setzen die Unternehmen die Lohnhöhe als Parameter ein, um besser qualifizierte Arbeitnehmer einstellen zu können63, um die Fluktuation der eigenen Angestellten zu verringern, und um Drückebergerei (shirking) am Arbeitsplatz zu verhindern. Produktivitätssteigernd und disziplinierend wirkt eine gewisse Lohnhöhe aber nur, wenn sie über dem Gleichgewichtslohnsatz liegt, denn nur dann sind die Arbeitnehmer besonders daran interessiert, diesen bestimmten Arbeitsplatz zu er- oder behalten, da ihnen sonst Einkommenseinbußen drohen. Wenn aber viele Unternehmen daran interessiert sind, möglichst einen Lohn zu zahlen, der über dem Gleichgewichtslohnsatz liegt, kommt es zu unfreiwilliger klassischer Arbeitslosigkeit aufgrund zu hoher Reallöhne. Das besondere an dieser Theorie ist, dass den Unternehmen ein Interesse an zu hohen und relativ inflexiblen Löhnen zugeschrieben wird.64 Positiv zu werten ist der Hinweis der Effizienzlohntheorie auf die Tatsache, dass Unternehmen nicht immer an möglichst niedrigen Löhnen interessiert sind, da der Lohn neben der Kostenbelastung auch produktivitätsfördernde Aspekte aufweist.65 Viele Gegenargumente weisen jedoch darauf hin, dass der Erklärungswert der Effizienzlohntheorie eher begrenzt ist.66 Die Theorie geht davon aus, dass die Produktivität der Arbeitnehmer bei einer Lohnerhöhung steigt. Wenn aber nicht nur der Lohn sondern auch die Produktivität in mindestens gleichem Maße steigt, ist der Lohn weiterhin ein markträumender67 Preis. Eine dauerhafte Abweichung vom Gleichgewichtsprozess kann daher nicht begründet werden.68 Des weiteren ist kritisch anzumerken, dass die Existenz von Gewerkschaften ökonomisch kaum zu erklären wäre, wenn die Unternehmen von sich aus, an über dem Gleichgewicht liegenden Löhnen interessiert wären.69

62 Es handelt sich hierbei um ein Problem von asymmetrischer Information. Siehe dazu z. B. Schnabel, C. (1995), S. 349. 63 Anders ausgedrückt reduzieren die Unternehmen das Problem der adversen Selektion. 64 Vgl. Berthold, N. (1988), S. 488. 65 Vgl. Monopolkommission (1994), S. 372 f. oder Berthold, N. / Fehn, R. (1995a), S. 112. 66 Zahlreiche Gegenargumente führt Berthold, N. / Fehn, R. (1995a), S. 112 f. an. 67 Markträumend bedeutet, dass der Preis Angebot und Nachfrage in ein Gleichgewicht bringt. 68 So argumentiert z. B. die Monopolkommission (1994), S. 374. 69 Lindbeck, A. (1993), S. 36 f.

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1. Kap.: Überblick

9. Segmentationstheorie Die Segmentationstheorie 70 behandelt Fragen der Arbeitsmarktstrukturierung. Sie entstand vor allem in den USA und wurde später auch auf deutsche Verhältnisse angewandt.71 In der ursprünglichen Version wurde angenommen, dass der Arbeitsmarkt einer Zweiteilung in einen Primär- und in einen Sekundärarbeitsmarkt unterliege. Dabei ist der Primärarbeitsmarkt durch relativ stabile Arbeitsplätze, hohes Einkommen, gute Arbeitsbedingungen, geringe Fluktuation etc. geprägt. Der Sekundärarbeitsmarkt hingegen ist durch instabile Arbeitsplätze, relativ niedrige Löhne, hohe Fluktuation etc. gekennzeichnet. Für Deutschland hat sich die Annahme einer Dreiteilung als realitätsnäher durchgesetzt. Nach diesem Ansatz werden drei Typen von Teilarbeitsmärkten unterschieden. Der sogenannte „Jedermann“-Arbeitsmarkt ist gekennzeichnet durch Arbeitskräfte mit niedriger fachlicher und betriebsspezifischer Qualifikation. Diese werden vor allem für Tätigkeiten wie z. B. Fließbandarbeit eingesetzt, bei denen die erforderlichen geringen Fähigkeiten direkt vor Ort vermittelt werden. Dieser Teilarbeitsmarkt ist gekennzeichnet durch geringe Löhne und hohe Fluktuation. Er kann recht gut durch das neoklassische Modell beschrieben werden. Im „berufsfachlichen“ Teilarbeitsmarkt sind die Arbeitskräfte durch eine homogene, relativ breite fachliche Qualifikation gekennzeichnet. Sie haben vor allem das sog. duale System durchlaufen und werden überwiegend in handwerklichen, technischen und kaufmännischen Berufen eingesetzt. In diesem Teilarbeitsmarkt ist die Mobilität der Arbeitnehmer relativ hoch. Als Grund lässt sich angeben, dass die Arbeitnehmer auch von anderen Unternehmen bei relativ geringen Anlernkosten integriert werden können. Im „betriebszentrierten“ Arbeitsmarkt herrschen Stellen mit hohen Anforderungen an das Humankapital, insbesondere das betriebsspezifische, vor. Die deshalb notwendigen hohen Investitionen in das Humankapital neuer Mitarbeiter führen dazu, dass die Unternehmen und die Arbeitnehmer ein großes Interesse an einem langfristigen Arbeitsverhältnis haben. Deshalb ist eine geringe Fluktuation, und wenn hauptsächlich betriebsintern, die Regel. Diese Dreiteilung des Arbeitsmarktes in Deutschland ist empirisch recht gut bestätigt.72 Der Ansatz erklärt, warum Personen mit geringem Ausbildungsstand besonders häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Der Grund besteht darin, dass diese auf dem „Jedermann“-Arbeitsmarkt, der durch hohe Fluktuation gekennzeichnet ist, nach Arbeitsplätzen suchen. Mit Hilfe der hohen Investitionen, die bei Einstellungen auf dem betriebszentrierten Teilarbeitsmarkt notwendig werden, lässt sich auch erklären, warum im Wirtschaftsaufschwung das Personal nur langsam 70 Vgl. zur Segmentationstheorie insgesamt Keller, B. (1993), S. 240 – 247 und Schmid, H. et al. (1996), S. 76 – 86. 71 Dies geschah vor allem durch Lutz, B. / Sengenberger, W. (1980), S. 291. 72 Siehe dazu Keller, B. (1993), S. 245 mit vielen Hinweisen auf dementsprechende Studien.

A. Arbeitsmarkt

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aufgestockt wird und im Abschwung Arbeitskräfte gehortet werden. Die Unternehmen wollen die Investitionen nämlich nur tätigen bzw. abschreiben, wenn Klarheit über die weitere Entwicklung besteht. Drittens wird deutlich, warum die Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik vergleichbar gering ist. Das duale Ausbildungssystem ermöglicht nämlich den Jugendlichen einen Einstieg in den „berufsfachlichen“ statt in den „Jedermann“-Arbeitsmarkt. Kritisch ist zu dem Ansatz anzumerken, dass die Teilarbeitsmärkte nicht sehr scharf voneinander getrennt sind, sondern die Übergänge eher fließend sind. Außerdem kann mit Hilfe dieses Ansatzes im Prinzip nur friktionelle Arbeitslosigkeit erklärt werden. Zuletzt berücksichtigt die Segmentationstheorie auch rechtliche Gegebenheiten nicht ausreichend. Insbesondere die Fluktuation und damit auch das Arbeitnehmerhorten werden durch Kündigungsregelungen etc. stark beeinflusst.73 10. Vertragstheoretischer Ansatz Dieser Ansatz bezieht sich nicht speziell auf den Arbeitsmarkt. Er ist Teil der „Neuen Institutionenökonomik“.74 Für die Betrachtung des Arbeitsmarktes ist insbesondere die Konzeption relationaler Verträge interessant. Der Ausgangspunkt dieses Ansatzes besteht darin, dass Informationsbeschaffung und Verarbeitung für die Wirtschaftssubjekte nicht unbeschränkt möglich und nicht kostenlos sind.75 Daher sind auch bei einem Vertragsschluss meist nicht alle relevanten Informationen vorhanden und es bleiben aufgrund dessen zwangsläufig Lücken im Arbeitsvertrag. Die Vertragsparteien können, anders ausgedrückt, nur einen unvollständigen, d. h. relationalen, Vertrag aushandeln und abschließen. Dies gilt insbesondere für langfristige vertragliche Bindungen wie einen Arbeitsvertrag. Die Unvollständigkeit der relationalen Verträge führt dazu, dass mit ihnen Erwartungen verbunden sind, die eine oder beide Vertragsparteien an ihre Vertragsbindung haben, und die nicht ausdrücklich im Vertrag niedergeschrieben sind. Diese Erwartungen werden, zumindest wenn sie beidseitig sind, als implizite Verträge bezeichnet.76 Mit diesem Ansatz wird nun versucht zu zeigen, dass nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch der Arbeitgeber ein Interesse an langfristigen Arbeitsverträgen mit festen Reallöhnen und integriertem Bestandsschutz hat. Zufolge einer sehr häufig vertretenen These sind Arbeitgeber risikofreudiger als ihre Arbeitnehmer. Zusätzlich können sie aufgrund ihres besseren Überblicks über die Absatz-, ErZu diesen und weiteren Kritikpunkten siehe Schmid, H. et al. (1996), S. 86. Richter, R. / Bindseil, U. (1995), S. 321 f. oder 328 f. 75 Probleme, die behandelt werden, sind insbesondere: das Problem asymmetrischer Information, Ungewißheit bezüglich der Zukunft und das Problem der Informationsverarbeitung. Siehe dazu Richter, R. / Bindseil, U. (1995), S. 328 f. 76 Vgl. Pfaffmann, E. (1997), S. 41. 73 74

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1. Kap.: Überblick

trags- und Finanzierungslage des Unternehmens Beschäftigungsrisiken aus temporären Schwankungen besser abfedern als die Arbeitnehmer. Deshalb bieten sie ihren Arbeitnehmern mit dem Beschäftigungsverhältnis zugleich einen impliziten Versicherungsvertrag an, mit dem Einkommensrisiken der Arbeitnehmer, z. B. wegen Nachfrageschwankungen abgesichert werden.77 Das Unternehmen hat ein Interesse an dieser Vereinbarung, da die Arbeitnehmer für die Versicherung eine Art Prämie in Form niedrigerer Löhne (im Durchschnitt über einen Konjunkturzyklus) akzeptieren. Des weiteren spart das Unternehmen Informations- und Suchkosten, die mit der Auflösung und dem Neuabschluss von Arbeitsverträgen verbunden wären. Außerdem bleibt ihm das Humankapital seiner Mitarbeiter erhalten.78 Diese Theorie vermag zu erklären, warum Unternehmen mit ihren Arbeitnehmern längerfristige Verträge zu festen Reallöhnen abschließen. Sie verdeutlicht auch, wieso Löhne eine Zeitlang über dem Wertgrenzprodukt liegen können, ohne dass die Unternehmen sofort ihre Arbeitnehmer entlassen. Ein Nachteil an diesem Ansatz ist hingegen, dass es ihm zufolge immer einen im Konjunkturverlauf inflexiblen Reallohnsatz gibt, der Vollbeschäftigung garantiert. Setzen die Arbeitnehmer einen höheren Lohn durch, kann es im Abschwung zu Arbeitslosigkeit kommen, die dann aber mehr oder weniger freiwillig wäre.79 Insgesamt erklärt der vertragstheoretische Ansatz der unvollständigen Verträge das Geschehen auf dem Arbeitsmarkt aber besser als das reine Auktionsmarktmodell, welches den (rein) neoklassischen Theorien zugrunde liegt. Dies gilt insbesondere für die heutige Zeit, in der die Bedeutung des Humankapitals steigt und daher der Faktor Arbeit und damit auch die Arbeitnehmer schlechter austauschbar sind.80 Neben den erläuterten Theorien wird in letzter Zeit immer häufiger die institutionelle Ausgestaltung der Arbeitsmarktordnung als Grund für Persistenz am Arbeitsmarkt genannt.81 Insbesondere diese Ursache wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit näher behandelt werden, aber auch die dargestellten Theorien werden immer wieder in der ökonomischen Analyse der rechtlichen Regeln (Institutionen) auftauchen.

IV. Einflussfaktoren auf den Arbeitsmarkt Die tatsächlich auf einem Arbeitsmarkt bestehende Situation hängt von vielen Faktoren ab. So beeinflussen z. B. die Inlands- und die Auslandsnachfrage, der Wechselkurs, das Wetter, die allgemeinen wirtschaftlichen Erwartungen, kulturelle 77 78 79 80 81

Soltwedel, R. et al. (1990), S. 153. Vgl. Soltwedel, R. et al. (1990), S. 153. Berthold, N. (1988), S. 487. So auch Soltwedel, R. et al. (1990), S. 156. Pfahler, T. (1995), S. 287.

B. Ordnungsökonomisches Konzept

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Besonderheiten, das Bildungssystem, die Produktionstechnologie und die demographische Entwicklung, das Angebot und die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Insgesamt beeinflussen so viele einzelne Faktoren, dass die einzelnen Wirkungsmechanismen und ihre wechselseitigen Beziehungen kaum zu übersehen sind. Wenn man jedoch danach strebt, die Situation auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, entfallen viele der Einflussfaktoren als mögliche Handlungsinstrumente. Einige der oben aufgezählten Faktoren sind gar nicht (z. B. das Wetter) oder doch nur sehr begrenzt beeinflussbar wie z. B. die Auslandsnachfrage oder die demographische Entwicklung. Andere Einflussfaktoren sind zwar beeinflussbar, jedoch ist die Wirkung einer Steuerung schwer oder gar nicht abschätzbar. Dies ist unter anderem im Bereich des Bildungssystems der Fall. Wieder andere steuernde Einflussnahmen sind zwar prinzipiell möglich, aber aus nicht arbeitsmarktlichen Gründen unerwünscht. Dies ist bei der Geldwertstabilität oder auch dem Wechselkurs der Fall. Berücksichtigt man diese Einschränkungen, so verbleibt nur eine sehr viel geringere Anzahl von Einflussfaktoren.82 Insbesondere die institutionellen Rahmenbedingungen sind beeinflussbar. Zu den Rahmenbedingungen, welche die Funktion des Arbeitsmarktes besonders stark beeinflussen, gehören insbesondere das Bildungssystem, das Steuersystem, das System der sozialen Leistungen und vor allem das Arbeitsrecht, das die Beziehungen rund um ein Beschäftigungsverhältnis bestimmt. Bevor wir uns aber mit dem Arbeitsrecht als Teil der Rahmenbedingungen befassen [unter Abschnitt C.], sollen die theoretischen Grundlagen der volkswirtschaftlichen Lehre dargestellt werden, die sich mit der Gestaltung der Rahmenbedingungen beschäftigt. Dies ist die Ordnungsökonomie.

B. Ordnungsökonomisches Konzept Ordnungsökonomie ist ein neuerer Begriff.83 Er umfasst die Ordnungstheorie und die Ordnungspolitik. Die Ordnungsökonomie ist eine akademische Denktradition, die einerseits durch die Freiburger Schule, allen voran Walter Eucken, und andererseits durch Friedrich A. von Hayek geprägt wurde.84 Sie befasst sich mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung und untersucht, wie diese durch ihre Regeln und Institutionen bestimmt werden. Der zentrale Begriff dieser Siehe zu diesem Abschnitt Monopolkommission (1994), S. 366. Hoppmann, E. (1995), S. 43 verwendet diesen Begriff, um die bis dahin „. . . übliche Zweistufigkeit von Ordnungstheorie und Ordnungspolitik . . .“ zusammenzufassen. Ebenso verwenden Streit, M. (1995, 1997) und Vanberg, V. (1997) diesen Ausdruck. 84 Trotz sehr vieler Gemeinsamkeiten gibt es erhebliche Unterschiede im Werk dieser beiden Ökonomen. Insbesondere das Wissensproblem und dadurch auch die Rolle des Wettbewerbs beurteilen sie sehr unterschiedlich. Siehe dazu z. B. Streit, M. (1995), S. 3 f. oder auch Streit, M. / Wohlgemuth, M. (1999). 82 83

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1. Kap.: Überblick

Denktradition ist der der Ordnung. Hayek85 definiert diesen Begriff als „Bestehen von Beziehungen zwischen wiederkehrenden Elementen ( . . . ), die es für uns möglich macht, aufgrund der Kenntnis eines (räumlich oder zeitlich) beschränkten Teils eines Ganzen, Erwartungen bezüglich des Restes zu bilden, die gute Aussichten auf Erfüllung haben“. Diese Definition ist sehr komplex und auf Anhieb nicht leicht verständlich. Um zu verstehen, was Ordnungsökonomie ist, sollte man an dem Ausgangspunkt der Ökonomie schlechthin ansetzen. Die gemeinsame Grundannahme aller Teile der Wirtschaftswissenschaften ist die der Knappheit. Für die Wirtschaftssubjekte, d. h. die Menschen sind die Mittel (Produktionsfaktoren, Ressourcen) knapp, wenn man sie mit den vielfältigen und sich ständig ändernden Bedürfnissen vergleicht, zu deren Befriedigung sie eingesetzt werden können.86 Durch diese Knappheit der Mittel wird der Mensch gezwungen, zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Verwendung Entscheidungen zu treffen. Diese Entscheidungen sind außerordentlich komplex, da es eine unendlich große Anzahl verschiedener Verwendungsmöglichkeiten gibt. Verkompliziert werden diese Entscheidungen noch dadurch, dass andere Menschen und deren Handlungen mit berücksichtigt werden müssen. Zwar wird es möglich, durch eine Arbeitsteilung mit ihnen die Knappheit im Vergleich zur Selbstversorgung zu mildern,87 dafür müssen aber auch weitere Entscheidungen getroffen werden. So sind z. B. die Fragen, wie die Arbeitsteilung vorgenommen wird, wie die Ergebnisse der gemeinsamen Tätigkeit verteilt und wie die Arbeitsteilung koordiniert werden soll, zu beantworten.88 Im ökonomischen Gesamtsystem müssen so viele Fragen z. B. der Produktion, Verwendung und Verteilung gelöst werden, dass ihre simultane Beantwortung schon an der unglaublichen Komplexität scheitert. Um die Komplexität zu reduzieren, müssen die Entscheidungen in zwei Schritte aufgeteilt werden. Zunächst wird ein Regelrahmen oder auch Ordnung bestimmt, der einen Mechanismus festlegt, nach dem dann im zweiten Schritt die laufenden Einzelentscheidungen gefällt werden. Sinn dieser Zweiteilung ist es, die laufenden Entscheidungen sicherer und für andere Wirtschaftssubjekte vorhersehbarer zu machen.89 Erreicht wird dies durch den im ersten Schritt festgelegten Rahmen, da sich an ihm die Einzelentscheidungen orientieren können.90 Anders ausgedrückt: es werden im ersten Schritt die v. Hayek, F. (1969), S. 164. Streit, M. (1991), S. 3. 87 Vgl. Streit, M. (1991), S. 5. 88 Streit, M. (1991), S. 5 f. 89 Genauer differenziert, gibt es drei wesentliche Vorteile eines Regelrahmens. Erstens sinken die Entscheidungsfindungskosten. Zweitens verringert sich das Risiko von Fehlentscheidungen, da einige Informationen als gegeben angenommen werden können. Drittens wird es für Wirtschaftssubjekte möglich, eine Vorausverpflichtung einzugehen, wodurch die Zeitkonsistenz einer Entscheidung sichergestellt werden kann und die Transaktionskosten sinken. 90 Jeitzinger, B. (1989), S. 6. 85 86

B. Ordnungsökonomisches Konzept

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Spielregeln festgelegt, während im zweiten Schritt das Spiel selber gespielt wird, d. h. die einzelnen Spielzüge vorgenommen werden. Die Gesamtheit des Regelrahmens bzw. der Spielregeln wird dabei im folgendem als Regelordnung bezeichnet, während die Gesamtheit der Einzelentscheidungen als Handelnsordnung bezeichnet wird. Will man nun aus irgendwelchen z. B. wirtschaftspolitischen Gründen das Endergebnis, also das Resultat aller Einzelentscheidungen der Individuen, beeinflussen, gibt es grundsätzlich zwei verschiedene Möglichkeiten dies zu tun. Einerseits kann z. B. der Staat versuchen, das Endergebnis direkt zu beeinflussen, indem er in die Handelnsordnung eingreift. Diese Art von Eingriffen wird von der Prozessökonomie behandelt. Soll eine direkte Beeinflussung des Endergebnisses und damit eine Feinsteuerung vorgenommen werden, so müssen vor allem zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens müssen die Prozesse und die Ergebnisse des Wirtschaftsgeschehens exakt diagnostiziert und prognostiziert werden können. Zweitens muss es möglich und erstrebenswert sein, die Marktprozesse und -ergebnisse auch genau zu steuern.91 An diesen beiden Voraussetzungen setzt die grundsätzliche Kritik an der Prozessökonomie an.92 Ein Wirtschaftsprozess hängt von einer großen Zahl von Faktoren ab, und er ist evolutorisch, weil die beteiligten Menschen vor allem durch Wissenserwerb ihr Verhalten ändern können. Deshalb ist eine genaue Vorhersage und Steuerung des Prozesses unmöglich, allenfalls ist eine Mustervorhersage, also eine grobe Beschreibung der Prozesse und Ergebnisse des Wirtschaftens, möglich. Handeln, das aber auf der Annahme beruht, über ausreichende Informationen zur Feinsteuerung des Systems zu verfügen, wird zu unerwarteten Wirkungen führen, die meist unerwünscht sind.93 In Deutschland wirkte sich die Prozesspolitik, die sich seit Ende der 60er zunehmend durchgesetzt hat, z. B. in einer enormen Zunahme immer komplizierterer Gesetzes- und Verordnungstexte, einer Expansion der Bürokratie und einem Ansteigen der staatlichen Subventionierung aus, ohne gleichzeitig die in sie gesetzten Erwartungen bezüglich einer Feinsteuerung der Wirtschaft erfüllen zu können.94 Auf der anderen Seite ist aber auch eine Einflussnahme auf die Ergebnisse des Wirtschaftsprozesses durch eine Veränderung der Regelordnung möglich. Indem man den Regelrahmen ändert, ändert man die Restriktionen unter denen die WirtThieme, J. (1988), S. 21 f. Siehe zur Kritik sehr ausführlich und überzeugend Tietzel, M. (1988), S. 85 ff. Weitere Zweifel an der Möglichkeit einer rationalen Prozesspolitik folgen aus der Public Choice Theorie, da der Politiker danach anfällig für nicht gemeinwohlorientierte Bestrebungen ist. Außerdem bewirkt die Langsamkeit des politischen Prozesses, dass viele Maßnahmen zu spät getroffen werden, wenn sich die wirtschaftliche Situation längst verändert hat. 93 Zu dieser im wesentlichen auf Hayeks Gedanken beruhenden Kritik siehe Tietzel, M. (1988), S. 86 f. 94 Vgl. Thieme, J. (1988), S. 25 f. 91 92

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1. Kap.: Überblick

schaftssubjekte ihre Entscheidungen treffen und beeinflusst so auch die Ergebnisse, da zumindest einige Wirtschaftssubjekte unter anderen Rahmenbedingungen auch anders entscheiden. Mit dieser indirekten Beeinflussung der Ergebnisse durch die Gestaltung von Regeln befasst sich die Ordnungsökonomie. Der größte Vorteil der Ordnungsökonomie gegenüber der Prozessökonomie besteht darin, dass zur Steuerung der Wirtschaft an Hand von Regeln viel weniger Informationen gebraucht werden. Es reicht aus, wenn man die ungefähre Wirkung der geplanten Regeländerung abschätzen kann. Die tatsächliche Ausfüllung der Regel wird dem einzelnen Wirtschaftssubjekt überlassen, das dabei seine privaten Informationen voll nutzen kann. Dadurch, dass jedes Individuum seine eigenen Informationen nutzen kann und in gewissem Maße über den Marktmechanismus weitergibt, werden viel mehr Informationen genutzt, als der Staat als Träger der Prozesspolitik jemals erwerben kann.95 Der Nachteil der Ordnungspolitik bzw. -ökonomie ist, dass das Endergebnis von Gestaltungsmaßnahmen nicht von Anfang an feststeht. Das Ergebnis kommt nämlich erst durch die Vielzahl der Einzelentscheidungen zustande. Eine Gestaltung des Regelrahmens erfolgt somit immer ohne Zielgarantie. Anders ausgedrückt: auch gute Spielregeln können nicht garantieren, dass das tatsächlich gespielte Spiel auch immer gut ist. Wenn bisher immer von dem Regelrahmen und dessen Gestaltung gesprochen wurde, so ist es nun notwendig, diesen Regelrahmen genauer zu betrachten. Das Verhalten des Einzelnen wird durch viele Regelmäßigkeiten bestimmt. Vor allem wird sein Verhalten von Regeln der Sitte, der Gewohnheit, der Moral und der Gesetze beeinflusst. All diese Regelmäßigkeiten zusammen bilden den Regelrahmen. Dabei ist die „Besonderheit, die die Rechtsregeln von den anderen Verhaltensregeln unterscheidet ( . . . ) hauptsächlich, dass wir sie in einem gewissen Grade bewusst so gestalten können, dass sie in Verbindung mit den anderen Regeln und in den zu erwartenden tatsächlichen Umständen zur Bildung einer Gesamtordnung führen.“96 Aufgrund dieser Gestaltbarkeit sind die Rechtsregeln Anknüpfungspunkt für die Ordnungspolitik. In der Vergangenheit hat sich die Ordnungsökonomie hauptsächlich damit beschäftigt zu analysieren, wie die konkreten Regeln der Regelordnung aussehen müssen. Nicht oder nur am Rande beschäftigt hat sie sich jedoch mit der Frage, wie diese Regeln eingeführt werden.97 Im Rahmen der Ordnungsökonomie wurde der Staat vielfach, wie es Jeitzinger98 ausdrückt, als „black box“ betrachtet, d. h. es wurde angenommen, er sei „exogen, wohlwollend bzw. gemeinwohlorientiert, neutral, vernünftig“. Nicht analysiert wurde deshalb, ob die Träger der staatlichen Wirtschaftspolitik überhaupt in der Lage sind, die Anforderungen, die im Rahmen 95 Die Weitergabe der Informationen über den Marktprozess gelingt natürlich nur in einer Marktwirtschaft. 96 v. Hayek, F. (1969), S. 176. 97 Vgl. dazu auch Vanberg, V. (1988), S. 18. 98 Jeitzinger, B. (1989), S. 278.

B. Ordnungsökonomisches Konzept

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der Gestaltung der Regeln an sie gestellt werden, zu erfüllen.99 Eucken selber beispielsweise steht einer ökonomischen Analyse des politischen Prozesses skeptisch gegenüber und behandelt diesen weitgehend als feststehendes Datum.100 Der Analyse des Verhaltens der politischen Handlungsträger und damit der Individuen, die die Regelordnung gestalten, nimmt sich hingegen die Neue Politische Ökonomie oder auch Public Choice Theorie an. Ihr Ziel ist es, die Handlungsträger bzw. deren Verhalten zu endogenisieren und die Bestimmungsgründe ihres Handelns aufzudecken. Es wird dabei vorrangig das Verhalten von Politikern, Bürokraten und Funktionären analysiert. So hat Downs101 darauf hingewiesen, dass Politiker nicht das gesellschaftliche Wohl, sondern ihren Eigennutz anstreben. Sie wollen danach ihre Wiederwahl sichern (Wählerstimmenmaximierung). Niskanen102 hat das Verhalten von Bürokraten analysiert. Diese verfolgen, nach seinen Erkenntnissen, nicht ausschließlich das gesellschaftliche Wohl, sondern versuchen ihre eigene Bedeutung und ihre Aufstiegschancen zu erhöhen. Beiden Zielen kommen sie häufig näher, wenn sie eine Erhöhung ihres Budgets erreichen (Budgetmaximierung). Die Rechtsprechung bzw. die Richter und damit die dritte Gewalt im Staat wird nur selten untersucht. Gerade die Bestimmungsgründe ihres Verhaltens aufzudecken und möglicherweise vorhandene ,Fehlsteuerungen‘ darzulegen, wird einer der Kernpunkte dieser Untersuchung sein. Sowohl die Ordnungsökonomie als auch die Theorie der Public Choice wird zur Zeit fast ausschließlich von Ökonomen behandelt, obwohl sie gerade auch für die Rechtswissenschaft, die sich mit den Regeln und deren Wirkungen und Zustandekommen beschäftigt, wichtige Erkenntnisse bieten könnten.103 Einen Ansatz in diese Richtung stellt die ökonomische Analyse des Rechts dar, die vor allem in den USA zu einigem Einfluss gelangt ist.104 Im Rahmen der Analyse der einzelnen Gesetze werden einige Erkenntnisse dieser Wissenschaftsrichtung verwandt.105 Ebenso werden die Methoden des Property Rights Ansatzes angewandt. Dieser beschäftigt sich mit der Analyse von Verfügungsrechten (property rights). Das Kernstück dieses Ansatzes besteht in der Hypothese, dass der Umgang mit knappen Ressourcen von der Struktur der Verfügungsrechte abhängt, die in der entsprechenden Gesellschaft gelten.106 Mit Hilfe dieser Theorie (Ansatzes) lässt sich analysieren, Siehe dazu Kirchgässner, G. (1988), S. 54. Eucken, W. (1959), S. 156 ff. 101 Vgl. z. B. Downs, A. (1968). 102 Sammlung wichtiger Aufsätze dazu in Niskanen, W. (1994). 103 Hier zeigt sich eine negative Folge der Zersplitterung der Wissenschaften, die v. Hayek beklagt. Siehe dazu bereits im Vorwort zu dieser Arbeit. Dort Zitat aus v. Hayek, F. (1980), S. 16 f. 104 Siehe Burow, P. (1993), S. 3. 105 Einen guten Überblick bietet Schäfer, H. / Ott, C. (1986). 106 Siehe Richter, R. / Bindseil, U. (1995), S. 326 – 328. 99

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1. Kap.: Überblick

wie Verfügungsrechte entstehen oder aktiv (z. B. durch Politiker, Bürokraten, Richter) konzipiert werden sollten.107 Des weiteren lässt sich mit der Hilfe dieses Ansatzes analysieren, welche Regeln geeignet sind, eine im Interesse der Bürger wünschenswerte Verfügung über die einmal definierten Verfügungsrechte zu ermöglichen. 108 Für die vorliegende Arbeit sehr interessant ist aber auch das Anliegen der Vertreter des Property Rights Ansatzes, eine Erklärung für die Herausbildung und Veränderung von Handlungsrechten zu finden.109 Nachdem nun das theoretische Fundament, das dieser Arbeit zugrunde liegt, dargestellt wurde, soll es nun für die ordnungsökonomische Analyse der arbeitsrechtlichen Regelungen aufgearbeitet werden. Dazu werden die dargestellten theoretischen Grundlagen der Ordnungsökonomie [unter I.] leicht modifiziert, wodurch unter anderem ermöglicht werden soll, die Neue Politische Ökonomie mit einzubeziehen. Es folgt die Darstellung der Grundsätze der Constitutional Political Economy. Die Constitutional Political Economy oder Verfassungsökonomie ist eine Richtung innerhalb der Neuen Politischen Ökonomie. Es wird dargestellt, inwieweit ihre Erkenntnisse in dieser Untersuchung verwendet werden [II.]. Dann wird ein Prüfungssystem entwickelt, wie das Bestandsschutzsystem auf seine Ordnungsökonomische Rationalität hin untersucht werden soll [III.].

I. Regelerstellungsordnung, Regelordnung und Handelnsordnung Wie oben festgestellt, ist die Grundvorstellung der Ordnungsökonomik, dass die Regelordnung als System von Verhaltensregeln den Handlungsrahmen für die Individuen vorgibt. Die Ausfüllung dieses Handlungsrahmens durch die Individuen lässt dabei die Handelnsordnung entstehen. Es ist dabei möglich, über die Gestaltung der Regeln, Einfluss auf die Handelnsordnung zu nehmen, ohne aber die Garantie zu haben, das angestrebte Ziel zu erreichen, da das Endergebnis erst durch die Handelnsordnung, also die individuellen Entscheidungen, zustande kommt. Diese vereinfachte Grundvorstellung muss für unsere Analyse erweitert werden. Vereinfacht ist diese Darstellung, da die Handlung eines Individuums innerhalb einer Regelordnung für ein anderes Individuum die Begründung einer neuen Regel sein kann. Das heißt: Was aus der Sicht des einen Wirtschaftssubjekts Teil der Handelnsordnung ist, kann für ein anderes Wirtschaftssubjekt Teil der Regelordnung sein. Ein Beispiel soll das verdeutlichen. 107 Vgl. Libcap, G. (1989), S. 214 ff. mit einer interessanten Analyse zur Aushandlung von Verfügungsrechten. 108 Vgl. Richter, R. / Furubotn (1999), S. 132. 109 Vgl. dazu Vanberg, V. (1983), S. 67.

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Für Politiker ist die Verfassung der Regelrahmen.110 Ihre Handlungen in Form der Gesetzgebung sind für sie die Handelnsordnung. Für die diese Gesetze anwendenden Richter hingegen gehören auch diese Gesetze zum Regelrahmen. Für sie ist die Rechtsprechung zu diesen Gesetzen die Handelnsordnung, während für den normalen Bürger sowohl die Gesetze als auch die Grundzüge der Rechtsprechung – zumindest so weit sie verfestigt sind – noch zum Regelrahmen gehört. Diese Kette ließe sich durch Einfügung von anderen Gebietskörperschaften oder Verbänden wie z. B. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden oder Betriebsräten und deren Regelsetzungen wie Tarif- und Betriebsvereinbarungen verlängern. Für den einzelnen Bürger können dann alle vorgenannten Regeln Teil des Regelrahmens sein, der seine eigenen Handlungen beeinflusst. Erweitert werden muss die Grundvorstellung der Ordnungsökonomie zusätzlich, weil in der vorliegenden Arbeit nicht nur die Wirkungen der arbeitsrechtlichen Regelungen auf den Einzelnen analysiert werden sollen, sondern auch die Frage warum nicht Regelungen erlassen wurden, die den Interessen der Bürger besser gerecht werden. Grund dafür ist, dass es als unzureichend erscheint, Mängel der Regelordnung festzustellen und vielleicht sogar zu beseitigen, wenn im Laufe der Zeit aufgrund von Mängeln in dem Prozess der Regelerstellung erneut unerwünschte Regeln generiert werden. Daher wird die einfache Unterteilung Regelordnung / Handelnsordnung durch eine weitere Kategorie erweitert. Alle Regeln, die den Handlungsraum der Normsetzenden einschränken und dadurch deren Handeln in Form von Erstellung von Regeln beeinflussen, werden hier als Teil einer Regelerstellungsordnung angesehen.111 Im weiteren Vorgehen der Arbeit wirkt sich das darin aus, dass in Kapitel 2 zuerst die geltende Gesetzeslage und deren Ausgestaltung durch die Rechtsprechung dargestellt werden. Die geltenden Gesetze und deren Ausgestaltung bilden zusammen den Regelrahmen. Dieser wird dann in Kapitel 3 daraufhin analysiert, welche Auswirkung die einzelnen Regelungen auf die Handelnsordnung und damit auf den Arbeitsmarkt haben. Anhand der Auswirkungen der Regeln sollen dann Rückschlüsse auf deren Güte bzw. Mängel gezogen werden. Im Kapitel 4 sollen danach Gründe für die in Kapitel 3 festgestellten Mängel der Regelordnung gesucht werden. Dabei werden die Gründe in der Regelerstellungsordnung gesucht, da diese in 110 Vernachlässigt werden soll hier, dass Politiker diesen Rahmen zum großen Teil selber ändern können, auch wenn unter der erschwerenden Bedingung der 2 / 3 Mehrheit. 111 Das Verhalten von politischen Akteuren analysieren auch Brennan und Buchanan als Handeln innerhalb eines Regelrahmens. Siehe dazu z. B. Brennan, G. / Buchanan, J. (1993), S. 20 f. Dort heißt es u. a.: „Auch politisches Handeln findet innerhalb eines Rahmens mehr oder weniger klar definierter Regeln statt. Auch hier entscheiden die Akteure zwischen den ihnen zur Verfügung stehenden Optionen mit dem Ziel der Maximierung ihres Nutzens (der hier, wie auch sonst, ethischen oder auch ökonomischen Zielvorstellungen entspringen kann).“ Später (S. 21) wird darauf hingewiesen, dass „sich die Unterscheidung von Regeln und Resultaten im politischen Bereich sehr leicht verwischen.“

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1. Kap.: Überblick

der gleichen Weise Mängel in der Regelordnung verursachen kann, wie diese wiederum Fehler in der Handelnsordnung. Ein weiterer Vorteil einer Dreiteilung der Ordnungssystematik besteht darin, dass die Public Choice Theorie problemlos in die Analyse miteinfließen kann. Während sich die Ordnungsökonomie bislang hauptsächlich mit den Auswirkungen gegebener Strukturen (Regelordnungen) auf die Prozesse (Handelnsordnungen) beschäftigt hat, ergänzt die Public Choice Theorie sie auf dem Gebiet der Entstehung und Wandlung von Ordnungen112, also der Beziehung der Regelerstellungsordnung zu der Regelordnung. Besonders vielversprechend erscheint dabei die Anwendung der Gedanken der Ökonomischen Theorie der Verfassung (Constitutional Political Economy) als Teil der Public Choice Theorie.113 Die Anwendung der Constitutional Political Economy ist so vielversprechend, da sie einerseits zur Untersuchung der Beziehungen zwischen der Regelerstellungsordnung und der Regelordnung herangezogen werden kann, anderseits aber auch, weil sie einen Bewertungsmaßstab für die Beurteilungen von Regeln bietet. Bisher wurde zwar das Konzept der Ordnungsökonomie und seine konkrete Anwendung in der vorliegenden Untersuchung aufgezeigt. Noch nicht erläutert worden ist, das mit der Ordnungsökonomie angestrebte Ziel bzw. der Maßstab, der der Beurteilung von Regeln zugrunde gelegt werden soll. Dies liegt vor allem daran, dass sich die Begründer der Ordnungsökonomie nicht ausdrücklich zum normativen Bewertungskriterium geäußert haben.114 Eucken115 definierte als Ziel der Ordnungsökonomie, einen Beitrag für eine „funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung der Wirtschaft, der Gesellschaft, des Rechtes und des Staates“ zu leisten. Vanberg116 hat diesbezüglich dargelegt, dass es grundsätzlich zwei Auslegungen des Begriffs ,menschenwürdige Ordnung‘ gibt, nämlich im Sinne einer vordefinierten subjektiven Wertung i. S: einer externen Bewertung oder aber im Sinne der eigenen Einschätzung der in ihr lebenden Menschen. Er legt überzeugend dar, dass die zweite der denkbaren Auslegungen zwingend oder aber zumindest möglich ist, ohne die Hauptargumente der Ordnungsökonomie zu beeinträchtigen. Daher soll im Folgenden als Bewertungsmaßstab für die Beurteilung von Regeln die Einschätzung der unter der konkreten Ordnung lebenden Menschen herangezogen werden. Näher bestimmt wird dieser Maßstab in dem nächsten Abschnitt.

112 Zu einer Einbeziehung der Ökonomischen Theorie der Politik in die Ordnungsökonomie siehe Jeitzinger, B. (1989), S. 28 mit weiter Literaturhinweisen. 113 Die ökonomische Theorie der Verfassung spaltet sich in den vertragstheoretischen (Buchanan) und den evolutionstheoretischen Ansatz (von Hayek). Siehe dazu Vanberg, V. (1981). 114 Ausführlicher dazu Vanberg, V. (1997), S. 712 ff. 115 Eucken, W. (1989), S. 239. 116 Vanberg, V. (1997), S. 711 f.

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II. Constitutional Political Economy Die Constitutional Political Economy ist ein Zweig der Neuen Institutionenökonomie, der vor allem mit dem Namen von James M. Buchanan117 verbunden ist. Buchanan ist zugleich der Begründer und wichtigster Vertreter dieser Theorie. Sie geht ähnlich wie die Ordnungsökonomie von der Unterscheidung zwischen zwei Ebenen der Entscheidungen aus. Auf der einen Ebene (der Regelebene) geht es um konstitutionelle Entscheidungen, d. h. um Entscheidungen zwischen Regeln, während auf der zweiten Ebene (Handelnsordnung) sub-konstitutionelle Entscheidungen, d. h. innerhalb von Regeln getroffen werden. Buchanan betrachtet die Constitutional Political Economy als Alternative zur traditionellen Wohlfahrtsökonomie,118 die sich von dieser insbesondere durch die konsequente Anwendung des methodologischen Individualismus unterscheidet. Ein „Staat“ oder eine „Gesellschaft“ ist demnach nicht als eigenständiges Wesen anzusehen, das wie eine Person handelt oder das eine (ggf. aggregierte) Wohlfahrtsfunktion besitzt. Vielmehr geht die Constitutional Political Economy davon aus, dass die Erklärung der Handlungen und Bewertungen einer sozialen Gruppe von den individuellen Einstellungen, Handlungen etc. der einzelnen Mitglieder ausgehen muss. Als Folge dieser Konzentration auf den Einzelnen kann ein gesellschaftlicher Zustand auch nicht mehr danach beurteilt werden, inwieweit er eine aggregierte Wohlfahrtsfunktion maximiert. Vielmehr ist die Bewertung der einzelnen maßgebend. Brennan / Buchanan drücken dies folgendermaßen aus: „Die zentrale normative Annahme, mit der das kontrakttheoretische Gebäude steht oder fällt, ist die Auffassung, dass das Individuum, die einzelne Person, die Quelle aller Werte ist. Bewertende Instanz ist allein der einzelne.“119 Konsequenterweise überträgt Buchanan deshalb aus der Ebene des marktlichen Austausches die legitimierende Funktion freiwilliger Zustimmung auch auf die konstitutionelle Ebene. Grundgedanke dabei ist, dass die gegenseitigen Vorteile des Handelns auf Märkten dadurch abgesichert sind, dass beide Vertragsparteien freiwillig zustimmen müssen. Den Mechanismus der freiwilligen Zustimmung zur Absicherung des beidseitigen bzw. allseitigen Vorteils einer Regelung überträgt Buchanan nun auf die Ebene der Gesellschaft. Die Folge ist, dass eine gesellschaftliche Regel grundsätzlich dann legitimiert ist, wenn die Mitglieder der Gesellschaft ihre Zustimmung erteilt haben. In dieser Hinsicht hat die Constitutional Political Economy starke Gemeinsamkeiten mit einer Sozialvertragsphilosophie. Auch diese Vgl. z. B. Buchanan, J. (1991). Die Wohlfahrtsökonomie ist ein Teilgebiet der Volkswirtschaftstheorie. Ihr Ziel ist es, auf der Basis der Wertfreiheit die Bedingungen für die Erreichung eines gesamtwirtschaftlich bzw. gesellschaftlich wünschenswerten Maximums der ökonomischen Wohlfahrt zu formulieren. Die Wohlfahrt wird dabei meist in Güter- oder Nutzeneinheiten gemessen. Vgl. z. B. Gabler Wirtschaftslexikon (1997), S. 4467 ff. 119 Brennan, G. / Buchanan, J. (1993), S. 28. 117 118

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sieht in den betroffenen Mitgliedern der Gesellschaft die maßgebliche Beurteilungsinstanz und Quelle der Legitimität. Nach dieser in der Aufklärung wurzelnden Staatsphilosophie übertragen die Individuen in freier Selbstentscheidung durch einen Vertrag aller Mitglieder einer Gesellschaft miteinander dem Staat die Herrschaft über sich.120 Für den weiteren Gang der Untersuchung bedeutet dies, dass das entscheidende Kriterium für die Beurteilung einer Regel darin besteht, ob sie im konsensfähigen Interesse der Bürger liegt und daher in diesem Sinne wünschenswert ist.121 Theoretischer Idealfall für die Einschätzung einer Regel als im konsensfähigen Interesse liegend (wünschenswert) wäre dabei die freiwillige Zustimmung aller Bürger.122 Mantzavinos / Vanberg123 drücken sich in einem ähnlichen Kontext124 zum Bewertungsmaßstab folgendermaßen aus: „Kriterium für die Güte von Politik und der politischen Ordnung ist ( . . . ) deren Ausrichtung an den Interessen des Prinzipals, der Bürger. ( . . . ) Das relevante Bewertungskriterium ist letztlich die Zustimmung der Bürger.“ Fraglich und wohl auch noch nicht abschließend geklärt ist hingegen, welches Verfahren angewandt werden kann, um die konstitutionellen Interessen der Bürger oder anders ausgedrückt der Jurisdiktionsmitglieder zu ermitteln. Problematisch ist dies, da es für jeden einzelnen Bürger oder aber auch Gruppen Sinn macht, Regeln danach zu beurteilen, welche Auswirkungen diese in der konkreten Situation auf den Einzelnen oder die Gruppe haben und nicht danach, ob sie für die Allgemeinheit nützlich sind. Da es aber unter dieser Voraussetzung kaum zu einer allseitigen Einigung über Regeln kommen wird, wird in der Constitutional Political Economy meist auf eine Regelwahl hinter einem ,Schleier des Nichtwissens‘ oder der ,Ungewissheit‘ abgestellt. Hinter diesen Schleiern, so die Vorstellung, kann der Einzelne nicht erkennen, wie er konkret von der zu beurteilenden Regel betroffen wird.125 Daher wird er sich unter Abwägung alternativer Regelungen um eine unparteiische Bewertung bemühen. In diesem Fall scheint eine Einigung auf eine Regel im breiten Konsens oder idealerweise einstimmig denkbar. 120 Einer der Begründer dieser Staatsphilosophie ist Jean-Jaques Rousseau, der in seinem Werk ,Du contrat social‘ die Vorstellung von einem mündigen Bürger entwickelt, der durch freiwillige Entäußerung von Macht einen Staat gründet. 121 Vanberg, V. / Wippler, R. (1986), S. 3 f., beschreiben den normativen Maßstab des vertragstheoretischen Ansatzes Buchanans folgendermaßen: „( . . .) spezifische institutionelle Regelungen [werden] an der Frage gemessen ( . . . ), ob man vernünftigerweise annehmen kann, daß die betroffenen Akteure sich in einer konstitutionellen Vereinbarung freiwillig auf sie hätten einigen können – so, wie man sich vor einem Spiel oder Wettbewerb auf bestimmte Regeln einigt.“ 122 Zur Einstimmigkeit als Ideal Brennan, G. / Buchanan, J. (1993), S. 35 ff.; dort auch zur Vereinbarung von Regeln unter dem ,Schleier des Nichtwissens und der Unsicherheit‘ zur Steigerung der Wahrscheinlichkeit einer einstimmigen Regelung (S. 37 ff.). 123 Mantzavinos, C. / Vanberg, V. (1996), S. 328. 124 Es geht dabei um die Bewertung sozialpolitischer Regeln. 125 Vgl. Vanberg, V. (1997b), S. 27.

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Im Folgenden werden wir uns aber nicht nur den Bewertungsmaßstab der Constitutional Political Economy – die konsensfähigen konstitutionellen Interessen der Bürger – zu eigen machen, sondern in dieser Arbeit soll auch die Rolle des ,constituional political economist‘, wie sie von Buchanan beschrieben wird, wahrgenommen werden. „Normatively, the task for the constituional political economist is to assist individuals, as citizens who ultimately control their own social order, in their continuing search for those rules of the political game that will best serve their purposes, whatever these might be.“126 In Wahrnehmung dieser Funktion sollen in der vorliegenden Arbeit Hypothesen darüber aufgestellt werden, welche Regeln des Bestandsschutzes im Interesse aller betroffenen Bürger liegen und somit ordnungsökonomisch rational sind, oder aber gerade gegen diese verstoßen und somit ordnungsökonomisch irrational sind. Die jeweilige Behauptung, eine Regel sei ordnungsökonomisch rational oder für die Bürger wünschenswert, kann sicherlich im Einzelnen kritisiert werden, da ihr jeweils Annahmen über die Präferenzen der Individuen zugrunde liegen (z. B. Risikoneigung, Fairness, Empfindungen etc.)127. Zudem lässt sich natürlich bestreiten, dass die untersuchte Regel tatsächlich die angegebenen Folgen hat.128 Andererseits stellt es gerade einen Vorteil des angewendeten Bewertungsmaßstabs dar, dass die zugrunde gelegten Präferenzen dargelegt werden und so eine Diskussion über die wirklichen Interessen der Bürger möglich wird. Die Offenlegung der unterstellten Präferenzen ist jedenfalls der Vorgabe externer Bewertungskriterien überlegen.

III. Konkrete Prüfungsschritte In diesem Abschnitt soll für die ordnungsökonomische Analyse der Rechtsregeln eine Prüfungsreihenfolge entwickelt werden. Da es sich bei dem Bestandsschutz um einen kleinen, wenn auch wichtigen Teilbereich unseres Rechtssystems handelt, hat diese Analyse einen gewissen Rahmen zu beachten, den unsere Gesellschaftsform festlegt. Innerhalb dieses Rahmens verbleiben aber sehr große Spielräume innerhalb dessen Regeln analysiert und gestaltet werden können. Ziel der ordnungsökonomischen Analyse wird es dabei sein zu bewerten, ob die momentan geltenden Regeln des Bestandsschutzes im (konstitutionellen) Interesse der ihnen unterworfenen Bürger liegt. Problematisch bei dieser Analyse ist, dass zumindest in einer offenen pluralistischen Gesellschaft den einzelnen Wirtschaftssubjekten innerhalb der gesetzten 126 127 128

Buchanan, J. (1987), S. 313. Dazu Voigt, S. (2000), S. 1792 ff. Vgl. ausführlicher Vanberg, V. (1996), S. 17 ff.

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Regeln Handlungsspielräume bleiben und deshalb die Ergebnisse der Handelnsordnung und damit auch des Wirtschaftsprozesses im Einzelnen unbestimmt sind. Es ist daher sehr schwer abzusehen, welche Folgen eine bestimmte Regel oder Regeländerung über die Änderung der Handelnsordnung auf die Ergebnisse des Wirtschaftsprozesses hat.129 Dies gilt insbesondere für einen Bereich wie den Bestandsschutz, da dieser durch die enge Verknüpfung wirtschaftlicher, sozialer und rechtlicher Fragen gekennzeichnet ist. Eine einzelne Regel oder Regeländerung kann dabei aufgrund von Rückwirkungen auf andere Regeln und entsprechende Verhaltensänderungen der Wirtschaftssubjekte vielfältige Wirkungen haben. Um diese vielfältigen Einflussfaktoren und Wirkungsmechanismen des Bestandsschutzes besser analysieren zu können, soll in drei Schritten vorgegangen werden. 1. Rechtfertigungsgründe für bestehende Regeln Zunächst soll untersucht werden, warum überhaupt für den Bereich des Arbeitsrechts ein Bestandsschutzsystem geschaffen wurde bzw. notwendig ist. Für die meisten anderen Bereiche unseres Rechtssystem besteht kein oder kein ähnlich ausgefeiltes System zum Schutz des Bestandes eines Vertragsverhältnisses. Dementsprechend wird im ersten Schritt geprüft, ob für das Vorliegen staatlich gesetzter Regel ein Rechtfertigungsgrund vorliegt [Kapitel 3 Abschnitt A.]. In einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung, wie sie das Grundgesetz vorsieht, müssen die Menschen grundsätzlich die Möglichkeit haben, nach ihren selbstgesetzten Zielen zu streben. Dieser Anforderung wird unser Wirtschaftssystem grundsätzlich gerecht, indem es ökonomischen Entscheidungen den einzelnen Wirtschaftssubjekten zuweist und dadurch eine dezentrale Lenkung der Wirtschaft über den Marktmechanismus und eine Ausrichtung des Produktionsprozesses an den individuellen Bedürfnissen erreicht. Daher „gilt im Zweifel alles und nur das als gerechtfertigt, was freiwillig geschieht. Was von selbst geschieht, ist vorteilhaft. Was vorteilhaft ist, geschieht von selbst.“130 Eine staatliche Regelung ist somit eigentlich bereits überflüssig und systemwidrig, wenn sie nicht durch eine Fehlfunktion des Marktmechanismus gerechtfertigt ist, da sie eine Abweichung vom Leitbild der dezentralen Koordinations- und Planungsmechanismen darstellt. Aber selbst wenn 129 Diese Problematik beschreibt Buchanan, J. (1993), S. 19 sehr treffend: „Wie kann man Regeln im Hinblick auf bestimmte von ihnen hervorzubringende Ergebnisse auswählen, wenn man diese Ergebnisse erst im Prozeß ihrer Entstehung genau erkennt? Wenn Marktinstitutionen inadäquat konzipiert sind oder andere Regeln angewendet werden, die nicht ähnlich gut funktionieren wie Märkte, dann kann ( . . . ) das daraus resultierende wahre Ausmaß normativen ,Versagens‘ nicht vollständig erfaßt werden. Zwar können wir den Schluß ziehen, daß der Motor, der die gesellschaftliche Kooperation zu voller Leistungsfähigkeit befähigt, nicht auf vollen Touren läuft. Was aber andernfalls eingetreten wäre, das bleibt notwendigerweise Spekulation.“ 130 Deregulierungskommission (1994), S. 17.

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der Markt nicht optimal funktioniert, ist der Schluss, eine staatliche Intervention sei notwendig, noch nicht gerechtfertigt. In diesem Fall ist stets noch zu prüfen, ob durch eine Intervention das Ergebnis des Marktprozesses verbessert werden kann und ob diese Verbesserung im Vergleich zu den Kosten der Intervention lohnend ist. 2. Referenzsystem für Folgen bestehender Regeln In der vorliegenden Arbeit soll nach der Prüfung, ob Rechtfertigungsgründe vorliegen, geprüft werden, welche Folgen die Regeln auf das Handeln der Wirtschaftssubjekte und damit das Wirtschaftsgeschehen haben. Problematisch ist dabei wie diese Folgen gemessen werden bzw. mit welchem Zustand ihre Wirkung verglichen wird. Zunächst wäre es möglich, die Wirkungen der Regeln mit dem Zustand zu vergleichen, der bei einem perfekten Funktionieren des Marktmechanismus entstehen sollte. Dies ist aber ein unrealistischer Ansatz. Perfekte Märkte gibt es nirgends. Eine weitere Möglichkeit wäre es, die Regeln unseres Bestandsschutzsystems und deren Folgen, mit den Regeln eines ,perfekten‘ Regelsystems und dessen mutmaßliche Folgen zu vergleichen. Dieser Ansatz ist aber genauso unrealistisch. Zudem würde dies voraussetzen, dass es so etwas wie ein perfektes Regelsystem gibt. Ein weiterer Ansatzpunkt wäre es, die Regeln des deutschen Bestandsschutzsystems mit denen anderer Länder und deren Folgen zu vergleichen. Dies ist ein wesentlich erfolgsversprechenderer Ansatz, der auch häufig gewählt wird.131 In der vorliegenden Arbeit soll aber ein anderer Ansatzpunkt gewählt werden. Dabei sollen die geltenden Regeln des Bestandsschutzsystems daraufhin untersucht werden, inwieweit sie mit den grundlegenden Prinzipien unseres Gesellschaftsund Wirtschaftssystems vereinbar sind. Dabei wird untersucht, ob sie diese grundlegenden Prinzipien im Bestandsschutz umsetzen oder mit ihnen konfligieren. Insbesondere an den Stellen, an denen sie von den grundlegenden Prinzipien abweichen, wird dann untersucht, welche Auswirkungen dies auf das Verhalten der Wirtschaftssubjekte (Handelnsordnung) und damit der Ergebnisse des Wirtschaftsprozesses hat. Wenn im Rahmen dieser Untersuchung festgestellt wird, dass an einigen Stellen das Bestandsschutzsystem von den grundlegenden Prinzipien abweicht, so bedeutet dies noch keine Wertung. Wird eine Abweichung festgestellt, so bedeutet dies zunächst nur, dass aus ordnungsökonomischer Sicht, die untersuchte Regeln nicht vollständig mit dem Gedanken des grundlegenden Prinzips übereinstimmt. Dies beinhaltet aber noch nicht, dass diese Abweichung negativ zu bewerten 131 Nachteil einer solchen vergleichenden Analyse ist hingegen, dass es häufig schwer ist zu beurteilen, welche unterschiedlichen Wirkungen die zwischen den Ländern differierenden Rechtsregeln ausmachen und welche Unterschiede auf andere Umstände wie kulturelle Gegebenheiten, wirt. Umfeld, konjunkturelle Entwicklungen etc. zurückzuführen sind.

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1. Kap.: Überblick

wäre.132 Es soll allein Anhaltspunkt sein, näher zu untersuchen, welche Folgen diese Abweichung auf den Wirtschaftsprozess hat. Die Bewertung der Folgen und damit implizit auch der Regeln, die sie hervorgerufen haben, erfolgt dann erst im nächsten Schritt. Im Folgenden werden daher einige Prinzipien vorgestellt, die grundlegend für unsere Gesellschafts- und insbesondere Wirtschaftsform sind und zusammen eine Art Referenzordnung bilden, die unserer Untersuchung zugrunde gelegt wird. Die Anlehnung der Referenzordnung an die Grundprinzipien unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und damit der Sozialen Marktwirtschaft, hat insbesondere drei Gründe: Erstens ist die Wirtschaftsordnung und damit auch die noch immer offiziell akzeptierte Richtlinie für die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland die Soziale Marktwirtschaft. Diese Ordnung ist von der Freiburger Schule entworfen oder zumindest wesentlich mitbeeinflusst worden, so dass es nahe liegt, deren angestrebte Ordnung als Referenzsystem für eine Ordnungsökonomische Analyse zu verwenden.133 Zweitens sollte Ausgangspunkt für ein Referenzsystem ein möglichst breiter Konsens (idealerweise die Zustimmung aller Bürger) über die diesem System zugrundeliegenden Werte bzw. Prinzipien sein. Ein solcher Konsens ist bezüglich der Grundprinzipien unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gegeben. Drittens kann die praktische Politik und insbesondere die Rechtsprechung am besten an der herrschenden oder der angestrebten Gesellschaftsordnung gemessen werden. Als grundlegende oder auch konstituierenden Prinzipien des Referenzsystems sollen also die grundlegenden Ideen unser Wirtschaftsordnung, d. h. Marktmäßigkeit, Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit dienen.134

a) Marktmäßigkeit Seit mittlerweile über 40 Jahren wird als Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland die ,Soziale Marktwirtschaft‘ praktiziert und ist spätestens seit dem Godesberger Programm der Sozialdemokraten auch fast unumstritten. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland findet sich allerdings keine ausdrückliche Regelung hinsichtlich der Wirtschaftsordnung bzw. -verfassung. Das 132 Noch viel weniger bedeutet die Feststellung einer solchen Abweichung natürlich, daß dies rechtlich problematisch ist. Auch wenn die im Folgenden gewählten grundlegenden Prinzipien zugleich Verfassungsprinzipien sind, so bedeutet die Feststellung einer Abweichung nur ein ordnungsökonomisches Abweichen, kein rechtliches. 133 Allerdings darf nicht vergessen werden, daß auch innerhalb der Freiburger Schule durchaus unterschiedliche Ansichten zur „Sozialen Marktwirtschaft“ und ihrer konkreten Ausgestaltung vertreten wurden. Siehe dazu z. B. Vanberg, V. (1988), S. 18 ff. 134 Siehe zu diesen Prinzipien Streit, M. (1991), S. 49. Streit bezeichnet diese als „konstituierende Prinzipien“, diese Bezeichnung verwendet allerdings auch bereits Eucken für seine die Wettbewerbsordnung sichernden Prinzipien.

B. Ordnungsökonomisches Konzept

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BVerfG hat sogar mehrfach ausdrücklich festgestellt, dass ein bestimmtes Wirtschaftssystem durch das Grundgesetz nicht gewährleistet sei.135 Auf der anderen Seite besteht in der verfassungsrechtlichen Literatur eine starke Meinung, dass bereits aufgrund der in den Artikeln 2, 3, 9, 12 und 14 des Grundgesetzes niedergelegten Grundsätze der Privatinitiative und der Vertragsfreiheit, der Koalitionsfreiheit, der Berufswahl und des Privateigentums wesentliche Bestandteile einer Marktwirtschaft eine andere Wirtschaftsordnung mit dem Grundgesetz gar nicht vereinbar wäre.136 Erstmalig in der deutschen Verfassungsgeschichte positiv formuliert wurde das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland im Staatsvertrag mit der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990 zur Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion. Bereits in der Präambel heißt es: „. . . die Soziale Marktwirtschaft als Grundlage für die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung . . .“ solle in der DDR eingeführt werden. In Art 1 Abs. 3 des Programms wird dies konkretisiert: „Grundlage der Wirtschaftsunion ist die soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien. Sie wird insbesondere bestimmt durch Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen; ( . . . ).“ Diese Grundsätze sind dann auch Bestandteil des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 geworden. Unabhängig davon, welchen verfassungsmäßigen Rang man diesen Verträgen einräumt,137 wird aus ihnen ersichtlich, dass die offiziell akzeptierte Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland die Soziale Marktwirtschaft ist. Deren grundlegende Prinzipien sollen dementsprechend auch Teil des der Folgenanalyse zugrunde zu legenden Referenzsystems sein. Der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft setzt sich aus dem Attribut „Sozial“ sowie dem Begriff Marktwirtschaft zusammen. Die Darstellung der Bedeutung dieser Begriffsteile wird mit dem der Marktwirtschaft oder auch Marktmäßigkeit beginnen. Die soziale Komponente wird dann im Rahmen des Sozialstaatsprinzips erläutert. Marktmäßigkeit ist ein Begriff der u. a. von Streit138 verwendet wird. Er ist eine Bezeichnung für das Prinzip der Koordination wirtschaftlicher Prozesse, wie sie 135 Erstmals befaßte sich das BVerfG in seiner Entscheidung vom 20. Juli 1954 mit diesem Thema. Damals erklärte es: „Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche. Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden kann.“ 136 Ausführlich dazu Klein, F. / Schmidt-Bleibtreu, B. (1999), Einl. 60 ff. oder auch Rupp, H. (1997), § 203 RN 16 ff. 137 Vgl. dazu Rupp, H. (1997) § 203 RN 5 ff. 138 Streit, M. (1991), S. 50.

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1. Kap.: Überblick

mit der Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem verbunden sind. Die Marktmäßigkeit beruht auf den folgenden Grundvorstellungen bzw. -entscheidungen: Den Menschen soll es möglich sein, dezentral nach selbstgesetzten Zielen zu wirtschaften (Privatautonomie). Die Koordination ihrer wirtschaftlichen Handlungen wird dabei der Koordination durch Märkte überlassen (Selbstkoordination). Dabei wird die Sicherung und Kontrolle der Selbstkoordination grundsätzlich dem Wettbewerb anvertraut. Den Dreh- und Angelpunkt des Systems ,Soziale Marktwirtschaft‘ bildet der Leistungswettbewerb.139 Er ist die Form des Wettbewerbs, die eine Marktwirtschaft ausmacht. Grundsätzlich ist das Vorliegen von Wettbewerb unumgänglich. Bei einer begrenzten Anzahl an Ressourcen und Gütern können niemals alle Bedürfnisse und Wünsche aller Bürger befriedigt werden. Aus diesem Grunde wird immer ein Mechanismus existieren nachdem die begrenzten Güter auf die praktisch unbegrenzten Bedürfnisse verteilt werden. Ein solcher Verteilungsmechanismus beruht aber immer auf Wettbewerb, da irgendwie geklärt werden muss, wer welche Güter erhält. Im schlimmsten Fall äußert er sich in Gewalt nach dem Motto ,der Stärkste bedient sich zuerst‘. Andere Erscheinungsformen sind die Verteilung nach der Länge der Zeit, die die Bürger in Schlangen stehen oder nach Beziehungen zu den Verteilern der knappen Güter.140 Wenn aber Wettbewerb unumgänglich ist, so sprechen viele Argumente für eine Verteilung durch einen Leistungswettbewerb. Das wohl wichtigste Argument für einen Leistungswettbewerb ist, dass er gleichzeitig zu der Lösung von drei entscheidenden Problemen jeder Wirtschaftsordnung beitragen kann. Diese Probleme sind das Anreizproblem, das Machtproblem und das Wissensproblem.141 Das Anreizproblem besteht darin, wie es gelingen kann, die Wirtschaftsordnung so zu gestalten, dass der einzelne Bürger seinen eigenen individuellen Zielen nachgehen kann und damit zugleich auch dem Interesse der Gemeinschaft dient. Adam Smith142 umschrieb das Anreizproblem folgendermaßen: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“ Es ist der Leistungswettbewerb, der den Anbieter zwingt, sich im eigenen Interesse an den Wünschen des Kunden / Verbrauchers zu orientieren. Nur so kann es ihm gelingen, den Kunden gerade für sich zu gewinnen oder ihn nicht zu verlieren. Anders ausgedrückt, Erfolg ist nur möglich, wenn man Leistungen für andere erbringt. Somit Ähnlich formuliert es Deregulierungskommission (1990), S. 50. Diese Art des Wettbewerbs spielte im Ostblock eine wichtige Rolle. Zum Schlange stehen als Form des Wettbewerbs siehe auch Vanberg, V. (1994), S. 14. 141 Zu der Aufteilung in dieses 3 Problemkategorien siehe Vanberg, V. (1994), S. 10 ff. An die dortige Darstellung lehnt sich die folgende Darstellung an. 142 Smith, A. (1978), S. 17. 139 140

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hat Böhm143 recht, wenn er sagt, dass „das Ertragsstreben der Unternehmer in den unmittelbaren Dienst des Konsumenten gestellt“ wird. Das Problem der Kontrolle von Macht wird ebenfalls vom Leistungswettbewerb gelöst oder zumindest hilft dieser bei einer Lösung mit. Macht, insbesondere private, beruht vornehmlich darauf, dass der, über den die Macht ausgeübt wird, auf die ein oder andere Weise auf den Inhaber der Macht angewiesen ist.144 Wettbewerb aber bedeutet Konkurrenz, d. h. zu jeder Zeit und an jedem Ort kann ein anderer Anbieter auftreten oder ist schon vorhanden. Auf diesen kann jede Person ausweichen.145 Sie ist somit zu keiner Zeit auf einen einzigen Anbieter angewiesen, so dass dieser ihr auch keine Bedingungen stellen kann. Anders ausgedrückt: Er hat keine Macht über sie, wenn Wettbewerb herrscht. Böhm146 sagt zur Wirkung des Wettbewerbs bzw. der Konkurrenz sogar, dass „die Konkurrenz das großartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte“ ist. Damit der Wettbewerb als Mittel zur Kontrolle von Macht erhalten bleibt, bedarf es allerdings seiner rechtlichen Absicherung.147 Das dritte Problem, vor dem jedes Wirtschaftssystem steht und zu dessen Lösung der Leistungswettbewerb beitragen kann, ist das Wissensproblem. Diesem Aspekt hat sich insbesondere Hayek gewidmet. Er schreibt: „Das Problem, das die spontane Marktordnung löst, ist gerade das der Nutzung von mehr Wissen, als irgendein einzelner Verstand besitzt. Die Marktordnung erreicht dies durch ein Entdeckungsverfahren, das wir Wettbewerb nennen.“148 Aufgrund der Wettbewerbssituation ist jedes Wirtschaftssubjekt bemüht, sich durch neue, möglicherweise vorteilhafte Problemlösungen (wissenschaftlicher, technischer, kaufmännischer, etc. Art), einen Vorsprung vor seinen Wettbewerbern zu sichern. Durch das Streben des Einzelnen werden ständig neue Problemlösungsmöglichkeiten generiert bzw. entdeckt. Deren Erfolg hängt dabei von den Wünschen des Konsumenten ab, da dieser darüber entscheidet, ob er sie wahrnimmt, z. B. indem er ein neues Produkt kauft. Die neuen Problemlösungen werden dann von anderen adaptiert oder verbessert, so dass ein ständiger Strom von neuem Wissen in den Wirtschaftsprozess Eingang findet. Darüber hinaus werden wichtige Informationen über das Preissystem weitergegeben, so dass auch an Neuerungen Nichtbeteiligte ihr Verhalten an den neuen Problemlösungsmöglichkeiten ausrichten können. Böhm, F. (1981), S. 138 zitiert nach Vanberg, V. (1994), S. 11. Vgl. Streit, M. (1991), S. 31. 145 Siehe hierzu Vanberg, V. (1994), S. 11 f. 146 Böhm, F. (1981), S. 138 zitiert nach Vanberg, V. (1994), S. 22. An anderer Stelle (Böhm, F. (1980), S. 357 sagt er: „Die verkehrswirtschaftliche Ordnung ist von Hause aus machtfeindlich; sie ist die machtfeindlichste Ordnung, die die Geschichte kennt.“ Dabei ist die ,Verkehrswirtschaft‘ mit einer Marktwirtschaft in unserem Sinne gleichzusetzen. 147 Streit, M. (1991, S. 31. 148 v. Hayek, F. (1969), S. 167. 143 144

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1. Kap.: Überblick

Die Vorteile eines Leistungswettbewerbes und der damit verbundenen Wettbewerbsfreiheit stellt auch Hoppmann149 treffend fest, wenn er sagt: „Freiheit zur Initiative, Freiheit zum Vorstoß in technisches, organisatorisches und ökonomisches Neuland, zur Schaffung neuer Güter, neuer Verfahren, neuer Märkte, Freiheit zu ökonomischem Fortschritt. Auf der jeweiligen Marktgegenseite korrespondiert damit die Freiheit, zwischen mehreren Alternativen wählen zu können, um die ungünstigen Möglichkeiten abzulehnen und sich für die günstigen zu entscheiden.“ Diese Vorteile sind sehr pointiert von der Monopolkommission zusammengefasst worden: „Ein funktionierender Wettbewerb verbürgt zugleich Freiheit und Effizienz.“150 aa) Vertragsfreiheit Damit der Wettbewerb jedoch funktionieren kann müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein. Dies sind insbesondere das Gelten von Vertragsfreiheit, die Definition und Sicherung von Verfügungsrechten, das Vorliegen eines funktionsfähigen Preismechanismus und die Offenheit der einzelnen Märkte. Als erste Voraussetzung für einen Leistungswettbewerb wird in der wirtschaftswissenschaftlichen bzw. ordnungsökonomischen Theorie meist ein funktionierender Preismechanismus genannt und dieser wurde auch im Vertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion hervorgehoben erwähnt. Der Preismechanismus ist sicherlich eine ganz wesentliche Voraussetzung für einen funktionierenden Wettbewerb und wird daher näher unter [cc)] behandelt. Bevor es aber zu einer Preisbildung auf einem Wettbewerbsmarkt kommen kann, muss noch eine andere Voraussetzung erfüllt sein. Diese Voraussetzung ist die Vertragsfreiheit. Vertragsfreiheit ist die Freiheit des Einzelnen, darüber zu entscheiden, ob und mit welchem Inhalt er einen Vertrag abschließen will.151 Sie bedeutet die Freiheit des Einzelnen, selbstverantwortlich am Wirtschaftsverkehr teilzunehmen 152 und somit die Chancen und Risiken des Wirtschaftsprozesses selbst wahrzunehmen. Die Funktion der Vertragsfreiheit ist dabei eine doppelte. Sie sichert die individuelle Freiheit (Privatautonomie) und dient gleichzeitig der Wahrung des Gesamtwohls einer Gesellschaft. Sie tut dies, indem sie bei der Lösung des Anreiz-, des Macht- und des Wissensproblems mitwirkt. Hoppmann, E. (1996), S. 289. Deregulierungskommission (1990), S. 20. Wenn dies in der öffentlichen Diskussion manchmal anders erscheint, liegt dies hauptsächlich daran, dass viele Personen und soziale Gruppen ein Interesse haben, sich selber vor unliebsamer Konkurrenz zu schützen. Dies bedeutet aber keineswegs, dass sie grundsätzlich auf das Prinzip des Wettbewerbes verzichten würden. Denn soweit dieses Prinzip auf die anderen angewandt wird, ist es ihnen durchaus erwünscht, wenn nicht gar unverzichtbar (vgl. Vanberg, V. (1994), S. 15 f.). 151 Diese Definition stammt aus Tilch, H. (1992), S. 1057. Dabei ist der Vertrag ein in der Regel zweiseitiges Rechtsgeschäft, bei dem durch mindestens zwei übereinstimmende Willenserklärungen ein rechtlicher Erfolg erzielt werden soll. (Creifeldts, C. (1996), S. 1378). 152 Vgl. Streit, M. (1991), S. 46. 149 150

B. Ordnungsökonomisches Konzept

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Die Vertragsfreiheit führt dazu, dass jeder Einzelne am Wirtschaftsprozess teilhaben kann. Er kann mit Hilfe des Tauschverkehrs selbst Leistungen beziehen und auf der anderen Seite eigene Leistungen anbieten. Er wird dadurch Teil des arbeitsteiligen Wirtschaftens. Aufgrund dieser Teilhabe ist für ihn ständig ein Anreiz gesetzt, seine eigenen Leistungen besser zu erbringen bzw. fremde Leistungen günstiger zu beziehen. Insoweit wirkt die Vertragsfreiheit auf eine Lösung des Anreizproblems hin. Die Vertragsfreiheit kann auch ganz maßgeblich zur Lösung des Machtproblems beitragen. Die Vertragsfreiheit gibt jedem selbst die Möglichkeit, seinen Vertragspartner auszusuchen. Er kann grundsätzlich von niemanden gezwungen werden, einen Vertrag zu schließen, dessen Inhalt nicht seine Zustimmung findet. Insofern unterliegt er keiner Machtausübung durch einen anderen. Für einen potentiell Mächtigen hingegen bedeutet die Vertragsfreiheit, dass er niemand seinen Willen aufzwingen kann, es sei denn, dieser ist wegen mangelnder Alternativen auf ihn angewiesen. Aber auch dem wirkt die Vertragsfreiheit entgegen, indem sie Dritten einen Anreiz setzt, Alternativen zu finden und damit der Machtausübung des Mächtigen Grenzen zu setzen. Zuletzt wirkt das Prinzip der Vertragsfreiheit auch bei der Lösung des Wissensproblems mit. Aufgrund dieser Freiheit kann jeder privates Wissen durch Abschluss von Verträgen nutzen. Das Wissen kann dabei aus allgemeinen Marktkenntnissen, speziellem Fachwissen, aber auch einfach aus dem Wissen über die eigenen Bedürfnisse und Wünsche bestehen. Dieses Wissen wird über die Tatsache des Vertragsabschlusses und insbesondere über die Preisbildungen an andere, insbesondere den Vertragspartner, weitergegeben. Aus der Summe dieser rein individuellen Entscheidungen wiederum entstehen dann Informationen, z. B. über die gesamtwirtschaftliche Lage, die wiederum von der Allgemeinheit genutzt werden können. Daneben hat die Vertragsfreiheit auch noch eine Steuerungs- und Lenkungsfunktion, indem sie in einem funktionsfähigen Wettbewerbssystem die Ressourcen an den Ort ihrer wertvollsten Verwendung steuert.153 Sie tut dies, indem sie jedem Wirtschaftssubjekt ermöglicht, seine Leistung an den Meistbietenden abzugeben. Am meisten bieten wird aber regelmäßig der, für den die angebotene Leistung den größten Nutzen bringt. Auf den Märkten sind dann „den tatsächlichen Knappheiten entsprechende Preise für Güter, Dienstleistungen und Ressourcen“ die Folge.154 Eine Lenkung des Wirtschaftsprozesses durch Preise ohne Vertragsfreiheit wäre nicht möglich, da nur über den freien Vertragsschluss die Informationen über die individuellen Bedürfnisse in die Preisbildung einfließen. Ohne freien Vertragsabschluß besteht keine Gewähr dafür, dass die gebildeten bzw. festgesetzten Preise den tatsächlichen Bedürfnissen entsprechen. 153 154

Vgl. Schäfer, H. / Ott, C. (1986), S. 247. Dichmann, W. (1994), S. 220.

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1. Kap.: Überblick

Allerdings kann die Vertragsfreiheit grundsätzlich auch dazu benutzt werden, um die Wahrnehmungsmöglichkeit in Bezug auf Wettbewerbshandlungen zu reduzieren. Die Verhinderung derartiger Vertragsgestaltungen ist in Deutschland Aufgabe des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Zusammenfassend kann wohl gesagt werden, dass der Leistungswettbewerb nur dann funktionieren kann, wenn es in der Entscheidungsfreiheit des einzelnen Wirtschaftssubjektes liegt, ob und unter welchen Bedingungen es sich auf ein Geschäft einlässt. Insofern ist die Vertragsfreiheit eine „sine qua non“ Bedingung für das Funktionieren des Leistungswettbewerbs.155 Vertragsfreiheit beinhaltet die Selbstbestimmung Verträge zu schließen (Abschlussfreiheit) sowie im Einvernehmen mit den Vertragspartnern den Inhalt der Verträge zu bestimmen (Gestaltungsfreiheit).156 Bei Verträgen, die über eine längere oder unbestimmte Zeit geschlossen werden, wie dies z. B. bei Arbeitsverträgen die Regel ist, kommt noch die Freiheit hinzu, den Vertrag wieder zu beenden (Beendigungsfreiheit).157 bb) Verfügungsrechte Vertragsfreiheit macht aber nur Sinn, wenn es etwas gibt, über das ein Wirtschaftssubjekt verfügen kann. In vielen Veröffentlichungen158 wird diesbezüglich vereinfachend von dem Erfordernis des Privateigentums gesprochen. Daneben existieren aber auch viele Verfügungsrechte, die keine Eigentumsrechte oder zumindest keine Volleigentumsrechte darstellen (Patentrechte, Lizenzen, Nießbrauch oder auch Nutzung der eigenen Arbeitskraft). Die Geltung von Verfügungsrechten ist eine Institution, die selbständiges Handeln nach eigenen selbstgesetzten Zielen erst ermöglicht. Daneben verhindert sie weitgehend eine Verschwendung von Ressourcen und stellt den eigentlichen Anreiz für Leistung und damit für den Leistungswettbewerb dar. Dichmann159 fasst die Vorteile des Privateigentums trefflich zusammen: „Es hilft Fehler zu vermeiden und in einer ungewissen Welt auftretende Risiken zu bewältigen durch Setzung individueller Anreize, Abgrenzung der Verantwortlichkeiten von Entscheidungsträgern und Zurechnung der Ergebnisse von Entscheidungen zu den Entscheidungsträgern.“ 155 Eucken, W. (1952, S. 278 drückt dies folgendermaßen aus: „Sie [Die Vertragsfreiheit] ist unentbehrlich. Ohne freie individuelle Verträge, die aus den Wirtschaftsplänen der Haushalte und Betriebe hervorgehen, ist eine Lenkung des alltäglichen Wirtschaftsprozesses durch vollständige Konkurrenz nicht möglich.“ 156 Vgl. Schäfer, H. / Ott, C. (1986), S. 247. 157 Dazu siehe Oetker, H. (1997), S. 10 ff. 158 Siehe z. B. Hoppmann, E. (1995), S. 45, der sich auf Euckens konstituierende Prinzipien bezieht. Nebeneinander hingegen verwendet Dichmann, W. (1994), S. 220 – 222 die Begriffe Privateigentum und Verfügungsrechte. 159 Dichmann, W. (1994) S. 222.

B. Ordnungsökonomisches Konzept

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cc) Preismechanismus Jedes Individuum versucht, seine eigenen Pläne auf den Güter- und Faktormärkten durchzusetzen. Welche Pläne im Endeffekt verwirklicht werden, richtet sich nach den Preisen, die sich bei der Konkurrenz um die Güter und Produktionsfaktoren bilden. Die Preise erfüllen dabei viele verschiedene Funktionen, die Streit160 folgendermaßen ordnet: Der Preis hat, seiner Einschätzung zufolge, eine Ausgleichs- oder Markträumungsfunktion, indem er Angebot und Nachfrage ausgleicht. Er nimmt dadurch eine Zuteilungs- oder Rationierungsfunktion wahr, dass er das knappe Angebot den dringlichsten Nachfragern, gemessen an der gebotenen Kaufkraft, zuteilt. Weiterhin werden durch den Preismechanismus die Anbieter zum Ausscheiden aus dem Marktprozess gezwungen, die nicht kostendeckend arbeiten. Dadurch werden gleichzeitig nur die im Markt verbleiben, die kostengünstig produzieren (Ausleseoder Selektionsfunktion). Eine sehr wichtige Funktion erfüllen die Preise auch dadurch, dass über sie die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten von Ressourcen vergleichbar werden. Sie zeigen dadurch die relativen Knappheiten an (Signaloder Informationsfunktion). Über Preisänderungen werden auch die Produktionsfaktoren dorthin gelenkt, wo die Wirtschaftssubjekte sie zu Planrealisierungen benötigen (Lenkungs- oder Allokationsfunktion). Zuletzt haben Preise auch noch eine Verteilungs- oder Distributionsfunktion, indem über sie die Kaufkraft auf die einzelnen Wirtschaftssubjekte verteilt wird. Die Kaufkraft des Einzelnen hängt nämlich von dem für seine angebotenen Faktoren erzielten Preise ab. Ein Leistungswettbewerb ist ohne funktionierenden Preismechanismus nicht denkbar. dd) Offenheit von Märkten Eine weitere Voraussetzung für einen funktionierenden Leistungswettbewerb ist die Offenheit von Märkten. Wettbewerb ist mit Regulierungen, die den Marktzuund Marktaustritt behindern, nicht vereinbar.161 In der zitierten Präambel wird dieser Begriff „. . . mit der vollen Freizügigkeit von Arbeit, Kapital Gütern und Dienstleistungen. . .“ umschrieben. Ordnungspolitisch sind offene Märkte aus mehreren Gründen notwendig. Erstens sorgen offene Märkte dafür, dass die Verbindung zwischen verschiedenen (Teil-)Märkten gewahrt bleibt. Wenn eine Umwidmung von Produktionsmitteln wie Arbeitskraft oder Sachanlagen nicht möglich ist, kann auch die Interdependenz der Preise nicht voll funktionieren.162 Die Preise geben dann die wahren Knappheitsverhältnisse nicht oder nur verzögert wieder. Eine weitere Funktion offener 160 161 162

Streit, M. (1982), S. 37. Vgl. Deregulierungskommission (1990), S. 3. Hoppmann, E. (1995), S. 48.

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1. Kap.: Überblick

Märkte ist der der Machtbegrenzung und -kontrolle. Sind Eingriffe staatlicher oder privater Machtträger zu intensiv und verstoßen sie gegen das Interesse der Betroffenen, so bleibt diesen die Möglichkeit, selber abzuwandern oder zumindest die Ressourcen, über die sie verfügen, anderweitig zu verwenden. Da diese Abwanderung den Machtträgern aber meist unerwünscht ist, hat bereits die Möglichkeit der Abwanderung eine präventive Wirkung, indem sie die Machtträger veranlasst, vorsichtiger mit ihren Möglichkeiten umzugehen.163 Letztlich stellt somit die Offenheit von Märkten sicher, dass Märkte nicht gegen den Willen der Bürger gestaltet werden können. b) Sozialstaatsprinzip Das Sozialstaatsprinzip ist in unserer Verfassung in den Art. 20 I und 28 I 1 GG festgeschrieben. Es handelt sich bei diesem Prinzip um eine Staatszielbestimmung, die auf die Herstellung sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit gerichtet ist.164 Als Staatszielbestimmung richtet sich das Sozialstaatsprinzip vorrangig an die Legislative, hat aber, wie unten noch zu sehen sein wird, auch großen Einfluss auf die Rechtsprechung. Daneben hat das Sozialstaatsprinzip mit dem Wort ,sozial‘ auch einen Niederschlag in der Bezeichnung unseres Wirtschaftssystems gefunden, dass allgemein als ,Soziale Marktwirtschaft‘ bezeichnet wird. Das Beiwort ,sozial‘ soll bedeuten, dass zugunsten der jeweils schwächeren Individuen in das System Marktwirtschaft Sicherungen eingebaut werden. Die Zielvorstellung der sozialen Gerechtigkeit wird in § 1 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – 1. Buch (SGB I) präzisiert. Dort heißt es: „Das Recht des Sozialgesetzbuches soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen ( . . . ) gestalten. Es soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhaltes durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe auszugleichen.“ Aus dieser sehr weiten Fassung der Begriffe „soziale Sicherheit“ und „soziale Gerechtigkeit“ sowie deren grundsätzliche Offenheit folgt bereits die Unmöglichkeit einer abschließenden Definition.165 Daher ist das Prinzip der Sozialstaatlichkeit auch als solches für eine Überprüfung nicht hinreichend konkret.166 Es soll anhand von vier Kriterien, die als 163 Sehr ausführlich zum Markteintritts- und Abwanderungsrecht Dichmann, W. (1994), S. 223. 164 Zu den Begriffen der „sozialen Sicherheit“ und „sozialen Gerechtigkeit“ sehr ausführlich Zacher, H. (1987), § 25 RN 40 ff. sowie 47 ff. 165 Degenhardt, C. (1995), S. 135.

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Ziel eines sozial geprägten Arbeitsrechts häufig genannt werden, berücksichtigt werden.167 Ein sozial geprägtes Arbeitsrecht bzw. eine sozial gestaltete Arbeitsmarktordnung soll die Persönlichkeitsgüter des Arbeitnehmers schützen [aa)], den Arbeitnehmer gegen existentielle Risiken im Vermögensbereich sichern [bb)], eine möglichst gute Versorgung der Arbeitswilligen und -fähigen mit Arbeitsplätzen sicherstellen [cc)] sowie dem Schutz besonderer Problemgruppen dienen [dd)]. Bevor wir uns aber diesen Kriterien zuwenden, soll noch geprüft werden, ob das Sozialstaatsprinzip Teil einer wünschenswerten Ordnung ist.

aa) Schutz der Persönlichkeitsgüter Ein sozial geprägtes Arbeitsrecht soll die Persönlichkeitsgüter des Arbeitnehmers, insbesondere das Leben und die Gesundheit aber auch die Persönlichkeit i.S. der Individualität des Einzelnen als solche schützen. Gerade dieser Schutz der grundlegenden Bedürfnisse der Arbeitnehmer oder spezieller der Arbeiter, ist der Ausgangspunkt der ,sozialen Frage‘ schlechthin gewesen. Er gehört nach wie vor zu den Kernbereichen einer sozialen Arbeitsmarktordnung. Allerdings wird das Ziel überwiegend mit dem eigentlichen Arbeitsschutzrecht168 weniger mit dem Bestandsschutz169 verfolgt. Der Bestandsschutz soll aber dem Ziel der Stärkung der Unabhängigkeit dienen und erhöht damit mittelbar auch dem Schutz der Persönlichkeitsgüter des Arbeitnehmers.170 Beim Lebens- und Gesundheitsschutz leuchtet es unmittelbar ein, dass es sinnvoll ist, entsprechende gesellschaftliche Grundregeln aufzustellen bzw. Regeln an diesem Ziel zu messen. Leben und Gesundheit sind die wichtigsten persönlichen Werte und diese lassen sich nicht immer ausreichend durch Eigenvorsorge sichern, was sich zum Beispiel im Bereich des Arbeitsschutzes zeigt. Dem einfachen Arbeiter oder Angestellten ist es z. B. nicht immer im Voraus möglich, die Risiken abzuschätzen, die mit seinem Beruf oder Arbeitsplatz zusammenhängen. Des weiteren beruht unsere Gesellschaftsordnung auf dem Bild eines freien und selbstverantwortlichen Menschen, der ein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit hat. Es ist daher sinnvoll und liegt im Interesse aller Bürger, gewisse Regeln als Vorkehrung zum Schutz von Persönlichkeitsgütern aufzustellen. Diese schützen den 166 Jarass, H. / Pieroth, B. (1997), Art. 20 RN 73 drückt dies folgendermaßen aus: „Wegen seiner hohen Unbestimmtheit bedarf das Sozialstaatsprinzip in besonderem Maße der Konkretisierung ( . . . ).“ 167 Siehe zu diesen Zielen z. B. Konzen, H. (1988), S. 203, oder v. Hippel, E. (1982), S. 3. 168 Das Arbeitsschutzrecht i. d. S. umfaßt diejenigen gesetzlichen Regelungen zum Schutz des Arbeitnehmers, deren Einhaltung behördlicher Überwachung und Zwang oder straf- oder ordnungsrechtlichen Sanktionen unterliegt. Darunter fällt insbesondere der Gefahrenschutz, der Arbeitszeitschutz sowie der Datenschutz. 169 Zur Definition des Bestandsschutzes vgl. Einleitung FN 5. 170 Vgl. Lampert, H. (1998), S. 161 ff. sowie 179 ff.

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1. Kap.: Überblick

Einzelnen vor Gesundheitsgefahren, aber auch vor unangemessener Machtausübung anderer zu seinen Lasten. Der Schutz der Persönlichkeitsgüter dient aber auch der Gemeinschaft als Schutz vor möglichen Folgekosten. Insgesamt liegt er damit im konstitutionellen Interesse aller Bürger.

bb) Schutz vor existentiellen Risiken im Vermögensbereich Auch die Sicherung des Arbeitnehmers gegen existentielle Risiken im Vermögensbereich, wie sie z. B. durch einen Einkommenswegfall bei Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit entstehen, gehört zu den sozialen Aufgaben des Arbeitsrechts bzw. der Arbeitsmarktordnung. In § 1 SGB ist sie enthalten, wenn es heißt: „Es soll dazu beitragen ( . . ... ) besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe auszugleichen.“ In der Bundesrepublik ist dieser Schutz insbesondere durch ein im internationalen Vergleich recht engmaschiges Netz sozialer Sicherungen verwirklicht, die auf dem Versicherungs-, dem Versorgungs- und Fürsorgeprinzip beruhen.171

cc) Schaffung der Voraussetzungen für eine gute Versorgung der Arbeitswilligen und -fähigen mit Arbeitsplätzen Ein weiteres und das zur Zeit sicher am häufigsten genannte soziale Ziel einer Arbeitsmarktordnung ist die möglichst gute Versorgung der Arbeitswilligen und -fähigen mit Arbeitsplätzen. Idealvorstellung ist dabei die Situation der Vollbeschäftigung. Von 1969 bis 1970 war das Arbeitsförderungsrecht im Arbeitsförderungsgesetz (AFG) geregelt, seit dem ist es im SGB III verankert. In § 1 AFG hieß es: „Die Maßnahmen nach diesem Gesetz sind ( . . . ) darauf auszurichten, dass ein hoher Beschäftigungsstand erzielt und aufrechterhalten ( . . . ) wird.“ An diesem Hauptziel des Arbeitsförderungsgesetzes wird bereits die Bedeutung des Kriteriums ersichtlich. Auch wenn das Ziel eines hohen Beschäftigungsstandes im neuen § 1 SGB III nicht mehr genannt ist, so hat sich im Grunde an diesem Ziel nichts geändert. Nunmehr ist davon die Rede, dass die Arbeitsförderung dem „. . . Ausgleich am Arbeitsmarkt . . .“ dient (§ 1 SGB III), was eher einer realistischeren Einschätzung der Möglichkeiten der Arbeitsmarktförderung als einer Zieländerung entspringt. Zudem bedeutet Ausgleich am Arbeitsmarkt bei Unterbeschäftigung gerade Vergrößerung des Arbeitsplatzangebotes. Die gute Versorgung der Erwerbsbevölkerung mit Arbeitsplätzen bleibt wichtigstes Ziel einer sozialen Arbeitsmarktordnung.172 Vgl. auch dazu z. B. Lampert, H. (1998), S. 179 f. sowie 224 ff. Zu diesem Ziel recht ausführlich beispielsweise Lampert, H. (1998), S. 179 f. sowie 200 ff. 171 172

B. Ordnungsökonomisches Konzept

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Für die Ordnungsökonomie kann das Ziel einer guten Versorgung der Bevölkerung mit Arbeitsplätzen nur bedeuten, dass die Voraussetzungen für die Bereitstellung von ausreichend vielen Arbeitsplätzen geschaffen werden. Wie bereits erläutert befasst sich die Ordnungsökonomie nämlich nicht mit dem direkten Eingriff in das Wirtschaftsgeschehen, sondern will ,nur‘ den Rahmen gestalten, so dass über die Handlungen der einzelnen Individuen eine wünschenswerte Handlungsordnung und wünschenswerte Ergebnisse des Wirtschaftens entstehen. Es kann somit nicht das (direkte) Ziel sein, ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, sondern nur die dafür notwendigen und hilfreichen Regeln zu formulieren.173 Bei der Prüfung des Sozialstaatsprinzips soll berücksichtigt werden, dass die größten sozialen Probleme von der Arbeitslosigkeit als solcher verursacht werden. Es spricht daher eine starke Vermutung dafür, Regelungen, welche die Voraussetzungen für die Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen schaffen, bereits daher als sozial einzustufen, während Regelungen, die mittelbar zum Abbau von Arbeitsplätzen führen, schon deshalb als unsozial einzustufen.

dd) Schutz besonderer Problemgruppen Eine letzte sehr wichtige Aufgabe des sozial geprägten Arbeitsrechts, die hier genannt werden soll, ist der Schutz besonderer Problemgruppen.174 Diese Personengruppen zeichnen sich dadurch aus, dass sie schwer auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen bzw. zu integrieren sind. Zu ihnen werden für gewöhnlich gezählt: Behinderte und Schwerbeschädigte, ältere Arbeitnehmer, insbesondere ältere Frauen, Jugendliche, insbesondere solche ohne abgeschlossene Berufsausbildung; gesundheitlich angeschlagene Personen, Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder mit längerer Unterbrechung der Erwerbstätigkeit, etc. Diese Personengruppen sind vielfach besonders stark auf eine Erwerbsarbeit angewiesen – sei es aus finanzieller oder sozialer Sicht – aber aufgrund von speziellen Risikofaktoren für Arbeitgeber weniger interessant, so dass sie besonderes Förderungsobjekt einer sozial geprägten Arbeitsmarktordnung sind.175 Das Ziel ihres Schutzes und ihrer Förderung hat im SGB III vielfachen Niederschlag gefunden (z. B. §§ 97 ff., 217 ff., 231 – 233, 263 SGB III).

173 Anders ausgedrückt, es geht nur um die Wahl von Regeln, nicht um die Wahl von Endzuständen. 174 Allgemein zum Schutz besonders Schwacher als Ziel des Sozialstaatsprinzips siehe z. B. Jarass, H. / Pieroth, B. (1997), Art 20 RN 74 f. 175 Vgl. dazu z. B. Lampert, H. (1998), S. 188 f.

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1. Kap.: Überblick

c) Rechtsstaatlichkeit Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ist im Gegensatz zu vielen anderen Grundprinzipien unseres Verfassungsrechts in Deutschland formuliert worden.176 Dieses Prinzip hat seinen Ursprung im politischen Kampf gegen den Absolutismus um die Sicherung einer vor staatlicher Einmischung freien Individualsphäre durch Einführung von Menschen- und Bürgerrechten, Verhinderung von staatlicher Willkür durch Gewaltenkontrolle und Gesetzesbindung sowie durch die daraus hervorgehende Rechtssicherheit.177 Mittlerweile hat sich der Begriff der Rechtsstaatlichkeit weiterentwickelt und beinhaltet eine größere Zahl von Einzelelementen und -prinzipien. Insbesondere ist eine Entwicklung vom Rechtsstaat im „nur“ formellen Sinne (Gesetzesstaat) hin zum Rechtsstaat im materiellen Sinne (Gerechtigkeitsstaat) zu beobachten.178 Ungeachtet dieser Entwicklungen ist das Rechtsstaatsprinzip im formellen Sinne weiterhin unverzichtbarer Bestandteil unserer Grundordnung und wird auch von der Ordnungsökonomie als solche angesehen. Streit drückt seine Sicht des Prinzips folgendermaßen aus: „Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit beinhaltet im Hinblick auf den Staat, dass sein Handeln an das Recht gebunden, die Bürger in ihrer Freiheit vor staatlichen Eingriffen geschützt und alles staatliche Handeln unter das Gebot der Rechtssicherheit gestellt wird.“179 In Übereinstimmung mit dieser Sicht soll das Rechtsstaatsprinzip für den weiteren Verlauf der Arbeit durch drei Teilprinzipien repräsentiert werden. Diese spiegeln den Begriff vornehmlich im ursprünglichen formellen Sinne wider. Die neuere materielle Sicht wird aber auch in angemessenem Umfang berücksichtigt. Die somit zu prüfenden Teilprinzipien sind: aa) die Garantie eines Kataloges von Grundrechten als Abwehrrechte gegen den Staat; bb) die Gewaltenteilung und das Recht des Bürgers, die Ausübung der Gewalt durch eine unabhängige Justiz überprüfen zu lassen (effektiver Rechtsschutz); sowie cc) die Garantie von Rechtssicherheit, wonach staatliche Handlungen für den Bürger klar, widerspruchsfrei und berechenbar zu sein haben.180 Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit dient u. a. der Machtbegrenzung des Staates und Aufteilung der Macht unter den Inhabern derselben. Nach der Grundvorstellung der Constitutional Political Economy geht die Staatsbildung vom einzelnen Stein, E. (1998), § 20 I, S. 154. Maunz, T. / Zippelius, R. (1998), § 13 I, S. 87. 178 Siehe dazu z. B. Schnapp, F. (1992), Art. 20 RN 22, S. 1049 oder auch Maunz, T. / Zippelius, R. (1998), § 13 I, S. 87 f. 179 Streit, M. (1991), S. 53. 180 Streit, M. (1991), S. 53 f. 176 177

B. Ordnungsökonomisches Konzept

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Bürger aus.181 Dieser will nur einen Teil seiner Rechte an die Gemeinschaft abgeben. Den Rest will er vor dem Eingriff der anderen geschützt wissen. Dies sollen neben weiteren Aufgaben die Grundrechte sicherstellen. Sie stellen die letzte Schranke für den Eingriff des Staates in die Sphäre des Einzelnen dar. In Bezug auf die vom einzelnen Bürger auf die Gesamtheit des Staates übertragenen Rechte, ist es im Interesse des Bürgers sicherzustellen, dass diese nur im Interesse der Allgemeinheit, nicht aber im Interesse der Politiker, Bürokraten etc. verwendet werden. Dem dient das System der Gewaltenteilung. Durch dieses System werden vom Grundgedanken her unterschiedliche Staatsgewalten geschaffen, die sich gegenseitig kontrollieren und Machtanmaßungen verhindern. Dies dient der Ausrichtung der staatlichen Maßnahmen an den Interessen des Bürgers. Die Rechtssicherheit soll im Interesse aller Bürger bewirken, dass staatliche Handlungen, insbesondere die von diesem gesetzte Regeln klar, berechenbar und widerspruchsfrei sind. Nur so kann sich der Nutzen, den der einzelne Bürger aus der Einrichtung ,Staat‘ schöpfen kann, verwirklichen. In einem solchen Rahmen kann der Einzelne die Bedingungen unter denen er und die anderen handeln können gut einschätzen und seine Handlungen dem anpassen. Eine Koordinierung mit anderen ist wesentlich erleichtert und insbesondere die Vorteile einer Arbeits- und Aufgabenteilung können optimal verwirklicht werden.

aa) Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat Dieser Aufgabe der Grundrechte liegt ein Grundrechtsverständnis bzw. eine Grundrechtstheorie zugrunde, die Böckenförde182 als die „liberale (bürgerlichrechtsstaatliche) Grundrechtstheorie“ bezeichnet. Nach diesem Grundrechtsverständnis sind die einzelnen Grundrechte „Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat“. Sie sind dazu bestimmt, wichtige Bereiche der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit, die nach der geschichtlichen Erfahrung der Bedrohung durch die Staatsmacht besonders ausgesetzt sind, eben vor dieser Bedrohung zu sichern.“183 Die so verstandenen Grundrechte grenzen den Bereich, in dem der Einzelne oder eine Vereinigungen selbst für Verhaltensregulierung und Leistungsorganisation sorgen kann und muss, von dem Bereich des hoheitlichen Regulierungs- und Eingriffsbereichs ab und erfüllen damit die Funktion von negativen Kompetenznormen.184 Diese Aufgabe der Grundrechte ist auch vom BVerfG und wohl auch einhellig von der Literatur anerkannt.185 Das BVerfG formuliert dieses Grundrechtsverständnis folgendermaßen: „Nach ihrer 181 Siehe dazu näher Vanberg, V. (1994), S. 22 f. oder Mantzavinos, C. / Vanberg, V. (1996), S. 328. 182 Böckenförde, E. (1974), S. 1530 ff. 183 Böckenförde, E. (1974), S. 1530. 184 Vgl. Böckenförde, E. (1974), S. 1530 ff. 185 Siehe für alle Stern, K. (1994), Bd. III / 2 § 95, S. 1683 mit vielen weiteren Hinweisen.

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1. Kap.: Überblick

Geschichte und ihrem heutigen Inhalt sind sie [die Grundrechte] in erster Linie individuelle Rechte, Menschen- und Bürgerrechte, die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand haben“.186 „Demgemäß dienen sie vorrangig dem Schutz der Freiheitssphäre des einzelnen Menschen als natürlicher Person gegen Eingriffe der staatlichen Gewalt . . .“.187 Zu prüfen ist also, inwieweit das System des Bestandsschutzes die grundrechtlich verbürgten Rechte Einzelner berührt bzw. beeinträchtigt.

bb) Gewaltenteilung und effektiver Rechtsschutz Nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung soll die staatliche Regelungsgewalt in Funktionsbereiche aufgeteilt und diese voneinander getrennten staatlichen Organen zugewiesen werden. Sinn dieser Aufteilung, die in der Bundesrepublik klassisch in Legislative, Exekutive und Judikative erfolgt, ist es, dass sich diese Gewalten gegenseitig kontrollieren, begrenzen und ergänzen, damit die Staatsgewalt gehemmt und die Freiheit des Einzelnen geschützt wird.188 Das Prinzip der Gewaltentrennung ist aber in unserer Rechtswirklichkeit nicht streng durchgehalten. Für diese Arbeit interessant ist dabei vor allem der Bereich, in dem die Organe der Rechtspflege durch Gesetzesauslegung und Lückenfüllung etc. an der Rechtsfortbildung mitwirken und damit den Kompetenzbereich der Legislativen berühren.189 Neben der Gewaltenteilung ist auch ein effektiver Rechtsschutz unabdingbarer Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips.190 Dieser Rechtsschutz muss nach allgemeiner Meinung191 bestimmten institutionellen Anforderungen genügen und kann daher nur durch ein Gericht erfolgen.

cc) Rechtssicherheit Die Rechtssicherheit als Prinzip erfordert, dass rechtliche Regelungen so gefasst werden, dass die Betroffenen ihre Normunterworfenheit und die Rechtslage hinreichend konkret erkennen können und so ihr Verhalten danach ausrichten können.192 Anders ausgedrückt erfordert Rechtssicherheit, dass staatliche Handlungen, die den Bürger betreffen, für diesen Bürger klar, widerspruchsfrei und berechenbar sind. BVerfGE 50, 290 (337). BVerfGE 68, 193 (205). 188 Vgl. z. B. Maunz, T. / Zippelius, R. (1998), § 13 III, S. 92 f. 189 Maunz, T. / Zippelius, R. (1998), § 13 III, S. 93 f. 190 Ausführlich dazu Stern, K. (1984), Bd. I, § 20 IV 5, S. 838 ff. 191 So für die wohl ganz überwiegende Meinung Stern, K. (1984), Bd. I, § 20 IV 5, S. 839. 192 So Maunz, T. / Zippelius, R. (1998), § 13 III, S. 97 unter Berufung auf BVerfGE 87, 263, das sich allerdings zum Bestimmtheitsgebot äußerte. 186 187

B. Ordnungsökonomisches Konzept

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Für die Legislative bedeutet dies, dass sie möglichst wenige und möglichst einfach verständliche Normen schafft, damit der Normalbürger die Möglichkeit hat, wenigstens einen Teil der für ihn relevanten Gesetze zu kennen oder sich über sie Kenntnis zu verschaffen. Zwar hat schon Anton Menger 1898 festgestellt, „die Vorstellung, dass jeder Staatsbürger alle Gesetze kenne, sei die lächerlichste aller Fiktionen“,193 aber von einem sinnvoll geregeltem Rechtsgebiet muss man zumindest erwarten können, dass es von den Fachleuten problemlos verstanden wird. Wenn es selbst diesen nicht gelingt, das Rechtsgebiet im ganzen zu beherrschen, erfüllt das Gesetz seine ihm im Rechtsstaat zugewiesene Aufgabe nicht mehr vollständig. Die Rechtssicherheit, insbesondere in Form der Messbarkeit und Vorhersehbarkeit des Staatshandelns, geht verloren und damit „die wesentlichen Freiheitsgarantien, die das Gesetz als Gesetz im Rechtsstaat zu leisten hat.“194 In diesem Fall wird in dem betreffenden Rechtsgebiet nicht mehr die Appellfunktion der Gesetze erfüllt. Für die Judikative bedeutet das Kriterium der Rechtssicherheit vor allem die Notwendigkeit der Vorhersehbarkeit und Beständigkeit der Rechtsprechung. Ordnungsökonomisch ausgedrückt ist es die Funktion der Rechtssicherheit, die Erwartungsbildung der Individuen zu stabilisieren. So gewinnen Regeln, gleichgültig ob sie von der Legislativen oder der Judikativen gesetzt wurden, bereits durch zunehmende Geltungsdauer an Qualität. Der Qualitätsgewinn ergibt sich aus der Tatsache, dass die Anpassung der Einzelhandlungen an eine neue Regel Zeit erfordert. Die mit der Zeit aus den Einzelhandlungen entstehenden Verhaltensmuster tragen dann dazu bei, die Erwartungsbildung zu stabilisieren und wirken somit transaktionskostensenkend.195

3. Folgenbewertung Nachdem die Folgen der Regeln des Bestandsschutzsystems dargestellt wurden, soll eine Bewertung dieser Regeln anhand der festgestellten Folgen vorgenommen werden. Dazu wird auf die Erkenntnisse bzw. Gedanken der Constitutional Political Economy zurückgegriffen wie sie unter II dargestellt wurden. Dementsprechend werden Regeln danach beurteilt, ob sie im Interesse der Bürger liegen und daher in diesem Sinne wünschenswert sind. Theoretischer Idealfall für die Einschätzung einer Regel als im Interesse der Bürger liegend, ist dabei die freiwillige Zustimmung aller Bürger. Die tatsächliche einstimmige Billigung einer Regel (ebenso wie ein Schleier hinter dem die Entscheidung gefällt wird) kann dabei natürlich nur fiktiven Cha193 194 195

Zitiert aus Geiß, K. (1996), S. 10. Isensee, J. (1985), S. 140. Siehe dazu Streit, M. (1988), S. 38.

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1. Kap.: Überblick

rakter haben, und auch in der theoretischen Diskussion ist noch nicht hinreichend geklärt, wie dieser Ansatz am besten angewandt oder operrationalisiert werden kann.196 So ist beispielsweise fraglich, ob die Billigung einer Regel tatsächlich (empirisch) vorliegen soll oder ob es reicht, wenn argumentiert werden kann, dass rationale Individuen einen Anlass haben, eine Regel abzulehnen (hypothetischer Konsens). Für die vorliegende Arbeit kann nur auf einen hypothetischen Konsens abgestellt werden. Es sollen eine Vielzahl von Regelungen analysiert werden, die zudem in einem komplexen Umfeld von wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Fragen stehen, so dass ein tatsächlicher Konsens über die einzelnen Regelungen nicht festgestellt werden kann. Zudem wurde das Kriterium der Wünschbarkeit i. S. eines konstitutionellen Interesses bisher hauptsächlich auf Regeln der Verfassungsebene oder auf solche mit ähnlich grundlegender Bedeutung angewandt. Auf der konstitutionellen Ebene sind aber die Interessen des Einzelnen weniger eindeutig, da er nicht genau voraussehen kann, wie er selbst von den Regeln betroffen sein wird. Je weniger er aber abschätzen kann, wie sich eine Regel konkret auf ihn selber auswirkt, um so eher wird er Regeln vorziehen, die verschiedenen denkbaren Interessenlagen gerecht werden und -in diesem Sinne – fair sind. Dieser Gesichtspunkt charakterisiert aber auch die Entscheidungssituation hinter einem Schleier des Nichtwissens, wie er den Gedanken Rawls zugrunde liegt.197 In der hier vorliegenden Arbeit sollen aber nicht Regeln auf der konstitutionellen Ebene bewertet werden, sondern solche auf der Ebene der einfachen Gesetzgebung und der Rechtsprechung. Auf dieser untergeordneteren Ebene sind die Interessen des einzelnen Bürgers natürlich wesentlich eindeutiger auszumachen, so dass es schwieriger ist, einen hypothetischen Konsens über eine Regel festzustellen. Grundsätzlich ist dieses Kriterium aber universell einsetzbar und somit auch für die Bewertung von einfach gesetzlichen und richterlichen Regelbildungen geeignet. Um die mit der Bewertung verbundenen Probleme zu vereinfachen, soll im Folgenden zwischen verschiedenen Arten des Interesses der Bürger unterschieden werden. Zunächst muss dabei zwischen Regelinteressen und Handlungsinteressen unterschieden werden. Die Unterscheidung lässt sich am einfachsten am Beispiel eines Spiels z. B. eines Wettkampfes oder auch eines Gesellschaftsspiels erläutern.198 Bei derartigen Spielen lässt sich eindeutig zwischen Spielregeln und Spielzügen unterscheiden. Bei der Wahl eines einzelnen Spielzuges sind die Spieler den Restriktionen der Spielregeln unterworfen. Sie werden ihre Spielzüge normalerweise danach ausrichten, wie sie unter den gegebenen Regeln am besten ihr Interesse am 196 197 198

Vgl. Vanberg, V. (1997a), S. 74. So auch Vanberg, V. (1996), S. 17 f. Zur Unterscheidung und Erklärung siehe Vanberg, V. (1996), S. 11 ff.

B. Ordnungsökonomisches Konzept

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Spielgewinn erreichen können. Dabei ist die Wahl des Spielzuges unabhängig von ihrer persönlichen Bewertung der Spielregeln. Auf der anderen Seite ist es aber auch möglich, die Regeln des Spieles neu zu bestimmen. Dies kann natürlich nicht während des Spieles geschehen, aber außerhalb des Spieles ist dies durchaus möglich. So können sich die Beteiligten darüber verständigen, welche Regeln für ihr Spiel gelten sollen oder welche Regeländerungen sie im Vergleich zu den vorherigen Spielen einführen wollen. Bei der Entscheidung über die Spielregeln werden sie dabei normalerweise als Ziel anstreben, das Spiel selbst unter den gegebenen Umständen zu verbessern. Entsprechend richtet sich das Handlungsinteresse (Wahl von Spielzügen) nach dem Interesse des Spielers möglichst erfolgreich zu sein, während das Regelinteresse (Wahl der Spielregeln) sich an der Verbesserung des Spiels orientiert. Im vorliegenden Fall sollen Regeln des Bestandsschutzes bewertet werden. Dementsprechend muss auf das Regelinteresse, nicht auf das Handlungsinteresse der Spieler – also in unserem Fall der Bürger – abgestellt werden. Wenn im Folgenden also das Interesse der Bürger an einer Regel des Kündigungsschutzes untersucht wird, so wird geprüft, ob generell ein Interesse der Bürger an dieser Regel besteht oder ob das Spiel – in diesem Fall das Geschehen auf dem Arbeitsmarkt – nicht besser ohne diese Regel wäre. Nicht hingegen wird bewertet, ob der Einzelne ein Interesse hat, sich in einer konkreten Situation, z. B. bei einer gerichtlichen Auseinandersetzung, auf diese Regel zu berufen. Bezüglich der Regelinteressen des einzelnen Bürgers soll zudem zwischen sog. konsensfähigen und nicht konsensfähigen Regeln unterschieden werden. Diese Unterscheidung beruht auf dem Gedanken der möglichst einstimmigen Zustimmung aller Bürger zu einer bestimmten Regel. Es ist klar, dass die Interessen eines Bürgers oder einer Gruppe von Bürgern darauf gerichtet sein kann, eine Regel durchzusetzen bzw. zu erhalten, die diesem Bürger oder der Gruppe Privilegien in Form von Sonderrechten zugebilligt werden, die nur für diese Gruppe nicht für die anderen Bürger gelten. Das Interesse an solchen Sonderrechten ist grundsätzlich nicht konsensfähig, da die nicht-privilegierten Regeln, die solche Interessen schützen, grundsätzlich nicht zustimmen werden. Als konsensfähige Interessen sollen hingegen solche Interessen bezeichnet werden, die auf eine für alle Beteiligten wünschenswerte nicht diskriminierende Ordnung gerichtet sind.199

199

Auch hierzu vgl. Vanberg, V. (1996), S. 13 f.

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1. Kap.: Überblick

C. Arbeitsrechtlicher Bestandsschutz als Teil der Arbeitsmarktordnung Arbeitsrecht ist die Summe aller Rechtsregeln, die sich mit der in abhängiger Tätigkeit geleisteten Arbeit beschäftigen.200 Vorrangig bezieht es sich auf das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, das normalerweise im Arbeitsvertrag seine Grundlage hat. Zentrale Rechtsfigur des Arbeitsrechts ist somit der Arbeitsvertrag.201 Die Regeln, die die arbeitgeberseitige Beendigung des Arbeitsvertrages regeln bzw. einschränken werden zusammen mit inhaltlich verwandten Regelungen als Bestandsschutz bezeichnet und bilden den Gegenstand der Untersuchung dieser Arbeit. Das Arbeitsrecht befasst sich aber auch mit dem Verhältnis der im gleichem Betrieb zusammengeschlossenen Arbeitnehmer untereinander, mit den Arbeitnehmerund Arbeitgeberzusammenschlüssen und ihren Rechtsbeziehungen zueinander sowie mit dem Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien und ihrer Verbände zum Staat.202

I. Bedeutung des Arbeitsrechts Das Arbeitsrecht ist für den einzelnen Bürger das vielleicht wichtigste Rechtsgebiet überhaupt. Es regelt die Arbeitsverhältnisse – nach Zahlen von April 2001203 – von etwa 32,7 Millionen Arbeitnehmern (wovon allerdings 2,3 Millionen Beamte sind). Zählt man noch die 4,6 Millionen Erwerbslosen dazu, die überwiegend eine Beschäftigung als Arbeitnehmer anstreben, ergibt sich auf der Seite der Arbeitnehmer eine Zahl von etwa 37,3 Millionen Menschen, die vom Arbeitsrecht betroffen sind. Bei einer Gesamtzahl von rund 36,8 Millionen Erwerbstätigen und 3,8 Millionen Erwerbslosen ergibt sich eine Anzahl von 40,6 Millionen Erwerbspersonen. Danach sind ca. 90% der Erwerbstätigen Arbeitnehmer. Für die Arbeitnehmer ist das Arbeitsrecht zumeist die Regelung ihrer Existenzgrundlage. Aber auch für deren Familienangehörige ist das Arbeitsrecht von eminenter Bedeutung, da meist auch sie von dem Arbeitseinkommen der Arbeitnehmer abhängen. Werden die Arbeitgeber (die Anzahl der Selbständigen beträgt ca. 3,3 Millionen, die der mithelfenden Familienangehörigen 0,29 Millionen) und deren Familien als ebenfalls vom Arbeitsrecht Betroffene hinzugerechnet, ist fast jeder Einwohner Deutschlands vom Arbeitsrecht direkt oder indirekt betroffen. So definiert es Schaub, G. (1992), S. 1. Vgl. Zöllner, W. (1992), S. 1. 202 Schaub, G. (1991), S. 1. 203 Die Zahlen stammen alle aus Statistisches Jahrbuch (2002); dort auch die Definitionen und Erhebungsmethoden. 200 201

C. Arbeitsrechtlicher Bestandsschutz als Teil der Arbeitsmarktordnung

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Für die Wirtschaft ergibt sich die große Bedeutung des Arbeitsrechts bereits daraus, dass 70% des Volkseinkommens der Bundesrepublik auf Märkten mit abhängiger Arbeit erzielt wird. Diese Arbeit und damit auch die Märkte werden maßgebend durch die Rahmenbedingungen, die das Arbeitsrecht setzt, mitbestimmt. Den Einfluss, den dabei das Arbeitsrecht auf Fehlfunktionen, insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit hat, ist umstritten. Seine Bedeutung mag man aus den Ergebnissen einer Befragung des Instituts der deutschen Wirtschaft im Mai / Juni 1998 ersehen.204 42 Wirtschaftsverbände antworteten dabei auf die Frage: „Welches sind Ihrer Einschätzung nach in Ihrer Branche die wesentlichen Hemmnisse für Neueinstellungen?“ Die ungewichteten Antworten ergaben, dass das Arbeitsrecht mit 20% an dritter Stelle hinter Restrukturierung (30%) und Ertragslage (25%) lag. Nach einer Gewichtung der Antworten mit den Beschäftigungsanteilen war das Arbeitsrecht mit 15% immerhin noch an vierter Stelle, hinter Ertragslage (27%), Restrukturierung (19%) und Auftragslage (18%). Vergegenwärtigt man sich weiterhin wie schwer von staatlicher Seite aus die Restrukturierung, die Ertrags- und Auftragslage zu beeinflussen sind, wird deutlich, welche Bedeutung dem Arbeitsrecht beim Abbau von Beschäftigungshindernissen zukommen könnte.205 Welche Bedeutung im Rahmen des Arbeitsrechts dabei der Bestandsschutz hat, verdeutlicht eine Befragung von 1082 Firmen (repräsentativer Querschnitt) durch das Institut für Mittelstandsforschung.206 Immerhin 48% der Unternehmen des produzierenden Gewerbes und 41% des Dienstleistungsbereichs gaben dabei an, dass die Kündigungsschutzvorschriften für sie ein Einstellungshindernis seien. Davor rangierten nur noch die Höhe der gesetzlichen (78 bzw. 67%) und der tariflichen (51 und 33%) Lohnnebenkosten als Einstellungshindernisse. Auch im Arbeitsalltag der Justiz nimmt das Arbeitsrecht einen großen Raum ein. So gab es am 31. 12. 2001 alleine 122 Arbeitsgerichte (erstinstanzliche), während zum Vergleich nur 52 Verwaltungsgerichte (erstinstanzliche) existierten. Die erstinstanzlichen Arbeitsgerichte erledigten im Jahr 2000 zusammen 574.644 Klagen, wovon fast die Hälfte, nämlich 246.808, auf einer Kündigung beruhte. Dies waren zum Vergleich fast so viele Klagen wie die erstinstanzlichen Strafgerichte (846.181) verhandelten und allein die Anzahl der Kündigungsschutzklagen übertraf deutlich die Anzahl der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichtsentscheidungen (215.490). Von den gesamten Verfahren der Zivilgerichtsbarkeit (Zivilgerichte, Familiengerichte und Arbeitsgerichte) sind etwa ein Viertel arbeitsrechtliche Verfahren.207 Die faktische Bedeutung der Ausgestaltung des Kündigungsschutzes lässt sich auch aus den Arten der Beendigung des Arbeitsverhältnisses erkennen. Aus der Statistik der Bundesanstalt für Arbeit ergibt sich: 204 205 206 207

Iwd 27 / 1997, S. 4. Iwd 27 / 1997, S. 4. Iwd 7 / 1997, S. 8 – Mehrfachnennungen waren dabei möglich. Die Zahlen stammen alle aus Statistisches Jahrbuch (2002), S. 341 – 346.

76

1. Kap.: Überblick Anteil an den Arbeitslosenmeldungen nach abhängiger Erwerbstätigkeit in %

Art der Beendigung

Insgesamt

Männer

Frauen

Selbstkündigung

16,3

12,8

21,1

Kündigung durch den Arbeitgeber

56,7

64,2

46,3

3,3

3,3

3,3

23,8

19,8

29,3

Gegenseitiges Einvernehmen Befristetes Arbeits- / und Ausbildungsverhältnis Quelle: BT-Dr. 10 / 6441, S. 6.

Für die vorliegende Arbeit erwies es sich als sehr hinderlich, dass die letzte umfangreichere rechtstatsächliche Untersuchung über die Kündigungspraxis und den Kündigungsschutz in Deutschland aus dem Jahre 1981 stammt. Diese Untersuchung von Falke / Höland / Rhode / Zimmermann208 basiert auf Daten aus den Jahren 1978 – 1980 und ist wegen der seitdem erfolgten ökonomischen, politischen und sozialen Veränderungen nur noch sehr begrenzt aussagefähig.209 Sehr interessant ist dieses Rechtsgebiet auch aufgrund seines starken verfassungsrechtlichen Bezuges. Im Rahmen der späteren Analyse werden daher auch die Einflüsse unserer Staatsordnung auf den Arbeitsmarkt sichtbar.

II. Normsetzende Akteure Bevor wir uns der Grundstruktur des Arbeitsrechts und insbesondere des Bestandsschutzes widmen, sollen noch diejenigen näher beschrieben und ihre Handlungen analysiert werden, die das Arbeitsrecht geschaffen und weiterentwickelt haben. Der Analyse des Verhaltens der Handlungsträger, die hier vorgenommen werden soll, widmet sich in der volkswirtschaftlichen Theorie die Neue Politische Ökonomie. Ihr Ziel ist es, wie oben [Abschnitt B. I.] dargelegt, die Entscheidungsträger zu endogenisieren und die Bestimmungsgründe ihres Handelns aufzudecken. Generell hat sich in der Wirtschaftswissenschaft die Annahme eines persönlichen Nutzenkalküls (Eigennutzaxiom) als ergiebiges Erklärungsinstrument für menschliches Verhalten erwiesen. Es lag daher nahe, diese Annahme auch auf das Verhalten der politischen Entscheidungsträger anzuwenden. Bei wissenschaftlichen Erörterungen hat sich die Annahme, dass sich Menschen auch im politischen Raum eigennützig verhalten, mittlerweile durchgesetzt.210 Falke / Höland / Rhode / Zimmermann (1981). Vgl. zur Einschätzung der damals ermittelten Daten Preis, U. (2000), Grundlagen B., RN 20 ff. 208 209

C. Arbeitsrechtlicher Bestandsschutz als Teil der Arbeitsmarktordnung

77

Vorrangig wird bei der Analyse das Verhalten von politischen Entscheidungsträgern wie dasjenige von Politikern, Bürokraten und Funktionären untersucht. Das Verhalten von Richtern und damit der dritten Gewalt im Staat wird nur sehr selten untersucht.211 In der hier vorliegenden Arbeit soll neben dem am Rande behandelten Verhalten der Politiker gerade dasjenige der Richter untersucht werden, da dessen Bedeutung für das geltende Arbeitsrecht und dessen Weiterentwicklung kaum zu überschätzen ist. Bisher sind zwar arbeitspolitische Probleme nur selten mit den Mitteln des methodologischen Individualismus analysiert worden,212 aber es erscheint durchaus vielversprechend, es zu tun. Die Regelungen des Arbeitsrechtes beruhen im wesentlichen auf vier Rechtsquellen. Dies sind zum einen gesetzliche Bestimmungen und richterliche Rechtsausgestaltung und -fortbildung wie in jedem anderen Rechtsgebiet auch. Hinzu kommen beim Arbeitsrecht aber auch noch die kollektiven Vereinbarungen der Tarifpartner. Für das einzelne Arbeitsverhältnis können zusätzlich noch die Betriebsvereinbarungen der Betriebspartner relevant sein. Geht man von diesen vier Rechtsquellen des Arbeitsrechts aus, ergeben sich folgende Akteure. Die gesetzlichen Bestimmungen werden, soweit es sich um formelle Gesetze handelt, von Parlamenten verabschiedet. Mitglieder dieser Parlamente – und damit Akteure – sind Politiker. Ebenso werden die materiellen Gesetze, z. B. Verordnungen von den zuständigen Ministern, d. h. ebenfalls von Politikern erlassen.213 Die Rechtsgestaltung durch die Gerichte erfolgt durch Richter. Die Tarifverträge werden auf der einen Seite von Gewerkschaften bzw. ihren Funktionären geschlossen, auf der anderen Seite stehen entweder der einzelne Arbeitgeber oder Funktionäre der Arbeitgeberverbände. Weitere Akteure, welche die arbeitsrechtlichen Normen prägen, sind die Mitglieder der Betriebsräte und der Arbeitgeber bzw. seine Vertreter. Diese schließen Betriebsvereinbarungen, die für das einzelne Arbeitsverhältnis Normwirkung haben. In der vorliegenden Arbeit konzentrieren sich die Darstellung und Analyse auf das Verhalten der Akteure Politiker und insbesondere Richter. Die Gründe liegen einerseits in dem geplanten Umfang und dem deshalb eingeschränkten Thema der Arbeit. Andererseits ist aber auch die Analyse des Verhaltens der „Staatsdiener“ 210 So z. B. Frey, B. (1995), S. 344. Er geht sogar soweit zu behaupten, dass sich derjenige der Lächerlichkeit preisgäbe, „der behauptet, Regierungen und Bürokraten würden die gesellschaftliche Wohlfahrt maximieren“. 211 Ein sehr schönes Beispiel hierfür bietet die Deregulierungskommission (1990), S. 31 f. Sie führt die Tendenzen zur Überregulierung und Fehlregulierung auf die Eigeninteressen der Politiker und der Bürokratie zurück und analysiert deren Eigeninteresse. Das Verhalten von Richtern als Ursache für Über- und Fehlregulierungen und dessen Ursachen werden in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. 212 Keller, B. (1993), S. 4. 213 Daneben wirken an der Gesetzgebung insbesondere bei der Vorbereitung auch die Beamten in den Ministerien mit, die aber wegen ihres nur mittelbaren Einflusses im Rahmen dieser Arbeit nicht näher untersucht werden sollen.

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1. Kap.: Überblick

erfolgversprechender, da auf sie mittels Regeländerungen (auf der Ebene der Regelerstellungsordnung) besser eingewirkt werden kann, als auf „private Akteure“.

1. Politiker und ihr Handlungsraum a) Handlungsraum der Politiker Politiker haben auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, wie generell bei der Gestaltung eines Rechtsgebietes, einen weiten Handlungsspielraum. Begrenzt wird dieser Spielraum durch die Verfassung und deren Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht. Allerdings sind (in gewissem Rahmen) auch Verfassungsänderungen möglich, die aber aufgrund der erforderlichen qualifizierten Mehrheit schwer durchsetzbar sind. Daneben wird der Handlungsraum der Politiker indirekt durch die Wirkungen des Wettbewerbs unter den Politikern und vor allem unter den Parteien begrenzt. Viele im Rahmen der Verfassung zulässigen Handlungen sind für den einzelnen Politiker (bzw. die Parteien) praktisch nicht durchführbar, da er in regelmäßigen Abständen entweder von der Bevölkerung oder innerparteilich wiedergewählt werden muss. Dies bewirkt, dass sich der einzelne Politiker zumindest langfristig an den Interessen seiner Wähler orientieren muss und daher nicht alle, nach der Verfassung theoretisch möglichen, Handlungen vornehmen kann. Diese Beschränkung durch den Wettbewerb ist in der täglichen Praxis wesentlich einschneidender als die relativ weiten Grenzen des Verfassungsrechts. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass es gerade auch Funktion der Verfassung ist, den Wettbewerb der Politiker sicherzustellen und zu regulieren, so dass es sich bei dem Wettbewerb zwischen Politikern um oder innerhalb von Regierungen214 gewissermaßen um einen Reflex der Verfassung handelt. Dieser Wettbewerb ist es auch, der im Bereich des Arbeitsmarktes und seiner Regelungen die einschneidenste Beschränkung des Handlungsraumes der Politiker darstellt. Durch diese Art des Wettbewerbs und den damit zusammenhängenden Einfluss verschiedenster Interessengruppen ist es viele Jahre hindurch praktisch zu einem Stillstand der Gesetzgebung zum Bestandsschutz gekommen. Daneben tritt als Beschränkung des Handlungsraums der Politiker in letzter Zeit verstärkt noch ein Wettbewerb zwischen Regierungen um Ressourcen auf. Dabei geht es den Regierungen und damit auch den Politikern darum, möglichst viele Ressourcen in ihr eigenes Land zu ziehen, um diese beispielsweise besteuern zu können oder mit ihrer Hilfe Arbeitsplätze zu schaffen. Am deutlichsten wird dieser Wettbewerb um Ressourcen im Bereich des Kapitals. Der Grund dafür ist, dass Kapital im Vergleich zu anderen Ressourcen, insbesondere Arbeitskräften und dem damit verbundenen Humankapital relativ flexibel ist, d. h. wenig Migrationskosten verursacht.215 214

Diese Formulierung stammt aus Vanberg, V. (1994), S. 22 ff.

C. Arbeitsrechtlicher Bestandsschutz als Teil der Arbeitsmarktordnung

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Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Regelrahmen des Politikers und damit aus Sicht des Bürgers die Regelerstellungsordnung durch die Vorschriften der Verfassung selbst, durch den durch die Verfassung geregelten Wettbewerb zwischen den Politikern und Parteien sowie durch den Wettbewerb zwischen verschiedenen Regierungen gebildet wird.216 Die wichtigste Handlungsform der Politiker ist die Gesetzgebung in Form von formellen und materiellen Gesetzen. Diese Gesetzgebung ist zwar für den Politiker die Ausfüllung der Handelnsordnung – für den Bürger hingegen die Gestaltung des Regelrahmens. Daneben haben Politiker aber auch noch die Möglichkeit durch Beeinflussung der anderen Akteure (z. B. der Tarifvertragspartner oder der Richter), auf deren Normbildung einzuwirken. Dies kann zum Beispiel durch Verhaltensappelle, durch Beeinflussung der öffentlichen Meinung oder auch durch Androhung von Gesetzesänderungen erfolgen.

b) Annahmen zum Verhalten von Politikern Zum Verhalten von Politikern wurden sehr viele Untersuchungen durchgeführt. Grundlegend ist dabei das Werk von Downs.217 Danach verfolgen Politiker in erster Linie das Ziel, ihre Wiederwahl zu sichern. Sie verhalten sich dabei als „politische Unternehmer“ und streben nach Wählerstimmenmaximierung. Aufbauend auf diesem Konzept wurden viele Erweiterungen, z. B. für die verschiedensten Wählerverteilungen oder politischen Systeme entwickelt. Insgesamt sind mit Hilfe dieser Erweiterungen die Erklärung und manchmal auch die Prognose von Entscheidungsprozessen der Politiker recht gut möglich.

2. Richter und ihr Handlungsraum a) Handlungsraum der Richter Nach verbreiteter Auffassung ist die Aufgabe des Richters darauf beschränkt, die für den konkreten Fall passende Norm zu finden und anzuwenden.218 Montesquieu drückte diese Funktion als „la bouche, qui prononce les paroles de la loi“219 aus. 215 Für einen Bürger ist der Wechsel zwischen verschiedenen Gebietskörperschaften nur durch eine Verlegung seines Wohnsitzes und damit verbundene Kosten möglich. Kapital dagegen ist häufig mittels einer einfachen Überweisung übertragbar. 216 Einen Einblick in die Bedeutung des Wettbewerbs zwischen Regierungen insbesondere für die Gestaltung einer Verfassung Europas bietet Vanberg, V. (1994), S. 23 ff. 217 Grundlegend Downs, A. (1957). 218 Voigt, R. (1990), S. 124. 219 Montesquieu in „De l‘esprit des lois“, zitiert nach Hergenröder, C. (1995), S. 1.

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1. Kap.: Überblick

Dieses Bild von der richterlichen Aufgabe entspricht aber nicht mehr der herrschenden Rechtslehre, noch entsprach es jemals der Realität. Mittlerweile ist es allgemein anerkannt, dass es nicht möglich ist, alle auftretenden Konflikte bereits im Voraus durch Gesetze zu lösen,220die der Richter dann nur noch anwenden müsste.221 Der tatsächliche Handlungsraum des Richters wird erkennbar, wenn man seine Arbeit bei einer Entscheidung betrachtet. Die erste Aufgabe besteht für ihn darin, anhand der prozessrechtlichen Vorschriften diejenigen Tatsachen zu ermitteln, auf die es für seine Entscheidung ankommt.222 Es folgt die Suche nach den auf den Sachverhalt passenden Normen. Die gefundenen Normen müssen dann ausgelegt werden, „d. h., dass ihr hier maßgeblicher genauer Sinn festgestellt wird“223, um die anschließende Subsumption zu ermöglichen. Bereits hierbei hat der Richter einen erheblichen Spielraum, in den subjektive Komponenten mit einfließen. Besonders groß wird sein Spielraum jedoch dann, wenn der Gesetzgeber unbestimmte Rechtsbegriffe224 oder Generalklauseln225 verwendet hat. Hier muss der Richter einen häufig sehr allgemeinen Rahmen durch seine eigenen Wertungen ausfüllen.226 Unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln verwendet der Gesetzgeber (vor allem im Arbeitsrecht) in letzter Zeit zunehmend, so dass einige Autoren bereits von einer „Flucht des Gesetzgebers in die Generalklausel“ 227 sprechen. Die Ursache hierfür ist darin zu suchen, dass Gesetze häufig als Kompromisse zwischen kontroversen Vorstellungen von Regierung, Parlament, Parteien und Verbänden zustande kommen. Sie sind dann häufig der „kleinste gemeinsame Nenner“ und entsprechend unscharf sind auch die enthaltenen Aussagen.228 Sehr ausführlich dazu Herzog, R. (1993), S. 200 ff. v. Hayek drückt diesen Sachverhalt folgendermaßen aus: „Daß der Richter zu seinen Entscheidungen ausschließlich durch einen Prozeß logischer Ableitung aus expliziten Prämissen gelangen kann oder soll, ist immer nur eine Fiktion gewesen und muß eine sein. ( . . . ) Die andere Ansicht ist ein charakteristisches Produkt des konstruktivistischen Rationalismus, der alle Regeln als bewußt geschaffen und daher einer erschöpfenden Darstellung fähig ansieht.“ (v. Hayek, F. (1980), S. 159). 222 Dabei gibt kein Rechtssatz dem Richter vor, wann er eine Tatsache für wahr zu halten hat. Dies erfolgt ausschließlich nach seiner freien (subjektiven) richterlichen Überzeugungsbildung. Siehe dazu Wassermann, R. (1989), S. 35. 223 Larenz, K. (1983), S. 118. 224 Ein unbestimmter Rechtsbegriff ist ein solcher, dessen Inhalt nicht durch einen festumrissenen Sachverhalt ausgefüllt wird, sondern bei der Rechtsanwendung auf einen gegebenen Tatbestand im Einzelfall einer Fixierung bedarf (Creifeldts, C. (1994), S. 1213). 225 Eine Generalklausel ist ein normativer Rechtsbegriff, der vom Gesetzgeber verwendet wird, um durch die allgemein gehaltene Formulierung möglichst viele Tatbestände zu erfassen (Creifeldts, C. (1994), S. 479). 226 Larenz, K. (1983), S. 118. 227 Vgl. Hergenröder, C. (1995), S. 4. 228 Siehe Voigt, R. (1990), S. 124. 220 221

C. Arbeitsrechtlicher Bestandsschutz als Teil der Arbeitsmarktordnung

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Weitere Spielräume für eigene Wertungen eröffnen sich dem Richter dort, wo er selbst rechtsschöpferisch tätig werden kann. Dies ist im Bereich von Gesetzeslücken, einem vom Gesetzgeber gar nicht geregelten Bereich, der Fall.229 Einen sehr weiten Spielraum hat in Deutschland weiterhin das BVerfG, das u. a. die Aufgabe hat, die Vereinbarkeit von Normen mit dem Grundgesetz zu prüfen. Es ist dabei allein an das sehr allgemein formulierte Grundgesetz gebunden. Der einzelne Richter (bzw. die Rechtsprechung als Ganzes230) hat somit einen weiten Handlungsspielraum, da er unbestimmte Rechtsbegriffe auslegt, Generalklauseln anwendet, rechtsschöpferisch tätig wird und den Gesetzgeber anhand des Grundgesetzes kontrolliert. Hinzu kommt noch, dass der Gesetzgeber sich bei neuer Rechtssetzung häufig von der bisherigen Rechtsprechung zu dem entsprechendem Problembereich leiten lässt. Die Restriktionen, denen der Richter bei seiner Tätigkeit unterliegt, und damit die Regelerstellungsordnung, bestehen einerseits aus Vorschriften der Verfassung und andererseits aus einfachen Gesetzen, seien sie prozessrechtlicher oder materiellrechtlicher Natur. Die Verfassung ist sehr unbestimmt und auch die einfachen Gesetze lassen, wie gesehen, dem Richter einen weiten Spielraum. Zudem ist die Regelerstellungsordnung der Richter im Gegensatz zu derjenigen der Politiker nicht durch Wettbewerb gekennzeichnet. Durch klare Zuständigkeitsregeln und Geschäftsverteilungspläne ist den Prozessparteien die Auswahl zwischen verschiedenen Richtern weitestgehend versagt.231 Letztlich bietet auch der ,Karierreweg‘ der Richter keinen Anlass zu echter Konkurrenz; zumindest spiegeln sich die Zufriedenheit oder die Interessen der Bürger bei einer Beförderung oder Berufung von Richtern nicht wider. Daneben ist allerdings der Handlungsraum des einzelnen Richters in gewissem Umfang durch die Rechtsprechung der höheren Gerichte beschränkt. Beurteilt er Rechtsfragen anders als die obere Instanz, muss er damit rechnen, dass es im Wege eines Rechtsmittels zu einer Aufhebung seiner Entscheidung kommt. Diese Beschränkung beeinflusst aber die richterliche Regelsetzung, um die es uns insbesondere geht, nur in geringem Umfang. Grund dafür ist, dass die Regelsetzung und -fortbildung vorrangig in den oberen Instanzen und insbesondere beim BAG geschieht, dieses aber kein Gericht des normalen Rechtszuges mehr über sich hat. Zudem führt die Möglichkeit der Aufhebung eines Urteils nicht zu einer Veränderung des Verhaltens der Akteure, da es nicht zu einem Wettbewerb kommt, sondern nur zu einer Rechtmäßigkeitskontrolle. Voigt, R. (1990), S. 124. Wenn in dieser Arbeit häufig von der „Rechtsprechung“ die Rede ist, ist dies nur eine Vereinfachung, die aufgrund der Unmenge von Urteilen mit den verschiedensten Tendenzen notwendig ist. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass der eigentliche Entscheidungsträger der einzelne Richter ist und nicht die Rechtsprechung oder die Richterschaft als „soziales Kollektivgebilde“. Siehe zum methodologischen Individualismus ausführlich Vanberg, V. (1982), S. 1 ff. 231 Eine gewisse Ausnahme besteht nur, wenn verschiedene Zuständigkeiten eingreifen, aber auch in diesem Fall bezieht sich die Wahl nur auf den Gerichtsstand, niemals aber auf einen einzelnen Richter. 229 230

6 von Klitzing

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1. Kap.: Überblick

Der gesamte Handlungsspielraum des Richters ist wegen der Unbestimmtheit der Gesetze sowie mangelnden Wettbewerbs sehr groß. Dies gilt in gewissem Maße für alle Rechtsgebiete aufgrund der besonders ausgeprägten Unbestimmtheit der Gesetze im Arbeitsrecht aber insbesondere für dieses Rechtsgebiet. Es ist daher nicht übertrieben, wenn gesagt wird: „Der Richter ist der eigentliche Herr des Arbeitsrechts“232. Da dem Richter somit ein eigener Spielraum bleibt, ist zu fragen, welche Überlegungen und Motivationen ihn zu seiner konkreten Entscheidung bewegen und nach welchen Beweggründen die Rechtsprechung insgesamt ihre Handlungsräume ausfüllt und damit den Regelrahmen für die Bürger setzt.

b) Annahmen zum Verhalten von Richtern Bevor wir zu der eigentlichen Untersuchung des Verhaltens der ,Richter‘ kommen, muss hier noch dargestellt werden, wer im Arbeitsrecht überhaupt der ,Richter‘ ist. Die Gerichte für Arbeitssachen sind nämlich in allen Instanzen mit Berufsrichtern und ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer besetzt (§ 6 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG)). In den sog. Tatsacheninstanzen – Arbeitsgerichten und Landesarbeitsgerichten –, also in den Instanzen, in denen auch der zugrundeliegende Sachverhalt aufgeklärt wird, sind je Spruchkörper (Kammer) ein berufsrichterlicher Vorsitzender und je ein ehrenamtlicher Richter der Arbeitnehmerseite und der Arbeitgeberseite beteiligt. Beim Bundesarbeitsgericht ist der Spruchkörper (Senat) hingegen mit drei Berufs- und zwei ehrenamtlichen Bundesarbeitsrichtern besetzt.233 Grundsätzlich sind die ehrenamtlichen Richter gleichberechtigte Mitglieder des Spruchkörpers. In der Praxis beschränkt sich ihre Mitwirkung jedoch auf die Beteiligung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung. Ihre Aufgabe besteht vor allem darin, ihre Sachkenntnis in den Prozess und insbesondere in die Tatsachenfeststellung einzubringen. Zudem sollen sie den Prozessbeteiligten das Bewusstsein vermitteln, dass ihr Anliegen von Repräsentanten der eigenen sozialen Gruppe gewürdigt wird.234 Gamillscheg, F. (1964), S. 388. Der große Senat des Bundesarbeitsgerichts wird mit der Besetzung durch je einen Berufsrichter eines jeden Senates und je drei ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber tätig (vgl. § 45 ArbGG). Zur Berufung der Richter: Die Berufsrichter werden auf Vorschlag der zuständigen obersten Landesbehörde und nach Anhörung eines beratenden Ausschusses bzw. der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbänden berufen. Die ehrenamtlichen Richter hingegen werden auf Vorschlag der Verbände für die Arbeits- und Landesarbeitsgerichte vom der obersten Landesbehörde ernannt. Näheres dazu wie auch zur Berufung der Bundesarbeitsrichter in Gift, E. / Bauer, H. (1993), S. 18 ff. 234 Vgl. Gift, E. / Bauer, H. (1993), S. 33. 232 233

C. Arbeitsrechtlicher Bestandsschutz als Teil der Arbeitsmarktordnung

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Dem Berufsrichter als Vorsitzendem hingegen obliegt allein die Durchführung von Güteverhandlungen, in denen über die Hälfte der Prozesse erledigt wird, er bereitet die mündliche Verhandlung vor, führt diese und trifft alle außerhalb der Verhandlung anfallenden Verfügungen und Beschlüsse. Schon aus diesem Grunde kommt ihm natürlich ein gewisses Übergewicht bei der Rechtsfindung zu. Dieses wird durch seine Rechtskenntnisse und Erfahrung sowie seine genauere Aktenkenntnis stark erweitert, da die ehrenamtlichen Richter natürlich juristische Laien sind und die Akten nicht oder nur in beschränktem Umfang kennen.235 Zudem wird der Berufsrichter im Normalfall auch deshalb bei einer Entscheidung den Ausschlag geben, da er sich gewissermaßen in einer Mittelposition befindet. Während die ehrenamtlichen Richter tendenziell eher dem Begehren ihrer ,eigenen Gruppe‘ zuneigen werden, ist der Berufsrichter von der Stellung her neutral. Aus diesen Gründen wird es wohl praktisch nie vorkommen, dass die ehrenamtlichen Richter den Berufsrichter überstimmen und so ein Urteil gegen dessen Überzeugung zustande kommt.236 Bei der Regelbildung durch die Rechtsprechung wird das Übergewicht der Berufsrichter noch dadurch verstärkt, dass die Senate der wichtigsten Instanz, nämlich des Bundesarbeitsgerichts, in der Mehrzahl durch Berufsrichter besetzt sind. Dessen ungeachtet bilden die ehrenamtlichen Richter für den Handlungsspielraum des Berufsrichters eine gewisse Einschränkung, da er zumindest auf der Ebene der Arbeitsgerichte einen seiner Beisitzer von dem ihm angestrebten Urteil überzeugen muss, und auch in den höheren Instanzen wohl regelmäßig ein Konsens der Richter untereinander angestrebt wird. Aufgrund des klaren Übergewichts der Berufsrichter können wir uns aber bei der Analyse des richterlichen Verhaltens auf diesen konzentrieren. Der Berufsrichter spielt im Rahmen der Regelsetzung die entscheidende Rolle. Wenn daher im folgendem vereinfachend von ,Richter‘ oder ,Arbeitsrichter‘ die Rede ist, ist damit der Berufsrichter gemeint. Bei dem Versuch die inneren Beweggründe für das Verhalten von Richtern (Berufsrichtern) zu ermitteln, stößt man vor allem auf ein Problem: es ist kein eigennütziges Ziel erkennbar, das die Richter anstreben könnten. Grund dafür ist in Posners Worten, dass „die Regeln des Gerichtsverfahrens sehr sorgfältig so angelegt [sind], dass der Richter daran gehindert wird, aus der Entscheidung eines Falls in dieser oder der anderen Richtung einen geldwerten Vorteil zu ziehen“.237 235 Siehe zu diesen Gründen für das Übergewicht des Berufsrichters Blinkert, G. / Eylert, M. (1989), S. 872. 236 So auch Däubler, W. (1998), S. 1104, der angibt: „In der Praxis dominiert der Berufsrichter das Verfahren.“ oder auch Blinkert, G. / Eylert, M. (1989), S. 872, die meinen: „Der Berufsrichter als Vorsitzender der Kammer dominiert das arbeitsgerichtliche Verfahren. Er ist nicht lediglich einmal nur ,primus inter pares‘, seine tatsächliche Stellung geht darüber hinaus.“ 237 Dies sagt Posner für die USA, es gilt aber mindestens ebenso für Deutschland. Siehe Posner, R. (1977), S. 415; die Übersetzung stammt aus Assmann, H. (1978), S. 365.

6*

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1. Kap.: Überblick

Zudem ist der Richter weitestgehend unabhängig. Die sachliche und persönliche Unabhängigkeit der Richter ist durch Art. 97 i. V. m. Art 98 und 92 Hs. 1 GG geregelt. So lautet Art. 97 GG: „(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. (2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder in den Ruhestand versetzt werden. ( . . . ).“ Aufgrund dieser Verfassungsvorschrift und ihrer Auslegung ist der Richter in sachlicher Hinsicht unabhängig, da er Anweisungen (Einzelanweisungen, Verwaltungsvorschriften, etc.) und vermeidbaren Einflussnahmen der Exekutiven, auf seine rechtsprechende Tätigkeit, einschließlich vor- und nachfolgender Entscheidungen, nicht unterliegt. Zudem ist er auch unabhängig gegenüber der rechtsprechenden Gewalt selbst und darf daher grundsätzlich von der Rechtsauffassung übergeordneter Gerichte abweichen. Des weiteren ist seine sachliche Unabhängigkeit gegenüber privater und gesellschaftlicher Einflussnahme geschützt. Die persönliche Unabhängigkeit zeigt sich insbesondere im Verbot der Amtsenthebung und der Versetzung sowie natürlich in der gesetzlich festgelegten Entlohnung.238 Auch aufgrund dieser Unabhängigkeit fällt es schwer, das Verhalten der Richter und dessen inneren Beweggründe zu deuten. Trotz dieser Schwierigkeiten gibt es einige (wenige) Ansätze zur Erklärung richterlichen Verhaltens. Diese im Folgenden vorgestellten Ansätze zur Erklärung des Verhaltens der Richter und ihrer inneren Beweggründe, beziehen sich dabei zumeist auf den common law Richter (angloamerikanisches Rechtssystem). Dieser hat zwar von der Rechtskonzeption her einen weiteren Spielraum für eigene Entscheidungen, insgesamt ist seine Stellung aber nicht fundamental anders als die eines Richters im codified law System (kontinentaleuropäisches Rechtssystem). Im Gegenteil kann man davon sprechen, dass sich das common law und das codified law im Hinblick auf Stellung und Spielraum des Richters immer mehr annähern und sich somit die Rolle des Richters ähnlicher wird.239 Daher wäre es grundsätzlich auch möglich, Ansätze, die auf den common law Richter zugeschnitten sind, zu übernehmen. Insbesondere die Stellung des „federal appelate judge“, den z. B. Posner vorrangig untersucht, dürfte der des deutschen Richters nicht unähnlich sein.240 Die oben dargestellten Schwierigkeiten bei der Analyse des richterlichen Verhaltens werden dabei auch bei den auf den common law Richter bezogenen Ansätzen 238 Näheres zur Unabhängigkeit der Richter findet sich in jeder Kommentierung zu den genannten Vorschriften des GG. Als Beispiel kann Jarass, H. / Pieroth, B. (1997), Art. 97 dienen. 239 Hergenröder, C. (1995), S. 5 f. 240 Dies gilt verstärkt für einen Arbeitsrichter der, wie unten gezeigt wird, einen besonders weiten Spielraum hat.

C. Arbeitsrechtlicher Bestandsschutz als Teil der Arbeitsmarktordnung

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erkannt. Posner241 beispielsweise meint: „It is the unique insulation of federal appelate judges from accountability that makes their behavior such a challenge to the economic analysis of law, and more broadly to the universalist claims of the economic theory of human behavior.“ Ähnlich drückt es auch Cooter242 aus: „Federal judges are systematically insulated from the influences impining upon other people because life tenure is virtually certain and salary is independent of particular decicions. Becoming a federal judge usually involves an economic sacrifice, so the usual economic assumptions about maximize income does not apply. Another possibility is that judges try to maximize their promotion prospects within the judical system ( . . . ). However, the process of promotion within the judical system is too random to discipline judges effictively.“

aa) Higgins / Rubin Ein erster Ansatz stammt von Higgins und Rubin.243 Diese gehen von der Hypothese aus, dass der „Richter seine Wertvorstellungen in der Gesellschaft verwirklichen“ will und danach seine Entscheidungen ausrichtet. Er ist dabei durch die Möglichkeit der Aufhebung seiner Urteile durch ein höheres Gericht eingeschränkt und möchte eine Aufhebung vermeiden. Higgins / Rubin versuchen unter dieser Annahme mit Hilfe eines Nutzenmaximierungsansatzes, zu Ergebnissen zu gelangen. Der Nutzen soll dabei eine Funktion aus der Willkürpräferenz, dem Einkommen und dem Alter eines Richters sein. Als Nebenbedingungen sollen einerseits die Aufhebungsrate vom Dienstalter und einem Indikator, der die Parteizugehörigkeit des Richters mit den politischen Mehrheitsverhältnissen des Appellationsgerichts verknüpft, abhängen. Anderseits soll das Einkommen eine Funktion der Aufhebungsrate und des Dienstalters sein.244 Die Überprüfung dieses Ansatzes, anhand von zwei statistischen Tests, war jedoch negativ. Weder das Alter noch das Dienstalter hatten erkennbaren Einfluss auf die Urteile. Auch konnten weder Beziehungen zwischen Willkürausübung und Einkommen noch zwischen der Anzahl erfolgreicher Berufungen und Aufstiegschancen festgestellt werden.245 Aber selbst wenn sich dieser Ansatz bestätigt hätte, würde er noch keine konkreten Aussagen über die Rechtsprechung zu einem bestimmten Gebiet zulassen, solange die konkreten Wertvorstellungen des Richters bzw. der Mehrheit der Richter, nicht zu erkennen sind.

Posner, R. (1995), S. 112. Cooter, R. (1983), S. 129. 243 Higgins, R. / Rubin, P. (1980), S. 129 ff. 244 Higgins, R. / Rubin, P. (1980), S. 130 ff. 245 So bereits Higgins, R. / Rubin, P. (1980), S. 137 f. in der besagten Untersuchung. Siehe zur Untersuchung von Higgins / Rubin auch Brühlmeier, D. (1990), S. 8 f. 241 242

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1. Kap.: Überblick

bb) Cooter Ein anderer Erklärungsansatz stammt von Cooter,246 der von einer in Kalifornien gebotenen Möglichkeit der streitenden Parteien, sich einvernehmlich an einen privaten Richter zu wenden (ihn quasi zu mieten), ausgeht. Nach Cooter versuchen diese Richter durch möglichst viele und möglichst „gute“ Urteile, ihr Einkommen zu maximieren, was voraussetzt, dass viele streitende Parteien sie wählen. Um dies zu erreichen, müssten sie effiziente Lösungen finden, die beide Parteien akzeptabel fänden.247 Öffentliche Richter, so meint Cooter, würden sich ähnlich verhalten. Ihnen läge ebenfalls viel an der Wertschätzung der Parteien sowie der Anwälte, die im Idealfall die Parteien und ihre Anwälte wünschen ließe, ihren Rechtsstreit von ihm geschlichtet zu sehen.248 Dieser Ansatz hat vor allem zwei Mängel.249 Er lässt keinen Grund erkennen, warum ein öffentlicher Richter so großen Wert auf die Wertschätzung der Parteien legen sollte. Des weiteren kann bei einer Einzelfallentscheidung eines Richters kaum von Effizienz für die Parteien gesprochen werden, da es sich wohl immer um ein Nullsummenspiel handeln wird.250 Was der Richter einer Partei zuerkennt, geht zu Lasten der anderen. cc) Posner Ein weiterer Ansatz stammt von Posner.251 Posner sieht, ähnlich wie Higgins / Rubin in ihrer Hypothese unterstellen, das richterliche Eigeninteresse in der Produktion von Präjudizien mit der Absicht „ihre Präferenzen, Neigungen und Wertvorstellungen usw., der Gesellschaft aufzuprägen“252. Unabhängig von den negativen Ergebnissen von Higgins / Rubin gibt es auch bei diesem Ansatz keinen Anhaltspunkt, welche Richtung die Entscheidung eines Richters bzw. welche Tendenz die Rechtsprechung (z. B. im Arbeitsrecht) nehmen wird, solange nicht auch in der Richterschaft besonders ausgeprägte Präferenzen, Neigungen etc. identifiziert werden.

246 Cooter, R. (1983), S. 107 – 132. Siehe hierzu auch Brühlmeier, D. (1990), S. 14 ff., der sich allerdings auf einen nicht veröffentlichten Vortrag Cooters bezieht. 247 Cooter, R. (1983), S. 125. 248 Cooter, R. (1983), S. 129 f. 249 Zu diesen sowie weiteren Kritikpunkten siehe bereits Rubin, P. (1983), S. 133 ff. in einem Kommentar zu Cooters Aufsatz. 250 Vgl. Schäfer, H. / Ott, C. (1986), S. 308. 251 Vgl. z. B, Posner, R. (1977), S. 404 – 417 oder auch Posner, R. (1995), S. 109 ff. 252 So Posner, R. (1977), S. 416; Übersetzung aus Assmann, H. (1978), S. 416.

C. Arbeitsrechtlicher Bestandsschutz als Teil der Arbeitsmarktordnung

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dd) Rechtssoziologische Ansätze Neben den oben dargestellten, eher aus der Public Choice Theorie253 stammenden, Ansätzen, wurde versucht, die richterliche Entscheidung soziologisch zu erklären. Insbesondere wurde versucht, die Herkunft der Richter – sie kommen (oder kamen) meistens aus der oberen Mittelschicht – oder ihre parteipolitische Einstellung als entscheidend für ihr Verhalten darzustellen.254 Diese Versuche sind jedoch wohl weitgehend als gescheitert zu betrachten. Die wohl umfangreichste Untersuchung zu den rechtssoziologischen Hintergründen und Einstellungen des Richters, die möglicherweise seine Entscheidung beeinflussen könnten, hat auf dem Gebiet des Arbeitsrechts Rottleuthner255 in den Jahren 1979 / 1980 durchgeführt. Im Rahmen dieser Untersuchung wurde der relative Einfluss des sozialen Hintergrundes, der Einstellungen und des Verhandlungsverhaltens von Arbeitsrichtern auf das Ergebnis eines Verfahrens bestimmt. Dafür wurden u. a. 35 Richter befragt, 751 ihrer Verhandlungen beobachtet und 635 der entsprechenden Verfahrensakten analysiert. Bei der Befragung wurde der soziale Hintergrund der Richter sowie deren Einschätzungen zu Fragen des Kündigungsschutzes oder ihre Einstellung gegenüber Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden etc. ermittelt. Die Beobachtung der Verhandlungen dagegen diente der Ermittlung des Verhaltens des Vorsitzenden Richters in Bezug auf die Verhandlungsleitung, wobei bewertet wurde, inwieweit er die Verhandlung aktiv leitete, sich zu materiell- oder formalrechtlichen Fragen äußerte oder z. B. versuchte, Informations- oder Verhaltensdefizite der Parteien zu kompensieren. Die Auswertung der Akten diente dann dazu, den Ausgang der beobachteten Verfahren zu bewerten, wobei der Erfolg der Arbeitnehmer gemessen wurde, indem der ursprüngliche Antrag mit dem Ausgang des Verfahrens verglichen wurde und daraus eine Erfolgsquote gebildet wurde.256 Das Ergebnis dieser Untersuchung war, dass zwischen dem sozialen Hintergrund und berufsbezogenen Einstellungen der Richter kaum ein Zusammenhang bestand. Die Einstellung hing eher von aktuellen Merkmalen wie der Gruppenmitgliedschaft ab. Noch wichtiger war das Ergebnis, dass kein Zusammenhang zwischen der allgemeinen Einstellung und dem beruflichen Entscheidungsverhalten festgestellt werden konnte.257 Insbesondere eine arbeitnehmerfreundliche oder sozialfürsorgliche Einstellung der Richter führte nicht zu einem höheren Erfolg der Arbeitnehmer. Im Gegenteil wirkte sich die Mitgliedschaft im DGB überraschenderweise sogar leicht negativ aus.258 Den größten Einfluss auf den Erfolg des Arbeit253 254 255 256 257 258

Zur Erklärung der Public Choice Theorie siehe oben 1. Kapitel Abschnitt B. I. Raiser, T. (1995), S. 391 f. Rottleuthner, H. (1982) und (1984). Vgl. zu den Untersuchungsmethoden Rottleuthner, H. (1982), S. 96 f. Rottleuthner, H. (1982), S. 115 f. Rottleuthner, H. (1982), S. 111 oder auch (1984), S. 296.

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1. Kap.: Überblick

nehmers hatte dagegen die Verhandlungsführung des Richters. Je aktiver er die Verhandlung leitete, desto höher war die Erfolgsquote des Arbeitnehmers, dagegen wirkten sich ein ,belehrender‘ Verhandlungsstil und eine stärkere Vergleichsorientierung eher negativ aus.259 Aufgrund dieser Ergebnisse kam Rottleuthner zu zwei – auch für diese Arbeit – interessanten Schlussfolgerungen. – Soweit sozioökonomische Merkmale, wie der soziale Hintergrund der Richter oder die sozialen Merkmale der Verfahrensparteien, nicht selbst als Tatbestandsmerkmale arbeitsrechtlich relevant sind, schlagen sie sich nicht in einer Ungleichbehandlung nieder, da das Justizsystem ausreichend ,ausdifferenziert‘ ist.260 Der Begriff ,ausdifferenziert‘ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass diese Merkmale durch interne Mechanismen wie richterliche Unabhängigkeit, formale Verfahrensanforderungen, Arbeitstechniken, etc., neutralisiert, d. h. sich nicht mehr auf die Entscheidungsfindung auswirken.261 – Je ,berufsnäher‘ die Merkmale sind, desto mehr Einfluss haben sie auf die Erfolgschancen des Arbeitnehmers. Das geringste Gewicht kommt dem sozialen Hintergrund des Richters zu. Etwas mehr Einfluss haben die aktuellen Einstellungen und sozialen Merkmale des Richters. (Rechts-)politische Einstellungen haben aber zumindest in Routinefällen keinen messbaren Einfluss. Das größte Gewicht kommt den berufsbezogenen Merkmalen wie der Verhandlungsführung zu.262

Diese Studie kann gewisse Anhaltspunkte dafür geben, welche Einflussfaktoren die konkrete Entscheidung des Richters beeinflussen. In diesem Rahmen wird auf sie im Verlaufe des Kapitel 4 und 5 zurückgegriffen werden. Nicht erklären lässt sich mit ihren Ergebnissen, welche mögliche allgemeine Tendenz die Arbeitsrechtsprechung einnimmt. Grund dafür ist, dass kein allgemeiner, d. h. die Mehrzahl der Richter beeinflussender Faktor ausgemacht wurde. Zusammenfassend ist festzustellen, dass bislang keine Theorie das Verhalten der Richter bei der Ausfüllung ihrer Entscheidungsspielräume hinreichend gut erklärt, um eine Aussage über die Tendenzen der Rechtsprechung allgemein oder speziell für den arbeitsrechtlichen Bereich zu treffen.

c) Annahmen zu Ergebnissen der richterlichen Regelbildung Unabhängig von einem tragfähigen Konzept gehen jedoch die meisten Autoren, die sich damit beschäftigt haben, davon aus, dass richterliche Regelbildung der 259 260 261 262

Rottleuthner, H. (1982), S. 112. Rottleuthner, H. (1982), S. 116. Vgl. Rottleuthner, H. (1982), S. 93 f. Vgl. Rottleuthner, H. (1984), S. 296 oder auch (1982), S. 82, 110 und 116.

C. Arbeitsrechtlicher Bestandsschutz als Teil der Arbeitsmarktordnung

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Gesetzgebung an Effizienz überlegen ist.263 Posner drückt das so aus: „judge – made rules tend to be efficiency promoting, while those made by the legislatur tend to efficiency reducing.“264 Der Grund dafür wird darin gesehen, dass die Rechtsprechung weniger anfällig für Partikularinteressen ist,265 während der Gesetzgeber die Neigung habe, über „special interest legislation“ effizienzirrelevante oder gar -konfligierende Aspekte zu berücksichtigen.266

III. Verfassungsrechtlicher Rahmen und Grundstruktur des heutigen Arbeitsrechts Es gibt kein einheitliches Arbeitsgesetzbuch. Vielmehr sind die arbeitsrechtlichen Normen in einer Vielzahl von Einzelgesetzen verstreut, die vor allem dem Privatrecht angehören (z. B. das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), das Kündigungsschutzgesetz (KSchG), das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) oder das Tarifvertragsgesetz (TVG)). Daneben gelten aber auch öffentlich – rechtliche Vorschriften wie z. B. das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) oder das Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG). Die wichtigsten Regelungen des Bestandsschutzsystems sind im BGB und vor allem dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG) enthalten. Besondere Bedeutung hat für das Arbeitsrecht und den Bestandsschutz aber auch die Verfassung erlangt. Diese hat für die Anwendung und Fortentwicklung des Arbeitsrechts eine erheblich größere Bedeutung als für andere Rechtsgebiete des Zivilrechts.267

1. Verfassungsrechtlicher Rahmen Das Arbeitsrecht bzw. die Arbeitsrechtsordnung wird durch zwei verfassungsrechtlich verankerte Prinzipien geprägt. Einerseits ist dies das Grundrecht der Berufsfreiheit, andererseits dasjenige des Sozialstaats. Die Berufsfreiheit ist in Art 12 I Grundgesetz (GG) enthalten. Dieser lautet: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstelle frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.“ An diesem Grundrecht ist die rechtliche Ordnung der Arbeitswelt auszurichten. Ihre zivilrechtliche Ausgestaltung bedingt die Vertragsfreiheit,268 einerseits als Teil 263 264 265 266 267 268

Z. B. Ott, C. / Schäfer, H. (1989), S. 20 oder Brühlmeier, D. (1990), S. 5. Posner, R. (1977), S. 404 f., allerdings mit einigen Einschränkungen. So z. B. Posner, R. (1977), S. 405 f. Brühlmeier, D. (1990), S. 5. Vgl. Häberle, P. (1984), S. 345 oder Zöllner, W. (1998), S. 89. Richardi, R. (1992), S. 9.

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1. Kap.: Überblick

der unternehmerischen Tätigkeit und andererseits als Teil der Freiheit des Arbeitnehmers, seinen Arbeitsplatz frei zu wählen.269 Insbesondere für den Bereich des hier interessierenden Bestandsschutzes hat Art 12 I GG besondere Bedeutung erlangt. Zum einen wird das grundsätzliche Recht des Arbeitgebers zur Kündigung eines Arbeitsverhältnisses als von Art 12 I GG geschützt angesehen.270 So hat das BVerfG in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Kleinbetriebsklausel im Jahr 1998271 „das Interesse des Arbeitgebers ( . . . ), in seinem Unternehmen nur Mitarbeiter zu beschäftigen, die seinen Vorstellungen entsprechen und ihre Zahl auf das von ihm bestimmte Maß zu beschränken“ anerkannt und ausgeführt: „Er übt damit regelmäßig seine Berufsfreiheit i. S. von Art. 12 I GG, jedenfalls aber seine wirtschaftliche Betätigungsfreiheit, aus, die durch Art. 2 I GG geschützt ist.“ Art 12 I GG schützt im Rahmen des Bestandsschutzes aber nicht nur die Interessen des Arbeitgebers, sondern auch diejenigen des Arbeitnehmers und ist daher Legitimationsgrundlage für das Bestandsschutzsystem.272 Auch der Schutz der Arbeitnehmerinteressen ist in der Entscheidung des BVerfG zur Kleinbetriebsklausel klar zum Ausdruck gebracht worden. Es heißt dort273: „Dieses Grundrecht garantiert die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Der Einzelne wird in seinem Entschluss, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in dem gewählten Beruf zu ergreifen oder ein bestehendes Arbeitsverhältnis beizubehalten oder aufzugeben, vor staatlichen Maßnahmen geschützt, die ihn am Erwerb eines zur Verfügung stehenden Arbeitsplatzes hindern oder zur Annahme, Beibehaltung oder Aufgabe eines bestimmten Arbeitsplatzes zwingen. Dagegen ist mit der Berufswahlfreiheit weder ein Anspruch auf Bereitstellung eines Arbeitsplatzes eigener Wahl noch eine Bestandsgarantie für den einmal gewählten Arbeitsplatz verbunden. Ebenso wenig gewährt Art. 12 I GG einen unmittelbaren Schutz gegen den Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund privater Disposition. Insofern obliegt dem Staat aber eine aus dem Grundrecht folgende Schutzpflicht, der die geltenden Kündigungsvorschriften Rechnung tragen.“ Daneben wird in letzter Zeit verstärkt diskutiert, inwieweit der Schutz von Arbeitsuchenden im Rahmen des Art. 12 I GG reicht und insbesondere, ob bestandsschutzrechtliche Bestimmungen nicht auch in die grundrechtlich verbürgte Freiheit der Arbeitsuchenden einen Arbeitsplatz einnehmen zu können, eingreift.274 Auch das Sozialstaatsprinzip hat maßgeblichen Einfluss auf unser Arbeitsrecht. Es ist in Art. 20 I und 28 I 1 GG verankert. Diese lauten: Dazu auch Löwisch, M. (1991), S. 43 f. Dazu, wie auch zum Verhältnis zur allgemeinen Vertragsfreiheit, die durch Art. 2 I GG geschützt ist, siehe Oetker, H. (1997), S. 10 ff. 271 BVerfGE NJW 1998, 1475 ff. 272 Vgl. Oetker, H. (1997), S. 13 ff. 273 BVerfGE NJW 1998, 1475. 274 Vgl. dazu Oetker, H. (1997), S. 21 oder auch schon BVerfGE 84, S. 133, 146. 269 270

C. Arbeitsrechtlicher Bestandsschutz als Teil der Arbeitsmarktordnung

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„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ (Art. 20 I GG) und „Die verfassungsgemäße Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.“ (Art. 28 I 1). Das Sozialstaatsprinzip ist vor allem eine Staatszielbestimmung. Es legitimiert daher den Gesetzgeber, z. B. durch den Erlass arbeitsrechtlicher Schutzgesetze, ein Sozialordnungsrecht zu schaffen.275 Daneben wird es aber auch zur Auslegung arbeitsrechtlicher Normen herangezogen und dient als Ermächtigung für richterliche Weiterbildungen des Rechts.276 Des weiteren wird mit dem Sozialstaatsgedanken der Grundsatz der sozialen Selbstverwaltung und Selbstbestimmung verbunden und wird daher als Legitimationsbasis für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Betrieb gesehen. Eng mit dem Gedanken der sozialen Selbstverwaltung und -bestimmung verknüpft ist auch die durch Art. 9 III GG verbürgte Koalitionsfreiheit. Die Koalitionsfreiheit umfasst dabei nicht nur das Recht der Individuen, sich zu einer Koalition zusammenzuschließen, ihr beizutreten (positive Koalitionsfreiheit) oder fernzubleiben (negative Koalitionsfreiheit), sondern auch das kollektive Recht einer Koalition auf Bestand und spezifisch koalitionsgemäße Betätigung.277 Das Prinzip der Koalitionsfreiheit wird im Rahmen unserer Analyse aber nur eine geringe Rolle spielen, da wir uns nur dem Individualarbeitsrecht und speziell dem Bestandsschutz widmen, dort aber die Koalitionsfreiheit nur eine untergeordnete Rolle spielt. Neben diesen grundlegenden Prinzipien können aber auch noch einzelne Grundrechte Einfluss auf das Arbeitsrecht und speziell den Bestandsschutz haben. Der Ausgangspunkt für die Entwicklung der Grundrechte war die liberale Auffassung der Grundrechte als Freiheitsrechte gegenüber dem Staat. Auch heute noch wird eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte (hier der Einfluss auf das Arbeitsverhältnis) grundsätzlich abgelehnt.278 Trotzdem haben auch die anderen Grundrechte Wirkung auf private Rechtsverhältnisse, wie z. B. Arbeitsverhältnisse. Die Grundrechte stellen eine objektive Wertentscheidung dar, die für alle Bereiche des Rechts gilt. Der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektive Normen beeinflusst das „Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften“.279 Konkret wirken die Grundrechte auf die Gesetzesauslegung, auf die Konkretisierung von Generalklauseln und auf die Lückenfüllung durch Analogie und Rechtsfortbildung ein.280 Richardi, R. (1992), S. 68. Vgl. Gamillscheg, F. (1987), S. 78. 277 Richardi, R. (1995), S. XII. 278 Eine Ausnahme bildet hier nur Art. 9 III GG, der in Satz 2 die Drittwirkung ausdrücklich festlegt. 279 BVerfGE 7, 198, 205. 280 Für alle Zöllner, W. (1992), S. 84. 275 276

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1. Kap.: Überblick

Im Bestandsschutz können insbesondere der Einfluss von Art. 1 I (Schutz der Menschenwürde), 2 I (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit), 3 I (Gleichheit vor dem Gesetz), 3 II (Gleichberechtigung von Mann und Frau), 3 III (Verbot der Differenzierung nach Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, . . . ), 5 I mit II (Recht der freien Meinungsäußerung), 6 I (Schutz der Ehe und Familie), sowie 12 I (freie Wahl von Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte) des Grundgesetzes, auf das einzelne Arbeitsverhältnis zu beachten seien. Die aufgezählten Grundrechte greifen praktisch ausschließlich zugunsten der Arbeitnehmer ein. Sie sind dabei in erster Linie bei der Anwendung der kündigungsrechtlichen Generalklauseln anzuwenden.281 Aber auch die wirtschaftliche Betätigung des Unternehmers wird außer durch Art. 12 I GG noch durch weitere Grundrechte geschützt. So wird das Eigentum von Art. 14 I GG geschützt und Art. 2 I GG schützt als Auffangrecht auch die sonstige wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit.282

2. Grundstruktur des Arbeitsrechts Eine der wichtigsten Rechtsquellen für das Arbeitsrecht ist das Bürgerliche Gesetzbuch. Für das Arbeitsrecht sind vor allem Vorschriften über den Dienstvertrag, der in den §§ 611 – 630 geregelt ist, maßgebend. Diese mittlerweile etwas über 20 Normen stellen jedoch bei weitem nicht alle arbeitsrechtlichen Gesetzesregeln dar. Die Anzahl der gültigen arbeitsrechtlichen Normen wird am besten erfassbar, wenn man den Umfang der zweibändigen Loseblattsammlung „Nipperdey“ betrachtet. Jeder dieser beiden Bände umfasst mehrere tausend Seiten, die ausschließlich Normtexte wiedergeben.283 Auf der anderen Seite sind trotz der großen Zahl von Gesetzen einige Bereiche des Arbeitsrechts überhaupt nicht gesetzlich geregelt. Dies gilt insbesondere für das Arbeitskampfrecht und die Haftung des Arbeitnehmers. Entsprechend seinen Regelungsbereichen wird das Arbeitsrecht in Individualarbeitsrecht und Kollektivarbeitsrecht eingeteilt. Das Individualarbeitsrecht besteht aus dem Recht des Arbeitsverhältnisses und dem Arbeitsschutzrecht. Beide Rechtskomplexe stellen den Arbeitnehmer als Einzelnen in den Mittelpunkt der rechtlichen Regelungen. Für und gegen ihn werden privatrechtliche bzw. öffentlich-rechtliche Rechte und Pflichten begründet.284 Im Arbeitsvertragsrecht (Recht des Arbeitsverhältnisses) gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit. Somit können die Parteien grundsätzlich frei darüber entscheiden, Löwisch, M. (1996c), S. 50 RN 159. Zu dem Grundrechtsschutz des Arbeitgebers siehe Löwisch, M. (1991), S. 49 f. 283 Dieses Beispiel zur Veranschaulichung der arbeitsrechtlichen Normenflut stammt von Zöllner, W. (1991), S. 2. 284 Zur näheren Beschreibung des Individualarbeitsrecht siehe z. B. Brox, H. (1993), S. 2 f. oder Richardi, R. (1995), S. XIV. 281 282

C. Arbeitsrechtlicher Bestandsschutz als Teil der Arbeitsmarktordnung

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ob und mit wem sie ein Arbeitsverhältnis eingehen (Abschlussfreiheit), welchen Inhalt das Arbeitsverhältnis haben soll (Inhaltsfreiheit) und wann es wieder aufgelöst werden soll (Beendigungsfreiheit). Während die Abschlussfreiheit nur geringfügigen Einschränkungen unterliegt285, wird die Inhaltsfreiheit durch viele Arbeitnehmerschutzbestimmungen eingeschränkt, die insbesondere dem Entgelt- und Gesundheitsschutz dienen.286 Besonders stark wird vom Staat die Beendigungsfreiheit eingeschränkt. Diese Einschränkungen bilden den sogenannten Bestandsschutz, da sie das Weiterbestehen des Arbeitsverhältnisses schützen bzw. regeln. Wesentliche Kündigungsvoraussetzungen beinhaltet bereits das BGB, aber arbeitsrechtliche Spezialvorschriften ergänzen und modifizieren diese Regelungen. Insbesondere durch das Kündigungsschutzgesetz werden weitere Anforderungen an eine wirksame Kündigung gestellt. Aufgrund der großen Bedeutung und des Umfangs des Bestandsschutzes wird sich diese ökonomische Analyse alleine mit diesem Teil des Arbeitsrechts beschäftigen. Im Kollektivarbeitsrecht hingegen wird der Arbeitnehmer nicht als Einzelner, sondern als Teil einer Koalition oder Belegschaft eines Betriebes erfasst. Anders ausgedrückt: Das kollektive Arbeitsrecht regelt das Recht der Arbeitsverbände in Beruf und Betrieb sowie ihre Verträge und Kämpfe. Zu den Arbeitsverbänden zählen die Arbeitgeberverbände, die Gewerkschaften und die Betriebsräte. Zum Kollektivarbeitsrecht gehört insbesondere das Tarifvertragsrecht, das Arbeitskampfrecht, das Schlichtungsrecht und das Betriebsverfassungsrecht.287 Auch wenn wir uns im folgendem ausschließlich mit dem Bestandsschutz beschäftigen, darf nicht vergessen werden, dass alle Regeln des Arbeitsrechts gemeinsam den Ordnungsrahmen für den Arbeitsmarkt bilden und sich gegenseitig vielfach beeinflussen und bedingen. So beeinflussen die durch den Inhaltsschutz des Arbeitsverhältnisses gesetzten Fakten die Notwendigkeit und Ausgestaltung 285 Nach § 611a BGB darf der Arbeitgeber einen Bewerber bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses nicht wegen seines Geschlechts benachteiligen und gemäß § 5 ff. SchwbG ist der Arbeitgeber gegenüber dem Staat verpflichtet, auf einer bestimmten Zahl von Arbeitsplätzen, Schwerbehinderte zu beschäftigen. 286 Dem Entgeltschutz dient beispielsweise die Regelung, dass der Arbeitnehmer (unter bestimmten Voraussetzungen) seinen Entgeltanspruch bei Arbeitsausfall, z. B. durch Krankheit behält oder auch nach dem Bundesurlaubsgesetz Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub hat. Dem Gesundheitsschutz hingegen dienen die in der Arbeitszeitordnung (AZO) festgelegten Höchstarbeitszeiten und die ebenfalls dort geregelten Ruhezeiten und -pausen. Für einzelne Wirtschaftszweige gibt es zusätzlich noch eigene spezielle Arbeitszeitordnungen von denen das Ladenschlußgesetz das wichtigste und umstrittenste ist. Weitere Gesundheitsschutzregelungen gelten insbesondere für bestimmte Personengruppen. So verschärfen das Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Mutter (MuSchG) und das Gesetz zum Schutz der arbeitenden Jugend (JArbSchG) die allgemeinen Schutzregelungen. Unter den Gesundheitsschutz fallen weiter die Pflicht des Arbeitgebers zur Krankenfürsorge (§ 617 BGB zu Schutzmaßnahmen (z. B. ArbSichG oder § 618 BGB)) und zahlreiche Unfallverhütungsvorschriften. 287 Daneben gehört zum Kollektivarbeitsrecht auch noch das Berufsverbandsrecht.

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1. Kap.: Überblick

des Bestandsschutzes. Wenn z. B. durch Mutterschutzregelungen das Interesse des Arbeitgebers an einem Fortbestand des Arbeitsvertrages mit einer schwangeren Frau oder jungen Mutter erlischt, ist unter Umständen ein Schutz der Mutter gegen eine Beendigung des Arbeitsvertrages geboten. Auf der anderen Seite ist es einer der Grundgedanken des Bestandsschutzes, dass der Arbeitnehmer im Normalfall der Schwächere der beiden Vertragspartner ist und daher eines Schutzes gegen (willkürliche) Kündigung bedarf.288 Die Kräfteverhältnisse wiederum werden aber ganz entscheidend durch die Regeln des Kollektivarbeitsrechts mitbestimmt. Darüber hinaus wirkt das Kollektivarbeitsrecht ergänzend in Bezug auf den Bestandsschutz in dem es z. B. einen Rationalisierungsschutz gewährt und damit die Voraussetzungen für betriebsbedingte Kündigungen beeinflusst. Trotz dieser Interdependenz der Teilordnungen auf dem Arbeitsmarkt lässt sich eine getrennte bzw. in unserem Fall eine auf ein Teilgebiet eingeschränkte Analyse nicht umgehen, da jeder der Bereiche einen Umfang und Komplexität besitzt, der eine gemeinsame Analyse bei ausreichender inhaltlicher Tiefe unmöglich macht. Daher widmen wir uns nun ausschließlich dem Bestandsschutz.

288

Dazu ausführlich in Kapitel 3 Abschnitt A. II.

2. Kapitel

Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes Der Bestandsschutz ist, wie Schwerdtner ihn zutreffend charakterisiert, das „Nervenzentrum des Arbeitsrechts“.1 Das Arbeitsverhältnis als Dauerschuldverhältnis darf nicht unauflöslich sein. Dies folgt aus der Tatsache, dass sich während des Bestehens des Arbeitsverhältnisses die tatsächlichen Umstände ändern können. So können sich beispielsweise die wirtschaftliche Lage des Unternehmens, die Qualifikationen des Arbeitnehmers oder die technischen Anforderungen an die Berufsausübung im Vergleich zu den Umständen, die bei Begründungen des Arbeitsverhältnisses bestanden, geändert haben. Aus diesem Grunde muss jede Partei die Möglichkeit haben, sich auch einseitig von den Vertragsbedingungen zu lösen, soweit nicht schon der Vertrag bereits bei Abschluss befristet oder bedingt abgeschlossen wurde.2 Um diese Lösung vom Vertrag zu ermöglichen, gibt das Recht die Möglichkeit der Kündigung3, die es aber für den Arbeitgeber mit einer Reihe von Voraussetzungen verknüpft. Diese Voraussetzungen bilden das Kündigungsschutzsystem, das den Kern des Bestandsschutzes des Arbeitsverhältnisses bildet. Daneben gehören inhaltlich noch die Regelungen zu befristeten bzw. bedingten Arbeitsverträgen, zu Leiharbeitsverhältnissen, zur Änderungskündigung, zum Betriebsübergang etc. zum Bestandsschutz, da auch sie regeln, ob ein Arbeitsverhältnis besteht und wie es beendet werden kann.

1 Zitiert aus Oetker, H. (1997), S. 9, der auf das Vorwort zu Coen, Martin: Das Recht auf Arbeit und der Bestandsschutz des gekündigten Arbeitsverhältnisses 1978, S. VIII; Köln 1979 verweist. 2 Diese Notwendigkeit wurde schon früh erkannt und von so unterschiedlichen Rechtsgelehrten wie v. Savingny und v. Gierke gleichermaßen anerkannt; vgl. dazu Oetker, H. (1997), S. 11. 3 Zum grundrechtlichen Schutz der Kündigungsmöglichkeit des Arbeitgebers siehe Oetker, H. (1997), S. 10.

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

A. Grundstruktur und Regeln des BGB Deutschland hat im internationalen Vergleich ein recht starkes und ausdifferenziertes Kündigungsschutzsystem. Schon das BGB regelt wesentliche Voraussetzungen der Kündigung. Ergänzt und vielfach überlagert wird es jedoch durch arbeitsrechtliche Spezialgesetze. Bedeutsam ist hier insbesondere das Kündigungsschutzgesetz (KSchG). Daneben sind noch einige Vorschriften des Betriebsverfassungsrechts für das Kündigungsrecht bedeutend. Diese Regeln werden insoweit mitbehandelt, wie es notwendig ist, um das Gesamtsystem des Bestandsschutzes zu verstehen. Eine ausschließliche Betrachtung der individualrechtlichen Vorschriften wäre künstlich und ließe die wirtschaftlichen Folgen der rechtlichen Regelungen nicht ausreichend gut erkennen, da sich diese gegenseitig ergänzen. Es gelten des weiteren einige Kündigungsschutzbestimmungen zugunsten besonderer Arbeitnehmergruppen, die in Sondergesetzen geregelt sind. Voraussetzung für die Anwendbarkeit aller dieser Regeln und zentraler Anknüpfungspunkt für die Anwendbarkeit arbeitsrechtlicher Regelungen schlechthin ist der Begriff des Arbeitnehmers. Auch wenn die Einzelheiten des Begriffes durchaus umstritten sind, wird doch von Rechtsprechung und h. L. grundsätzlich auf die von Alfred Hueck entwickelte Begriffsbestimmung zurückgegriffen. Danach ist Arbeitnehmer, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages zur Arbeit im Dienste eines anderen verpflichtet ist.4 Hauptzweck dieses Begriffes ist es, den Arbeitsvertrag von dem Dienstvertrag abzugrenzen. Der Arbeitsvertrag ist dabei von der Abhängigkeit des Dienstverpflichteten gekennzeichnet, während der Dienstvertrag von dessen Unabhängigkeit ausgeht. Die Unterscheidung wird dabei von der Rechtsprechung danach getroffen, ob derjenige, der die Dienste erbringen muss, von seinem Vertragspartner persönlich abhängig ist [näheres dazu in Kapitel 3 Abschnitt B. I. 1. b) bb)]. Grundsätzlich ist die Kündigung von Arbeitsverhältnissen in den §§ 620 – 627 BGB geregelt. Sie ist eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung mit rechtsgestaltender Wirkung und bedarf der Schriftform. Gegenstand der Kündigung ist das Arbeitsverhältnis als Ganzes. Eine sogenannte Teilkündigung, d. h. nur einzelner Vertragsbedingungen, wie z. B. der Arbeitszeitregelung, ist gesetzlich nicht vorgesehen, kann aber durch vertragliche Vereinbarung ermöglicht werden. Bei Kündigungen ist zwischen einer ordentlichen und einer außerordentlichen Kündigung zu unterscheiden. Die ordentliche Kündigung beendet das Arbeitsverhältnis nach Ablauf der gesetzlichen Kündigungsfrist, die in § 622 BGB geregelt ist. Dieser lautet:

4

Vgl. Preis, U. (1998), 230 BGB § 611 RN 44 f.

A. Grundstruktur und Regeln des BGB

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„(1) Das Arbeitsverhältnis eines Arbeiters oder eines Angestellten (Arbeitnehmers) kann mit einer Frist von vier Wochen zum Fünfzehnten oder zum Ende eines Kalendermonats gekündigt werden. (2) Für eine Kündigung durch den Arbeitgeber beträgt die Kündigungsfrist, wenn das Arbeitsverhältnis in dem Betrieb oder Unternehmen 1. 2. 3. 4. 5. 6.

zwei Jahre bestanden hat, einen Monat zum Ende eines Kalendermonats, fünf Jahre bestanden hat, zwei Monate zum Ende eines Kalendermonats, acht Jahre bestanden hat, drei Monate zum Ende eines Kalendermonats, zehn Jahre bestanden hat, vier Monate zum Ende eines Kalendermonats, zwölf Jahre bestanden hat, fünf Monate zum Ende eines Kalendermonats, fünfzehn Jahre bestanden hat, sechs Monate zum Ende eines Kalendermonats, 7. zwanzig Jahre bestanden hat, sieben Monate zum Ende eines Kalendermonats. . . .“ Eines besonderen Grundes bedarf die ordentliche Kündigung nach dem BGB nicht.5 Die außerordentliche Kündigung ermöglicht eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses „(. . . ) aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist ( . . . ), wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann“ (§ 626 I BGB). Nach dem BGB bestehen somit weder für den Arbeitnehmer noch für den Arbeitgeber wesentliche Beschränkungen der Kündigungsmöglichkeiten. Es müssen bei der ordentlichen Kündigung ausschließlich Kündigungsfristen eingehalten werden und die Interessenabwägung bei der außerordentlichen ist nur erforderlich, da keinerlei Kündigungsfristen eingehalten werden müssen. Für den Arbeitgeber sind aber in arbeitsrechtlichen Spezialgesetzen vielfältige Kündigungsbeschränkungen normiert, um den Arbeitnehmer gegen die Nachteile der Kündigung durch den Arbeitgeber zu schützen. Diese Einschränkungen der Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers lassen sich in den allgemeinen [B.] und den besonderen Kündigungsschutz [C.] einteilen. Neben dem eigentlichen Kündigungsschutz umfasst der Bestandsschutz auch noch einige weitere Regelungen, die unter [D.] behandelt werden sollen. Darunter fällt z. B. der Schutz vor einer Änderungskündigung [1.], vor einer unzulässigen Befristung [2.], zur Begrenzung der Arbeitnehmerüberlassung [3.] sowie in gewissem Sinn auch die Regelung des § 613a BGB, nach der bei rechtsgeschäftlicher Übertragung eines Betriebes oder Betriebsteils der Erwerber in die Rechte und Pflichten des Arbeitsverhältnisses 5

Siehe zur Kündigung bisher z. B. Zöllner, W. / Loritz, K. (1992), S. 243 – 247.

7 von Klitzing

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

eintritt [4.].6 Alle vier Regelungsbereiche bezwecken eine Absicherung der Kündigungsschutzregelungen insbesondere gegen Umgehungen.

B. Allgemeiner Kündigungsschutz Bei einer ordentlichen Kündigung wird die Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers im Anwendungsbereich des KSchG gemäß § 1 I KSchG insbesondere dadurch eingeschränkt, dass sie unwirksam ist, soweit sie nicht sozial gerechtfertigt ist – sogenannter allgemeiner Kündigungsschutz.

I. Gesetzliche Regelungen Geregelt ist der allgemeine Kündigungsschutz in den §§ 1 – 14 KSchG. Er gilt nicht „. . . für Betriebe und Verwaltungen, in denen in der Regel fünf oder weniger Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten beschäftigt werden. Bei der Feststellung der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer ( . . . ) sind teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von nicht mehr als 20 Stunden mit 0,5 und von nicht mehr als 30 Stunden mit 0,75 zu berücksichtigen.“ (§ 23 I 2 und 3 KSchG). Zwischenzeitlich war der Schwellenwert durch das Beschäftigungsförderungsgesetz 1996 von fünf auf zehn Arbeitnehmer erhöht worden7, worauf später noch eingegangen wird. Diese Erhöhung hat der Gesetzgeber aber zum 1. 1. 1999 bereits wieder beseitigt. So weit das Arbeitsverhältnis vom Geltungsbereich erfasst wird, gilt nach § 1 I und II KSchG: „(1) Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat, ist rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. (2) Sozial ungerechtfertigt ist die Kündigung, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch drin6 Des weiteren kann man die Einschränkung der Nichtigkeit von Arbeitsverträgen, die aber aufgrund mangelnder wirtschaftlicher Relevanz hier nicht behandelt werden soll, zum Bestandsschutz zählen. Siehe dazu Zöllner, W. / Loritz, K. (1992), S. 243. 7 Allerdings ist im Zuge des Gesetzgebungsverfahren mit § 23 I 4 KSchG eine Übergangsbestimmung eingeführt worden, nach der die Heraufsetzung des Schwellenwertes (und die veränderte Anrechnung von Teilzeitbeschäftigten) drei Jahre lang nicht die Rechtsstellung der Arbeitnehmer betrifft, die bei Inkrafttreten des Gesetzes, also vor dem 1. 10. 1996 bereits Kündigungsschutz genossen.

B. Allgemeiner Kündigungsschutz

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gende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. ( . . . ).“ Nach dem Wortlaut des Gesetzes gibt es somit drei Arten positiver Gründe, die eine Kündigung sozial rechtfertigen. Dies sind personenbedingte, verhaltensbedingte und betriebsbedingte Gründe. Die Kündigung kann aber trotz des Vorliegens eines der oben genannten positiven Gründe sozialwidrig und damit unwirksam sein. Dies ist der Fall, wenn ein in § 1 II 2 KSchG genannter Sozialwidrigkeitsgrund (negativer Grund) gegeben ist. In § 1 II 2 KSchG heißt es: „Die Kündigung ist auch sozial ungerechtfertigt, wenn 1. in Betrieben des privaten Rechts a) die Kündigung gegen eine Richtlinie nach § 95 des Betriebsverfassungsgesetzes verstößt, b) der Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz in demselben Betrieb des Unternehmens weiterbeschäftigt werden kann und der Betriebsrat oder eine andere nach dem Betriebsverfassungsgesetz insoweit zuständige Vertretung der Arbeitnehmer aus einem dieser Gründe der Kündigung innerhalb der Frist des § 102 Abs. 2 Satz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes schriftlich widersprochen hat, ( . . . )“. Der unter a) genannte Richtlinienverstoß ist in der Praxis bisher recht selten, da Auswahlrichtlinien für Kündigungen, die gem. § 95 BetrVG der Zustimmung des Betriebsrates bedürfen, kaum aufgestellt wurden.8 Wichtiger ist der Grund der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit des Arbeitnehmers [b)]. Ist es möglich, den Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz im selben Betrieb weiter zu beschäftigen, auch wenn dies nur „. . . nach zumutbaren Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen oder (.) unter geänderten Arbeitsbedingungen möglich ist und der Arbeitnehmer sein Einverständnis hiermit erklärt hat“ (§ 1 II 3 KSchG), so ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt. Ein weiterer Sozialwidrigkeitsgrund, der sich aber nur auf die betriebsbedingte Kündigung bezieht, ist in Absatz 3 normiert. In Satz 1 und 2 heißt es: „Ist einem Arbeitnehmer aus dringenden betrieblichen Erfordernissen ( . . . ) gekündigt worden, so ist die Kündigung trotzdem sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers soziale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat; ( . . . ). Satz 1 gilt nicht, wenn betriebstechnische, wirtschaftliche oder sonstige berechtigte betriebliche Bedürfnisse die Weiterbeschäftigung eines oder mehrerer bestimmter Arbeitnehmer bedingen und damit der Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten entgegenstehen.“ Die Fassung des Absatzes 3 war wie der Schwellenwert des § 23 KSchG durch das Beschäftigungsförderungsgesetz 1996 geändert worden. Durch das BeschfG 8

7*

Zöllner, W. / Loritz, K. (1992), S. 264.

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

1996 war anstelle der früher und jetzt wieder in Satz 1 stehenden Worte „soziale Gesichtspunkte“ die Formulierung „die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers“ gesetzt worden. In der Gesetzesbegründung der Regelung des BeschfG 1996 hieß es, dass die Auswahl auf die sozialen Grunddaten begrenzt werden sollte.9 Im „Entwurf eines Gesetzes zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte“ aufgrund dessen die Änderungen zurückgenommen wurden, wurde als Begründung angegeben: „Die Begrenzung der Auswahlkriterien ( . . . ) hat das Ziel, mehr Rechtssicherheit herzustellen und Kündigungen besser berechenbar zu machen, nicht erreicht. Die Begrenzung auf die drei genannten Kriterien verhindert die Berücksichtigung weiterer sozialer Gesichtspunkte, die für den von einer Kündigung betroffenen Arbeitnehmer von erheblicher Bedeutung sind und mit dem Arbeitsverhältnis unmittelbar im Zusammenhang stehen, . . . “10 Durch das BeschfG 1996 wurde der Absatz 4 in den § 1 eingefügt. Dieser wurde mit einer Einschränkung beibehalten. Nach dem jetzt gültigen Absatz 4 können Auswahlrichtlinien bzgl. der sozialen Auswahl gerichtlich nur noch auf „grobe Fehlerhaftigkeit“ überprüft werden, wenn sie in einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag, beschlossen wurden.11 In Satz 5 wurde bestimmt, dass bei betriebsbedingten Kündigungen aufgrund von Betriebsänderungen der Arbeitgeber zusammen mit dem Betriebsrat die zu kündigenden Arbeitnehmer innerhalb eines Interessenausgleichs namentlich benennen konnte. Die Folge war, dass die soziale Auswahl nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden konnte, und dass zu Lasten der Gekündigten das Vorliegen dringender betrieblicher Kündigungsgründe vermutet wurde.12 Dieser Absatz wurde ebenfalls zum 1. 1. 1999 ersatzlos gestrichen. Die mit dem BeschfG 1996 eingeführten und dem Korrekturgesetz zum 1. 1. 1999 wieder gestrichenen Erleichterungen hinsichtlich betriebsbedingter Kündigungen gelten weiterhin im Rahmen der insolvenzrechtlichen Regelungen der §§ 125 ff. InsO. Sie bewirken eine vereinfachte und gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbare Sozialauswahl sowie eine Vorklärung notwendiger Kündigungen. Die dadurch bewirkte Rechtssicherheit für den Insolvenzverwalter erhöht die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Sanierung.13 Siehe dazu Preis, U. (1996), S. 3370. BT-Drucks. 14 / 45. 11 In der ursprünglichen Fassung des Absatzes 4 galt die beschränkte Nachprüfbarkeit auch für Richtlinien des Arbeitgebers, die dieser in Betrieben ohne Arbeitnehmervertretung mit Zustimmung von 2 / 3 der Arbeitnehmer schriftlich erlassen hatte. Näheres zu dieser Regelung in Preis, U. (1996), S. 3371 f. 12 Auch hierzu siehe Preis, U. (1996), S. 3372. 13 Vgl. dazu Löwisch, M. / Caspers, G. (2002), in: Münchner Kommentar zur Insolvenzordnung, „125 RN 1 ff. , 28, 44 ff. 9

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Der bisher beschriebene individualrechtliche Kündigungsschutz wird in Unternehmen, die einen Betriebs- oder Personalrat haben durch kollektivrechtliche Regelungen ergänzt. § 102 I BetrVG lautet: „Der Betriebsrat ist vor jeder Kündigung zu hören. Der Arbeitgeber hat ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen. Eine ohne Anhörung des Betriebsrates ausgesprochene Kündigung ist unwirksam.“14 Dieser kann der Kündigung innerhalb einer Wochenfrist widersprechen, wenn Gründe vorliegen, die in Abs. 3 aufgezählt sind. Der Widerspruch verhindert zwar die Kündigung nicht, aber er verschafft dem Arbeitnehmer einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung bis zum Ende des Kündigungsschutzprozesses (Abs. 5). Dort heißt es nämlich: „Hat der Betriebsrat einer ordentlichen Kündigung frist- und ordnungsgemäß widersprochen, und hat der Arbeitnehmer nach dem Kündigungsschutzgesetz Klage auf Feststellung erhoben, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist, so muss der Arbeitgeber auf Verlangen des Arbeitnehmers diesen nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits bei unveränderten Arbeitsbedingungen weiterbeschäftigen. ( . . . ).“ Die Sozialwidrigkeit einer Kündigung kann der Arbeitnehmer nur in einem arbeitsgerichtlichem Verfahren geltend machen. Dazu muss er grundsätzlich binnen einer Frist von drei Wochen nach Zugang der Kündigung Klage beim Arbeitsgericht erheben (gem. § 4 KSchG). Unterlässt der Arbeitnehmer die rechtzeitige Klageerhebung gilt die Kündigung als von Anfang an rechtswirksam15 (§ 7 KSchG). Grund für diese Frist ist die Unbestimmtheit der Unwirksamkeitsgründe des § 1 KSchG, weshalb der Arbeitnehmer gezwungen werden soll, eine gerichtliche Klärung möglichst schnell herbeizuführen, damit danach wieder Rechtssicherheit herrscht.16 Ist es zu einem Kündigungsschutzprozess gekommen und wurde dabei festgestellt, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt war, so besteht das Arbeitsverhältnis grundsätzlich fort. Das Gericht kann jedoch trotzdem das Arbeitsverhältnis durch Urteil auflösen. Diese Möglichkeit bietet § 9 KSchG, in dem es in Absatz 1 heißt: „(1) Stellt das Gericht fest, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist, ist jedoch dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten, so hat das Gericht auf Antrag des Arbeitnehmers das Arbeitsverhältnis aufzulösen und den Arbeitgeber zur Zahlung einer angemessenen Abfindung zu verurteilen. Die gleiche Entscheidung hat das Gericht auf Antrag des Arbeitgebers zu treffen, wenn Gründe vorliegen, die eine 14 Bei der Kündigung eines leitenden Angestellten gilt entsprechendes für die Anhörung des Sprecherausschusses gem. § 31 II SprAuG. 15 Dies gilt allerdings nur, wenn sie nicht aus anderem Grunde unwirksam ist. 16 Vgl. Zöllner, W. / Loritz, K. (1992), S. 267 f.

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den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht erwarten lassen. ( . . . ).“ Für die Höhe der Abfindung ist in § 10 KSchG ein Höchstbetrag festgesetzt, der normalerweise bis zu 12 Monatsverdiensten reicht, aber auch höher liegen kann (bis zu 18 Monatsverdiensten, wenn der Arbeitnehmer mindestens 55 Jahre alt ist und das Arbeitsverhältnis mindestens 20 Jahre bestand).

II. Richterliche Ausgestaltung Wie oben gesehen, ist § 1 KSchG der zentrale Ausgangspunkt des allgemeinen Bestandsschutzes. Nach der Generalklausel17 des Abs. 1 ist eine „sozial ungerechtfertigte“ Kündigung unwirksam. Durch Abs. 2 wird die Generalklausel durch die unbestimmten Rechtsbegriffe der personenbedingten, der verhaltensbedingten und der betriebsbedingten Kündigungsgründe konkretisiert.18 Aber auch bei unbestimmten Rechtsbegriffen verbleibt dem Richter ein Spielraum und so hat sich zu allen drei Gründen eine differenzierte umfangreiche Rechtsprechung entwickelt, die im Folgenden skizziert wird. Nach der Darstellung der richterlichen Ausgestaltung der drei ,positiven‘ Gründe [1. – 3.], werden unter [4.] die ,negativen‘ Gründe behandelt. Dann wird noch auf die drei wichtigsten Prinzipien eingegangen, die von der Rechtsprechung bei der Prüfung aller drei Kündigungsarten angewendet werden. Dies sind das Verhältnismäßigkeits- und ultima-ratio Prinzip, das Prognoseprinzip und das Prinzip der umfassenden Interessenabwägung [5.]. Zuletzt wird unter [6.] die Rechtsprechung zu den sonstigen Regelungen des allgemeinen Kündigungsschutzes dargestellt.

1. Personenbedingte Kündigungsgründe Personenbedingte Gründe sind nach der Rechtsprechung vor allem Krankheit, mangelnde Eignung oder mangelnde Anpassungsfähigkeit und Nachlassen der Arbeitsfähigkeit.19 Bei diesen Gründen hat die Krankheit eine besondere wirtschaftliche und soziale20 Bedeutung. Aus diesem Grunde und mit dem Ziel im Rahmen dieser Arbeit zumindest an einigen Stellen einen tieferen Einblick in die detaillierte Rechtsprechung zu gewähren, soll die Rechtsprechung zur krankheitsbedingten Kündigung 17 Zur Auseinandersetzung, ob es sich um eine Generalklausel oder aber einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt sehr ausführlich Preis, U. (1987), S. 97 ff. 18 Vgl. Preis, U. (1988), S. 1387. 19 Zöllner, W. / Loritz, K. (1998), S. 294. 20 Zur sozialen Bedeutung z. B. Zöllner, W. / Loritz, K. (1998), S. 296 mit vielen weiteren Literaturhinweisen.

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recht ausführlich dargestellt werden. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass es sich trotzdem nur um die Grundzüge der ausgefeilten Rechtsprechungssystematik handelt. Als krankheitsbedingte Kündigungsgründe kommen in Betracht: – häufige Kurzerkrankungen21 – andauernde Langzeiterkrankungen 22 – dauernde Leistungsunfähigkeit23 und – krankheitsbedingte dauernde Leistungsminderung24

Dabei sind die Anforderungen an eine wirksame Kündigung bei der andauernden Langzeiterkrankung und der dauernden Leistungsunfähigkeit so ähnlich, dass sie in diesem Rahmen nicht unterschieden werden müssen. Die Wirksamkeitsprüfung wird von der Rechtsprechung bei allen vier Anlässen in drei Stufen vorgenommen. Dabei ist eine Kündigung sozialwidrig, wenn eine der Stufen nicht erfüllt ist. Als erstes wird geprüft, ob eine negative Prognose bzgl. des weiteren Gesundheitszustandes gestellt werden muss. Danach ist zu prüfen, ob die entstandenen und prognostizierten Fehlzeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen führen. Auf der dritten Stufe wird mit Hilfe einer einzelfallbezogenen Interessenabwägung geprüft, ob die erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden betrieblichen oder wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers führen25. Dabei werden die Interessen des Arbeitgebers und die des Arbeitnehmers unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeneinander abgewogen. Stufe 1 negative Gesundheitsprognose Als Grundlage für eine negative Gesundheitsprognose kommen je nach Krankheitstypus in Betracht: – eine hohe Fehlquote in der Vergangenheit oder – die Art der Erkrankung

Bei häufigen Kurzerkrankungen gibt es keine feststehenden Fehlzeitquoten. Allerdings werden teilweise 15 bis 20 % oder aber auch 30 bis 35 % Fehltage pro Jahr gefordert26, wobei man von einer normalen, d. h. durchschnittlichen Fehlzeit von Etzel, G. (2002), RN 325 ff. Etzel, G. (2002), RN 366 ff. 23 Etzel, G. (2002), RN 375 ff. 24 Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 379. 25 Siehe zur diesbezüglichen ständigen Rspr. BAG 12. 12. 1996, RzK I 5 g Nr. 66 oder vgl. Etzel, G. (1998), § 1 KSchG RN 347. 26 Vgl. Franke, D. (1999), S. 208 mit entsprechenden Hinweisen auf Rspr. 21 22

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

4,5 % – 7 % rechnen kann. Im Jahr 1997 beispielsweise erreicht der Krankenstand mit 4,6 % einen neuen Tiefstand.27 Derartige Fehlzeiten entfalten eine Indizwirkung, wenn sie sich über einen Zeitraum von mindestens 2 Jahren erstrecken.28 Allerdings bleibt es dem Arbeitnehmer unbenommen, diese Indizwirkung zu widerlegen. Außerdem dürfen Fehlzeiten, die auf Erkrankungen ohne Wiederholungsgefahr29 z. B. Betriebsunfälle, Sportverletzungen, ausgeheilte Erkrankungen beruhen, nicht mitgerechnet werden. Bei andauernder Langzeiterkrankung und dauernder Leistungsunfähigkeit darf mit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in absehbarer Zeit nicht zu rechnen sein. Für die Frage, welche Zeit noch absehbar ist, lässt sich keine allgemeine Frist angeben, vielmehr wird jeweils auf die Besonderheiten des Einzelfalles abgestellt. Sehr erschwert wird die Kündigung zudem dadurch, dass der bisherigen Krankheitsdauer nur geringe Indizwirkung zukommt. Maßgebend ist vielmehr die Art der Erkrankung. Bei dauernder Leistungsminderung wird eine bereits über einen gewissen Zeitraum andauernde und prognostisch weiterbestehende Leistungsminderung von der Rspr. gefordert. Stufe 2 erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Belange Die negative Gesundheitsprognose muss ursächlich sein für: – erhebliche Belastungen des Arbeitgebers oder – erhebliche Störungen des betrieblichen Ablaufs

Häufige Kurzerkrankungen stellen eine erhebliche wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers dar, wenn in den zurückliegenden Jahren Entgeltfortzahlungskosten von mehr als 6 Wochen pro Jahr angefallen sind und zukünftig in ebensolcher Höhe anfallen werden, wobei auch nur die Zulässigerweise in die Prognose einbezogenen Zeiten berücksichtigt werden dürfen.30 Bei andauernder Langzeiterkrankung oder dauernder Leistungsunfähigkeit ist eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Belange grundsätzlich gegeben, da das arbeitsrechtliche Austauschverhältnis von Leistung und Gegenleistung faktisch aufgehoben ist. Bei einer dauernden Leistungsminderung hält die Rechtsprechung eine Leistungsminderung auf 2 / 3 der Normalleistung für eine erhebliche Beeinträchtigung.31 27 28 29 30 31

So Iwd 11 / 1998, S. 7. Vgl. Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 330. BAG 12. 12. 1996, RzK I 5 g Nr. 66. Vgl. Franke, D. (1999), S. 208. Vgl. Franke, D. (1999), S. 208.

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Stufe 3 Interessenabwägung Abzuwägen sind die Belange des Arbeitgebers aus Stufe 2 gegenüber Belangen des Arbeitnehmers, wobei insbesondere – Ursachen der Erkrankung Liegen der Erkrankung betriebliche Ursachen zu Grunde, ist dies zugunsten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. – Höhe der durchschnittlichen Ausfallquote Für die Interessen des Arbeitnehmers spricht es, wenn der Krankenstand in der betreffenden Abteilung generell hoch ist. – Dauer des Arbeitsverhältnisses Je länger das Arbeitsverhältnis ohne krankheitsbedingte Fehlzeiten bestanden hat, desto mehr Rücksicht (Hinnahme längerer Fehlzeiten) schuldet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer. – Alter und Familienstand des Arbeitnehmers Zugunsten eines älteren Arbeitnehmers muss mit längeren Fehlzeiten gerechnet werden. Nach der Rspr. führen Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers zu vermehrter sozialer Schutzwürdigkeit und damit höherem Gewicht der Interessen des Arbeitnehmers. – Situation auf dem Arbeitsmarkt Wenn der Arbeitnehmer auch nach Umschulungen nur schwer einen Arbeitsplatz finden kann, soll dies zugunsten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden.32 – Zumutbarkeit weiterer Überbrückungsmaßnahmen und „Zu den vom Arbeitgeber in Erwägung zu ziehenden Überbrückungsmaßnahmen gehört auch die Einstellung einer Aushilfskraft auf unbestimmte Zeit. Der Arbeitgeber hat konkret darzulegen, weshalb gegebenenfalls die Einstellung einer Aushilfskraft nicht möglich oder nicht zumutbar sein soll.33 – Höhe der Entgeltfortzahlungskosten Zu Gunsten des Arbeitgebers ist zu berücksichtigen, wenn die Höhe der Entgeltfortzahlung den 6-Wochen-Zeitraum erheblich überschreitet.34

zu berücksichtigen sind.35 Diese Belange können grundsätzlich bei allen vier Arten der krankheitsbedingten Kündigung berücksichtigt werden. Die Interessenabwägung wird zudem zuBAG 22. 2. 1980, EzA § 1 KSchG Krankheit Nr. 5. BAG 25. 11. 1982 – 2 AZR 140 / 81. 34 Vgl. Franke, D. (1999), S. 208. 35 Vgl. zu den genannten Belangen des Arbeitnehmers Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 347 – 362. 32 33

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gunsten des Arbeitnehmers ausfallen, wenn die Versetzung des Arbeitnehmers auf einen freien oder durch Direktionsrecht bzw. Änderungskündigung freizumachenden leidensgerechten Arbeitsplatz möglich ist.36 Insgesamt stellt die Rechtsprechung an die personenbedingten Kündigungsgründe strenge Anforderungen. Besonders an die negative Prognose werden hohe Voraussetzungen gestellt37 und auch bei den Möglichkeiten, Beeinträchtigungen des Betriebes durch organisatorische Maßnahmen (z. B. Einstellung von Aushilfskräften) auszugleichen, fordert die Rechtsprechung große Bemühungen des Arbeitgebers. Besonders deutlich wird dies an einem Fall, den auch der Sachverständigenrat in seinem Gutachten 1989 / 90 aufgreift.38 In diesem Fall war eine Arbeitnehmerin innerhalb von 2 Jahren an gut 400 Tagen krank. Der Arbeitgeber, eine Spinnerei und Zwirnerei mit 150 Angestellten, hatte ihr daraufhin gekündigt, da es wiederholt zu erheblichen betrieblichen Störungen gekommen sei. „Andere Arbeitskräfte hätten bis dahin die Klägerin ersetzt, dafür jedoch an ihrem eigentlichen Arbeitsplatz gefehlt. Wegen der wechselseitigen Abhängigkeit der Arbeitsplätze sei es nicht zumutbar, den Arbeitsplatz weiter für die Klägerin freizuhalten. Aus Erfahrung habe sie, die Klägerin, gewusst, für einen so langen Zeitraum könne der Arbeitsplatz der Klägerin nicht durch Aushilfskräfte besetzt werden.“39 Im Urteil, das die Aufhebung der landesarbeitsgerichtlichen Entscheidung, der Kündigung stattzugeben, aussprach und zur erneuten Entscheidung zurückverwies, hieß es, dass aus der langandauernden Krankheit nicht auf die Zukunft geschlossen werden könne. Vielmehr hätte das Landesarbeitsgericht ein medizinisches Sachverständigengutachten über die objektiven Umstände zum Zeitpunkt der Kündigung einholen müssen. Der Arbeitnehmer sei grundsätzlich nicht verpflichtet, von sich aus den Arbeitgeber über Art und Verlauf seiner Krankheit zu unterrichten. Es sei daher unzulässig, aus der Tatsache, dass die Arbeitnehmerin bezüglich ihrer Krankheit lediglich Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt habe, negative Schlussfolgerungen hinsichtlich der Zukunftsprognose zu ziehen.40 Für den Arbeitgeber bedeuten diese Grundsätze, dass es für ihn sehr schwierig ist zu beurteilen, ob eine krankheitsbedingte Kündigung wirksam wäre. Die auf der ersten Stufe notwendige negative Prognose kann er kaum ziehen, wenn er vom Arbeitnehmer nicht über den Krankheitsverlauf unterrichtet wird. Zieht er deshalb aus der Anzahl der Fehltage seine eigenen Schlüsse, so läuft er Gefahr, dass ein medizinisches Gutachten zu ganz anderen Ergebnissen gelangt. Nach Ansicht des BAG gibt es auch keinen Erfahrungssatz „aus der langanhaltenden Dauer der Ar36 37 38 39 40

Vgl. Franke, D. (1999), S. 208. Siehe dazu Wank, R. (1993a), S. 87 mit weiteren Hinweisen. Sachverständigenrat (1989), S. 171 f. Zitat aus dem Urteil des BAG vom 25. 11. 1982 – 2 AZR 140 / 81; BAG 40, 363. BAG 40, 374.

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beitsunfähigkeit in der Vergangenheit sei auf eine negative gesundheitliche Konstitution in der Zukunft zu schließen.“41 Im Ergebnis stellt für den Arbeitgeber somit eine krankheitsbedingte Kündigung wegen langanhaltender Arbeitsunfähigkeit ein großes Risiko dar. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Beweisaufnahme eine die Prognose des Arbeitgebers stützendes Ergebnis erbringt ist eher gering. Die Aussage des Arztes, der den Mitarbeiter betreut, wird eine negative Gesundheitsprognose wohl nur selten ergeben, da der Arzt seinen Patienten nicht verlieren will und außerdem Gesundheitsverläufe kaum sicher vorhersagbar sind.42 Auch ein unabhängiges Gutachten wird sicherlich davon beeinflusst werden, dass es aus medizinischer Sicht problematisch ist, einem Patienten durch eine negative Prognose, die Hoffnung auf eine Gesundung zu nehmen. Wird der Kündigungsgrund der ersten Wirksamkeitsstufe der negativen Prognose gerecht, so wird – wie oben dargestellt – auf der zweiten Stufe geprüft, ob erhebliche Störungen des betrieblichen Ablaufs vorliegen. Dazu hat das BAG in dem angesprochenen Urteil derart Stellung genommen, dass die Kündigung „. . . nur dann sozial gerechtfertigt [sei], wenn zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs aufgrund der objektiven Umstände mit einer Arbeitsunfähigkeit auf nicht absehbare Zeit zu rechnen ist und gerade diese Ungewissheit zu unzumutbaren betrieblichen oder wirtschaftlichen Belastungen führt. (.) Zu den vom Arbeitgeber in Erwägung zu ziehenden Überbrückungsmaßnahmen gehört auch die Einstellung einer Aushilfskraft auf unbestimmte Zeit.“43 Auf dieser Stufe wird es dem Arbeitgeber naturgemäß schwergefallen zu erklären, warum bisher bereits getroffene Überbrückungsmaßnahmen nicht eine Zeitlang fortgeführt werden können. Praktisch unmöglich wird eine Kündigung aber, wenn sogar die Einstellung einer Aushilfskraft auf unbestimmte Zeit für zumutbar angesehen wird. Es fällt schon schwer, sich vorzustellen, welche Gründe eine dauerhafte Einstellung einer Aushilfskraft verhindern sollten. Ob es aber der Sinn eines Bestandsschutzes sein kann, einem Arbeitnehmer den Arbeitsplatz durch Daueraushilfen zu erhalten, die dann möglicherweise selbst dem Bestandsschutz unterfallen, ist mehr als fraglich. Als letztes ist auch die Interessenabwägung (3. Stufe) problematisch, da sie dem einzelnen Gericht einen ausgesprochen weiten Wertungsspielraum eröffnet,44 der es den Parteien erschwert oder unmöglich macht, die Entscheidung des Gerichts vorherzusehen und auch die Berufungs- bzw. Revisionsanfälligkeit der Urteile erhöht. So wurde im vorliegendem Fall die Zurückverweisung auch damit begründet, dass eine Interessenabwägung nicht nur dann rechtsfehlerhaft ist, „ . . . , wenn sie 41 42 43 44

Ebenfalls BAG 40, 374. Hümmerich, K. (1996), S. 1296. Zitat aus BAGE 40, 361. Hümmerich, K. (1996), S. 1296.

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nicht alle Umstände berücksichtigt, sondern auch dann, wenn sachfremde Erwägungen erfolgen, etwa die Verletzung einer nichtbestehenden Vertragspflicht einbezogen wird.“45 In diesem Fall beanstandete das BAG, dass mangelnde Beziehungen der Arbeitnehmerin während der Arbeitsunfähigkeit zum Betrieb berücksichtigt worden waren. Auch wenn dieser Fall vielleicht nicht in seiner Gesamtheit verallgemeinerungsfähig ist,46 so ist doch eindeutig, dass die Hürden für eine krankheitsbedingte Kündigung sehr hoch sind. Bei den anderen personenbedingten Kündigungsgründen (mangelnde Eignung, mangelnde Anpassungsfähigkeit und Nachlassen der Arbeitsfähigkeit) wird die Prüfung der Sozialwidrigkeit ebenfalls dreistufig vorgenommen. Auch dort wird auf der ersten Stufe auf die fehlende Fähigkeit oder Eignung des Arbeitnehmers abgestellt, wobei das Prognoseprinzip entscheidend ist. Auf der zweiten Stufe ist ebenfalls die Störung des Arbeitsverhältnisses und das Fehlen einer anderweitigen Beschäftigung erforderlich, und zuletzt folgt auch hier die obligatorische Interessenabwägung.47

2. Verhaltensbedingte Kündigungsgründe Nach § 1 II 1 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, bedingt ist. Das Gesetz bietet jedoch keine weiteren Anhaltspunkte, welcher Art das kündigungsrelevante Verhalten sein muss. Das Gesetz bedarf daher einer wertenden Konkretisierung durch die Rechtsprechung. Nach der wohl h. M. und Rspr. erfolgt auch die Prüfung der Sozialwidrigkeit einer verhaltensbedingten Kündigung in drei Stufen.48 Auf der ersten Stufe ist ein vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers erforderlich. Als vertragswidriges Verhalten kommen insbesondere die Nichterfüllung der Arbeitspflicht, Schlechtleistungen, Nebenpflichtverletzungen und Störungen des Betriebsfriedens in Betracht,49 wobei normalerweise ein schuldhaftes Verhalten des Arbeitnehmers gefordert wird.50 Auf der zweiten Stufe wird von der Rechtsprechung geprüft, ob das vertragswidrige Verhalten auch zu einer konkreten Störung des Arbeitsverhältnisses geführt Ebenfalls BAGE 40, 361. Nach Kittner, M. (1995) handelt es sich um einen nicht verallgemeinerungsfähigen Fall, der aufgrund besonderer Beweisprobleme so entschieden wurde – dieser Ansicht kann sich der Autor allerdings nicht anschließen. 47 Vgl. z. B. Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 271 ff. 48 Vgl. dazu Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 404 ff. 49 Vgl. z. B. Löwisch, M. (1996c), S. 393. 50 Marschollek, G. (1994), S. 133. 45 46

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hat. Eine konkrete Beeinträchtigung liegt danach vor, wenn der zugrunde liegende Umstand einen ruhigen und verständigen Arbeitgeber zur Kündigung bestimmen kann.51 Dabei ist zu beachten, dass nach Rechtsprechung des BAG52 der Kündigungsgrund wie bei der personenbedingten Kündigung zukunftsbezogen gewürdigt werden muss (Prognoseprinzip). Eine Störung, bei der keine Wiederholungsgefahr besteht, d. h. nicht mit gleichartigen Pflichtverletzungen zu rechnen ist, ist danach nicht rechtserheblich.53 Die Rechtsprechung schließt zudem aus dem ultima-ratio Prinzip, dass eine verhaltensbedingte Kündigung sozialwidrig ist, wenn es dem Arbeitgeber möglich ist, den Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz oder zu geänderten Bedingungen weiter zu beschäftigen.54 Ist dann ein Sachverhalt – einschließlich der negativen Prognose – gegeben, der eine verhaltensbedingte Kündigung grundsätzlich rechtfertigt, nimmt die Rechtsprechung weiterhin eine umfassende Interessenabwägung vor. Dabei werden die berechtigten Interessen des Arbeitgebers den Auswirkungen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf der Arbeitnehmerseite gegenübergestellt. Zugunsten des Arbeitgebers bzw. seines Interesses an der Vertragsbeendigung können u. a. folgende Gesichtspunkte berücksichtigt werden: Anforderungen der Arbeits- und Betriebsdisziplin, Betriebsablaufstörungen, Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Betriebes, Eintritt eines Vermögensschadens, große Wiederholungsgefahr, Schädigung des Ansehens in der Öffentlichkeit, sowie Schutz der übrigen Belegschaft.55 Zugunsten des Arbeitnehmers bzw. seiner sozialen Schutzwürdigkeit kann hingegen u. a. sprechen: Art, Schwere und Häufigkeit der Pflichtverletzungen, Grad des Verschuldens, Mitverschulden des Arbeitgebers, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltsverpflichtungen, Lage auf dem Arbeitsmarkt, Gesundheitszustand.56 Eine weitere Zulässigkeitsvoraussetzung für verhaltensbedingte Kündigungen, insbesondere wegen eines pflichtwidrigen Verhaltens ist, nach ständiger Rechtsprechung im Regelfall, dass der Arbeitgeber den entsprechenden Arbeitnehmer vorher abgemahnt hat, d. h. eine ohne Abmahnung ausgesprochene Kündigung ist danach sozialwidrig.57 Dabei muss die Abmahnung im Hinblick auf ihre Beanstandungsund Warnfunktion den zugrundeliegenden Sachverhalt so genau beschreiben, dass der Arbeitnehmer klar erkennen kann, was ihm zum Vorwurf gemacht wird.58 51 52 53 54 55 56 57 58

BAG 2. 11. 1961, AP Nr. 3 zu § 1 KSchG. Z. B. BAG NZA 1997, 487. Vgl. dazu Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 405. Siehe z. B. BAG DB 1983, 180. Vgl. Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 411. Vgl. Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 411. Berkowsky, W. (1993), S. 360. Siehe z. B. Marschollek, G. (1994), S. 134.

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Außerdem wird von der Rechtsprechung gefordert, dass die verhaltensbedingte Kündigung und die notwendige vorherige Abmahnung ,gleichartig‘ sein müssen.59 Gegen eine Abmahnung steht dem Arbeitnehmer ein Recht auf Gegendarstellung zu.60 Außerdem hat er die Möglichkeit, auf Entfernung einer rechtswidrigen Abmahnung aus der Personalakte zu klagen (Anspruch aus § 1004 BGB und positiver Vertragsverletzung (pVV)), ist aber nicht verpflichtet dies zu tun. Er kann sich trotzdem bei einem späteren Kündigungsschutzprozess auf die Rechtswidrigkeit der Abmahnung berufen.61 Eine Abmahnung ist nur dann nicht erforderlich, wenn es sich um einen einzigen ganz schweren Verstoß handelt, bei dem es dem Arbeitgeber unzumutbar ist, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen62, oder bei unbehebbaren Leistungsmängeln des Arbeitnehmers.63 Das Erfordernis einer Abmahnung, die nirgends im Gesetz erwähnt ist, stützt das BAG bei Störungen im Leistungsbereich auf eine entsprechende Anwendung des § 326 BGB, bei einer Störung im Vertrauensbereich hingegen auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.64 Da § 326 BGB auf den Arbeitsvertrag eigentlich gar nicht anwendbar ist und auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz von der Rechtsprechung entwickelt wurde, ist es durchaus berechtigt, die Abmahnung als „Erfindung der Rechtsprechung“ anzusehen.65 Ihren Ursprung hat diese Kündigungsvoraussetzung in der mündlichen Rüge, die der Arbeitgeber seinen Angestellten erteilte, wenn er deren Verhalten kritisierte. Zur Erleichterung der Beweisführung für einen möglichen späteren Kündigungsschutzprozess wurden die Rügen vermehrt schriftlich erteilt, was aber immer auf einem freien Entschluss des Arbeitgebers beruhte, bis das BAG die Abmahnung zu einer Wirksamkeitsvoraussetzung für die verhaltensbedingte Kündigung machte.66 Mittlerweile wird dieses Erfordernis zunehmend auch bei der personenbedingten Kündigung67, der außerordentlichen Kündigung, der Änderungskündigung und sogar bei der Versetzung angewandt.68 Die Erfindung der Abmahnung bzw. ihres Fehlens als Kündigungssperre ist eine recht erhebliche Verschärfung des Bestandsschutzes durch die Rechtsprechung. Kraft, A. (1994), S. 471. Siehe dazu z. B. Berkowsky, W. (1993), S. 365 f. 61 Siehe dazu Kraft, A. (1994), S. 472. 62 Zöllner, W. / Loritz, K. (1992), S. 262. 63 Wank, R. (1993a), S. 85. 64 Siehe dazu Berkowsky, W. (1993), S. 360 f. 65 So Kraft, A. (1994), S. 467 mit weiterer Quellenangabe. 66 Wank, R. (1993a), S. 85. 67 Siehe Kraft, A. (1994), S. 470. 68 So Wank, R. (1993a), S. 85 mit weiteren Literaturhinweisen und Angabe der entsprechenden Gerichtsentscheidungen. 59 60

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Verstärkt wird diese Verschärfung noch durch die zunehmende Formalisierung. So ist mittlerweile notwendiger Inhalt einer Abmahnung, dass – das Fehlverhalten des Arbeitnehmers für diesen klar erkennbar dargestellt, – er deutlich zur Änderung seines Verhaltens aufgefordert und – ihm für den Wiederholungsfall die Kündigung angedroht wird.69

Die Hürde der Abmahnung als Kündigungsvoraussetzung wird durch das Erfordernis der Gleichartigkeit des Abmahnungs- und des Kündigungsgrundes verschärft. Des weiteren kann die Abmahnung durch Zeitablauf wirkungslos werden.70 Berücksichtigt man noch die bereits oben erwähnte Möglichkeit des Arbeitnehmers, auf Entfernung einer Abmahnung aus seiner Personalakte zu klagen, so muss man Wank zustimmen, „. . ., dass das Bundesarbeitsgericht dem im Gesetz geregelten Kündigungsschutzverfahren ein gesetzlich nicht geregeltes Vorverfahren, das ,Abmahnungsverfahren‘, vorgeschaltet hat.“71 Welche praktischen Auswirkungen dies haben kann, zeigt ein Urteil des BAG vom 4. 6. 1997. Diesem Urteil lag folgender Fall zugrunde: Ein U-Bahnfahrer verursachte gegen 16.00 Uhr im privaten Bereich einen KfzUnfall, wobei er mit einer Blutalkoholkonzentration von 2,73 Promille volltrunken war. Am nächsten Tag sollte er gegen 10 Uhr seinen Dienst fortsetzen. Auf diesen Vorfall reagierte der Arbeitgeber mit der fristlosen und der ordentlichen Kündigung. Das BAG bestätigte in dem Urteil die Unwirksamkeit der Kündigung, da wegen des einmaligen Vorfalls lediglich eine Abmahnung zulässig sei.72 Diese Entscheidung ist problematisch. Der U-Bahnfahrer darf zwar einige Zeit nicht am Straßenverkehr teilnehmen (vgl. §§ 69, 69a StGB), andererseits soll aber dem Arbeitgeber und den Passagieren zugemutet werden, dass er weiterhin U-Bahnen fährt und Tausende von Passagieren befördert.73 Für die Wirksamkeit einer verhaltensbedingten Kündigung sind nach der Rechtsprechung somit das Prognoseprinzip, das ultima-ratio Prinzip, die Interessenabwägung und die vorherige Abmahnung mitentscheidend. Insgesamt hat somit die Rechtsprechung die Erfordernisse für eine wirksame verhaltensbedingte Kündigung erheblich verstärkt.

Siehe dazu Marschollek, G. (1994), S. 134 und Wank, R. (1993a), S. 85. Kraft, A. (1994), S. 471 f. 71 Wank, R. (1993), S. 85. Allerdings sieht z. B. Berkowsky, W. (1993), S. 360 eine gewisse Trendwende in den neueren Entscheidungen. 72 Ausführlicher dazu v. Hoyningen-Huene, G. (1999), S. 215 ff. 73 Vgl. dazu auch v. Hoyningen-Huene, G. (1999), S. 219. 69 70

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3. Betriebsbedingte Kündigungsgründe Nach § 1 II S. 1 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht „. . . durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist.“ Wie auch bei den anderen beiden Kündigungsgründen hat der Gesetzgeber darauf verzichtet, den Begriff „dringende betriebliche Erfordernisse“ zu konkretisieren. Er wollte durch die Verwendung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs berücksichtigen, dass eine große Anzahl sowohl von außer- als auch innerbetrieblichen Gründen Ursache für die Erforderlichkeit eines Personalabbaus sein können.74 Die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffes musste daher durch die Rspr. erfolgen. Voraussetzung einer betriebsbedingten Kündigung ist nach der Rspr. eine Unternehmerentscheidung, die zum Wegfall eines Arbeitsplatzes bzw. zur Verringerung des Beschäftigungsvolumens führt. Die Gründe, die einer Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers entgegenstehen bzw. den Wegfall eines Arbeitsplatzes bewirken können, werden von der Rechtsprechung75 in innere und äußere betriebliche Gründe eingeteilt. Die innerbetrieblichen Umstände sind dabei diejenigen, die von innen auf den Betrieb einwirken (z. B. Rationalisierungsmaßnahmen, Veränderung der Arbeitsmethoden oder Betriebsschließungen). Äußere Gründe sind solche, die von außen auf den Betrieb einwirken (z. B. Auftragsmangel, Gewinnverfall, Absatzschwierigkeiten oder Umsatzrückgang).76 Die inner- oder außerbetriebliche Kündigungsgründe führen allerdings noch nicht automatisch zum Wegfall eines Arbeitsplatzes, sondern es bedarf stets noch der unternehmerischen Entscheidung.77 Problematisch ist bei der betriebsbedingten Kündigung, inwieweit diese unternehmerische Entscheidung einer gerichtlichen Nachprüfung unterliegen soll. Anders als bei den anderen beiden sozialen Rechtfertigungsgründen stammt nämlich bei der betriebsbedingten Kündigung der Grund der Entlassung nicht aus der Sphäre des Arbeitnehmers, sondern aus der des Arbeitgebers. Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG ist vom Grundsatz der freien Unternehmerentscheidung auszugehen. Danach sind die Arbeitsgerichte nicht befugt, die unternehmerischen Entscheidungen auf ihren Zweck oder ihre Notwendigkeit zu überprüfen. Deshalb werden die inhaltliche Zweckmäßigkeit und Richtigkeit der unternehmerischen Entscheidung von den Arbeitsgerichten nicht überprüft. Sie muss grundsätzlich der freien unternehmerischen Entscheidung vorbehalten bleiben.78 So kann beispielsweise auch ein Personalüberhang, der infolge von ArbeitsEtzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 516. Dies geschieht seit 1978. Siehe dazu BAG in DB 1979, S. 650. 76 Schaub, G. (1992), S. 1060. 77 Vgl. Löwisch, M. (2000), § 1 RN 249 oder auch ausführlich dazu Wank, R. (1987), S. 135. 74 75

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verdichtung entsteht oder durch die beabsichtigte Hebung der Arbeitsleistung entstehen wird, eine betriebsbedingte Kündigung rechtfertigen.79 Das die Rechtsprechung mittlerweile die Entscheidung des Unternehmers über das personelle Konzept als kündigungsschutzrechtlich grundsätzlich frei ansieht, folgt auch wohl zwingend aus der verfassungsrechtlich gewährleisteten Unternehmerfreiheit, die aus Art. 12 I GG (sowie Art. 14 I und 2 I GG) zu folgern ist.80 Allerdings fällt der Entschluss zur betriebsbedingten Kündigung natürlich als solcher nicht unter die ,freie Unternehmerentscheidung‘, sondern nur die organisatorischen, technischen etc. Maßnahmen, die dieser zugrunde liegen.81 Einer Prüfung wird die Unternehmerentscheidung daher nur darauf unterzogen, ob sie offenbar unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist.82 Voll überprüft wird hingegen, ob die vom Arbeitgeber genannten inner- oder außerbetrieblichen Gründe, auf denen die Unternehmerentscheidung beruht, tatsächlich vorliegen. Infolge der Unternehmerentscheidung muss des weiteren das Bedürfnis für die Weiterbeschäftigung eines oder mehrerer Arbeitnehmer entfallen sein. Dabei wird, wie bei den anderen Kündigungsgründen auch, auf eine Prognose abgestellt, ob bei Ablauf der Kündigungsfrist ein entsprechender Arbeitskräfteüberhang bestehen wird. Nach der Rechtsprechung können aber nachträgliche Umstände, welche die betrieblichen Verhältnisse ändern, zu einem Wiedereinstellungsanspruch führen.83 Dieser von der Rechtsprechung entwickelte Anspruch stellt die wohl neueste Rechtsfortbildung des BAG dar.84 Danach hat ein Arbeitnehmer, dem wirksam betriebsbedingt gekündigt wurde, einen Anspruch auf Fortsetzung (bzw. Neueinstellung) des Arbeitsverhältnisses, wenn sich die der Kündigung zugrundeliegende Prognose noch während des Laufs der Kündigungsfrist als falsch erweist und der Arbeitgeber mit Rücksicht auf die Wirksamkeit der Kündigung noch keine Dispositionen getroffen hat. Diese Rechtsfortbildung stützt das BAG kumulativ auf den Schutzzweck des § 1 KSchG, auf den Gedanken des Rechtsmissbrauchs und auf Art. 12 I GG. Noch nicht endgültig geklärt ist diesbezüglich, ob ein Wiedereinstellungsanspruch auch gegeben ist, wenn die Kündigungsfrist bereits abgelaufen 78 Grundlegend dazu BAG vom 17. 9. 1957 in BB 1957, 1111. Vgl. auch Stahlhacke, E. / Preis, U. (1991), S. 230 f. Der Grundsatz der freien Unternehmerentscheidung wurde erstmals bereits 1953 vom LAG Düsseldorf aufgestellt. (Siehe dazu Ascheid, R. (1993), S 147). 79 Vgl. dazu insbesondere BAG in BB 1997, 1950 oder auch Löwisch, M. (2000), § 1 RN 248 ff. 80 Vgl. Löwisch, M. (2000), § 1 RN 250 und Vor. § 1 RN 19 ff., der insbesondere Art. 12 I GG betont; oder auch Hueck, A. / v. Hoyningen-Huene, G. (1997), § 1 RN 371 a. 81 So die st. Rspr. z. B. BAG AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 (betriebsbedingte Kündigung). 82 So die ständige Rechtsprechung. Vgl. z. B. BAG 26. 9. 1996 EzA § 1 KSchG betriebsbedingte Kündigung NR. 86 oder BAG 24. 10. 79, DB 1980, 1400. 83 Ausführlich dazu Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 552 und 729 ff. 84 Vgl. BAG vom 27. 2. 1997, EzA § 1 KSchG Wiedereinstellungsanspruch Nr. 1; BAG vom 6. 8. 1997, 7 AZR 557 / 96, Pressemitteilung BAG Nr. 38.

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ist, und ob eventuell zwischen mehreren entlassenen Arbeitnehmern, von denen nicht alle wiedereingestellt werden können, eine Sozialauswahl vorzunehmen ist.85 Hat der Arbeitgeber das Entfallen der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit dargelegt, so muss die damit dargelegte betriebliche Erfordernis noch „dringlich“ sein. In dem Merkmal der „Dringlichkeit“ haben nach Ansicht der Rechtsprechung und der h. M. in der Literatur der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das ultimaratio Prinzip, die das gesamte Kündigungsschutzrecht beeinflussen, ihre gesetzliche Grundlage.86 Nach ständiger Rspr. ist danach eine betriebsbedingte Kündigung nur dann sozial gerechtfertigt, wenn es dem Arbeitgeber nicht möglich ist, der betrieblichen Lage durch andere Maßnahmen auf technischem, organisatorischem oder wirtschaftlichem Gebiet als durch Kündigung zu entsprechen87, anderenfalls ist sie unsachlich, unvernünftig oder willkürlich. So hat grundsätzlich der Abbau von Überstunden und Leiharbeitsverhältnissen Vorrang und bei nur vorübergehendem Arbeitsmangel muss die Arbeit gestreckt werden.88 In Betracht kommt beispielsweise die Vorverlegung von Werksferien.89 Strittig ist, ob eine betriebsbedingte Kündigung auch daran scheitern kann, dass der Arbeitgeber diese durch Einführung von Kurzarbeit hätte vermeiden können.90 Insgesamt können die Anforderungen an anderweitige Maßnahmen als streng bewertet werden, wodurch eine gewisse Einschränkung der „freien Unternehmerentscheidung“ bewirkt wird.91 Liegt nach diesen Grundsätzen eine an sich gerechtfertigte betriebsbedingte Kündigung vor, so muss weiterhin eine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit für den gekündigten Arbeitnehmer fehlen (vgl. § 1 Abs. 2 S. 2 BetrVG und § 1 II S. 3 Alt. 1 KSchG) und die Auswahl des betreffenden darf nicht sozial ungerechtfertigt sein (§ 1 III S. 1 KSchG). Diese Stufen der Wirksamkeitsprüfung der betriebsbedingten Kündigung ergeben sich aus den sogenannten ,Negativgründen‘ oder sind ihnen so ähnlich, dass sie dort mitbehandelt werden. Des weiteren muss nach der Rechtsprechung eine einzelfallbezogene Interessenabwägung die Kündigung rechtfertigen. Die Interessenabwägung war dabei nach älterer Auffassung des BAG dann fehlerhaft, wenn die mit einer betriebsbedingten Kündigung zu erwartenden wirtschaftlichen Vorteile für den Arbeitgeber zu den sozialen Nachteilen für den betroffenen Arbeitnehmer in keinem vernünftigen Verhältnis stehen. Nach neuer Auffassung des BAG soll aber die gebotene Abwägung sich nur noch in seltenen Ausnahmefällen zugunsten des Arbeitnehmers auswirken können.92 85 86 87 88 89 90 91 92

Hergenröder, C. (1999), S. 24. Vgl. Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 528. Siehe z. B. Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 528 mit vielen Hinweisen auf die Rspr. Vgl., Hromadka, W. / Maschmann, F. (1998), S. 394 § 10 RN 201. Vgl. Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 528. Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 528. Sehr interessant dazu Preis, U. (1988) 1387 ff. Ausführlicher dazu Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 547 ff.

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Wie bei den anderen Kündigungsgründen gilt natürlich auch hier eine Kündigung bereits als sozial ungerechtfertigt, wenn nur eine Stufe der Prüfung nicht erfüllt wird. Zudem scheitern in der Praxis sehr viele betriebsbedingte Kündigungen an dem Umfang der arbeitgeberseitigen Darlegungs- und Substantiierungspflicht.93 Im Prinzip muss der Arbeitgeber darlegen und im Bestreitensfalle beweisen, – welcher außer- oder innerbetrieblicher Umstand vorliegt, – dass eine autonome Unternehmerentscheidung getroffen wurde, – den Inhalt der Entscheidung, – die organisatorische Umsetzung, – die Geeignetheit und die Erforderlichkeit der organisatorischen Umsetzung zur Zweckerreichung und – inwieweit sich diese Maßnahme auf den Bestand der Beschäftigungsmöglichkeiten auswirkt.94

Mit schlagwortartigen Formulierungen genügt der Arbeitgeber seiner Darlegungslast dabei nicht.95 Eine ausführlichere Darstellung der gegenseitigen Darlegungs-, Substantiierungs- und Beweislasten ist in diesem Rahmen nicht möglich. Es kann aber festgestellt werden, dass die Anforderungen insbesondere an den Arbeitgeber hoch sind, so dass daran eine Vielzahl von Kündigungen scheitern.96 Insgesamt hat die Rechtsprechung den Grundsatz der freien Unternehmerentscheidung beschränkt97, auch wenn in den letzten Jahren möglicherweise eine gewisse Kehrtwende erkennbar ist.98 Die Beschränkung erfolgt durch: – die volle Überprüfung der vom Arbeitgeber genannten außer- und innerbetrieblichen Gründe, die im Ergebnis nur schwer von der eigentlichen Unternehmerentscheidung zu trennen sind,99 – durch die Missbrauchskontrolle der Unternehmerentscheidung, insbesondere darauf, ob anderweitige Maßnahmen möglich sind und – durch die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Darlegungsund Beweislast.

Vgl. Berkowsky, W. (1997), S. 1 f. So Berkowsky, W. (1997), S. 301 f., § 22 RN 39 und 42. 95 BAG 7. 12. 1978 AP Nr. 6 zu § 1 KSchG. 96 So z. B. Hümmerich, K. (1996), S. 1300 oder aus der Sicht der Unternehmen Gentz, M. (1996), S. 14. 97 Hümmerich, K. (1996), S. 1298 spricht sogar davon, dass sie ausgehöhlt würde. 98 Zur insbesondere in den letzten Jahren wieder stärker betonten grundsätzlichen Freiheit der Unternehmerentscheidung über das personelle Konzept siehe Löwisch, M. (2000), § 1 RN 250 ff. 99 Löwisch, M. (1997), § 1 RN 241. 93 94

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4. Negative Gründe Ein ,Negativgrund‘ für die Wirksamkeit einer Kündigung ist das Erfordernis, dass keine andere Beschäftigungsmöglichkeit gegeben ist. Dieser Aspekt ist in § 1 II KSchG gleich zweimal genannt. Einmal in Satz 1, wobei er sich dort nur auf die betriebsbedingte Kündigung bezieht, und zweitens in Satz 2 Nr. 1b (und 2b), der sich auf alle drei Kündigungsarten bezieht. Nach dem Gesetzeswortlaut muss eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit gemäß Satz 2 nur berücksichtigt werden, wenn der Betriebsrat der Kündigung widerspricht. Nach Ansicht des BAG muss der Weiterbeschäftigungsanspruch aber über den Wortlaut des Gesetzes hinweg berücksichtigt werden, wenn ein Betriebsrat gar nicht vorhanden ist oder der Betriebsrat der Kündigung nicht widersprochen hat.100 Dies wird aus dem ultima-ratio Grundsatz geschlossen, den Abs. 2 S. 3 nur konkretisieren, nicht aber einschränken wolle.101 Bevor die Regelungen zur Weiterbeschäftigung in den § 1 KSchG aufgenommen wurden, hatte die Rechtsprechung unter Anknüpfung an das Verhältnismäßigkeitsprinzip (bzw. ultima-ratio Grundsatz) diese Weiterbeschäftigungspflichten des Arbeitgebers bereits entwickelt. Der Gesetzgeber hat diese Rechtsprechung lediglich rezipiert. Die Rechtsprechung hat aber mittlerweile weitere Fallgruppen gebildet.102 Die Kündigung ist ferner nicht erforderlich und damit sozial ungerechtfertigt, wenn eine Weiterbeschäftigung zu anderen Arbeitsbedingungen möglich ist und der Arbeitnehmer sich damit einverstanden erklärt hat (§ 1 II 3 2. Alt. KSchG). Nach Ansicht des BAG muss der Arbeitgeber dem betroffenen Arbeitnehmer von sich aus die Änderung der Arbeitsbedingungen anbieten.103 Möglich ist dabei vor allem die Versetzung auf einen geringerwertigen Arbeitsplatz, eine Teilzeitbeschäftigung oder die Kürzung übertariflicher Zulagen.104 Er muss prüfen, ob er die Arbeitsbedingungen durch sein Direktionsrecht verändern kann oder muss gegebenenfalls eine Änderungskündigung aussprechen [dazu siehe unten Abschnitt D. I. 1 und II. 1]. Auch bei einer Kündigung aus wichtigem Grund gemäß § 626 I BGB verlangt das BAG die Prüfung, ob eine Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz möglich und zumutbar ist oder ob eine Änderungskündigung in Betracht kommt, was es aus dem ultima-ratio Grundsatz schließt. Es stellt dabei ziemlich hohe Anforderungen an die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung für den Arbeitgeber.105 100 101 102 103 104 105

So die ständige Rechtsprechung; vgl. z. B. BAG 25, 278. Vgl. z. B. Löwisch, M. (2000), § 1 RN 285. Siehe dazu Wank, R. (1993b), S. 171 f. BAG 27. 9. 1984, AP Nr. 8 zu § 2 KSchG. Vgl. Hromadka, W. / Maschmann, F. (1998), S. 395 f. § 10 RN 206. Kraft, A. (1994), S. 473.

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Ein weiterer ,Negativgrund‘ betrifft nur die betriebsbedingte Kündigung und ist dort der letzte Prüfungsschritt. Rechtfertigen „dringende betriebliche Gründe“ an sich eine Kündigung und ist auch keine andere Beschäftigungsmöglichkeit gegeben, so kann die Kündigung trotzdem unwirksam sein, wenn die Sozialauswahl unzutreffend war. Hintergrund der Regelung des § 1 III 1 KSchG ist es, dass bei einer betriebsbedingten Kündigung der Anknüpfungspunkt für die Kündigung ein Umstand in der betrieblichen Sphäre des Unternehmers ist und nicht in einem personenbezogenen Umstand des Arbeitnehmers liegt. Daher muss der Arbeitgeber noch eine Auswahlentscheidung bezüglich des zu kündigenden Arbeitnehmers treffen, der bei den anderen beiden Kündigungsgründen bereits begrifflich ausscheidet.106 Die Prüfung der sozialen Auswahl erfolgt nach der Rechtsprechung in drei Schritten. Zuerst werden die Arbeitnehmer ermittelt, die für eine Sozialauswahl in Betracht kommen, da sie vergleichbar sind. Danach erfolgt die eigentliche soziale Auswahl in Form der Aufstellung einer Rangfolge und zuletzt werden diejenigen Arbeitnehmer herausgenommen, deren Weiterbeschäftigung betrieblich notwendig ist.107 Im ersten Schritt werden die in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer danach bestimmt, ob sie vergleichbar sind. Dies wird nach der h. M. angenommen, wenn sie „gegenseitig austauschbar“ sind.108 Diese gegenseitige Austauschbarkeit ist aber auch nur ein konkretisierungsbedürftiger Begriff. Es tauchen eine Unmenge von Problemen im Zusammenhang mit der Austauschbarkeit auf, so z. B. ob auch Arbeitnehmer auf einer anderen betriebshierarchischen Ebene einbezogen werden müssen, ob Routinevorsprünge berücksichtigt werden dürfen oder ob gesundheitliche Leistungsmängel einer Vergleichbarkeit entgegenstehen.109 Insgesamt ist die Rechtsprechung zur Vergleichbarkeit sehr ausdifferenziert und kaum zu überblicken.110 Der zweite Prüfungsschritt beinhaltet die eigentliche Sozialauswahl. Das Gesetz spricht hier nur von ,soziale(n) Gesichtspunkte(n)‘, die berücksichtigt werden müssen, gibt aber keine weiteren Kriterien zur Ausfüllung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs an. So hat sich die Rechtsprechung der Ausgestaltung angenommen und damit „reines Richterrecht“111 geschaffen. Nach der Rechtsprechung müssen die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflichten Berkowsky, W. (1993), S. 417. Löwisch, M. (1996), S. 1010. 108 So z. B. BAG NJW 1983, 1341 oder v. Hoyningen-Huene, G. (1992), S. 198 mit vielen weiteren Hinweisen. 109 Sieh dazu v. Hoyningen-Huene, G. (1992), S. 198 – 200. 110 Die Chancen der Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt stellen für den Arbeitgeber eine schwer zu beantwortende Frage und damit auch eine Fehlerquelle dar. Siehe dazu Löwisch, M. (1996), S. 1010. 111 So Berkowsky, W. (1993), S. 417. 106 107

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besonders berücksichtigt werden.112 Daneben müssen aber z. B. auch die Anwartschaft auf betriebliche Altersversorgung, Familienstand, Kinderzahl, Gesundheitszustand, Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder das Einkommen des Ehegatten berücksichtigt werden.113 Der Arbeitgeber muss letztlich seine Entscheidung so treffen, dass die Arbeitnehmer entlassen werden, die am wenigsten auf die Erhaltung des Arbeitsplatzes angewiesen sind.114 Dabei führt die Vielzahl der zu berücksichtigenden Faktoren und ihre unterschiedliche Gewichtung zu großen Unsicherheiten bezüglich der Wirksamkeit der Kündigung, insbesondere, da der Arbeitgeber die für seine Auswahl maßgeblichen Faktoren darlegen und gegebenenfalls beweisen muss. Wegen dieser Unsicherheiten wollte der Gesetzgeber im Rahmen des BeschfG 1996 die Sozialauswahl auf die sozialen Grunddaten der Dauer der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters und der Unterhaltspflichten begrenzen.115 Andere Gesichtspunkte, insbesondere die Chancen des Arbeitnehmers auf dem Arbeitsmarkt, sollten nicht mehr berücksichtigt werden.116 Ob dieses Ziel des Gesetzgebers aber erreicht worden wäre, war aufgrund vieler Gegenstimmen117, die eine weitere Berücksichtigung zusätzlicher Aspekte forderten, fraglich. Eine Rechtsprechungspraxis dazu konnte sich gar nicht entwickeln, da der Gesetzgeber, wie bereits geschildert, den alten Rechtszustand mit seinen Unsicherheiten wiederhergestellt hat. Als letzter Prüfungspunkt bei der Auswahl muss untersucht werden, welche Arbeitnehmer aus der nach sozialen Gesichtspunkten gebildeten Rangfolge herausgenommen werden, weil ihre Weiterbeschäftigung betrieblich notwendig ist. Die Anforderungen an eine Herausnahme ergeben sich aus § 1 III 2 KSchG. Auch hier sind die einzelnen Anforderungen umstritten. Nach der Rechtsprechung sollen nur diejenigen aus der Sozialauswahl herausnehmbar sein, deren Leistungsunterschiede zum Rest so erheblich sind, dass auf diesen besonders leistungsstarken Arbeitnehmer im Interesse eines geordneten Betriebsablaufs nicht verzichtet werden kann.118 Reine Nutzenerwägungen bilden nach der Rechtsprechung hingegen keine betriebliche Notwendigkeit, von der Sozialauswahl abzusehen. Eine Klärung in einem von vielen Streitpunkten brachte auch hier das Beschäftigungsförderungsgesetz 1996, indem es als anzuerkennenden Grund die Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur festlegt, aber auch diese Regelung ist mittlerweile wieder entfallen.119 Kittner, M. (1997), S. 184. Etzel, G. (2002), § 1 KSchG RN 654 ff. oder Soltwedel, R. (1988), S. 29. 114 So Soltwedel, R. (1988), S. 29. 115 Vgl. BT-Drucks. 13 / 4612, S. 13. 116 Klar und eindeutig legt dies Pauly, H. (1997), S. 513 f. dar. 117 So z. B. Kittner, M. (1997), S. 184 f. 118 BAG vom 24.31983 = DB 1983, 1822. 119 Insgesamt wurden durch das Beschäftigungsförderungsgesetz die Möglichkeiten des Arbeitgebers, sein Interesse an einer leistungsstarken und in der Altersstruktur ausgewogenen 112 113

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Der dritte ,Negativgrund‘, der Verstoß gegen einen Richtlinie nach § 95 BetrVG, wird aufgrund geringerer wirtschaftlicher Relevanz hier nicht näher behandelt.

5. Verhältnismäßigkeitsprinzip und Ultima-ratio Prinzip, Prognoseprinzip, Interessenabwägung Bei der obigen Darstellung der richterlichen Ausgestaltung der einzelnen Kündigungsgründe tauchten immer wieder die Begriffe Verhältnismäßigkeits- und ultima-ratio Prinzip, Prognoseprinzip und Interessenabwägung auf. Da diese Begriffe bei jeder Kündigungsart eine Rolle spielen und ganz wesentlich deren richterrechtliche Ausgestaltung prägen, sollen sie hier noch einmal getrennt analysiert werden. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip wird vom Bundesarbeitsgericht bei allen drei Kündigungsgründen des § 1 II KSchG sowie auf die außerordentliche Kündigung angewandt120 und seit 1978 im Sinne des „ultima-ratio Prinzips“ interpretiert bzw. mit diesem gleichgesetzt.121 Die Herleitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Kündigungstatbestände ist nicht einheitlich. So wird seine Geltung teils aus § 242 BGB,122 teils aus der Begründung zum Regierungsentwurf123 oder aus den Gesetzestexten selbst124, meist aber völlig ohne Begründung postuliert.125 Im KSchG kann man den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an einigen Stellen andeutungsweise erkennen. So muss für die personen- und die verhaltensbedingte Kündigung, die Kündigung durch bestimmte Gründe „bedingt“ sein und die betriebsbedingte Kündigung muss auf „dringenden“ betrieblichen Erfordernissen beruhen. Aus beiden Formulierungen lässt sich eine gewisse Verhältnismäßigkeit ableiten.126 Im Ergebnis sind sich Rechtsprechung und Lehre jedenfalls einig, dass dieser Grundsatz für die Kündigung gilt und bedeutet, dass eine Kündigung geeignet und erforderlich sein muss, um das angestrebte Ziel zu erreichen und zudem verhältnismäßig im engeren Sinne, d. h. angemessen.127 Belegschaft durchzusetzen, gestärkt (Vgl. z. B. Löwisch, M. (1996), S. 101). Wie stark sich dies in der gerichtlichen Praxis ausgewirkt hätte, läßt sich aber kaum abschätzen, da die Regelungen zu kurz in Kraft waren. 120 Wank, R. (1993a), S. 80. 121 Vgl. Rüthers, B. (1998), S. 1434. 122 So beispielsweise Ascheid, R. (1998), § 1 KSchG RN 144. 123 Hueck, A. / v. Hoyningen-Huene, G. (1997), § 1 RN 139. 124 v. Hoyningen-Huene, G. (1999), S. 224. 125 Zur mangelnden dogmatischen Begründung sowie zum Verhältnismäßigkeitsprinzip allgemein, siehe Preis, U. (1987), S. 254 ff., 263. 126 Hromadka, W. / Maschmann, F. (1998), S. 380 § 10 RN 163. 127 Vgl. z. B. Ascheid, R. (1998), § 1 KSchG RN 144 oder Hromadka, W. / Maschmann, F. (1998), S. 379 f. § 10 RN 162.

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Schon seit 1978 setzt das BAG den Grundsatz sehr umfassend ein: Im BAG Urteil vom 30. 5. 1978128 heißt es zum Verhältnismäßigkeitsprinzip: „Darüber hinaus gilt im Kündigungsschutzrecht allgemein der Grundsatz, dass eine Beendigungskündigung, gleichgültig, ob sie auf betriebs-, personen- oder verhaltensbedingte Gründe gestützt ist und gleichgültig, ob sie als ordentl. oder außerordentl. Künd. ausgesprochen wird, als äußerstes Mittel erst in Betracht kommt, wenn keine Möglichkeit zu einer anderweitigen Beschäftigung, unter Umständen auch mit schlechteren Arbeitsbedingungen, besteht ( . . . ).“ In dieser Entscheidung setzt das BAG das Verhältnismäßigkeitsprinzip mit dem ultima-ratio Prinzip gleich und schließt daraus, dass eine Kündigung nur noch äußerstes Mittel – ultima-ratio – sein kann. Anders ausgedrückt wird aus diesem Prinzip geschlossen, dass die Kündigung nur sozial gerechtfertigt sein kann, wenn andere für den Arbeitnehmer weniger einschneidende z. B. organisatorische Maßnahmen nicht ausreichen, und dass grundsätzlich ein Vorrang der Änderungskündigung gegenüber der Beendigungskündigung besteht.129 Zwingende Gründe für eine solche Schlussfolgerung sind aber weder im Gesetz noch aus der amtlichen Begründung zum Gesetz bzw. Gesetzesentwurf ersichtlich. Für ein ultima-ratio Prinzip im Rahmen der Kündigung sind aus dem Wortlaut der § 1 II, III KSchG sowie des § 102 III Nr. 3 bis 5 BetrVG allenfalls einige kleinere Anhaltspunkte, insbesondere in Form des Vorrangs anderweitiger Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten, ersichtlich. Ob allerdings ein allgemeines Prinzip daraus gefolgert werden kann / soll, aus dem dann weitere Folgerungen abgeleitet werden, ist sehr fraglich. Es ist wohl Berkowsky130 zuzustimmen, der ausführt: „Das BAG arbeitet also mit letztlich unbegründeten Behauptungen (,Blankettformeln‘).“ Jedenfalls ist die Gleichsetzung von Verhältnismäßigkeitsprinzip und ultima-ratio Prinzip sehr zweifelhaft, wie es Preis131 überzeugend darlegt. So beantwortet das ultima-ratio Prinzip weder die Frage, ob das ,letzte Mittel‘ auch verhältnismäßig ist, noch ob mögliche mildere Mittel auch gleich wirksam sein müssen. Zumindest sind die zum Teil starken Einschränkungen des Kündigungsrechts, die die Rechtsprechung aufgrund dieses Prinzips vornimmt, nicht im Gesetz angelegt oder vom damaligen Gesetzgeber beabsichtigt gewesen. In der Begründung zum Gesetzesentwurf des Kündigungsschutzgesetzes von 1951132 heißt es: „Der Schutz des Arbeitnehmers wird mit der Regelung des Entwurfs verbessert, ohne dass damit wirklich notwendige Kündigungen verhindert oder auch nur erschwert BAGE 30, 314 = BAG 2 AZR 630 / 76. Wank, R. (1993), S. 81. Anders v. Hoyningen-Huene der den Vorrang der Änderungskündigung nicht als Teil des Verhältnismäßigkeitsprinzips sieht (v. Hoyningen-Huene, G. (1992), S. 107). 130 Berkowsky, W. (1993), § 130 RN 64. 131 Preis, U. (1987), S. 278 f. 132 RdA 1951, 57, 63. 128 129

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würden. Das Gesetz wendet sich nicht gegen Entlassungen, die aus triftigen Gründen erforderlich sind, sondern lediglich gegen solche Kündigungen, die hinreichender Begründung entbehren und deshalb als eine willkürliche Durchschneidung des Bandes der Betriebszugehörigkeit erscheinen.“ Nach der Gesetzesbegründung wollte der Gesetzgeber also notwendige Kündigungen, d. h. solche aus triftigen Gründen, nicht erschweren. Es sollte lediglich eine willkürliche Kündigung verhindert werden. Für die Absicht des Gesetzgebers, eine bloße Willkürkontrolle herbeizuführen, spricht des weiteren auch, dass nach dem Wortlaut des § 1 I KSchG für eine betriebsbedingte Kündigung „dringende“ betriebliche Gründe ausreichen sollen und gerade nicht „zwingende“, wie es der Bundesrat angeregt, aber der Bundestag abgelehnt hatte.133 Aus der geplanten Willkürkontrolle ist über die Jahre hinweg u. a. das ultimaratio Prinzip geworden,134 d. h. „. . . der Grundsatz, dass eine Beendigungskündigung, ( . . . ), als äußerstes Mittel erst in Betracht kommt, wenn keine Möglichkeit zu einer anderweitigen Beschäftigung, ( . . . ), besteht . . .“ Die Rechtsprechung hat somit den Weg von der ,Willkürkontrolle‘ zum ,letzten Mittel‘ zurückgelegt. Eine stärkere Umgestaltung eines unbestimmten Tatbestandsmerkmals ist kaum denkbar, ohne gegen den Wortlaut der Bestimmungen zu verstoßen. Rüthers135 ist sogar der Ansicht: „Das „ultima-ratio“ Prinzip ist eine praeterlegale, wenn nicht contralegale richterrechtliche Generalklausel.“ Jedenfalls handelt sich bei dem ultima-ratio Prinzip somit um eine Verstärkung des Kündigungsschutzes durch die Rechtsprechung. Wenn man bezüglich der personen- und betriebsbedingten Kündigung im Gesetz gewisse Anhaltspunkte für ein ultima-ratio Prinzip finden kann, so sind für die verhaltensbedingte Kündigung im Gesetz nicht einmal diese erkennbar. Das ultima-ratio Prinzip ist von der Rechtsprechung aber auch auf diese übertragen worden.136 Hier lässt sich recht gut beobachten, wie die Arbeitsrechtsprechung aus eher geringen Anhaltspunkten im Gesetz einen Grundsatz – Verhältnismäßigkeitsprinzip – entwickelt hat bzw. diesen aus der Verfassung oder zumindest dem öffentlichen Vgl. RdA 1951, 180 f. So z. B. auch Stege, D. (1999), S. 117. 135 Rüthers, B. (1998), S. 1435. Vgl. auch Schwerdtner, P. (1998), S. 214 f. Anders hingegen v. Hoyningen-Huene, G. (1999), S. 223 f., der zwar in Bezug auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip meint: „Deshalb erstaunt es tatsächlich, daß das BAG diesen verfassungsrechtlichen oder doch öffentlich-rechtlichen Grundsatz ohne weitergehende Begründung im Kündigungsschutzrecht anwendet.“ Trotzdem kommt er zu dem Ergebnis: „Folglich ist auch eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegeben. Daher ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip – und damit auch der ultima-ratio Grundsatz – im Kündigungsschutzrecht grundsätzlich anzuerkennen. Diese Prinzipien folgen unmittelbar aus der Konzeption des Kschg. . .“ 136 Ausführlich dazu Rüthers, B. (1998), S. 1434 f. Weniger drastisch, aber ebenfalls für die verhaltensbedingte Kündigung das ultima-ratio-Prinzip ablehnend Löwisch, M. (1998), S. 1795. 133 134

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

Recht überträgt,137 ihn dann ausweitet – ultima-ratio Prinzip – und schließlich auch auf ähnliche Sachverhalte anwendet. Ein weiterer Grundsatz, der nach der Rechtsprechung für jede Kündigung gilt, ist das Prognoseprinzip.138 Das Prognoseprinzip ist aus dem Gesetz selber nicht zu ersehen.139 Rüthers zufolge, ist es zuerst von Herschel für das Kündigungsrecht vorgeschlagen worden und mittlerweile, wie gesehen, vom BAG übernommen worden. Rüthers140 gibt an, Herschel habe es dem Ehescheidungsrecht entnommen141 und übt an dessen Anwendung scharfe Kritik, da das Arbeitsverhältnis ein Dauerschuldverhältnis und damit ein Austauschverhältnis sei. Die Übernahme des Prognoseprinzips aus dem personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis lege die Frage nahe, ob „die richterrechtliche Dogmatik des Arbeitsvertrages zurück zum ,personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis‘ marschiert“.142 Auch wenn diese Kritik wohl überzogen ist und auch die Herkunft des Prinzips eher in der kollektivistischen Vorstellung der Betriebsgemeinschaft von Arbeitgeber und -nehmer zu suchen ist,143 so muss festgestellt werden, dass die Anwendung des Prognoseprinzips gleichmäßig für alle Kündigungsgründe, eine Schöpfung der Rechtsprechung ist. Für die betriebsbedingte- wie für die personenbedingte Kündigung folgt das Prognoseprinzip wohl schon aus dem Sinn der Kündigungsgründe. Bei der betriebsbedingten Kündigung geht es um die Anpassung des Personalbestandes an die erwartete – also zukünftige – Beschäftigungsmöglichkeit und auch bei der personenbedingten geht es letztlich darum, ob der Arbeitnehmer in Zukunft fähig sein wird, den Anforderungen des Arbeitsplatzes gerecht zu werden. Anders liegt es jedoch bei der verhaltensbedingten Kündigung. Aus dem Gesetz ist keineswegs zu schließen, dass die verhaltensbedingten Kündigungsgründe gerade für die Zukunft des Vertragsverhältnisses Gewicht haben müssen. Genauso kann die Vorschrift dahingehend interpretiert werden, dass es Sinn der Möglichkeit zur verhaltensbedingten Kündigung ist, auf eine Vertragsverletzung zu reagieren, bzw. Siehe v. Hoyningen-Huene, G. (1999), S. 21. BAG 5. 8. 1976, 5. 7. 1990, AP Nr. 1 zu § 1 KSchG für personenbedingte; BAG 10. 11. 1988, AP Nr. 3 zu § 1 KSchG 1969 für verhaltensbedingte; BAG 22. 11. 1973, AP NR: 22 zu § 1 KSchG für betriebsbedingte. 139 Dies gilt zumindest für die verhaltensbedingte Kündigung. Einen anderen Standpunkt kann man für die betriebsbedingte vertreten, da ein Anhaltspunkt dafür in § 1 II 3 KSchG gegeben sein könnte. 140 Sehr ausführlich in Rüthers, B. (1998), S. 1433 ff. aber auch schon Rüthers, B. (1993a), S. 58 f. 141 Löwisch legt hingegen dar, dass Herschel diesen Gedanken aus § 84 I Nr. 4 Betriebsrätegesetz 1920 und damit aus der kollektivistischen Vorstellung der Betriebsgemeinschaft entnommen habe (Löwisch, M. (1998), S. 1794. 142 Rüthers, B. (1993a), S. 59. 143 So z. B. Löwisch, M. (1998), S. 1794 oder auch ausführlich zur Herkunft Preis, U. (1998), S. 1889 ff. 137 138

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einer solchen durch Abschreckung vorzubeugen. Es gibt wohl keinen zwingenden Grund, auf eine reine Zukunftsbezogenheit zu schließen. Es liegt durchaus nahe anzunehmen, dass die verhaltensbedingte Kündigung als Reaktion auf Vertragsverletzungen unabhängig von der Zukunft zu interpretieren ist und somit zumindest auch Sanktionscharakter trägt.144 Zutreffend sind diese Erwägungen ebenfalls für das Prognoseprinzip bei Vorliegen eines wichtigen Grundes im Rahmen der außerordentlichen Kündigung.145 Unabhängig von diesen Kritikpunkten hat sich das Prognoseprinzip zur Beurteilung der Wirksamkeit einer Kündigung für alle Kündigungsarten und -gründe durchgesetzt. Die wohl neueste Rechtsfortbildung der Rechtsprechung geht aber nunmehr dahin, das Prognoseprinzip partiell zu ergänzen. Diese neue Rechtsfortbildung ist die Bejahung eines Wiedereinstellungsanspruchs. Aufgrund des eben angesprochenen Prognoseelements einer Kündigung besteht bezüglich aller Kündigungsgründe eine gewisse Unsicherheit. Diese Unsicherheit besteht darin, dass sich die Prognose nicht erfüllen muss. So können sich insbesondere bei einer betriebsbedingten Kündigung die Umstände ändern, indem sich beispielsweise die Auftragslage bessert oder der eigentlich zur Stillegung bestimmte Betrieb von einem anderen Unternehmer übernommen wird. Ein anderes Beispiel wäre in dem Fall gegeben, dass der krankheitsbedingt Gekündigte unerwartet gesundet. In einem derartigen Fall stellt sich die Frage, ob eine solche Veränderung der Umstände in einem Kündigungsschutzprozess geltend gemacht werden kann oder ob sich vielleicht ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Wiedereinstellung ergibt.146 Weitgehende Einigkeit besteht in Literatur und Rechtsprechung darüber, dass die Geltendmachung von Veränderungen der tatsächlichen Umstände nach erfolgter Kündigung in einem Prozess gegen die Kündigung nicht möglich ist. Grund dafür ist, dass für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Kündigung auf den Zeitpunkt des Zugangs abzustellen ist. Anders beurteilt die Rechtsprechung aber mittlerweile die Frage nach einem Wiedereinstellungsanspruch. Gestützt vor allem auf den Grundsatz von Treu und Glauben des § 242 BGB hat das BAG147 und vorher bereits einige LAGs148 unter gewissen Umständen eine Pflicht des Arbeitgebers auf Wiedereinstellung bejaht, da dieser – so das BAG149 – sich rechtsmissbräuchlich verhalte, wenn er dem Arbeitnehmer nicht die Weiterbeschäftigung anbiete, sofern der Kündigungsgrund noch vor Ablauf der Kündigungsfrist wegfiele. 144 Siehe zu dem ganzen Abschnitt auch Kraft, A. (1994), S. 475 f. oder ähnlich Stege, D. (1999), S. 114. A.A. hingegen Preis, U. (1987), S. 323 ff. 145 So auch Kraft, A. (1994), S. 476. 146 Vgl. dazu vom Stein, J. (1991), S. 85. 147 Siehe dazu BAG NZA 1997, 757 (759); BAG DB 1998, 538 oder BB 1998, 1108. 148 LAG Köln DB 1988, 1475 oder LAG Hamburg DB 1991, 1180. 149 BAG NZA 1997, 757 (759).

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

Diese rechtsdogmatisch umstrittene Begründung150 reichte dem BAG, um einen Wiedereinstellungsanspruch zu kreieren. Allerdings hat es diesem auch recht klare Grenzen gesetzt. Voraussetzung für einen derartigen Anspruch ist danach, dass sich die Prognose, auf der die Kündigung beruhte, noch vor Ablauf der Kündigungsfrist als falsch erweist. Daneben kann der Anspruch nur durchgesetzt werden, wenn die schützenswerten Interessen des Arbeitnehmers diejenigen des Arbeitgebers überwiegen.151 Dabei wird ein Überwiegen des Interesses des Arbeitgebers regelmäßig vorliegen, wenn dieser gutgläubig und mit Rücksicht auf die Wirksamkeit der Kündigung bereits Dispositionen getroffen hat.152 Mit diesem Wiedereinstellungsanspruch korrespondiert nach der h.M. auch eine Informationspflicht des Arbeitgebers, wenn der Wegfall des Kündigungsgrundes aus seiner Risikosphäre stammt (so bei betriebsbedingter Kündigung). Eine Verletzung dieser Informationspflicht oder eine unberechtigte Ablehnung einer Wiederbeschäftigung des Arbeitnehmers lässt Schadensersatzansprüche gegen den Arbeitgeber entstehen.153 Aufgrund der relativen kurzen Zeit, die seit der Durchsetzung des Wiederbeschäftigungsanspruchs vergangen ist, sind noch viele Rechtsfragen nicht abschließend geklärt, doch bereits jetzt ist deutlich, dass mit diesem Instrument eine nicht unbedeutende Verstärkung der Rechtsstellung des einzelnen Arbeitnehmers verbunden ist.154 Das BAG vertritt weiterhin den Standpunkt, dass erst eine umfassende Abwägung der Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer ergeben könne, ob eine Kündigung sozial gerechtfertigt sei. Diese Interessenabwägung ist nach BAG auch dann erforderlich, wenn „an sich“ eine Kündigung personen-, verhaltens- oder betriebsbedingt155 ist.156 Für eine solche umfassende Interessenabwägung ist aber weder im Kündigungsschutzgesetz noch in der amtlichen Begründung ein Anhaltspunkt ersichtlich. Richtig ist zwar, dass sich in den in § 1 II 1 KSchG genannten Gründen ein Interesse des Arbeitgebers an der Kündigung widerspiegelt, und dass es auf das konkrete Gewicht dieser Interessen im Rahmen eines konkreten Arbeitsverhältnisses ankommt,157 aber dies bedeutet nicht automatisch, dass alle nur denkbaren 150 Sehr ausführlich beschäftigt sich Ricken, O. (1998), S. 461 ff. mit der Begründung des BAG. Er weist recht überzeugend die Fragwürdigkeit der Begründung des BAG nach. 151 Vgl. BAG NZA 1997, 757 (760). 152 Ausführlicher dazu Ricken, O. (1998), S. 465. 153 Boewer, D. (1999), S. 222 ff. 154 Sehr ausführlich zum Wiederbeschäftigungsanspruch und noch offenen Fragen Boewer, D. (1999), S. 177 ff.; ein kurzer Überblick findet sich bei Ascheid, R. (1998), § 1 KSchG RN 179 und 473. 155 Für die betriebsbedingte Kündigung wurde die Interessenabwägung durch das BAG (30. 4. 1987, BB 1987, 2303) stark beschränkt, indem es ausführte, daß die Interessenabwägung sich nur noch in seltenen Ausnahmefällen zugunsten des Arbeitnehmers auswirken könne. 156 Siehe Löwisch, M. (2000), § 1 RN 61 mit ausführlichem Rechtsprechungsnachweis. 157 Vgl. Löwisch, M. (2000), § 1 RN 61 – 70.

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Interessen der beiden Parteien gegeneinander abgewogen werden müssen, wie es im Ergebnis das BAG tut. Es spricht vielmehr einiges dafür, mit Löwisch158 anzunehmen, dass der historische Gesetzgeber bereits mit der Beschränkung der Kündigung auf die Gründe des § 1 II 1 KSchG die Interessen des Arbeitgebers an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen die Bestandsschutzinteressen des Arbeitnehmers abgewogen hat und deshalb eine weitere Abwägung gar nicht mehr vorgesehen hatte.159 Soweit das BAG trotzdem in ständiger Rechtsprechung eine solche umfassende Interessenabwägung vornimmt, handelt es sich um eine vom ursprünglichem Normgeber nicht vorgesehene Verstärkung des Kündigungsschutzes. Wirklich begründet hat das BAG die umfassende Interessenabwägung nie.160 Diese Verstärkung hat das BAG aber wohl mittels einer Übertragung aus den bei der außerordentlichen Kündigung geltenden Grundsätzen gezogen.161 In § 626 I BGB heißt es: „Das Dienstverhältnis kann von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist ( . . . ) nicht zugemutet werden kann.“ Die Folge der Übertragung des Prinzips der Interessenabwägung war, dass von der Rechtsprechung, insbesondere zu Gunsten des Arbeitnehmers, immer mehr Aspekte berücksichtigt wurden – darunter auch viele, wie beispielsweise die Arbeitsmarktchancen, Unterhaltspflichten, Zerrüttung der Ehe, die mit dem Arbeitsverhältnis eigentlich nichts zu tun haben. In den letzten Jahren ist allerdings in der Literatur eine gewisse Kehrtwende zu erahnen, wonach bei der verhaltens- und krankheitsbedingten Kündigung, sozialen Aspekten ohne Bezug zum Arbeitsverhältnis ein etwas geringeres Gewicht beigemessen wird. Beispielhaft sei für diese Tendenz Ascheid genannt, der nur noch Interessen mit Vertragsbezug berücksichtigen will und auch nur im Rahmen der Beurteilung, ob ein Kündigungsgrund „an 158 Löwisch, M. (2000), § 1 RN 61. So auch Preis, U. (1987), S. 221, der allerdings bei personen- und verhaltensbedingter Kündigung einen begrenzten Bereich richterlicher Interessenabwägung wegen einer Kollision betrieblicher Interessen mit der Würde und Persönlichkeitsentfaltung des einzelnen Arbeitnehmers eröffnet sieht. Aber auch in diesem Bereich ist er gegen eine Globalabwägung der Interessen (S. 207). 159 Anders hingegen z. B. v. Hoyningen-Huene, G. (1999), S. 225 der allerdings fordert, „nur auf den Arbeitsvertrag und die Kündigung bezogene Interessen ( . . . )“, nicht dagegen „das Lebensalter, bestehende Unterhaltspflichten oder die Vermögenslage des Arbeitnehmers“ zu berücksichtigen. 160 So Schwerdtner, P. (1998), S. 215. 161 Ausführlich dargestellt bereits durch Hanau, P. (1984), S. 560 f. oder nun auch durch Schwerdtner, P. (1998), S. 228 f. Anders Kittner, M. / Trittin, W. (1997), Einl. RN. 11 oder § 1 KSchG RN 51, die das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Grundgesetz verankert sehen.

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sich“ vorliegt.162 Ob sich diese Tendenz auch in der Rechtsprechung niederschlägt, bleibt abzuwarten.

6. Rechtsprechung zu sonstigen Regelungen Gemäß § 102 I 3 BetrVG ist eine ohne Anhörung des Betriebsrates ausgesprochene Kündigung unwirksam. Nicht hingegen ist geregelt, wie eine Anhörung zu behandeln ist, bei welcher der Betriebsrat zwar gehört wurde, aber die Anhörung unvollständig war,163 z. B. ihm nicht alle für die Kündigung bedeutsamen Umstände mitgeteilt wurden. Nach Rechtsprechung des BAG bewirkt eine solche unvollständige Anhörung die Nichtigkeit der Kündigung.164 Dabei ist es unerheblich, ob der Betriebsrat bei einer vollständigen Anhörung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.165 Auch eine Heilung einer wegen unvollständiger Anhörung unwirksamen Kündigung durch Nachholung oder Zustimmung des Betriebsrates lehnt die Rechtsprechung ab.166 Diese Rechtsfolge ist für den Arbeitgeber besonders problematisch, da die Rechtsprechung zu einer Komplizierung des Verfahrens und hohen Anforderungen an den Inhalt der Informationspflicht geführt hat, so dass Fehler sehr häufig vorkommen.167 Die Möglichkeit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch Gerichtsurteil mit der Rechtsfolge der Abfindung hat die Rechtsprechung folgendermaßen ausgestaltet: Voraussetzung ist die Sozialwidrigkeit der Kündigung und der Antrag einer der Parteien. Nach Ansicht des BAG kann der Arbeitnehmer den Antrag auf Auflösung auch stellen, wenn die Kündigung nicht nur sozialwidrig, sondern auch noch aufgrund eines anderen Mangels unwirksam ist. Der Arbeitgeber hingegen kann den dementsprechenden Antrag nur stellen, wenn der einzige Mangel der Kündigung die Sozialwidrigkeit ist.168 Die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für den Arbeitnehmer muss eine Folge der Störung des Arbeitsverhältnisses durch die vom Arbeitgeber ausgesprochene sozialwidrige Kündigung sein. Beispiele dafür sind ehrverletzende Behauptungen des Arbeitgebers, 162 Ascheid, R. (1998), § 1 KSchG RN 162 oder auch v. Hoyningen-Huene, G. (1999), S. 225. Damit dürften sie auch mit Löwisch, M. (2000), § 1 RN 61 ff. zumindest im Ergebnis übereinstimmen. 163 Hümmerich, K. (1996), S. 1299. 164 So z. B. BAG NZA 1992, 38 oder BAG NZA 1995, 364. 165 Vgl. Ascheid, R. (1993), S. 289 f. 166 Vgl. BAG vom 28. 2. 1974 AP Nr. 2 zu § 102 BetrVG 1972 = BB 1974, 836. Ausnahme bilden Fehler, die ausschließlich in den Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich des Betriebsrates fallen (vgl. z. B. BAG in BB 1975, 1435). 167 Vgl. Kraft (1994), S. 428. 168 Zu dieser Rechtsprechung und der Kritik daran siehe Stahlhacke, E. / Preis, U. (1991), S. 432 – 436.

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Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses, Gefahr der inkorrekten Behandlung durch den Arbeitgeber, Spannungen mit Vorgesetzten und / oder Kollegen.169 Ein erfolgreicher Antrag des Arbeitgebers auf Auflösung setzt voraus, dass eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht zu erwarten ist. Da es sich bei der Auflösung nach der Konzeption des KSchG eigentlich um eine Ausnahme handeln soll, dürfen an deren Voraussetzungen nicht zu geringe Anforderungen gestellt werden.170 Gründe für die Auflösung können sich insbesondere aus dem Verhalten des Arbeitnehmers nach der Kündigung ergeben. Beispiele sind der persönliche Angriff gegen den Arbeitgeber oder Kollegen, Aufstellung wahrheitswidriger Behauptungen im Prozess, öffentliche Erörterungen im Betrieb oder Pressekampagnen unter Beteiligung des Arbeitnehmers.171 Kommt das Gericht im Verfahren zu dem Ergebnis, dass eine sozialwidrige Kündigung vorliegt, und dass dem Aufhebungsantrag stattzugeben ist, so spricht es die Auflösung des Arbeitsverhältnisses aus und verurteilt den Arbeitgeber zur Zahlung eines bestimmten angemessenen Betrages, der sich innerhalb der Höchstgrenzen des § 10 KSchG bewegen muss. Neben dieser im Gesetz vorgesehenen Möglichkeit trotz unwirksamer Kündigung eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen eine Abfindung zu erzwingen, steht den Arbeitsvertragsparteien auch noch die Möglichkeit offen, im Wege des gerichtlichen Vergleichs das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung zu beenden. In der Praxis werden nur etwa 10% der Kündigungsschutzklagen aufgrund einer streitigen mündlichen Verhandlung entschieden.172 Der Rest wird vor allem durch Vergleiche beendet. Dabei wird in aller Regel das Arbeitsverhältnis beendet, dafür erhält der Arbeitnehmer im Gegenzug eine Abfindung. Diese Tatsache zusammen mit der oben besprochenen Möglichkeit, die Auflösung unter bestimmten Bedingungen zu erzwingen (§ 9 KSchG), führt dazu, dass ein Kündigungsschutzprozess fast immer ein Prozess um die Höhe der Abfindung, nicht aber um den Bestand des Arbeitsverhältnisses ist.173 Die Höhe der Abfindung wird in der Regel abhängig von der Dauer der Betriebszugehörigkeit, dem Einkommen und den Erfolgsaussichten der Klage des Arbeitnehmers sein. Als Richtgröße für die normalerweise vereinbarte Höhe der Abfindung kann dabei Monatsgehalt pro Beschäftigungsjahr gelten, soweit das Prozessrisiko etwa gleich verteilt ist. Werden dem Arbeitnehmer gute Chancen bzgl. des Prozessrisikos eingeräumt, steigt die Abfindungssumme bzw. sie sinkt, wenn seine Chancen, den Prozess zu Vgl. zu den Beispielen Hromadka, W. / Maschmann, F. (1998), S. 443. Vgl. Löwisch, M. (2000), § 9 RN 52 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung. 171 Auch dazu Löwisch, M. (2000), § 9 RN 54 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung. 172 Däubler, W. (1995), S. 1049 f., der diese Angaben aus den BArbBl. 11 / 1993, S. 87 entnommen hat. 173 Vgl. z. B. Kittner, M. (1999), S. 892. 169 170

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

gewinnen, gering sind. Die Handhabung der geltenden Kündigungsschutzregeln wird auch aufgrund dieses hohen Anteils an Vergleichen häufig kritisiert. Der diesbezügliche Vorwurf ist insbesondere, dass das geltende Kündigungsschutzgesetz zu einer Art Abfindungsmechanismus denaturiert sei.174 Neben diesen beiden Möglichkeiten der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen eine Abfindung besteht für die Vertragsparteien noch die Möglichkeit, einen Aufhebungsvertrag abzuschließen. Dieser ist zwar im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, aber seine Zulässigkeit ergibt sich aus dem Grundsatz der Vertragsfreiheit. Er bietet im Vergleich zur Kündigung eine ganze Reihe von Vorteilen sowohl für den Arbeitgeber als auch für den Arbeitnehmer. Darauf wird später noch einzugehen sein [Kapitel 3 Abschnitt C. VI.].

C. Besonderer Kündigungsschutz Außer durch den allgemeinen Kündigungsschutz ist die ordentliche Kündigung – teilweise auch die außerordentliche – noch in bestimmten Fällen ausgeschlossen oder es ist die Zustimmung einer Behörde oder eine Anzeige an eine solche erforderlich. Diese Voraussetzungen bilden den besonderen Kündigungsschutz.175 Zum besonderen Kündigungsschutz gehören insbesondere auch diejenigen Bestimmungen, die nur bestimmten Arbeitnehmern wegen erhöhter Schutzbedürftigkeit oder Schutzwürdigkeit zugute kommen [1.].176 Außerdem sollen die zusätzlichen Anforderungen an eine Massenentlassung sowie der damit eng verbundene Sozialplan, unter dem besonderen Kündigungsschutz behandelt werden [2.].177

I. Gesetzliche Regelungen 1. Kündigungsschutz für besondere Gruppen von Arbeitnehmern Gemäß § 9 I 1 Mutterschutzgesetz (MuSchG) ist die Kündigung – ordentliche und außerordentliche- „. . . gegenüber einer Frau während der Schwangerschaft und bis zum Ablauf von vier Monaten nach der Entbindung ( . . . ) unzulässig, wenn dem Arbeitgeber zur Zeit der Kündigung die Schwangerschaft oder Entbindung bekannt war oder innerhalb von zweier Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird; ( . . . ).“ Monopolkommission (1994), S. 375. Götz, H. (1988), S. 149. 176 So z. B. Marschollek, G. (1994), S. 145. 177 Der Schutz gegen Massenentlassungen wird teils zu dem allgemeinen (so z. B. Brox, H. (1993), S. 147), teils zum besonderen Kündigungsschutz (Götz, H. (1988), S. 153) gezählt. 174 175

C. Besonderer Kündigungsschutz

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Nach § 18 I 1 Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) darf der Arbeitgeber auch „. . . ab dem Zeitpunkt, von dem an Erziehungsurlaub verlangt worden ist, höchstens jedoch sechs Wochen vor Beginn des Erziehungsurlaubs nicht kündigen“. Des weiteren gehören zu den besonders geschützten Arbeitnehmergruppen die Schwerbehinderten. Die ordentliche Kündigung gegenüber einem Schwerbehinderten bedarf gem. § 15 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) der vorherigen Zustimmung der Hauptfürsorgestelle und auch die außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund bedarf gemäß § 21 SchwbG der vorherigen Zustimmung, wobei allerdings die Hauptfürsorgestelle die Zustimmung erteilen soll, sofern der wichtige Grund nicht im Zusammenhang mit der Behinderung steht (§ 21 IV SchwbG). Weitere besonderen Kündigungsschutz genießende Gruppen sind Mitglieder von Betriebsräten, Jugend- oder Auszubildendenvertretungen etc. gemäß § 15 KSchG, sowie Wehr- und Zivildienstleistende (§ 2 I ArbPlSchG).178

2. Massenentlassungen Massenentlassungen muss der jeweilige Arbeitgeber dem Arbeitsamt zuvor unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrates schriftlich anzeigen (§ 17 KSchG). Die Anzeige setzt dann eine Sperrfrist für die vorgesehenen Entlassungen in Gang, die regelmäßig einen Monat beträgt.179 Massenkündigungen, die ohne Anzeige oder vor Ablauf der Frist ohne Zustimmung ausgesprochen werden, sind unwirksam, sofern sich die Arbeitnehmer darauf berufen. Eine Massenentlassung liegt vor, wenn in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmer mehr als 5 Arbeitnehmer, in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10% der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer oder in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer innerhalb von dreißig Kalendertagen entlassen werden (§ 17 I 1 KSchG). Massenentlassungen beruhen regelmäßig auf der Schließung von Betriebsteilen oder Abteilungen oder auf Verringerung der Produktionskapazität. Damit kommen sie sehr in die Nähe der §§ 111 – 113 BetrVG, die eine Beteiligung des Betriebsrates an Betriebsänderungen im mitbestimmten Betrieb regeln. Gemäß § 111 S. 1 BetrVG hat der Unternehmer die Pflicht, den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend zu informieren und sich mit ihm über die geplante Betriebsänderung zu beraten, wenn diese wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder Teile davon haben kann. Satz 2 stellt einen Katalog von Maßnahmen auf, die Betriebsänderungen im Sinne des Satzes 1 darstellen. Außerdem muss der Arbeitgeber versuchen, mit dem 178 Zu diesen wie auch zu weiteren Gruppen siehe z. B. Zöllner, W. / Loritz, K. (1998), S. 316 – 319. 179 Im Einzelfall kann aber gem. § 18 KSchG eine Entlassungssperre von zwei Monaten festgesetzt werden.

9 von Klitzing

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

Betriebsrat einen Interessenausgleich zu erzielen (§ 112 Abs. 1 – 5 BetrVG). Ziel des Interessenausgleichs soll es sein, das Ob, Wann und Wie der geplanten Betriebsänderung zu regeln. Er soll nach Möglichkeit das Entstehen wirtschaftlicher Nachteile für die Arbeitnehmer verhindern oder diese abmildern. Der Ausgleich dieser Nachteile hingegen ist nicht seine Aufgabe, da dies dem Sozialplan obliegt.180 3. Sozialplan Unternehmer und Betriebsrat sollen des weiteren zum Ausgleich oder Milderung der wirtschaftlichen Nachteile der Betriebsänderung für die Arbeitnehmer einen Sozialplan aufstellen, in dem z. B. Abfindungszahlungen, die Übernahme von Umzugskosten, Beihilfen zu Umschulungen etc. festgelegt werden.181 Kommt es in Verhandlungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat zu keiner Einigung, kann der Präsident des Landesarbeitsamtes um Vermittlung ersucht und die Einigungsstelle angerufen werden, die über die Aufstellung eines Sozialplanes verbindlich entscheidet (§ 112 Abs. 4 BetrVG). Im Unterschied zum Interessenausgleich kann dabei der Sozialplan grundsätzlich erzwungen werden.182 Kommt also keine Einigung zustande, kann der Betriebsrat nach § 112 IV BetrVG die Aufstellung eines Sozialplanes durchsetzen183, für den § 112 V BetrVG verbindliche Grundsätze aufstellt. Die Einigungsstelle hat danach sowohl die sozialen Belange der betroffenen Arbeitnehmer, als auch die wirtschaftliche Vertretbarkeit ihrer Entscheidung für das Unternehmen zu beachten. Näher ausgestaltet werden die zu berücksichtigenden Belange in den Nr. 1 – 3 des Abs. 5. Nachdem die Rechtsprechung bereits die bloße Entlassung von Arbeitnehmern (Massenentlassung § 17 KSchG) als Betriebsänderung qualifiziert hatte, übernahm der Gesetzgeber diese Regelung in § 112 a BetrVG. In Absatz 2 schränkte der Gesetzgeber diese Regelung jedoch ein, indem er sie in den ersten vier Jahren eines Unternehmens für nicht anwendbar erklärt.184 Der Gesetzgeber hatte mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz 1996 einige Vorschriften zur Verfahrensbeschleunigung eingeführt (§ 113 III Satz 2 und 3), um den langwierigen Weg zur Betriebsänderung zu beschleunigen,185 aber auch diese wurden zum 1. 1. 1999 wieder abgeschafft.

Vgl. dazu Hanau, P. / Kania, T. (1998), BetrVG §§ 112, 112a RN 1. Vgl. die Darstellung bei Brox, H. (1993), S. 252. 182 Näheres dazu beispielsweise bei Hanau, P. / Kania, T. (1998), BetrVG §§ 112, 112a RN 21. Dort (RN 16 ff.) auch zu Ausnahmen im Rahmen des § 112 a BetrVG. 183 Zöllner, W. / Loritz, K. (1998), S. 596 f. 184 Ausführlicher dazu v. Bülow, E. (1999), E § 1, 1. 185 Siehe dazu Löwisch, M. (1996a), S. 1016. 180 181

C. Besonderer Kündigungsschutz

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II. Richterliche Ausgestaltung 1. Kündigungsschutz für besondere Gruppen von Arbeitnehmern In diesem Bereich sind die gesetzlichen Regelungen eindeutig formuliert und verzichten weitgehend auf die Verwendung von Generalklauseln und offenen Tatbestandsmerkmalen, so dass die Rechtsprechung hierzu weniger bedeutend bzw. wirtschaftlich relevant ist. 2. Massenentlassungen Wesentlich wichtiger und wirtschaftlich bedeutender ist die Rechtsprechung zur Massenentlassung. Insbesondere interessant ist dabei die Rechtsprechung zur erforderlichen Sozialauswahl. Nach ganz herrschender Ansicht muss nämlich auch im Fall von Massenentlassungen eine individuelle Sozialauswahl vorgenommen werden,186 deren Kriterien bereits oben [unter B. II. 4. d)] dargestellt wurden. Dabei kann dem Arbeitgeber aufgrund der Komplexität der zu berücksichtigenden Kriterien und deren unterschiedlicher Gewichtung im Rahmen der Auswahl leicht ein Fehler unterlaufen. Dies hat nach der Rechtsprechung des BAG die Folge, dass sich alle gekündigten Arbeitnehmer auf diesen einen Fehler berufen können. Ergebnis wäre konsequenterweise, dass alle Kündigungen unwirksam sind. Um diesem Ergebnis auszuweichen, hat das BAG dem Arbeitgeber in gewissem Rahmen die Möglichkeit gegeben, die Sozialauswahl nachträglich im Kündigungsschutzprozess zu korrigieren.187 Diese ,Korrekturregelung‘ ist jedoch weder praktisch gut durchführbar, noch ist sie rechtsdogmatisch unproblematisch, da die Wirksamkeit einer Kündigung normalerweise auf den Zeitpunkt ihres Ausspruchs bezogen ist.188 Eine Lösung der Massenkündigungsprobleme in Zusammenhang mit der Sozialauswahl muss, wie Wank zutreffend feststellt, im Grundsätzlichen liegen.189 Durch das Beschäftigungsförderungsgesetz 1996 wurden diesbezüglich einige Änderungen vorgenommen. Einerseits wurden, wie oben bereits erwähnt, die bei der Sozialauswahl zu berücksichtigenden Aspekte begrenzt, und auf der anderen Seite wurden auch durch § 1 Abs. 4 und 5 die Möglichkeiten der Absicherung der richtigen Auswahl erweitert. Es wäre zu erwarten gewesen, dass durch diese Neuregelungen viele der bisherigen Probleme und Unwägbarkeiten bei Massenkündigungen beseitigt worden wären, da aber die Regelungen bis auf Teile des Absatzes 4 wieder zurückgenommen wurden und statt dessen der alte Rechtszustand wieder eingeführt wurde, können sich die Neuregelungen in der Praxis nicht mehr bewähren. 186 187 188 189

9*

Für alle v. Hoyningen-Huene, G. (1992), S. 209 f. v. Hoyningen-Huene, G. (1992), S. 210. Berkowsky, W. (1993), S. 584. Wang, R. (1993a), S. 82.

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

Die Geltungsdauer war für die Herausbildung einer gefestigten Rechtspraxis zu kurz. 3. Sozialplan Die Rechtsprechung zum Sozialplan ist, wie bereits oben erläutert wurde, mittlerweile großenteils vom Gesetzgeber rezipiert worden. Darüber hinaus hat das BAG die Abfindungspflicht im Rahmen eines Sozialplanes insofern erweitert, als es auch die Abfindung von Arbeitnehmern, die durch Eigenkündigung in Hinblick auf eine geplante Betriebsänderung und solche, die im Einverständnis, d. h. insbesondere im Rahmen eines Aufhebungsvertrages, ausscheiden, verlangt.190 Allerdings lässt es in diesen Fällen eine niedrigere Abfindung zu. In der Praxis steht bei Interessenausgleich und Sozialplan wegen Entlassungen aufgrund von Betriebsänderungen die Zahlung von Abfindungen im Vordergrund. Gängige Formel für die Höhe der einzelnen Abfindung ist dabei: Dauer der Betriebszugehörigkeit * Lebensalter * Bruttomonatsvergütung * einem ausgehandeltem Divisor = Abfindung. Als ungefähre Größe ist im Schnitt mit einem halben Monatsgehalt pro Dienstjahr zu rechnen.191 Früher strittig war die Frage der Behandlung von Sozialplanansprüchen im Konkurs. In einer Grundsatzentscheidung vom 13. 12. 1978 bestätigte das BAG die Anwendbarkeit der Vorschriften über die Beteiligung des Betriebsrates bei Betriebsänderungen im Konkurs. Darüber hinaus hat es die Abfindungsforderungen als besonders bevorrechtigte Konkursforderungen eingestuft (Rangstelle Null). Diese Entscheidung des BAG wurde vom BVerfG wegen Verstoßes gegen Art. 20 GG (Vorbehalt des Gesetzes) aufgehoben, da die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschritten seien.192 Der Gesetzgeber reagierte darauf mit dem Gesetz über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren, indem den Ansprüchen die Rangstelle 1 bei volumenmäßiger Begrenzung eingeräumt wurde. Mittlerweile ist diese Regelung durch §§ 123, 124 InsO, die im wesentlichen die Regelungen beibehalten, abgelöst worden. Interessanter als die eigentliche Regelung der Sozialplanforderungen im Konkurs ist für diese Arbeit jedoch die Begründung, die das BAG für die rechtsfortbildende Entscheidung zur „Rangstelle Null“ und das BVerfG zu deren Aufhebung angaben (dazu jedoch erst unten).

190 191 192

Vgl. z. B. BAG BB 1994, 1883 und BAG BB 1994, 102. Vgl. Hanau, P. / Kania, T. (1998), §§ 112, 112a BetrVG RN 27. BVerfGE 65, 182 ff.

D. Sonstige Bestandsschutzregelungen

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D. Sonstige Bestandsschutzregelungen I. Gesetzliche Regelungen 1. Änderungskündigung Eine Änderungskündigung liegt vor, wenn der Arbeitgeber mit der Kündigung ein neues Vertragsangebot verbindet, nach dem das Arbeitsverhältnis zu geänderten Arbeitsbedingungen fortgesetzt werden soll.193 § 2 Satz 1 KSchG lautet: „Kündigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis und bietet er dem Arbeitnehmer im Zusammenhang mit der Kündigung die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Arbeitsbedingungen an, so kann der Arbeitnehmer dieses Angebot unter dem Vorbehalt annehmen, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt ist (§ 1 Abs. 2 Satz 1 bis 3, Abs. 3 Satz 1 und 2.).“ Diesen Vorbehalt muss er dem Arbeitgeber innerhalb der Kündigungsfrist, spätestens jedoch innerhalb von drei Wochen erklären. Unabhängig davon kann er gem. § 4 S. 2 KSchG beim Arbeitsgericht Klage auf Feststellung erheben, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen sozial ungerechtfertigt ist.194 Der § 2 KSchG dient vor allem dem Schutz des Vertragsinhaltes gegen eine einseitige Veränderung. Durch die Möglichkeit des Arbeitnehmers, die Änderungskündigung unter Vorbehalt anzunehmen, begrenzt er gleichzeitig das Prozessrisiko des Arbeitnehmers.195

2. Befristete Arbeitsverhältnisse Bisher wurde nur der Bestandsschutz für Arbeitsverhältnisse betrachtet, die auf unbestimmte Zeit eingegangen wurden. In der Praxis gewinnen aber befristete Arbeitsverträge zunehmend an Bedeutung. So lag der Anteil der befristeten Arbeitsverhältnisse an der Gesamtanzahl der Arbeitsverhältnisse im Jahre 1984 nur 4,2%, 1988 bereits 9% und im Jahre 1996 bereits bei 10,3%.196 Gesetzlich geregelt war das befristete Arbeitsverhältnis bis zum 1. 1. 2001, von Ausnahmevorschriften abgesehen, nur in § 620 BGB. Dieser lautete: „(1) Das Dienstverhältnis endigt mit dem Ablauf der Zeit, für die es eingegangen ist. 193 194 195 196

Siehe dazu z. B. Richardi, R. (1995), S. XXIV. Sehr ausführlich dazu z. B. Ascheid, R. (1993), S. 245 – 257. Vgl. v. Hoyningen-Huene, G. (1992), S. 253. Zahlenangaben aus Lipke, G. (1998), S. 2057, § 620 RN 19.

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

(2) Ist die Dauer des Dienstverhältnisses weder bestimmt noch aus der Beschaffenheit oder dem Zwecke der Dienste zu entnehmen, so kann jeder Teil das Dienstverhältnis nach Maßgabe der §§ 621, 622 kündigen.“ Absatz 1 bestätigt für den Dienstvertrag und damit bis zum 1. 1. 2001 auch für den Arbeitsvertrag den aus der Vertragsautonomie folgenden allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass ein Dauerschuldverhältnis mit dem Ablauf der Zeit endet, für die es eingegangen wurde. Aus Absatz 2 ergibt sich, dass bei befristeten Dienstverhältnissen die ordentliche Kündigung grundsätzlich ausgeschlossen ist. Für das Arbeitsverhältnis bedeutet eine Befristung, dass es automatisch mit Ablauf der bestimmten Zeit oder mit Erreichung des bestimmten Zwecks endet, ohne dass es einer Kündigung bedarf. Daher sind auch die Vorschriften über den allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz nicht unmittelbar anwendbar. Dies war dem Gesetzgeber bei der Beratung des KSchG bewusst.197 Trotz dieser grundsätzlichen Zulässigkeit hat der Gesetzgeber mehrfach Gesetze zur Erweiterung der Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge erlassen. Der Grund dafür war, dass seit langem in der Rspr. angenommen wurde, die Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers gebiete eine Einschränkung der Zulässigkeit von befristeten Arbeitsverträgen. Als problematisch an einer Befristung wurde von der Rspr. insbesondere angesehen, dass durch sie die Gefahr einer Umgehung des Kündigungsschutzes bestehe. Deshalb hat sich dazu eine sehr differenzierte Rechtsprechung entwickelt [dazu unten II.2.]. Diese im Hinblick auf die Gesetzeslage nicht ganz unbedenkliche Rechtsprechung hat dazu geführt, dass der Gesetzgeber mit dem Ziel, zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, die Zulassung befristeter Arbeitsverträge mehrfach erleichterte. Erstmals geschah dies durch Erlass des Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, zuletzt mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz (BeschfG) 1996198, das auch die Regelungen des Gesetzes von 1985 abänderte. Seitdem lautete § 1 Abs. 1, 2 und 3 Beschäftigungsförderungsgesetz 1985: „(1) Die Befristung eines Arbeitsvertrages ist bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig. Bis zur Gesamtdauer von zwei Jahren ist auch die höchstens dreimalige Verlängerung eines befristeten Arbeitsvertrages zulässig. (2) Die Befristung des Arbeitsvertrages ist ohne die in Absatz 1 genannten Einschränkungen zulässig, wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses das 60. Lebensjahr vollendet hat. (3) Die Befristung nach den Absätzen 1 und 2 ist nicht zulässig, wenn zu einem vorhergehenden unbefristeten Arbeitsvertrag oder zu einem vorhergehenden befristeten Arbeitsvertrag nach Absatz 1 mit demselben Arbeitgeber ein enger sachlicher Zusammenhang besteht. Ein solcher enger sachlicher Zusammen197 198

Vgl. BT-Drucks. 1951 S. 2090. BGBl. 1996, 1476 – 1479.

D. Sonstige Bestandsschutzregelungen

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hang ist insbesondere anzunehmen, wenn zwischen den Arbeitsverträgen ein Zeitraum von weniger als vier Monaten liegt.“ Der Absatz 5 sah eine Klagefrist zur Feststellung der Unwirksamkeit der Befristung von drei Wochen vor, während Absatz 6 die Geltung der Absätze 1 bis 4 bis zum 31. 12. 2000 begrenzt. Der Gesetzgeber hat nunmehr mit dem Gesetz für Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (TzBfG)vom 21. 12. 2000, das am 1. 1. 2001 in Kraft getreten ist, die Befristung von Arbeitsverträgen umfassend neu geregelt, wobei er sich weitgehend an der bisherigen, insbesondere durch die Rechtsprechung entwickelten Rechtslage orientierte. Kern der Regelung ist nunmehr § 14 TzBfG. Er lautet: „(1) Die Befristung eines Arbeitsvertrages ist zulässig, wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. Ein sachlicher Grund liegt insbesondere vor, wenn 1. der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung nur vorübergehend besteht, 2. ( . . . ) 3. der Arbeitnehmer zur Vertretung eines anderen Arbeitnehmers beschäftigt wird, 4. die Eigenart der Arbeitsleistung die Befristung rechtfertigt, 5 die Befristung zur Erprobung erfolgt 6. in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe die Befristung rechtfertigen, (...) (2) Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig; bis zu dieser Gesamtdauer von zwei Jahren ist auch die höchstens dreimalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrages zulässig. Eine Befristung nach Satz 1 ist nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat. ( . . . ) (3) Die Befristung eines Arbeitsvertrages bedarf keines sachlichen Grundes, wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses das 58. Lebensjahr vollendet hat. ( . . . ) (4) Die Befristung eines Arbeitsvertrages bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform.“ 3. Arbeitnehmerüberlassung Von Arbeitnehmerüberlassung oder auch von Leiharbeitsverhältnis wird gesprochen, wenn ein selbständiger Unternehmer einen Arbeitnehmer, mit dem er einen Arbeitsvertrag geschlossen hat, für eine gewisse Zeit an einen anderen Unternehmer „ausleiht“. 199 Dabei bleibt das Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitnehmer und 199

Vgl. Halbach, G. et al. (1994), S. 203.

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

Entleiher bestehen. Der Arbeitnehmer ist jedoch verpflichtet, für den Betrieb des Entleihers nach dessen Weisungen zu arbeiten. Besteht eine echte Beschäftigungsbeziehung im Stammarbeitsverhältnis und erbringt der Arbeitnehmer nur gelegentlich Leistungen gegenüber einem anderen Arbeitgeber, so spricht man von einem echten Leiharbeitsverhältnis. Davon zu unterscheiden sind sog. unechte Leiharbeitsverhältnisse, bei denen der Vertrag zwischen Arbeitnehmer und Verleiher grundsätzlich nur die Erbringung von Arbeitsleistungen gegenüber dritten Arbeitgebern zum Gegenstand hat.200 Diese Arbeitnehmerüberlassung mittels unechter Leiharbeitsverhältnisse (auch Zeitarbeit genannt) erfolgt in der Regel gewerbsmäßig und ist, wenn sie gewerbsmäßig erfolgt, durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) stark reglementiert.201 So ist z. B. eine Arbeitnehmerüberlassung gem. § 1 AÜG nur erlaubt, wenn eine Erlaubnis der Bundesanstalt für Arbeit vorliegt. Die Bundesanstalt hat darüber hinaus einige Kontrollbefugnisse (z. B. gem. §§ 7, 8 AÜG). Mit dem Ziel der Verstärkung der Rechte des Arbeitnehmers ordnete das AÜG weiterhin einige Beschränkungen der Vertragsgestaltung an, die aber durch verschiedene Gesetzesneuregelungen, insbesondere das Arbeitsförderungsreformgesetz (AFRG) vom 24. 3. 1997, abgemildert wurden. So ist die bis dahin geltende Beschränkung der Überlassung an den selben Entleiher von maximal 3 Monaten im Jahre 1985 auf 6 und ab dem 1. 1. 1994 auf 9 und zuletzt durch das AFRG auf 12 Monate erhöht worden (§ 3 AÜG). Ohne das Bestehen eines sachlichen Grundes darf zudem das Arbeitsverhältnis zwischen Verleiher und Arbeitnehmer nicht befristet werden. Ausreichend ist dabei nur ein Grund in der Person des Arbeitnehmers. Dieses Verbot besteht grundsätzlich weiter, aber es wurde ebenfalls durch das AFRG gelockert. Danach ist jetzt die einmalige Befristung zulässig (§ 3 I Nr. 3 und § 9 Nr. 2 AÜG). Zudem wurde das sogenannte Synchronisationsverbot gelockert (§ 3 I Nr. 5 AÜG). Das Synchronisationsprinzip soll vermeiden, dass der Verleiher das Beschäftigungsrisiko auf den Arbeitnehmer überwälzt, indem er die Dauer des Leiharbeitsverhältnisses genau auf die Dauer der erstmaligen Überlassung an den Entleiher beschränkt. Nach der Praxis der Bundesanstalt für Arbeit, die durch die Rechtsprechung gebilligt wurde, ist es erforderlich, dass die Dauer des Arbeitsverhältnisses mindestens 25% länger als die der ersten Entleihungsdauer ist. Die Lockerung besteht nunmehr darin, dass nur noch die wiederholte Befristung auf die Dauer der Entleihung untersagt ist bzw. die Versagung der Überlassungsgenehmigung zur Folge hat.202 Des weiteren wird durch das AÜG die Kündigung für den Fall wiederholter Einstellungen desselben Arbeitnehmers eingeschränkt (§ 9 Nr. 3 AÜG). Außerdem haftet auch der Entleiher für die Sozialversicherungsbeiträge und ist darüber hinaus subsidiärer Arbeitgeber. Im Baugewerbe ist die gewerbsmäßige 200 201 202

Zöllner, W. / Loritz, K. (1998), S. 334 f. Zu Ausnahmen siehe Halbach, G. et al. (1994), S. 204. Vgl. Wank, R. (1998), § 3 AÜG RN 24 ff.

D. Sonstige Bestandsschutzregelungen

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Arbeitnehmerüberlassung für die Tätigkeit von Arbeitern gem. § 1 b AÜG sogar ganz verboten.203 4. Schutz bei Betriebsübergang Bei einem rechtsgeschäftlichen Wechsel des Betriebsinhabers ist fraglich, inwieweit der Erwerber in das Arbeitsverhältnis eintritt. Seit der Einfügung204 des § 613a in das BGB gilt nach Abs. 1 Satz 1 und 2: „Geht ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber über, so tritt dieser in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Sind diese Rechte und Pflichten durch Rechtsnormen eines Tarifvertrages oder durch eine Betriebsvereinbarung geregelt, so werden sie Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer und dürfen nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden.“ Absatz 4 lautet: „Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers durch den bisherigen Arbeitgeber oder durch den neuen Inhaber wegen des Übergangs eines Betriebs oder eines Betriebsteils ist unwirksam. Das Recht zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus anderen Gründen bleibt unberührt.“

II. Richterliche Ausgestaltung 1. Änderungskündigung Die Änderungskündigung richtet sich nicht in erster Linie auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sondern auf die Weiterführung zu geänderten Bedingungen. Daher steht im Vordergrund des § 2 KSchG und der diesbezüglichen Rechtsprechung der Vertragsinhaltsschutz. Die Änderungskündigung setzt sich aus einer Kündigung und einem Angebot auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Arbeitsbedingungen zusammen. Der Arbeitnehmer hat auf den Ausspruch der Änderungskündigung drei Möglichkeiten zu reagieren. Erstens kann er das Änderungsangebot ablehnen. Dadurch wird die Änderungskündigung zur Beendigungskündigung. Gegen diese kann sich der Arbeitnehmer mit der normalen Kündigungsschutzklage wehren. Maßstab der Sozialwidrigkeitsprüfung ist dabei nach der Rspr., ob die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozialwidrig ist. Zweitens kann der Gekündigte das Änderungsangebot ohne Vorbehalt annehmen. Folge ist, dass die Kündigung ge203 Kurze und gute Darstellung zum Leiharbeitsverhältnis z. B. bei Zöllner, W. / Loritz, K. (1998), S. 336 – 338. 204 Die Einfügung erfolgte durch das BetrVG 1972.

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

genstandslos wird und das Arbeitsverhältnis zu den geänderten Bedingungen weiterbesteht. Die dritte Möglichkeit ist, dass der Arbeitnehmer das Änderungsangebot unter dem Vorbehalt gerichtlicher Nachprüfung annimmt. Stellt sich in der gerichtlichen Nachprüfung heraus, dass die Änderung sozial gerechtfertigt war, so gilt das Arbeitsverhältnis zu den geänderten Bedingungen. Stellt sich hingegen heraus, dass die Änderungen nicht sozial gerechtfertigt waren, so gilt das Arbeitsverhältnis rückwirkend mit den ursprünglichen Bedingungen.205 In einem Gerichtsverfahren kommt es somit, egal ob das Änderungsangebot abgelehnt oder unter Vorbehalt angenommen wurde, darauf an, ob die Änderungen der Vertragsbedingungen, nicht aber die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sozial gerechtfertigt sind.206 Zur sozialen Rechtfertigung wird von der Rechtsprechung eine zweistufige Prüfung vorgenommen. Auf der ersten Stufe wird geprüft, ob die angebotene Vertragsänderung im Sinne von § 1 II KSchG gerechtfertigt ist, ob also Gründe in der Person oder im Verhalten des Arbeitnehmers oder Gründe betrieblicher Art vorhanden sind. Auf der zweiten Stufe wird dann geprüft, ob sich der Arbeitgeber darauf beschränkt hat, nur solche Änderungen vorzuschlagen, die der Arbeitnehmer billigerweise hinnehmen muss. Auch hierbei ist nach der Rechtsprechung der ultima-ratio Grundsatz zu beachten, wonach eine Änderungskündigung dann unzulässig ist, wenn der Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann, für den eine Änderung der Arbeitsbedingungen nicht notwendig ist. In der Praxis ist der Hauptanwendungsfall der Änderungskündigung derjenige aus betriebsbedingten Gründen. Sie betrifft Änderungen wie z. B. des Tätigkeitsbereichs, der Arbeitszeit, der Versetzungen und vor allem die Herabsetzung von Entgelt und Sozialleistungen.207 Bei der konkreten Anerkennung eines Grundes als betrieblich erforderlich stellt die Rechtsprechung insbesondere für die Herabsetzung von Entgelt und Sozialleistungen strenge Anforderungen. Nach dem BAG ist eine solche Herabsetzung nur dann als betrieblich erforderlich anzusehen, wenn „( . . . ) durch die mit der Änderungskündigung angestrebte Kostensenkung die Stillegung des Betriebes oder die Reduzierung der Belegschaft verhindert werden kann und soll.“208 In der zitierten Entscheidung hatte die Reparaturabteilung eines größeren Betriebes seit längerer Zeit Verluste erwirtschaftet. Die rechnerischen Kosten einer Arbeitsstunde betrugen 56,– DM, während für entsprechende Leistungen bei externer Vergabe lediglich 42,– bis 44,– DM angefallen wären. Daher wollte der Arbeitgeber mittels einer Änderungskündigung die Streichung einer außertariflichen Fahrgeldzulage von 15,50 DM pro Tag erreichen, um die Verluste zu reduzieren. Das BAG lehnte aber 205 206 207 208

Vgl. dazu z. B. Hromadka, W. / Maschmann, F. (1998), S. 455 f. Löwisch, M. (2000), § 2 RN 27. Vgl. Ascheid, R. (1998), § 2 KSchG RN 52. So BAG v. 11. 10. 1989, AP Nr. 47 Betriebsbedingte Kündigungen Bl. 579.

D. Sonstige Bestandsschutzregelungen

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die Änderungskündigung als sozial ungerechtfertigt ab, da von der Unrentabilität eines Betriebsteils nicht zwangsläufig eine Existenzgefahr für den ganzen Betrieb ausgehe. Kosten einer Abteilung könnten durch besonders günstige Ergebnisse in anderen Bereichen ausgeglichen werden. Im Endeffekt fordert das BAG vom Arbeitgeber, ggf. jahrelange Verluste in einem Betriebsteil hinzunehmen, ohne die Möglichkeit zu haben, die Löhne zu reduzieren, wenn der Betrieb als Ganzes noch nicht in der Existenz gefährdet ist. Dem Arbeitgeber bleibt allerdings der Ausweg der Stillegung des Betriebsteils, woran er nicht gehindert ist, da die erforderlichen betriebsbedingten Entlassungen auf einer unangreifbaren Unternehmerentscheidung beruhen würden.209 Seit der oben behandelten richtungsweisenden Entscheidung aus dem Jahr 1989 hat das BAG diese Rechtsprechung weitergeführt und in neuester Zeit sogar – trotz insgesamt starker Kritik210 – durch zwei Entscheidungen aus dem Jahr 1998 partiell verschärft.211 Nicolai212 kommentiert diese Urteile mit der Bemerkung: „Die Entscheidung für Schließung unrentabler Betriebsabteilungen und Fremdvergabe und damit gegen lohnreduzierende Änderungskündigungen wird betroffenen Arbeitgebern nach den neuen Entscheidungen des 2. leichtfallen.“ Unstrittig ist im Rahmen der betriebsbedingten Änderungskündigung zudem eine Sozialauswahl vorzunehmen. Nach der Rechtsprechung des BAG ist diese aber nicht danach auszurichten, welcher Arbeitnehmer durch die Kündigung am wenigsten hart betroffen wird, sondern danach, wem die geänderten Arbeitsbedingungen in sozialer Hinsicht am ehesten zugemutet werden können.213 Dies wird von Teilen der Literatur, u. a. Berkowsky, kritisiert, da dadurch leistungsfähige Arbeitnehmer, denen eine Umstellung leichter fällt, besonders häufig im Rahmen der Sozialauswahl von einer Änderungskündigung betroffen werden. Außerdem führt diese Rechtsprechung zu Wertungswidersprüchen, wenn der Arbeitnehmer einer Änderungskündigung nicht zustimmt. Er wird dann von einer Beendigungskündigung betroffen, die ihm möglicherweise bei einer ,normalen‘ Sozialauswahl wegen einer Beendigungskündigung nicht getroffen hätte.214 Aber nicht nur bei der betriebsbedingten Änderungskündigung legt das BAG an die soziale Rechtfertigung strenge Maßstäbe an. Grundsätzlich hat das BAG zu den Maßstäben der Sozialwidrigkeitsprüfung festgestellt, dass aus der Tatsache, dass es bei der Änderungskündigung nur um die Sozialwidrigkeit der dem Arbeit209 Vgl. dazu Löwisch, M. (1997), § 2 KSchG RN 38 oder nunmehr Löwisch, M. (2000), § 2 KSCHG RN 43 ff. Sehr ausführlich dazu auch Löwisch, M. (1988), S. 635 ff. 210 Siehe dazu Nicolai, A. (1999), S. 673. 211 BAGE vom 20. 8. 1998 = NZA 1999, S. 255 sowie BAGE vom 12. 11. 1998 = NZA 1999, S. 471. 212 Siehe dazu Nicolai, A. (1999), S. 673. 213 Siehe Berkowsky, W. (1993), S. 505 mit Hinweisen auf dem entsprechende Urteile. 214 Vgl. zur Änderungskündigung und der Kritik an der Rechtsprechung Berkowsky, W. (1993), S. 504 – 509.

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

nehmer angebotenen Vertragsänderung geht, nicht geschlossen werden dürfe, dass für die Änderungskündigung ein weniger strenger Maßstab gelte.215 Diese sehr strengen Maßstäbe sind nicht unumstritten. So weist beispielsweise Löwisch zu Recht darauf hin, dass nicht das Arbeitsverhältnis als Ganzes auf dem Spiel stehe, sondern nur der Inhalt. Deshalb seien auch die Anforderungen an die Zumutbarkeit der Hinnahme der Änderungen weniger einschneidend.216

2. Befristete Arbeitsverhältnisse Trotz der bis zum 1. 1. 2001 geltenden gesetzlichen Regelung des § 620 I BGB a.F. waren sich Rechtsprechung und h. M. darin einig, dass Befristungen von Arbeitsverträgen nicht uneingeschränkt zulässig seien.217 Bereits das RAG hat bei sog. Kettenarbeitsverträgen, d. h. bei mehreren unmittelbar aufeinanderfolgenden befristeten Arbeitsverträgen, die Befristung dann für unzulässig erachtet, wenn sie in der Absicht erfolgte, zwingende Kündigungsschutzvorschriften zu umgehen.218 Das RAG ging also vom subjektiven Begriff der Gesetzesumgehung aus. Eine Umgehung wurde darüber hinaus verneint, wenn Gründe vorlagen, die eine Befristung rechtfertigen konnten.219 Eine einmalige Befristung hingegen war auch ohne das Vorhandensein von besonderen Gründen zulässig. In der sehr frühen Rechtsprechung des BAG wurde dann bereits nicht mehr auf die Umgehungsabsicht des Arbeitgebers abgestellt, sondern die Wirksamkeit der Befristung davon abhängig gemacht, ob ein verständiger Arbeitgeber anstelle eines befristeten, einen Arbeitsvertrag auf unbestimmte Zeit geschlossen hätte (objektive Gesetzesumgehung).220 Dies galt aber weiterhin nur für Kettenarbeitsverträge. Für die weitere Entwicklung der Rechtsprechung war dann die Entscheidung des Großen Senates vom 12. 10. 1960221 richtungsweisend. In dieser Entscheidung erkannte das Gericht: „Die Befristung eines Arbeitsvertrages ist rechtswirksam, es sei denn, dass bei Abschluss des Vertrages für die Befristung keine sachlichen Gründe vorgelegen haben.“ Das Erfordernis eines sachlichen Grundes war dabei nicht auf Kettenarbeitsverhältnisse beschränkt, sondern galt für alle befristeten Arbeitsverhältnisse bei denen theoretisch eine Umgehung des Kündigungsschutzes droht, d. h. nur nicht So BAG v. 6. 3. 1986, DB 1986, 2605. Löwisch, M. (2000), § 2 KSchG RN 30 oder wohl auch Ascheid, R. (1998), § 2 KSchG RN 45. 217 Vgl. dazu z. B. Lipke, G. (1998), S. 2094 § 620 RN 70. 218 RAG 9. 4. 1930; 2. 7. 1932. 219 Näheres dazu Lipke, G. (1998), S. 2096 § 620 RN 73. 220 Vgl. Lipke, G. (1998), S. 2096 § 620 RN 74. 221 EzA § 620 BGB Nr. 2. 215 216

D. Sonstige Bestandsschutzregelungen

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– in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses – und in Betrieben mit in der Regel fünf oder weniger Beschäftigten.

Dies tat das Gericht, obwohl es in der Urteilsbegründung zutreffend ausführte: „Das BGB erkennt befristete Arbeitsverträge an, wie sich aus § 620 Abs. 1 BGB ergibt. Diese Bestimmung war dem Gesetzgeber des späteren Kündigungsschutzgesetzes bekannt. Er hat aber keinen Anlass genommen, den arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz etwa ausdrücklich auf diese Verträge auszudehnen.“222 Letztlich wurde die Einschränkung der Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge und damit der Vertragsfreiheit damit gerechtfertigt, dass zwingende Bestimmungen des Kündigungsrechts umgangen würden. Es heißt weiter: „Jedoch muss sich die Regel des § 620 I BGB und der Grundsatz der Vertragsfreiheit hier im Hinblick auf die Entwicklung des Bestandsschutzes des Arbeitsverhältnisses Einschränkungen gefallen lassen. Befristete Arbeitsverträge sollen keineswegs unzulässig sein. Aber sie müssen im Gefüge der Grundprinzipien des deutschen Arbeitsrechts einen verständigen sachlich gerechtfertigten Grund haben.“223 Das Gericht bezieht sich somit auf den Zweck des Bestandsschutzes und die Grundprinzipien des deutschen Arbeitsrechts. Es dringt damit sehr weit in den sozialpolitischen und rechtspolitischen Raum ein, der vorrangig dem Gesetzgeber vorbehalten ist.224 Aber nicht nur die Ausdehnung der Zulässigkeit der Befristung auf die erstmalige Begründung eines befristeten Arbeitsverhältnisses war problematisch, sondern auch die restriktive Ausfüllung des Begriffs „sachlicher Grund“ durch die Rechtsprechung war umstritten.225 Als sachlicher Grund für eine Befristung waren z. B. anerkannt: – eine Befristung auf Wunsch des Arbeitnehmers226 – um den Arbeitnehmer zu erproben227 – für nur vorübergehende Aufgaben228 – in bestimmten Branchen, wie z. B. im Unterhaltungsgewerbe.

Als typisch nichtsachliche Gründe wurden z. B. eingestuft: – die Unsicherheit des Arbeitgebers über den zukünftigen Arbeitskräftebedarf229 EzA § 620 BGB Nr. 2, S. 7. EzA § 620 BGB Nr. 2, S. 7. 224 Zu diesem Ergebnis kommt auch Kraft, A. (1994), S. 478, der diese Schlußfolgerung sehr eingehend und einleuchtend begründet. Sehr polemisch hingegen Meilicke, H. (1981), S. 38 f., der aber eine Rechtsfortbildung durch das Arbeitsgericht klar darlegt. Zu diesem Urteil gelangt auch Hümmerich, K. (1996), S. 1299. 225 Siehe z. B. Löwisch, M. (1996c), S. 427 § 26 RN 1435. 226 BAG GS AP 16. 227 BAG GS AP 16. 228 BAG AP 71 zu § 620 = NJW 83, 1143. 222 223

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

– Möglichkeit der Stelleneinsparungen im öffentlichen Dienst230 – Stellen für künftige Bewerber freizuhalten231.

War kein überzeugender sachlicher Grund für die Befristung des Arbeitsverhältnisses vorhanden, so konnte sich der Arbeitgeber nicht auf die Befristung berufen. Er musste das Arbeitsverhältnis als auf unbestimmte Zeit eingegangen gegen sich gelten lassen. Der Vertrag war nicht als Ganzes unwirksam, sondern nur die Befristung entfiel für die Zukunft.232 Durch die Beschäftigungsförderungsgesetze 1985 und 1996 hat der Gesetzgeber die Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge erheblich erweitert (s. o.), insbesondere um den negativen Beschäftigungswirkungen der rigiden Rechtsprechung entgegen zu wirken. Dabei stellte er u. a. auf die konjunkturbedingten Schwankungen im Arbeitskräftebedarf bzw. Unsicherheit über den zukünftigen Bedarf des Arbeitgebers ab. Dies wurde deutlich, indem als Grund für die Erleichterung einer wirksamen Befristung bereits für das BeschfG 1985 angegeben wurde233, „. . . die seit langem schwierige Beschäftigungslage zu verbessern.“, indem „die Arbeitgeber veranlasst werden, eine Verbesserung ihrer Auftragslage auch den Arbeitslosen zugute kommen zu lassen, indem sie mit ihnen zumindest befristete Arbeitsverträge abschließen. ( . . . ) Befristete Arbeitsverträge werden zudem in vielen Fällen in unbefristete Arbeitsverhältnisse münden.“ Auch in der Begründung zum Entwurf des Beschäftigungsförderungsgesetzes 1996 hieß es234: „Den Arbeitgebern müssen daher weiterhin Instrumente an die Hand gegeben werden, auch in den Fällen einer ungesicherten Auftragslage oder bei nur vorübergehenden Aufträgen, Einstellungen vorzunehmen. ( . . . ) Die Arbeitgeber sind von dem Risiko entlastet, dass sie im Fall ausbleibender Anschlussaufträge bei unbefristeten Arbeitsverhältnissen Kündigungen unter Einhaltung von Kündigungsfristen und unter Beachtung des gesetzlichen Kündigungsschutzes aussprechen müssen.“ Hier korrigierte der Gesetzgeber somit die Rechtsprechung bzw. mildert deren Auswirkungen, die insbesondere Unsicherheit des Arbeitgebers über den zukünftigen Arbeitskräftebedarf235 nicht als Befristungsgrund anerkannt hatte. In einem Urteil des BAG von 1992236 heißt es: „Allein die Unsicherheit des Arbeitgebers, 229 BAG vom 21.10. 1954; Löwisch, M. (1996c), S. 427 § 26 RN 1435 mit weiteren Hinweisen. 230 BAG AP Nr. 17, 50 zu § 620. 231 BAG AP Nr. 33 zu § 620. 232 Zöllner, W. / Loritz, K. (1998), S. 269 § 21 I 3 b. 233 BT-Drucks. 10 / 2102, S. 14. 234 BT-Drucks. 13 / 4612, S. 12. 235 BAG vom 21.10. 1954; Löwisch, M. (1996c), S. 427 § 26 RN 1435 mit weiteren Hinweisen. 236 NZA 1993, 1081, 1983.

D. Sonstige Bestandsschutzregelungen

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ob der Mehrbedarf an Arbeitskräften von Dauer sein oder demnächst wegfallen werde, reicht nicht aus. Die Unsicherheit der künftigen Entwicklung des Arbeitsanfalls und des Arbeitskräftebedarfs gehören grundsätzlich zum unternehmerischen Risiko des Arbeitgebers. ( . . . ) Der Arbeitgeber kann sich bei nicht oder nur schwer vorhersehbarem quantitativen Bedarf in der Regel nicht darauf berufen, mit befristeten Arbeitsverträgen könne er leichter und schneller auf Bedarfsschwankungen reagieren ( . . . ).“ Mit der Verabschiedung und dem in Kraft treten des neuen TzBfG hat der Gesetzgeber nunmehr die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze in Gesetzesrecht umgewandelt. Gegenüber der bisherigen Rechtslage enthält das neue Gesetz wenige aber durchaus erhebliche Änderungen.237 Insbesonders die Kettenbefristung wurde erheblich erschwert und das von der Rechtsprechung entwickelte Erfordernis eines sachlichen Grundes für die Befristung wurde auch auf Kleinbetriebe und auf die ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses ausgedehnt. Da aufgrund der erst kurzen Geltungsdauer praktisch noch keine Rechtsprechung zum TzBfG ergangen ist, muss auf eine diesbezügliche Analyse verzichtet werden.

3. Arbeitnehmerüberlassung Die Rechtsprechung hat die Entwicklung des Rechtes der Arbeitnehmerüberlassung ganz maßgeblich beeinflusst. Das BVerfG hat mit Urteil vom 4. 4. 1967238 das bis dahin bestehende Verbot der Arbeitnehmerüberlassung aufgehoben. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Arbeitsvermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit durch § 37 III AVAVG auf Arbeitnehmerüberlassungsverträge ausgedehnt. In diesem Urteil stellte das BVerfG fest, dass „. . . die Bestimmungen des § 37 Abs. 3 AVAVG mit Art. 12 Abs. 1 GG nicht vereinbar und daher nichtig sei.“239 Grund dafür war, dass das allgemeine Arbeitsvermittlungsmonopol und dessen Ausdehnung auf den regelmäßigen Abschluss von Arbeitnehmerüberlassungsverträgen „. . . ein objektives Hindernis für die Wahl derjenigen gewerblichen Tätigkeit . . . , die . . . Überlassungsverträge der bezeichneten Art zum Gegenstand hat“ aufrichtet. Sie „. . . kann daher vor Art, 12 Abs. 1 GG nur Bestand haben, wenn sie zum Schutz eines überragenden Gemeinschaftsguts notwendig ist. Dieses Erfordernis ist hier aber nicht erfüllt.“240 Der Gesetzgeber hat daraufhin 1972 das AÜG erlassen, um den zahlreichen Missbräuchen bei der Arbeitnehmerüberlassung entgegen zu wirken.241 Dies wur237 238 239 240 241

Vgl. dazu insbesondere Kliemt, M. (2001), S. 296 ff. BVerfGE 21 (1967), Nr. 35. BVerfGE 21 (1967), S. 271. Zitiert aus BVerfGE 21 (1967), Nr. 35, S. 267. Vgl. dazu Marshall, D. (1993), S. 763 (§ 167 RN 3).

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

de, wie oben beschrieben, durch das Arbeitsförderungsreformgesetz (AFRG) vom 24. 3. 1997 neu geregelt. Dagegen ist die dazu ergangene Rechtsprechung wirtschaftlich weniger bedeutend.

4. Schutz bei Betriebsübergang Nach dem Wortlaut des Gesetzes geht ein Arbeitsverhältnis bei einem rechtsgeschäftlichen Betriebsübergang mit auf den neuen Betriebsinhaber über und zwar ohne Rücksicht auf den Willen des alten oder neuen Arbeitgebers und auch ohne Rücksicht auf den Willen des Arbeitnehmers. Nach Rechtsprechung des BAG hingegen ist der § 613a BGB gegenüber dem Arbeitnehmer nicht zwingend und er kann durch einen Widerspruch den Übergang des Arbeitsverhältnisses auf den neuen Arbeitgeber verhindern.242 Das BAG begründet seine Ansicht mit der Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung, wonach es mit Art. 12 I GG nicht vereinbar sei, dem Arbeitnehmer gegen seinen Willen einen neuen Arbeitgeber aufzuzwingen. Diese Rechtsprechung wird von der Literatur zu Recht überwiegend abgelehnt. Hauptargumente sind dabei der klare Gesetzeswortlaut sowie das Argument, es stehe dem Arbeitnehmer frei, seinerseits jederzeit zu kündigen, so dass er nicht dauerhaft an den neuen Arbeitgeber gebunden sei,243 sondern nur bis zum Ablauf der Kündigungsfrist. Daneben hat sich die Rechtsprechung vor allem mit der Abgrenzung des Schutzbereiches des § 613a BGB beschäftigt. Dabei ist zu beachten, dass § 613a BGB in der jetzigen Fassung auf einer EG-Richtlinie (77 / 187 geändert durch die Richtlinie 98 / 50 v. 29. 6. 1998244) beruht, und daher die Bestimmung in Zweifelsfragen europarechtskonform auszulegen ist. Die Grundtendenz ist dabei, den Anwendungsbereich so weit wie möglich auszudehnen, um den Schutz des Arbeitnehmers zu erweitern. So wird z. B. das Tatbestandsmerkmal des Rechtsgeschäftes soweit ausgelegt, dass es nur noch eine Abgrenzung zum Betriebsübergang durch Gesamtrechtsnachfolge bildet. Wank, R. (1993b), S. 191 mit Hinweisen auf entsprechende Urteile. Wank, R. (1993b), S. 204. 244 In Art. 1 der Richtlinie heißt es: „a) Diese Richtlinie ist auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung anwendbar. b) . . . .“ Art. 3 Abb. 1 lautet: „Die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis gehen aufgrund des Übergangs auf den Erwerber über.“ Art. 4 Abs. 1 lautet: „Der Übergang eines Unternehmens, Betriebs oder Unternehmens bzw. Betriebsteils stellt als solcher für den Veräußerer oder den Erwerber keinen Grund zur Kündigung dar. Diese Bestimmung steht etwaigen Kündigungen aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen, die Änderungen im Bereich der Beschäftigung mit sich bringen, nicht entgegen. ( . . . )“ 242 243

D. Sonstige Bestandsschutzregelungen

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Aber auch der Begriff des Betriebsteils wurde von der Rechtsprechung schon immer weit interpretiert, vor allem um Umgehungen zu verhindern.245 Die Möglichkeit dazu eröffnet sich, da die Begriffe „Betrieb“ oder „Betriebsteil“ im § 613a nicht definiert sind. So reicht nach der Rechtsprechung des BAG, z. B. bereits der Übergang von wesentlichen Betriebsmitteln, wenn der Erwerber den ursprünglichen Geschäftszweck fortführen kann, auf eine tatsächliche Fortführung kommt es danach nicht an.246 Bei einem Dienstleistungsunternehmen kann bereits der Zugang zu dem Kundenkreis bzw. -daten zur Bejahung eines Betriebsüberganges führen.247 Noch weitergehend hat sich der EUGH zu dem Begriff des Betriebsteils bzw. der wirtschaftlichen Einheit eingelassen.248 In einem dem EuGH vorgelegten Fall hatte eine Sparkasse einer von ihr beschäftigten Reinigungskraft gekündigt, da sie die Reinigung einer Filiale durch eine andere Firma erledigen lassen wollte. Die Reinigungskraft legte Klage und auf die abschlägige Entscheidung Berufung ein. Diese wurde dem EuGH zur Vorabentscheidung mit der Frage vorgelegt, ob Reinigungsaufgaben, wenn sie vertraglich einer Fremdfirma übertragen werden, ein Betriebsteil i. S. der Richtlinie 77 / 187 / EWG sein können und ob dies auch dann gelte, wenn die Reinigungsaufgaben bis zur Übertragung nur von einer einzigen Arbeitnehmerin erledigt wurden. Diese Frage wurde vom EuGH bejaht. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt: „Überträgt ein Unternehmer durch Vertrag einem anderen Unternehmer die Verantwortung für den Betrieb einer Dienstleistungseinrichtung seines Unternehmens, z. B. die Erledigung der Reinigungsaufgaben, und übernimmt der letztgenannte damit die Arbeitgeberpflichten gegenüber den dort beschäftigten Arbeitnehmern, so kann der Vorgang in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen.“ Weiter heißt es: „Dass die betreffende Arbeit vor der Übertragung von einer einzigen Arbeitnehmerin ausgeführt wurde, genügt ebenfalls nicht, um die Anwendung der Richtlinie auszuschließen,. . . .“ und „Der Einwand ( . . . ), dass keine Vermögensgegenstände übertragen worden seien, greift nicht durch. Wenn in der Rechtsprechung des Gerichtshofes die Übertragung solcher Aktiva als eines der verschiedenen Kriterien genannt wird, die vom innerstaatlichen Gericht zu berücksichtigen sind, um im Rahmen einer Gesamtbewertung eines vielschichtigen Vorgangs die Frage zu entscheiden, ob tatsächlich ein Unternehmensübergang vorliegt, so kann daraus nicht geschlossen werden, dass ohne eine solche Übertragung kein Unternehmensübergang gegeben sein kann.“ In einer weiteren Entscheidung249 hat der EuGH in einem Fall, bei dem die Aufgabe (Reinigung) nicht outgesourct, sondern nur an eine andere Fremdfirma als Sehr ausführlich dazu Loritz, K. (1987), S. 65 – 88. Vgl. Wank, R. (1993b), S. 194 RN 40. Vgl. aber auch BAG NJW 1999, 2461 mit einer etwas anderen Tendenz. 247 Pückler, B. / Wienke, D. (1996), S. 465. 248 EuGH v. 14. 4. 1994 („Christel Schmidt“) = NZA 1994, 545. 249 EuGH v. 11. 3. 1997 = NZA 1997, 433. 245 246

10 von Klitzing

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

vorher vergeben wurde, den Übergang der Arbeitsverhältnisse abgelehnt. Dabei stellte er fest, dass nicht die bloße Tätigkeit als wirtschaftliche Einheit verstanden werden dürfe. In einem obiter dictum führte er weiterhin aber aus, dass die Anwendung der Richtlinie und damit der Übergang der Arbeitsverhältnisse in Betracht komme, „wenn der neue Unternehmensinhaber nicht nur die betreffende Tätigkeit weiterführt, sondern auch einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil des Personals übernimmt, das sein Vorgänger gezielt bei dieser Tätigkeit eingesetzt hatte.“ In diesen beiden Entscheidungen kommen insbesondere zwei von der bisherigen BAG-Rechtsprechungspraxis abweichende Gesichtspunkte zum Ausdruck. Erstens, dass es für einen Betriebsübergang nicht notwendigerweise einer Übertragung von Betriebsmitteln bedarf und zweitens, dass die Übernahme der Belegschaft ein wesentliches Indiz für den Betriebsübergang darstellt. Diese Gesichtspunkte des EuGH sind auf viel Kritik gestoßen.250 Der Verzicht auf das Kriterium der Übertragung von Betriebsmitteln lässt die Abgrenzung, welche Vorgänge von der Richtlinie und damit von § 613a BGB erfasst werden, weiter verschwimmen und nur noch als das Ergebnis einer kaum vorhersehbaren Abwägung aller Umstände des Einzelfalls erscheinen. Auch der zweite Aspekt ist bedenklich, da hier Tatbestand und Rechtsfolge vermengt werden, weil die vertragliche oder zumindest vertraglich angebotene Weiterbeschäftigung zur Voraussetzung bzw. Auslösung des gesetzlichen Übergangs gemacht wird.251 Die deutsche Rechtsprechung hat auf die dargestellte Rechtsprechung des EuGH unterschiedlich reagiert. Die Reaktion reicht von voller Akzeptanz bis zur klaren Ablehnung.252 Zuletzt hat der Achte Senat des BAG sich für die Übernahme der Kriterien des EuGH entschieden.253 Zusammenfassend ist Loritz254 zuzustimmen, der die Rechtsprechung des BAG folgendermaßen treffend kennzeichnet: „Das Bundesarbeitsgericht hat § 613a BGB in einer unter vielen Aspekten ausufernden Anwendung auf zahlreiche andere Konstellationen ausgedehnt, in denen diese Grundlagen nicht vorliegen.“ Verstärkt gilt diese Kritik der Rechtsprechung des EUGH zur Richtlinie 77 / 187 / EWG.

Preis, U. (1998), § 613a BGB RN 13 ff. Hanau, P. (1994), S. 1039. 252 Ausführlich dazu Preis, U. (1998), § 613a BGB RN 15. 253 Vgl. BAG v. 13. 11. 1997 (8 AZR 375 / 96) = NZA 1998, S. 249 und BAG v. 13. 11. 1997 (8 AZR 295 / 95) = NZA 1998. S. 251. 254 Loritz, K. (1987), S. 88. 250 251

E. Zusammenfassende Würdigung

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E. Zusammenfassende Würdigung des Anteils der Rechtsprechung an der Rechtslage In den letzten Abschnitten wurde aufgezeigt, wie die Richter / Rechtsprechung die arbeitsrechtlichen Normen auslegen bzw. anwenden und wie sie das geltende Recht fortentwickelt haben. Es bleibt dabei aber zu beachten, dass es schwer ist festzustellen, was die Gesetze als solche intendieren und was von der Rechtsprechung im Wege der Rechtsfortbildung aus ihnen hergeleitet wurde. Grund dafür ist, dass es eine „neutrale“ Auslegung der Gesetze nicht gibt bzw. geben kann. Eine Anwendung ist immer auch vom Vorverständnis und Grundüberzeugung des Rechtsanwenders abhängig. Allerdings kann man sich bei Überlegungen, welche alternative Ausgestaltung der Gesetze auch denkbar wäre, auf eine umfangreiche Literatur (Rechtswissenschaft) stützen und auch von der herrschenden Rechtsprechung abweichende Urteile heranziehen. Es bleibt aber zu beachten, dass sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur zu praktisch jedem Punkt der dargestellten Rechtsausgestaltung die unterschiedlichsten Meinungen vertreten werden, die schon allein auf Grund des Umfangs dieser Arbeit nicht annähernd vollständig dargestellt werden konnten. Bei der Darstellung sollte jedoch zumindest die Tendenz der Rechtsprechung deutlich geworden sein, mittels einer sehr umfangreichen Rechtsfortbildung, die Arbeitnehmerrechte erheblich gestärkt zu haben. Diese Grundannahme ist auch wohl im Großen und Ganzen unbestritten, auch wenn über die einzelnen Punkte und deren Bewertung Uneinigkeit herrscht.255 Als Rechtsfortbildungen durch die Rechtsprechung wurden in den letzten Abschnitten eine ganze Reihe Punkte herausgearbeitet. Für die personenbedingten Gründe sind hierbei insbesondere die hohen Anforderungen an die erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Belange, an die negative Gesundheitsprognose und die organisatorischen Ausgleichsmaßnahmen sowie die Berücksichtigung vieler auch vertragsfremder Aspekte bei der Interessenabwägung zu erwähnen. Bei der Ausgestaltung der verhaltensbedingten Kündigungsgründe wirken die hohen Anforderungen an den Nachweis einer konkreten Störung des Arbeitsverhältnisses, erneut die Berücksichtigung sehr vieler Aspekte bei der Interessenabwägung und vor allem das Erfordernis und die hohen Anforderungen an eine vorherige Abmahnung Bestandsschutz verstärkend. 255 v. Hoyningen-Huene, G. (1999), S. 216 ff. insbesondere S. 219; Hanau, P. (1998), S. 69; Hromadka, W. (1998), S. 1299 ff.; Rüthers, B. (1998, 1433 ff.; Heinze, M. (1997), S. 1 ff.; Hümmerich, K. (1996), 1299 ff.; Heinze, M. (1997), S. 3; Reuter, D. (1997), S. 456 ff.; Kraft, A. (1995), S. 430 oder (1994), S. 465 ff.; Dichmann, W. (1992), S. 254; Soltwedel, R. et al. (1990), S. 28 ff.; Kronberger Kreis (1986), S. 6 ff.; Schnellhass, H. (1989a), S. 87; Deregulierungskommission (1991), S. 214 oder auch S. 261.

10*

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

Bei der betriebsbedingten Kündigung ist die grundsätzliche Anerkennung der freien Unternehmerentscheidung durch die volle Überprüfung der außer- und innerbetrieblichen Kündigungsgründe, die intensive Missbrauchskontrolle über das Erfordernis der Unmöglichkeit anderer milderer Maßnahmen und die Entwicklung der umfassenden Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers erheblich beschränkt worden. Dies bewirkt eine Verstärkung des Bestandsschutzes. Im Bereich der Negativgründe ist die Entwicklung des Weiterbeschäftigungsanspruchs sowie des Wiederbeschäftigungsanspruchs eine Stärkung der Arbeitnehmerrechte. Bei den Anforderungen an die Sozialauswahl wirkt sich die Berücksichtigung einer großen Menge verschiedener sozialer Gesichtspunkte und das Erfordernis ihrer unterschiedlichen Gewichtung Bestandsschutz verstärkend aus, da an diesen Aspekten viele Kündigungen scheitern. Zudem sind die strengen Anforderungen an die Herausnahme betrieblich notwendiger Arbeitnehmer zu nennen. Bezüglich der drei wichtigsten Prinzipien des Bestandsschutzsystems kann festgehalten werden, dass das Verhältnismäßigkeits- und das ultima-ratio Prinzip eine Rechtsfortbildung der Rechtsprechung ist. Das gleiche gilt wohl auch für das Prognoseprinzip soweit es auf die verhaltensbedingte Kündigung angewandt wird. Auch die umfassende Interessenabwägung war wohl nicht vom Gesetzgeber beabsichtigt und stellt daher eine Rechtsfortbildung der Rechtsprechung dar. Diese Prinzipien wirken alle auf eine Verstärkung des Bestandsschutzes hin. Eine Verstärkung des Bestandsschutzes stellt auch die Rechtsprechung zur unvollständigen Betriebsratsanhörung – Folge Unwirksamkeit der Kündigung – dar. Schwerlich als eigene Rechtsfortbildung, jedoch als Folge der Rechtsfortbildungen, lässt sich die hohe Rate der mittels Vergleich und Abfindung beigelegten Kündigungsschutzprozesse begreifen. Bezüglich der Sozialplanregelungen ist die Erweiterung der Abfindungspflicht auf Arbeitnehmer, die wegen Eigenkündigung oder mittels Aufhebungsvertrages ausgeschieden sind, zu erwähnen. Im Bereich der Änderungskündigung sind die strengen Maßstäbe der Rechtsprechung insbesondere für die wirksame Herabsetzung von Entgelt und Sozialleistungen eine Verstärkung des Bestands- bzw. Inhaltsschutzes. Eine weitere erhebliche Verstärkung bzw. Ausdehnung des Bestandsschutzes stellt es dar, dass die Rechtsprechung für die wirksame Befristung von Arbeitsverhältnissen das Erfordernis eines sachlichen Grundes aufstellte und zudem noch hohe Anforderungen an das Ausreichen eines Grundes stellte. Diese Verstärkung hat mittlerweile der Gesetzgeber in das neue TzBfG übernommen. Die bisher erwähnten richterlichen Rechtsfortbildungen stellen alle eine Beschränkung des Handlungsraumes der Unternehmer dar. Eine Ausweitung ist hingegen die Aufhebung des Verbotes der gewerblichen Arbeitnehmerüberlassung, welche die Folge eines Urteils des BVerfG war.

E. Zusammenfassende Würdigung

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Eine weitere Verstärkung der Arbeitnehmerrechte hingegen ist die Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 613a BGB (Betriebsübergang) sowie die Möglichkeit des Widerspruchs des Arbeitnehmers gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses. Die meisten der aufgezählten Rechtsfortbildungen sind auf die Präzisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen zurückzuführen. Beispielhaft hierfür mag die Entwicklung der Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und der ultima-ratio, das Prognoseprinzip und das Prinzip der umfassenden Interessenabwägung genannt sein. Ein Beispiel für die Ausgestaltung bzw. Anwendung einer Generalklausel stellt die Rechtsprechung zur unbefristeten Kündigung aus wichtigem Grund dar und auch die Entwicklung des Wiederbeschäftigungsanspruchs wurde mit der Generalklausel des § 242 BGB begründet. Aber auch die Ausfüllung von tatsächlichen oder vermeintlichen Gesetzeslücken hat zur Fortbildung des Rechts durch die Rechtsprechung beigetragen. Dabei handelt es sich weniger um eine Präzisierung als vielmehr um Ergänzungen des Gesetzes (praeter legem).256 Als Beispiele sind hierbei insbesondere die Entwicklung des sachlichen Grundes für die wirksame Befristung eines -Arbeitsverhältnisses, der Weiter- und der Wiederbeschäftigungsanspruch und die Geltung der Sozialplanregelungen bei Insolvenz des Unternehmens analysiert worden. Der Handlungsraum der Richter bei der Kontrolle und Korrektur des Gesetzgebers wurde bei der Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Verbotes der Arbeitnehmerüberlassung angesprochen. Zudem stellt auch die Rechtsprechung zum Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers beim Übergang des Arbeitsverhältnisses wegen Betriebsübergang (§ 613a BGB) in gewisser Weise eine Korrektur des Gesetzgebers dar, weil sich die Rechtsprechung unter Berufung auf Art. 12 GG über den klaren Wortlaut des Gesetzes hinwegsetzt (contra legem). Zuletzt wurde auch des öfteren die Vorbildfunktion der Rechtsprechung für den Gesetzgeber festgestellt. Dies war insbesondere bei der Rechtsprechung zur „Rangstelle Null“ der Sozialplanforderungen im Konkurs und dem Vorrang der Änderungskündigung der Fall. Aufgrund der Vielzahl der Rechtsfortbildungen durch die Rechtsprechung können nicht alle einzeln ausführlich auf ihre ordnungsökonomische Wirkungen analysiert werden. Die Analyse der Einzelwirkungen wird sich daher auf die wohl wichtigsten 10 Rechtsfortbildungen, die auch viele der restlichen vorgenannten mit umfassen, konzentrieren. Dies sind: a) ultima-ratio Prinzip, b) Umfassende Interessenabwägung, c) Prognoseprinzip und Abmahnungserfordernis bei der verhaltensbedingten Kündigung, 256 Zur Einteilung der Rechtsfortbildung in Präzisierung, d. h. Wahl zwischen verschiedenen Auslegungsalternativen, Ergänzung (praeter legem) und Berichtigung (contra legem) siehe Zippelius, R. (1994), S. 73.

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2. Kap.: Darstellung und Analyse der Regeln des Bestandsschutzes

d) Wiederbeschäftigungsanspruch, e) Anforderungen an die Änderungskündigung zur Senkung des Entgelts und der Sozialleistungen, f) Abfindungsmechanismen,257 g) Verfassungswidrigkeit des Arbeitnehmerüberlassungsverbotes, h) Erfordernis eines sachlichen Grundes für die Befristung von Arbeitsverhältnissen, i) Sozialauswahl, j) Ausweitung der Sozialplanpflicht. Bevor diese Einzelanalyse folgt, muss aber zunächst noch die Gesamtwirkung des Bestandsschutzsystems analysiert werden, da die Wirkungen der einzelnen Gesetze und der Rechtsfortbildungen der Rechtsprechung sich gegenseitig vielfach beeinflussen (Interdependenz der Institutionen). Zudem soll das Verhältnis des Gesamtsystems zu den Grundentscheidungen bzw. Grundprinzipien unserer Gesellschaftsordnung untersucht werden. Aus diesem Grund folgt zuerst eine Untersuchung zu möglichen Rechtfertigungsgründen des Bestandsschutzsystems, dann eine Gesamtanalyse der Wirkungen des Bestandsschutzsystems und erst dann die Einzelanalyse.

257 Wie bereits oben dargelegt handelt es sich bei diesem Punkt nicht um eine eigentliche Rechtsfortbildung, sondern vielmehr um eine Rechtstatsache die Folge der Rechtsfortbildungen ist.

3. Kapitel

Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes Bis Anfang der 70er Jahre betrachtete man in Deutschland das Individualarbeitsrecht und damit auch den Bestandsschutz fast ausschließlich als Möglichkeit, den Arbeitnehmern sozialen Schutz und in gewisser Weise auch Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand zu verschaffen. Es wurde unkritisch als Mittel der sozialen Gerechtigkeit gesehen, ohne dass negative Nebenwirkungen sonderlich beachtet worden wären.1 Erst mit dem Aufkommen der Massenarbeitslosigkeit Mitte der 70er Jahre setzte auch zunehmend Kritik an den Regelungen des Individualarbeitsrechtes ein. Die Ansatzpunkte für die kritischen Äußerungen waren in den verschiedenen Wissenschaften natürlich sehr unterschiedlich. Aus der Soziologie wurde beispielsweise die zunehmende Anonymisierung der Sozialbeziehungen bedauert, die durch die Überformung vieler Lebensbereiche durch Rechtsnormen bewirkt werde.2 Bedeutender für diese Arbeit sind jedoch die Kritikpunkte, die aus den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften vorgebracht wurden. Hierbei sind z. B. die Arbeiten von Rüthers3, Reuter4, Soltwedel5 oder dem Kronberger Kreis6 zu nennen. Von Seiten der Rechtswissenschaften erfolgte die Kritik vor allem unter den Schlagwörtern „Normenflut“, „Bürokratisierung“, „Justizialisierung“ und „Vollzugsdefizite“. Von den Wirtschaftswissenschaften hingegen wurde insbesondere die mangelnde Effizienz wohlfahrtsstaatlicher Regulierungen gerügt.7 In den letzten Jahren wird die Kritik an den bestehenden gesetzlichen Regelungen immer stärker. Dabei war die Diskussion um Deregulierung und Flexibilisierung anfangs vor allem wirtschaftspolitisch geprägt, ergreift aber mehr und mehr auch den Bereich der Rechtswissenschaften. Insbesondere die Vorschläge der Deregulierungskommission8 und der Monopolkommission9 wurden viel diskutiert 1 2 3 4 5 6 7 8

Büchtemann, C. / Neumann, H. (1990), S. 9. Büchtemann, C. / Neumann, H. (1990), S. 10. Vgl. z. B. Rüthers, B. (1988). Z. B. Reuter, D. (1982). Soltwedel, R. (1984). Kronberger Kreis (1986). Ausführlicher dazu Büchtemann, C. / Neumann, H. (1990), S. 10 – 12. Deregulierungskommission (1991).

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

und führten wohl auch mit zu den kurzzeitigen Korrekturen durch das BeschfG 1996. Auch sind hier die ständigen Mahnungen des Sachverständigenrates zu nennen.10 Aber auch im Bereich der Rechtswissenschaften sind in letzter Zeit einige interessante, kritische Stimmen zu den Regelungen des Arbeitsrechts laut geworden. Beispielhaft sind hierbei Arbeiten von Rüthers11, Zöllner12, Löwisch13, Adomeit14 und Hromadka15 zu nennen. Auf den Inhalt der Kritik und Reformvorschläge bzgl. der arbeitsrechtlichen Regelungen wird im Folgenden eingegangen. Um aber einer logischen Gedankenkette folgen zu können und um die oben entwickelte [unter Kapitel 1 Abschnitt B. III.] Prüfungsreihenfolge einzuhalten, soll zunächst geklärt werden, warum überhaupt staatliche Regelungen auf dem Gebiet des Bestandsschutzes notwendig sind. Anders ausgedrückt: Es wird geprüft, welche Rechtfertigungsgründe für ein staatliches Eingreifen vorliegen. Ein Eingriff stellt nämlich stets eine Abweichung vom Leitbild der dezentralen Koordinations- und Planungsmechanismen dar, das unsere Wirtschaftsordnung prägt.

A. Rechtfertigungsgründe für staatliche Eingriffe mittels des Bestandsschutzes Zur Rechtfertigung staatlicher Eingriffe auf dem Arbeitsmarkt werden viele verschiedene Argumente vorgebracht. Diese lassen sich im wesentlichen aber auf einige wenige Kernargumente zurückführen.16 Als Rechtfertigungsgründe werden vor allem genannt: – unnatürliche Reaktion des Arbeitsangebotes auf Preisschwankungen [I.] 9 Monopolkommission (1994), die sich allerdings vorwiegend mit Kollektivarbeitsrecht und dabei mit der Tarifordnung auseinandersetzt, aber trotzdem auch im Bereich des Individualarbeitsrechts Vorschläge erarbeitet. 10 Sachverständigenrat (1998), S. 245 ff., RZ. 433 ff. oder zuletzt in Sachverständigenrat (1999), S. 174 ff. und zum Bestandsschutz insbesondere S. 175 ff., RZ 364 ff. 11 Rüthers, B. (1998), (1993). 12 Zöllner, M. (1995), (1994), (1990). 13 Löwisch, Manfred (1996b). 14 Adomeit, K. (1985). 15 Hromadka, W. (1998). 16 Die meisten dieser Kernargumente diskutierte auch schon die Monopolkommission (1994), S. 367 – 375. An deren Aufgliederung übt Kromphardt, J. (1996), S. 324 Kritik, da seiner Meinung nach die Zusammenhänge vernachlässigt wurden. Ihm ist insoweit Recht zu geben, als die einzelnen Kernargumente zum Teil einen engen Bezug zueinander haben. Allerdings ist eine übersichtliche Darstellung kaum möglich, ohne eine Gliederung und damit zwangsläufig auch eine Trennung der Zusammenhänge vorzunehmen. Man sollte sich aber bewußt machen, dass die Argumente häufig nicht ganz sauber zu trennen sind.

A. Rechtfertigungsgründe für staatliche Eingriffe mittels des Bestandsschutzes

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– Schutzbedürftigkeit des einzelnen Arbeitnehmers [II.] – transaktionskostentheoretische Argumente [III.] – unvollständige Information der Marktteilnehmer [IV.] – Produktivitätsvorteile stabiler Arbeitsbeziehungen [V.].

Sonstige Argumente werden unter Punkt [VI.] zusammengefasst. Bei der Prüfung der Rechtfertigungsgründe darf nicht vergessen werden, dass Unvollkommenheiten oder auch Versagen des Marktes noch keine hinreichende Bedingung für die Vorteilhaftigkeit von Staatseingriffen ist. Dazu ist vielmehr erforderlich, dass der Staat das fragliche Problem besser löst als der Markt. Diese zusätzliche Bedingung zu vernachlässigen, hieße vom perfekten Staat auszugehen. Dabei handelt es sich jedoch um einen unrealistischen Ansatz, der spätestens mit dem Aufkommen der Public Choice Theorie unhaltbar geworden ist. Die Frage, ob der Staat einen Lebenssachverhalt besser lösen kann als der Markt, erfolgt in dieser Arbeit im wesentlichen bei der Analyse der wirtschaftlichen Folgen der einzelnen Regelungen [unter C.].

I. Unnatürliche Reaktion des Arbeitsangebotes auf Preisschwankungen Dieses Argument beruht auf dem Gedanken, dass auf Arbeitsmärkten das Angebot anomal auf den Preis, hier den Lohn, reagiert. Da ein Arbeitnehmerhaushalt auf ein gewisses Einkommen angewiesen sei, müsse der Arbeitnehmer bei niedrigerem Lohn mehr Arbeit anbieten als bei einem höheren.17 Dies kann durch Mehrarbeit eines bereits Beschäftigten in Form von z. B. Überstunden oder Annahme einer Nebenarbeit, aber auch in Form der Aufnahme der Erwerbstätigkeit weiterer Haushaltsmitglieder geschehen. Reagieren alle Arbeitnehmerhaushalte auf Lohnsenkungen mit der Ausweitung ihres Angebotes, so entstehe bei freiem Spiel der Marktkräfte eine Spirale von Lohnsenkung und Ausweitung des Arbeitsangebotes. Folge sei, so die Argumentation, ein Sinken der Löhne auf das Existenzminimum und sich verschlechternde Arbeitsbedingungen. In Begriffen der moderneren Wettbewerbstheorie gesprochen, würde es sich um ein Marktversagen in der Form ruinöser Konkurrenz handeln.18 Für das Arbeitsrecht könnte die Gefahr einer ruinösen Konkurrenz bedeuten, dass der gesetzliche Bestandsschutz notwendig ist, um zu verhindern, dass ein Arbeitnehmer immer niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptieren muss. Wenn ein Arbeitnehmer aufgrund von Bestandsschutzregelungen nicht 17 Zu diesem Beispiel siehe z. B. Walwei, U. (1990), S. 396 oder Neumann, H. (1990b), S. 108. Diese Argumentation wird beispielsweise auch von der Deregulierungskommission (1991), S. 219 f. dargestellt, die ihr aber nicht folgt. 18 Siehe dazu Hickel, R. (1991), S. 710 f.

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

befürchten muss, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, besteht für ihn kein Grund, sich am Unterbietungswettbewerb um Arbeitsplätze zu beteiligen. Zumindest für ihn ist die Spirale von Lohnsenkung und Ausweitung des Arbeitsangebotes durchbrochen. Ob aber ein Marktversagen in Form der ruinösen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt auftritt bzw. auftreten könnte, ist sehr fraglich. Das Argument der anormalen Reaktion des Arbeitsangebotes auf Preisschwankungen beruht vor allem auf Erfahrungen im 19. Jahrhundert und wurde bereits von Merkantilisten formuliert und liegt auch der Verelendungstheorie von Marx zugrunde. Die fragliche Zeit im 19. Jahrhundert19 war gekennzeichnet durch einen hohen Produktivitätszuwachs, der mit einem außerordentlich hohem Zuwachs der Erwerbsbevölkerung einherging. Die Folge war ein zeitweiliges Sinken des Lohnniveaus. Die Folge waren Löhne, welche trotz sehr langer Arbeitszeiten bei einem Großteil der Bevölkerung das Existenzminimum kaum überschritten, sowie sehr schlechte Arbeitsbedingungen. Trotzdem ist bereits für diese Zeit umstritten, ob die Annahme der ruinösen Konkurrenz zutrifft.20 Außerdem ist es fraglich, ob ein Bestandsschutz an diesen Verhältnissen etwas hätte ändern können. Jedenfalls haben sich die Verhältnisse seit dieser Zeit grundlegend geändert. Ein Unterbietungswettbewerb der Arbeitnehmer kann nur solange funktionieren, bis den betroffenen Arbeitnehmern andere, bessere Alternativen zur Verfügung stehen. In Deutschland verhindert beispielsweise das recht enge Netz sozialer Sicherungen mit Arbeitslosengeld, -hilfe und Sozialhilfe, dass sich die Arbeitnehmer bis zum Existenzminimum herunter konkurrieren. Des weiteren verfügen viele Arbeitnehmer über Ersparnisse oder andere Vermögenswerte auf die sie im Notfall zurückgreifen können.21 Aus diesen Gründen sind die Arbeitnehmer heutzutage nicht wie früher darauf angewiesen, sofort und unter allen Bedingungen Arbeit anzunehmen. 19 Das einsetzen der Industriellen Revolution ist in den verschiedenen europäischen Staaten zeitversetzt. 20 Sehr interessant hierzu sind die Ausführungen in Soltwedel, R. et al. (1990), S. 160 – 162. Ihm zufolge waren die sinkenden Reallöhne die zwingende Folge des starken Bevölkerungswachstums. Weiter schreibt er: „Insofern beruht die Annahme einer negativ geneigten Angebotskurve auf einem Identifikationsproblem, nämlich einer Verwechslung zwischen einer Bewegung auf einer Kurve und der Verschiebung der Kurve selbst.“ (Gemeint ist die Arbeitsangebotskurve.) Auch Zöllner, W. (1976), S. 231 meint: die „Hungerlöhne der Mitte des 19. Jahrhunderts waren, so unmenschlich das klingen mag, nicht Ausdruck der arbeitgeberischen Übermacht, sondern einer insgesamt im Verhältnis zur sprunghaft gestiegenen Bevölkerung noch erheblich zu geringen Produktivität.“ Siehe dazu auch noch Monopolkommission (1994), S. 369, wo auf empirische Untersuchungen Bezug genommen wird, die die Meinung von Soltwedel und Zöllner stützen. 21 Diesen Punkt spricht auch Löwisch, M. (1999), S. 71 an. Er schreibt: „Allgemein erleben wir ein ganz allmähliches Anwachsen der Bedeutung des Vermögenseinkommens im Vergleich zum Arbeitseinkommen in der Bevölkerung. Es wird, wenn es sich fortsetzt, in der späteren Zukunft auch zu einer Veränderung dieses Schutzbedürfnisses des Arbeitnehmers führen.“

A. Rechtfertigungsgründe für staatliche Eingriffe mittels des Bestandsschutzes

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Im Gegenteil hat der Gesetzgeber bereits Maßnahmen ergriffen, um sicher zu stellen, dass ein ausreichendes Interesse von Arbeitnehmern und Arbeitslosen an der Erhaltung bzw. Erlangung eines Arbeitsplatzes besteht.22 Die Möglichkeit einer ruinösen Konkurrenz unter den Arbeitnehmer setzt außerdem die Austauschbarkeit der einzelnen Arbeitnehmer untereinander voraus. Diese ist aber mit fortschreitender Differenzierung der Anforderungen an Arbeitskräfte und deren unterschiedlichem Humankapital nur noch bedingt gegeben.23 Gegen die Annahme der Möglichkeit einer ruinösen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt spricht zudem, dass seit Ende des Zweiten Weltkrieges in keinem Land eine nennenswerte Deflation beobachtet worden ist. Diese wäre aber die notwendige Folge einer ruinösen Konkurrenz, da sinkende Löhne auch sinkende Produktionskosten zur Folge hätten, die bei Wettbewerb zu sinkenden Preisen führen müssten.24 Somit ist davon auszugehen, dass die Gefahr einer ruinösen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt nicht besteht. Damit ist aber nicht auszuschließen, dass in einigen Fällen das Arbeitsangebot mit sinkendem Lohnniveau steigt.25 Hinweise für ein Steigen des Arbeitsangebotes trotz sinkender Reallöhne sind beispielsweise in den USA zu finden. So lag dort die Arbeitslosigkeit trotz langanhaltender und starker Beschäftigungszuwächse bis Anfang der neunziger Jahre meist höher als in Deutschland. Dies lässt sich mit einer stark erhöhten Erwerbstätigkeit von Frauen sowie der Aufnahme von Zweitjobs durch bereits Beschäftigte erklären.26 Das Ansteigen des Arbeitsangebotes bei sinkenden Reallöhnen ist gesamtwirtschaftlich aber unproblematisch, solange die Arbeitsnachfrage auf Lohnänderungen elastischer reagiert als das Angebot, da es dann zu einer Annäherung von Angebot und Nachfrage kommt. Auch hierfür bildet die Entwicklung in den USA ein gutes Beispiel. Dort kam es trotz höheren Arbeitsangebotes nicht zu einer ruinösen Konkurrenz. Vielmehr haben sich in den USA das Angebot von – und die Nachfrage nach Arbeit angenähert. Auch die Reallöhne steigen in den letzten Jahren wieder an. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass keine Gefahr einer ruinösen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt besteht. Eine Rechtfertigung staatlicher Eingriffe aufgrund einer unnatürlichen Reaktion des Angebotes auf Preisschwankungen ist nicht erkennbar.

22 Eine solche Maßnahme stellt das sogenannte Lohnabstandsgebot dar, welches im Sozialhilferecht verankert ist, dar. Es soll sicherstellen, dass zwischen Löhnen und Sozialhilfesatz ein merklicher Abstand besteht. 23 Zu diesem Ergebnis kommt auch die Monopolkommission (1994), S. 369. 24 Diese Argumentationslinie verfolgt auch die Monopolkommission (1994), S. 370. 25 Siehe dazu auch Rieble, V. (1996), S. 27 f. 26 Siehe dazu z. B. Eger, T. / Nutzinger, H. (1997), S. 13 (FAZ v. 5. 4. 97).

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

II. Schutzbedürftigkeit des einzelnen Arbeitnehmers Dieses Argument ist das wohl am häufigsten vorgebrachte Argument zur Rechtfertigung staatlicher Eingriffe auf dem Arbeitsmarkt.27 Die Grundidee, die hinter diesem Argument steht, hat schon Gierke sehr nachdrücklich formuliert. „Schrankenlose Vertragsfreiheit zerstört sich selbst. Eine furchtbare Waffe in der Hand des Starken, ein stumpfes Werkzeug in der Hand des Schwachen wird sie zum Mittel der Unterdrückung des einen durch den anderen, der schonungslosen Ausbeutung geistiger und wirtschaftlicher Übermacht. Das Gesetz, welches mit rücksichtslosem Formalismus aus der freien rechtsgeschäftlichen Bewegung die gewollten oder als gewollt anzunehmenden Folgen entspringen lässt, bringt unter dem Schein einer Friedensordnung das bellum omnium contra omnes in legale Formen. Mehr als je hat heute auch das Privatrecht den Beruf, den Schwachen gegen den Starken, das Wohl der Gesamtheit gegen die Selbstsucht des Einzelnen zu schützen.“28 Nach diesem Argument muss also der einzelne Arbeitnehmer geschützt werden, da er dem Arbeitgeber unterlegen ist und die Vertragsfreiheit nur zu gerechten Ergebnissen führt, wenn keine Machtasymmetrien zwischen den verhandelnden Parteien herrschen. Wenn der Arbeitgeber überlegen ist, kann er seine Position dazu ausnutzen, um einzelne Arbeitnehmer bei dem Vertragsschluss zu benachteiligen oder um sie irgendwann nach der Einstellung unter Druck zu setzen.29 Ergebnis der Machtasymmetrie ist dann z. B. ein niedrigerer Lohn, als es der Leistung des Arbeitnehmers entspricht und die Auslegung des Arbeitsvertrages zugunsten des Arbeitgebers.30 Diesem Ergebnis, so die Argumentation, soll ein starker Bestandsschutz entgegenwirken, indem er eine Abschwächung der unterschiedlichen Machtpositionen bewirkt und so faire Vertragsbedingungen ermöglicht.31 Von dieser Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers bzw. Ungleichgewichtslage geht der überwiegende Teil der Arbeitsrechtler und ein Teil der Ökonomen aus.32 In den meisten Abhandlungen, die von der Schutzbedürftigkeit ausgehen, wird dieDörsam, P. (1995), S. 15 bezeichnet dieses Argument als traditionelle Rechtfertigung. v. Gierke, O. (1889) zitiert aus Wesel, U. (1990), S. 99. 29 Vgl. Kromphardt, J. (1996), S. 334. 30 Vgl. Walwei, U. (1989), S. 17 und 18 oder auch Deregulierungskommission (1991), S. 219. 31 Vgl. Walwei, U. (1990), S. 397. 32 Vgl. dazu z. B. Kittner, M. (1995), S. 386, der sogar meint: „Daß im Arbeitsleben ein solches Kräftegleichgewicht im typischen Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht existiert, ist nicht nur feststehende Annahme des BVerfG. Niemand der im ökonomischen und rechtlichen Diskurs Anspruch erhebt, ernst genommen zu werden, kann dies bestreiten.“ A. A. hingegen z. B. Zöllner, W. (1996), S. 23 ff. oder auch Junker, A. (1997), S. 1308 ff. 27 28

A. Rechtfertigungsgründe für staatliche Eingriffe mittels des Bestandsschutzes

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se als selbstverständlich vorausgesetzt und nicht weiter begründet. Wenn eine Begründung erfolgt, so beruht sie überwiegend auf drei Argumente, die unter 1. – 3. diskutiert werden. 1. Abhängigkeitsargument Die Schutzbedürftigkeit des einzelnen Arbeitnehmers kann sich daraus ergeben, dass er von einem bestimmten Arbeitgeber bzw. einer bestimmten Arbeitsstelle abhängig ist. Diese Abhängigkeit kann auf seinem Humankapital oder auf Mobilitätsschranken beruhen.33 Von einer spezifischen Arbeitsstelle kann der Arbeitnehmer abhängig sein, wenn ein Teil seiner speziellen Fähigkeiten und Kenntnisse (d. h. seines Humankapitals) nur auf einem einzigen Arbeitsplatz einsetzbar sind. Für den größten Teil des Humankapitals der Arbeitnehmer wird das nicht zutreffen. Der überwiegende Teil der Arbeitnehmerqualifikationen wird von vielen verschiedenen Arbeitgebern auf unterschiedlichen Arbeitsplätzen benötigt. Daher ist es auch unzutreffend, davon zu sprechen, dass der Arbeitnehmer bereits aufgrund des nur schwer veränderbaren Humankapitals vom Arbeitgeber abhängig sei.34 Es bleibt ihm in den meisten Fällen die Möglichkeit, nicht sein Humankapital zu ändern, sondern den Arbeitgeber zu wechseln. Allerdings gibt es sicherlich auch einzelne Qualifikationen, die so speziell sind, dass sie nur auf einem ganz bestimmten Arbeitsplatz eingesetzt werden können.35 In diesem Fall besteht tatsächlich eine gewisse Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber, da bei Verlust des Arbeitsplatzes dem Arbeitnehmer auch ein Einkommensverlust droht. Der Arbeitgeber könnte, so die Befürchtung, diese Abhängigkeit ausnutzen, um sich die Quasi-Rente aus dem betriebsspezifischen Humankapital anzueignen.36 Auch wenn diese Gefahr in gewissem Maße besteht, so ist aber die Abhängigkeit wechselseitig. Auch der Arbeitgeber ist davon abhängig, die Arbeitnehmer mit betriebsspezifischen Humankapital zu halten. Der mit einem möglichen Weggang eines Arbeitnehmers verbundene Verlust des betriebsspezifischen Humankapitals verursacht dem Arbeitgeber Kosten in Form von Anlernkosten für einen neuen Arbeitnehmer, sofern es überhaupt möglich ist, diesem die entsprechenden Kenntnisse zu vermitteln. Trotz dieser wechselseitigen Abhängigkeit lässt sich aus dieser Argumentation eventuell ein zutreffendes Argument für einen Kündigungsschutz erschließen, da dieser einen Schutz gegen die Entwertung von Humankapital bietet. Fraglich ist Siehe dazu z. B. Walwei, U. (1990), S. 395 f. Diese Argumentation gibt z. B. Dörsam, P. (1995), S. 15 wieder. 35 Ein Beispiel eines betriebsspezifischen Humankapitals und der Unterschied zum nichtbetriebsspezifischen wird in Neumann, H. (1990a), S. 401 diskutiert. 36 Zu dieser Argumentation siehe Deregulierungskommission (1991), S. 222. 33 34

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

allerdings, ob der freie Markt nicht auch in der Lage wäre, die Gefahr der Ausnutzung der Abhängigkeit zu verhindern. Dafür spräche, dass beide Seiten ein Interesse an einem stabilen Arbeitsverhältnis haben. Zu erreichen wäre dies, indem in den entsprechenden Arbeitsverträgen besondere Kündigungsmodalitäten (Fristen, Abfindungen) vereinbart werden. Eine Abhängigkeit eines Arbeitnehmers kann sich auch daraus ergeben, dass ihm bei einem möglichen Stellenwechsel hohe Kosten entstehen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ein möglicher Arbeitsplatzwechsel für ihn auch einen Wohnortwechsel bedingen würde. Kosten können dabei z. B. in Form von Umzugskosten, dem Verlust sozialer Bindungen oder den Nachteilen der Umschulung der Kinder liegen. Diese Mobilitätskosten kann der Arbeitgeber theoretisch nutzen, um den Lohn des Arbeitnehmers unter den eigentlich angemessenen Lohn – den Lohn ohne Mobilitätsschranken – zu drücken. Eine solche Abhängigkeit ist in einigen vor allem strukturschwachen Gebieten sicherlich nicht selten gegeben. Diese Abhängigkeiten sind auch besonders beachtenswert, da sie einseitig die Arbeitnehmer betreffen. Aber in der Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse sind solche Abhängigkeiten wohl nicht gegeben. Bei sich verbessernden Verkehrsanbindungen werden immer mehr potentielle Arbeitgeber für einen Arbeitnehmer erreichbar, ohne dass er den Wohnort wechseln müsste.37

2. Übermacht des Arbeitgebers Von vielen Autoren wird angenommen, dass der Arbeitgeber generell ein Machtübergewicht habe. Kittner38 beispielsweise vergleicht die Situation auf dem Arbeitsmarkt mit einem Fußballspiel, bei dem eine Mannschaft – gemeint sind die Arbeitnehmer – immer bergauf spielen müsse. Eine Übermacht des Arbeitgebers bei Vertragsverhandlungen könnte daraus resultieren, dass Unternehmen einen leichteren Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten haben, als es der einzelne Arbeitnehmer hat.39 Diese zweifellos richtige Feststellung führt jedoch nur zu einer überlegenen Stellung des Arbeitgebers, wenn es ihm gelingt, seine Finanzierungsüberlegenheit, z. B. während eines Arbeitskampfes so einzusetzen, dass er seine anfänglichen Mehrkosten (Finanzierungs37 Gegen das Argument der Abhängigkeit aufgrund von Mobilitätskosten führen die Monopolkommission (1994), S. 370 f. und die Deregulierungskommission (1991), S. 222 nicht ganz korrekt an, dass die meisten Arbeitsplatzwechsel ohne solche Mobilitätsschranken erfolgen. Daraus läßt sich aber nicht schließen, dass nicht vielfach solche Abhängigkeiten vorlägen, da natürlich vor allem die Arbeitnehmer den Arbeitsplatz wechseln, denen keine Kosten dadurch entstehen. 38 Kittner, M. (1982), S. 50. 39 Diese Ansicht vertritt beispielsweise Markmann, H. (1991), S. 276 in seinem Minderheitsvotum zum Gutachten der Deregulierungskommission.

A. Rechtfertigungsgründe für staatliche Eingriffe mittels des Bestandsschutzes

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kosten) durch das Drücken des Lohnes mehr als kompensieren kann. Diese Möglichkeit ist angesichts vieler Ausweichmöglichkeiten der Arbeitnehmer ziemlich unwahrscheinlich.40 Außerdem kann dieses Argument sich auch ins Gegenteil verkehren, wenn der Arbeitgeber z. B. aufgrund einer hohen Fremdkapitalquote hohe Fixkosten hat und daher für Produktionsausfälle besonders anfällig ist. Bei der in Deutschland üblichen hohen Fremdkapitalquote ist dieses Argument besonders relevant. Dass der Arbeitgeber gegenüber dem einzelnen Arbeitnehmer übermächtig sei, wird weiterhin damit begründet, ein Unternehmen könne als Institution auch ohne Arbeitnehmer existieren. Dieses Argument beruht auf der Vorstellung, dass Arbeitskraft in beliebigen Umfang durch Kapital ersetzbar ist. Unabhängig davon, dass dies technisch gar nicht durchführbar ist, verbietet sich für ein Unternehmen eine Ersetzung der Arbeitnehmer durch Kapital über ein gewisses Maß hinaus aus ökonomischen Gründen. Sobald der Ersatz von Personal durch Sachkapital über die Grenzwertigkeit der Faktoren hinausgeht, steigen die Produktionskosten des Unternehmens. Ein im Wettbewerb stehendes Unternehmen kann sich aber eine Kostensteigerung allenfalls in einem gewissen Maße erlauben, da es sonst von anderen Unternehmen vom Markt verdrängt wird. Hier zeigt sich die Wirkung des Wettbewerbs als Entmachtungsmechanismus. 41 Weniger konkret wird die Übermacht des Arbeitgebers häufig davon abgeleitet, dass er ein geringeres Interesse am Vertragsabschluß habe oder, anders ausgedrückt, eher auf den Vertragsschluss verzichten könne.42 Bei der Unschärfe dieser Argumentation ist es schwer, auf diese Argumentation näher einzugehen. Klar ist jedenfalls, dass das Interesse der Vertragspartei von anderen Alternativen und damit ihren Opportunitätskosten abhängt. Diese aber wiederum davon, ob genügend andere potentielle Vertragspartner zur Verfügung stehen. Dies führt erneut zur Entmachtungsfunktion des Wettbewerbes, die auch Canaris43 anspricht, wenn er feststellt, „die Unterstellung, dass ökonomische oder soziale Ungleichheit als solche den Vertragsinhalt zum Vorteil des einen und zum Nachteil des anderen Teils beeinflusst und dadurch zu ungerechten Ergebnissen führt, [ist] in dieser Allgemeinheit unter den Bedingungen einer modernen Marktwirtschaft völlig wirklichkeitsfremd“.

Monopolkommission (1994), S. 371. Böhm bezeichnet den Wettbewerb als genialstes Entmachtungsinstrument der Geschichte (Böhm, F. (1981), S. 138, zitiert nach Vanberg, V. (1994), S. 22). 42 Vgl. z. B. Junker, A. (1997), S. 1307; grundsätzliche Ausführungen dazu auch in Hönn, G. (1982), S. 5 ff. 43 Canaris, C. (1993), S. 882. 40 41

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

3. Arbeitsvertrag als unvollständiger Vertrag und Direktionsrecht des Arbeitgebers Bei der Frage der Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers spielt eine wichtige Rolle, dass Arbeitsverträge typischerweise unvollständige Verträge sind.44 Unvollständig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass bei Vertragsabschluss Leistung und Gegenleistung nicht hinsichtlich aller Eventualitäten bestimmt sind.45 Deshalb besteht bei unvollständigen Verträgen die Gefahr des opportunistischen Verhaltens, d. h. eine Vertragspartei verfolgt ihr Eigeninteresse ohne Anstand oder mit Arglist. Sie verstößt damit gegen den Geist geschlossener Verträge, indem sie z. B. auf den Wortlaut einer Vereinbarung besteht oder eine Auslegung durchsetzt, die jeweils den ursprünglichen Intentionen der Vertragspartner nicht entspricht.46 Beim Arbeitsvertrag ist es insbesondere meist nicht möglich oder zu kompliziert und damit zu kostspielig, die Leistungspflichten des Arbeitnehmers abschließend festzulegen. Eine genaue Festlegung scheitert bereits daran, dass im Laufe der meist längerfristigen Bindung, Änderungen des Umfeldes auftreten können, die auch die Tätigkeit des Arbeitnehmers verändern können. Um das Problem der Bestimmung der genauen Leistungspflichten des Arbeitnehmers zu entgehen, wird der Tätigkeitsbereich des Arbeitnehmers meist nur fachlich umschrieben, d. h. er wird z. B. als Maurer eingestellt. Der Arbeitgeber darf dann die Arbeitspflicht seines Angestellten etwa nach Ort und Art näher konkretisieren, er darf ihm also bestimmte Arbeiten zuweisen.47 Diese Konkretisierungsbefugnis wird als Direktionsrecht des Arbeitgebers bezeichnet. Als Argument für einen starken Bestandsschutz wird nun angeführt, das Bestehen des Direktionsrechts sowie des generellen Machtübergewichts des Arbeitgebers [dazu siehe oben 1. und 2.] erhöhe die Gefahr des opportunistischen Verhaltens durch den Arbeitgeber.48 Der gesetzliche Kündigungsschutz bilde insofern nur ein Gegengewicht zum „nicht-marktlichen, hierarchischem Element in Arbeitsbeziehungen“.49 Insbesondere die Einschränkung der personen- und verhaltensbedingten Kündigung, die, wie gesehen, durch die Rechtsprechung erheblich verstärkt wurde, definiere ein Mindestmaß an Arbeitsintensität. Nur wenn der Arbeitnehmer dieses Mindestmaß an Arbeitsintensität unterschreitet, sei es dem Arbeit44 Probleme aufgrund unvollständiger Verträge werden innerhalb der Institutionenökonomik diskutiert. Die Diskussion wird dort meist unter den Stichwort „Relationale Verträge“ geführt. Eine gute Einführung in diesbezügliche Probleme bietet Richter, R. / Bindseil, U. (1995), S. 328 – 331. 45 Vgl. Deregulierungskommission (1991), S. 219. 46 Vgl. die Definition von Bonus, H. / Maselli, A. (1996), S. 1083. 47 Zum Umfang und zu Grenzen des Direktionsrechts Zöllner, W. (1992), S. 68 f. oder interessant auch BAG DB 1990, 2026. 48 Siehe dazu z. B. Rieble, V. (1996), S. 29 oder Markmann, H. (1991), S. 277 in einem Minderheitsvotum zum Gutachten der Deregulierungskommission. 49 Brandes, W. et al. (1991), S. 124; siehe dazu auch Walwei, U. (1990), S. 396 und 397.

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geber gestattet zu kündigen. Dadurch werde erreicht, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber nicht gezwungen werden könne, Arbeitsleistungen zu erbringen, „die in Art, Umfang oder Intensität über das vertraglich geschuldete Maß hinausgehen.“50 Nach dieser Argumentation sind somit die Regelungen der verhaltensund personenbedingten Kündigung wirtschaftlich gerechtfertigt, da sie opportunistisches Verhalten des Arbeitgebers verhindern. Korrekt ist an dieser Argumentation sicherlich, dass der Arbeitsvertrag ein unvollständiger Vertrag ist, und dass der Arbeitgeber infolge seines Direktionsrechts einen tendenziell größeren Einfluss auf seine konkrete Ausgestaltung hat, als der Arbeitnehmer. Auf der anderen Seite muss aber auch berücksichtigt werden, dass es für den Arbeitgeber häufig recht schwer ist zu überprüfen, inwieweit der Arbeitnehmer seine Vorgaben erfüllt. Somit kann man wohl nicht einseitig davon sprechen, dass der Arbeitnehmer die Möglichkeit hat, die Arbeitsleistung über das geschuldete Maß hinweg zu steigern, sondern muss der Vollständigkeit halber auch erwähnen, dass der Arbeitnehmer durchaus auch die Möglichkeit hat, unter dem geschuldeten Maß zurückzubleiben. Es besteht somit die Gefahr opportunistischen Verhaltens auf beiden Seiten. Die natürlichste und wirtschaftlich effizienteste Möglichkeit, auf opportunistisches Verhalten zu reagieren, ist es den Vertragspartner zu wechseln. Diese Möglichkeit wird im Normalfall auch den jeweiligen Vertragspartner bereits im Vorfeld von opportunistischem Verhalten abbringen. Dass der Vertragspartnerwechsel schwer sein kann, wenn der Markt sich nicht im Gleichgewicht befindet ist unbestritten. Dieser Umstand ist aber keine Besonderheit des Arbeitsvertrages, sondern ein Problem bei der Auflösung vieler langfristiger Verträge.51 Ein anderes Mittel zur Begrenzung der Gefahr von opportunistischem Verhalten des Arbeitgebers und zur Begrenzung seines Direktionsrechts ist zudem die Einführung einer Institution der ,collective voice‘, die in Deutschland in Form des Betriebsrats verwirklicht und mit sehr weitreichenden Rechten ausgestattet ist. Außerdem muss der Arbeitgeber sehr vorsichtig mit dem Instrument der Kündigung oder Kündigungsandrohung umgehen, da auch ihm als Unternehmer durch die Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses Kosten entstehen. Diese Kosten werden den Arbeitgeber im Normalfall davon abhalten, unnötige Kündigungen auszusprechen.52 Es bleibt festzuhalten, dass somit weder die Eigenschaften des Arbeitsvertrages als unvollständigen Vertrages, noch das Direktionsrecht des Arbeitgebers ein grundsätzliches Übergewicht des Arbeitgebers begründen. Trotzdem ist es aus dieser Argumentation heraus vertretbar, wegen einzelner Ungleichgewichtslagen, ver50 51 52

Walwei, U. (1990), S. 397. So auch Reuter, D. (1985), S. 64. Vgl. Soltwedel, R. et al. (1990), S. 174.

11 von Klitzing

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

bunden mit einem gewissen Sicherheitsbedürfnis des Arbeitnehmers, eine Art Willkürschutz zu institutionalisieren, um einer Ausnutzung der Unvollständigkeit des Arbeitsvertrages und des Direktionsrechts entgegenzuwirken. Man sollte dabei aber im Auge behalten, dass dadurch einseitig die Opportunismusgefahr von Seiten des Arbeitgebers, nicht hingegen die ebenfalls existierende von Seiten des Arbeitnehmers, bekämpft wird. Eine über den reinen Willkürschutz hinausgehender Bestandsschutz wird jedenfalls nicht gerechtfertigt. Grundsätzlich ist außerdem festzuhalten, dass es problematisch ist, opportunistisches Verhalten durch Regeln verhindern zu wollen, die eine Beendigung des Vertragsverhältnisses erschweren oder ausschließen. Durch solche Regeln werden die Verträge nur verlängert, obwohl doch die Langfristigkeit überhaupt erst die Voraussetzung für opportunistisches Verhalten ist und die Möglichkeit der Beendigung die wirksamste Kontrolle einer fairen Vertragshandhabung ist.53 Im Ergebnis lässt sich also auch aus dem Argument der Unvollständigkeit des Arbeitsvertrages kein die heutigen strengen Bestandsschutzregeln rechtfertigendes Argument ableiten.

4. Zusammenfassende Bewertung des Arguments der Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers In diesem Abschnitt wurde versucht, die wichtigsten Argumente, die eine spezielle Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers und ein daraus gefolgertes Bedürfnis an Bestandsschutzregeln begründen, darzustellen und zu diskutieren. Das Ergebnis war, dass kein (bedeutender) Grund für die Annahme einer besonderen Schutzbedürftigkeit besteht.54 Dieses Ergebnis überrascht, wenn man bedenkt, dass praktisch die gesamte arbeitsrechtliche Literatur ebenso wie die Rechtsprechung von einer gestörten Vertragsparität zwischen Arbeitgeber und -nehmer ausgehen und vor allem damit die Notwendigkeit des Arbeitnehmerschutzes begründen.55 Diese Diskrepanz mag sich ein wenig damit erklären lassen, dass in der Rechtswissenschaft meist nur ein Einzelfall in einer konkreten Situation betrachtet wird bzw. solche Fallkonstellationen als Ausgangspunkte für generelle Erwägungen dienen. Eine ordnungspolitische Untersuchung hingegen muss die Gesamtheit betrachten. Daher muss das hier gefundene Ergebnis auch so interpretiert werden, dass im Siehe dazu auch Behrens, P. (1989), S. 222 ff. und insbesondere S. 227. So im Ergebnis auch Preis, U. (1993), S. 256 ff. und 283 ff., der für das Arbeitsverhältnis das Vorliegen einer kontrollrelevante Imparität ablehnt. 55 Eine der ganz wenigen Ausnahmen bildet Zöllner. Dieser kommt in einer sehr ausführlichen Darstellung zu dem Schluß, dass „nicht mit ausreichendem Anspruch an Wissenschaftlichkeit behauptet werden (kann), daß die Parität zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer typischerweise gestört sei.“ (So bereits Zöllner, W. (1976), S. 246). 53 54

A. Rechtfertigungsgründe für staatliche Eingriffe mittels des Bestandsschutzes

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Grundsätzlichen keine Vertragsdisparität vorliegt. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass in einzelnen Vertragsbeziehungen keine Übermacht des Arbeitgebers vorliegt. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass ein Übergewicht des Arbeitgebers in einigen Situationen vermehrt auftritt. Dies wird insbesondere der Fall sein, wenn gesamtwirtschaftlich ein Überhang an Arbeitskräften vorhanden ist.56 Ordnungspolitisch gesehen ist aber ein einzelner Fall oder auch eine momentane Situation auf dem Arbeitsmarkt kein Grund, mit der Setzung allgemeiner Regeln einzugreifen. Nur wenn die Parität zwischen Arbeitgeber und -nehmer typischerweise und dauerhaft gestört wäre, wären staatliche Eingriffe möglicherweise gerechtfertigt.57 Eine solche dauerhafte Störung der Parität liegt aber, wie festgestellt, nicht vor. Man möchte beinahe Zöllner58 zustimmen der anführt: „Die Redeweise von der Ungleichgewichtigkeit der Vertragspartner (Disparität, Imparität, gestörte Vertragsparität usw.) ist eine bequeme Argumentationsfigur, die von genauem Nachdenken und sachbezogener Begründung abhält. Einschränkungen der Vertragsfreiheit lassen sich mit ihr nicht begründen.“ Aber selbst wenn man ein grundsätzliches Übergewicht der einen Vertragspartei (hier des Arbeitgebers) annehmen würde, bleibt es fraglich, ob ein Eingriff des Staates mittels zwingender Regeln der richtige Weg ist. Werden durch Regeln die Bedingungen bzw. Inhalte eines zweiseitigen Vertrages zugunsten des Schwächeren verändert, läuft man immer Gefahr, dass der Stärkere das Interesse an einem Vertragsabschluss verliert, was meistens den Schwächeren sehr viel härter trifft, als ihn der Abschluss unter den ursprünglichen Verhältnissen beeinträchtigt hätte.

III. Transaktionskostentheoretische Argumente Eine staatlich gesetzte Regel kann gerechtfertigt sein, wenn durch sie Verhandlungs- und Durchsetzungskosten (Transaktionskosten) gespart werden. Als Vorteil des gesetzlichen Kündigungsschutzes gegenüber individualvertraglicher Regelung wird dementsprechend vorgetragen, dass durch die gesetzliche Regelung hohe individuelle Verhandlungskosten gespart würden.59 Dieses Argument überzeugt aber aus zwei verschiedenen Gründen nicht. Erstens ist kein Grund zu erkennen, warum sich nicht auch am Markt gewisse Standard56 Wer von einem Dauerungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt ausgeht, der könnte damit eine dauerhafte Übermachtsituation des Arbeitgebers begründen. Es gibt aber keine schlüssige theoretische oder empirische Begründung eines solchen Dauerungleichgewichts. Vgl. dazu z. B. auch Neumann, H. (1990b), S. 115. 57 Weitergehend noch Zöllner, W. (1996), S. 35, der grundsätzlich Ungleichgewichtslagen für nicht geeignet hält, Einschränkungen der Vertragsfreiheit zu begründen und sehr gute Argumente dafür anführt. 58 Zöllner, W. (1996), S. 35. 59 Zu diesem Argument siehe Brandes, W. et al. (1991), S. 126 f. oder Walwei, U. (1996), S. 225.

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

bedingungen etablieren sollten. Für diese Standardbedingungen wären aber die einmaligen Aushandlungskosten wohl nicht sehr hoch. Zweitens wäre das Argument nur zutreffend, wenn durch die staatlich etablierten Regeln nicht Transaktionskosten anderer Art erzeugt würden. Zu komplizierte rechtliche Regelungen können ausgesprochen hohe Transaktionskosten in Form von z. B. Anwaltskosten oder Gerichtskosten zur Folge haben. Tatsächlich hat es den Anschein, dass mögliche transaktionskostensenkende Tendenzen unseres Bestandsschutzes durch die Zusatzkosten einer unberechenbar gewordenen Rechtsprechung überkompensiert werden.60 Hinzu kommt, dass der Bestandsschutz, folgt man diesem Argument, nicht zwingend, sondern dispositiv ausgestaltet werden müsste. Wenn nämlich der Bestandsschutz tatsächlich transaktionskostensenkend wirkt, so würde er sich gegenüber alternativen Institutionen (individueller Vertragsgestaltung) durchsetzen, ohne dass es des staatlichen Zwanges bedürfte.61 Da der Bestandsschutz aber im deutschen Recht zumindest nach unten hin zwingend ausgestaltet ist, ist ein Wettbewerb mit alternativen Regeln individueller Vertragsgestaltung weitgehend ausgeschlossen. Die Bestandsschutzregeln werden somit dem Wettbewerb mit anderen Regeln entzogen und können somit ihre angeblichen Vorteile nicht unter Marktbedingungen beweisen. Ein solcher Wettbewerb wäre aber besonders unter den sich immer schneller verändernden Marktanforderungen und -bedingungen besonders wünschenswert, da sich durch den Wettbewerb immer neue, angemessene und damit beschäftigungsfördernde Bestandsschutzregeln bilden könnten. Nur bei dispositiven Regeln kann der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren wirksam werden.62

IV. Unvollständige Information der Marktteilnehmer Aus der Versicherungsökonomie stammt ein Argument, das auf dem Gedanken der adversen Selektion beruht. Danach ist der Arbeitgeber bei Abschluss eines Arbeitsvertrages schlechter über die Leistungsbereitschaft der Bewerber informiert als diese.63 Deshalb haben Unternehmen, die durch individuelle Verträge Kündigungsgründe festlegen, das Problem, dass sich unter ihren Bewerbern überdurchschnittlich viele befinden, die nur gerade so viel leisten wollen, dass sie keinen Anlass zur Kündigung bieten.64 Daher, so kann man weiter argumentieren, bilden sich auf einem freien Markt keine Vereinbarungen über Kündigungsgründe heraus. 60

Die Möglichkeit einer Überkompensation spricht u. a. auch Franz, W. (1994b), S. 445

an. 61 62 63 64

Vgl. Soltwedel, R. et al. (1990), S. 157. Ähnlich Weber, R. (1998), S. 560. Brandes, W. et al. (1991), S. 127. Vgl. zu diesem Argument Dörsam, P. (1995), S. 15.

A. Rechtfertigungsgründe für staatliche Eingriffe mittels des Bestandsschutzes

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Bei einer gesetzlichen Regelung hingegen werden leistungsunwillige Bummelanten auf alle Betriebe verteilt. Theoretisch kann diesem Argument eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden, allerdings dürfte seine praktische Relevanz nicht allzu groß sein. Würde man die Bildung von Bestandsschutzregeln insbesondere von Kündigungsschutzregeln dem Markt überlassen, so ist anzunehmen, dass Betriebe die einen Kündigungsschutz anbieten auch Mechanismen finden, um die überdurchschnittlich vielen leistungsunwilligen Bummelanten unter den Bewerbern auszufiltern. Es sollte bei den sowieso aufwendigen Auswahlprozeduren nicht allzu viel Mühe machen, einige zusätzliche Screening-Methoden einzubauen. Auch werden die meisten Bewerber bereits über Zeugnisse oder Abschlüsse verfügen (SignallingMittel), aus denen auf ihren generellen Leistungswillen oder -unwillen geschlossen werden kann. Außerdem würde die Häufung der Bummelanten eine nicht allzu große Rolle spielen, wenn auch in der „normalen“ Arbeitnehmerschaft ein großes Interesse an Kündigungsschutzregeln besteht, wie von den Befürwortern eines starken Kündigungsschutzes meist vorausgesetzt wird.65

V. Produktivitätsvorteile stabiler Arbeitsbeziehungen Die Produktivitätsvorteile stabiler Arbeitsbeziehungen werden als Argument meist verwandt, um das von Bestandsschutzgegnern häufig gebrachte Argument der Kosteneffekte des Bestandsschutzes zu entkräften. Das Hauptargument für Produktivitätsvorteile durch Bestandsschutzregelungen besteht darin, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufgrund von hohen Abwanderungskosten eine längerfristige Zusammenarbeit erwarteten und anstrebten. Dies wiederum erhöhe den Anreiz, in die Weiterbildung der Arbeitnehmer zu investieren und Wissen weiterzugeben. 66 Richtig an dieser Argumentation ist, dass sich Investitionen in Humankapitalbildung sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber nur lohnen, wenn das Humankapital danach auch noch eine Weile genutzt werden kann. Seltsam ist es jedoch, wenn diese Tatsache als Argument dafür verwandt wird, dass der Arbeitgeber ein Interesse an dem in Deutschland geltenden Kündigungsschutz habe, weil dieser sicherstelle, dass sich seine Investitionen in das Humankapital seiner Mitarbeiter auszahle. Übersehen wird bei einer solchen Argumentation, dass durch den Kündigungsschutz keineswegs der Arbeitgeber vor einer Kündigung seines Angestellten geschützt wird. Dies wäre aber der einzige Schutz, der in diesem Zusammenhang ein Interesse des Arbeitgebers am Bestandsschutz begründen könnte. Es bedeutet 65 Ein großes Interesse der Arbeitnehmer am Kündigungsschutz belegt auch eine Studie von Föste, W. (1999), S. 337 ff. 66 Vgl. zu dieser Argumentation Eger, T. / Nutzinger, H. (1997), S. 13 (FAZ v. 5. 4. 97) oder Dörsam, P. (1995), S. 15 und 19 f.

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

keinerlei Sicherheit für seine Humankapitalinvestition, wenn er selber nicht kündigen kann. Allenfalls ließe sich argumentieren, der Arbeitgeber müsste vor sich selbst geschützt werden, damit er nicht voreilig kündige und dadurch seine Investitionen verliere. Eine solche Argumentation ist aber geradezu ein Paradebeispiel für die Anmaßung von Wissen im Hayek’schen Sinne. Es ist absurd anzunehmen, der Gesetzgeber müsste den Arbeitgeber vor sich selbst schützen. Der Arbeitgeber ist viel näher an der konkreten Situation und verfügt über viel mehr fallspezifisches Wissen. Eine generelle Regelung durch ein Gesetz kann den nahezu unendlich vielen Einzelfällen niemals gerecht werden. Trotz der Absurdität des Gedankens, dass der Arbeitgeber vor voreiligen Kündigungen durch den Gesetzgeber geschützt werden muss, wird dieses Argument nicht selten vorgebracht.67 Der Bestandsschutz könnte aber das Interesse bzw. die Bereitschaft des Arbeitnehmers fördern, in seine eigene Humankapitalbildung zu investieren oder die Investition des Arbeitgebers anzunehmen. Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass ein Arbeitnehmer unabhängig vom Bestandsschutz ein Interesse an einer Investition in sein Humankapital hat. Dies gilt insbesondere, wenn es um die Vermittlung von Wissen oder Fähigkeiten geht, die er auch in anderen Unternehmen verwenden könnte. Sein Interesse an solchem Humankapital ist ein zweifaches. Erstens erhöht es seinen Marktwert, egal ob für seinen bisherigen Arbeitgeber oder für einen anderen. Zweitens sichert er seinen Arbeitsplatz, da der Arbeitgeber mit einer Entlassung auch sein Humankapital verlieren würde. Zweitens erhöht die Humankapitalinvestition auch seine Chancen, nach einer trotzdem erfolgten Kündigung durch seinen Arbeitgeber, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, da er mehr Humankapital einbringen kann. Für nicht-betriebsspezifisches Humankapital ist somit festzuhalten, dass ein Arbeitnehmer auch ohne Bestandsschutzregeln ein Interesse an Humankapitalinvestitionen hat. Man kann sogar davon sprechen, dass ein geringerer Bestandsschutz das Interesse der Arbeitnehmer an nicht betriebsspezifischen Humankapitalinvestitionen erhöhen kann. Ist nämlich ein Arbeitnehmer durch Bestandsschutzregeln schlechter abgesichert, so wird er ein größeres Interesse daran haben, Humankapital zu erwerben, da er dadurch eine erhöhte Sicherheit gegen eine Entlassung gewinnt und zugleich auch seine Chancen, nach einer erfolgten Entlassung wieder einen Arbeitsplatz zu finden, erhöht. Das soeben angesprochene nicht-betriebsspezifische Humankapital macht sicherlich den Großteil des für Weiterbildungen interessanten Wissens aus. Aber auch für betriebsspezifisches Humankapital ist der Bestandsschutz als „Motivationshilfe“ für Arbeitnehmer nicht erforderlich. 67 So schreibt z. B. Kittner, M. (1995), S. 388: „Es zeigt sich, daß Unternehmen in der Rezession geradezu vor sich selbst geschützt werden müssen. Zu leicht gemachte Entlassungen konfrontieren die Unternehmen in Wiederaufschwung mit Personalengpässen (gerade in Bezug auf qualifizierte Arbeitskräfte). . . .“

A. Rechtfertigungsgründe für staatliche Eingriffe mittels des Bestandsschutzes

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Wenn der Arbeitgeber das Erwerben betriebsspezifischen Humankapitals finanziert, so ist diese Investition für den Arbeitnehmer unabhängig von Bestandsschutzregeln vorteilhaft. Die Investition stärkt seine Position gegenüber dem Arbeitgeber. Dies gilt sowohl für Lohnfragen als auch im Fall von Entlassungen, da der Arbeitgeber mit dem Arbeitnehmer auch seine Humankapitalinvestition in den betreffenden Arbeitnehmer verliert. Muss hingegen der Arbeitnehmer die Investition in sein betriebsspezifisches Humankapital selbst bezahlen – dies ist sicherlich eine sehr seltene Ausnahme,68 so steht es ihm frei, die Kosten gegenüber seinem Nutzen abzuwägen. Fällt eine solche Abwägung gegen eine Investition aus, so besteht auch kein Grund, sie durch Bestandsschutzregeln zu fördern, da sie auch volkswirtschaftlich nicht wünschenswert ist. Es besteht wohl kein übergeordnetes Interesse an betriebsspezifischen Humankapitalinvestitionen, an denen der Arbeitgeber, für dessen Betrieb sie alleine verwendbar sind, selbst so wenig Interesse hat, dass er den Arbeitnehmer, der das Humankapital erwirbt, entlassen will. Aus dieser recht ausführlichen Darstellung kann geschlossen werden, dass Bestandsschutzregeln keineswegs erforderlich sind, um das Interesse oder die Bereitschaft von Arbeitnehmern an der Bildung von Humankapital zu fördern. Im Gegenteil kann der Bestandsschutz bewirken, das Interesse an Humankapitalinvestitionen zu verringern. Interessant ist das Argument, dass Bestandsschutzregeln die Bereitschaft von Arbeitnehmern erhöht, das von ihnen bereits erworbene Wissen weiterzugeben.69 Der hinter diesem Argument stehende Gedankengang ist folgender: Ein erfahrener Arbeitnehmer wird eventuell nur begrenzt bereit sein, einem weniger erfahrenen seine spezifischen Kenntnisse und Erfahrungen weiterzugeben, wenn er befürchten muss, durch diesen ersetzt zu werden. Ein ausgeprägter Kündigungsschutz kann, so der Gedankengang, diese Bereitschaft erhöhen.70 Es mag richtig sein, dass die Angst vor Ersetzung eine Humankapitalweitergabe im Einzelfall verhindern kann, selbst wenn ein Arbeitnehmer sicherlich auch gerade durch eine geringe Bereitschaft zur Weitergabe in Gefahr geraten kann, entlassen zu werden. Aber es ist wohl unnötig aufgrund dieses Problems, eine gesetzliche Allgemeinregelung zu schaffen bzw. beizubehalten. Der Arbeitgeber ist durchaus in der Lage selber dafür zu sorgen, dass seine Arbeitnehmer ihre Fähigkeiten an Kollegen weitergeben. Ob er dies mit Hilfe von Kündigungsschutzregelungen im Einzelarbeitsvertrag oder durch Beförderungs- und Gehaltsanreize für gute Ausbilder tut, sollte ihm überlassen werden. Er ist viel näher am Geschehen und kann den für den Einzelfall richtigen Anreiz viel besser bestimmen. Außerdem kann ein starker Bestandsschutz auch dazu führen, dass die Bereitschaft sinkt, die eventuell mühsame Ausbildung jüngerer Kollegen zu übernehmen. Der 68 Es fällt bereits schwer, sich eine externe Ausbildung vorzustellen, die nur für einen Arbeitgeber nützlich ist. 69 Siehe hierzu Soltwedel, R. et al. (1990), S. 150 f. 70 Zu diesem Gedankengang vgl. Eger, T. / Nutzinger, H. (1997), S. 13 (FAZ v. 5. 4. 97).

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

damit verbundene zusätzliche Arbeitsaufwand mag dem Einzelnen unnötig erscheinen, wenn er wegen einer Ausbildungsverweigerung keine Kündigung befürchten muss. Insgesamt betrachtet ist das Argument der Produktivitätsvorteile durch stabile Arbeitsbeziehungen zur Rechtfertigung von Bestandsschutzregeln wenig überzeugend. Allenfalls mag in Einzelfällen eine gewisse Teilkompensation von Kostennachteilen möglich sein.

VI. Sonstige Argumente Bei der Rechtfertigung der Bestandsschutzregeln und insbesondere der Sozialplanpflicht ist das Argument von der suboptimalen Verteilung von Entlassungsrisiken von besonderer Bedeutung.71 Es wird argumentiert, ein Unternehmen berücksichtige im allgemeinen die Anpassungslasten, die den einzelnen Arbeitnehmer bei einer Entlassung treffen, nicht ausreichend und entlasse daher mehr Arbeitnehmer als volkswirtschaftlich sinnvoll sei. Durch den gesetzlichen Bestandsschutz bzw. speziell die Sozialplanpflicht würden die sozialen Folgen von Entlassungen in die betrieblichen Entscheidungsvorgänge internalisiert.72 Mit dieser Argumentation hat sich die Deregulierungskommission sehr ausführlich beschäftigt.73 Ihr zufolge ist die Sozialplanpflicht ökonomisch gesehen „eine Mischung aus Versicherung und Nachverhandlungsanspruch zum Arbeitsvertrag. Er antwortet auf Unvollkommenheiten der Arbeitslosenversicherung und des typischen Arbeitsvertrages.“74 Der Vergleich einer Sozialplanpflicht mit einer Versicherung beruht auf dem Gedanken, dass das Risiko des einzelnen Arbeitnehmers arbeitslos zu werden, ganz oder zum Teil auf die Unternehmen verlagert wird. Diese seien einerseits durch die Möglichkeit des Poolens von Risiken die besseren Risikoträger und zweitens hätten sie die größere Möglichkeit, zur Abwehr des Schadens tätig zu werden.75 Auf den ersten Blick wirkt diese Argumentation recht überzeugend und wird daher auch häufig verwandt. Erst bei genauerer Analyse zeigen sich Mängel in der Argumentationslinie. Eine Poolung von Risiken bei einem Versicherer hat vor allem dann Vorteile, wenn die versicherten Einzelrisiken unabhängig voneinander sind. Bei einem Arbeitgeber werden die Risiken seiner Arbeitnehmer, arbeitslos zu werden, gepoolt. Die Einzelrisiken sind aber zumeist nicht unabhängig voneinan71 Siehe zu diesem Argument insbesondere Deregulierungskommission (1991), S. 220 und 224 ff. 72 Walwei, U. (1996), S. 225. 73 Deregulierungskommission (1991), S. 220, S. 224 – 229 und 263 – 266. 74 Deregulierungskommission (1991), S. 225. 75 Vgl. Deregulierungskommission (1991), S. 225.

A. Rechtfertigungsgründe für staatliche Eingriffe mittels des Bestandsschutzes

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der. Massenentlassungen – und nur dann besteht die Pflicht zu einem Sozialplan – werden vor allem vorgenommen, wenn das Unternehmen als ganzes in Schwierigkeiten ist. Dann sind aber nicht nur einzelne wenige Arbeitsplätze gefährdet, sondern ein hoher Prozentsatz oder alle. Die Poolung bringt also aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit der Risiken nur einen geringen Vorteil.76 Eine sehr viel wirksamere Poolung erfolgt über die Arbeitslosenversicherung. In ihr ist das Risiko des Einkommensausfalles gepoolt. Die Differenz zwischen Arbeitslosengeld und dem Arbeitseinkommen, sowie die zeitliche Befristung ist dabei erforderlich, um bei dem Arbeitnehmer ein Interesse an der Erhaltung des Arbeitsplatzes bzw. ein Interesse an der Arbeitsplatzsuche zu garantieren. Der Sozialplan darf daher das Einkommensinteresse nicht über die Arbeitslosenversicherung hinaus absichern. Somit bleibt allein eine Absicherung der Mobilitätskosten übrig, da diese durch die Arbeitslosenversicherung nicht abgesichert sind und auch nicht abgesichert werden können.77 Eine Absicherung des Mobilitätsrisikos über die Sozialplanpflicht ist aber ebenfalls kaum wünschenswert. Den größten Einfluss auf die Mobilitätskosten hat der einzelne Arbeitnehmer selber, denn er bestimmt z. B. seinen Wohnsitz, die Schule, auf die seine Kinder gehen, oder seine sozialen Bindungen. Daher ist es besser, wenn er auch die Mobilitätskosten einer eventuellen Entlassung tragen muss, da er auch am besten Maßnahmen treffen kann, um die Mobilitätskosten gering zu halten (z. B. Wahl des Wohnortes in einer Region, von der aus mehrere potentielle Arbeitgeber erreichbar sind). In der Sprache der ökonomischen Analyse des Rechts gesprochen, ist er der cheapest cost avoider.78 Außerdem ist es unmöglich, die Abfindungen auf jeden Einzelfall genau abzustimmen. Es kommt somit nur eine mehr oder weniger pauschale Summe in Frage. Eine solche eher grobe Differenzierung kann aber auch der Einzelarbeitsvertrag (oder wenigstens eine Betriebsvereinbarung) leisten, so dass eine gesetzliche Regelung wohl überflüssig ist. Zudem berücksichtigt die momentane gesetzliche Regelung viele Nachteile des Arbeitnehmers, die nichts mit Mobilitätskosten zu tun haben.79 Zwar ist als Argument gegen die Überlegenheit individueller Abreden vorgebracht worden, dass eine individuelle Vereinbarung einer Abfindung für den Fall einer betriebsbedingten Kündigung nicht nur eine Vereinbarung zu Lasten des Ar76 Die Unabhängigkeit der Risiken steigt mit zunehmender Unabhängigkeit verschiedener Geschäftsbereiche. Daher ist der Gedanke einer Versicherung bei sehr großen Unternehmen eher gerechtfertigt. 77 Deregulierungskommission (1991), S. 225. 78 Es ist ein Grundsatz der Ökonomischen Analyse des Rechts, dass vermeidbare Risiken von dem getragen werden sollten, der sie am günstigsten verringern oder beheben kann (cheapest cost avoider). Siehe dazu Behrens, P. (1989), S. 217. 79 Die gesetzliche Regelung befindet sich in § 112 V BetrVG. Dort wird geregelt nach welchen Kriterien sich die Einigungsstelle – sie bestimmt im Konfliktfall zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat wie ein Sozialplan gestaltet werden muß – richten soll. Nach dieser Regelung soll sie z. B. auch Einkommensminderungen, Wegfall von Sonderleistungen oder die Aussichten der betroffenen Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigen.

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

beitgebers ist, sondern vor allem eine Vereinbarung zu Lasten derjenigen Kollegen gleicher oder ähnlicher Qualifikation, die eine solche Vereinbarung nicht getroffen haben.80 Aber gerade dies ist ökonomisch wünschenswert. Es ist gerade der Vorteil einer individuellen Regelung, dass sie das unterschiedliche Interesse (z. B. wegen unterschiedlicher Mobilitätskosten) an dem Bestand des Arbeitsverhältnisses berücksichtigt. Wenn ein Arbeitnehmer entlassen werden muss, so sollte es der sein, der die geringsten Mobilitätskosten hat. Gerade darauf wirken aber individuell vereinbarte Abfindungen hin. Auch das Argument diese individuellen Regelungen gingen nicht zu Lasten des Arbeitgebers spricht eher für eine individuelle Regelung, da ja eine Versicherungslösung gerade nicht zu Lasten einer Partei gehen soll, sondern beiden Vorteile bringen soll. Eine Rechtfertigung der Sozialplanpflicht aus dem Versicherungsgedanken ist somit abzulehnen. Auch das Argument eines Nachverhandlungsanspruches greift nicht. Soweit es mit der Bildung von betriebsspezifischem Humankapital, das entwertet wird, zusammenhängt, wurde es schon oben diskutiert. Ansonsten ist kein Grund für einen Nachverhandlungsanspruch zu sehen. Allein die Tatsache, dass ein längeres Vertragsverhältnis beendet wird und eventuell ein unterschiedliches Interesse an der Fortsetzung des Vertrages besteht81, begründet keinen ökonomisch nachvollziehbaren Grund für eine Art von Entschädigung. Es ist ein völlig normaler Vorgang, dass langfristige Verträge beendet werden und keine Besonderheit des Arbeitsvertrages. Auch für fast jede andere längerfristige Vertragsbindung gilt, dass sie durch besondere Kenntnisse der Vertragspartner (spezifisches Humankapital) gefördert wird und auch diese speziellen Kenntnisse aufgrund der langfristigen Beziehungen angesammelt wurden. Trotzdem denkt bei den anderen Langfristverträgen zu Recht niemand daran, die Kündigung mit einem Entschädigungs- bzw. Nachverhandlungsanspruch zu verbinden.82 Ein weiteres Argument, das speziell zur Rechtfertigung der Sozialplanpflicht angeführt wird, ist, dass es gesamtwirtschaftlich effizienter sei, eine Entlassung mittels drohender Sozialplankosten zu verhindern, wenn die dadurch bewirkten innerbetrieblichen Kosten nur niedriger sind, als die externen Wiedereingliederungskosten.83 Dem ist entgegenzuhalten, dass in vielen Fällen gar keine innerbetrieblichen Umsetzungsmöglichkeiten vorhanden sind, so dass eine Weiterbeschäftigung im Vgl. Monopolkommission (1994), S. 373 RZ 922. So die Argumentation der Deregulierungskommission (1991), S. 226. 82 Vgl. Reuter, D. (1985), S. 64. Dieser vergleicht Arbeitsverträge in diesem Zusammenhang mit Geschäftsbesorgungsverträgen. 83 Sehr ausführlich zu dem Thema der Sozialpläne Schnellhaaß, H. (1989), der die Regelungen einer ausführlichen Prüfung unterzieht. Das behandelte Argument wird vor allem auf den S. 176 ff. behandelt. Zu diesem Argument siehe auch Franz, W. (1994b), S. 452 f., der überzeugende Gründe dagegen vorbringt. 80 81

A. Rechtfertigungsgründe für staatliche Eingriffe mittels des Bestandsschutzes

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selben Betrieb gar nicht in Frage kommt.84 Des weiteren hat der Arbeitgeber auch von sich aus bereits Interesse daran, Beschäftigte im Unternehmen zu halten, wenn es Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten gibt. Er vermeidet mit einer Kündigung – unabhängig von den Sozialplankosten – sowieso verbundene Kosten, den Verlust des Humankapitals des Arbeitnehmers und mögliche Störungen des Betriebsklimas.85 Deshalb ist es eher fraglich, ob es einer weiteren Kostenbelastung bedarf, um den Arbeitgeber von „unnötigen“ Kündigungen abzuhalten. Aber selbst wenn man glaubt, einzelwirtschaftlich effiziente Entlassungen seien gesamtwirtschaftlich häufig nicht sinnvoll, stellt sich die Frage, wieso gerade der Arbeitgeber die Kosten in Form der für ihn ineffizienten Weiterbeschäftigung, tragen soll. Hierfür müsste die Gesellschaft, die auch Nutznießerin ist, die Kosten tragen.86 Selbst wenn man der oben geführten Argumentation und dem Ergebnis, dass die Sozialplanpflicht insgesamt nicht ökonomisch gerechtfertigt ist, nicht folgt, so kann jedenfalls eine Pflicht bei der Bemessung der Abfindung auch unspezifische – d. h. von der bisherigen Tätigkeit der Arbeitnehmer unabhängige – Anpassungslasten zu berücksichtigen, mittels des Arguments von der suboptimalen Verteilung von Entlassungsrisiken nicht begründet werden.87 Zusammengefasst ist das Argument der suboptimalen Verteilung von Entlassungsrisiken wenig überzeugend. Ein Teil der Entlassungsrisiken werden dem Arbeitnehmer durch den Staat in Form von Lohnersatzleistungen abgenommen. Auch trägt der Arbeitnehmer nicht alle Nachteile der Entlassung, sondern auch der Arbeitgeber ist von dem Verlust des Humankapitals betroffen. Eine weitere Entlastung des Arbeitnehmers von den Nachteilen einer Entlassung könnte negative Nebenwirkungen haben. Ein Nachlassen der Bemühungen des Arbeitnehmers, seine Stelle zu erhalten oder die Wechselkosten gering zu halten, könnte die Folge sein. Um dem vorzubeugen, ist ein Selbstbehalt für den Arbeitnehmer erforderlich. Selbst wenn man trotz der gegenteiligen Argumente den Selbstbehalt verringern will, ist nicht ersichtlich, warum eine Verringerung dieses Selbstbehalts nicht individualvertraglichen Regelungen vorbehalten bleiben sollte. Ein weiteres häufig vorgebrachtes Argument ist, dass dem Bestandsschutz eine wichtige gesamtwirtschaftliche Stabilisierungsfunktion zukomme.88 Dieses Argument beruht insbesondere auf den Vorstellungen der keynsianischen Theorie. Kernargument ist dabei, dass der Kündigungsschutz im Konjunkturabschwung Entlassungen verhindere oder zumindest verzögere. Zusätzlich wird teilweise noch angeführt, dass die durch den Kündigungsschutz verursachten Kosten in der konjunk84 Franz, W. (1994 b), S. 452 bringt hier das Beispiel des Heizers, der auf einer Elektrolokomotive weiterbeschäftigt wird. 85 Vgl. Schnellhaaß, H. (1989), S. 181 ff. 86 So auch Franz, W. (1994b), S. 452 f. 87 Zu diesem Ergebnis kommen die Monopolkommission (1994), S. 373 und die Deregulierungskommission (1991), S. 227 f.; ähnlich auch Schnellhaaß, H. (1989), S. 205. 88 So z. B. Franz, W. (1994b), S. 444 f. oder Walwei, U. (1996), S. 225.

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

turellen Erholungsphase Einstellungen hinauszögern und somit ebenfalls dämpfend auf den Konjunkturzyklus wirken. Es ist vermutlich richtig, dass sich die Bestandsschutzregeln auf den Konjunkturzyklus dämpfend auswirken. Allerdings sollte diese Wirkung nicht überschätzt werden. Mit der im 1. Kapitel [Abschnitt A. III. 3.] erklärten Kontrakttheorie lässt sich erklären, dass die Unternehmen schon von sich aus ein Interesse haben, langfristige Arbeitsverträge mit konstanten Reallöhnen abzuschließen. Aus dieser Theorie folgt auch, dass sie nicht sofort zu Entlassungen schreiten werden, wenn das Grenzprodukt der Arbeit konjunkturbedingt unter den Reallohn sinkt. Dadurch wird bereits eine gewisse Abschwächung der Konjunkturzyklen bewirkt, ohne dass dafür gesetzliche Regelungen vonnöten wären. In dem Bereich, wo gesetzliche Regelungen über die freiwillige langfristige Bindung hinaus eine Kündigung verhindern, handelt es sich sehr häufig nicht um konjunkturelle, sondern um strukturelle Gründe für die Kündigung. In diesem Bereich ist aber auch nach keynsianischen Vorstellungen eine Kündigung wünschenswert, denn ansonsten wird der Strukturwandel verzögert, ohne dass der Arbeitsplatz langfristig gesichert würde. Bei strukturellem Nachfrageschwund kann ein hoher Kostenaufwand für Kündigungen sogar bewirken, dass sich der Personalabbau beschleunigt, da das Unternehmen, das um eine Personalanpassung nicht herumkommt, zusätzlich die durch die Kündigungen verursachten Kosten einsparen muss.

VII. Ergebnis zu den Rechtfertigungsgründen Die Prüfung der Rechtfertigungsgründe für die staatlichen Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts hat ergeben, dass der Arbeitsmarkt Besonderheiten hat und nicht dem neoklassischem Idealbild eines Arbeitsmarktes entspricht.89 Aber in diesem Sinne perfekte Märkte existieren nur in Ausnahmefällen. Insgesamt haben sich aber keine Argumente für einen starken Bestandsschutz gefunden90, wie ihn insbesondere die Rechtsprechung herausgebildet hat. Allenfalls einen reinen Willkürschutz kann man mit Bedenken als gerade noch gerechtfertigt ansehen, wenn man damit mögliche Machtübergewichte des Arbeitgebers gegenüber dem einzelnen Arbeitnehmer in einzelnen Situationen oder in Zeiten eines gesamtwirtschaftlichen Arbeitskräfteüberhangs ausgleichen will.

Zu diesem Ergebnis kommt auch die Deregulierungskommission (1991), S. 220. Ähnlich auch Monopolkommission (1994), S. 375 RZ. 932 oder auch Dichmann, W. (1992), S. 255. 89 90

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes

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B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes Wie bereits oben erläutert soll nun – nachdem keine durchgreifenden Rechtfertigungsgründe für den existierenden starken Bestandsschutz gefunden wurden – analysiert werden, welche ordnungsökonomischen Folgen die Regeln des Bestandsschutzes auf das Handeln der Wirtschaftssubjekte und damit das Wirtschaftsgeschehen haben. Dazu wird zur Gliederung der vielfältigen Folgen auf das in Kapitel 1 entwickelte Referenzsystem, das sich an den grundlegenden Prinzipien unseres Wirtschaftssystems orientiert, zurückgegriffen. Mit der Feststellung des Abweichens der Regeln des Bestandsschutzes vom Referenzsystem soll dabei noch keine Wertung verbunden sein. Sie ist lediglich Anlass für eine genauere Untersuchung der Folgen dieser Abweichung. Die Bewertung der Folgen und damit auch der diese Folgen verursachenden Regeln erfolgt dann erst im nächsten Schritt.

I. Marktmäßigkeit Wie wir bereits festgestellt haben [Kapitel 1 Abschnitt B. III. 1. a)], ist der Leistungswettbewerb Dreh- und Angelpunkt des Systems „Soziale Marktwirtschaft“. Damit er funktionieren kann, sind insbesondere das Vorhandensein von Vertragsfreiheit, ein System von Verfügungsrechten, ein funktionierender Preismechanismus und die Offenheit von Märkten erforderlich.

1. Vertragsfreiheit Der Bestandsschutz beschränkt vornehmlich eine dieser Voraussetzungen. Dabei handelt es sich um die Vertragsfreiheit. Die Funktion der Vertragsfreiheit in der Marktwirtschaft ist eine doppelte. Sie sichert die individuelle Freiheit und Autonomie und dient gleichzeitig der Wahrung des Gesamtwohls einer Gesellschaft. Sie tut dies, indem sie bei der Lösung des Anreiz-, des Macht- und des Wissensproblems mitwirkt. Zöllner91 bezeichnet die Vertragsfreiheit daher treffend als „Zwillingsbruder der Marktwirtschaft“. Die Vertragsfreiheit umfasst, wie gesehen, neben der Abschlussfreiheit und der Inhaltsfreiheit auch die Beendigungsfreiheit. Diese Beendigungsfreiheit wird für den Arbeitgeber durch die Regelungen des Bestandsschutzes, insbesondere des Kündigungsschutzes, und deren richterliche Auslegung beeinträchtigt. 92 Der Zöllner, W. (1994), S. 436. Zu diesem Ergebnis gelangt auch der Sachverständigenrat in seinem Gutachten 1989 (Sachverständigenrat (1989), S. 170, Ziffer 366). 91 92

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

Grund dafür besteht darin, dass man einem angeblichen Machtungleichgewicht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer [dazu bereit ausführlich unter A.II.] entgegenwirken will. Man beschränkt also die Vertragsfreiheit, die tendenziell bereits zur Bekämpfung des Machtproblems beiträgt [dazu ausführlich Kapitel 1 Abschnitt B. III. 1. a)], zu Lasten des angeblich Stärkeren, um die Situation des Schwächeren zu verbessern. Werden aber durch Regeln die Bedingungen bzw. Inhalte eines zweiseitigen Vertrages zugunsten des Schwächeren verändert, läuft man immer Gefahr, dass der Stärkere das Interesse an einem Vertragsschluss generell oder zumindest mit seinem bisherigen Inhalt verliert, was meistens den Schwächeren sehr viel härter trifft, als ihn der Abschluss unter den ursprünglichen Verhältnissen beeinträchtigt hätte. Anders ausgedrückt: Verändert man die Regeln (Regelordnung) unter denen die Wirtschaftssubjekte handeln, verändern diese ihr Verhalten (Handelnsordnung). Gerade diese Verhaltensänderung infolge ihrer Einschränkung der Beendigungsfreiheit sowie deren Gründe und Wirkungen gilt es im Folgenden zu untersuchen. Dazu wird zuerst geprüft, welche Wirkungen die Einschränkung der Beendigungsfreiheit hat [a)]. Es folgt die Untersuchung, mit welchen Verhaltensänderungen die Wirtschaftssubjekte auf die Beschränkung reagieren und welche gesamtwirtschaftlichen Folgen diese Verhaltensänderungen haben [b)]. Zuletzt werden dann Wirkungen und Verhaltensänderungen daraufhin untersucht, ob sie wünschenswert sind [c)].

a) Wirkungen der Beschränkung der Beendigungsfreiheit Die am meisten genannte Wirkung des Bestandsschutzsystems ist die durch sie möglicherweise verursachte Kostenbelastung der Arbeitgeber [aa)]. Daneben sollen aber auch die Auswirkungen auf Selektionsmechanismen [bb)] und die Eigenschaften des Gutes Sicherheit [cc)] betrachtet werden.

aa) Kostenbelastung Die Folge der Beeinträchtigung der Beendigungsfreiheit durch das Bestandsschutzsystem kann eine Kostenbelastung für den Arbeitgeber bzw. den Betrieb sein. Dabei werden im Folgenden nur die Kosten betrachtet, die durch den Bestandsschutz zusätzlich verursacht werden. Die anderen Kosten, die auch ohne Bestandsschutz bei einer Kündigung anfallen würden, wie z. B. durch Verlust von Humankapital, werden hier nicht berücksichtigt. Aber man darf nicht vergessen, dass diese Kosten meistens zusätzlich anfallen und sich mit den durch gesetzliche Regelungen verursachten Kündigungskosten addieren. Ohne Regulierung würde sich ein Arbeitgeber für die Beendigung eines bestimmten Arbeitsverhältnisses entscheiden, wenn er glaubt, eine bessere Alterna-

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes

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tive zu haben. Sei es, dass er einen produktiveren oder billigeren Arbeitnehmer einstellen will, um seinen Gewinn zu erhöhen, oder dass der Arbeitnehmer auf dem konkreten Arbeitsplatz seine Kosten nicht deckt und der Arbeitsplatz deshalb völlig entfallen soll. Jedenfalls wird der Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag nur auflösen wollen, wenn er sich davon einen konkreten Vorteil erwartet. Wenn nun aber das Arbeitsverhältnis in seinen Bestand geschützt ist, so dass es von Seiten des Arbeitgebers gar nicht oder nur unter finanziellem Aufwand beendet werden kann, muss der Arbeitgeber auf seinen Vorteil verzichten oder die finanziellen Nachteile in Kauf nehmen. Kosten können durch den Bestandsschutz somit auf zwei verschiedene Arten entstehen. Erstens wenn durch den Bestandsschutz Entlassungen verhindert oder verzögert werden und zweitens wenn die Entlassungen trotz des Bestandsschutzes durchgeführt werden, dabei aber höhere Kosten anfallen, als ohne Kündigungsschutz entstanden wären.93 Die Verhinderung oder Verzögerung von Entlassungen verursacht z. B. Kosten in Form von zu zahlenden Löhnen, Verschlechterung des Betriebsklimas durch befristete Weiterbeschäftigung von Arbeitnehmern, die entlassen werden sollen, oder entgangenem Gewinn durch Einstellung produktiverer Arbeitnehmer. Zusammenfassend kann man davon sprechen, dass Kosten durch die Verlangsamung der Anpassungsreaktionen des Betriebes entstehen. Wie hoch diese Kosten in der Praxis sind, ist schwer zu beurteilen. Es kann aber versucht werden, ihre Bedeutung indirekt über die Beobachtung der Ausweichreaktionen der Unternehmen abzuschätzen. Dies wird unter Punkt b) einige Male ansatzweise versucht. Entscheidet sich der Arbeitgeber trotz der umfangreichen Bestandsschutzregeln für eine Kündigung, so kommen auf ihn Kosten vor allem in Form von administrativen Kosten für die Vorbereitung der Kündigung, Entlassungsentschädigungen und Rechtsdurchsetzungskosten zu. Rechtsdurchsetzungskosten sind in erster Linie Rechtsberatungskosten und Gerichtskosten. Sie richten sich nach § 11 ff. Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG). Das Arbeitsrecht weist dabei einige Besonderheiten zum übrigen Zivilrecht auf. Durch § 12a ArbGG wird die Erstattungsfähigkeit der Prozesskosten weitestgehend eingeschränkt. Zweck dieser Regelung ist es, den Vertragsparteien und dabei vor allem dem Arbeitnehmer ein verhältnismäßig billiges Verfahren zu eröffnen, in dem sie die wechselseitigen Ansprüche klären lassen können. Das Kostenrisiko soll den Arbeitnehmer nicht davon abhalten, seine Ansprüche zu verfolgen. Im arbeitsgerichtlichen Urteil ergeht daher eine Kostenentscheidung im wesentlichen nur zu den Gerichtskosten. Diese betragen je nach Streitwert zwischen 20 DM und 1000 DM. Bei einem Antrag, der auf das unbefristete Fortbestehen des Arbeits93 Zwischen diesen Arten von Kosten kann man wohl die Kosten für Frühpensionierungen ansiedeln. Zwar wird keine Kündigung ausgesprochen, andererseits wird das Arbeitsverhältnis auch nicht fortgeführt.

176

3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

verhältnisses gerichtet ist, beträgt der Streitwert regelmäßig den Wert des durchschnittlichen Bruttovierteljahresverdienstes.94 Bei einem durchschnittlichen Bruttomonatsverdienst von DM 500095 ergäben sich beispielsweise Gerichtskosten von DM 600, die der Unterliegende zu zahlen hat. Die Anwaltskosten hat jede Partei selber zu tragen. Auch diese sind abhängig vom Streitwert und würden bei dem oben genannten Bruttomonatsverdienst von DM 5000 und einem daraus folgenden Streitwert von 15.000 DM für ein Gerichtsverfahren inklusiv Beweisaufnahme nach BRAGO 735 * 3 = 2205 DM betragen. Somit entstehen für ein „normales“ gerichtliches Verfahren in etwa Kosten von 5000 DM96 für beide Parteien zusammen. Wären alle 1997 erledigten 310.295 Kündigungsschutzprozesse97 durch streitiges Urteil mit Beweisaufnahme entschieden worden, so ergäben sich daraus für die Parteien Kosten in einer Gesamthöhe von etwa 1,5 Mrd. DM. In der Praxis dürften die Kosten allerdings geringer sein, da ein Großteil der Prozesse durch kostengünstigere Vergleiche etc. erledigt wird und ein Teil der Kosten über die Mitgliedschaft in Gewerkschaften bzw. Arbeitgeberverbänden abgedeckt ist. Zumindest gibt diese Zahl aber die ungefähre Höhe der entstehenden gesamtwirtschaftlichen Kosten an. Mit der Höhe der Entlassungsentschädigungen beschäftigt sich eine Studie aus dem Jahr 1997 von Emmerich, Walwei und Zika98. Auch wenn diese Studie aufgrund der Schwierigkeiten, die mit der Erhebung der Daten etc. verbunden sind, keine absolut verlässliche Größe angeben kann, so bietet sie doch einen Anhaltspunkt für die Größenordnung der Kosten, die durch die Regeln des Bestandsschutzes verursacht werden. Die folgende Tabelle zeigt die Entwicklung der betrieblichen Aufwendungen für Entlassungsentschädigungen im Bereich des verarbeitenden Gewerbes von 1972 bis 1992.99 Die Tabelle verdeutlicht, wie groß die Bedeutung der Aufwendungen für Entlassungsentschädigungen mittlerweile geworden ist. So betrugen sie im Jahr 1992 schon 1 % der gesamten Personalkosten, was allein schon für das verarbeitende Gewerbe eine Belastung von 6,3 Mrd. DM ausmachte.

Vgl. z. B. Helml, E. (1998), S. 35. Zu dieser Größenordnung vergleiche Statistisches Jahrbuch 1999, S. 581 ff. 96 Anwaltskosten: 2205 DM * 2 + Gerichtskosten: 600 DM = Gesamtkosten: 5005 DM. Hinzu kommen eigentlich noch Nebenkosten wie z. B. Spesen, Kosten der Zeugen etc. 97 Statistisches Jahrbuch 1999, S. 581 ff. 98 Emmerich, K / Walwei, U. / Zika, G. (1997), S. 324 – 331. Die Autoren sind wissenschaftliche Mitarbeiter im IAB. 99 Für die Untersuchung standen neuere Zahlen noch nicht zur Verfügung. 94 95

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes Entlassungsentschädigungen (in 1000 DM)

Durchschnittliche Entlassungsentschädigung pro Beschäftigten – alle Firmen – (in DM gerundet)

Durchschnittliche Entlassungsentschädigungen pro Beschäftigten – alle Firmen mit mehr als 500 Beschäftigten – (in DM gerundet)

177

Anteil der Entlassungsentschädigungen an den gesamten Personalkosten pro Beschäftigten (in %)

1972

157 703

21

30

0,1

1975

544 893

74

105

0,2

1978

567 267

88

122

0,2

1981

1 174 464

164

226

0,3

1984

2 514 080

382

539

0,7

1988

2 650 313

393

526

0,6

1992

6 326 084

758

1 224

1,0

Quelle: Statistisches Bundesamt: Personal- und Personalkostenerhöhung im produzierenden Gewerbe.100

Seitdem ist der Anteil der Entlassungsentschädigungen an den gesamten Arbeitskosten wohl auch nicht zurückgegangen. Dies folgt zumindest aus neueren Zahlen des Statistischen Bundesamtes101. Danach ergibt sich für das produzierende Gewerbe folgende Tabelle: durchschnittliche Entlassungsentschädigung pro Beschäftigter für Betriebe mit mehr als 10 Mitarbeitern

in % – bezogen auf das Entgelt für geleistete Arbeitszeit

in % – bezogen auf die Gesamtarbeitskosten

1992

865

2,2

1,22

1996

1 005

2,2

1,23

Ähnlich sind die Größenordnungen auch in den anderen Wirtschaftszweigen. In den vom statistischen Bundesamt in dieser Studie erfassten Wirtschaftszweigen insgesamt ergeben sich folgende Zahlen: durchschnittliche Entlassungsentschädigung pro Beschäftigter für Betriebe mit mehr als 10 Mitarbeitern

in % – bezogen auf das Entgelt für geleistete Arbeitszeit

in % – bezogen auf die Gesamtarbeitskosten

874

2,0

1,10

1996

100 101

Hier aus Emmerich, K. / Walwei, U. / Zika, G. (1997), S. 327. Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 2 / 99, S. 121 ff.

12 von Klitzing

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

Diese Gesamtzahlen können noch durch einige Einzelbeispiele verdeutlicht werden. So hielt beispielsweise Ford-Deutschland im Jahr 1992 DM 817 Mill. für den Abbau von 3 700 Beschäftigten als Sozialplanrückstellungen, also 220000 DM pro Entlassung, bereit.102 Shell stellte 220 Mill. DM für 600 – 700 Beschäftigte zurück.103 Zuletzt hat die Bewag angekündigt, die Zahl ihrer Mitarbeiter drastisch zu verkleinern. Dabei ist in etwa mit einem Abbau von 4000 Stellen zu rechnen. Dafür rechnet der Vorstand mit Sonderkosten in Höhe von 750 Millionen DM.104 Dies würde Kosten in Höhe von fast 200.000 DM pro Arbeitsplatz bedeuten. Die angeführten Zahlen sollen verdeutlichen, dass die Kosten, die durch den Kündigungsschutz insbesondere für den Arbeitgeber bzw. Betrieb verursacht werden, sehr erheblich sind. Sie stellen damit ein Motiv für Verhaltensänderungen seitens der Belasteten dar.

bb) Beeinträchtigung von Selektionsmechanismen Neben der reinen Kostenbelastung führt der Bestandsschutz auch noch zu anderen Belastungen für Arbeitgeber und Betriebe. Entschließt sich ein Arbeitgeber – aus welchen Gründen auch immer – zur Reduktion der Zahl seiner Angestellten, muss er auf die eine oder andere Art eine Auswahl zwischen den Arbeitnehmern treffen und sich entscheiden, wen er behalten und wem er kündigen will. Gäbe es keinen Bestandsschutz, würde ein rational handelnder Arbeitgeber die Arbeitnehmer entlassen, die den geringsten Wertschöpfungsbeitrag im Verhältnis zu ihrem Lohn erbringen. Die Auswahl würde also nach der relativen Leistung der Arbeitnehmer erfolgen. Unter der Geltung der Bestandsschutzregeln ist dies für ihn nicht mehr ohne weiteres möglich. Insbesondere die Regeln zur Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen und bei Massenentlassungen verhindern eine derartige Auswahl. Wenn Arbeitskräfte entlassen werden müssen, richtet sich die Auswahl nicht nach ihren Leistungen bzw. ihrem Wertschöpfungsbeitrag, sondern nach ihrem arbeitsrechtlichen Schutz,105 der sich an dem Gedanken der sozialen Schutzwürdigkeit orientiert. Zwar hat der Gesetzgeber noch eine Art Mittelweg zwischen der Auswahl nach dem Leistungsprinzip und dem der sozialen Schutzwürdigkeit vorgesehen, indem er in § 1 Abs. 3 S. 2 und 3 einerseits die Unwirksamkeit der Kündigung anordnet, wenn „. . . soziale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend. . .“ berücksichtigt werden, andererseits aber diese Unwirksamkeit einschränkt wenn „. . . betriebstechnische, wirtschaftliche oder sonstige beVgl. Neumann, G. / Spies, B. (1995), S. 433. Vgl. Neumann, G. / Spies, B. (1995), S. 431 f. 104 Vgl. dazu z. B. FAZ v. 8. 10. 99, S. 18. 105 Vgl. zu diesem Gedanken Dichmann, W. (1987), S. 525 f. oder auch Görgens, E. (1989), S. 391. 102 103

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes

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rechtigte betriebliche Bedürfnisse die Weiterbeschäftigung eines oder mehrerer bestimmter Arbeitnehmer bedingen. . .“ Die Rechtsprechung hat dann das Gewicht weiter stark zugunsten der sozialen Schutzwürdigkeit und zu Lasten des Leistungsprinzips als Auswahlprinzip verschoben. Sie hat dadurch dazu beigetragen, dass der Arbeitgeber im Endeffekt häufig gerade die produktivsten Arbeitnehmer entlassen muss. So sind gerade die Arbeitnehmer besonders geschützt, und deshalb kaum zu entlassen, die einen schlechten Gesundheitszustand, ein hohes Lebensalter oder nach der Entlassung besonders schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.106 Bei diesen drei Kriterien handelt es sich aber eben auch um Faktoren, die die Leistungen im Ursprungsbetrieb in der Regel mindern. Des weiteren wird die Möglichkeit zur Herausnahme einzelner Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl restriktiv gehandhabt. Der Arbeitgeber muss daher häufig Arbeitnehmer entlassen, deren Wertschöpfung an sich keinen Grund zur Kündigung gegeben hätte.107 Im Ergebnis führen also die Bestandsschutzregeln zu einem Selektionsmechanismus, der dem marktwirtschaftlichen Leistungsprinzip, welches durch die Vertragsfreiheit ermöglicht wird, zuwiderläuft.108 Dieses Selektionsprinzip trifft den Arbeitgeber besonders stark, da es meist in wirtschaftlich kritischen Lagen zum Tragen kommt. Betriebsbedingte Kündigungen und insbesondere Massenentlassungen werden nämlich meist vorgenommen, wenn ein Betrieb wirtschaftliche Probleme hat. Nun kann der Arbeitgeber diese Probleme aber nicht mehr dadurch lösen, dass er sich von den weniger produktiven Arbeitnehmern trennt, sondern er muss, wenn er seine Personalkosten reduzieren will, meist gerade den leistungsfähigeren Arbeitnehmer kündigen, da sie arbeitsrechtlich weniger geschützt sind. Dies erschwert natürlich eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage eines angeschlagenen Betriebes erheblich.

cc) Beeinträchtigung der Sicherheit als ökonomisches Gut Neben der Kostenbelastung und der Veränderung des Selektionsmechanismusses ergibt sich ein weiterer interessanter Aspekt, wenn man Arbeitsplatzsicherheit oder, allgemeiner, Sicherheit des Arbeitnehmers als ökonomisches Gut betrachtet.109 Kosten der Sicherheit der Arbeitnehmer sind die Wohlfahrtsverluste durch eine geringere Anpassungsflexibilität der Unternehmen. Aus dieser Perspektive gesehen, legen gesetzliche Bestandsschutzregeln ein Mindestmaß an diesem Gut fest, das bei jedem Arbeitsverhältnis mit verein106 Zu diesen und den anderen zu berücksichtigenden Faktoren bereits oben z. B. 2. Kapitel B. II. 4. 107 Siehe näher dazu Dichmann, W. (1987), S. 525 f. 108 Vgl. dazu Görgens, E. (1989), S. 391. 109 Siehe zu dieser Betrachtungsweise Meyer, D. (1989), S. 208 – 224.

12*

180

3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

bart bzw. bezogen werden muss. Eine Abweichung zumindest nach unten ist nicht möglich und so kann sich der Wettbewerb in Bezug auf dieses Gut nicht voll wirken. Verzichtet man hingegen auf gesetzliche Festlegungen, so überlässt man es der freien Vereinbarung der Parteien, wie viel an Arbeitsplatzsicherheit sie mit dem Abschluss des Arbeitsvertrages verbinden wollen. Der Wettbewerb kann dann als Entdeckungsverfahren im Hayekschen Sinne voll wirken. Die Folge der freien Handelbarkeit eines Gutes und des damit einhergehenden Wettbewerbs besteht darin, dass sich eine marktliche Bewertung des Gutes herausbildet. Dadurch wird eine kosten- und präferenzgerechte Verteilung des betreffenden Gutes ermöglicht und die Kosten der Bereitstellung dieses Gutes werden transparent. Die Grundidee des Vorteils einer freien Vereinbarung gegenüber der gesetzlichen Festlegung lässt sich unter einigen Vereinfachungen auch graphisch darstellen. In der folgenden Abbildung wird nicht Arbeitsplatzsicherheit als solche dargestellt, sondern das Pendant, nämlich die Übernahme von Risiko. Risiko für den Arbeitnehmer bedeutet für ihn die Gefahr, seinen Arbeitsplatz zu verlieren bzw. ein geringeres Einkommen in Kauf zu nehmen. Für den Arbeitgeber oder Kapitalgeber bedeutet es die Gefahr des Verlustes seines eingesetzten Kapitals. Auf der X-Achse wird der Grad der Risikoübernahme durch die Arbeitnehmer (RAN) auf der Y-Achse derjenige der Arbeitgeber bzw. der Kapitalgeber (RK) dargestellt. Die Isolinien A1 und A2 stellen die Produktionsfunktionen dar, die positiv abhängig von dem eingegangenen Risiko sind. Da das Eingehen von Risiko eine schnellere Anpassung an veränderte Umweltzustände zulässt und auch dem technischen Fortschritt dienen kann, ist die Grenzproduktivität des Risikos stets positiv. Anders ausgedrückt: Es wird für die Übernahme von Risiko vom Markt eine Risikoprämie gezahlt. Die in der folgenden Abbildung 2 als Punkt RA1 / RK1 dargestellte Situation zeigt das erreichbare Ergebnis bei einem gesetzlich festgelegten Maß an Bestandsschutz, dass hier als RA1 / Rk1 angenommen wird. RA1 ist Risikoobergrenze für die Arbeitnehmer. Dieser Mindestschutz bzw. die Risikoobergrenze kann (zumindest im Rahmen des Normalarbeitsverhältnisses) nicht in Richtung auf mehr Risiko für die Arbeitnehmer überschritten werden. Unter der Annahme eines gegebenen Faktorpreisverhältnisses zwischen den Risiken könnte bei gleichem Budget B (Risiko) ein höheres Niveau an Anpassungsflexibilität bzw. Produktionsniveau (A2) erreicht werden, wenn die Risikoverteilung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber frei aushandelbar wäre und sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf die optimale Risikoverteilung RAopt / RKopt einigen würden.110 Der oben dargestellte Mechanismus ist vom Prinzip her immer der gleiche, wenn der Staat eine bestimmte Obergrenze für den Einsatz eines Produktionsfaktors oder dessen Preis festlegt. Immer wird ein Verlust an Wohlfahrt drohen, wenn 110 Vergleiche zur graphischen Darstellung und den Erläuterungen Meyer, D. (1989), S. 217 f.

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes

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das optimale Einsatzverhältnis der Produktionsfaktoren verschoben wird. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, warum dieser Mechanismus bei dem Gut Arbeitsplatzsicherheit nicht auch funktionieren sollte.

RK A1 A2 B RK1 RKopt

RA1

RAopt

RAN

Abbildung 2

Ein weiterer großer Vorteil der wettbewerblichen Lösung gegenüber der gesetzlichen Festlegung der Risikoobergrenze für den Arbeitnehmer wäre, dass die Präferenzen der einzelnen Arbeitnehmer in Bezug auf Arbeitsplatzsicherheit ebenso wie die Präferenzen der einzelnen Arbeitgeber in Bezug auf Flexibilität aufgedeckt würden. In folge dessen könnte sich eventuell sogar eine Art Preis für Arbeitsplatzsicherheit bzw. Arbeitseinsatzflexibilität herausbilden. Zu diesem Preis könnte jeder Einzelne entscheiden, welches Maß an Sicherheit bzw. Risiko er persönlich haben will. Bei einem gesetzlichen Bezugszwang für das Gut Bestandsschutz hingegen werden die Präferenzen der Wirtschaftssubjekte sowie die Kosten für dieses Gut nicht aufgedeckt. Eine optimale Allokation des Gutes Sicherheit ist nicht erreichbar.111 Für eine tatsächlich vorliegende suboptimale Allokation des Gutes sprechen einige Indizien112: Von den gesetzlichen (und tarifvertraglichen) Bestandsschutzregeln wird einzelvertraglich nur selten nach oben (mehr Schutz) abgewichen. Dies spricht dafür, dass ein Mehr an Sicherheit von den Arbeitnehmern kaum nachgefragt wird. 111 Ein gutes Beispiel für die optimale Lösung durch Vertragsschluß und die mangelnde Pareto-Optimalität der gesetzlichen Lösung bringt Engels, W. (1985), S. 82 f. 112 Zu den folgenden und weiteren Indizien siehe Meyer, D. (1989), S. 218 f.

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

Arbeitnehmer lassen sich sehr häufig ihren Bestandsschutz von den Arbeitgebern abkaufen, indem sie gegen eine Abfindung ihren Arbeitsplatz freiwillig aufgeben. Der Auflösungsvertrag ist dabei eine Umgehung der gesetzlichen Bestandsschutznormen und ein Anzeichen für die Überabsicherung des Arbeitnehmers. Die Arbeitgeber versuchen vielfach die Regelungen des Bestandsschutzes zu umgehen, indem sie auf Beschäftigungsverhältnisse umsteigen, die den Bestandsschutzregeln nicht unterliegen oder indem sie auf die Leistung von Überstunden durch ihre Angestellten zurückgreifen. Mit diesen Indizien für eine suboptimale Verteilung des Gutes sind auch schon die ersten Verhaltensänderungen, die durch den gesetzlichen Bestandsschutz im Vergleich zu einem nicht-regulierten Arbeitsverhältnis bewirkt werden, angesprochen worden. Der Grund für solche Verhaltensänderungen besteht darin, dass potentiell beide Vertragsparteien einen Nutzen daraus ziehen können, wenn die suboptimale Verteilung korrigiert wird. Aber auch Dritte können Nutzen daraus ziehen, wenn sie dazu beitragen, die Verteilung des Gutes zu revidieren. Als Beispiel hierfür kann die Branche der Zeitarbeitsfirmen gelten. Eine der wesentlichen Vorteile der Zeitarbeitsfirmen besteht darin, dass sie den normalen Arbeitgebern den Arbeitsplatzschutz abnehmen können und ihn selber tragen oder aber zum Teil an die Beschäftigten weitergeben. Die Unternehmen zahlen für die erhöhte Flexibilität in Form der höheren Kosten im Vergleich zur Beschäftigung eigener Mitarbeiter eine Prämie. Somit tragen Zeitarbeitsfirmen zu einer besseren Verteilung des Gutes Arbeitsplatzsicherheit bei. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Verletzung des Prinzips Vertragsfreiheit und hier insbesondere der Beendigungsfreiheit drei direkte negative Folgen hat. Erstens verursacht sie Kosten, zweitens verhindert sie die leistungsgerechte Auswahl der Arbeitnehmer und drittens verhindern die Bestandsschutzregeln eine optimale Risikoverteilung.

b) Rückwirkungen auf das Verhalten der Arbeitgeber und gesamtwirtschaftliche Folgen Immer wenn Rahmenbedingungen bzw. die Regelordnung geändert oder abweichend vom Referenzsystem gestaltet werden, hat dies Auswirkungen auf das Verhalten der Wirtschaftssubjekte bzw. auf die Handelnsordnung. Gewissermaßen erzwingt der Wettbewerb sogar solche Verhaltensänderungen. Auf der anderen Seite belohnt er sie aber auch. Wenn Rahmenbedingungen zu unerwünschten Folgen für eine Gruppe führen, besteht für jedes Mitglied dieser Gruppe ein Interesse, sein Verhalten so anzupassen, dass es möglichst wenig von den negativen Folgen tangiert wird. Belohnt wird diese Anpassung mit einem Wettbewerbsvorteil gegenüber den anderen Mitglie-

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes

183

dern dieser Gruppe. Dieser Vorsprung des Verhaltensänderers bzw. der Nachteil der anderen veranlasst diese ebenfalls, ihr Verhalten zu ändern. Tun sie dies nicht, fallen sie im Wettbewerb zurück und erleiden Nachteile zumeist finanzieller Natur. Hier zeigt sich wieder die Bedeutung des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren für neue Problemlösungsmöglichkeiten. Für die durch den Bestandsschutz mit Kostensteigerungen, nachteiligen Selektionsmechanismen und ineffizienter Verteilung von Entlassungsrisiken konfrontierten Arbeitgeber ist eine Verhaltensänderung in vielfacher Hinsicht denkbar. In der wissenschaftlichen Diskussion und wohl auch in der Praxis sind insbesondere zwei mögliche Reaktionen bedeutend, nämlich erstens die Veränderung des Einstellungsverhaltens [aa)] und zweitens die Umgehungen des Bestandsschutzes durch andere Gestaltung des Vertragsverhältnisses [bb)]. Auch wenn diese beiden Reaktionen eng zusammenhängen, so handelt es sich doch um unterschiedliche Verhaltensweisen, da es sich bei der Veränderung des Einstellungsverhaltens eher um eine passive Reaktion (Hinnahme der neuen Rahmenbedingungen und Anpassung daran) handelt, während die Umgehung der rechtlichen Regeln mehr durch aktive Neugestaltung geprägt ist.

aa) Veränderungen des Einstellungsverhaltens Die oben festgestellte Kostenbelastung der Arbeitgeber bzw. der Betriebe durch den Kündigungsschutz hat Rückwirkungen auf das Einstellungsverhalten. Grundsätzlich wird ein Arbeitgeber solange Einstellungen vornehmen, wie der erwartete Ertrag der Einzustellenden höher ist als die Kosten, die sie verursachen. Dabei wird er zuerst die Arbeitsplätze mit dem höchsten Wertbeitrag besetzen und die Einstellungen solange fortsetzen, bis der letzte (am wenigsten profitable Arbeitsplatz) gerade noch die verursachten Kosten deckt. Die optimale Arbeitnehmerzahl erreicht er also, wenn die letzte Einstellung bzw. die letzte Arbeitsstunde gerade den Arbeitskosten entspricht oder anders ausgedrückt, wenn der Grenzertrag aus dem Arbeitsverhältnis dem Grenzlohn bzw. den Grenzkosten entspricht. Werden nun durch den Bestandsschutz Mehrkosten verursacht, so wird der Arbeitgeber diese Kosten als kalkulatorische Lohnnebenkosten auf die Arbeitskosten aufschlagen. Dies kann geschehen, indem der Arbeitgeber bereits bei der Einstellungsentscheidung die möglichen Bestandsschutzkosten berücksichtigt. Bei rationaler Entscheidung wird der Arbeitgeber den Erwartungswert der Entlassungskosten über die voraussichtliche Laufzeit des einzelnen Arbeitsverhältnisses verteilen. Einstellungen wird er nur dann vornehmen, wenn der Grenzertrag aus den Arbeitsverhältnissen die Summe aus Grenzlohn und periodisierten Bestandsschutzkosten abdeckt. Dabei ist die Verteilung der Bestandsschutzkosten auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse natürlich nicht gleich, sondern richtet sich nach der voraussichtlichen Laufzeit. Dabei werden die Kosten der Kernarbeitsplätze nur geringfügig steigen, da mit einer Entlassung auch bei wirtschaftlich schlechterem Umfeld

184

3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

kaum zu rechnen ist (hohe Laufzeit). Hingegen werden die Randarbeitsplätze, d. h. die Arbeitsplätze, deren Zukunft nicht sicher erscheint (geringere Laufzeit), mit relativ hohen periodisierten Bestandsschutzkosten belastet und daher möglicherweise nicht mehr besetzt werden. Der Arbeitgeber wird also zurückhaltender in seinem Einstellungsverhalten.113 Diese Reaktion des Arbeitgebers auf die Regeln des Bestandsschutzes wurde früher häufig nicht erkannt oder als unwesentlich abgetan. Dies geschah, obwohl eine Studie im Auftrag des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung die entsprechende Wirkung bereits 1981 klar herausarbeitete. 114 Bei der dieser Studie zugrundeliegenden Umfrage gaben 60% der antwortenden Unternehmen an, dass das geltende Kündigungsschutzrecht sich auf ihre Neueinstellungen auswirke. 34,2% gaben an, allgemein weniger Einstellungen, als aus Gründen der Produktivität erforderlich wären, vorzunehmen.115 Mittlerweile ist wohl auch von der Mehrheit der Wissenschaftler anerkannt, dass sich die Kosten des Bestandsschutzes auf das Einstellungsverhalten der Unternehmen auswirken und es somit zu einem regulierungsbedingten Beschäftigungsverlust kommt.116 Verstärkt wird dieser Effekt zudem durch eine verstärkte Substitution von Arbeit durch Kapital, da die Kapitalkosten durch den periodisierten Bestandsschutzkostenaufschlag auf die Lohnkosten relativ billiger geworden ist. Fraglich ist hingegen, wie groß der Effekt auf das Einstellungsverhalten der Unternehmen ist. Dabei gibt es grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, diesen zu ermitteln. Die erste Möglichkeit besteht darin, die Höhe der Entlassungskosten zu schätzen und dann theoretisch abzuleiten, wie hoch der Effekt für die Beschäftigung sein könnte, wenn diese Kosten entfielen. Bei dieser Methode könnte man eine mögliche Lockerung des Bestandsschutzes wie eine Lohnzurückhaltung bzw. -senkung behandeln. Der Vorteil einer solchen Methode besteht darin, dass man relativ ein113 Zöllner, W. (1994), S. 433 führt dazu aus: „In neuerer Zeit hat sich auch für den allgemeinen Kündigungsschutz die Überzeugung Bahn gebrochen, daß das Beschäftigungsniveau insgesamt durch ihn gesenkt wird.“ 114 Falke, J. / Höland, A. / Rhode, B. / Zimmermann, G. (1981), S. 156 f. 115 Aus dieser Studie wird allerdings nicht eindeutig klar, ob es sich die 34,2% auf die Gesamtheit der Unternehmen oder nur auf solche, die eine Auswirkung überhaupt bejaht hatten, bezieht. 116 Von negativen Beschäftigungswirkungen des Bestandsschutzes gehen z. B. aus: Sachverständigenrat (1999), S. 177 RZ 365; Deregulierungskommission (1991), S. 237; Sachverständigenrat (1989), S. 170, Ziffer 365; Franz, W. (1994b), S. 444; oder auch v. HoyningenHuene, G. (1999), S. 220; Stege, D. (1999), S. 135; Emmerich, K. / Walwei, U. / Zika, G. (1997), S. 326; Zöllner, W. (1994), S. 433; Woll, A. (1988), S. 187; Reuter, D. (1985), S. 63 f. Anderer Ansicht ist hingegen z. B. Kittner, M. (1995), S. 388. Ohne klare Stellungnahme hingegen Zukunftskommission (1997b), S. 172; Walwei, U. (1996), S. 225 ff. und Dörsam, P. (1995), S. 18 ff. mit Verweis auf weitere Untersuchungen, die eine negative Beschäftigungswirkung in Frage stellen.

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fach auf verschiedenste Untersuchungen zu Lohn- bzw. Kostenelastizitäten der Arbeitsnachfrage zurückgreifen könnte. Die Errechnung des Beschäftigungseffektes würde dann beispielsweise durch Multiplikation der Kosten des Bestandsschutzes mit der Kostenelastizität der Arbeitsnachfrage erfolgen. Ergebnis wäre die theoretische Anzahl der Arbeitsplätze, die durch Abschaffung des Bestandsschutzes geschaffen werden könnten. Eine solche Vorgehensweise hat aber einige sehr gewichtige Nachteile und liegt daher soweit ersichtlich auch keiner ernsthaften Untersuchung der letzten Jahre zugrunde. Der vielleicht wichtigste Nachteil ist, dass es bei einer solchen Methode nicht möglich ist, die unterschiedliche Verteilung der Kündigungskosten zu berücksichtigen. Wie bereits gesehen, wird ein rational handelndes Unternehmen nämlich die Kündigungskosten rechnerisch nicht linear auf alle Arbeitsverhältnisse verteilen, sondern vor allem die Arbeitsplätze im Rahmen einer Kosten-NutzenAnalyse mit fiktiven Kündigungskosten belasten, die nicht auf Dauer gesichert erscheinen. Sei es, dass die Auftragslage nicht gesichert ist oder die Rentabilität durch intensiven Wettbewerb gering ist.117 Eine Studie, welche die Kündigungskosten als normale Personalkosten behandelt, käme daher wohl zu zu geringen Arbeitsplatzeinbußen durch den Kündigungsschutz. Neben diesem vielleicht wichtigsten Problem existieren bei dieser Methode aber noch eine Reihe weiterer Probleme. So können beispielsweise psychologische Effekte wie das Gefühl des Arbeitgebers nicht mehr ,Herr im Hause‘ zu sein genauso wenig berücksichtigt werden, wie die Möglichkeit von Umgehungen des Bestandsschutzes durch eine andere Gestaltung der Arbeitsverhältnisse. Auf der anderen Seite ist es aber auch nicht möglich, die angeblichen Produktivitätseffekte stabilerer Arbeitsbeziehungen sowie die möglicherweise erhöhte Entlassungsbereitschaft der Unternehmen bei geringerem Bestandsschutz zu berücksichtigen.118 Des weiteren treten die Vorhersageprobleme auf, die bei jeder ex ante Berechnung auftreten. Eine weitere Möglichkeit, die Wirkung der Entlassungskosten auf das Einstellungsverhalten der Unternehmen abzuschätzen, ist ein internationaler Vergleich. Diese Art von Studien ist bereits mehrfach unternommen worden. Dabei wird auf unterschiedliche Weise versucht, die Schutzintensität (Rigidität) des jeweils geltenden Bestandsschutzes zu skalieren. Es folgt dann regelmäßig ein Vergleich der Arbeitslosenraten (oder ähnlicher Zahlen). Meist wird der Vergleich dann noch über einen gewissen Zeitraum (intertemporal) erstreckt. Die wohl bekanntesten Untersuchungen dieser Art haben einerseits Benitola / Bertola119 und andererseits Lazear120 durchgeführt. Benitolila / Bertola haben für Frankreich, Deutschland, Italien und Großbritannien eine Untersuchung vorge117 118 119 120

So z. B. Schnellhaass, H. (1989), S. 92. Vgl. dazu Emmerich, K. / Walwei, U. / Zika, G. (1997), S. 326 f. Benitola, S. / Bertola, G. (1990), S. 381 ff. Lazear, E. (1990), S. 699 ff.

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

nommen. Dabei berücksichtigten sie Abfindungen, Kündigungsfristen, sowie die Häufigkeit und Kosten von Verfahren vor den Arbeitsgerichten und skalieren damit die Rigiditäten des jeweiligen Bestandsschutzsystems. Sie kommen zu folgendem Ergebnis: „We do find that labour demand by a given firm is more stable, and higher on average, if firing costs are large.“ Sie schränken aber selber ein: „But the lower flexibility of production decreases profits and the value of the firm; this introduces income distribution issues if the firms‘ owners are in fact, as a group, distinct from the workers – and might reduce capital accumulation and average employment, if the creation and destruction of firms were endogenized in a more complete model. Desirable employment stabilization has in effect to be traded off against undesirable productive inefficiency: ( . . . ).“121 Lazear hingegen untersuchte den Bestandsschutz von 22 Ländern über den Zeitraum von 1956 – 1984 anhand der Höhe der Abfindungszahlungen und der Länge der Kündigungsfristen für Arbeitnehmer mit zehnjähriger Zugehörigkeit zu einem Betrieb. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Rigidität des Kündigungsschutzes die Höhe des Beschäftigungsniveaus negativ beeinflusst. Als Beispiel gibt er an: „The best estimates suggest that moving from no required severance pay to three months of required severance pay to employees with ten years of service would reduce the employment-population ratio by about 1 percent.“122 Bei diesen internationalen Vergleichen ist aber Skepsis geboten. Ein wesentlicher Grund dafür besteht darin, dass es nur sehr schwer möglich ist, die Rigiditäten der unterschiedlichen Bestandsschutzsysteme zu skalieren. Dies liegt insbesondere daran, dass regelmäßig nur einige wenige institutionelle Gegebenheiten – meist in Form von gesetzlichen Regelungen – berücksichtigt werden und andere, wie insbesondere die Rechtsprechung sowie die Handhabung der Regeln durch Arbeitgeber und –nehmer, vernachlässigt werden. An der Einbeziehung nur weniger Institutionen liegt es wohl auch, dass die Untersuchungen von unterschiedlichen ,Rankings‘ der Kündigungsschutzrigiditäten in den verschiedenen Ländern ausgehen.123 Eine weitere Methode zur Abschätzung der Wirkung des Bestandsschutzes auf das Einstellungsverhalten ist die Kontrolle der Wirkungen von partiellen Änderungen der rechtlichen Regeln und deren Hochrechnung auf die Gesamtheit. Die Kontrolle der Wirkungen kann dabei am besten mittels einer Umfrage unter den Betroffenen bewerkstelligt werden. Der Vorteil einer Umfrage liegt darin, dass die Probleme der obigen Analysearten nicht auftreten. Es findet keine theoretische Berechnung statt, die die Verteilung der Kündigungskosten vernachlässigt, sondern die konkrete Wirkung wird erfasst. Es wird keine Vorhersage mit ihren generellen Problemen durchgeführt, sondern eine ex post-Analyse. Auch das Problem der 121 122 123

Benitola, S. / Bertola, G. (1990), S. 398 f. Lazear, E. (1990), S. 724 f. Ausführlicher dazu Franke, K. (1996), S. 61 ff.

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mangelnden Berücksichtigung von Umgehungsmethoden stellt sich nicht in dem gleichen Umfang, da die Befragten selbst zumindest ex post beurteilen können, ob etwaige Ausweichreaktionen unterblieben oder verstärkt wurden. Des weiteren ist es an Hand der Befragung auch möglich, psychologische Effekte mit zu ermitteln. Gut zeigt sich dies an der bereits angesprochenen Studie zum BeschfG 1986 und dessen Wirkung auf befristete Arbeitsverhältnisse bei der ermittelt wurde, dass ein Großteil der neu geschaffenen befristeten Stellen auch nach der alten Rechtslage möglich gewesen wäre, diese Arbeitsplätze aber aufgrund von Unwissenheit und psychologischer Abschreckung durch die restriktive Handhabung der Befristungsmöglichkeiten durch die Rechtsprechung unterblieben. Zudem sind grundsätzlich die positiven und die negativen Wirkungen der Regeländerung bereits durch die Befragten verarbeitet, d. h. auch bereits ,verrechnet‘. Zuletzt tritt auch das Problem der Skalierung von unterschiedlichen Systemen (im internationalen Vergleich) und der Berücksichtigung vieler verschiedener Institutionen nicht auf, da bei dieser Art der Untersuchung nur partielle Änderungen weniger oder auch einzelner Regeln des gleichen Rechtssystems untersucht werden. Allerdings treten andere, wenn auch wohl weniger bedeutende Probleme, auf. So muss natürlich immer damit gerechnet werden, dass die Antworten der Befragten von taktischen Erwägungen beeinflusst werden.124 Dieses Problem kann man umgehen, wenn man nicht nur nach absoluten Werten fragt, sondern diese zugleich ins Verhältnis mit anderen erwünschten Regeländerungen setzt.125 Andere Probleme, die bei einer Umfrage auftreten können, sind mit der beschränkten Anzahl der Befragten und der daher notwendigen Hochrechnung oder auch mit einer Verzerrung durch die Fragestellung verbunden. Diese Probleme dürften aber eher abschätzbar sein als die grundsätzlicheren der ersten Methode. Für den konkreten Fall der Wirkung des Bestandsschutzes auf das Einstellungsverhalten bietet es sich an, die Wirkung der Anhebung des Schwellenwertes für die Geltung des Allgemeinen Kündigungsschutzes (KSchG) durch das Beschäftigungsförderungsgesetz 1996 zu betrachten. Diese Rechtsänderung bietet sich für eine Untersuchung besonders an, da durch diese für einen Teil der Betriebe bzw. der Beschäftigten der Allgemeine Kündigungsschutz total entfiel (Betriebe zwischen 5 und 10 Arbeitnehmern) und bei den anderen etwas abgesenkt wurde (z. B. Kriterien der Sozialauswahl). Nachteilig für eine Untersuchung ist allerdings, dass diese Regelung nur sehr kurz – von Oktober 96 bis Dezember 98, also zwei Jahre – bestand, mit einer Besitzstandsklausel (Übergangsfrist bis zum 30. 9. 1999) für bereits bestehende Arbeitsverhältnisse versehen war und schon bei Diese Problem erkennt beispielsweise auch Franke, K. (1996), S. 63. Als Beispiel kann eine Umfrage nach der Bedeutung des Bestandsschutzes für Einstellungen dienen. Aus taktischen Erwägungen werden die befragten Unternehmer dazu neigen, die negativen Wirkungen zu übertreiben, um möglicherweise eine Rechtsänderung zu bewirken. Wenn nun aber nicht nur nach den Wirkungen des Bestandsschutzes, sondern auch nach denen einer staatlichen Förderung oder der Höhe der Lohnnebenkosten gefragt wird, läßt sich ein von taktischen Erwägungen weniger beeinflußtes Bild gewinnen. 124 125

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in-Kraft-treten politisch so umstritten war, dass mit einer langfristigen Geltung der Regelung nur begrenzt gerechnet werden konnte.126 Zudem fiel der Geltungszeitraum der Neuregelung in eine Zeit rückläufiger Binnenkonjunktur, so dass die eigentlich erhofften Auswirkungen nur begrenzt beobachtet werden konnten, da die erwartete, vermehrte Einstellungsbereitschaft natürlich auch ganz wesentlich von der Konjunktur abhängt. Zu der Wirkung des am 1. 10. 1996 in Kraft getretenen Beschäftigungsförderungsgesetzes wurde eine Studie vom Zentralverband des Deutschen Handwerks erstellt.127 Diese Studie beruht auf einer Umfrage, die für das dritte Quartal 1997 bei über 12500 Handwerksbetrieben durchgeführt wurde und am 17. 11. 1997 also ziemlich genau ein Jahr nach in Kraft treten der Neuregelungen abgeschlossen wurde. Zufolge dieser Umfrage planten 43% der Betriebe in der Beschäftigtengrößenklasse 5 – 9 aufgrund der Änderungen des Kündigungsschutzes Arbeitskräfte einzustellen, wenn sich die konjunkturelle Situation verbessert habe. In der Größenklasse 10 – 19 waren es noch fast 36%. Hochgerechnet auf alle Handwerksbetriebe kommt die Studie auf ein Ergebnis von 100.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen. Noch interessanter als diese möglichen Auswirkungen sind aber wohl die bereits zu diesem Zeitpunkt beobachteten tatsächlichen Einstellungen, die ebenfalls erfragt wurden. Danach hatten 5,1% der Betriebe mit 5 – 9 Beschäftigten und 6,6% der Betriebe mit 10 – 19 Beschäftigten aufgrund der Änderungen des KSchG bereits zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt. Auf alle Handwerksbetriebe hochgerechnet ergibt dies nach der Studie rund 20.000 neue Arbeitsplätze innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten der Regelungen. Auf der anderen Seite hätten nach Auslaufen der Übergangsfrist zum Oktober 1999 die Arbeitnehmer in Betrieben zwischen sechs und zehn Beschäftigten den allgemeinen Kündigungsschutz verloren. In der Begründung zur Rücknahme der Schwellenwerterhöhung wird deren Anzahl auf rund zwei Millionen geschätzt. Dabei sind allerdings die Beschäftigten in allen Bereichen, nicht nur im Handwerk, berücksichtigt. Im Handwerk ist deren Zahl auf etwa 800.000 zu schätzen. Dies ergibt sich aufgrund folgender Erwägung: Der Schwellenwert von 5 Mitarbeitern erfasste 63,9% aller Handwerksunternehmen, in denen 14,2% aller Arbeitnehmer im Handwerk tätig war. Durch die Anhebung des Schwellenwertes auf 10 Arbeitnehmer wurden weitere 96.307 (= 17,1% Handwerksunternehmen in denen 14,6% aller Arbeitnehmer im Handwerk tätig sind) erfasst.128 Geht man von einer Gesamtzahl der Arbeitnehmer im Handwerk von etwa 5,56 Millionen aus, wie es die letzte Handwerkszählung für 1995 ergab129, so wären nach Ablauf der Übergangs126 Die SPD hatte mehrfach angekündigt, nach einem Regierungswechsel den Schwellenwert unverzüglich wieder herabsetzen zu wollen. 127 Zentralverband des Deutschen Handwerks (1997), sowie zu den Ergebnissen der Studie BGBl. 14 / 45, S. 16. 128 So der ZDH in einem internen Arbeitspapier zu Lobbyerfolgen. 129 Statistisches Bundesamt 1996: Produzierendes Gewerbe, S. 17.

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frist knapp 800.000 Arbeitnehmer des Allgemeinen Kündigungsschutzes verlustig gegangen. Berücksichtigt man alle von der Erhöhung des Schwellenwertes potentiell Betroffenen und damit die durch den Verlust des Kündigungsschutzes Betroffenenalso auch diejenigen außerhalb des Handwerks – so muss man dem auch die Gesamtzahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze entgegenhalten. Dabei müssen zu den vom ZDH für seinen Bereich ermittelten Stellen zumindest noch etwa 30.000 hinzugerechnet werden, die in einer ähnlichen Umfrage vom DIHT für seinen Bereich ermittelt wurden.130 Geht man von diesen Zahlen, trotz Bedenken bzgl. der Qualität ihrer Ermittlung etc. aus , so ergibt sich, dass dem Entfallen des Kündigungsschutzes für 2.000.000 Beschäftigte eine Neueinstellung von etwa 50.000 Arbeitnehmern innerhalb eines Jahres gegenüberstehen. Für den Bereich des Handwerks ergibt sich ein Verhältnis von 800.000 zu 20.000. Hier scheint sich zu beweisen, dass ein trade-off zwischen sozialer Sicherheit des Einzelnen und Anzahl der Arbeitsplätze vorliegt. Dabei ist die rechnerische Zahl von etwa 2,5% Arbeitsplatzverluste – sowohl in der Gesamtwirtschaft als im Handwerk – durch die zur Zeit gültigen Regeln des Bestandsschutzes nur ein grober Anhaltspunkt. Für einen geringeren trade-off (geringerer Arbeitsplatzverlust durch die bestehenden Regelungen des Bestandsschutzes) könnte sprechen, dass aufgrund der Übergangsregelung, der verminderte gesetzliche Schutz nur sehr bedingt zu einer höheren Entlassungsrate führen konnte. Zudem muss ins Kalkül gezogen werden, dass möglicherweise einige Betriebe die Anzahl der Neueinstellungen aus taktischen Gründen zu hoch angesetzt haben könnten. Für einen höheren trade-off (mehr als 2,5% Arbeitsplatzverluste durch die geltenden Regeln des Bestandsschutzes) hingegen spricht, dass die Geltung der Neuregelung zeitlich auf eine Konjunkturdelle begrenzt blieb und daher der eigentlich erhoffte Effekt der verstärkten Einstellung bei anziehender Konjunktur nur begrenzt beurteilt werden kann. Daneben machte der Widerstand breiter politischer Kräfte (SPD, Gewerkschaften) den Geltungszeitraum unsicher, was für die Betriebe die Gefahr barg, zu viele Neueinstellungen vorzunehmen und dann bei erneut geänderter Gesetzeslage doch noch restriktiven Regelungen zu unterliegen. Eine Antizipation dieser möglichen Aufhebung der Änderungen durch die Betriebe würde eine Verminderung des beobachteten trade-offs bedeuten. Darüber hinaus bleibt natürlich fraglich, wie hoch der festgestellte trade-off für Betriebe mit mehr als 10 Beschäftigten ausfallen würde. Dabei ist sowohl ein höherer trade-off wegen der im Schnitt höheren Abfindungszahlungen als auch ein kleinerer wegen geringerer Belastung durch Verwaltungskosten, bessere Möglichkeiten eines internen Arbeitsmarkts etc. denkbar. 130 Siehe Protokolle der Sitzungen des Deutschen Bundestages 14. Wahlperiode (Freitag 20. November 1998), S. 538.

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Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Studie aus den USA. Diese Studie von Dertouzos / Karoly131 widmet sich neueren amerikanischen Rechtsdoktrin, die den Grundsatz des employment-at-will einschränken. Dertouzos und Karoly stellen fest132: „There is no doubt that there has been a dramatic change in the U.S. legal enviroment in the last decade with respect to employment law. The prevailing employment-at-will doctrine . . . provided considerable labor market flexibility. It has been eroded, however, by a series of new legal doctrines. recognized by the state courts.“ und weiter: „The new wrongful-termination doctrines are typically divided into three legal theories: the implied contract exception, the public policy execption, and the convenant of good faith and faire dealing.“ Für unsere Untersuchung ist insbesondere die dritte Doktrin interessant. Dazu heißt es: „The third doctrine represents the greatest increase in employer liability in that it can imply that employees must always be fired for cause . . .“. Von der Grundkonstruktion erinnert diese Doktrin durchaus an den Grundgedanken des § 1 I KSchG.133 Die Wirkungsweise dieser unterschiedlichen Doktrin auf den Arbeitsmarkt haben nun Dertouzos und Karoly mittels eines intertemporalen Vergleichs der verschiedenen Bundesstaaten in denen die jeweiligen Doktrin bzw. der employmentat-will Grundsatz gilt, untersucht, wobei die unterschiedliche Industriestruktur der Staaten berücksichtigt wurde. Das Ergebnis für die dritte, dem deutschen Bestandsschutzsystem ähnlichste Doktrin war ein Rückgang der Beschäftigung um 3 – 4% im Vergleich zu Staaten, in denen der employment-at-will Grundsatz angewandt wird.134 bb) Umgehungen des Bestandsschutzes Ein Unternehmen bzw. der Arbeitgeber kann auch versuchen, die Bestandsschutzregeln zu umgehen. Dabei kann man natürlich den Begriff der Umgehung verschieden weit fassen. In der politischen und wirtschaftlichen Diskussion wird er meist sehr weit gefasst, so dass häufig praktisch alle Beschäftigungsverhältnisse, die nicht dem Kündigungsschutz unterliegen, darunter fallen und als atypische Beschäftigungsverhältnisse bezeichnet werden. Bedeutend sind dabei insbesondere die sog. Scheinselbständigkeit, die geringfügige Beschäftigung, die Schwarzarbeit sowie die Zeitarbeit und die befristeten Arbeitsverhältnisse, wobei man die letzten beiden Arten nicht unbedingt als Umgehung des Kündigungsschutzes ansehen muss.

Dertouzos, J. / Karoly, L. (1993), S. 215 ff. Dertouzos, J. / Karoly, L. (1993), S. 216. 133 Allerdings ist als Rechtsfolge Schadensersatz vorgesehen. 134 Dertouzos, J. / Karoly, L. (1993), S. 226; vgl. dazu auch Dörsam, P. (1995), S. 18 oder auch Handelsblatt vom 17. 4. 2000, S. 8. 131 132

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So unterschiedlich die oben aufgezählten Beschäftigungsverhältnisse auch sind, so haben sie zwei Gemeinsamkeiten. Sie unterliegen nicht oder nur begrenzt dem Bestandsschutzsystem135 und ihre Anzahl hat seit Beginn der 80er Jahre zugenommen. Die Zunahme ist nicht unerheblich, so dass vielfach von der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses gesprochen wird. Die Gesamtanzahl atypischer Beschäftigungsformen ist schwer zu ermitteln. Dies liegt einerseits an statistischen Schwierigkeiten, andererseits wohl auch häufig am mangelnden Willen der Beteiligten, was insbesondere bei der Schwarzarbeit und der Scheinselbständigkeit unmittelbar einleuchtet. Zusätzlich treten die verschiedenen Formen atypischer Beschäftigung in den unterschiedlichsten Kombinationen auf, was die Gefahr einer Doppelerfassung bewirkt. Nach Untersuchungen des BMA hat die Zahl der geringfügig Beschäftigten in den Alten Bundesländern von 1987 bis 1997 um 74% zugenommen und stieg gesamtdeutsch von 4,45 Millionen im Jahre 1992 auf 5,63 Millionen im Jahre 1997. Andere Schätzungen gehen von etwa 6,7 Mio. geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen aus. Zusammen machen diese Arbeitsverhältnisse etwa 5% des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumens aus.136 Der Umfang und die Entwicklung der Leih- und Zeitarbeit wird später unter Abschnitt C. VII. näher analysiert. Hier sollen erst einmal die absoluten Zahlen ausreichen. So gab es Mitte 1999 etwas über 286.000 überlassene Leiharbeitnehmer, während es noch 1992 weniger als 115.000 waren.137 Die Schätzungen über den Umfang von Scheinselbständigkeit gehen weit auseinander. Dies liegt neben den Erfassungsschwierigkeiten vor allem an den unterschiedlichen Definitionen. Die wohl fundierteste Untersuchung in der letzten Zeit stammt vom IAB aus dem Jahre 1996.138 Diese Untersuchung hat zudem den Vorteil zwischen drei verschiedenen Methoden zur Abgrenzung von abhängiger und selbständiger Erwerbstätigkeit und damit der Scheinselbständigkeit als Art der abhängigen Arbeit, die nur zum Schein selbständig erbracht wird, zu differenzieren. Die erste Methode ist abgeleitet von der langjährigen Rechtsprechung des BAG und des BSG. Danach kommt es für die Abgrenzung von abhängiger und selbständiger Arbeit entscheidend darauf an, ob der zur Arbeitsleistung Verpflichtete „persönlich abhängig“ ist. Die persönliche Abhängigkeit wird wiederum anhand der Kriterien „Weisungsgebundenheit“ (in örtlicher, zeitlicher und inhaltlich Hinsicht) sowie „Eingliederung in den Betrieb“ (Zusammenarbeit mit Mitarbeitern des Auftraggebers und Arbeit mit Arbeitsmitteln des Arbeitgebers) bewertet. 135 Für die geringfügige Beschäftigung gilt das Bestandsschutzsystem zwar grundsätzlich, aber wegen der meist nur vorübergehenden Beschäftigung und meist geringen Umfangs der Arbeit, greift der Kündigungsschutz häufig nicht. 136 Vgl. zu den Zahlen Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (1998), S. 104. 137 Vgl. Iwd 4 / 1998 S. 2 sowie IWD 6 / 2000, S. 2. 138 Dieterich, H. (1996)

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Als zweite Methode wurde ein Ansatz gewählt, bei dem an Stelle der persönlichen Abhängigkeit auf das Unternehmerrisiko abgestellt wird. Dies ist ein in der Rechtswissenschaft vordringendes Abgrenzungskriterium. Nach dieser Vorstellung zeichnet sich der Selbständige dadurch aus, dass er am Markt Risiken übernimmt, während der Arbeitnehmer nicht unternehmerisch am Markt auftritt. Als Untermerkmale wurden bei dieser Methode angewandt: Arbeitnehmer ist, wer – keine eigene Unternehmensorganisation aufweist, – nicht am Markt auftritt und – dessen Vertrag keine angemessene Verteilung von Chancen und Risiken vorsieht.

Im Rahmen der dritten Methode wurde auf einen Vorschlag einer Arbeitsgruppe der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger zurückgegriffen. Danach sollten der Pflichtversicherung als Arbeitnehmer alle unterliegen, die – erwerbsmäßig tätig sind und im Zusammenhang mit einer Tätigkeit – mit Ausnahme von Familienangehörigen – keine Arbeitnehmer mehr als geringfügig beschäftigen – regelmäßig nur für einen Auftraggeber tätig sind und – nach der Verkehrsanschauung für Beschäftigte (= Arbeitnehmer i. S. des Sozialversicherungsrechts) typische Arbeitsleistungen erbringen.139

Die Untersuchung erfolgte aufgrund einer empirischen Erhebung, die auf die bundesdeutsche Wohnbevölkerung hochgerechnet wurde. Danach sind 938.000 Erwerbstätige, bezogen auf ihre Haupterwerbstätigkeit, der Grauzone zwischen selbständiger und abhängiger Erwerbstätigkeit zuzuordnen. Diese Erwerbstätigen in der „Grauzone“ teilten sich nach dem BAG-Modell in 450.000 tatsächlich Selbständige, 179.000 abhängig Beschäftigte – also echte Scheinselbständige – und 282000 Beschäftigte, deren Tätigkeit sowohl Merkmale der Selbständigkeit als auch der Scheinselbständigkeit (Semiabhängigkeit) auf. Bei der zweiten Methode (Unternehmerrisiko) ergaben sich 282.000 Selbständige, 410.000 Scheinselbständige und 226.000 Semiabhängige. Nach der Methode der Sozialversicherungsträger hingegen waren nur 128.000 Personen Selbständige und 431.000 Scheinselbständige. 379.000 Beschäftigte konnten wegen unklarer Definition des dritten Teilmerkmales nicht zugeordnet werden.140 In der Studie wurden auch Zahlen für Beschäftigungen als Nebentätigkeit auf Vollzeitstellen hochgerechnet. Ausgehend von 1.539.000 Nebentätigkeiten in der sog. Grauzone, waren nach dem BAG-Modell 610.000 Selbständige, 329.000 Scheinselbständige und 573.000 Semiabhängige zu verzeichnen. Nach der Methode, die auf das Unternehmens139 140

Näheres zu den einzelnen Methoden in Dieterich, H. (1996), S. 3 – 5. Diese sowie weitere Aufspaltungen sind Dieterich, H. (1996), S. 9 und 14 entnommen.

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risiko abstellt, ergaben sich 217.000 Selbständige, denen 901.000 Scheinselbständige und 403.000 Semiabhängige gegenüberstanden. Nach der dritten Methode waren sogar nur 26.000 Personen selbständig, während 1.010.000 Scheinselbständige waren.141 Fasst man die Ergebnisse der Studie zusammen, so ergeben sich nach dem BAGModell rund 510.000 Scheinselbständige und 850.000 Semiabhängige und nach der höchsten Schätzung (dritte Methode) rund 1,5 Mio. Scheinselbständige und fast 900.000 nicht klar zuzuordnende Fälle. Auch andere Schätzungen sprechen von etwa 1,5 Mio. Scheinselbständigen142, was halbwegs zutreffend sein mag, wenn man Haupt- und Nebentätigkeiten zusammenrechnet. Für den weiteren Verlauf der Untersuchung werde ich von dem Konzept des BAG ausgehen, da es bereits über viele Jahre angewandt wurde und damit den Vorteil der Erwartungsstabilisierung für sich hat. Zudem ist diesem Konzept auch inhaltlich zuzustimmen, wie Rieble143 es schlüssig dargelegt hat. Grund dafür ist insbesondere, dass nur so die freie Entscheidung vieler Wirtschaftssubjekte für die eigene Unternehmertätigkeit respektiert wird. Eine Bevormundung dieser Personen ist weder aus wirtschaftspolitischer noch aus freiheitlicher Sicht wünschenswert. Zudem schützt bereits das Wirtschaftsrecht den wirtschaftlich Abhängigen bereits weitreichend.144 Noch schwieriger ist der Umfang der Schwarzarbeit abzuschätzen. Dies liegt einerseits daran, dass grundsätzlich jeder, der handwerkliche Leistungen erbringen kann, als Schwarzarbeiter in Betracht kommt und andererseits jeder Bürger Auftraggeber sein kann. Daher spielt sich die Schwarzarbeit stärker im privaten Bereich ab und ist deshalb kaum zu erfassen. Niedrige Schätzungen gehen von einem Anteil der Schattenwirtschaft von 4 – 6% des Bruttoinlandsproduktes aus.145 Für das Jahr 1996 würde das einen Betrag von ca. 142 – 213 Milliarden DM ausmachen.146 Andere Schätzungen kommen hingegen zum Teil zu wesentlich höheren Anteilen der Schwarzarbeit. Der Linzer Ökonom Friedrich Schneider beziffert den Umsatz im Bereich der Schattenwirtschaft für 1999 beispielsweise auf 602 Mrd. DM, was 15,5% des Bruttoinlandsproduktes der Bundesrepublik ausmachen würde, also den etwa dreifachen Wert. Erstaunlich ist nach dieser Studie auch die Wachstumsrate der Schattenwirtschaft. Danach wuchs die Schwarzarbeit innerhalb von Jahresfrist um 7,5%, was unter anderem an der neuen Gesetzgebung zu 141 Die Differenzen der Zahlen sind auf nicht zuordnenbare Fälle zurückzuführen, die hier erneut bei der dritten Methode außerordentlich hoch waren. 142 Siehe z. B. Süddeutsche Zeitung vom 27. 2. 1998, S. 10 oder auch Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (1998), S. 107 unter Berufung auf Schätzungen der Deutschen Angestelltengewerkschaft. 143 Rieble, V. (1998), S. 327 ff. 144 So ebenfalls überzeugend Rieble, V. (1998), S. 349 ff. und 359. 145 So z. B. in BT-Drucks. 13 / 5498, S. 56. 146 Zukunftskommission (1997), Bd. 2 S. 126

13 von Klitzing

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630 DM Jobs lag, aber auch einem generellen Trend entspricht, da der Bereich der Schattenwirtschaft beispielsweise 1975 erst 5,8% des Bruttoinlandsproduktes (also 59 Mrd. DM) ausgemacht habe.147 Wie viele Personen auch oder ausschließlich der Schwarzarbeit nachgehen, ist schwer abzuschätzen. Charakteristisch ist aber wohl eine Schätzung für Hamburg, wonach 100.000 Schwarzarbeiter 93.000 registrierten Arbeitslosen gegenüberstehen.148 Geht man von den geringsten Schätzungen der Schattenwirtschaft aus, d. h. von 142 Mrd. DM für 1996, und überträgt dies auf den legalen Arbeitsmarkt, so entspräche dies nach Berechnungen der Zukunftskommission149 einem Arbeitsvolumen von über 2 Milliarden Arbeitsstunden, was einem Jahresarbeitspensum von knapp 1,4 Millionen Vollzeiterwerbstätigen entspräche. Die höheren Schätzungen würden sogar zu einem rechnerischen Wert von über 5 Millionen Vollzeiterwerbstätigen führen.150 Die Anzahl befristeter Arbeitsverhältnisse scheint in geringerem Maße zuzunehmen, als in den anderen Bereichen der Nicht-Normalarbeitsverhältnisse. Immerhin stieg aber der Anteil der Erwerbspersonen mit befristeten Arbeitsverhältnissen zwischen 1993 und 1995 von 5,0% auf 5,7% in den Alten Bundesländern. In den Neuen Bundesländern lag die Quote für 1995 bei etwa 7%, wenn man die ABM-Stellen und Maßnahmen nicht berücksichtigt.151 Besonders hoch sind die Befristungsquoten mit 15,5% für den Bereich der Arbeitnehmer, die jünger als 25 Jahre sind und 22,8% für die Gruppe der Personen ohne Berufsausbildung.152 Diese hohen Quoten sind ein Indiz dafür, dass bei diesen Personengruppen der Arbeitgeber eine längerfristige Bindung scheut. Grund dafür dürfte sein, dass das Humankapital dieser Gruppen gering ist und folglich auch die Produktivität geringer sein dürfte als beim Durchschnittsarbeitnehmer. Die Folge dieses Umstandes ist, dass die periodisierten Bestandsschutzkosten stark ins Gewicht fallen und ein zeitlich nicht begrenztes Arbeitsverhältnis damit zu hoch belastet würde. Näher werden wir uns mit dem Thema befristete Arbeitsverhältnisse noch in Abschnitt C. VIII. beschäftigen. Aus der Darstellung der Arbeitsverhältnisse, die als atypische Beschäftigungsformen angesehen werden, sollte deutlich geworden sein, welchen enormen Umfang sie angenommen haben. Um eine klare Einschätzung der Gesamtentwicklung zu bekommen, muss man sie der Entwicklung des Normalarbeitsverhältnisses gegenüberstellen. Dabei soll auf eine Zusammenstellung der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen aus dem Jahr 1996 zurückgegriffen werden. Vgl. dazu Der Tagesspiegel 04. 09. 1999, S. 21. Vgl. Focus 15 / 98, S. 248. 149 Zukunftskommission (1997), Bd. 2, S. 126. 150 So z. B. auch die Einschätzung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände in: Der Arbeitgeber 2 / 2000, S. 17. 151 Die Zahlen stammen aus Memorandum (1998), S. 105 sowie Zukunftskommission (1996), Bd. 1, S. 64 und 70. 152 Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (1998), S. 105, wobei sich der erste Wert nur auf den Westen bezieht. 147 148

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100% 95% 90% 85% 80% 75% 70% 65% 60% 55% 50% 1970

1975

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Quelle: Zukunftskommission.

Abbildung 3: Abhängig Beschäftigte in Normal- und Nicht-Notmalarbeitsverhältnuissen

Bei dieser Abbildung ist allerdings zu beachten, dass einerseits die sozialversicherungspflichtig Teilzeitbeschäftigten als in einem Nicht-Normalarbeitsverhältnis-Stehende berücksichtigt wurden, andererseits aber der zahlenmäßig größte Posten der Nicht-Normalarbeitsverhältnisse, nämlich die Schwarzarbeit, nicht berücksichtigt wurde. Gut erkennen lässt sich an dem Schaubild aber der Trend. Von 1980 bis 1995 sank der Anteil der Normalarbeitsverhältnisse dramatisch. Während noch Anfang der achtziger Jahre auf ein Nicht-Normalarbeitsverhältnis vier Normalarbeitsverhältnisse kamen, liegt das Verhältnis mittlerweile bei eins zu zwei. Auch die Prognose der Zukunftskommission: „Bei Fortschreibung dieses Trends wird das Verhältnis von Norm- und Nicht-Normarbeitsverhältnissen in fünfzehn Jahren bei eins zu eins liegen“, erscheint durchaus angemessen.153 Der Hauptgrund für die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses besteht sicherlich darin, dass Arbeitsleistungen auf dem regulären Markt insbesondere wegen der hohen Steuern und Abgaben sehr teuer sind. Dies erklärt insbesondere den hohen Anteil der Schwarzarbeit und in gewissen Umfang auch den der 630 DM-Jobs. 153

13*

Zukunftskommission (1996), Bd. 1, S. 62.

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Daneben dürfte aber auch eine Rolle spielen, dass diese Arten der Beschäftigungsverhältnisse auch weniger oder keinen Regulierungen (wie z. B. dem Bestandsschutz) unterliegen. Keine oder allenfalls eine zu vernachlässigende Rolle spielt die Abgabenlast bei der Zunahme von Leiharbeit und befristeten Arbeitsverträgen. Hier zeigt sich das Bedürfnis der Arbeitgeber nach Flexibilität. Das Ausweichen stellt schlicht und einfach eine Reaktion auf starre Strukturen bei sich beschleunigenden Veränderungen im Umfeld (Stichwort: Globalisierung) dar. Eine Hauptursache für die starren Strukturen bildet dabei das System des Bestandsschutzes. Dass das Problem der Umgehung des Bestandsschutzes nicht neu ist, zeigt schon eine Studie aus dem Jahre 1981, die im Auftrag des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung erstellt wurde.154 Damals gaben 60% der befragten Unternehmen an, dass sich das geltende Kündigungsschutzrecht auf ihr Einstellungsverhalten auswirke. Zur Art der Auswirkungen gaben 31,2% der antwortenden Unternehmen wiederum an, dass sie verstärkt auf Aushilfsarbeitskräfte bzw. Leiharbeitnehmer zurückgriffen und 29,9% gaben an, dass sie verstärkt befristete Arbeitsverträge abschlössen.155 Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass die Erosion des Normalarbeitsverhältnis ein Zeichen für die Abwahl dieser Arbeitsmarktinstitution ist. Diese Abwahl mag in einigen Bereichen (befristete Arbeitsverträge, Zeitarbeit) vorwiegend von den Arbeitgebern ausgehen, dürfte aber in anderen Bereichen durchaus auch von den Arbeitnehmern ausgehen (Schwarzarbeit, geringfügige Beschäftigung). Der Grund hierfür ist darin zu sehen, dass das Normalarbeitsverhältnis nicht mehr den Interessen bzw. Präferenzen der Wirtschaftssubjekte gerecht wird. Da die Tendenz zu weniger stark regulierten Arbeitsverhältnissen geht, bestätigt sich, dass überall dort, „wo der Staat als Sachwalter des sozialen Gesamtinteresses seine ,Hand‘ allzu sichtbar normierend, administrierend und kassierend nach den Wirtschaftssubjekten ausstreckt“156, die Schwarzarbeit oder – wie gesehen – auch andere, weniger regulierte Formen der Arbeitsverhältnisse zunehmen. Eine gewisse empirische Bestätigung erfährt die These des Ausweichens in atypische Arbeitsverhältnisse wegen regulierender Eingriffe des Staates beispielsweise in vergleichenden Analysen zum Bestandsschutz in Europa. So stellt Thuy157 in einer solchen Studie fest, dass der Anteil von befristeten Arbeitsverträgen an der Gesamtbeschäftigung in denjenigen Ländern, für die relativ rigide Bestandsschutzregeln gelten, überdurchschnittlich groß und für Länder mit geringem Bestandsschutz verhältnismäßig niedrig ist. So wiesen beispielsweise im Jahre 1989 Dänemark und Großbritannien lediglich einen Anteil von 7,0 bzw. 6,0% befristeter Arbeitsverträge an der Gesamtzahl der Arbeitsverträge auf und wurden 154 155 156 157

Falke, J. / Höland, A. / Rhode, B. / Zimmermann, G. (1981). Falke, J. / Höland, A. / Rhode, B. / Zimmermann, G. (1981), S. 156 f. So Cassel, D. (1986), S. 73. Thuy, P. (1995), S. 119 ff.

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zugleich als schwach reguliert eingestuft. Italien, Portugal und Spanien wurden hingegen als stark reguliert (in Bezug auf Bestandsschutz) eingestuft und hatten dementsprechend Befristungsanteile von 11,0 – 13,0 und 30,0%. Es lässt sich sogar eine Art Hierarchie der Abwahlintensität des Normalarbeitsverhältnisses aufstellen. Soweit die Rigiditäten des Bestandsschutzsystems als nicht interessengerecht angesehen werden, greifen die Wirtschaftssubjekte zu Leiharbeitsverhältnissen oder befristeten Arbeitsverhältnissen. Sind weitere Sozialleistungen oder Arbeitgeberfürsorgepflichten nicht im Interesse einer oder beider Arbeitsvertragsparteien, so wird vermehrt zu Vertragsgestaltungen gegriffen, die den Tatbestand der Scheinselbständigkeit erfüllen oder ihm nahe kommen. Sind darüber hinaus oder auch ausschließlich die Kosten der Arbeit durch Sozialabgaben oder Steuern zu hoch, so steigt die Attraktivität von geringfügiger Beschäftigung (630 DM – Jobs). Sind auch die damit verbundenen Regulierungen zu rigide oder die Kosten zu hoch, so wird ein Teil der Wirtschaftssubjekte die krasseste Form der Abwahl der Arbeitsmarktinstitutionen treffen, nämlich auf Schwarzarbeit ausweichen. Egal welche dieser atypischen Arbeitsverhältnisse gewählt werden, es handelt sich immer um eine Wahl, die durch die Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes beeinflusst wird. In den Kategorien von Hirschman158 handelt es sich um eine Form von exit aus dem Normalarbeitsverhältnis. Dies gilt auch für die Schwarzarbeit, die natürlich illegal ist, und darüber hinaus zu Wettbewerbsverzerrungen führt, da sich einzelne Wirtschaftssubjekte einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, der nicht auf Leistung beruht. Trotz dieser Wettbewerbsverzerrung sind selbst der Schwarzarbeit aber auch positive gesamtwirtschaftliche Aspekte, nicht abzusprechen. So führt Cassel als Vorteile an: – effizienz- und wachstumsfördernde Funktion durch Intensivierung des Wettbewerbs, der Nutzung brachliegender Ressourcen sowie dem Anreiz zu Innovationen,159 – distributive Effekte, insbesondere zugunsten der mittleren Einkommensklassen, die weder auf legale Steuervermeidung zurückgreifen können noch von zunehmenden staatlichen Transfers profitieren, indem diese ihr Einkommen durch Schwarzarbeit aufbessern,160 – stabilisierende Effekte, da Preisrigiditäten des offiziellen Sektors durch die preisflexiblere Schattenwirtschaft ausgeglichen werden.161

Insbesondere der letzte Punkt führt uns zu einer für die Bewertung der Schwarzarbeit und in gewissem Maße auch für die Beurteilung der anderen atypischen Ar158 159 160 161

Grundlegend Hirschman, A. (1974). Cassel, D. (1986), S. 90 f. Cassel, D. (1986), S. 96 f. Cassel, D. (1986), S. 94 f.

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beitsverhältnisse interessanten Aspekt. Wie schon mehrfach dargelegt, gehen die wichtigsten neoklassischen Erklärungsansätze für langanhaltende Arbeitslosigkeit (insbesondere die Insider-Outsider Theorie) von Lohnregiditäten aus. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, könnte die Schwarzarbeit, wenn sie tatsächlich Rigiditäten abbaut, zur Verminderung der Arbeitslosigkeit beitragen. Betrachtet man zudem die Tatsache, dass der größte Teil der Schwarzarbeit von Arbeitslosen erbracht wird – eine Stichprobe ergab, dass 63.700 von 70.000 überprüften Arbeitslosen nebenher schwarz arbeiten162 – ergibt sich noch ein anderer interessanter Aspekt. Aufgrund dieser Zahlen und unter Berücksichtigung der schwierigen Einstellungssituation für Arbeitslose, kann man die Schwarzarbeit durchaus als Reaktion der Outsider auf die hohen Einstellungsbarrieren interpretieren, die u. a. durch die Macht der Insider bzw. ihrer Interessenvertretung oder auch die verfehlte Rechtsprechung aufgerichtet worden sind. Durch die Schwarzarbeit entziehen sich die Outsider den Einstellungsbarrieren. Die Insider können zwar nicht auf ihrem Arbeitsplatz durch einen Outsider ersetzt werden, aber sie riskieren, dass ihr Arbeitsplatz durch Schwarzarbeit verdrängt wird, da ihr Arbeitgeber wegen Ausweichens der Auftraggeber in die Schattenwirtschaft nicht mehr genügend Aufträge erhält. Gegenüber den Politikern erzeugt der exit mittels Schwarzarbeit einen Reformdruck, da mit ihm ein budgetärer Entzugseffekt für die Haushalte des Staates und der sozialen Versicherungsträger verbunden ist. So betrachtet ist die Schwarzarbeit die Antwort der Arbeitslosen auf hohe Einstellungsbarrieren. Zudem ist es wohl die erfolgsversprechenste, da die Outsider aufgrund von strukturellen Problemen meist keine echte Interessenvertretung im politischen Bereich haben und der politische Widerspruch ihnen zudem „als zu langwierig, zu unsicher und aus Mangel an Vertrauen in die Politik schlechthin als wenig erfolgversprechend“163 vorkommt. Die Option der voice besteht insofern nur sehr begrenzt und der exit in ein anderes Land verursacht für die Betroffenen in der Regel viel höhere Transaktionskosten und ist daher unrealistisch.164 Auch wenn man somit durchaus Vorteile der atypischen Beschäftigungsverhältnisse ausmachen kann, gilt dies nur für ein gewisses Maß. Je höher insbesondere der Anteil der Schwarzarbeit wird, desto mehr wird das Sozialschutzsystem ausgehöhlt und desto mehr schwindet auch das Zutrauen der Bevölkerung in den Staat und dessen Problemlösungskompetenz. Die Folgen sind unter anderem Politikverdrossenheit, eine nachlassende Bereitschaft, sich für die Allgemeinheit zu engagieren und eine nachlassende Zahlungsbereitschaft bzw. -moral in Bezug auf Steuern und Abgaben. Die Zunahme der Schwarzarbeit lässt sich durch repressive Maßnahmen des Staates aber nur begrenzt verhindern. Die Möglichkeiten der Abschreckung durch 162 163 164

Siehe dazu Nissen, S. (1998), S. 430 oder auch Focus 15 / 1998, S. 248. Cassel, D. (1986), S. 84 f. Ausführlicher dazu Hafner, C. (1999), S. 202.

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Strafen und umfangreichere oder effektivere Kontrollen sind im Rechtsstaat eher begrenzt und diesbezügliche Versuche waren bisher kaum erfolgreich.165 Ein anderer Weg wäre es, die Attraktivität des Normalarbeitsverhältnisses wieder zu erhöhen. Dies kann nur über eine Stärkung der Vertragsfreiheit geschehen. Eine Lockerung des Bestandsschutzes könnte dazu ebenso beitragen, wie z. B. die Abdingbarkeit oder Begrenzung von Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Wenn trotz der unübersehbaren Vorteile der atypischen Beschäftigungsformen immer noch der größte Teil der Wertschöpfung in sog. Normalarbeitsverhältnissen erwirtschaftet wird, so liegt dies vermutlich insbesondere an den Vorteilen, die eine längerfristige Bindung der Vertragsparteien in Bezug auf die Bildung und Nutzung von Humankapital besitzt. Es hat den Anschein, dass dort, wo das Humankapital eine weniger wichtige Rolle spielt – kurzfristigere oder niedere Tätigkeiten – die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses besonders stark um sich greift.166 Eine andere Reaktion der Unternehmer auf den starken Bestandsschutz zeigt sich in der Nutzung bestehender Möglichkeiten von Vorruhestandsregelungen. Diese Möglichkeit des Personalabbaus ist insbesondere bei größeren Unternehmen und Konzernen beliebt. Einige Beispiele für entsprechende Praktiken zeigen Falke und Höland167 für die Jahre 91 – 95 auf. So gab beispielsweise der Bayer-Konzern im Jahr 1991 für Vorruhestandsregelungen 350 Mio. DM bzw. 2,4% des gesamten Personalaufwandes aus. Hoechst gab für frühzeitige Pensionierungen sogar 562 Mio. im Jahr 1992 und 566 Mio. DM im Jahr 1993 aus, was 3,9 bzw. 3,8% des jeweiligen gesamten Personalaufwandes entspricht. Eine umfassende Studie zur Nutzung der Vorruhestandstandsregelungen, deren Kosten und dem Zusammenhang mit dem Kündigungsschutz wurde bisher, soweit ersichtlich, nicht unternommen. Klar sollte jedoch sein, dass Unternehmen sicherlich in sehr viel geringerem Maße auf die Vorruhestandsregelungen zurückgreifen würden, wenn die Bestandsschutzregeln weniger streng wären. Besondere Bedeutung kommt dabei neben der Erzwingbarkeit von Sozialplänen sicherlich den Sozialauswahlkriterien zu, die insbesondere ältere Arbeitnehmer besonders schützen. So ist es für die Unternehmen im Falle des Personalabbaus häufig nur möglich, eine ausgeglichene Personalstruktur zu bewahren, wenn sie ältere Arbeitnehmer über Vorruhestandsregelungen abbauen. Insofern sind die durch Vorruhestandsregelungen verursachten Kosten zumindest zum Teil auch den Wirkungen der Bestandsschutzregeln zuzurechnen.

Vgl. dazu z. B. Nissen, S. (1998), S. 430. Darauf deutet z. B. auch die Stellungnahme der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (1998), S. 102 ff. hin und auch eine Untersuchung von Alewell, D. (1998), S. 18 bietet diesbezügliche Hinweise. 167 Falke, J. / Höland, A. (1997), S. 37 f. 165 166

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cc) Veränderungen der Selektionsmechanismen bei Einstellungen Wie bereits oben [in Abschnitt a) bb)] ausführlich dargelegt, werden durch die Beschränkung der Beendigungsfreiheit als Teil der Vertragsfreiheit auch die Selektionsmechanismen für die Auswahl von zu entlassenden Arbeitnehmern im Falle des Stellenabbaus verändert. Im Grunde wird das der Marktmäßigkeit entsprechende Leistungsprinzip als Selektionsmechanismus durch die Erwägung, welcher Arbeitnehmer am wenigsten auf den Erhalt des Arbeitsplatzes angewiesen ist und damit durch eine Art Bedarfsprinzip, ersetzt. Aber auch diese Regeländerung (im Vergleich zu einer Situation der unbeschränkten Vertragsfreiheit) wird von den Arbeitgebern antizipiert. Ein rational handelnder Arbeitgeber wird bereits bei der Einstellung berücksichtigen, ob und unter welchen Bedingungen er, wenn nötig, sich wieder von dem eingestellten Arbeitnehmer trennen kann. Dies wird er insbesondere tun, wenn unsicher ist, ob der Arbeitsplatz dauerhaft erhalten werden kann oder wenn er sich über das Leistungspotential des Einzustellenden nicht klar ist. Ist aufgrund eines dieser oder anderer Gründe nicht klar, wie lange der Arbeitgeber den einzustellenden Arbeitnehmer beschäftigen will, so wird er tendenziell einen Arbeitnehmer bevorzugen, den er bei einem Wegfall des Arbeitsplatzes oder mangelnder Leistung auch schnell wieder entlassen kann. Er wird bei der Einstellung nur sehr ungern das Risiko eingehen, möglicherweise aufgrund des veränderten Selektionsmechanismusses bei einem Stellenabbau, sein erprobtes Personal entlassen zu müssen oder ganz auf eine Entlassung zu verzichten, nur weil der Neueingestellte einen höheren sozialen Schutz genießt. Eine Folge dieser Erwägungen ist, dass der Arbeitgeber bereits bei der Einstellung solche Bewerber bevorzugen wird, die keine sozialen Risikomerkmale aufweisen. Im Ergebnis wird der Arbeitgeber bei der Einstellung von Bewerbern somit gerade diejenigen vermehrt ausselektieren, die einen besonderen sozialen Schutz genießen sollen und gerade deshalb vom Gesetzgeber bevorzugt werden sollen. Da diese Bevorzugung aber unter anderem auch zu lasten des Arbeitgebers geht, vermeidet dieser deren Einstellung. Sehr plastisch lässt sich diese Folge als ,Bumerangeffekt‘ bezeichnen. Der beabsichtigte Schutz besonderer Gruppen durch den Gesetzgeber, führt dazu, dass gerade die geschützte Gruppe durch den Arbeitgeber bei der Entscheidung über eine Einstellung vermehrt ausselektiert wird. Eingehender werden wir uns mit dieser Wirkung des Bestandsschutzes noch in Abschnitt B. II. 4. beschäftigen. c) Zusammenfassung und Bewertung In den vorhergehenden Abschnitten haben wir geprüft, welche Wirkungen die Einschränkung der Beendigungsfreiheit hat, mit welchen Verhaltensänderungen die Wirtschaftssubjekte darauf reagieren und welche gesamtwirtschaftlichen Folgen dies hat.

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Dabei haben wir festgestellt, dass der Bestandsschutz zu einer erheblichen Kostenbelastung der Arbeitgeber führt. Es wurde einerseits zwischen den Kosten, die entstehen, wenn eine Kündigung verhindert oder verzögert wird und andererseits den erhöhten Kosten einer trotzdem erfolgten Beendigung des Arbeitsverhältnisses unterschieden. Zu der ersten Art der Kosten gehören dabei insbesondere zusätzliche Lohnkosten, die Verschlechterung des Betriebsklimas und entgangene Gewinne durch Einstellung produktiverer Arbeitnehmer. Höhere Kosten für die Beendigungen von Arbeitsverhältnissen entstehen insbesondere durch erhöhte administrative Kosten, Entlassungsentschädigungen und Rechtsdurchsetzungskosten. Dabei stellen die Entlassungsentschädigungen den größten Posten dar und belaufen sich alleine auf über 1% der gesamten Personalkosten der Betriebe. Die durch den Bestandsschutz verursachten Mehrkosten werden rational handelnde Arbeitgeber bereits bei ihrem Einstellungsverhalten berücksichtigen. Dies kann durch einen kalkulatorischen Arbeitskostenzuschlag geschehen. Dabei wird die Verteilung der Bestandsschutzkosten nicht linear, sondern entsprechend der erwarteten Laufzeit auf die (potentiellen) Arbeitsverhältnisse erfolgen. Die Folge ist, dass die Kosten der Kernarbeitsplätze nur geringfügig steigen, hingegen die Kosten der Randarbeitsplätze mit relativ hohen periodisierten Bestandsschutzkosten belastet werden. Im Ergebnis wird der Arbeitgeber daher insbesondere in Bezug auf Randarbeitsplätze zurückhaltender in seinem Einstellungsverhalten. Aus diesem Grunde ist im Bereich des Arbeitsmarktes ein trade-off zwischen sozialer Sicherheit für Arbeitnehmer in Form des Bestandsschutzes und der Anzahl der Arbeitsplätze zu beobachten. Eine weitere Wirkung des Bestandsschutzes ist darin zu sehen, dass sich die Selektionsmechanismen verändern. Bei der Entlassung von Arbeitnehmern im Falle des Stellenabbaus wird das der Marktmäßigkeit entsprechende Leistungsprinzip als Selektionsmechanismus durch die Erwägung, welcher Arbeitnehmer am wenigsten auf den Erhalt des Arbeitsplatzes angewiesen ist, und damit durch eine Art Bedarfsprinzip, ersetzt. Infolgedessen muss der Arbeitgeber häufig gerade die produktivsten Arbeitnehmer entlassen. Dies versucht der Arbeitgeber dadurch zu vermeiden, dass er bei der Einstellung von Bewerbern diejenigen vermehrt ausselektiert, die einen besonderen sozialen Schutz genießen sollen und gerade deshalb vom Gesetzgeber bevorzugt werden sollen (Bumerangeffekt). Eine weitere Folge der Bestandsschutzregeln wurde deutlich, indem wir Arbeitsplatzsicherheit bzw. das Pendant Arbeitseinsatzflexibilität und damit Übernahme von Risiko als Gut definiert haben. So betrachtet legen zwingende gesetzliche Bestandsschutzregeln ein Mindestmaß des Guts Arbeitsplatzsicherheit fest, welches bei Abschluss eines Arbeitsvertrages bezogen werden muss. Infolge dieses Bezugszwangs gehen die Vorteile der freien Handelbarkeit verloren. Eine marktliche Bewertung und damit eine optimale Verteilung auf die Nachfrager (Arbeitnehmer)

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ist nicht möglich, was zu einem Verlust an Wohlfahrt führt. Auch das Einsatzverhältnis des Produktionsfaktors Arbeitseinsatzflexibilität ist nicht mehr optimal, was zu Produktionseinbußen führt. Als letzte Verhaltensänderung der Wirtschaftssubjekte als Reaktion auf die Einschränkung der Beendigungsfreiheit und der damit verbundenen Kostenbelastung sowie der nicht optimalen Verteilung des Produktionsfaktors Arbeitseinsatzflexibilität haben wir die Umgehung der Bestandsschutzregeln angesprochen. Als Umgehungsmöglichkeit bietet sich insbesondere der Abschluss eines atypischen Arbeitsverhältnisses an. Dabei kommen der Scheinselbständigkeit, der geringfügigen Beschäftigung, der Schwarzarbeit und befristeten Arbeitsverhältnissen eine besondere Bedeutung zu. Als Hauptursache für die zu beobachtende Erosion des Normalarbeitsverhältnisses muss zwar die hohe Abgabenquote gelten, aber auch das Ausweichen aus starren Strukturen und damit aus dem Bestandsschutz hat einen gewissen Anteil daran. Insoweit kann die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses als Abwahl einer Arbeitsmarktinstitution gewertet werden. Insbesondere die Schwarzarbeit kann dabei als Reaktion der Outsider (Arbeitslose) auf die hohen Einstellungsbarrieren, die u. a. auch durch die Verstärkung des Bestandsschutzes durch die Rechtsprechung aufgerichtet wurden, verstanden werden.

2. Verfügungsrechte Wie wir gesehen haben, beeinträchtigt der Bestandsschutz vor allem das Prinzip der Vertragsfreiheit. Diese Beeinträchtigung hat aber auch Rückwirkungen auf die anderen Prinzipien. Außerdem werden durch vereinzelte Regelungen diese Prinzipien direkt eingeschränkt. Dies gilt auch für das erforderliche System von Handlungs- und Verfügungsrechten bzw. deren Verteilung. Es ist die Aufgabe des Staates, die Verfügungsrechte so zu definieren, dass das Eigeninteresse der Wirtschaftssubjekte und das Gemeinwohl gleichgerichtet werden168 oder, anders ausgedrückt, dass der Einzelne seinem Eigeninteresse entsprechend handeln kann und trotzdem zugleich dem Interesse der Allgemeinheit dient. Dies geschieht über das Setzen von Anreizen. Gut gesetzt sind die Anreize dabei, wenn eine gesellschaftlich nützliche Handlungsweise eines Verfügungsberechtigten gleichzeitig zur Erhöhung des Wertes dieser Handlungsrechte führt. Werden nun Verfügungsrechte beschränkt – in der Ökonomischen Analyse des Rechts spricht man von der Verdünnung der Handlungsrechte – so sinkt der Wert der Verfügungsrechte.169 Bezogen auf ein Unternehmen, das nichts anderes als eine Zusammenfassung der unterschiedlichsten Handlungsrechte ist, bedeutet dies, dass der Wert des Unternehmens sinkt, wenn die Rechte des Eigentümers bzw. der 168 Vgl. Engels, W. (1985), S. 75, der aber auf Eigentumsrechte und damit eigentlich nur einen Teilbereich der Verfügungsrechte abzielt. 169 Vgl. Ott, C. / Schäfer, H. (1986), S. 69.

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Geschäftsleitung beschnitten werden. Bei geringerem Wert des Unternehmens können die Unternehmen nur schwerer und zu höheren Kosten Eigen- oder Fremdkapital aufnehmen. Investitionen, die das Erwerben neuer Handlungsrechte darstellen, sind nicht mehr lohnend, da die erworbenen Handlungsrechte aufgrund der „Verdünnung“ nicht mehr den gleichen Wert darstellen. Die arbeitsrechtliche Gesetzgebung und Rechtsprechung haben in vielfacher Weise zur Verdünnung der Verfügungsrechte des Unternehmers geführt. So verhindern die Regeln des Bestandsschutzes, dass der Arbeitgeber zu jeder Zeit mit dem ihm angemessen erscheinenden Personalbestand arbeiten kann. Auch bei der Auswahl des Personals hat der Bestandsschutz einen Einfluss, wenn der Arbeitgeber bei Personalabbau durch die Pflicht zur Sozialauswahl gehindert wird, den Arbeitnehmer zu entlassen, den er dafür vorgesehen hat. Zuletzt wird auch noch die Veräußerung eines Betriebes oder Betriebsteils behindert, da der Erwerber die bestehenden Arbeitsverhältnisse übernehmen muss, andererseits die Arbeitnehmer aber den Übergang durch Widerspruch verhindern können. Dass der Marktwert eines Unternehmens durch die Verdünnung der Verfügungsrechte zum Teil erheblich vermindert werden kann, zeigt sich insbesondere in wirtschaftlichen Notlagen. Besonders deutlich erkennt man diesen Effekt bei Sanierungsverkäufen. Sie werden meist unter Informationsmangel, hohem Zeitdruck und insbesondere in finanziellen Notlagen in Erwägung gezogen. Schutzvorschriften nach denen die Beschäftigungsverhältnisse auf den Käufer übergehen (§ 613a BGB) und die verhindern, dass dieser Kündigungen vornimmt, können dazu führen, dass der potentielle Erwerber von seinem Kaufvorhaben vollständig Abstand nimmt oder aber sein Risiko kaufpreismindernd berücksichtigt. Dadurch steht weniger Geld für eine Sanierung anderer Betriebsteile oder zur Befriedigung von Gläubigern zur Verfügung. Im Extremfall kann dies zum Verlust aller Arbeitsplätze des zu sanierenden Unternehmens führen.170 Eine Befragung zu der generellen Wirkungsweise des § 613a BGB haben Pückler und Wienke durchgeführt.171 Sie ergab, dass von 630 Unternehmen aus den verschiedensten Wirtschaftsbereichen und von unterschiedlichster Größe etwa 28% in den Jahren zwischen 1991 und 1995 einen Betrieb veräußert und etwa 32% einen Betrieb erworben hatten. Weit über 40% der Unternehmen gaben an, dass Maßnahmen aufgrund des § 613a BGB nicht in ihrer ursprünglich geplanten Form, sondern in abgeänderter Weise vorgenommen werden mussten. Über zeitliche Verzögerungen durch § 613a BGB berichteten sogar fast die Hälfte der antwortenden Unternehmen. Probleme 170 Nach einer Untersuchung von Keller-Stoltenhoff, allerdings aus dem Jahr 1986, scheiterten 25% aller Konkursverfahren an § 613a BGB. Nach dieser Studie war die wichtigste Maßnahme, um Schwierigkeiten bei der Übernahme in Folge von § 613a BGB auszugleichen, die Reduzierung des Kaufpreises. Hier zeigt sich, dass durch die Verdünnung der Handlungsrechte ein Wertverlust verursacht wird. 171 Pückler, B. / Wienke, D. (1996), S. 465 – 469.

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für den Veräußerer ergaben sich vor allem aus Zusatzforderungen von Arbeitnehmern bzgl. besonderer Kündigungsschutz- oder Rückkehrzusagen, aus Streitigkeiten über den Umfang von Sozialplanleistungen oder individuellen Abfindungen. Probleme für den Erwerber ergeben sich z. B. daraus, dass für die übernommenen Arbeitnehmer häufig andere Arbeitsbedingungen vereinbart wurden, als für die Stammbelegschaft. Für die Vertragsparteien ist ferner das Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers problematisch. So berichteten über 40% der Unternehmen über diesbezügliche Probleme. Im Endeffekt haben nach dieser Befragung zwar nur etwa 10% der Beschäftigten von ihrem Widerspruchsrecht tatsächlich Gebrauch gemacht, aber es ist davon auszugehen, dass in vielen Fällen der Übernehmer den Arbeitnehmern ihr Widerspruchsrecht mit Zugeständnissen abkaufen musste.172

3. Preissystem Durch den Bestandsschutz wird auch das Prinzip eines funktionsfähigen Preissystems beeinträchtigt. Wesentlichstes Merkmal eines funktionierenden Preissystem ist es, dass die Preise auf Veränderungen des wirtschaftlichen Umfeldes reagieren können. Zu Änderungen der Preise führen dabei alle Faktoren, die das Angebot oder die Nachfrage beeinflussen. Durch den Bestandsschutz wird diese Funktionsfähigkeit des Preissystems in mehrfacher Weise eingeschränkt, soweit es um eine Reduzierung von Löhnen durch die Arbeitgeber geht. Grundsätzlich hat ein Arbeitnehmer zwei Möglichkeiten die Löhne zu drücken, wenn es seine finanzielle Lage erfordert oder ein Angebotsüberschuss an Arbeitskräften es zulässt. Erstens kann er seine Arbeitnehmer durch andere, die mit weniger Lohn zufrieden sind, ersetzen. Bereits die Möglichkeit dieser Ersetzung wird häufig reichen, um den Arbeitnehmern Lohnzugeständnisse abzuringen. Zweitens kann er die Löhne der bisherigen Belegschaft reduzieren. Dies geschieht durch eine Kündigung verbunden mit einem neuen Angebot zu verschlechterten Bedingungen. Nun werden aber beide Möglichkeiten durch die in Deutschland gültigen Bestandsschutzregeln begrenzt bzw. ausgeschlossen. Eine Kündigung zur Ersetzung eines Arbeitnehmers scheitert bereits an einem ausreichenden Kündigungsgrund. Die bloße Einsparung von Lohnkosten reicht für eine betriebsbedingte Kündigung nicht aus. Es bleibt die Möglichkeit der Senkung der Löhne der bisherigen Belegschaft. Aber auch diese ist unter dem gültigen Kündigungsschutz nur sehr begrenzt möglich. Eine Änderungskündigung setzt nämlich, wie in Kapitel 2 Abschnitt II. 1. analysiert, eine Verhinderung der Stillegung eines Betriebsteils oder einer Reduzierung der Belegschaft voraus. Die einfache Veränderung des wirtschaftlichen Umfeldes, die eine Reduzierung des Lohnes zuließe, reicht danach nicht aus. Infolge dieser Beschränkungen der betriebsbedingten Kündigung und der Ände172

Zu den Ausführungen vgl. Pückler, B. / Wienke, D. (1996), S. 468 f.

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rungskündigung ist eine Lohnreduzierung bei der bestehenden Belegschaft nicht möglich. Da eine Anpassung des Lohnes nach oben weder vom Bestandsschutzsystem noch durch andere gesetzliche Regeln verhindert wird, ist auf dem deutschen Arbeitsmarkt die typische Situation eines ,Sperrklinkeneffekts‘ gegeben. Sperrklinkeneffekte werden für Situationen diskutiert, in denen die Löhne durch gute konjunkturelle Entwicklung gestiegen sind. Kommt es nun z. B. zu einem gesamtwirtschaftlichen Nachfragerückgang, entsteht Arbeitslosigkeit. In dieser Situation müssten die Löhne, die zu diesem Zeitpunkt über dem Gleichgewichtslohnsatz liegen, sinken, um wieder zur Vollbeschäftigung zurückzukehren. Da der Lohn aber aus institutionellen Gründen nicht sinken kann, werden auch keine neuen Arbeitsplätze geschaffen und die Arbeitslosigkeit erhält persistente oder hysteretische Eigenschaften. Mit diesem Sperrklinkeneffekt lässt sich erklären, wieso es zu der von der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie [siehe Kapitel 1 Abschnitt III. 2.] propagierten Hochlohnarbeitslosigkeit kommt bzw. diese über längere Zeit bestehen bleibt. Verstärkt wird der insbesondere durch die Regeln zur betriebsbedingten Kündigung und Änderungskündigung verursachte Sperrklinkeneffekt durch die InsiderOutsider Problematik, die im nächsten Abschnitt angesprochen wird.

4. Offenheit von Märkten Durch den Bestandsschutz wird erschwert bzw. verhindert, dass ein Unternehmen bisher beschäftigte Arbeitnehmer durch andere ersetzt. Dem Unternehmen ist es praktisch unmöglich, auf andere Arbeitnehmer zurückzugreifen, wenn die eigenen Arbeitnehmer z. B. zu hohe Lohnforderungen stellen. Die anderen Arbeitnehmer sind insoweit von den potentiell frei werdenden Stellen in dem betreffenden Unternehmen ausgegrenzt. Auch das Unternehmen ist in erheblichem Maße an die bereits Beschäftigten gebunden und kann nur auf Außenstehende zurückgreifen, wenn es innerhalb des Betriebes keine Arbeitnehmer mit der entsprechenden Qualität zur Verfügung hat. Für den Arbeitgeber besteht somit eine Ausschließlichkeitsbindung. Diese Einschränkungen für die Unternehmer und die außenstehenden Arbeitnehmer sind Beschränkungen des Prinzips der Offenheit von Märkten. Nach diesem Prinzip sollte es jedem (auch potentiellem) Anbieter einer Leistung möglich sein, jedem sein Angebot zu unterbreiten. Auf der anderen Seite sollte es auch jedem Nachfrager möglich sein, die benötigten Waren oder Leistungen von dem zu beziehen, den er auswählt. Auf den Arbeitsmarkt übertragen bedeutet dies, es müsste jedem Arbeitnehmer möglich sein, sich um jede Arbeitsstelle zu bewerben, egal ob diese zur Zeit besetzt ist oder nicht. Jedem Arbeitgeber müsste es hingegen freistehen, jede Arbeitsstelle mit der Person seiner Wahl zu besetzen, und

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zwar auch wenn die Arbeitsstelle bereits besetzt ist. Selbstverständlich muss er dabei geschlossene Verträge einhalten, aber es sollte ihm freistehen, diese fristgerecht zu beenden. Die Freiheit des Arbeitnehmers, sich für jede Stelle zu bewerben, besteht im Prinzip, aber sie läuft leer, da es dem Arbeitgeber nicht möglich ist, diese Stelle neu zu besetzen. Infolge der Bestandsschutzregeln ist er an den bisherigen Stelleninhaber als Vertragspartner gebunden. Welche Folge diese Beschränkung der Offenheit des Arbeitsmarktes haben kann, zeigt die Insider-Outsider Theorie. Wie bereits in Kapitel 1 A. III. 7. dargestellt, beruht diese Theorie auf der Tatsache, dass es für Unternehmen teuer ist, Insider durch Outsider zu ersetzen. Kosten fallen bei dem Ersetzen schon von sich aus, d. h. ohne Bestandsschutzregeln, an. Durch die Bestandsschutzregeln werden diese Kosten aber noch ganz erheblich vergrößert, oder es wird sogar unmöglich, Insider durch Outsider zu ersetzen. Immer wenn die Regelungen des KSchG eingreifen, braucht der Arbeitgeber einen Kündigungsgrund. Nicht ausreichend ist dabei aber, wenn eine Kündigung nur erfolgt, um eine billigere Arbeitskraft einzustellen. Der Ersatz eines Insiders durch einen Outsider ist somit für den Arbeitgeber praktisch nur möglich, wenn er den Insider durch Abfindungen zu einem freiwilligen Verzicht auf seinen Arbeitsplatz bringt. Die dadurch verursachten Kosten sowie die Abhängigkeit vom Willen des Insiders verhindern eine wirksame Außenseiterkonkurrenz nahezu vollständig. Ein funktionierender Preisbildungsmechanismus wirkt daher nur noch für die neu zu besetzenden Stellen und selbst dort wird dieser Mechanismus häufig außer Kraft gesetzt, da frei werdende Stellen zuerst mit schon beschäftigten Arbeitnehmern besetzt werden müssen, deren Arbeitsplätze entfallen sind. Nur wenn keine solchen vorhanden oder geeignet sind, können verschiedene andere Arbeitnehmer um die Besetzung des Arbeitsplatzes konkurrieren. Dadurch hat auch nur bei diesen Stellen die Situation auf dem Arbeitsmarkt einen direkten Einfluss auf die Lohnhöhe. Für bereits besetzte Stellen, die dem Kündigungsschutz unterstehen, ist ein solcher Wettbewerb und damit ein wirksamer Preisbildungsmechanismus nicht gegeben. Dies ist ein Grund dafür, dass ein ,herunter-konkurrieren‘ der Löhne in Deutschland praktisch kaum möglich ist. Die Insider können ihre aufgrund des Bestandsschutzes verstärkte Machtstellung nutzen, um eine Lohnhöhe durchzusetzen oder abzusichern, die über der eigentlich auf dem Markt erreichbaren liegt. Es bildet sich auf Dauer ein Lohnniveau, welches über dem Vollbeschäftigungslohnniveau liegt. Das Preissystem kann seine Ausgleichsfunktion nicht mehr vollständig erfüllen und die Knappheit des Gutes Arbeit wird durch den Lohn nicht mehr korrekt wiedergegeben, d. h. zusammen mit der Ausgleichsfunktion wird auch die Informationsfunktion des Preissystems beeinträchtigt. Die Folge ist Hochlohnarbeitslosigkeit. Der Bestandsschutz beeinträchtigt aber auch noch auf eine andere Weise die Offenheit der Märkte. Insbesondere die Regelungen des § 613a BGB sowie die

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Sozialplanpflicht erschweren den Ausstieg des Unternehmers aus dem Markt, indem es diesen Ausstieg mit finanziellen Pflichten verknüpft.

5. Weitere Beeinträchtigungen der Marktmäßigkeit a) Beschränkung des exit Zusammengenommen haben die Beeinträchtigung der Offenheit des Marktes und die Verdünnung der Verfügungsrechte auch noch eine weitere ordnungspolitisch unerwünschte Wirkung. Nach Hirschmann173 haben Individuen grundsätzlich zwei Möglichkeiten, um delegierte Macht zu kontrollieren. Die eine Möglichkeit ist die Abwanderung (exit), die andere ist der Widerspruch (voice). Auf dem Arbeitsmarkt ist ein Teil der Ausgestaltungsmöglichkeiten der Einzelarbeitsverhältnisse vom Arbeitgeber und -nehmer auf die Tarifvertragsparteien und den Gesetzgeber verlagert (delegiert). Wenn nun die Möglichkeit des Arbeitgebers, seinen Betrieb zu veräußern, beeinträchtigt wird und durch den Bestandsschutz auch noch die Möglichkeit, seine Arbeitnehmer zu entlassen, beschränkt ist, so bestehen für ihn nur noch sehr geringe Möglichkeiten von dem Arbeitsmarkt abzuwandern. Die Kontrolle der delegierten Macht durch die Möglichkeit des exit ist stark geschwächt. Anders ausgedrückt: Je mehr alternative Einsatzmöglichkeiten Arbeitgeber für ihre mobilen Ressourcen haben, um so mehr ist die Macht der Tarifvertragsparteien und des Gesetzgebers beschränkt, Regelungen zu schaffen, die nicht in seinem Interesse liegen, da sie die Abwanderung des Arbeitgebers (Verkauf des Unternehmens, Entlassung der Mitarbeiter) fürchten müssen. Je stärker jedoch seine Abwanderungsmöglichkeiten eingeschränkt sind, desto weniger muss auf seine Belange Rücksicht genommen werden. Als Kontrollmechanismus bleibt daher nur noch der Widerspruch (voice) übrig. Für Großunternehmen ist der Weg des Widerspruchs gegen Arbeitsmarktregulierungen, die sie als behindernd empfinden, sowohl direkt als auch über die Arbeitgeberverbände, durchaus gut gangbar. Für kleinere und mittlere Unternehmen ist diese Möglichkeit hingegen weniger geeignet, da sie meist in den Verbänden unterrepräsentiert sind174 und ihnen für direkte Einflussnahmen, z. B. mittels LobbyArbeit, häufig die Ressourcen fehlen. Eine geringere Kontrolle der Tätigkeiten des Gesetzgebers und der Tarifvertragsparteien ist die Folge. Für den Gesetzgeber und die Tarifvertragsparteien besteht daher die Möglichkeit, Regeln zu beschließen, die insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen nachteilig sind.

173 174

Grundlegend Hirschman, A. (1974). Vgl. dazu z. B. Monopolkommission (1994), S. 365.

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b) Beeinträchtigung der Auswahlentscheidung zwischen Selbständigkeit und Arbeitnehmerschaft Ein weiterer Aspekt ergibt sich, wenn man das Bestandsschutzsystem aus einer anderen Perspektive betrachtet. Bisher hat sich die Analyse des Handlungsrahmens, den das Bestandsschutzsystem aufstellt, hauptsächlich damit beschäftigt, wie sich die Regeln auf das Verhältnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern und deren Bereitschaft, Arbeit anzubieten bzw. anzunehmen auswirkt. Eine sehr wesentliche Entscheidung, die aber sehr selten berücksichtigt wird, ist aber auch die Grundentscheidung des einzelnen Erwerbstätigen, ob er sich selbständig machen will oder nicht. Die Wahl zwischen der Aufnahme oder Fortsetzung einer Beschäftigung als Arbeitnehmer oder aber als Selbständiger wird genauso stark wie die bereits diskutierten Fragen von der gegebenen Rahmenordnung beeinflusst. Darauf weist auch Biedenkopf175 in einem Aufsatz hin, wenn er davon spricht, dass sich zusammen mit der Erwerbsneigung der Bevölkerung auch die Neigung verändert, Arbeitgeber zu sein. Er geht in diesem Aufsatz davon aus, dass derjenige, der einen Arbeitsplatz schafft, eine schöpferische Leistung und damit ein Produkt erzeuge. Ob dieses Produkt in ausreichendem Umfang und mit den jeweils nachgefragten Eigenschaften erzeugt wird, hänge unter anderem ganz wesentlich von den in der Gesellschaft herrschenden Wertvorstellungen ab. Zu diesen Wertvorstellungen führt er aus176: „Die individuelle Einschätzung des Verhältnisses von Risiko und Sicherheit, das Ansehen, das bestimmte Tätigkeiten und Funktionen genießen, gehören ebenso dazu, wie die Bereitschaft, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.“ Hier liegt meines Erachtens nach ein ganz entscheidender Punkt. Zwar haben wir bereits in Kapitel 1 Abschnitt B. festgestellt, dass sich Wertvorstellungen, Sitten etc. nur schwer beeinflussen lassen und damit einer willentlichen Gestaltung durch die politischen Akteure kaum zugänglich sind, aber Biedenkopf versteht hier den Begriff der Wertvorstellungen weiter. Dies wird deutlich, wenn er über die Wirkung von Beschäftigungsgarantien und Kündigungsschutz schreibt. Er scheint die rechtlichen Rahmenbedingungen mit in den Bereich der Wertvorstellungen einzubeziehen. Dies ist gerechtfertigt, da die rechtlichen Rahmenbedingungen einerseits meist Ausdruck der Wertvorstellungen der Gesellschaft sind und zudem ihrerseits auch die Wertevorstellungen mit beeinflussen. Aber unabhängig vom Verständnis des Begriffes Wertvorstellungen beeinflussen z. B. das Bestandsschutzsystem bzw. dessen einzelne Regeln ganz erheblich die individuelle Einschätzung des Verhältnisses von Risiko und Sicherheit sowie die Bereitschaft, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen und damit die Entscheidung des Einzelnen, sich selbständig zu machen oder als Arbeitnehmer in die Erwerbstätigkeit einzusteigen. Je stärker das Beschäftigungs- und das Entgeltrisiko 175 176

Biedenkopf, K. (1996), S. 110 f. Biedenkopf, K. (1996), S. 111.

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dem Arbeitnehmer abgenommen und dem Arbeitgeber aufgebürdet werden (verstärkter Bestandsschutz), desto attraktiver wird die Arbeitnehmerstellung für den Einzelnen und um so geringere Attraktivität geht von der Selbständigkeit aus.177 Tendenziell werden sich unter den geltenden Bedingungen immer mehr Personen für die Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer entscheiden und um so weniger die Bereitschaft aufbringen, Arbeitgeber zu werden. Biedenkopf178 drückt dies folgendermaßen aus: „Manches spricht dafür, daß Entwicklungen, die die Erwerbsneigung verstärken, zugleich die Bereitschaft verringern, Arbeitgeber zu werden. Dies gilt etwa für den Ausbau der sozialen Sicherheit des Arbeitnehmers und die Verringerung seines wirtschaftlichen und sozialen Risikos (Beschäftigungsgarantien oder erweiterter Kündigungsschutz zum Beispiel) zu Lasten des Arbeitgebers. Derartige Maßnahmen erhöhen die Attraktivität abhängiger Erwerbsarbeit und verringere die der Arbeitgeberfunktion.“ Auch Hromadka179 scheint einen solchen Zusammenhang zu bejahen, wenn er, allerdings eher beiläufig, erwähnt: „Das Arbeitsrecht darf nicht so attraktiv sein, daß es keinen Anreiz zum Selbständigmachen läßt.“ Die Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ergibt zweierlei: Erstens, man kann die Grundentscheidung der Erwerbstätigen, ob sie als Arbeitnehmer oder als Selbständige und damit potentielle Arbeitgeber am Markt auftreten, durch die Setzung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, u. a. des Bestandsschutzes, beeinflussen. Zweitens wurde durch die Verstärkung des Bestandsschutzsystems in der Vergangenheit die Attraktivität der Arbeitnehmerstellung erhöht, die Stellung als Arbeitgeber hingegen abgewertet. Das hatte zur Folge, dass sich tendenziell mehr Erwerbstätige für eine Arbeitnehmerstellung und weniger für eine Arbeitgeberstellung entschieden. Dies führte praktisch zwangsläufig zu einer Erhöhung der Nachfrage und einer Verminderung des Angebotes an Arbeit. Das unvermeidbare Resultat war oder ist Arbeitslosigkeit. Für Deutschland dürfte der beschriebene Mechanismus besondere Bedeutung haben, da die Quote der Selbständigen besonders niedrig liegt. So waren in Deutschland im Jahr 1996 nur rund 3,1 Millionen Personen selbständig tätig, was einer Quote von 9,0% entspricht. Im OECD-Durchschnitt waren es hingegen 11,4%. Deutschland müsste somit rund 800.000 Selbständige mehr haben, um den Durchschnitt der OECD Länder einzuholen.180 Besonders negativ wirkt sich bei der Veränderung der relativen Attraktivität von Arbeitnehmerschaft und Selbständigkeit durch gesetzliche Regeln aus, dass nicht nur die Entscheidung des Einzelnen verzerrt wird, sondern auch noch ein Ausgleichsmechanismus zerstört wird. Normalerweise würde nämlich ein Überhang an Biedenkopf, K. (1996), S. 111. Biedenkopf, K. (1996), S. 111. 179 Hromadka, W. (1998), S. 4. 180 Die Zahlen stammen aus Iwd 7 / 1998, S. 3. Alle Zahlen messen die Zahl der Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen (ohne Landwirtschaft); die Quoten beziehen sich auf Prozentwerte in Bezug auf alle zivilen Erwerbstätigen. 177 178

14 von Klitzing

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Arbeitnehmern über die verstärkte Konkurrenz zu schlechteren Arbeitsvertragsbedingungen führen. Dadurch würde sich die Attraktivität der Arbeitnehmerstellung verschlechtern und es würden sich vermehrt Erwerbstätige für die Selbständigkeit entscheiden, was auf dem Arbeitsmarkt eine Annäherung von Nachfrage und Angebot nach Arbeit bewirken würde.181 Werden nun aber die Arbeitsvertragsbedingungen durch zwingende rechtliche Regeln festgezurrt, kann dieser Ausgleichsmechanismus nicht mehr wirken. Eine Angleichung von Angebot und Nachfrage kann nur noch über andere Mechanismen wie z. B. über Verdienstmöglichkeiten geschaffen werden. Sind diese ebenfalls nicht voll wirksam – hier greifen beispielsweise die kollektive Lohnfindung oder Insider-Outsider Problematiken beschränkend ein – so kann es zu langandauernder Arbeitslosigkeit kommen. Betrachtet man das Arbeitsrecht im Hinblick auf die Entscheidung der Erwerbspersonen zwischen einer Beschäftigungsaufnahme als Arbeitnehmer oder als Selbständiger, so kommt man auch noch zu weiteren interessanten Einsichten. Insbesondere die Beurteilung der sog. Scheinselbständigkeit mag sich ändern. Die bisher überwiegende Beurteilung als sozial problematisch oder unerwünscht gerät ins Wanken, wenn man die Scheinselbständigkeit als Übergangsstadium betrachtet.182 Es ist wohl veraltet, das Recht der Beschäftigung als dualistisches System zu begreifen, dass streng zwischen Arbeitnehmer und Selbständigem unterscheidet. Vielmehr gibt es viele Arten des Überganges und man sollte angesichts des Mangels an Arbeitsplatzangebot soweit wie möglich den Übergang vom Arbeitnehmerstatus in den des Selbständigen fördern und nicht behindern. Bezogen auf die Diskussion um die Scheinselbständigkeit bedeutet dies, dass man bedenken sollte, dass bei Unterbeschäftigung der Weg in die Selbständigkeit ein Weg aus der Arbeitslosigkeit,183 vielleicht sogar zur Schaffung neuer Arbeitsplätze ist. Der Weg dorthin wird aber erschwert, wenn – worauf Löwisch184 hinweist – „potentielle Auftraggeber des neuen Selbständigen das Risiko laufen, dass sich derjenige, mit dem sie auf Basis eines Werk- oder freien Dienstvertrages kontrahiert haben, plötzlich als ihr Arbeitnehmer erweist. Sie werden ihre Geschäfte dann lieber mit etablierten anderen Unternehmen abwickeln, bei denen diese Gefahr nicht besteht.“ Aus dieser Perspektive gesehen, erscheint der richtige Weg eher in der Förderung der sogenannten „Scheinselbständigkeit“, verbunden mit deren rechtlicher Absicherung, als deren Bekämpfung zu liegen. Man sollte lieber die Weiterentwicklungschancen der Scheinselbständigen zu „richtigen“ Selbständigen fördern, Hier wirkt wieder einmal die „unsichtbare Hand des Wettbewerbes. Hromadka, W. (1998), S. 4 bezeichnet die Scheinselbständigkeit als „Zwischenform“ zwischen Arbeitnehmerstellung und Selbständigkeit und stellt die Entwicklung zu solchen Zwischenformen, die durch „stufenlose Übergänge mit einer großen Durchlässigkeit“ gekennzeichnet sind, dar. 183 Vgl. Rieble, V. (1998), S. 327 ff. 184 Löwisch, M. (1999), S. 74. 181 182

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes

211

als sie rechtlich wie normale Arbeitnehmern zu behandeln. Dies dürfte auch im Hinblick auf eine im internationalen Vergleich eher geringe Quote der Selbständigen in Deutschland angebracht sein.

II. Sozialstaatlichkeit Wie schon oben [Kapitel 1 Abschnitt B. III. 2.] erläutert, soll das Prinzip Sozialstaatlichkeit anhand der Kriterien [1.] Schutz der Persönlichkeitsgüter des Arbeitnehmers, [2.] Schutz des Arbeitnehmers gegen existentielle Risiken im Vermögensbereich, [3.] möglichst gute Versorgung der Erwerbsbevölkerung mit Arbeitsplätzen und [4.] Schutz besonderer Problemgruppen geprüft werden.

1. Schutz der Persönlichkeitsgüter des Arbeitnehmers Der Schutz der Persönlichkeitsgüter des Arbeitnehmers wird durch die Regelungen des Bestandsschutzes gefördert. Insbesondere hat der Arbeitgeber nur noch sehr begrenzt die Möglichkeit, den Arbeitnehmer durch die Drohung mit einer Kündigung unter Druck zu setzen. Dies gilt insbesondere, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zu nicht geschuldeter Arbeit oder übervertraglicher Intensität zwingen will. Auch braucht der Arbeitnehmer eine Kündigung wegen Krankheit oder Fehlverhaltens gegenüber seinem Arbeitgeber nur noch begrenzt befürchten, da die Rechtsprechung die Schwelle für eine wirksame krankheits- oder verhaltensbedingte Kündigung sehr hoch angelegt hat. Auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG wurde durch die Arbeitsgerichte ausgebaut. So hat zum Beispiel der Große Senat des BAG das Weiterbeschäftigungsrecht des Arbeitnehmers während eines anhängigen Kündigungsschutzprozesses auf dieses Recht (in Zusammenhang mit § 242 BGB) gestützt. Des weiteren sind die stark begrenzten Auskunftspflichten des Arbeitnehmers im Falle von krankheitsbedingtem Fehlen oder auch das Recht auf Lüge bei unzulässigen Fragen im Rahmen der Einstellung eine Verstärkung des Schutzes der Individualsphäre und der Persönlichkeitsrechte des Arbeitnehmers.

2. Absicherung gegen existentielle Risiken im Vermögensbereich Arbeitnehmer, die einen Arbeitsplatz haben und dem KSchG unterliegen, werden durch den Bestandsschutz sehr weitgehend geschützt. Auch wenn der Bestandsschutz natürlich den Verbleib auf einem Arbeitsplatz nicht vollständig sichert, so ist das Ziel der Absicherung gegen existentielle Risiken im Vermögens14*

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

bereich für Arbeitnehmer recht gut erfüllt. Wenn sie ihren Arbeitsplatz trotzdem verlieren, erhalten sie in vielen Fällen zumindest eine Abfindung. Problematischer ist in diesem Zusammenhang die Beurteilung des § 23 I 2 KSchG, wonach der Allgemeine Kündigungsschutz „. . . nicht für Betriebe und Verwaltungen, in denen in der Regel fünf oder weniger Arbeitnehmer. beschäftigt werden . . .“ gilt. An der Geltung des in diesem Paragraphen geregelten Schwellenwertes wird vielfach Kritik geübt und lange Zeit war es umstritten, ob diese Regelung vor allem im Hinblick auf Art 3 I GG überhaupt verfassungskonform ist. Insbesondere wird kritisiert, dass § 23 I 2 KSchG die Arbeitnehmer in Kleinbetrieben im Vergleich zu Arbeitnehmern in größeren Betrieben benachteilige. 185 Durch die Entscheidung des BVerfG vom 27. 1. 1998 ist nunmehr geklärt, dass die Regelung des § 23 I 2 KSchG grundsätzlich verfassungskonform ist. So ist nach Ansicht des BVerfG das Kündigungsrecht des Kleinunternehmens in besonders hohem Maße schutzwürdig. Dazu führt es an: „In einem Betrieb mit weniger Arbeitskräften hängt der Geschäftserfolg mehr als bei Großbetrieben von jedem einzelnen Arbeitnehmer ab. Auf seine Leistungsfähigkeit kommt es ebenso an wie auf Persönlichkeitsmerkmale, die für die Zusammenarbeit, die Außenwirkung und das Betriebsklima von Bedeutung sind. Kleine Teams sind anfällig für Missstimmungen und Querelen. Störungen des Betriebsklimas können zu Leistungsminderungen führen, die bei geringem Geschäftsvolumen spürbar auf das Ergebnis durchschlagen. Ausfälle lassen sich bei niedrigem Personalbestand nur schwer ausgleichen. Typischerweise arbeitet bei kleinen Betrieben der Unternehmer selbst als Chef vor Ort mit. Damit bekommt das Vertrauensverhältnis zu jedem seiner Mitarbeiter einen besonderen Stellenwert. Auch die regelmäßig geringere Finanzausstattung fällt ins Gewicht. Ein Kleinbetrieb ist häufig nicht in der Lage, Abfindungen bei Auflösung eines Arbeitsverhältnisses zu zahlen oder weniger leistungsfähiges, weniger benötigtes oder auch nur weniger genehmes Personal mitzutragen. Schließlich belastet auch der Verwaltungsaufwand, den ein Kündigungsschutzprozess mit sich bringt, den Kleinbetrieb mehr als ein größeres Unternehmen.“186 Auch wenn praktisch alle aufgeführten mit dem Kündigungsschutz verbundenen Nachteile auch einen größeren Betrieb betreffen, ist es richtig, dass diese Nachteile einen Kleinbetrieb stärker belasten und er daher schutzwürdiger ist. Eine darauf beruhende Ungleichbehandlung durch den Gesetzgeber ist daher rechtlich nicht zu 185 Vgl. z. B. Kraushaar (1988a), S. 2202 ff. oder auch (1988b), S. 137 ff., Bock, M. (1988), S. 2204 f. oder darstellend auch BVerfGE vom 27. 1. 1998 (= NJW 1998, 1475 (1477)); eindeutig auch Reuter, D. (1997), S. 458: „Entweder ist der Bestandsschutz7 für das Arbeitsverhältnis wirklich ein sozialstaatliches Existenzsicherungsgebot, dann kann er auch in Kleinbetrieben nicht völlig ausfallen. Oder er ist es nicht, dann kann er auch in größeren Betrieben nicht anerkannt werden.“ 186 BVerfGE vom 27. 1. 1998 (= NJW 1998, 1475 (1477)).

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes

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beanstanden, und auch ökonomisch macht es aus den gleichen Gründen Sinn, den Schwellenwert beizubehalten. Insofern ist meines Erachtens nach die Begründung des BVerfG zutreffend. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass aus sozialpolitischer Sicht, die Regelung kritisch zu beurteilen bleibt. Gerade dem Teil der Arbeitnehmer, der gar nicht oder nur in sehr geringem Maße durch kollektivrechtliche Vertretungen (Betriebsrat) und Regelungen (Tarifvertrag und Betriebsvereinbarungen) geschützt ist, wird der Schutz und die Sicherheit des Bestandsschutzes vorenthalten. Die gleiche Problematik gilt in mindestens gleichem Umfang für Arbeitnehmer, die in keinem Normalarbeitsverhältnis beschäftigt sind. Im Ergebnis wird somit vom Kündigungsschutz gerade der Teil der Arbeitnehmer geschützt, der aufgrund seines im Schnitt höheren Einkommens, der Vertretung durch Kollektivorgane, seines im Durchschnitt höheren Humankapitals sowieso schon ungleich besser gestellt ist als der Teil der Arbeitnehmer, die dem Kündigungsschutz nicht unterliegen.

3. Versorgung der Erwerbsbevölkerung mit Arbeitsplätzen Eine Ausprägung hat das soziale Ziel, die Erwerbsbevölkerung mit ausreichend Arbeitsplätzen zu versorgen, wie bereits angeführt, im alten § 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) gefunden. Dort heißt es: „Die Maßnahmen dieses Gesetzes sind im Rahmen der Sozial- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung darauf auszurichten, dass ein hoher Beschäftigungsstand erzielt und aufrechterhalten ( . . . ) wird.“ Noch griffiger hat die Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft dieses soziale Ziel formuliert, indem sie ein Papier mit der Überschrift „Sozial ist, was Beschäftigung schafft“ herausgegeben hat.187 Die Regulierungen des Bestandsschutzes erhöhen, wie gesehen, die Arbeitskosten ganz erheblich. Dadurch führen sie auf Dauer zu einem geringerem Angebot an Arbeitsplätzen und damit zu einem niedrigerem Beschäftigungsstand. Dieser tradeoff zwischen Bestandsschutz der bestehenden Arbeitsverhältnisse und der Gesamtzahl an Arbeitsplätzen wurde bereits ausführlich in Abschnitt I. 1. b) aa) diskutiert. In Bezug auf das Ziel der möglichst guten Versorgung der Erwerbsbevölkerung mit Arbeitsplätzen widerspricht somit der ausgedehnte Bestandsschutz eindeutig den Zielen der Sozialpolitik.

4. Schutz besonderer Problemgruppen Auch der Schutz besonderer Problemgruppen und damit der „sozial Schwächsten“ im Sinne von Rawls188, wie kinderreicher Haushalte, Mütter, älterer Arbeit187 188

Vgl. dazu FAZ vom 2. 4. 1997. (1. Seite Wirtschaftsteil). Vgl. Rawls, J. (1971).

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

nehmer, Behinderter sowie ausländischer Arbeitnehmer gehört zu den häufig genannten Zielen eines sozial geprägten Arbeitsrechts. Auch dieses Ziel hatte seinen Niederschlag im AFG gefunden. § 2 AFG lautete: „Die Maßnahmen nach diesem Gesetz haben insbesondere dazu beigetragen, daß . . . 4. die berufliche Eingliederung körperlich, geistig oder seelisch Behinderter gefördert wird, 5. der geschlechterspezifische Ausbildungsstellen- und Arbeitsmarkt überwunden wird und Frauen, deren Unterbringung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erschwert ist, beruflich gefördert und eingegliedert werden, 6. ältere und andere Erwerbstätige, deren Unterbringung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erschwert ist, beruflich eingegliedert werden.“ Ähnlich, wenn auch nicht mehr so griffig, ist dieses Ziel in den §§ 97 ff., 217 ff., 231 – 233, 263 SGB III formuliert. In der Rechtswirklichkeit, insbesondere der Rechtsprechung, nimmt dieser Aspekt des Sozistaatsprinzips den wohl bedeutendsten Platz ein. Sehr deutlich spricht dies der damalige Präsident des BAG Müller aus, indem er ausführt189: „Die materielle Legitimation und der vom Richter einzuhaltende Erkenntnisprozeß bei der Findung von Richterrecht ist darüber hinaus durch den Sozialstaatsgrundsatz des Art. 20 I GG gewährleistet. Insbesondere der Arbeitsrechtler pflegt meist nur einen einzigen Aspekt oder doch vorwiegend diesen Aspekt jener Fundamentalnorm zu sehen, nämlich das unmittelbar geltende Gebot der rechtlichen Anhebung der Angehörigen sozial schwacher Schichten und typisch sozial Schwacher überhaupt.“ Wie oben gezeigt, führt der stark ausgeprägte Bestandsschutz über die abnehmende Einstellungsbereitschaft der Unternehmen dazu, dass tendenziell zu wenig Arbeitsplätze angeboten werden. Da der Preis als Rationierungsinstrument nicht mehr voll funktioniert, kann der Arbeitgeber seine Arbeitnehmer bei der Einstellung nach bestimmten Kriterien auswählen. Dabei wird er Personen mit Risikomerkmalen wie z. B. erhöhter Krankheitswahrscheinlichkeit vermehrt ausselektieren, da sie eventuell eine geringere Produktivität haben könnten. Verstärkt wird dieses Problem noch dadurch, dass gerade diese Personengruppen einen erhöhten Bestandsschutz genießen. Dieser erhöhte Bestandsschutz wird durch die Rechtsprechung verstärkt. Die von der Rechtsprechung herangezogenen Kriterien für die Sozialauswahl bei einer betriebsbedingten Kündigung bewirken z. B., dass der Arbeitgeber im Zweifel die Arbeitnehmer entlassen muss, die die wenigsten Risikomerkmale aufweisen. Auch bei der krankheitsbedingten Kündigung sind die Anforderungen von der Rechtsprechung wie gesehen so hoch geschraubt worden, dass es dem Arbeit189

Müller, G. (1980), S. 634.

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes

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geber nur sehr schwer möglich ist, Arbeitnehmer aus diesem Grund zu entlassen. Aber auch die Gesetzgebung hat den Kündigungsschutz für einige Problemgruppen sehr stark ausgestaltet [siehe dazu Kapitel 2 Abschnitt C. 1.]. So erfreulich dieser Schutz in sozialer Hinsicht für die bereits Beschäftigten mit Risikomerkmalen ist, so verheerend wirkt er sich auf die Einstellungschancen der Arbeitsuchenden mit den gleichen Risikomerkmalen aus. Der Arbeitgeber geht bei der Einstellung von Arbeitsuchenden mit Risikomerkmalen die Gefahr ein, einmal eingestellte „Problemfälle“ nicht mehr los zu werden, wenn sich seine Befürchtungen bzgl. geringerer Produktivität bewahrheiten. Die Folge ist, dass der Arbeitgeber den „Problemfällen“ nicht einmal eine Chance einräumen wird, um zu überprüfen, ob ihre Produktivität wirklich niedriger als diejenige vergleichbarer Arbeitnehmer ohne Risikomerkmale ist. Spätestens in diesem Moment wirkt sich der Schutz besonderer Problemgruppen gegen diese aus. Ergebnis der Gesetzgebung und der Rechtsprechung „zugunsten“ besonderer Problemgruppen ist somit im Endeffekt die Diskriminierung der Problemgruppen, die gerade geschützt werden sollten.190 Dieses Ergebnis wird sehr plastisch als Bumerangeffekt bezeichnet.191 Der oben beschriebene Effekt lässt sich gut verdeutlichen, wenn man noch einmal die Struktur der Langzeitarbeitslosen betrachtet, die wir bereits in Kapitel 1 Abschnitt A. II. anhand folgender Tabelle dargestellt haben. Von je 100 Arbeitslosen waren / hatten Ende September 1995 sowie Ende September 2000 ca. . . .

. . . keine abgeschlossene Berufsausbildung

im September 1999

im September 2000

39

38

. . . Berufstätigkeit unterbrochen

35

46

. . . ein Jahr und länger ohne Arbeit

32

37

. . . gesundheitlich beeinträchtigt

26

16

. . . Ältere (ab 55 J.)

23

22

. . . ohne Berufserfahrung

7

5

. . . Jugendliche (unter 20 J.)

3

3

Quelle: Berechnet aus Sondernummer der Amtl. Nachrichten der BfA 03 / 2001, S. 8 ff. sowie Süddeutsche Zeitung vom 20. 06. 1997 unter Berufung auf Globus, Bundesanstalt für Arbeit

In Deutschland verfügten im Jahr 2000 insgesamt 38% der Arbeitslosen nicht über eine Ausbildung. Die Angehörigen dieser Gruppe sowie auch der Gruppe ,ohne Berufserfahrungen‘ haben gemeinsam, dass sie nur über ein geringes Hu190 Zu diesem Ergebnis kommt beispielsweise auch die Deregulierungskommission (1991), S. 238. 191 Vgl. z. B. Rieble, V. (1996), S. 324 mit weiteren Verweisen.

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

mankapital verfügen. Zudem werden auch die meisten Arbeitslosen, die die Berufstätigkeit unterbrochen haben oder länger als ein Jahr arbeitslos waren wegen Entwertung und Vergessens ihrer Kenntnisse nur noch über relativ geringes Humankapital verfügen. Die anderen beiden Merkmale, die Arbeitslose häufig aufweisen, – gesundheitliche Beeinträchtigung und höheres Alter – sind typische Risikomerkmale von Problemgruppen i. S. dieses Abschnitts. Wir können zusammenfassen, dass die Arbeitslosen sehr häufig ein geringes Humankapital und / oder Risikomerkmale aufweisen. Die Wirkung des Bestandsschutzes und der sog. Bumerangeffekt lässt sich nun verdeutlichen, wenn wir von zwei verschiedenen Arbeitnehmergruppen ausgehen. Die erste ist gekennzeichnet durch relativ hohes Ausbildungsniveau (hohes Humankapital), z. B. eine abgeschlossene Ausbildung, und besitzt keine besonderen Risikomerkmale wie schlechter Gesundheitszustand, hohes Alter etc. Die zweite Gruppe entspricht der durch Langzeitarbeitslosigkeit besonders gefährdeten Gruppe, d. h. sie hat nur ein geringes Humankapital und ist zusätzlich durch mindestens ein Risikomerkmal belastet. Für die erste Gruppe (hohes Humankapital, keine Risikomerkmale) sind sowohl die Lohnkosten als auch das Wertgrenzprodukt der Arbeit hoch. Dies liegt daran, dass der Arbeitnehmer ein relativ hohes Humankapital besitzt, das auch entsprechend viel gekostet hat, anderseits aber auch aufgrund seiner Ausbildung eine höhere Produktivität hat. Die (periodisierten) Kosten, die durch den Kündigungsschutz verursacht werden, sind im Vergleich dazu relativ gering. Der Grund dafür ist, dass eine eventuelle Kündigung nicht durch besondere Risikomerkmale erschwert wird, die im Rahmen der Interessenabwägung oder der Sozialauswahl zu berücksichtigen wären. Daher und aufgrund der Möglichkeit das Humankapital des Arbeitnehmers auch bei einem anderen Arbeitgeber einsetzen zu können, ist auch ein Abfindungsvertrag eher möglich und mit einer geringeren Abfindung zu rechnen. Geht man nun davon aus, dass die Arbeitgeber solange Arbeitnehmer einstellen bis die Lohnkosten dem Wertgrenzprodukt der Arbeit entsprechen, so verringert sich die Beschäftigung mit Bestandsschutz gegenüber einer Situation ohne Bestandsschutz, indem somit keine periodisierten Bestandsschutzkosten entständen eher geringfügig. Für Arbeitnehmer der zweiten Gruppe (geringes Humankapital, mindestens ein Risikomerkmal) sind hingegen sowohl die Lohnkosten als auch das Wertgrenzprodukt der Arbeit niedriger, weil der Arbeitnehmer ein geringeres Humankapital besitzt. Die periodisierten Kündigungsschutzkosten sind hingegen relativ hoch. Eine eventuelle Kündigung würde durch die besonderen Risikomerkmale erheblich erschwert, da eine Interessenabwägung eher zugunsten des Arbeitnehmers ausfallen würde und auch eine Sozialauswahl im Zweifel nicht zur Entlassung eines Arbeitnehmers mit Risikomerkmal führen wird. Aufgrund dieser starken Stellung wird auch ein Auflösungsvertrag für den Arbeitgeber schwer zu erreichen sein oder zumindest mit einer hohen Abfindung verbunden sein.

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes

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Für die zweite betrachtete Gruppe ist der durch den Bestandsschutz verursachte Beschäftigungsverlust wesentlich größer als für die erste, da bei ihr die periodisierten Bestandsschutzkosten wesentlich höher sind und sich deshalb für den Arbeitgeber bei einer entsprechenden Lohnhöhe, die Einstellung nur noch weniger Arbeitnehmer lohnt. Dies bedeutet: Gerade die sozial besonders Förderungswürdigen der zweiten Gruppe werden durch die beschäftigungsmindernde Wirkungen des Bestandsschutzes besonders betroffen. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass der hohe Anteil der Personen ohne abgeschlossene Ausbildung und mindestens einem Risikomerkmal an den Langzeitarbeitslosen, zumindest auch auf die Wirkungen des Bestandsschutzes zurückzuführen ist. Zusammenfassend kann man einen Bumerangeffekt konstatieren. Gerade die besonders schutzwürdigen Angehörigen besonderer Problemgruppen, die durch den Bestandsschutz besonders begünstigt werden sollen, werden ausgerechnet durch diese Regeln benachteiligt. 192 Zwar werden diejenigen Angehörigen von Problemgruppen, die einen Arbeitsplatz innehaben, besonders intensiv gegen den Verlust des Arbeitsplatzes abgesichert, aber gerade dies führt dazu, dass Arbeitgeber das Interesse verlieren, mit Angehörigen dieser Gruppen oder Personen die entsprechende Risikomerkmale aufweisen, Arbeitsverträge abzuschließen. Daraus folgt eine weiter erhöhte und deutlich über dem Durchschnitt liegende Arbeitslosenquote. Aufgrund der ökonomischen Rückwirkungen widerspricht das bestehende Bestandsschutzrecht eindeutig dem Ziel des Schutzes besonderer Problemgruppen.

III. Rechtsstaatlichkeit Wie oben festgestellt, beinhaltet das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit die Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat [1.], die Gewaltenteilung und den effektiven Rechtsschutz [2.], sowie die Rechtssicherheit [3.].

1. Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat Da die Eingriffe des Staates in die ursprüngliche Konzeption des Arbeitsrechtsverhältnisses mit Hilfe der Bestandsschutzregeln praktisch ausschließlich zu Lasten des Arbeitgebers gehen, ist insbesondere zu fragen, inwieweit seine grundrechtlichen Freiheiten berührt sind. Eine Grenze für die Eingriffe könnten das Eigentumsrecht (Art. 14 I GG) und die Vertragsfreiheit (Art. 2 I GG) sowie die Berufsfreiheit des Arbeitgebers (Art. 12 GG) sein. 192 So im Ergebnis auch Dichmann, W. (1992), S. 255 f. oder Schnellhaaß, H. (1989a), S. 98 ff.

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

Am klarsten ist die Rechtsprechung zu Art. 14 I GG. Dieser wird grundsätzlich nicht als Prüfungsmaßstab in Bezug auf gesetzliche Einschränkungen von Arbeitgeberbefugnissen – insbesondere zur Kündigung – herangezogen. Eine zutreffende Begründung dafür ist umstritten.193 Komplizierter ist der Einfluss des Art 2 I GG zu beurteilen. Nach früherer Ansicht war der Gesetzgeber wegen der Schrankentrias des Art. 2 I GG nicht gehindert, der Vertragsfreiheit beliebige Grenzen zu setzen. Mittlerweile hat sich jedoch allgemein die Ansicht durchgesetzt, dass der Gesetzgeber bei einem Eingriff in die Vertragsfreiheit, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten muss. Einschlägig kann weiterhin Art. 12 I GG sein. Dieser schützt die Berufsfreiheit auch des Arbeitgebers, so dass die Kündigungsfreiheit auch von diesem mit umfasst sein kann. Das BVerfG hat den grundrechtlichen Schutz des Arbeitgebers in seiner kürzlich getroffenen Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Kleinbetriebsklausel194 folgendermaßen gesehen: „Dem. . . steht das Interesse des Arbeitgebers gegenüber, in seinem Unternehmen nur Mitarbeiter zu beschäftigen, die seinen Vorstellungen entsprechen, und ihre Zahl auf das von ihm bestimmte Maß zu beschränken. Er übt damit regelmäßig seine Berufsfreiheit i. S. von Art. 12 I GG, jedenfalls aber seine wirtschaftliche Betätigungsfreiheit, aus, die durch Art. 2 I GG geschützt ist.“ Als Abwehrrechte gegen den Staat kommen somit sowohl Art 2 I GG als auch Art 12 I GG in Betracht. Diese Abwehrrechte haben jedoch im Privatrecht und insbesondere auch im Arbeitsrecht nur eine geringe Rolle gespielt195, was angesichts der teilweise starken, vertragsfreiheitsbeschränkenden Wirkung (auch der Bestandsschutzregeln) erstaunlich ist. Immerhin hat das BVerfG sein Urteil zur Verfassungswidrigkeit des Verbotes der Arbeitnehmerüberlassung vornehmlich auf Art. 12 I GG gestützt und damit der privatautonomen Tätigkeit von Unternehmern einen neuen Spielraum eröffnet. Zudem hat das BVerfG die Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat zur Rechtfertigung der Kleinbetriebsklausel herangezogen. Die ansonsten eher geringen Auswirkungen der Grundrechte als Abwehrrechte, lassen sich wohl aus dem Vordringen des materiellen Rechtsstaatsgedankens erklären. So wird von der Literatur zunehmend die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers zugleich als Auftrag an den Gesetzgeber gesehen, der Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers Grenzen zu setzen.196 Diese Aufgabe ist auch vom BVerfG in seiner Entscheidung zur Kleinbetriebsklausel angesprochen worden. Dort heißt 193 Siehe zu diesem Problemkreis Söllner, A. (1994), S. 421 ff., der sich gegen eine Anwendung des Art. 14 I GG ausspricht und Beuthien, V. (1988), S 1 ff., der im Gegensatz dazu die unternehmerische Freiheit in erster Linie auf Art. 14 I GG stützt. 194 BVerfGE vom 27. 1. 1998 = NJW 1998, S. 1475 ff. 195 Vgl. Zöllner, W. (1996), S. 1 ff. 196 So z. B. Oetker, H. (1997), S. 14 f. mit weiteren Verweisen.

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes

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es197: „Art 12 I GG kann . . . verletzt sein, wenn der Gesetzgeber damit seiner aus diesem Grundrecht abzuleitenden Pflicht zum Schutz der Arbeitnehmer vor Arbeitgeberkündigungen nicht hinreichend nachgekommen ist.“ Eine weitere Gruppe, die möglicherweise eines Schutzes gegen zu weitgehende Eingriffe des Staates in die Arbeitsrechtsordnung beanspruchen könnte, ist diejenige der Arbeitsuchenden. Auf diese Gruppe und ihre Betroffenheit durch den Bestandsschutz haben insbesondere Reuter198 und Zöllner199 hingewiesen. In Bezug auf die Schutzfunktion der Grundrechte stellt sich die Frage, ob nicht Art. 12 I GG (Berufsfreiheit) eine Arbeitsrechtsordnung erfordert, die den Zugang zu Arbeitsplätzen für Arbeitsuchende zumindest nicht erschwert. Diesen Punkt spricht beispielsweise auch Hanau200 an. Er fragt sogar, ob Art. 12 I GG möglicherweise zur „Magna Charta der Deregulierung“ werden könnte. Zumindest sieht er in ihm jedenfalls eine wichtige Rechtfertigung für alle Regelungen, die die arbeitsrechtlichen Belastungen des Arbeitgebers verringern, um die Eingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt zu fördern. Bisher wurde eine solche Wirkung des Art. 12 I GG allerdings von den Gerichten kaum beachtet. Lediglich das BVerfG201 hat die Befristung von Arbeitsverhältnissen im Bereich des Rundfunks u. a. mit der Erwägung gerechtfertigt, es müsse auch neuen Arbeitnehmern eine Chance gegeben werden. Allerdings wurde auch in diesem Urteil dem Bestandsschutz der Arbeitsverhältnisse der stärkere Einfluss zugeschrieben. Neben der Begrenzung der Vertragsfreiheit des Arbeitgebers und der Arbeitsuchenden wird aber auch die Selbstbestimmung des einzelnen Arbeitnehmers beschränkt, worauf insbesondere Löwisch202 zu Recht hinweist. Da die Regelungen des Bestandsschutzsystems regelmäßig einseitig ,zugunsten‘ des Arbeitnehmers zwingend sind, wird auch er an dem Abschluss von Verträgen bzw. Vereinbarung von Vertragsbedingungen gehindert, die er selbst an sich vereinbaren will. Allerdings wird im Bereich des Bestandsschutzes der Wille des Arbeitnehmers sehr viel seltener als beispielsweise beim Arbeitszeitrecht 203 von den gesetzlichen Regelungen nach unten – zu weniger Schutz – abweichen. Zudem lässt sich eine Beeinträchtigung der Selbstbestimmung des Arbeitnehmers im Bestandsschutzsystem allenfalls in Randbereichen begrenzen, wenn man an dem Ziel festhält, angebliche Machtdisparitäten auszugleichen. Das Fazit einer Untersuchung des Einflusses der Grundrechte als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates im Bereich des Bestandsschutzes ist, dass diese ins197 198 199 200 201 202 203

BVerfGE vom 27. 1. 1998 (= NJW 1998, 1475). Reuter, D. (1978), S. 348 ff. Zöllner, W. (1978, D S. 117 ff. Hanau, P. (1998), S. 72 f. Hanau, P. (1998), S. 72 f. Siehe dazu Löwisch, M. (1996b), S. 294 ff. Löwisch, M. (1996b), S. 296 f.

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

besondere in der Rechtsprechung des BVerfG nur einen geringen Schutz bieten. Ihre Abwehrfunktion wird vielfach durch die ihnen ebenfalls beigemessene Schutzfunktion neutralisiert oder gar überlagert. Es bestätigt sich damit auch im Bestandsschutzsystem die Tendenz, eher den Schutz durch den Staat bzw. seine Unterstützung bei der Durchsetzung der Grundrechte (materieller Rechtsstaatsgedanke) als den Schutz vor dem Staat (formeller Rechtsstaatsgedanke) zu betonen. 2. Gewaltenteilung und effektiver Rechtsschutz In den vorhergehenden Abschnitten dieses Kapitels wurden in vielen Bereichen weitreichende Rechtsfortbildungen durch die Rechtsprechung analysiert. Diese gingen in einigen Fällen soweit, dass die ursprünglichen Intentionen des Gesetzgebers in der Auslegung der Normen nur noch sehr begrenzt erkennbar sind. So wurde mehrfach die Aussage Gamillschegs „Der Richter ist der eigentliche Herr des Arbeitsrechts“ bestätigt.204 Der überragende Einfluss der Rechtsprechung auf die konkrete Ausgestaltung ist auch weitgehend unbestritten.205 Sehr viel differenzierter ist aber die Bewertung dieses Beitrages.206 In Bezug auf den Aspekt der Gewaltenteilung stellt sich die Frage nach der Legitimation der Regel- bzw. Rechtssetzung durch den Richter.207 Am weitesten geht wohl Meilicke208, der dem Bundesarbeitsgericht sogar vorwirft, ein „Selbsternannter Sondergesetzgeber zu Lasten der Arbeitgeber“ zu sein, und ihm mehr oder weniger Rechtsbeugung unterstellt. Auf der anderen Seite wird aber auch das krasse Gegenteil vertreten. So äußert der heutige Präsident des BAG Dieterich209 in einem Artikel zur „Pflicht der Gerichte, das Recht fortzubilden“, er sehe die Gefahr der allzu engen Bindung der Gerichte an das Gesetz und damit einer Kompetenzunterschreitung. 210 Die Mehrzahl der Autoren, die sich mit der Rechtsfortbildung der Arbeitsgerichte und deren Bewertung in Bezug auf das Prinzip der Gewaltenteilung beschäfti204 Zustimmend z. B. Hanau, P. (1998), S. 73 oder auch Kraft, A. (1994), S. 465; Rüthers, B. (1993), S. 57 drückt dies folgendermaßen aus: „Die Gerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit sind auf weiten Gebieten zu vorrangigen Normsetzern avanciert, . . .“ 205 So z. B. auch v. Hoyningen-Huene, G. (1986), S. 2133, der das Arbeitsrecht als „wie kaum ein anderes Rechtsgebiet – im wesentlichen durch Richterrecht geprägt“ bezeichnet. Vgl. auch Däubler, W. (1998b), S. 47 – 52. 206 Siehe dazu ausführlicher auch Kapitel 5 A. II. 207 Diese Kritik stellt z. B. Däubler, W. (1998b), S. 47 ff. dar. Vgl. dazu ausführlicher Söllner, A. (1994), S. 97 f. 208 Meilicke, H. (1981). 209 Dieterich, T. (1993), S. 67. 210 Diese Äußerung bezieht sich zwar nicht ausdrücklich auf die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, aber aus dem Kontext ist zu entnehmen, dass die Ansichten des Autors auch für diesen Bereich ähnlich sind.

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes

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gen, sehen dies sehr viel differenzierter. Ausführlich hat sich v. Hoyningen-Huene in einem allerdings älteren Aufsatz damit beschäftigt, inwieweit die Rechtsfortbildungen durch die Rechtsprechung positiv zu bewerten sind oder unzulässigerweise nur von politischen Absichten geprägt waren. Als Maßstab für seine Beurteilung zieht er die Bestätigung oder Ablehnung der Rechtsfortbildung durch den Gesetzgeber, das BVerfG etc. heran. Für den hier behandelten Bereich des Bestandsschutzes kommt v. Hoyningen-Huene zu einer positiven Bewertung der Entwicklung des ultima-ratio Grundsatzes, da sie behutsam erfolgte und mittelbar vom Gesetzgeber übernommen wurde.211 Scharf kritisiert er dagegen beispielsweise die Entwicklung des allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruches, da diese Grundwertungen des Kündigungsrechtes missachtet habe und es höchst zweifelhaft sei, ob es sich noch um eine zulässige Rechtsfortbildung oder schon um eine unzulässige Rechtspolitik handele.212 Ähnlich sieht es beispielsweise auch Rose213, der darauf abstellt, dass ohne gesetzliche Grundlage ein Zwangsrechtsverhältnis geschaffen werde, das die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers empfindlich tangiere. Grundsätzlich kommt v. Hoyningen-Huene zu der Bewertung, dass Rechtsfortbildung nur vorbildlich sei, „wenn sie sich an gesetzlichen Wertungen orientiert und methodisch behutsam vorgeht. Die verfassungsrechtlichen Grenzen hat die Rechtsprechung aber dann überschritten, wenn sie ihren Entscheidungen ergebnisorientiert eigene Wertvorstellungen zugrunde legt.“214 Mehrfach lobt er zudem die Rechtsprechung für Fälle, in denen sie sich „in vorbildlicher Selbstbeschränkung“ geweigert habe, das Recht fortzubilden.215 Insgesamt scheint er somit für eine vorsichtigere Rechtsfortbildung einzutreten. Andere Beispiele für den sehr weitreichenden Eingriff der Rechtsprechung in den Bereich der Legislativen führt Kraft an.216 Insbesondere die Handhabung der Abmahnung, die er als „Erfindung der Arbeitsgerichtsbarkeit“217 bezeichnet, den Vorrang der Änderungskündigung vor der Beendigungskündigung, die zu einem erheblichen Teil nicht vom Gesetz gedeckt sei, und die Anforderungen an eine wirksame Befristung von Arbeitsverhältnissen, die sozialpolitisch und rechtspolitisch motiviert gewesen sei, benennt er. Sehr enge Grenzen sieht Hillgruber für eine Rechtsfortbildung der Rechtsprechung. Insbesondere im Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, d. h., dass nur aufgrund eines Gesetzes in die grundrechtlich geschützten Rechte des Bürgers eingegriffen werden dürfen, sieht er eine Schranke auch für richterliche Rechtsfortbildungen. Danach dürfe ein „Fachgericht den von ihm für erforderlich erachteten 211 212 213 214 215 216 217

v. Hoyningen-Huene, G. (1986), S. 2137 f. v. Hoyningen-Huene, G. (1986), S. 2138. Rose, F. (1997), S. 189 f. v. Hoyningen-Huene, G. (1986), S. 2141. v. Hoyningen-Huene, G. (1986), S. 2140. Kraft, A. (1994), S. 467 ff. Diese Formulierung (S. 467) wählt er in Anlehnung an Beckerle / Schuster.

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

Grundrechtsschutz des einen durch Eingriff in die Grundrechte des anderen ohne formalgesetzliche Grundlage“ nicht vornehmen.218 Im Ergebnis sehen die meisten Autoren, die sich mit dem Problem der Gewaltenteilung und der weitreichenden Rechtsfortbildung beschäftigen, zwar nicht gerade einen Verstoß gegen diesen Grundsatz, aber erkennen doch dessen Beeinträchtigung. Zwar werden einzelne gelungene Rechtsfortbildungen gelobt, aber eine gewisse Skepsis gegen die weitreichende richterliche Rechtsfortbildung ist nicht zu übersehen. So schreibt Söllner219 für den Gesamtbereich des Arbeitsrechts sogar: „So erweist sich der gegenwärtige Zustand des Arbeitsrechts als eine tiefe Kluft zwischen den tatsächlichen Gegebenheiten und den Intentionen des Grundgesetzes, das getreu dem Grundsatz der Gewaltenteilung zwischen der Gesetzgebung als Rechtssetzung und der Rechtsprechung als Rechtsanwendung unterscheidet.“ und auch Rüthers meint, der Umfang des Richterrechts habe ein Maß angenommen, das zu dem Gewaltenteilungsprinzip des GG in einem deutlichen Widerspruch stehe.220 Die Tendenz der Arbeitsrechtsprechung, recht großzügig mit der Rechtsfortbildung umzugehen, hat dazu geführt, dass gerade im Bereich des Arbeitsrechts Entscheidungen des BVerfG Aufmerksamkeit erregten, durch die rechtsfortbildende Urteile des BAG aufgehoben wurden. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das bereits angesprochene Urteil des BVerfG221 zur Rangstelle „Nr. 0“ von Sozialplanforderungen im Konkurs. Diese Entscheidung stützte sich sogar ausdrücklich auf Art. 20 III GG (Gewaltenteilung) als Schranke für die richterlicher Rechtsfortbildung. Ob und wie häufig die Arbeitsrechtsprechung die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung tatsächlich überschreitet, ist schwierig zu beantworten. Zurecht wird in der Literatur und Rechtsprechung zur Rechtfertigung der richterlichen Rechtsfortbildung auf Versäumnisse des Gesetzgebers und Mängel der Gesetze verwiesen. So hat der Gesetzgeber wichtige Bereiche (z. B. Arbeitskampfrecht) gar nicht geregelt, andere nur bruchstückhaft oder unter Verwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen (z. B. Kündigungsschutz), die für sich genommen wenig aussagekräftig sind. Bei so lückenhafter Gesetzeslage, so das Hauptargument zur Rechtfertigung weitgehender richterlicher Rechtsfortbildung, müssten die Gerichte das Recht ausformen, um nicht Rechtsverweigerung zu betreiben.222 Die Abweisung der Klage mangels Rechtsgrundlage, die von einem Teil der Literatur tendenziell bevorzugt wird, wird als für den Rechtssuchenden und wohl auch für die Rechtsgemeinschaft als inakzeptabel abgelehnt.223 218 219 220 221 222 223

Hillgruber, C. (1996), S. 124 f. Söllner, A. (1994), S. 327. Rüthers, B. (1994), S. 54 f. BVerfGE 65, 182. Siehe dazu z. B. Söllner, A. (1994), S. 329. So z. B. Müller, G. (1980), S. 633.

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes

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Auf der anderen Seite weist Hillgruber nicht zu Unrecht darauf hin, dass die Schutzpflicht des Staates immer nur die einzelne Staatsgewalt entsprechend ihres Funktionskreises treffen könne. Bei der Notwendigkeit der Rechtsfortbildung sei danach nur der Gesetzgeber verpflichtet und könne zudem im Wege der Verfassungsbeschwerde zur Erfüllung seiner Schutzpflicht gezwungen werden.224 Wie man aber auch die Notwendigkeit richterlicher Rechtsfortbildung beurteilt, bleibt doch festzuhalten, dass sie im gesamten Arbeitsrecht und im besonderen auch im Bestandsschutz sehr weit in den sozial- und rechtspolitischen Bereich, der eigentlich vorrangig der Legislativen vorbehalten ist, hereinreicht. Er ist durchaus nicht übertrieben festzustellen, dass die richterliche Rechtsfortbildung häufig mehr durch „social engeneering“ als richterliche Zurückhaltung geprägt ist. Das gilt insbesondere auch im Vergleich mit der Zivilgerichtsbarkeit. So stellt Picker225 fest, dass das Bundesarbeitsgericht als Haupterzeuger von Richterrecht wirke, während die Zivilgerichtsbarkeit eher zurückhaltend sei. Auch Söllner spricht die Problematik der richterlichen Rechtsfortbildung zwischen social engeneering und Zurückhaltung an. Er plädiert dabei eindeutig für die Zurückhaltung, da nur die gerechte Entscheidung des Einzelfalles Aufgabe des Richters sei.226 Dem widerspricht aber in gewissem Maße das Selbstverständnis der Richter insbesondere der des Bundesarbeitsgerichtes. So schreibt beispielsweise Dieterich227 – zu dieser Zeit selbst Präsident des BAG – über den langjährigen Bundesrichter am Arbeitsgericht und Vizepräsidenten Stumpf, seine Arbeitsmethode sei durch die Begriffe „Widerstand gegen die Norm. . . Weiterentwicklung der Norm“228 gekennzeichnet. Unter seiner Leitung habe der 3. Senat die Rechtsentwicklung mit „wuchtigen Stößen“ weitergetrieben. Dieterich erwähnt an anderer Stelle229 auch, dass er selbst von dieser Auffassung trotz anfänglicher Skepsis überzeugt worden sei. Auch der Vorgänger Dieterichs im Amt des Präsidenten des BAG Müller erkennt zwar die Problematik des Richterrechts in Bezug auf die Dreiteilung der Gewalten, aber auch er hält die Gefahr der Rechtsverweigerung durch den Richter für „durchschlagender“.230 Das Bundesarbeitsgericht hat in seinen Entscheidungen sogar selbst von „gesetzesvertretendem Richterrecht“ gesprochen.231 Mittlerweile hat sich das BAG aber wohl von dieser Sichtweise distanziert und spricht den rechtsfortbildenden Entscheidungen der Gerichte eine eigene Rechtsqualität ab.232 Es sieht sie nur noch als Rechtserkenntnisquelle. 224 225 226 227 228 229 230 231 232

Hillgruber, C. (1996), S. 124. Picker, E. (1988), S. 2. Söllner, A. (1994), S. 333. Dieterich, T. (1982), S. 330. So auch der Titel einer seiner Veröffentlichungen. Dieterich, T. (1993), S. 67. Müller, G. (1980), S. 633. Gr. Senat des BAG v. 21. 04. 1971, BAGE 23, 292 (159 ff.). Vgl. BAG v. 10. 6. 1980, BAGE 33, 140 (159).

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

Problematisch ist die weitgehende Rechtsfortbildung der Rechtsprechung, aber nicht nur, weil sie in den Kompetenzbereich der Legislativen eingreift, sondern auch, weil sie bei der Aufstellung von abstrakten Regeln einige Nachteile im Vergleich zur Gesetzgebung aufweist. So weist Söllner233 zu Recht darauf hin, „dass die Einhaltung des richtigen Verfahrens eine Voraussetzung für eine richtige Entscheidung ist.“ Nun sind aber die Verfahrensvorschriften der Gerichtsordnungen etc. darauf ausgerichtet, einen Einzelfall zu entscheiden. So tragen die Prozessparteien im Regelfall nur die Umstände ihres Einzelfalles vor, und nur diese Umstände des Einzelfalles werden vom Richter bei der Entscheidungsfindung gewürdigt. Die Gerichte, vor allem der höheren Instanzen, werden bei ihrer Entscheidung zwar unter Umständen auch die Auswirkungen ihrer Entscheidung auf andere Fälle bedenken, aber für eine echte Folgenbewertung stehen ihnen natürlich nicht die Hilfsmittel / Erkenntnisquellen des Gesetzgebers zur Verfügung.234 Dazu kommt noch das gravierende Problem der Drittbetroffenheit. Im Gegensatz zu einer echten Einzelfallentscheidung werden von der richterlichen Rechtsfortbildung Dritte betroffen, die an dem Verfahren nicht beteiligt waren und deren Einbeziehung auf Grund der Prozessordnungen auch gar nicht möglich ist. Bei der Rechtssetzung durch den Gesetzgeber hingegen bieten sich viele Möglichkeiten, alle Betroffenen in das Verfahren einzubinden oder zumindest anzuhören.235 Auch in Bezug auf die Möglichkeiten des Rechtsschutzes hat das Richterrecht gegenüber legislativem Recht Nachteile für den einzelnen Bürger, da die Möglichkeit der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts – wenn überhaupt – so nur beschränkt möglich ist. Aufgrund dieser Problematik ist es erfreulich, dass in letzter Zeit vermehrt Stimmen laut werden, die eine engere Bindung der Arbeitsgerichte an das Gesetz anmahnen, wie dies beispielsweise Söllner bereits 1985 getan hat.236 Allerdings ist mit einem Kurswechsel wohl nicht zu rechnen, wenn, wie bereits angesprochen, der letzte Präsident des BAG Dieterich237 die „Pflicht der Gerichte, das Recht fortzubilden“ besonders betont und sogar die Gefahr der allzu engen Bindung an das Gesetz und damit einer Kompetenzunterschreitung sieht.

3. Rechtssicherheit Für die Judikative bedeutet das Kriterium der Rechtssicherheit vor allem die Notwendigkeit der Vorhersehbarkeit und Beständigkeit der Rechtsprechung. Gerade dies ist aber im Arbeitsrecht nicht gewährleistet. 233 234 235 236 237

Söllner, A. (1994), S. 99 f. Söllner, A. (1994), S. 99. Ausführlicher dazu unten Kapitel 4 Abschnitt A. II. 2. a). Söllner, A. (1985), S. 328. Dieterich, T. (1993), S. 67.

B. Ordnungsökonomische Folgen der Regeln des Bestandsschutzes

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Zwar sagte der Präsident des Bundesarbeitsgerichts Dieterich238, das „verlässliche deutsche Arbeitsrecht [sei] ein eindeutiger Standortvorteil Deutschlands“, aber die überwiegende Anzahl der Arbeitsrechtler sieht dies ganz anders. Danach ist die Rechtsprechung zum Arbeitsrecht dadurch gekennzeichnet, dass einzelne Entscheidungen nicht vorhersehbar sind. Preis drückt dies sehr treffend aus, wenn er schreibt239: „Für normale Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind schon Grundfragen unseres Arbeitsrechts ohne fachmännische Hilfe nicht mehr durchschaubar.“ Diese Feststellung wird allgemein als zutreffend angesehen und ist insbesondere für den Bereich des Bestandsschutzes gültig.240 Kraft241 meint sogar: „Die Vorhersehbarkeit des Ergebnisses eines Kündigungsschutzprozesses tendiert gegen Null.“ Diese Feststellung gilt aber nicht nur für den arbeitsrechtlichen Laien, sondern häufig selbst für Arbeitsrechts-Fachleute. Ein treffendes Einzelbeispiel führt der Präsident des deutschen Arbeitsgerichtsverbandes an, indem er aus dem Urteil des LAG Hamm vom 30. 5. 1996242 den Leitsatz zitiert: „Bei der verhaltensbedingten Kündigung sind – soweit vorgetragen – im Rahmen der Interessenabwägung auf Seiten des Arbeitnehmers Art, Schwere und Häufigkeit des Fehlverhaltens, früheres Verhalten, Mitverschulden des Arbeitgebers, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten, Arbeitsmarktsituation, und auf Seiten des Arbeitgebers Betriebsablaufstörungen, Arbeits- und Betriebsdisziplin, Vermögensschaden, Wiederholungsgefahr, Ansehensschaden, Schutz der Belegschaft zu berücksichtigen und zueinander in ein Verhältnis zu setzen.“ Diesen Leitsatz kommentiert er zu Recht damit, „dass alle Beiträge der Rechtsprechung negativ zu bewerten sind, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer über ihre Rechte und Pflichten im unklaren lassen.“ und „Hier kann man kaum noch von Rechtsprechung reden, weil Mindestanforderungen an die Rechtsklarheit des Rechtes nicht gewahrt sind.“243 Auch wenn es sich hier um ein krasses Beispiel handeln mag, so ist die Rechtsunklarheit und damit -unsicherheit doch die nahezu unvermeidliche Folge eines der zentralen Grundsätze der Rechtsprechung zum Kündigungsschutz, nämlich der umfassenden Interessenabwägung im Einzelfall. Eingehender wird der Einfluss der umfassenden Interessenabwägung auf die Rechtssicherheit noch unter Abschnitt C. II. behandelt. Allerdings ist wohl für einige Teilbereiche auch Wank So ein Zitat der FAZ vom 18. 01. 1996. Preis, U. (1990), S. 312. 240 Vgl. Schwerdtner, P. (1988), S. 1667 Vor § 626 RN 174. 241 Kraft, A. (1995), S. 429. Ähnlich auch Alfred Weisskirchen – Leiter der Abteilung Arbeitsrecht beim BDA – siehe dazu Handelsblatt vom 2. 06. 1997. 242 LAG Hamm NZA 1997, S. 1056. 243 Hanau, P. (1998), S. 73. 238 239

15 von Klitzing

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

Recht zu geben, wenn er feststellt, dass sich die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes zum Kündigungsrecht im Laufe der Jahre gefestigt habe.244 Insgesamt bleibt aber der Befund der Rechtsunsicherheit im Arbeitsrecht bestehen. Dies lässt sich auch durch empirische Daten belegen. Bereits die absolute Zahl der Arbeitsrechtsstreitigkeiten deutet auf eine vermehrte Rechtsunsicherheit hin. So hat die Anzahl der anhängig gemachten erstinstanzlichen Verfahren in Arbeitsrechtssachen erstmals 1967 die Grenze von 200.000 pro Jahr überschritten.245 Mittlerweile ist sie bei rund 660.000 angelangt.246 Da sich die Arbeitsvertragsparteien bei einer klaren Rechtslage seltener zu einer Anrufung der Gerichte entscheiden werden, sondern mangels Erfolgsaussichten darauf verzichten oder eine gütliche Einigung wegen geringerer Kosten bevorzugen, ist dies ein erster Hinweis auf eine bestehende bzw. zunehmende Rechtsunsicherheit. Allerdings kann dem noch entgegengehalten werden, dass die absoluten Zahlen auch die generelle Zunahme der Streitlustigkeit der Bundesbürger widerspiegelt. Dieses Argument versagt jedoch im Hinblick auf die relative Zunahme der Kündigungsschutzklagen. So betrug in den sechziger Jahren der Anteil der Kündigungen an den arbeitsrechtlichen Streitgegenständen etwa 30%, während er mittlerweile fast 50% ausmacht.247 Die Zunahme der Kündigungsschutzprozesse spiegelt auch die Zunahme der Wahrscheinlichkeit, dass eine Kündigung angefochten wird, wider. So konnte man noch 1978 davon ausgehen, dass etwa jede 13. Kündigung durch den Arbeitnehmer angefochten wurde. Zur Zeit ist die Klagequote hingegen bei etwa 12% angelangt, was bedeutet, dass nahezu jede 8. Kündigung angefochten wird.248

C. Zusammenfassung und Bewertung der geltenden Bestandsschutzregeln In diesem Kapitel haben wir als erstes dargestellt, welche Argumente zur Begründung staatlicher Eingriffe auf dem Arbeitsmarkt vorgebracht werden und analysiert, ob diese Gründe tatsächlich eine Rechtfertigung für Eingriffe darstellen. Der Anlass für diese Untersuchung besteht darin, dass in einer freiheitlichen Grundordnung, wie sie das Grundgesetz vorsieht, die Menschen nach ihren selbstgesetzten Zielen streben dürfen. Dieser Anforderung wird die Marktwirtschaft grundsätzlich gerecht. Eine staatliche Regulierung ist daher nur erforderlich, wenn sie durch eine Fehlfunktion des Marktmechanismusses gerechtfertigt wird. Bei der Wank, R. (1993), S. 88. So Grotman-Höfling, G. (1997), S. 206. 246 Statistisches Jahrbuch 1999, S. 353. 247 Grotman-Höfling, G. (1997), S. 209 gibt den Anteil sogar mit über 50% an, während die Daten aus Statistisches Jahrbuch 1999, S. 353 auf einen Anteil von knapp unter 50% schließen lassen. 248 Vgl. Grotman-Höfling, G. (1997), S. 209 f. 244 245

C. Zusammenfassung und Bewertung der geltenden Bestandsschutzregeln

227

Untersuchung der Rechtfertigungsgründe haben wir festgestellt, dass der Arbeitsmarkt zwar gewisse Besonderheiten aufweist, sich daraus aber keine Argumente für einen starken Bestandsschutz ergeben, wie ihn insbesondere die Rechtsprechung herausgebildet hat. Aus ordnungsökonomischer Sicht kann man allenfalls einen reinen Willkürschutz als gerechtfertigt ansehen, wenn man damit mögliche Machtübergewichte des Arbeitgebers gegenüber dem einzelnen Arbeitnehmer in gewissen Situationen oder in Zeiten eines gesamtwirtschaftlichen Arbeitskräfteüberhangs ausgleichen will. Im folgenden wurde untersucht, welche ordnungsökonomischen Folgen die in Kapitel 2 ausführlich dargelegte Regelbildung insbesondere der Rechtsprechung auf den Arbeitsmarkt haben. Dazu wurde untersucht, inwieweit die Regeln zu den als Referenzsystem benutzten grundlegenden Prinzipien passen. Dabei haben wir festgestellt, dass die geltende Regelordnung des Bestandsschutzes alle drei grundlegenden Prinzipien des Referenzsystems an vielen Stellen durchbrechen. Die einzelnen Grundsätze werden bereits durch die gesetzlichen Regeln beeinträchtigt, aber vor allem die Auslegung und Fortbildung der gesetzlichen Regeln durch die Rechtsprechung durchbrechen vielfach die grundlegenden Prinzipien der Wirtschaftsordnung. Insbesondere aber wurden die wesentlichen Folgen der Regelbildung und damit der Abweichungen vom Referenzsystem herausgearbeitet. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Besonders einschneidend und intensiv ist die Abweichung vom Prinzip der Marktmäßigkeit, die sich insbesondere aus der Beschränkung der Beendigungsfreiheit ergibt. Die Folge ist eine erhebliche Kostenbelastung der Arbeitgeber, die ein zurückhaltenderes Einstellungsverhalten insbesondere in Bezug auf Randarbeitsplätze bewirkt. Daneben führt die festgestellte, nicht optimale Verteilung des Produktionsfaktors Arbeitseinsatzflexibilität zu einer Umgehung der Bestandsschutzregeln. Als Umgehungsmöglichkeiten wurden Scheinselbständigkeit, geringfügige Beschäftigung, Schwarzarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse angesprochen. Als Ursache für die zu beobachtende Erosion des Normalarbeitsverhältnisses können neben der zu hohen Abgabenquote auch Flexibilitätsdefizite aufgrund des Bestandsschutzes ausgemacht werden. Insoweit kann die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses als Abwahl einer Arbeitsmarktinstitution gewertet werden. Des weiteren bewirkt die mit der Beschränkung der Beendigungsfreiheit verbundene Veränderung des Selektionsmechanismusses weg von Leistungsprinzip hin zum Bedarfsprinzip eine Benachteiligung gerade der Arbeitnehmergruppen, die eigentlich geschützt werden sollen (Bumerangeffekt). Die geltende Rechtslage führt darüber hinaus zu einer Verdünnung der Verfügungsrechte des Unternehmens, wodurch der Marktwert des Unternehmens leidet. Negative Folgen sind geringere Investitionen und vermehrte Probleme bei notwendigen Unternehmenssanierungen. Auch die Funktionsfähigkeit des Preissystems wird durch die Rechtsprechung zum Bestandsschutz beeinträchtigt. Das Verbot der Austauschkündigung und die restriktive Handhabung der Änderungs15*

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

kündigung begünstigen das Auftreten eines Sperrklinkeneffekts und damit die Wahrscheinlichkeit einer Situation mit Hochlohnarbeitslosigkeit. Das Verbot der Austauschkündigung und die restriktive Handhabung der Änderungskündigung sind es auch, die das Prinzip der Offenheit der Märkte verletzen und dadurch die Lohnsetzungsspielräume der Insider vergrößern. Eine Außenseiterkonkurrenz wird weitgehend verhindert. Zuletzt wird durch die Rechtsprechung auch noch die Möglichkeit des exits des Arbeitgebers aus dem Arbeitsmarkt erschwert und die Grundentscheidung der Erwerbstätigen zwischen Selbständigkeit und Tätigkeit als Arbeitnehmer zugunsten der letzteren verzerrt. Es ist auch insbesondere die Abweichung vom Prinzip der Marktmäßigkeit, die wiederum die Beeinträchtigung des Sozialstaatlichkeitsprinzips bewirkt. Bezüglich des angestrebten Schutzes von Problemgruppen wurde der Bumerangeffekt angesprochen, der dazu führt, dass gerade die Problemgruppen (Ältere, Mütter, gesundheitlich Angeschlagene, Behinderte, etc.) wegen ihres erhöhten sozialen Schutzes nur stark verminderte Einstellungschancen haben. Auch der durch den Bestandsschutz verursachte Nettobeschäftigungsverlust muss als sozialpolitisch kontraproduktiv eingeschätzt werden. Dagegen kann der Schutz der Persönlichkeitsgüter des Arbeitnehmers als weitgehend gut verwirklicht angesehen werden und auch die Absicherung gegen existentielle Risiken im Vermögensbereich ist zumindest für Arbeitsplatzbesitzer mit Normalarbeitsverhältnis, die zudem dem KSchG unterfallen, als weitgehend zu beurteilen. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit wird durch die Rechtsprechung beeinträchtigt. Die Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates wird im Bereich des Bestandsschutzes zugunsten der Betonung ihrer Abwehrfunktion vielfach überlagert. Zudem weist die Rechtsprechung eine Tendenz auf, weit in den sozial- und rechtspolitischen Bereich vorzudringen, der nach dem Gedanken der Gewaltenteilung eigentlich dem Gesetzgeber vorbehalten ist. Auch bezüglich der Rechtssicherheit muss ein negatives Fazit gezogen werden. Die Vorhersehbarkeit, Beständigkeit und Klarheit der Rechtsprechung ist vielfach nicht gegeben. Selbst für Experten des Arbeitsrechts ist es sehr häufig nicht möglich, eine Gerichtsentscheidung richtig zu prognostizieren. Dies liegt u. a. an der sehr ausdifferenzierten Rechtsprechung zu fast allen Problembereichen, die sich mehr an der umfassenden Interessenabwägung im Einzelfall als an einer übersichtlichen Regelsetzung orientiert. Nachdem wir die Wirkungen der Regeln – insbesondere der richterlich gesetzten – dargelegt haben, sollen diese Regeln nun noch bewertet werden. Dabei wird darauf abgestellt, ob diese Regelungen wünschenswert sind. Wie in Kapitel 1 dargelegt, ist die entscheidende Überprüfungsinstanz für die Beurteilung einer Regel das (konsensfähige Regel-)Interesse der Bürger. Wie eine Regel oder ein Regelsystem bewertet wird, richtet sich danach, ob es im konsensfähigen Interesse der Bürger liegt und daher wünschenswert ist. Anders ausgedrückt: Man kann fragen, welche Argumente bezüglich der Funktions- oder Wirkungseigenschaften eine regelset-

C. Zusammenfassung und Bewertung der geltenden Bestandsschutzregeln

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zende oder regelprüfende Institution bedenken sollte, die im Auftrag und im Interesse der Bürger die Regeln des Bestandsschutzes bewerten soll.249 Stellt man die oben angeführten Vor- und Nachteile des deutschen Bestandsschutzsystems einander gegenüber, so ergeben sich als Vorteile praktisch ausschließlich solche aus dem Bereich des Sozialstaatsprinzips. Dort wurde festgestellt, dass der Schutz der Persönlichkeitsgüter der Arbeitnehmer gut verwirklicht wird. Allerdings dürfte dieser Schutz auch weitgehend durch einen Willkürschutz, wie ihn der Gesetzgeber ursprünglich konzipiert hatte, sicherzustellen sein. Daneben kann als Vorteil des Bestandsschutzes angeführt werden, dass er die existentiellen Risiken im Vermögensbereich für Arbeitsplatzbesitzer mit Normalarbeitsverhältnis, die unter den Schutz des KSchG fallen, mindert. In diesem Rahmen werden auch die besonderen Problemgruppen besonders stark geschützt. Auf der Seite der Nachteile ist hingegen zu verbuchen, dass es durch die geltenden Regeln des Bestandsschutzes zu einem Nettobeschäftigungsverlust kommt. Dieser bewirkt über eine geringere Wertschöpfung, die noch durch die beeinträchtigte Arbeitseinsatzflexibilität verstärkt wird, einen Wohlfahrtsverlust. Daneben wird die Anfälligkeit der Gesamtwirtschaft für langanhaltende Arbeitslosigkeit unabhängig vom Nettobeschäftigungsverlust noch dadurch vermehrt, dass Ausgleichsmechanismen durch einen Sperrklinkeneffekt bei den Löhnen ausgeschaltet werden. Weitere Nachteile der geltenden Regeln sind z. B. erhöhte administrative Kosten, denen kein gesamtwirtschaftlicher Nutzen gegenübersteht. Zusätzlich wurden Nachteile in Bezug auf die Verwirklichung der Rechtsklarheit und -beständigkeit festgestellt. Die Folgen dieser Nachteile sind unter anderem eine sehr hohe Zahl von Rechtsstreitigkeiten sowie – partiell – der Verlust der Vorhersehbarkeit von richterlichen Entscheidungen, der wiederum eine Unklarheit über die eigenen Rechte und Pflichten bei den Arbeitsvertragsparteien verursacht. Will man diese Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen, stellt man fest, dass im Hinblick auf die Abweichungen vom Prinzip der Marktmäßigkeit und Rechtsstaatlichkeit für den Bürger nur nachteilhafte Folgen festgestellt wurden. Im Rahmen der Abweichungen vom Sozialstaatsprinzip wurden hingegen für die Arbeitnehmer Vor- und Nachteile festgestellt. Sollten in diesem Bereich die Vorteile die Nachteile überwiegen, könnte es sich um einen trade-off zwischen wirtschaftlichen Vorteilen eines wettbewerbsoffenen Systems und den sozialen Vorteilen der Bestandsschutzregeln für die Arbeitnehmer handeln. Sollten hingegen auch in Bezug auf das Sozialstaatlichkeitsprinzip die Nachteile der Abweichung des geltenden Bestandsschutzsystems vom Referenzsystem überwiegen, so bestände die Möglichkeit durch Anpassung der Regeln, ein für alle gesellschaftlichen Gruppen bessere Situation zu ermöglichen. Um beurteilen zu können, ob es sich bei der Beurteilung der Folgen des geltenden Bestandsschutzes um einen trade-off zwischen wirtschaftlichen Nachteilen 249

Vgl. Mantzavinos, C. / Vanberg, V. (1996), S. 328 f.

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

und sozialen Vorteilen handelt oder aber um eine Situation in der durch Veränderung der Regeln ein für alle besseres ,Spiel‘ möglich ist, soll noch einmal auf den Grundgedanken des sozialen Schutzes des Arbeitnehmers durch den Bestandsschutz zurückgegriffen werden. Der Grundgedanke ist, dass man den Wettbewerb der Arbeitnehmer untereinander begrenzt, um so ihren Handlungsspielraum gegenüber dem Arbeitgeber zu vergrößern. Grundsätzlich ist das Interesse einer Gruppe – hier der Arbeitnehmer – nach Wettbewerbsschutz und der damit verbundenen Stabilität und Sicherheit wegen geringerer Anpassungsnotwendigkeit an veränderte Umweltbedingungen verständlich. Die Unsicherheit und Belastung jedes Einzelnen wächst, je stärker er dem Wettbewerb mit anderen ausgesetzt ist. Folglich empfindet er es als angenehm, wenn er selbst vor Wettbewerb geschützt wird und deshalb keinem oder nur geringerem Anpassungsdruck unterliegt. Fraglich ist aber, ob dieser Wettbewerbsschutz im konsensfähigen Regelinteresse der Bürger insgesamt liegen kann. Interpretiert man den Wettbewerbsschutz in dem ursprünglich beabsichtigten Interesse des Gesetzgebers durch die Beschränkung des Wettbewerbs unter den Arbeitnehmern, deren Position gegenüber dem vermeintlich stärkeren Arbeitgeber zu stärken, kann dies im konsensfähigen Interesse der Bürger liegen. Ein prinzipieller Schutz des Schwächeren gegen einen Stärkeren kann unter Umständen dazu führen, dass es zu ,faireren‘ Vertragsbedingungen kommt. Dieser Gedanke wurde ausführlich in diesem Kapitel unter I analysiert. Auch wenn kein besonderer Grund für die Annahme einer besonderen Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer gefunden wurde, so wurde festgestellt, dass es in gewissen Situationen auf dem Arbeitsmarkt durchaus zu Machtübergewichten des Arbeitgebers kommen kann. Geht man davon aus, dass sich die Bürger bei einer Regelwahl sowohl hinsichtlich ihrer eigenen Position als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer als auch hinsichtlich der generellen Situation auf dem Arbeitsmarkt unsicher sind (Schleier der Unsicherheit oder Ungewissheit) und nicht riskieren wollen als Arbeitnehmer ohne Bestandsschutz in einer Arbeitsmarktsituation mit hoher Arbeitslosigkeit zu leben, so könnte ein entsprechend interpretierter Bestandsschutz als im konsensfähigen Interesse aller liegend eingeschätzt werden. Bei näherer Untersuchung der festgestellten Folgen des bestehenden Bestandsschutzsystems ergeben sich allerdings Zweifel, ob der geltende Bestandsschutz tatsächlich in erster Linie ein Schutz der Arbeitnehmer gegen den in bestimmten Situationen überlegenen Arbeitgeber darstellt. Der Kern des Bestandsschutzes, nämlich der Wettbewerbsschutz der Arbeitnehmer untereinander wird insbesondere bei Änderungen der externen Bedingungen relevant. Insofern ist der Bestandsschutz ein partieller Schutz gegen Veränderungen. Immer wenn sich die Bedingungen der Umwelt ändern – und dies geschieht in Zeiten der Globalisierung immer häufiger und schneller – müssen sich Volkswirt-

C. Zusammenfassung und Bewertung der geltenden Bestandsschutzregeln

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schaften, Branchen oder einzelne Unternehmen den veränderten Bedingungen anpassen. Dabei bestehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Einerseits kann man die Anpassung den direkt Betroffenen selbst überlassen. Andererseits kann man aber auch versuchen, die direkt Betroffenen zu entlasten, indem man ihnen einen partiellen Wettbewerbsschutz durch Protektion gewährt oder sie durch Subventionen zumindest teilweise von den Folgen der Anpassung freihält. Welche Alternative auch immer gewählt wird, eine Anpassung ist unausweichlich.250 Unter dem Gesichtspunkt der Anpassung stellt der Bestandsschutz einen Versuch dar, die Folgen der auf die Betriebe einwirkenden Umweltveränderungen den Arbeitnehmern abzunehmen und zwar indem man deren Entlassung oder Lohnreduzierung verhindert oder erschwert. Anders ausgedrückt: Man gewährt ihnen eine Protektion in Form des Schutzes gegen Konkurrenz. Solche Protektionen bedeutet aber immer, dass man die Nachteile der erforderlichen Umweltanpassung auf andere verlagert, indem man deren Einkommen oder Handlungsmöglichkeiten beschneidet, was für die Betroffenen nachteilige Wirkungen hat. Die Nachteile für die Arbeitgeber wurden bereits angesprochen. Daneben bringen die Regeln des Bestandsschutzes insbesondere denen Nachteile, die in keinem Normalarbeitsverhältnis mit gesetzlichem Kündigungsschutz beschäftigt sind. Dies sind z. B. Arbeitsuchende und Beschäftigte in Nicht-Normalarbeitsverhältnissen. Dabei werden die Personengruppen mit besonderen Risikomerkmalen besonders schwer getroffen. Dies beruht insbesondere auf drei Gründen. Erstens wirkt sich der Nettobeschäftigungsverlust dahingehend aus, dass der Arbeitgeber für eine offene Stelle tendenziell mehr Bewerber hat, so dass er es sich leisten kann, auf Bewerber mit Risikomerkmalen zu verzichten. Zweitens wird der Arbeitgeber Personen mit Risikomerkmalen vermehrt ausselektieren, da er für sie wegen des erhöhten Schutzes besonders hohe periodisierte Bestandsschutzkosten berechnet. Drittens werden weniger freie Stellen über den Markt besetzt, da ein gewisser Teil bereits über einen internen Arbeitsmarkt besetzt werden muss. Dadurch sinken die Chancen von Personen ohne Arbeitsverhältnis, eine freie Stelle besetzen zu können. So interpretiert stellt sich der Bestandsschutz nicht mehr als Schutz des Schwächeren gegenüber dem Stärkeren dar. Vielmehr zeigt sich, dass der Bestandsschutz nicht für alle Arbeitnehmergruppen Vorteile mit sich bringt. Er stellt sich im Gegenteil als ein Schutz der Arbeitsplatzbesitzer mit Normalarbeitsverhältnis und Kündigungsschutz gegenüber den Arbeitsuchenden dar, die zum Großteil aus sozialen Problemgruppen wie Langzeitarbeitslosen, gesundheitlich Angeschlagenen, Personen ohne Ausbildung etc. bestehen. Im Wettbewerb um Arbeitsplätze haben die bereits Beschäftigten mit Normalarbeitsverhältnis den Vorteil, dass der Arbeitgeber sie nicht gegen andere Arbeitnehmer ersetzen kann. Zudem haben sie auch den ersten Zugriff auf neue Arbeitsplätze in ihrem Unternehmen, wenn gleichzeitig Arbeitsplätze in ihrem Bereich abgebaut werden. So betrachtet stellt der Bestands250

Vgl. dazu Vanberg, V. (1997b), S. 20.

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3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

schutz ein Privileg der Inhaber von Normalarbeitsplätzen gegenüber Arbeitsuchenden und Beschäftigten mit Nicht-Normalarbeitsverhältnissen dar. Versucht man nunmehr diesen Sachverhalt danach zu beurteilen, ob die zugrundeliegenden Regeln dem konstitutionellen Interesse der Bürger entsprechen, ist die Entscheidung klar. Auch wenn es, wie oben [Kapitel 1 Abschnitt B. II.] dargelegt, noch kein einheitliches Modell zur Beurteilung der konsensfähigen Interessen der Bürger gibt, wird in der Constitutional Economy meist mit dem Hinweis auf einen Schleier des Nichtwissens oder der Ungewissheit251 gearbeitet. Sinn dieses wie auch immer gearteten Schleiers ist es, dem Einzelnen zu verbergen, wie er von der zu wählenden Regel bzw. dem System selber persönlich betroffen wird. Dadurch wird er in seinem eigenen Interesse die Regeln neutral bewerten. Orientiert an diesem neutralen Beobachter lässt sich aufgrund dieser Erwägung die These aufstellen, dass das geltende Regelsystem nicht im konstitutionellen Interesse der Mitglieder der Jurisdiktion liegt. Es macht aus der Sicht eines neutralen Beobachters keinen Sinn, die relativ starke Gruppe der Arbeitsplatzbesitzer252 mit Normalarbeitsverhältnis zu Lasten der Problemgruppen des Arbeitsmarktes zu begünstigen. Wenn gewisse Anpassungen an veränderte Umweltbedingungen notwendig sind, so kann es kaum sinnvoll sein, die Hauptlast dieser Anpassung gerade der Gruppe der Schwächsten aufzubürden, denen zumeist auch die Anpassung schwerer fallen wird. Dies widerspricht einem wie auch immer definierten Gebot der Fairness253 und es ist kaum anzunehmen, dass ein Individuum, welches nicht genau weiß, wie es selbst betroffen ist, derartigen Regeln zustimmen würde. Auch wenn es hinter dem Schleier der Ungewissheit oder des Nichtwissens grundsätzlich die Chance hat, einer der scheinbar Begünstigten zu sein, würde es voraussichtlich derartige Regeln ablehnen, da deren Nachteile, sollten sie ihn treffen, wesentlich schwerer wiegen, als die eventuellen Vorteile, an denen er als Begünstigter partizipieren könnte. Aber auch wenn man die Vor- und Nachteile der durch das Bestandsschutzsystem scheinbar begünstigten Arbeitsplatzbesitzer mit Normalarbeitsverhältnis betrachtet, erscheinen die Nachteile zu überwiegen. Dem partiellen Wettbewerbsschutz bzgl. ihres Arbeitsplatzes stehen die gesamtwirtschaftlichen Kosten, die u. a. durch den Nettobeschäftigungsverlust verursacht werden, entgegen. Diese Kosten werden über erhöhte Sozialversicherungskosten und Steuern vornehmlich von ihnen getragen. Diese höhere Abgabenbelastung dürfte insbesondere für den Teil 251

Siehe dazu näher Müller, C. (1999), S. 214 ff. und 218 ff. sowie Vanberg, V. (1997b),

S. 27. 252 Dabei beruht die verhältnismäßige Stärke dieser Gruppe nicht nur auf ihrer individuellen Ausstattung in finanzieller Hinsicht oder mit überdurchschnittlichem Humankapital, sondern auch auf der kollektiven Interessenvertretung durch Gewerkschaften und Betriebsrat. 253 Brennan, G. / Buchanan, J. (1993), S. 40 definieren in diesem Zusammenhang eine Regel als ,fair‘, wenn „die Resultate, die mittels dieser Regel zustande kommen, allgemein akzeptabel sind, und zwar unabhängig davon, wo genau ein Teilnehmer sich am Ende befindet.“

C. Zusammenfassung und Bewertung der geltenden Bestandsschutzregeln

233

der Normalarbeitsplatz Inhaber mit auf dem Arbeitsmarkt begehrtem Humankapital die Vorteile des Bestandsschutzes deutlich überwiegen. Für Arbeitnehmer mit Normalarbeitsverhältnis, die kein entsprechendes Humankapital besitzen oder aus anderen Gründen geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, steht dem erhöhten rechtlichen Schutz gegen den Verlust des Arbeitsplatzes neben der erhöhten Abgabenbelastung auch eine höhere Anzahl von potentiellen Konkurrenten als Nachteil gegenüber. Zwar wird ein Arbeitnehmer mit Normalarbeitsverhältnis durch das Kündigungsschutzgesetz weitgehend gegen eine Ersetzung durch Konkurrenten geschützt, aber erstens ist dieser Schutz nicht absolut und zweitens besteht für ihn die Gefahr, nach einem dennoch erfolgten Arbeitsplatzverlust wegen der erhöhten Konkurrenz (Nettobeschäftigungsverlust) und des erschwerten Zugangs von Beschäftigungssuchenden zu freien Stellen (interne Arbeitsmärkte), keinen Arbeitsplatz mehr zu finden. Im Ergebnis stellen sich die Nachteile der Abweichungen des geltenden Bestandsschutzsystems auch im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip als bedeutender als die Vorteile dar. Im Endeffekt stehen damit den wirtschaftlichen Nachteilen des geltenden Bestandsschutzsystems keine sozialen Vorteile gegenüber. Im Gegenteil werden auch die sozialen Vorteile für den einzelnen Arbeitnehmer mit Normalarbeitsverhältnis durch entsprechende Nachteile, insbesondere in Form der höheren Abgabenbelastung und der verschlechterten Chancen nach einer Entlassung, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, überkompensiert. Es handelt sich somit auch nicht um einen trade-off zwischen den wirtschaftlichen Vorteilen eines wettbewerbsoffenen Systems und den sozialen Vorteilen der Bestandsschutzregeln für die Arbeitnehmer. Vielmehr kann das Fazit gezogen werden, dass durch die Abweichungen der geltenden Regeln von den grundlegenden Prinzipien unseres Wirtschaftssystems nachteilige Folgen sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht entstehen. Es besteht zumindest theoretisch die Möglichkeit durch Anpassung der Regeln, eine für alle gesellschaftlichen Gruppen bessere Situation zu ermöglichen. Spieltheoretisch ausgedrückt besteht die Möglichkeit durch Anpassung der Spielregeln, ein für alle besseres Spiel zu spielen. Verdeutlicht werden kann dies anhand einer einfachen Matrix mit nur vier Feldern (I. – IV.), in der jede der Zahlen eine positive Auszahlung an eine von zwei Gruppen sein soll. Vereinfachend soll die erste Gruppe aus den Arbeitnehmern und die zweite aus den Arbeitgebern bestehen. Die gerade dargestellten unterschiedlichen Interessenlagen, insbesondere im Hinblick auf die unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen, bleiben dabei unberücksichtigt. Die jeweiligen Auszahlungen an die Gruppen werden dabei in Abhängigkeit von zwei Faktoren dargestellt. Der erste Faktor ist, ob ein eher starkes Bestandsschutzsystem wie zur Zeit in Deutschland oder aber ein wesentlich schwächeres besteht. Der andere Faktor, der betrachtet werden soll, ist, ob die Arbeitgeber

234

3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

mit einer Einstellungszurückhaltung auf die Veränderung des Bestandsschutzes reagieren. mit starkem Bestandsschutz

ohne starken Bestandsschutz

Einstellungszurückhaltung

I (5 / 5)

II (1 / 8)

keine Einstellungszurückhaltung

III (10 / 1)

IV (8 / 10)

(Auszahlung an AN / Auszahlung an AG)

Die Zelle I soll dabei den momentanen Stand verdeutlichen. Im Vergleich dazu stellt Zelle II den Stand im Falle einer Einschränkung des Bestandsschutzes dar, wenn die Arbeitgeber ihr Verhalten nicht verändern. Dies könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn die Bestandsschutzregeln gerade geändert wurden und die Arbeitgeber ihr Verhalten wegen bestehender Routinen oder wegen einer befürchteten erneuten Regeländerung noch nicht angepasst haben. Im Vergleich zur Situation in Zelle I hat sich die Position der Arbeitnehmer verschlechtert, da sich das Angebot an Arbeitsplätzen nicht vermehrt hat (und die Selektionsund Umgehungsmechanismen des Arbeitgebers nicht geändert wurden), der Wettbewerb um die existierenden Arbeitsplätze aber härter wird. Die Arbeitgeber hingegen haben sich verbessert, da sie im Falle von Entlassungen nicht mehr die hohen Kündigungskosten aufwenden müssen. Passen nunmehr die Arbeitgeber ihr Verhalten den veränderten Rahmenbedingungen an, so ergeben sich die Auszahlungen aus Zelle IV. Durch den Wegfall der Bestandsschutzregeln besteht für die Arbeitgeber nicht mehr die Notwendigkeit einer Einstellungszurückhaltung. Vielmehr passen sie ihre Nachfrage nach Arbeitskräften solange an, bis das um die periodisierten Bestandsschutzkosten verringerte Wertgrenzprodukt den Grenzkosten der Arbeit entspricht. Für die Arbeitnehmer bedeutet dies eine erhöhte Anzahl von Arbeitsplätzen und / oder höhere Löhne und zudem eine verminderte Abgabenlast. Insgesamt ist die Auszahlung sowohl für Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer höher als in den Zellen I oder II. Dies entspricht dem zuvor ermittelten Ergebnis, dass durch Anpassung der Regeln des Bestandsschutzes ein für alle besseres Spiel im Sinne einer höheren Auszahlung möglich ist. Die Zelle III hingegen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Arbeitgeber keine Einstellungszurückhaltung praktizieren, obwohl ein starker Bestandsschutz existiert. Eine solche Situation kann beispielsweise dadurch entstehen, dass plötzlich die Regeln des Bestandsschutzes geändert werden und die Arbeitgeber auf eine solche Regeländerung noch nicht reagiert haben oder die Verhaltensänderung noch keine Wirkung entfaltet hat. Hier ist der Vorteil für die Arbeitnehmer am größten, da der Einzelne gegen einen Verlust seines Arbeitsplatzes gut abgesichert ist, aber (noch) keine Nachteile aus der Verhaltensänderung der Arbeitgeber entstanden sind. Für die Arbeitgeber hingegen ist es die schlechteste Situation. Sie

C. Zusammenfassung und Bewertung der geltenden Bestandsschutzregeln

235

haben solange Arbeitnehmer eingestellt bis das Wertgrenzprodukt ihrer Arbeit (ohne periodisierte Bestandsschutzkosten) den Grenzkosten der Arbeit entspricht. Müssen sie nun, z. B. wegen eines konjunkturellen Abschwungs oder anderen Absatzproblemen, ihre Produktion verringern, können sie die Zahl der Arbeitnehmer nur noch unter den hohen vom Bestandsschutz verursachten Entlassungskosten verringern. Anhand dieser sehr vereinfachten Matrix lassen sich einige Situationen und Geschehnisse verdeutlichen. Zuvor muss aber noch kurz beschrieben werden, wie die Situationen verändert werden können, um von einer Zelle in die nächste zu gelangen. Die Bewegungen zwischen Zelle I und III sowie zwischen II und IV entstehen durch Verhaltensanpassungen der Arbeitgeber an die bestehenden Bestandsschutzregeln. Grundprinzip ist dabei, dass sich die Arbeitgeber bei Einstellungen zurückhalten, wenn ein starker Bestandsschutz existiert. Keine Zurückhaltung üben sie, wenn kein oder nur geringer Bestandsschutz vorhanden ist. Daraus folgt, dass der Zustand in den Zellen II und III nur kurzzeitig erreichbar ist, da danach die Arbeitgeber ihr Verhalten anpassen, so dass auf lange Sicht nur Zelle I und III entsprechende Situationen eingenommen werden können. Die Bewegung zwischen Zelle I und II sowie zwischen III und IV ist nur durch Änderung der Regelordnung möglich. Diese wird durch Politiker und Richter bewirkt. Was lässt sich nun aus der Matrix ablesen? Zunächst, verdeutlicht sie, dass es für alle besser ist, in Zelle IV zu sein als in Zelle I. Dies ist aber nicht erstaunlich, da gerade dies die Erkenntnis der obigen Ausführungen war und mithin Voraussetzung für die entsprechend eingesetzten Auszahlungen. Interessanter ist es, wenn man gewisse politische Vorgänge zu analysieren versucht. Als Beispiel sei das Beschäftigungsförderungsgesetz 1996 genannt. Vor der Verabschiedung dieses Gesetzes war eine Situation die derjenigen in Zelle I entspricht gegeben. Es herrscht ein starker Bestandsschutz und die Unternehmen hielten sich mit Einstellungen zurück. Nunmehr argumentierte insbesondere der Zentralverband des Deutschen Handwerks durch Abschaffung des Bestandsschutzes für Betriebe mit wenigen Beschäftigten könnten eine erhebliche Anzahl von Arbeitsplätzen geschaffen werden. Über Lobbyarbeit gelang es die damalige Regierungskoalition CDU / CSU-FDP von einer Lockerung des Kündigungsschutzes (z. B. Anhebung des Schwellenwertes für die Geltung des Kündigungsschutzgesetzes von 5 auf 10 Arbeitnehmer) zu überzeugen. Das Interesse der Arbeitgeber an diesem Gesetz erklärt sich aus der erhofften erhöhten Auszahlung in den Zellen II und IV gegenüber derjenigen in Zelle I. Die Arbeitnehmer, insbesondere vertreten durch die Gewerkschaften, bekämpften diese Regelung. Hintergrund war, dass sie befürchteten, es käme nicht zu vermehrten Einstellungen. Für sie stellte sich die Veränderung als Verschiebung der Situation von Zelle I in Zelle II dar, wo ihre Auszahlung am geringsten ist. Tatsächlich wurden zunächst auch nur verhältnismäßig wenig Arbeitsplätze geschaffen, was allerdings wie dargestellt an der nur recht kurzen Geltungsdauer des Gesetzes, den Diskussionen um

236

3. Kap.: Ordnungsökonomische Analyse des Bestandsschutzes

seine Abschaffung und die schwierige konjunkturelle Lage gelegen haben kann. Insgesamt bewegte sich die Situation durch Neueinstellungen – nach Studie des DIHT und des ZDH etwa 50.000 – aber langsam in Richtung auf eine Situation in Zelle IV zu. Unabhängig davon, ob Zelle IV schon erreicht werden konnte, konnten die Arbeitnehmer aber eine kurzfristige Verbesserung erzielen, wenn es ihnen gelang die Neuregelungen des BeschfG 1996 wieder aufheben zu lassen. Eine Verhaltensänderung der Arbeitgeber hat nur langfristige Wirkung und so ließ sich durch die Aufhebung der Änderungen eine Situationsverbesserung für die Arbeitnehmer erreichen. Diese Aufhebung gelang über Lobbyarbeit der Gewerkschaften im Zusammenhang mit dem Wahlsieg der SPD in der nächsten Bundestagswahl. Die bereits vorgenommenen Einstellungen ließen sich für die Arbeitgeber nicht mehr rückgängig machen und nun galt der Kündigungsschutz wieder in alter Stärke. Einige Arbeitgeber dürften sich dadurch, in einer Situation, wie in Zelle III beschrieben, befunden haben. Die Einstellungen wurden wegen der verbesserten Regeln des Kündigungsschutzes vorgenommen, danach wurde der Kündigungsschutz wieder verstärkt, so dass der Arbeitgeber das volle Risiko einer eventuell notwendigen Entlassung trägt. Aus diesem Beispiel lässt sich ersehen, dass es für Arbeitnehmer (und damit auch für ihre Interessenvertretung- die Gewerkschaften) Sinn machen kann, sich für eine Verstärkung des Bestandsschutzes einzusetzen, da daraus kurzfristige Vorteile erzielbar sind. Die Nachteile in Form der Verhaltensanpassung der Arbeitgeber tritt erst langsam ein und mag für viele Arbeitnehmer kaum ersichtlich sein. Geht man davon aus, dass die Arbeitnehmer bzw. ihre Interessenverbände eher kurzfristige Vorteile anstreben und unterstellt, dass sie einen stärkeren Einfluss auf die regelsetzenden Gewalten haben, ließe sich sogar zeigen, dass das System des Bestandsschutzes automatisch auf die nicht optimale Situation in Zelle I zustrebt, obwohl alle Beteiligten in einer Zelle IV entsprechenden Situation besser gestellt wären. Ob diese Annahmen hier erfüllt sind, soll aber nicht näher untersucht werden. Vielmehr wollen wir uns in den folgenden Kapitel vornehmlich mit der Regelerstellung durch die Rechtsprechung beschäftigen. Zunächst soll aber das Ergebnis dieses Kapitels noch einmal zusammengefasst werden. Im Hinblick auf die Beeinträchtigung der drei elementaren Prinzipien unserer Wirtschaftsordnung, der dadurch verursachten Wirkungen und ihrer Bewertung müssen die Ergebnisse der Regelsetzung insgesamt und wie gesehen insbesondere die der Rechtsprechung als ordnungspolitisch irrational eingestuft werden. Ordnungspolitisch irrational bedeutet dabei, dass die entsprechenden Regeln nicht im konsensfähigen Interesse der Bürger insgesamt liegen und es grundsätzlich möglich wäre durch bessere Regeln, ein für alle Beteiligten bessere Situation zu schaffen. Auch wenn gewisse Widersprüche und Zielkonflikte unvermeidlich sein dürften, wenn man die drei grundlegenden Prinzipien unseres Wirtschaftssystems gleichermaßen verwirklichen will, sind solche massiven Abweichungen vom Referenzsystem mit ihren weitreichenden negativen Nebenwirkungen nicht zwangsläufig notwendig. Wenn hier die Einschätzung getroffen wurde, dass die Regelsetzung

C. Zusammenfassung und Bewertung der geltenden Bestandsschutzregeln

237

der Richter ordnungsökonomisch irrational ist, darf dies nicht als Vorwurf gegenüber einzelnen Richtern oder der Rechtsprechung insgesamt verstanden werden. Vielmehr beruhen – wie in Kapitel 5 noch zu zeigen ist – die ,Fehler‘ bei der Regelsetzung auf der Regelerstellungsordnung, der der einzelne Richter unterworfen ist und unter der er sich durchaus korrekt verhält. Die Richter reagieren selber nur auf die Rahmenbedingungen, denen sie unterworfen sind. Die Antwort auf die Frage, wo die Fehler in der Regelerstellungsordnung liegen und einige denkbare Ansätze zu deren Korrektur finden sich ebenfalls in Kapitel 5. Dabei ist der Ansatzpunkt sowohl bei der Suche nach Fehlern in der Regelerstellungsordnung als auch bei deren Korrektur die Frage, von welchen institutionellen Veränderungen man eine verlässlichere Berücksichtigung der Bürgerpräferenzen bei der Regelsetzung erwarten kann. Die Einschätzung ordnungsökonomischer Irrationalität richterlicher Regelsetzung im Bestandsschutz beruht bisher auf der Analyse der Gesamtwirkungen. Vervollständigt werden soll die Analyse, wie bereits oben angekündigt, durch eine Einzelanalyse der 10 wichtigsten richterlichen Regelbildungen. Die meisten dieser Regelbildungen bestehen bzw. beinhalten eine Reihe einzelner Teilregeln, die in Kapitel 2 Abschnitte B. II., C. II. und D. II. jeweils einzeln hergeleitet wurden.

4. Kapitel

Einzelwirkungen richterlicher Regelbildungen (TOP 10) Im vorhergehenden Kapitel wurde das Gesamtsystem Bestandsschutz untersucht. Dabei wurde u. a. festgestellt, dass das Hauptproblem nicht der gesetzliche Kündigungsschutz als solcher ist. Für viele Regelungen gibt es durchaus Gründe, auch wenn die angestrebten Ziele meist durch nachteilige Nebenwirkungen überkompensiert werden. Daneben haben die gesetzlichen Regeln eine Reihe sozialpolitisch erwünschter Folgen. Schädlich wirkt aber, wie dargelegt, die extensive Auslegung und Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung. Aus diesem Grunde werden die 10 wichtigsten Aspekte der Rechtsfortbildung bzw. -ausgestaltung durch die Rechtsprechung nunmehr einzeln analysiert.

A. Verhältnismäßigkeits- und ultima-ratio Prinzip Wie oben festgestellt, hat das BAG die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine wirksame Kündigung schrittweise verstärkt und damit die Kündigung entgegen der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers zur ultima-ratio gemacht. Des weiteren wurde bereits festgestellt, dass für einen Kündigungsschutz in Form einer reinen Willkürkontrolle einige Rechtfertigungsgründe i. S. von Bürgerinteressen angeführt werden können, die sich insbesondere aus der Theorie der relationalen Verträge ergeben. Die Willkürkontrolle kann zudem der weithin postulierten Ansicht von der systemimmanenten Unterlegenheit des Arbeitnehmers – die allerdings nur für spezielle Fälle vom Verfasser geteilt wird – Rechnung tragen. Auch wenn die angeführten Gründe eigentlich keine staatliche Zwangsregelung erforderlich machen, erscheint deren Aufstellung insbesondere aus sozialstaatlichen Aspekten durchaus vertretbar. Dies gilt allerdings nicht für die richterrechtliche Übersteigerung, die erhebliche negative Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes hat, was sich insbesondere an drei Aspekten erkennen lässt. Diese sind einmal die Bildung interner Arbeitsmärkte [1.] und zweitens der Kostenfaktor [2.]. Daneben spiegelt sich in dieser richterlichen Rechtsfortbildung die allgemeine Tendenz des Vordringens der Vorstellung von einer materialen gegenüber der formalen Gleichheit wieder [3.].

A. Verhältnismäßigkeits- und ultima-ratio Prinzip

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I. Bildung interner Arbeitsmärkte / Insider-Outsider Theorie Wie schon aufgezeigt, ist es die Hauptaufgabe des Bestandsschutzes, die unterlegene Stellung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber abzumildern. Dies geschieht vorwiegend durch die Beschränkung des Wettbewerbs zwischen den Arbeitnehmern. So ist es in der Rechtsprechung unstrittig, dass eine Austauschkündigung sozial nicht gerechtfertigt ist. Dies bewirkt, dass ein Arbeitnehmer nicht ständig Gefahr läuft, seinen Arbeitsplatz an einen anderen Arbeitnehmer zu verlieren, der dem Arbeitgeber bessere Konditionen (z. B. geringeren Lohn, flexiblere oder längere Arbeitszeiten) bietet. Durch die Unzulässigkeit der Austauschkündigung wird zugleich dem Arbeitgeber ein Drohpotential gegenüber seinen Angestellten genommen, so dass ein eventuelles Machtungleichgewicht verringert wird. Anders hingegen wirkt der Kündigungsschutz bzw. speziell das Verhältnismäßigkeitsprinzip, wenn es, wie durch die Rechtsprechung geschehen, zum ultima-ratio Prinzip ausgebaut wird. Hier wird nicht mehr oder nicht mehr vorwiegend, das Machtungleichgewicht zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber abgebaut, sondern es wird ein Machtungleichgewicht zwischen Arbeitsplatzbesitzern (Insidern) und Arbeitsplatzsuchenden (Outsidern) vergrößert. Daneben kann es durch die Anwendung des ultima-ratio Prinzips zu ordnungspolitisch unerwünschten Eingriffen der Rechtsprechung in die innere Organisation des Betriebes kommen. Als möglicherweise vorrangig gegenüber einer betriebsbedingten Kündigung werden im Rahmen des ultima-ratio Prinzips angesehen: organisatorische Maßnahmen wie Arbeitsstreckung, Abbau von Überstunden, Kurzarbeit, allgemeine Arbeitszeitverkürzung, unbezahlter Urlaub, „auf-Lager-Arbeiten“, vorgezogener Werksurlaub etc., aber auch noch weitergehende Maßnahmen wie Umwandlung der Arbeitsverträge in Teilzeitarbeitsverhältnisse, Kündigung von Leiharbeitsverhältnissen.1 Ordnungsökonomisch macht es keinen Sinn, organisatorische Maßnahmen vom Arbeitgeber zu verlangen, um eine Kündigung zu vermeiden. Einem einzelnen Arbeitnehmer kann kein Anspruch darauf zugebilligt werden, dass die Arbeit im Betrieb so organisiert wird, dass er weiterbeschäftigt werden kann. Für die Auswirkungen einer solchen organisatorischen Maßnahme trägt er keine Haftung. Nachteile einer Umorganisation tragen der Arbeitgeber oder unter Umständen die Gesamtbelegschaft, wenn dadurch auch ihre Arbeitsplätze gefährdet werden könnten oder etwa Kurzarbeit eingeführt werden müsste. Da aber nach ordnungspolitischen Grundsätzen immer der Träger eines Handlungsrechts auch die Haftung für die Folgen der Handlung tragen sollte und umgekehrt, sollte der Arbeitgeber eventuell unter Beteiligung des Betriebsrates, als die Interessenvertretung der Gesamtbelegschaft, die alleinige Entscheidungsbefugnis über die Arbeits- bzw. Betriebsorganisation besitzen. Trifft das Gericht eine Entscheidung über die Möglichkeit einer 1

Vgl. Preis, U. (1988), S. 259 f. mit vielen Verweisen.

240

4. Kap.: Einzelwirkungen richterlicher Regelbildungen (TOP 10)

organisatorischen Maßnahme zur Vermeidung einer Entlassung, so maßt es sich die Rolle eines Überunternehmers an, ohne zugleich für die Folgen der Maßnahmen zu haften, und ohne dass der Richter die fachliche Kompetenz für die Beurteilung der organisatorischen Maßnahmen hat. Auch die Vorrangigkeit einer anderweitigen Beschäftigung gegenüber einer Kündigung, soweit sie durch Gesetz angeordnet und von der Rechtsprechung verstärkt wurde, ist ordnungspolitisch nicht zu rechtfertigen. Eine Voraussetzung für die Pflicht des Arbeitgebers zur anderweitigen Beschäftigung ist, dass der (oder ein) konkrete Arbeitsplatz entfallen ist oder der Arbeitnehmer nicht mehr geeignet ist, diesen auszufüllen, auf der anderen Seite aber ein noch nicht besetzter anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht. In dieser Situation tritt das Machtungleichgewicht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Bezug auf das konkrete Arbeitsverhältnis in den Hintergrund, da dieses in der bisherigen Form sowieso nicht fortgesetzt werden kann, sondern neu definiert werden muss. Im Vordergrund steht in diesem Fall vielmehr der Widerstreit der Interessen des möglicherweise zu kündigenden Arbeitnehmers und anderer Bewerber um den unbesetzten Arbeitsplatz. Durch die Weiterbeschäftigungspflicht wird dieser Arbeitsplatz für Outsider gesperrt. Hier greift das Kernargument des Kündigungsschutzes, der Arbeitnehmer müsse vor Wettbewerb geschützt werden, um dem Arbeitgeber bei der Ausgestaltung des konkreten Arbeitsverhältnisses nicht unterlegen zu sein, nicht mehr. Vielmehr bedeutet hier die Pflicht zur Weiterbeschäftigung eine Verstärkung der sowieso schon vorhandenen Machtposition der Insider gegenüber den Outsidern, ohne dass der Arbeitgeber gehindert würde, die Vertrags- / Arbeitsbedingungen neu festzusetzen. Bezogen auf den Arbeitsmarkt als Ganzes bedeutet dies eine weitere erhebliche Einschränkung des Prinzips des freien Marktzugangs. Der Marktzugang ist für Arbeitsuchende bzw. Wechselwillige nun nicht nur auf unbesetzte Stellen eingeschränkt, sondern auf Stellen, die intern nicht besetzt werden können bzw. müssen. Dies bedeutet eine weitere institutionelle Stärkung der Insider gegenüber den Outsidern, die diese – folgt man der Insider-Outsider Theorie – dazu nutzen, Löhne durchzusetzen, die über dem Vollbeschäftigungslohnniveau liegen. Die Folge ist Hochlohnarbeitslosigkeit. Ein weiteres Problem der Bildung interner Arbeitsmärkte ist darin zu sehen, dass sie am Entstehen von Persistenz- und Hystereseproblemen am Arbeitsmarkt mitwirken. Interne Arbeitsmärkte bewirken für die bereits Beschäftigten, eine Verringerung der Wahrscheinlichkeit arbeitslos zu werden. Als automatische Folge davon wird aber – gesamtwirtschaftlich gesehen – die Fluktuation der Arbeitskräfte reduziert. Da nur noch ein Teil der frei werdenden Stellen über den externen Arbeitsmarkt besetzt wird, sinkt zugleich die Umschlagshäufigkeit der Arbeitslosen, d. h. selbst bei der Annahme einer konstanten Arbeitslosenquote nimmt die durchschnittliche Länge der Arbeitslosigkeit zu, da diese sich auf immer weniger Personen verteilt, die aber längere Zeit arbeitslos sind. Auf Grund der mit der längeren

A. Verhältnismäßigkeits- und ultima-ratio Prinzip

241

Arbeitslosigkeit verbundenen Entwertung des Humankapitals und der negativen Signalling-Wirkung längerer Arbeitslosigkeit besteht nunmehr die Gefahr, dass sich friktionelle oder suchtheoretisch begründete Arbeitslosigkeit in persistente Langzeitarbeitslosigkeit verwandelt.2

II. Kostenfaktor Der Kostenfaktor des Bestandsschutzsystems wurde bereits in Abschnitt B. I. 1. a) aa) dieses Kapitels ausführlich diskutiert. Daher können wir uns hier mit der Feststellung begnügen, dass ein Großteil dieser Kosten durch das ultima-ratio Prinzip verursacht wird. Dies gilt für praktisch alle Arten von Kosten, die durch den Kündigungsschutz verursacht werden. In Abschnitt B. I. 1. a) aa) haben wir zwischen Kosten, die infolge der Verhinderung oder Verzögerung von Entlassungen entstehen und erhöhter Kosten bei trotzdem durchgeführten Vertragsbeendigungen unterschieden. An der Entstehung der ersten Art von Kosten wirkt das ultima-ratio Prinzip mit, da es verhindert, dass weniger produktive oder teure Arbeitnehmer durch produktivere oder billigere ersetzt werden. Dies ist einerseits eine Folge der Unzulässigkeit von Austauschkündigungen, andererseits aber vor allem auch des Erfordernisses der Weiterbeschäftigung von bereits Angestellten, deren ursprüngliche Arbeitsplätze wegfallen. Dadurch ist es dem Arbeitgeber nicht möglich, andere vielleicht geeignetere Bewerber einzustellen. Gegebenenfalls muss er auch noch Umschulungskosten für den Weiterzubeschäftigenden tragen. Daneben werden für den Arbeitgeber auch die Kosten von Kündigungen erhöht. So steigen die administrativen Kosten ganz erheblich, wenn nicht nur der Grund für eine Kündigung dargelegt werden muss, sondern auch überzeugend dargestellt werden muss, warum der Rückgriff auf eine ganze Reihe von theoretisch vorhandenen Vermeidungsstrategien (Umsetzung, Abbau von Leiharbeit, Kurzarbeit, etc.) ausgeschlossen ist. Auch die Häufigkeit und die Höhe von Entlassungsentschädigungen steigt mit der Entwicklung des ultima-ratio Prinzips, da sich dort die gestiegene Erfolgswahrscheinlichkeit einer Klage gegen die Kündigung niederschlagen. Dies zeigt sich z. B. in der üblichen Formel für die Berechnung einer Entlassungsentschädigung im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs, die üblicherweise folgendermaßen lautet: Entlassungsentschädigung = Monatsgehalt * Anzahl der Beschäftigungsjahre im Betrieb * Multiplikator Der Multiplikator spiegelt dabei die Chancen einen Prozess zu gewinnen wider. Er beträgt 1, wenn das Prozessrisiko ausgeglichen ist, ist größer eins bei hohen Chancen des Arbeitnehmers und kleiner eins bei geringen Chancen des Arbeitneh2

Vgl. zu dieser Argumentation auch Pfahler, T. (1995), S. 303 f.

16 von Klitzing

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4. Kap.: Einzelwirkungen richterlicher Regelbildungen (TOP 10)

mers. Die Durchsetzung des ultima-ratio Prinzips dürfte insofern einen wesentlichen Anteil am Ansteigen der Entlassungsentschädigungen haben, die, wie festgestellt, von etwa 0,1% der gesamten Personalkosten im Jahre 1972 auf mittlerweile mehr als 1% angestiegen ist. Die Verbesserung der Erfolgschancen eines Arbeitnehmers bewirkt zudem ein Ansteigen der Rechtsdurchsetzungskosten, da der Anreiz, eine Kündigungsschutzklage zu erheben steigt.

III. Formale contra materiale Gerechtigkeit An der Ausgestaltung der Kündigungsvorschriften durch die Rechtsprechung mit Hilfe des ultima-ratio Prinzips lässt sich eine, in der Ordnungsökonomie viel diskutierte Problemstellung erkennen. Das angesprochene Problem wird unter den unterschiedlichsten Begriffspaaren diskutiert: Streit3 diskutiert es unter den Begriffen Verhaltens- und Verteilungsgerechtigkeit und ordnet diesen die Begriffe formale und materiale Gerechtigkeit zu. Auch Hayek4 diskutiert dieses Problem. Er stellt den Begriffen Privatrecht und Verhaltensregeln die Begriffe öffentliches Recht und Organisationsregeln gegenüber. Vielleicht etwas weniger deutlich wird der Gegensatz in der Rechtswissenschaft herausgearbeitet. Das grundsätzliche Spannungsverhältnis von materialer und formaler Gerechtigkeit sprechen aber z. B. Hesse und Degenhardt an.5 Im Kern geht es allen genannten Autoren um das gleiche Problemfeld, nämlich um die Frage inwieweit sich das Postulat der gleichen Rechte für alle (Gleichheit vor dem Gesetz) mit dem Postulat der Verteilungsgerechtigkeit verträgt. Für den Bereich des Kündigungsschutzes würde das erste Postulat eigentlich bedeuten, dass gesetzlich die gleichen Kündigungsregeln für Arbeitgeber wie für Arbeitnehmer und vor allem die gleichen Regeln für alle Arbeitnehmer gelten müssten. Nach der Verteilungsgerechtigkeit hingegen würde sich die Verteilung der Handlungsrechte nach dem gewünschten Ergebnis richten. In Betracht kommt dabei insbesondere eine Verteilung nach Bedarf. Konkret heißt dies, die Kündigungsrechte könnten je nach Bedarf für Arbeitgeber stärker als für Arbeitnehmer beschränkt sein und innerhalb der Arbeitnehmerschaft könnten sozial Schutzbedürftige stärker abgesichert werden als weniger Schutzbedürftige. Ziel dabei wäre es, den Personen einen Arbeitsplatz zu erhalten, die am meisten auf ihn angewiesen sind. Bei Erlass des Kündigungsschutzgesetzes hat sich der Gesetzgeber zu einem Kompromiss entschieden. Einerseits machte er die Wirksamkeit der Kündigung davon abhängig, dass sie nicht „sozial ungerechtfertigt ist“, andererseits wollte er 3 4 5

Streit, M. (1988), S. 52. v. Hayek, F. (1969), S. 191 f. Vgl. Hesse, K. (1995), § 6 RN 214 f. und Degenhardt, C. (1997), § 4 RN 365 ff.

A. Verhältnismäßigkeits- und ultima-ratio Prinzip

243

damit keine Behinderung oder Verzögerung notwendiger Kündigungen bewirken, sondern nur einen Willkürschutz installieren. Hier liegt somit der Schwerpunkt noch auf dem formalen Recht, da nur Extremfälle korrigiert werden sollen. Wie oben geschildert, entwickelte aber die Rechtsprechung die eigentlich beabsichtigte Willkürkontrolle fort. Sie wendet die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der ultima-ratio an. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip wiederum zerfällt in drei Untergrundsätze, nämlich den der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit i. e. S. oder auch (Angemessenheit). Geeignet ist ein Mittel, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann. Dieser Untergrundsatz ist noch rein formaler Natur. Erforderlich ist unter mehreren Mitteln immer nur jenes, das den Einzelnen am wenigsten beeinträchtigt. Hier kommen bereits erste Ansätze für materiales Recht zum Vorschein, da auf die Wirkungen des Mittels abgestellt wird. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i. e. S. bedeutet, dass das Mittel nicht außer Verhältnis zum Zweck stehen darf, d. h. es muss angemessen sein. Dazu müssen Mittel und Zweck gegeneinander abgewogen werden. Bei einem Überwiegen der durch das Mittel hervorgerufenen Nachteile hat die erwogene Maßnahme zu unterbleiben.6 Hier ist der Widerstreit zwischen materialem und formalem Recht bereits eindeutig zugunsten des materialen Rechts verschoben. Es stellt wie es Preis7 ausdrückt: „. . . eine bloße Weiterverweisung der Rechtsfindung an den Richter dar, der unter Heranziehung anderer Wertmaßstäbe einen Rechtssatz im konkreten Fall erst ermitteln muß.“ Die dabei herangezogenen Wertmaßstäbe sind dabei folgenorientiert, wobei insbesondere der Grad der sozialen Schutzbedürftigkeit von Bedeutung ist. Noch deutlicher wird die starke Betonung des materialen Rechts, wenn man den Grundsatz der ultima-ratio betrachtet. Danach kommt eine Kündigung nur „als äußerstes Mittel erst in Betracht, wenn keine Möglichkeit zu einer anderweitigen Beschäftigung, unter Umständen auch mit schlechteren Arbeitsbedingungen, besteht.“8 Hier hat sich das Verhältnis zwischen materialem und formalem Recht i. S. von Streit umgekehrt. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses als Folge einer wirksamen Kündigung wird als im Prinzip unerwünscht angesehen. Daher wird die Zulässigkeit davon abhängig gemacht, dass keine andere Möglichkeit besteht. Von der Struktur her ist nun nicht mehr das materiale Recht die letzte Korrektur des formalen (Handlungs-)Rechts, sondern das formale Handlungsrecht ist nur noch das äußerste Mittel, den aufgrund einer materialen Würdigung als erwünscht angesehenen Zustand zu verändern, wenn er aufgrund wirtschaftlicher Aspekte untragbar (unzumutbar) ist. Hier zeigt sich geradezu idealtypisch, wie „das materiale das formale Recht säkulär auszuhöhlen tendiert“9 oder – anders ausgedrückt- wie die ergebnisorien6 7 8 9

16*

Siehe zum gesamten Verhältnismäßigkeitskomplex Preis, U. (1987), S. 265 ff. Preis, U. (1987), S. 268. BAG v. 30. 5. 1978. Streit, M. (1988), S. 51.

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4. Kap.: Einzelwirkungen richterlicher Regelbildungen (TOP 10)

tierte die verhaltensorientierte Rechtsgestaltung verdrängt. Wenn man sich nun noch vergegenwärtigt, dass die Einschränkung des Kündigungsrechts des Arbeitgebers durch die Generalklausel „sozial ungerechtfertigt“ ermöglicht wird, so bestätigt sich die Hayeksche Kennzeichnung des Wortes sozial als „Wieselwort“. Diese Bezeichnung wählte Hayek, da ein Wiesel in der Lage sei, ein Ei auszutrinken, ohne dass an der Schale eine sichtbare Spur zurückbleibe.10 Tatsächlich ist von dem, vom Gesetzgeber beabsichtigten, nur gering beschränkten Kündigungsrecht viel inhaltliche Handlungsfreiheit abhanden gekommen, ohne dass sich der Gesetzeswortlaut – quasi die Schale des Eies – verändert hätte. Die wirtschaftlichen Folgen der Verdrängung des formalen Rechts durch das materiale Recht sind im Abschnitt B. I. vielfach sichtbar geworden. Streit11 fasst diese Wirkungen wie folgt zusammen: „Zugleich führt die Abhängigkeit einer funktionsfähigen marktmäßigen Koordination von den formalrechtlichen Rahmenbedingungen dazu, dass mit der Verdrängung des Formalrechts eine Art kollektive Selbstschädigung durch Schwächung des ökonomischen Allokationsverfahrens als Folge der Aushöhlung der Privatautonomie fortschreitet.“

IV. Bewertung Die Bewertung des ultima-ratio Prinzips fällt im wesentlichen genauso aus, wie die Bewertung des Bestandsschutzes im Ganzen. Der Grund dafür ist darin zu suchen, dass sich alle wesentlichen Wirkungen des Bestandsschutzes beim ultimaratio Prinzip wiederfinden lassen. Den sozialen ,Errungenschaften‘ für die Arbeitnehmer mit Normalarbeitsverhältnis, die in einem größeren Betrieb beschäftigt sind, stehen die Nachteile für Arbeitslose und Randbelegschaft gegenüber. Deutlich wird dies insbesondere daran, dass aufgrund des ultima-ratio Prinzips die Weiterbeschäftigungspflicht des Arbeitgebers entwickelt und damit die grundsätzliche Bevorzugung eines vorher Beschäftigten gegenüber einem Arbeitsuchenden zementiert wurde. Eine eindeutige Benachteiligung der Randbelegschaft stellt es auch dar, wenn wie gefordert wird, vor der Entlassung eines Festangestellten, Zeitarbeit abgebaut werden muss. Neben einer Benachteiligung der sozial Schwächeren zeigen sich auch die negativen Folgen der erhöhten Kostenbelastung der Arbeitgeber in Form der Veränderung der Einstellungsbereitschaft. Im Ergebnis lässt sich daher auch hier die These aufstellen, dass ein neutraler Beobachter die ultimaratio Regel ablehnen würde. Es wäre in seinen Augen sinnlos, gerade die schwächsten Gruppen mit notwendigen Anpassungen zu belasten und dafür sogar 10 Vgl. Streit, M. (1988), S. 47 und Karpen, U. (1988), S. 63 über einen Vortrag Hayeks. Siehe dazu auch Vanberg, V. (1988), S. 25. 11 Streit, M. (1988), S. 50.

B. Umfassende Interessenabwägung

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noch Netto-Wohlfahrtsverluste hinzunehmen, die im Ergebnis alle Jurisdiktionsmitglieder treffen.12

B. Umfassende Interessenabwägung Wie oben festgestellt, vertritt das BAG den Standpunkt, dass erst eine umfassende Abwägung der Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer ergeben könne, ob eine Kündigung sozial gerechtfertigt sei. Auch in der Verankerung dieses Prinzips durch die Rechtsprechung zeigt sich das Vordringen des materialen (ergebnisorientierten) Rechts. In seiner wohl ersten Begründung zur Notwendigkeit der Interessenabwägung13 gab das BAG an, dass dem Arbeitgeber Kündigungen verwehrt seien, „wenn die zu erwartenden Vorteile zu den Nachteilen, die sich für den betroffenen Arbeitnehmer ergeben, in keinem vernünftigen Verhältnis stehen.“14 Durch das Erfordernis dieser umfassenden Interessenabwägung wird der weite Spielraum, den der Wortlaut des § 1 II KSchG ohnehin bietet, eher erweitert als präzisiert. Interessant ist es, wenn man die Umsetzung dieses Prinzips darauf analysiert, wie es auf die Qualität der Regelbildung wirkt und somit, ob es im Interesse der Bürger an einer für sie wünschenswerten Regelordnung liegt. Grundsätzlich haben Regeln – wie wir in Kapitel 1 Abschnitt B. gesehen haben – den Sinn, die laufenden Entscheidungen der einzelnen Wirtschaftsubjekte sicherer und für andere vorhersehbarer zu machen. Dadurch sinken die Entscheidungsfindungskosten, verringert sich das Risiko von Fehlentscheidungen und es wird den Wirtschaftssubjekten möglich, eine Vorausverpflichtung einzugehen, wodurch die Zeitkonsistenz einer Entscheidung sichergestellt werden kann und die Transaktionskosten sinken. Fraglich ist nun, wie das Prinzip der umfassenden Interessenabwägung auf dies wünschenswerten Eigenschaften von Regeln wirkt. Als Vorteil einer einzelfallorientierten Abwägung lässt sich vielleicht anführen, dass es insbesondere für Arbeitnehmer einfacher sein mag, ein Urteil als gerecht anzusehen, wenn alle Besonderheiten ihres Falles vom Richter gewürdigt werden. Dies könnte positive Rückwirkungen auf den Rechtsfrieden haben. Je eher eine Partei glaubt, dass ein Richter alle Umstände gewürdigt hat, um so eher wird diese Partei auf eine Anfechtung dieses Urteils im Rahmen einer Berufung oder Revision verzichten. Auf der anderen Seite ist aber zu bedenken, welche Folgen das Prinzip auf die Steigerung der Vorhersehbarkeit von Entscheidungen und damit die wichtigste Eigenschaft von Regeln hat. Die Folgen einer Regel, die auf eine Abwägung aller 12 Spieltheoretisch gesprochen besteht die Möglichkeit, durch Abschaffung des ultimaratio Prinzips, ein für alle besseres Spiel zu ermöglichen. 13 So Preis, U. (1987), S. 195. 14 BAG v. 26. 2. 1957, BAGE 4, 1 (4) und v. 4. 2. 1960, BAGE 9,36 (42 f.).

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Umstände des Einzelfalls abstellt, sind nur schwer vorhersehbar, da die Abwägung auf Grund der vielen Faktoren zu individuell von der einzelnen Person (Richter) abhängig sein wird. Aufgrund der mangelnden Vorhersehbarkeit gehen die angesprochenen Vorteile von Regeln verloren. Dies lässt sich am Beispielsfall des Arbeitsvertrages und der personen- / verhaltensbedingten Kündigungsgründe folgendermaßen darstellen: Hat sich ein Arbeitnehmer in den Augen seines Arbeitgebers falsch verhalten, da er beispielsweise eine bestimmte Anzahl von Tagen zu spät zur Arbeit gekommen ist, stellt sich diesem die Frage, ob er ihn entlassen kann. Besteht eine feste Regel, so kann er dies selbst oder mit Hilfe eines Anwalts recht unproblematisch und daher billig feststellen. Besteht hingegen der Grundsatz der umfassenden Interessenabwägung, wird er nicht wissen, ob eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses möglich ist. Auch eine bereits teurere Anwaltsauskunft – die Transaktionskosten steigen – wird keine endgültige Sicherheit bringen. Daher muss der Arbeitgeber die Entscheidung über eine Kündigung unter Unsicherheit über deren Wirksamkeit treffen – das Risiko der Fehlentscheidung wächst. Aber auch für den Arbeitnehmer bringt das Prinzip der Einzelfallabwägung Nachteile mit sich. Zunächst einmal weiß auch er nicht genau, ab welchen Versäumnissen seinerseits oder ab welcher (krankheitsbedingten) Abwesenheitsquote der Arbeitnehmer berechtigt ist, ihm zu kündigen. Es ist für ihn kaum möglich, sein Verhalten darauf abzustellen. Auch für den Fall, dass es zu einer Kündigung kommt, ist es für den Arbeitnehmer schwer zu beurteilen, wie er sich verhalten soll. Kann er wegen der vom Richter vorzunehmenden Einzelfallabwägung nicht übersehen, ob eine Kündigungsschutzklage Erfolg haben wird, kann er sein Verhalten auch nicht entsprechend darauf einrichten. Für ihn ist es nicht ersichtlich, ob er sofort nach der erfolgten Kündigung alle Energie in die Suche nach einer neuen Beschäftigung investieren soll oder ob es nicht effektiver ist, zunächst zu versuchen über eine Kündigungsschutzklage in seiner alten Beschäftigung zu verbleiben. Ähnlich geht es dem Arbeitgeber. Kündigt er einem Arbeitnehmer, z. B. wegen verhaltensbedingter Kündigungsgründen, so ist es für ihn wegen der erforderlichen Interessenabwägung nur schwer abzuschätzen, ob und wann er einen neuen Mitarbeiter einstellen kann. Solange der Kündigungsschutzprozess andauert und sein Ergebnis nicht mit hinreichender Sicherheit abgeschätzt werden kann, trifft ihn das Risiko, im Falle einer Neueinstellung auch den gekündigten Mitarbeiter weiterbeschäftigen zu müssen und somit den Arbeitsplatz doppelt besetzen zu müssen. Wägt man die Vorteile der Interessenabwägung im Einzelfall – Förderung des Rechtsfriedens – gegen die negativen Wirkungen – Destabilisierung der Erwartungsbildung und damit Risiko von Fehlentscheidungen sowie erhöhte Kosten z. B. für Rechtsberatung – ab, so erscheint das Prinzip, nicht im Interesse der Bürger zu liegen. Dies gilt insbesondere, da durch die dargestellte Unsicherheit über die potentielle Entscheidung eines Richters hinsichtlich des Vorliegens von Kündi-

C. Prognoseprinzip und Abmahnung bei verhaltensbedingter Kündigung

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gungsgründen die Anzahl der Rechtsstreitigkeiten erheblich zugenommen haben dürfte und gerade damit der eigentliche Vorteil einer Interessenabwägung im Einzelfall, nämlich die Steigerung des Rechtsfriedens, wiederum beeinträchtigt wird. Ein intensives Abstellen auf die Umstände des Einzelfalls verhindert die rechtssicherheitsstiftende und erwartungsstabilisierende Präzedenzwirkung von Urteilen oder allgemeiner Regeln. Das Prinzip der umfassenden Interessenabwägung im Einzelfall setzt einen Anreiz, jeden strittigen Fall erneut in einem Gerichtsverfahren zu klären, auch wenn er gewisse Ähnlichkeiten mit früher entschiedenen Fällen hat. Aus diesem Grund – Verlust der Vorhersehbarkeit – sind das Prinzip der umfassenden Interessenabwägung und das ultima-ratio Prinzip auch die vielleicht wichtigsten Ursachen, dafür, dass die Klagerate und die Rechtsunsicherheit im Bestandsschutzsystem steigt. Im Hinblick auf die Wirkungen des Prinzips der umfassenden Interessenabwägung liegt dieses also nicht im konstitutionellen Interesse der Bürger. Ein Indiz dafür, dass dies auch die Arbeitsvertragsparteien so beurteilen und eine einfachere und klarere Handhabung ihrer Streitigkeiten bevorzugen, ist die weit verbreitete Abfindungspraxis. Dabei werden regelmäßig die Chancen einer Kündigungsschutzklage nur summarisch abgeschätzt und gerade nicht die besonderen Umstände des Einzelfalles umfassend gewürdigt. Anhand dieser Abwägung wird dann ein Vergleich über die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen eine Abfindung geregelt.

C. Prognoseprinzip und Abmahnung bei verhaltensbedingter Kündigung Die wirtschaftlichen Wirkung der richterrechtlichen Rechtsfortbildung durch Einführung des Prognoseprinzips und des Abmahnungserfordernisses bei verhaltensbedingten Kündigungen soll anhand einer Arbeitsmarkttheorie aufgezeigt werden. Dies ist die schon dargestellte Effizienzlohntheorie [siehe Kapitel 1 Abschnitt A. III. 8.]. Wie oben dargestellt, geht die Effizienzlohntheorie davon aus, dass der Arbeitgeber die Lohnhöhe als Parameter einsetzt, um z. B. Drückebergerei (shirking) am Arbeitsplatz zu verhindern bzw. zu vermindern. Dies tut er nach dieser Theorie, da der Arbeitnehmer seinerseits abwägt, ob er die vereinbarte Arbeitsleistung erbringt oder ob er nur einen geringeren Arbeitseinsatz realisiert. Für das Erbringen eines geringeren als des vereinbarten Arbeitseinsatzes spricht, dass er für den Arbeitnehmer angenehmer ist. Er kann sich anderen Beschäftigungen, wie z. B. längeren Kaffeepausen, Gesprächen mit Kollegen, privaten Telefonaten, etc. vermehrt widmen oder auch die Freizeit ausdehnen (z. B. Verspätungen am Arbeitsplatz). Nachteil eines verringerten Arbeitseinsatzes ist die Gefahr, erwischt zu werden und wegen einer diesbezüglichen Kündigung, Einkommenseinbußen hinnehmen zu müssen.

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Nach dieser Theorie wird ein Arbeitnehmer daher den vereinbarten Arbeitseinsatz erbringen, wenn der erwartete Verlust aus einer Entdeckung größer ist als der potentielle Nutzen aus mangelhaftem Arbeitseinsatz. Der erwartete Verlust einer Entdeckung ist dabei abhängig von der Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden, der Wahrscheinlichkeit, aufgrund der Entdeckung entlassen zu werden und dem Einkommensnachteil, der durch die Entlassung droht. Dieser Nachteil ist wiederum abhängig von der Differenz des aktuellen Lohnes zum Erwartungswert des Einkommens nach einer Entlassung (abhängig von der Wahrscheinlichkeit eine neue Beschäftigung zu finden und z. B. der Höhe der Arbeitslosenunterstützung). Für die Beurteilung des Kündigungsschutzes bzw. des Prognoseprinzips und des Abmahnerfordernisses ist die Wahrscheinlichkeit, aufgrund der Entdeckung der Drückebergerei entlassen zu werden, entscheidend. Je höher die Anforderungen an die soziale Rechtfertigung einer verhaltensbedingten Kündigung sind, desto geringer ist die Entlassungswahrscheinlichkeit und um so höher muss ceteris paribus der Lohn (Effizienzlohn) über dem Marktlohn liegen, um einen ausreichenden Anreiz für die Vertragserfüllung durch den Arbeitnehmer zu bieten. Da aber alle oder viele Unternehmen einen Effizienzlohn zahlen, liegt das tatsächliche Lohnniveau über dem markträumenden, was Hochlohnarbeitslosigkeit zur Folge hat. Wird nun durch die Rechtsprechung das Abmahnerfordernis konsequent durchgesetzt, so wird das erste Ertappen eines Arbeitnehmers beim „shirken“ für diesen fast folgenlos. Er bekommt lediglich eine Abmahnung, muss aber keine Kündigung befürchten. Ähnlich wirkt auch das Prognoseprinzip. Auch hier wird die Kündigungswahrscheinlichkeit gesenkt, da eine Entlassung nicht wegen des Verstoßes selber erfolgen darf, sondern allenfalls wegen einer Wiederholungsgefahr. Der Arbeitnehmer muss also nur die Möglichkeit bzw. den Willen zu einer Besserung glaubhaft darlegen. In beiden Fällen sinkt das Entlassungsrisiko im Entdeckungsfall stark. Um das shirken von Arbeitnehmer zu verhindern, muss ein hoher Effizienzlohn gezahlt werden, was Arbeitslosigkeit zur Folge hat.15 Die Effizienzlohntheorie beleuchtet das Prognoseprinzip und das Abmahnungserfordernis aber nur im Hinblick auf das Verhältnis von Arbeitgeber und Angestelltem. Daneben sollte aber auch die Sicht der Arbeitsuchenden nicht unberücksichtigt bleiben. Prognoseprinzip und Abmahnungserfordernis betreffen insbesondere die verhaltensbedingte und personenbedingte Kündigung, dass heißt im Regelfall wird ein ,freigekündigter‘ Arbeitsplatz wieder besetzt und entfällt nicht wie bei der betriebsbedingten Kündigung. Durch eine Erschwerung der Kündigung aufgrund 15 Zur (formalen-mathematischen) Herleitung der Wirkung eines stärkeren Schutzes gegen verhaltensbedingter Kündigung siehe z. B. Wagner, T. / Jahn, E. (1997), S. 119 ff. Dort wird allerdings auch einer Verschärfung der Anforderungen an eine betriebsbedingte Kündigung effizienzlohnsenkende Tendenz bescheinigt. Dahinter steht der Gedanke, dass ein unsicherer Arbeitsplatz einen geringeren Einkommensverlust im Fall einer Entlassung bedeutet. Dieser Effekt sollte für einen Shirker aber wesentlich geringer sein als es die Verstärkung des Kündigungsschutzes gegen verhaltensbedingte Kündigung ist, die gerade auch Leistungsverweigerung umfaßt bedeuten.

D. Wiederbeschäftigungsanspruch

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der angesprochenen Prinzipien werden daher zugleich die Chancen eines Arbeitsuchenden, eine Stelle zu bekommen, vermindert. Dies ist zwar die notwendige Folge des erhöhten Kündigungsschutzes, aber man sollte sich vergegenwärtigen, dass der benachteiligte Arbeitsuchende im Normalfall gerade nicht die Defizite aufweist, die dem geschützten Arbeitnehmer aus Sicht des Arbeitgebers anhaften. Hier zeigt sich somit erneut die bereits bei der Gesamtbewertung des Bestandsschutzes angesprochene Tendenz der Rechtsprechung, die Arbeitsuchenden zu Lasten der Beschäftigten zu benachteiligen und dabei zugleich wirtschaftliche Nachteile für den Arbeitgeber zu bewirken. Berücksichtigt man zudem, dass die Arbeitsuchenden zumindest sozial nicht weniger schutzbedürftig sind als die gerade Beschäftigten, muss man wohl zur Beurteilung kommen, dass der sehr starke Schutz gegen eine verhaltensbedingte Kündigung nicht wünschenswert ist. Sehr krass, aber im Kern zutreffend, drückt Rüthers16 diesen Sachverhalt und die damit verbundenen Nachteile der Rechtsprechung zur verhaltensbedingten Kündigungen aus: „Er [Der überzogene Kündigungsschutz] privilegiert leistungsunwillige oder -unfähige glückliche Arbeitsplatzbesitzer zum Nachteil der geeigneten und leistungsbereiten Arbeitslosen.“

D. Wiederbeschäftigungsanspruch Im folgenden soll der Wiederbeschäftigungsanspruch untersucht werden. Der Grund dafür, dass der Wiederbeschäftigungsanspruch als einer der 10 näher zu untersuchenden Rechtsfortbildungen ausgewählt wurde, liegt weniger in seiner wirtschaftlichen Bedeutung, sondern mehr in der Tatsache, dass es sich um die wohl neueste Rechtsfortbildung handelt.17 Insoweit kann er als Beleg dafür dienen, dass die Regelbildung im Bestandsschutzrecht keineswegs abgeschlossen ist. Wie im vorhergehenden Abschnitt angesprochen, hat sich in der Rechtsprechung die Ansicht durchgesetzt, dass alle Kündigungen eine Prognoseentscheidung des Kündigenden erfordern, da nicht vergangene Ereignisse, sondern nur zukünftige Entwicklungen einen hinreichenden Grund zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses bieten. Nunmehr wird aber, wie in Kapitel 2 Abschnitt B. II. 5. dargelegt, das Prognoseprinzip einseitig zugunsten des Arbeitnehmers dahingehend aufgegeben, dass der Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber einen Anspruch auf Wiedereinstellung haben kann. Voraussetzung ist, dass sich die Prognose, auf der die Kündigung beruhte, noch vor Ablauf der Kündigungsfrist als falsch erweist, wenn der Arbeitgeber mit Rücksicht auf die Wirksamkeit der Kündigung noch keine Dispositionen getroffen hat. Mit diesem Wiedereinstellungsanspruch korrespondiert Rüthers, B. (1996), S. 21. Die Entwicklung dieser neuesten Rechtsfortbildung wird ausführlich von Nicolai, A. / Noack, S. (2000), S. 87 ff. dargestellt, die diese Rechtsfortbildung als ,gesetzesübersteigende‘ bezeichnen. 16 17

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nach der h. M. auch eine Informationspflicht des Arbeitgebers, wenn der Wegfall des Kündigungsgrundes aus seiner Risikosphäre stammt (so bei betriebsbedingter Kündigung).18 Aufgrund dieser Rechtsfortbildung der Rechtsprechung wird in Zukunft ein Arbeitgeber, selbst wenn er sich mit der Kündigung rechtstreu verhalten hat, nicht sicher sein können, dass das Arbeitsverhältnis mit Ablauf der Kündigungsfrist tatsächlich abläuft. Er muss statt dessen seine Prognoseentscheidung laufend überprüfen und bei Veränderung der Umstände den Arbeitnehmer informieren und ihm gegebenenfalls eine Neueinstellung anbieten. Dies mag bei einer einzelnen Kündigung in einem überschaubaren Betrieb noch halbwegs möglich sein. Kompliziert wird jedoch die Aufgabenstellung, wenn mehreren Arbeitnehmern unter Umständen zu unterschiedlichen Zeitpunkten gekündigt wurde und nun irgendwo in dem gleichen oder einem anderen Betrieb eine Stelle frei wird. Es stellen sich beispielsweise die Fragen wer alles informiert werden muss, welcher der Entlassenen vorrangig wiedereingestellt werden muss (Sozialauswahl?), ob die Auswahl betriebsübergreifend zu erfolgen hat, zu welchen Konditionen die Neueinstellung erfolgt und ob eventuell eine Änderungskündigung erforderlich ist. Erschwert wird diese Problematik vor allem dann, wenn mittlerweile ein Betriebsübergang stattgefunden hat.19 Alle diese Fragen muss der Arbeitgeber unter der Gefahr eines möglichen Schadensersatzanspruches lösen. Dass jede Lösung fehleranfällig sein wird und zudem Verwaltungskosten verursacht, dürfte einleuchtend sein. Der Arbeitgeber trägt nunmehr nicht nur das Risiko einer richtigen Prognoseentscheidung, sondern auch noch das Risiko des zufälligen Eintritts nachträglicher Ereignisse. In Zukunft droht daher wohl auch eine weitere Belastung der Arbeitsgerichte, da sich jeder Arbeitnehmer im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses nicht nur auf die Sozialwidrigkeit der Kündigung, sondern hilfsweise auch auf den nachträglichen Wegfall des Kündigungsgrundes berufen kann. Im Ergebnis werden daher die Arbeitsgerichte nicht nur prüfen müssen, ob zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung ein Kündigungsgrund bestand, sondern auch ob dieser bis zum Ende der Kündigungsfrist noch existierte.20 Im Ergebnis muss wohl festgestellt werden, dass die Entwicklung des Wiederbeschäftigungsanspruchs ein weiterer, nicht unerheblicher Schritt sowohl zur Verkomplizierung des Bestandsschutzrechts als auch zur Risikoverlagerung auf den Arbeitgeber ist. Zudem leidet erneut die Rechtsklarheit und -sicherheit zu Lasten eines stärkeren Schutzes des einzelnen Arbeitnehmers.21 Dass auch der Wieder18 Sehr ausführlich zum Wiederbeschäftigungsanspruch Boewer, D. (1999), S. 177 ff.; ein kurzer Überblick findet sich bei Ascheid, R. (1998), § 1 KSchG RN 179 und 473. 19 Einige dieser Fragestellungen werden von Boewer, D. (1999), S. 177 ff. angesprochen und in der Diskussion, die sich der Wiedergabe seines Vortrages anschließt, kritisch gewürdigt; so S. 240 ff. 20 Ricken, O. (1998), S. 465.

E. Änderungskündigungsrechtsprechung

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beschäftigungsanspruch die Chancen der Arbeitsuchenden im Wettbewerb mit den Beschäftigten weiter verringert, bedarf keiner näheren Erläuterung. So muss im Ergebnis auch diese neue Regel des Bestandsschutzes als negativ, d. h. nicht im konstitutionellen Interesse liegend, eingestuft werden.

E. Änderungskündigungsrechtsprechung Neben der bereits oben behandelten Problematik interner Arbeitsmärkte, tritt für die Rechtsprechung zur Änderungskündigung ein weiterer Aspekt hervor. Wie oben festgestellt [Kapitel 2 Abschnitt D. II. 1.], stellt die Rechtsprechung insbesondere bei der Anerkennung eines Grundes für die Herabsetzung von Entgelt und Sozialleistungen als „betrieblich erforderlich“ sehr strenge Anforderungen. Danach ist eine Herabsetzung nur dann als betrieblich erforderlich anzusehen, wenn „( . . . ) durch die mit der Änderungskündigung angestrebte Kostensenkung die Stillegung des Betriebes oder die Reduzierung der Belegschaft verhindert werden kann und soll.“22 Die Änderungskündigung wird somit zu einer Maßnahme reduziert, die nur noch als Alternative zu einer Entlassung zulässig ist. Bei genauerer Betrachtung sind sogar noch höhere Anforderungen an eine Reduzierung des Lohnes als an die Entlassung gestellt, da eine Entlassung beispielsweise aufgrund einer Rationalisierung in der gleichen Situation möglich sein kann, da für sie der Grundsatz der freien Unternehmerentscheidung gilt, während in dieser Situation eine Reduzierung der Entlohnung mittels Änderungskündigung unmöglich ist, da nicht der Betrieb als ganzes in Existenzgefahr ist, sondern nur Teile unwirtschaftlich sind.23 Durch diese Verteilung der Anforderungen, wird Arbeitgebern geradezu der Anreiz gesetzt, Betriebsteile zu schließen oder radikale Rationalisierungen durchzuführen, statt ,nur‘ die Löhne zu senken.24 Die Folge sind unnötige Arbeitsplatzverluste. Sehr pointiert aber zutreffend drückt dies das ehemalige Vorstandsmitglied der Daimler Benz AG (für Finanzen und Personal) Dr. Manfred Gentz aus, wenn er meint25: „Dem Arbeitgeber wird es unmöglich gemacht, frühzeitig Korrekturen in der Kostenstruktur vorzunehmen, obwohl gerade dies eine Arbeitsplatzgefährdung minimiert. Kündigungsrechtlich erfolgversprechend ist erst der gänzliche Zusammenbruch des Unternehmens.“ 21 Dies geben selbst Befürworter wie Boewer, D. (1999), S. 240 zu, wenn er sagt: „Unstreitig ist, daß wir große Probleme und Schwierigkeiten mit dem Wiedereinstellungsanspruch bekommen werden.“ 22 So BAG v. 11. 10. 1989, AP Nr. 47 Betriebsbedingte Kündigungen Bl. 579. 23 Die Rechtsprechung scheint dabei überhaupt nicht zu berücksichtigen, dass vielen Betriebsteile heutzutage als profit-center geführt werden und somit eine Quersubvention nur schwer möglich ist. 24 So im Ergebnis auch Nicolai, A. (1999), S. 673. 25 Gentz, M. (1996), S. 15.

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Dieser übermäßige Vertragsinhaltsschutz ist auch nicht aus Arbeitnehmerschutzgesichtspunkten zu rechtfertigen. Die Regelungen des Kündigungsschutzrechts sollen auch nach Ansicht der Rechtsprechung den Arbeitnehmer vor seiner eventuellen Unterlegenheit gegenüber dem Arbeitgeber schützen. Bezogen auf die Regelung der Änderungskündigung kann das nur den Sinn haben, den Arbeitnehmer vor unberechtigten Verschlechterungen des Vertragsinhaltes zu schützen. Als Maßstab, welche Verschlechterungen dabei als unangemessen zu gelten haben, können aber nur diejenigen Bedingungen herangezogen werden, die ein nicht-unterlegener Arbeitnehmer bei Abschluss eines Vertrages erzielen würde. Anhaltspunkt dafür könnten Tarifbedingungen oder die am Markt erzielbaren seien. Die Folge eines in diesem Sinne richtig verstandenen Schutzes gegen Änderungskündigungen wäre es, dass man nur Vertragsänderungen, die zu schlechteren Bedingungen als am Markt erzielbaren führen, einer strengen Kontrolle auf Notwendigkeit zur Vermeidung von Betriebsschließungen oder Entlassungen unterziehen sollte. Für Änderungskündigungen, die nicht zu schlechteren als den Marktbedingungen führen, müsste die Veränderung der Marktverhältnisse als solche bereits als betriebsbedingter Änderungskündigungsgrund anerkannt werden.26 Rieble27 weist in diesem Zusammenhang auch auf eine Parallele zum Wohnraummietrecht hin, wo es auch dem Vermieter möglich ist, eine Anpassung an die ortsübliche und damit den Marktverhältnissen entsprechende Miete im laufenden Vertrag zu erreichen. Macht man jede Verschlechterung, wie die Rechtsprechung dies tut, von der Gefährdung des Betriebes als ganzes abhängig, gewährt man beschäftigten Arbeitnehmern einen unantastbaren Vorteil gegenüber anderen arbeitsuchenden Arbeitnehmern.28 Mit einer eventuellen Unterlegenheit des einzelnen Arbeitnehmers hat das nichts mehr zu tun. Außer zu eigentlich vermeidbaren Entlassungen führt ein derart gehandhabter Vertragsinhaltsschutz auch zu Inflexibilitäten des Lohnniveaus. Dazu bemerkt Franz29: „Gefährlich wird es für die Beschäftigung, wenn ein Kündigungsschutz an eine gleichbleibend hohe Entlohnung gekoppelt wird, d. h. wenn wir uns Inflexibilitäten nach unten sowohl bei der Beschäftigung wie auch bei der Entlohnung leisten wollten.“ Auch hier fällt die Bewertung negativ aus. Die Regeln der Änderungskündigung laufen auf eine Verschiebung des Anpassungsrisikos hinaus. Personell wird das Risiko dadurch verschoben, dass nicht die zu ,teuren‘ Arbeitnehmer, sondern andere Unternehmensteile und damit auch deren Arbeitnehmer sowie der Arbeitgeber die Anpassungslasten der veränderten Bedingungen tragen. Ein Teil des von diesen Betriebsteilen erwirtschafteten Einkommens muss mithin zur Deckung der Ver26 Rieble, V. (1996), S. 296. Dabei könnte man daran denken, wie Rieble es vorschlägt, Fristen und prozentuale Höchstgrenzen für eventuelle Lohnkürzungen festzulegen. 27 Rieble, V. (1996), S. 295. 28 So im Ergebnis auch Dorndorf, E. (1999), S. 294 und vor allem Rieble, V. (1996), S. 296 f. 29 Franz, W. (1994), S. 439.

E. Änderungskündigungsrechtsprechung

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luste der unrentablen Betriebsteile verwendet werden. Anders ausgedrückt, heißt dies: Durch die Regeln der Änderungskündigung werden Wirtschaftssubjekte gezwungen, einen Teil ihres mit sozial produktiven Tätigkeiten erwirtschafteten Einkommens an Beschäftigte zu transferieren, um deren zum gegebenen Lohn unprofitablen Tätigkeiten zu ermöglichen. Sie subventionieren die Geschützten. Durch diese Belastung werden zudem die profitablen Betriebsbereiche in ihrer Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt. Stellt man sich nun die Frage, ob eine solche Regel im konstitutionellen Interesse der Bürger sein kann, ergibt sich die Schwierigkeit, dass die Begünstigten natürlich nicht an einer Abschaffung, die Wirtschaftssubjekte, die die Belastung tragen, nicht an einem Bestand interessiert sein werden. Eine konsensfähige Lösung erscheint nicht möglich. Eine andere Situation ergibt sich aber, wenn man versucht, die betrachtete Regel zu verallgemeinern. Dies kann geschehen, indem man die Frage stellt, ob die Bürger der Bundesrepublik vernünftiger Weise ein Interesse daran haben können, in einer Gesellschaft zu leben, in der Regeln, wie die diskutierte, als generelle Regel in einer nicht-diskriminierenden Weise gelten. Dies würde bedeuten, dass allen Arbeitnehmern hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen ein Bestandsschutz gewährt wird und im Falle von wirtschaftlichen Veränderungen, die eine Beschäftigung zu den bisherigen Bedingungen unrentabel macht, andere profitable Bereiche die entstehenden Verluste decken müssen. Wären alle Arbeitnehmer in dieser Weise umfassend geschützt, gäbe es keinen Anreiz mehr, besondere Leistungen zu erbringen. Zudem müsste auf die Vorteile einer wachsenden Wirtschaft zum großen Teil verzichtet werden, da gerade die wachsenden Bereiche mit der Subventionierung der unrentablen Bereiche belastet werden. Aus diesen Erwägungen heraus kann die von der Rechtsprechung aufgestellte Regel, dass die Herabsetzung der Löhne nur dann als betrieblich erforderlich anzusehen ist, wenn durch die mit der Änderungskündigung angestrebte Kostensenkung die Stillegung des Betriebes oder die Reduzierung der Belegschaft verhindert werden kann und soll, nicht in ein wünschenswertes universelles ethisches Prinzip verallgemeinert werden. Vernünftiger Weise können die Bürger einer Jurisdiktion nicht wünschen, dass ein Prinzip, nachdem ökonomisch produktive Bereiche belastet werden um unproduktive zu erhalten, zur allgemeinen Regel wird.30 Das heißt natürlich nicht, dass eine Subventionierung bestimmter Bereiche in jedem Fall gegen die konstitutionellen Interessen der Bürger verstoßen muss. Im Gegenteil kann es durchaus im gemeinsamen Interesse aller liegen, wenn sie zeitlich begrenzt ist und als Anpassungshilfe dient oder denjenigen gewährt wird die auf Dauer nicht in der Lage sind ihr eigenes Einkommen zu erwirtschaften. Dies ist in der hier betrachteten Situation aber nicht der Fall. Die Rechtsprechung begrenzt gerade nicht die Zeit, für die der Arbeitgeber von Lohnreduzierungen in unrentablen Teilbereichen absehen muss. Auch ist die Quersubvention durch andere Bereiche nicht davon abhängig, ob die Betroffenen nicht für ihren Lebensunter30

Vgl. Vanberg, V. (1998), S. 112 f.

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halt sorgen können. Zudem wird eine Anpassung des unrentablen Teilbetriebs meist nur auf ungewisse Zeit verschoben und fällt dann auf die Subventionierten zurück, wenn der Arbeitgeber sich zur Schließung des nicht rentablen Betriebsteils entschließt. Im Ergebnis ist die von der Rechtsprechung bewirkte Verschiebung der Anpassungslasten nicht im konsensfähigen Interesse, da sie profitable Unternehmensbereiche mit der Subventionierung unrentabler Tätigkeiten belastet und zeitlich nicht begrenzt ist. Dadurch wird kein langsamer Übergang ermöglicht, sondern eine notwendige Anpassung nur aufgeschoben, die dann um so schmerzlicher für alle ausfällt.31

F. Abfindungsmechanismen In Kapitel 2 Abschnitt B. II. 6. haben wir festgestellt, dass nur ein sehr kleiner Teil (etwa 10%) der Kündigungsschutzprozesse aufgrund eines Urteils beendet werden. Meist kommt es zu einem Vergleich, der die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung vorsieht. Auch von den durch Urteil entschiedenen Prozessen wird in der Praxis nur ein kleiner Teil zur Fortführung des Arbeitsverhältnisses führen, sei es weil die Kündigung wirksam war oder aber trotz Unwirksamkeit auf eine Beendigung gegen Abfindung (gem. § 9 KSchG) entschieden wurde. Berücksichtigt man noch, dass ein Großteil von Kündigungen durch einen Aufhebungsvertrag zwischen Arbeitnehmer und -geber aufgrund dessen der Arbeitnehmer eine Abfindung erhält, im Vorfeld vermieden wird, kann man den Eindruck gewinnen, dass das Bestandsschutzsystem auf ein Abfindungsrecht hinausläuft. So hat ein Forschungsbericht – der allerdings bereits aus dem Jahr 1981 stammt – ergeben, dass lediglich 1,7% aller Kündigungsschutzklagen zu einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers führen.32 Auch wenn man natürlich die präventive Wirkung der Bestandsschutzregeln, die sich darin äußert, dass Arbeitgeber im Hinblick auf die gesetzliche Lage auf einige Kündigungen verzichten, berücksichtigen muss, ist die Feststellung zutreffend, dass der Prozentsatz der Arbeitsplätze, die dauerhaft ihrem jeweiligen Inhaber durch den Kündigungsschutz erhalten bleiben, sehr gering ist. 31 Vgl. dazu Vanberg, V. (1998), S. 113 ff. Vanberg legt dar, dass es im konstitutionellen Interesse der Bürger sein kann, Übergangshilfen für diejenigen zu gewähren, die sich neue Einkommensquellen erschließen müssen. Allerdings kann es, wie er überzeugend darlegt, nicht im Interesse der Gesellschaftsmitglieder sein, eine dauerhafte Subventionierung unrentabler Tätigkeiten durchzuführen. Der Grund besteht darin, dass diese Art der Solidarität „nicht in ein wünschenswertes universelles ethisches Prinzip verallgemeinert werden“ kann. Die Mitglieder einer Gesellschaft können danach nicht dauerhaft produktive Bereiche durch Unterstützung unproduktiver belasten und damit quasi bestrafen, ohne langfristig große Wohlfahrtsverluste hinzunehmen. 32 Falke, J. / Höland, A. / Rhode, B. / Zimmermann, G. (1981) oder unter Bezugnahme auf diesen Bericht Kraushaar, B. (1988a), S. 2202 – neuere Daten sind nicht erhoben worden.

F. Abfindungsmechanismen

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Diese Tatsache hat immer wieder Anlass zur Kritik am geltenden Bestandsschutzsystems gegeben.33 Dabei wird insbesondere kritisiert, dass die eigentliche Absicht des Gesetzgebers den Erhalt des Arbeitsplatzes eines zu Unrecht gekündigten Arbeitnehmers zu erhalten, fehlgeschlagen sei. Die Kritiker kommen zu Ergebnissen wie: „Der Bestandsschutz findet nicht statt!“34 Diese Kritik kann und wird in zwei Richtungen verstanden. Einerseits kritisiert beispielsweise Däubler35, dass ein Vergleich sich für den Arbeitnehmer häufig als wenig hilfreich erweise, da der Arbeitsplatz als entscheidendes Rechtsgut normalerweise dabei verloren gehe und es außerdem nicht mehr möglich sei, die gestörte Sozialbeziehung zu ,kitten‘. Diese Kritik ist jedoch unberechtigt. Dies wird deutlich, wenn man sich über die Bewertungsregeln Gedanken macht. Für die Bewertung von Regeln gilt der Maßstab, wonach eine Regel wünschenswert ist, wenn sie im konstitutionellen Interesse der Betroffenen liegt. Maßstab für die Beurteilung, einer Regel (oder Tatsache) ist somit der einzelne Betroffene, nicht ein Außenstehender. Ein Vergleich kommt aber nur zustande, wenn beide Parteien ihm zustimmen. Dies werden sie tun, wenn sie ihn für sich persönlich als vorteilhafter einstufen als eine Entscheidung durch streitiges Urteil. Da sie in dieser Phase im Regelfall auch rechtlich beraten sind oder sich zumindest beraten lassen können, beruht diese Entscheidung auch nicht auf Unwissen- oder Unerfahrenheit. Daher kann man davon ausgehen, dass ein Vergleich, welchen Inhalt er auch immer haben mag, immer einem streitigen Urteil vorzuziehen ist, da er beiden Parteien (nach ihrer Einschätzung) Vorteile bringt. Anders ausgedrückt, wird durch einen Vergleich das Interesse des Arbeitgebers an Arbeitseinsatzflexibilität und dasjenige des Arbeitnehmers an seinem Arbeitsplatz in Ausgleich gebracht. Das dabei unter beidseitiger Zustimmung gefundene Ergebnis, ist das unter den Regeln des geltenden Bestandsschutzsystems optimale, da die Individuen die beiden Interessen und ihre damit verbundenen Rechte bewertet und dem ,Tausch‘ zugestimmt haben. Entscheidend sind allein die Präferenzen der Tauschpartner, zur Bewertung bedarf es keines externen Bewertungskriteriums. Kritik daran kann eigentlich nur jemand üben, der sein eigenes Urteil über dasjenige der tatsächlich Betroffenen setzt. Der zweite mögliche Kritikpunkt an der Abfindungspraxis könnte sein, dass die gesetzlichen Regeln oder aber die richterliche Auslegung entgegen dem Willen eines Vertragspartners, nämlich des Arbeitnehmers, zu häufig zu einer Auflösung 33 So z. B. Kraushaar, B. (1988b), S. 139 f. und (1988a), S. 2202. Kritisch auch Däubler, W. (1998b), S. 1113 oder auch Kittner, M. (1996), S. 985 ff. Sehr kritisch auch Rühle, H. (1991), S. 1378 ff. der am Ende seiner Ausführungen zusammenfaßt: „Die voranstehenden Überlegungen und Thesen sind dadurch veranlaßt, dass das Kündigungsschutzgesetz heute zu einer ideologischen Kulisse für einen Abfindungshandel umfunktioniert und herabgewürdigt worden ist.“ (S. 1381). 34 Kraushaar, B. (1988a), S. 2202. 35 Däubler, W. (1998b), S. 1113.

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4. Kap.: Einzelwirkungen richterlicher Regelbildungen (TOP 10)

gegen Entschädigung führen.36 Diese Kritik wurde insbesondere in den siebziger Jahren häufig geäußert und hat im Endeffekt auch zur Rechtsprechung zum Weiterbeschäftigungsanspruch geführt. Trotz dieser Erweiterung der auf eine Fortführung gerichteten Rechte des Arbeitnehmers, ist es aber zu keiner wesentlichen Änderung der Abfindungspraxis gekommen.37 Der Grund dafür dürfte sein, dass es einfach nicht im Interesse der Arbeitsvertragsparteien und zwar keiner von beiden liegt, einen Arbeitsvertrag aufrechtzuerhalten, der von einer der Parteien nicht mehr gewollt ist. Der Arbeitsvertrag ist auf eine Zusammenarbeit des Arbeitnehmers mit dem Arbeitgeber bzw. dessen Vertretern angelegt. Er kann nur richtig funktionieren, wenn beide Parteien ein Mindestmaß an gutem Willen und Vertrauen mitbringen. Dies folgt aus der Tatsache, dass jeder Arbeitsvertrag ein unvollständiger Vertrag ist. Er muss durch das Weisungsrecht des Arbeitgebers ausgefüllt werden und ist auch in Bezug auf eine unvollständige Erfolgskontrolle und -vereinbarung auf die Mitarbeit beider Vertragsteile angewiesen. Ist diese beidseitige Mitarbeit bzw. der diesbezügliche Wille nicht mehr gegeben, ist eine weitere Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses auch nicht mehr sinnvoll und auch nicht im Interesse des Arbeitnehmers, sei es, dass er Schikanen des Arbeitgebers fürchtet, keinen anderen Arbeitnehmer verdrängen will oder sogar bereits einen neuen Arbeitsplatz gefunden hat. Kraushaar38 gibt sogar an: „Man kann als Arbeitsrichter immer wieder geradezu panische Reaktionen beobachten, wenn der Arbeitgeber während des Kündigungsschutzprozesses damit ,droht‘, die ausgesprochene Kündigung zurückzunehmen und den Arbeitnehmer zur Wiederaufnahme der Arbeit am alten Arbeitsplatz auffordert. . .“ Ein Vergleich, ein Aufhebungs- oder ein Abwicklungsvertrag39 oder andere Vereinbarungen, die zur Auflösung eines Arbeitsvertrages gegen eine Abfindung führen, haben noch eine Reihe anderer Vorteile gegenüber einer streitigen Gerichtsentscheidung, wie sie das Gesetz als Regelfall vorsieht. Zunächst bedeutet eine solche gütliche Einigung eine relativ schnelle Einigung. Auch wenn möglicherweise einige Verhandlungen über die Details geführt werden, so ist dies ein geringer Zeitaufwand gegenüber einer Gerichtsentscheidung. Bis diese ergeht, vergehen selbst in der ersten Instanz mehrere Monate und bei voller Ausschöpfung des Rechtsweges ist mit einem Zeitraum von zwei bis drei Jahren zu rechnen.40 Während dieser Zeit besteht Unsicherheit über die Rechtslage und damit auch Planungsunsicherheit. Der Arbeitnehmer weiß nicht, ob er sich einen neuen Arbeitsplatz suchen muss oder ob er auf seinen alten zurückkehren kann. Der Arbeitgeber hingegen geht das Risiko ein, den Lohn des Arbeitnehmers nachSo wohl Kittner, M. (1996), S. 985 ff. Vgl. dazu Rühle, H. (1991), S. 1379 oder auch Kraushaar, B. (1988b), S. 140. 38 Kraushaar, B. (1988a), S. 2202. 39 Zu den einzelnen Begriffen und ihren Unterschieden sowie zur weiteren Untergliederung ausführlich Bauer, J. (1999), S. 7 f. 40 Däubler, W. (1998b), S. 1112. 36 37

F. Abfindungsmechanismen

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zahlen zu müssen, ohne die Arbeitsleistung erhalten zu haben. Daneben sind mit einer Einigung im Wege der Abfindung auch geringere Transaktionskosten verbunden. Beide Vertragsparteien müssen keine oder geringere Anwalts- und Gerichtskosten begleichen. Zusätzlich dürften beim Arbeitgeber noch die Verwaltungskosten wesentlich geringer sein. Weitere Vorteile sind eine weniger starke Belastung des Betriebsklimas, die durch Prozesse und notwendige Zeugenaussagen sonst herbeigeführt werden könnte oder auch die Möglichkeit einer leistungsgerechteren Auswahl der Arbeitnehmer bei erforderlichem Stellenabbau. Die einseitig beim Arbeitgeber anfallenden Vorteile wiederum dürften eine Rückwirkung auf die Höhe der Abfindung haben, die er bereit ist dem Arbeitnehmer zu zahlen. Aufgrund dieser Aspekte kommt man zu dem Ergebnis, dass die Abfindungspraxis durchaus erwünscht ist. Sie überwindet viele mit dem geltenden Bestandsschutzsystem verbundenen Nachteile wie die Höhe der Transaktionskosten, die Rechtsunsicherheit oder problematische Selektionsmechanismen etc. Man kann vielleicht sogar sagen, dass die weit verbreitete Abfindungspraxis die bedeutendsten Nebenwirkungen des Bestandsschutzsystems in Deutschland abfedert. Zudem lässt sich die Abfindungspraxis auch als Abwahl des geltenden Bestandsschutzsystems verstehen. Da die vielen und ausgefeilten Regelungen für den Einzelnen kaum noch erfassbar sind, auch Experten keine sichere Prognose über den Ausgang eines Kündigungsschutzprozesses geben können und zudem durch einen Prozess erhebliche Kosten und Zeitverzögerungen entstehen, scheint die überwiegende Mehrzahl der Arbeitsvertragsparteien eine private Abfindungsregelung vorzuziehen. Als freiwilliger Tausch der rechtlichen Position des Arbeitnehmers gegen eine finanzielle Abfindung ist die Abfindung unter den gegebenen Spielregeln (Bestandsschutz), das Ergebnis, das den ökonomischen Wert maximiert, und daher wünschenswert ist. Ob aber wegen dieser Abfindungspraxis ein genereller Systemwechsel im Arbeitsrecht weg vom Bestandsschutz, hin zu einer allgemeinen Abfindungspflicht vorteilhaft wäre, wie es das BRG 1920 oder heute der § 14 KSchG für leitende Angestellte vorsieht, erscheint fraglich.41 Insbesondere wäre wohl mit einer deutlich höheren finanziellen Belastung der Arbeitgeber zu rechnen, da vermutlich ein größerer Teil der Arbeitnehmer einer Abfindungspflicht unterliegen würde, eine Absenkung der durchschnittlichen Abfindung aber politisch wohl kaum durchsetzbar wäre. Allerdings wäre möglicherweise eine gerechtere im Sinne einer ausgeglicheneren Verteilung der Abfindungen möglich, die bisher nur einem Teil der Arbeitnehmer bei Entlassungen zugute kommen. Daneben würde eine generelle Abfindungspraxis eventuell der zunehmenden Aufteilung von Rand- und Kernbelegschaft sowie der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses entgegenwirken. Der Einfluss auf die Insider-Outsider Problematik hingegen hinge wohl vorrangig von der Höhe der zu gewährenden Abfindungen ab. Eine nähere Untersuchung der 41 Einen solchen Wechsel fordert beispielsweise Rühle, H. (1991), S. 1378 ff. Rieble, V. (1996), S. 311 hingegen befürchtet eine Beeinträchtigung des „sozialpolitischen Anliegens“ und dass „unbequemen Arbeitnehmern der Schneid ,abgekauft‘“ werden würde.

17 von Klitzing

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4. Kap.: Einzelwirkungen richterlicher Regelbildungen (TOP 10)

Vor- und Nachteile einer reinen Abfindungslösung gegenüber einem Bestandsschutzsystem kann und soll im Rahmen dieser Arbeit aber nicht geleistet werden.

G. Arbeitnehmerüberlassung Die Aufhebung des Verbotes der Arbeitnehmerüberlassung ist die einzige richterliche Rechtsgestaltung, die zu einer Deregulierung im Individualarbeitsrecht geführt hat und im Rahmen dieser Arbeit analysiert wird. Wohl nicht zufälliger Weise stammt sie vom BVerfG nicht vom BAG. Die größte wirtschaftliche Bedeutung dieser Entscheidung wird deutlich, wenn man sich die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in diesem Bereich ansieht. So waren Mitte 1999 über 286.000 überlassene Arbeitnehmer tätig, was eine Verdoppelung seit 1992 bedeutet. Bereits an dieser Zahl wird deutlich, dass hier ein eigener Teilarbeitsmarkt entstanden ist. Interessant ist auch die Entwicklung der Zeitarbeitnehmerquote, also der Anteil der Zeitarbeitnehmer an den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten. Diesen Anteil zeigt das untenstehende Schaubild, wobei auf der unteren Skala auch die wichtigsten Gesetzesänderungen angegeben sind, die in letzter Zeit für eine Flexibilisierung der Arbeitnehmerüberlassung gesorgt haben. Aus der folgenden Abbildung 4 ist ersichtlich, dass die Zeitarbeit ein grundsätzlich wachsendes Beschäftigungsverhältnis ist, und dass die Beschäftigtenzahlen immer dann besonders zunahmen, wenn gesetzliche Erleichterungen eingeführt wurden.42 Ein bei der Beurteilung der Zeitarbeit als Arbeitsmarktinstitution positiv zu berücksichtigender Aspekt ist zudem, dass fast zwei Drittel aller Zeitarbeitnehmer vorher ohne Beschäftigung waren, 11,5% sogar länger als ein Jahr, wie der Tabelle entnommen werden kann. vorher ohne Beschäftigung

61,4

– bis 1 Jahr

40,8

– 1 Jahr und mehr

11,5

– noch gar nicht beschäftigt vorher beschäftigt als

9,1 38,6

– Zeitarbeitnehmer bei anderen Verleihern

12,3

– sonstige Erwerbstätige

26,2

Stand: 1999. Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln43 (unter Berufung auf die Bundesanstalt für Arbeit). 42 Daß die gesetzlichen Flexibilisierungen die Zunahme der Zeitarbeitsverhältnisse gefördert haben, ist wohl weithin anerkannt. Vgl. z. B. Keller, B. (1997), S. 398 f., IWD 6 / 2000, S. 2, sowie iw-trends 1 / 2000. 43 IWD 6 / 2000, S. 2.

G. Arbeitnehmerüberlassung

(1) (2) (3) (4)

259

Sektorales Verbot der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe – 1982. Erhöhung der maximalen Entleihdauer von 3 auf 6 Monate – 1985. Erhöhung der maximalen Entleihdauer von 6 auf 9 Monate – 1994. Erhöhung der maximalen Entleihdauer von 9 auf 12 Monate sowie Lockerung des Synchronisationsverbot – 1997.

Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Klös, H. (2000), S. 6 unter Berufung auf die Bundesanstalt für Arbeit; Einfügung der Blockpfeile durch den Verfasser.

Abbildung 4

Diese Zahlen entkräften zudem eines der am häufigsten gegen die Zeitarbeit genannten Argumente, nämlich, dass durch die Zulässigkeit der Zeitarbeit keine neuen Arbeitsplätze geschaffen würden, sondern lediglich reguläre Arbeit verdrängt würde.44 Würde der Verdrängungseffekt tatsächlich eine so große Rolle spielen, würde man erwarten, dass der überwiegende Teil der Eingestellten aus einer regulären Arbeit verdrängt worden wäre. Tatsächlich hatten aber nur 26,2 % der Leiharbeitnehmer vorher eine andere Arbeit, wobei der Anteil der Normalarbeitsverhältnisse wesentlich geringer sein wird. Dagegen waren über die Hälfte vorher ohne Arbeit. Man kann daraus erkennen, dass die Zeitarbeit zumindest im Westen eine ganz wesentliche Brücke für Langzeitarbeitslose und Niedrig-Qualifizierte auf dem Weg zur (Re)Integration in den Arbeitsmarkt darstellt. So waren in den letzten Jahren immer um die 25 % der Beschäftigten Hilfsarbeiter. Der Grund 44 Eine gute Zusammenfassung der gegen die Leiharbeit vorgebrachten Argumente liefert die Darstellung der Argumente des DGB in BT-Drucks. 13 / 5498, S. 15 und 25 f.

17*

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4. Kap.: Einzelwirkungen richterlicher Regelbildungen (TOP 10)

dafür mag sein, dass hier der die eigentliche Arbeit Zur-Verfügung-Stellende (Entleiher) Langzeitarbeitslose nicht wegen ihrer Arbeitslosigkeit als solcher ausselektiert, da er selber nur ein relativ geringes Risiko trägt. Zudem werden Leiharbeitskräfte häufig nur zur Deckung von Kapazitätsengpässen genutzt. Der Verleiher hingegen kann sich das Risiko einer möglicherweise geringeren Produktivität des Arbeitnehmers leisten, da er ebenfalls häufig nur einen befristeten Vertrag mit diesem abgeschlossen hat und zudem aufgrund seiner Spezialisierung über besonders gute Screening-Methoden bzgl. der Einsatzfähigkeit von Bewerbern verfügt. Für den Arbeitnehmer besteht wiederum die Chance, durch die eher kurzfristigen Einsätze sein Humankapital zu erneuern und der stigmatisierenden Wirkung der Arbeitslosigkeit zu entgehen.45 Für diese positive Wirkung der Leiharbeit spricht auch dass Entleiher rund 30% der bei ihnen eingesetzten Leiharbeitnehmer später einstellen.46 Gegen einen erheblichen Missbrauch der Institution Leiharbeit spricht die insgesamt gesehen geringe Verbreitung. So stehen den 21 – 22 Millionen „Normalarbeitsverhältnissen“47 lediglich knapp 290.000 Leiharbeitsverhältnisse48 entgegen. Die Gründe für die eher geringe Verbreitung dürften darin liegen, dass der Einsatz von Leiharbeitnehmern für den Entleiher mit relativ hohen Kosten verbunden ist (Vermittlungsspanne). Zudem muss der Entleiher die Nachteile, die mit der geringeren Einbindung der entliehenen Arbeitnehmer verbunden sind, in Kauf nehmen. Diese Nachteile bestehen in erster Linie in der geringeren Identifikation und in dem Verlust des vermittelten Humankapitals nach Ende der Ausleihfrist. Neben der Tatsache, dass fast 290.000 Menschen einen Arbeitsplatz in der Zeitarbeitsbranche gefunden haben, ist es insbesondere ihre Brückenfunktion, welche die Institution der Zeitarbeit als wünschenswert erscheinen lassen. Es sind insbesondere die Problemgruppen des Arbeitsmarktes, die Dank der Möglichkeit der Arbeitnehmerüberlassung die Chance einer Beschäftigung und einer Annäherung an ein Normalarbeitsverhältnis haben. Die Allgemeinheit profitiert von einer höheren Wirtschaftsleistung und verminderten Sozialkosten. Im Hinblick auf die Brückenfunktion der Zeitarbeit scheint eine weitere Erleichterung, insbesondere für den Bereich des Bauhauptgewerbes erwägenswert. Der Bundesverband Zeitarbeit Personaldienstleistungen e.V. glaubt aufgrund einer Erhebung, dass innerhalb eines Jahres rund 50.000 Mitarbeiter beschäftigt werden 45 So auch in einer Stellungnahme des Bundesverbandes Zeitarbeit BT-Drucks. 13 / 5498, S. 27. 46 So BT-Drucks. 13 / 5498, S. 15 unter Berufung auf Angaben des Bundesverbandes Zeitarbeit. 47 Diese Zahl berechnet sich aus der in Kapitel 1 Abschnitt C. I. angegebenen Zahl von etwa 31,88 Millionen Arbeitnehmern und der in Kapitel 3 Abschnitt B. I. 1. b) bb) angegebenen Quote von 68% Normalarbeitsverhältnissen, wobei die Zahlen nicht vollständig aufeinander abgestimmt sind (z. B. Arbeitnehmer mit mehreren Beschäftigungsverhältnissen). 48 Zahl stammt von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, in: Der Arbeitgeber 3 / 2000, S. 30 oder ähnlich wie gezeigt IWD 6 / 2000, S. 2.

H. Befristete Arbeitsverträge

261

könnten.49 Eine andere Schätzung, die auf einem Vergleich mit den USA und Frankreich beruht, kommt sogar zu dem Ergebnis, dass zusätzlich bis zu einer halben Million Menschen zumindest vorübergehend eine Arbeit finden könnten, wenn das AÜG gelockert würde.50

H. Befristete Arbeitsverträge Eine der bedeutendsten und wohl auch umstrittensten Rechtsfortbildungen der Rechtsprechung ist es gewesen, dass sie das Erfordernis eines sachlichen Grundes für die Befristung aufgestellt hat, die durch das TzBfG nunmehr endgültig vom Gesetzgeber ins Gesetzesrecht übernommen wurde. Die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Rechtsfortbildung sind bedeutend. Im folgendem wird untersucht, ob es wegen der Begrenzung der Befristungsmöglichkeiten zu negativen Beschäftigungseffekten gekommen ist. Die Beschäftigungswirkungen lassen sich aber nur abschätzen. Dies kann geschehen, indem man die Wirkungen der später durch den Gesetzgeber eingeführten Erleichterungen der Befristung betrachtet, da diese die Wirkungen der rigiden Rechtsprechung zumindest teilweise aufheben und somit quasi der „actus contrarius“ sind. Die wohl intensivste Untersuchung zu den gesetzlichen Erleichterungen haben wohl Büchtemann und Höland51 über „Befristete Arbeitsverträge nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz (BeschfG 1985)“ vorgenommen. Danach sind zwischen Mai 1985 und April 1987 rund 150.000 befristete Neueinstellungen vorgenommen worden, die ohne das BeschfG nicht vorgenommen worden wären.52 Unter Berücksichtigung von Verdrängungseffekten und der Quote der Übernahmen im Anschluss an die befristeten Arbeitsverhältnisse kommt diese Studie zu dem Ergebnis, dass 80.000 bis 90.000 Dauerbeschäftigungsverhältnisse in den ersten zwei Jahren geschaffen wurden.53 Den ,Preis‘ in Form geringerer Absicherung gegen Entlassungen tragen diejenigen, die aufgrund der verbesserten Befristungsmöglichkeiten entweder anstelle einer Festanstellung nur einen befristeten Vertrag erhielten (Substitutionseffekt) oder auch sonst einen befristeten erhalten hätten, aber durch das BeschfG schlechtere Bedingungen hinnehmen mussten (Mitnahmeeffekt). In dieser Studie wurde der Substitutionseffekt auf 150.000, der Mitnahmeeffekt auf 120.000 befristete Verträge geschätzt, wobei bei letzteren unklar bleibt, ob nicht nur knapp die Hälfte – aufgrund längerer Befristung – schlechtere Vertragsbedingungen hinnehmen musste. Siehe dazu FAZ vom 13. 8. 1999, S. 13. Vgl. IWD 6 / 2000, S. 2 unter Berufung auf Hans-Peter Klös, Entwicklungstrends und arbeitsmarktpolitische Bedeutung, in iw-trends 1 / 2000. 51 Büchtemann, C. / Höland, A. (1989). 52 Büchtemann, C. / Höland, A. (1989), S. 283 f. 53 Büchtemann, C. / Höland, A. (1989), S. 358 f. 49 50

262

4. Kap.: Einzelwirkungen richterlicher Regelbildungen (TOP 10)

Auch hier zeigt sich wieder der trade off zwischen Bestandsschutz und Anzahl der Arbeitsplätze. 270.000 Arbeitnehmern mit geringerem Bestandsschutz stehen 80 – 90.000 neue Arbeitsplätze gegenüber. Bemerkenswert sind allerdings auch noch die relativ geringen absoluten Zahlen. Dies lässt sich möglicherweise mit der recht kurzen Untersuchungsperiode erklären. Es ist gut möglich, dass sich Änderungen im Einstellungsverhalten der Arbeitgeber erst in einem längeren Zeitraum einer neuen gesetzlichen Regelung anpassen und die Verhaltensänderung in den ersten beiden Jahren nach einer Gesetzesänderung noch von alten Gewohnheiten, Routinen etc. beeinflusst sind. Die Bewertung einer Regel, nach der eine Befristung nur bei Vorliegen bestimmter Gründe zulässig ist, mag jeder anhand des trade offs selber vornehmen. Nach den dargestellten Untersuchungsergebnissen würde sich dann die Frage stellen, ob der Schutz von 3 – 4 Arbeitnehmern vor einer Befristung ihres Arbeitsvertrages den Verlust eines Arbeitsplatzes wert ist.

I. Sozialauswahl Will man die wirtschaftlichen Auswirkungen der Regelung der Sozialauswahl analysieren, muss man sich zuerst vergegenwärtigen, wie sich die Auswahl des Arbeitgebers vollziehen würde, wenn diese Regelungen nicht existierten. In einer Situation in der in einem Betrieb Arbeitsplätze verloren gehen und deshalb Arbeitnehmer entlassen werden müssen, bieten sich für den Arbeitgeber insbesondere zwei rationale Wege, eine Auswahlentscheidung zwischen seinen Beschäftigten zu treffen. Erstens er selektiert nach den Kosten, die der Einzelne verursacht – kündigt also den Teuersten. Die zweite Möglichkeit ist, dass er nach der Leistungsstärke selektiert, d. h. er kündigt den Leistungsschwächsten. Die erste Möglichkeit läuft somit auf einen Unterbietungswettbewerb, die zweite auf einen Leistungsverdrängungswettbewerb der Arbeitnehmer hinaus.54 Am sinnvollsten wird der Arbeitgeber beide Selektionsmechanismen verbinden und somit den Arbeitnehmer kündigen, deren Wertbeiträge (Wert der Leistung – Arbeitskosten) am geringsten sind. Diese wirtschaftliche Auswahlentscheidung des Arbeitgebers nach dem Leistungsprinzip wird durch die Regelungen zur Sozialauswahl verhindert. Anstelle dessen wird die soziale Schutzbedürftigkeit zum Auswahlkriterium bestimmt. Diese Entscheidung des Gesetzgebers ist grundsätzlich verständlich und konsequent, wenn man von der Prämisse der grundsätzlichen Unterlegenheit des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber ausgeht, die allerdings – wie in Kapitel 3 Abschnitt A. II. erläutert – vom mir nicht geteilt wird. Man stärkt die Position der Arbeitnehmer, wenn man den Wettbewerb zwischen ihnen ausschaltet. 54

So auch Rieble, V. (1996), S. 304.

I. Sozialauswahl

263

Ungerechtfertigt ist jedoch jede weitergehende Belastung des Arbeitgebers. Eine solche liegt aber vor, wenn man Kriterien bei der Sozialauswahl berücksichtigt, die das Leistungsprinzip umkehren oder die Ansprüche an die soziale Auswahl zu hoch schrauben und damit die unerlässlichen Kündigungen fehleranfällig machen. Gerade dies geschieht aber durch die Rechtsprechung, wenn sie die Berücksichtigung zu vieler Aspekte fordert. Es war daher sehr begrüßenswert, dass durch das BeschfG 1996 die zu berücksichtigenden sozialen Aspekte auf die Kerndaten, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltspflichten beschränkt wurden. Zudem sind zumindest die Betriebszugehörigkeit und Unterhaltspflichten als Kriterien gut begründbar. Die Betriebszugehörigkeit deshalb, weil schon der Grundgedanke des Gesetzgebers des KSchG war, „das Band der Betriebszugehörigkeit zu schützen“ und die Unterhaltspflichten, weil sie die Gemeinschaft vor etwaigen Unterhaltsansprüchen (Sozialhilfe) schützt und zumindest nicht negativ auf die Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer wirkt. Bei dem dritten Kriterium ist die Berechtigung bereits fraglicher. Erstens kann bezweifelt werden, dass dem Lebensalter neben der Betriebszugehörigkeit noch eine eigene soziale Bedeutung zukommt, zudem belastet sie den Arbeitgeber mit der Gefahr einer überalternden Belegschaft, die tendenziell leistungsschwächer sein wird, als eine jüngere, was auch zu einer Gefährdung verbleibender Arbeitsplätze führen kann. Die an der Reduzierung der Auswahl auf die Kerndaten geübte Kritik, die Beschränkung habe die Berücksichtigung weiterer sozialer Gesichtspunkte von erheblicher Bedeutung verhindert55, trifft das Problem nicht richtig. Um ein mögliches Übergewicht des Arbeitgebers zu vermindern, reicht es, die Auswahl an objektivierbare Kerndaten zu binden. Werden weitere Sozialdaten berücksichtigt, führt dies zu Bumerangeffekten gegen die begünstigten Arbeitnehmergruppen (z. B. Ältere, gesundheitlich Angeschlagene, Schwerbehinderte). Will man nicht nur das angenommene Übergewicht des Arbeitgebers reduzieren, sondern zugleich soziale Wohltaten verteilen, so sollte man mit den Folgen nicht den Arbeitgeber belasten, sondern finanzielle Anreize setzten, welche die Gemeinschaft trägt. Eine ebenfalls ungerechtfertigte Belastung des Arbeitgebers und einzelner Arbeitnehmer liegt vor, wenn das Leistungsprinzip nicht nur ausgeschaltet, sondern umgekehrt wird. Dies ist insbesondere der Fall, wenn man Arbeitnehmer mit geringeren Arbeitsmarktchancen als sozial besonders schutzwürdig erachtet, wie es die Rechtsprechung tut. Durch die Berücksichtigung dieses Kriteriums werden besonders leistungsstarke Arbeitnehmer benachteiligt. Sie verlieren nicht nur die Vorteile ihrer Leistungsstärke, die sie bei marktlicher Auswahl bereits vor einer Kündigung bewahrt hätte, sondern sie werden darüber hinaus auch noch für ihre Leistungsstärke bestraft. Hier wird das Leistungsprinzip nicht mehr im Interesse der 55 So die amtliche Begründung der Rückgängigmachung der gesetzlichen Änderungen der Sozialauswahl BT-Drucks. 14 / 45 S. 16.

264

4. Kap.: Einzelwirkungen richterlicher Regelbildungen (TOP 10)

dem Arbeitgeber unterlegenen Arbeitnehmer ausgeschaltet, sondern zu Lasten einzelner Arbeitnehmer umgekehrt.56 Neben diesen Belastungen des Arbeitgebers sind auch Bumerangeffekte gegen die angeblich durch die Regeln der Sozialauswahl Geschützten zu beachten. Grundsätzlich gilt für alle Schutzregeln zugunsten von sozial Schwachen, die zu Lasten ihres Arbeitgebers gehen, dass sie einem fundamentalen Prinzip der Marktwirtschaft widersprechen. Die wünschenswerten Eigenschaften der Marktwirtschaft beruhen darauf, dass derjenige belohnt wird – meist finanziell – der eine wünschenswerte Leistung erbringt. Im Bestandsschutz generell und speziell bei den Regeln zur Sozialauswahl wird dieser Grundsatz aber vielfach umgekehrt. Hier wird der Arbeitgeber mit besonders starken Einschränkungen seiner Kündigungsmöglichkeiten und dadurch auch besonders hohen Abfindungszahlungen belastet, der sozial benachteiligte Arbeitnehmer angestellt hat. Er kann sich von den sozial schwächeren Arbeitnehmern nur schwer trennen, wenn sich z. B. die wirtschaftliche Lage des Unternehmens ändert. Anders ausgedrückt: Das geltende Arbeitsrecht gibt dem Arbeitnehmer einen Anreiz, Bewerber, die sozial besonders förderungswürdig sind, abzulehnen. Die dadurch verursachte Auswahl kann als ,perverse‘ Selektion bezeichnet werden.57 ,Pervers‘ wird dabei dahingehend verstanden, dass Verhaltensweisen erzeugt werden, die für den Einzelnen zwar rational sind, aber gegen das gemeinsame Interesse verstoßen. Im Ergebnis werden hier gerade die sozialen Probleme verstärkt, die man eigentlich mit der entsprechenden Regel bekämpfen wollte. Das dies nicht im konstitutionellen Interesse einer Gesellschaft sein kann, ist wohl nicht weiter erklärungsbedürftig. Ebenfalls muss nicht erläutert werden, dass eine Schwächung des Leistungsprinzips nicht wünschenswert sein kann, wenn sich dadurch auch noch die beabsichtigten sozialen Effekte ins Gegenteil verkehren. Ein Beispiel soll dies noch einmal verdeutlichen. Ein älterer Arbeitnehmer ist aufgrund der Regelungen zur Sozialauswahl besonders gut gegen eine betriebsbedingte Kündigung geschützt, was die Chance arbeitslos zu werden gegenüber jüngeren reduziert. Allerdings stellt der besondere Schutz dieses älteren Arbeitnehmers auch einen Negativanreiz für einen Arbeitgeber dar, einen solchen Arbeitnehmer einzustellen. Die daraus folgende geringere Einstellungsbereitschaft wirkt sich in der durchschnittlichen Zeit der Arbeitslosigkeit bei Verlust des Arbeitsplatzes nieder,58 wie es die folgende Tabelle für das Jahr 1993 veranschaulicht:

56 57 58

So auch Rieble, V. (1996), S. 304. Siehe dazu Vanberg, V. (1997b), S. 35 f. Vgl. dazu auch Franz, W. (1998), S. 15.

J. Sozialplan

265

männl. Arbeitnehmer zwischen . . . Jahren

Risiko arbeitslos zu werden in %

durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit in Wochen

25 und 29

24

18

55 und 59

17

50

Die Daten stammen aus Franz, W. (1998), S. 15.

J. Sozialplan Wie bereits dargelegt, resultiert aus der Erzwingbarkeit des Sozialplans eine Kostenbelastung für den Arbeitgeber bzw. das Unternehmen. Diese Belastung ist natürlich um so größer, je geringer die Anforderungen an die Erzwingbarkeit eines Sozialplans sind und je umfassender der abzufindende Personenkreis ist. In Kapitel 2 Abschnitt C. II. 3. wurde dargelegt, dass die Rechtsprechung in Bezug auf diesen Personenkreis eine Erweiterung vorgenommen hat. Danach unterliegen grundsätzlich auch Arbeitnehmer, die durch Eigenkündigung oder im gegenseitigen Einverständnis im Hinblick auf eine geplante Betriebsänderung ausgeschieden sind, einer Abfindungspflicht durch den Arbeitgeber. Zudem sind, wie bereits dargestellt, die Anforderungen an das Vorliegen einer Betriebsänderung (bloßer Beschäftigtenabbau, Verlegung der Betriebsstätte um wenige Kilometer, etc.) von der Rechtsprechung – teilweise nachvollzogen durch den Gesetzgeber – reduziert worden. Die Rechtsprechung hat dadurch ganz wesentlich an dieser Kostenbelastung der Unternehmen mitgewirkt. Die konkrete Höhe der Kostenbelastung der Betriebe durch die Regeln zum Sozialplan lassen sich an Hand der folgenden Tabelle ablesen, welche die Abfindungsbeträge (diese machen etwa 85% der gesamten Sozialplanmittel aus) abhängig von der Größe der Unternehmen darstellt. Abfindungsbeträge nach Unternehmensgrößenklassen (Angaben in 1000 DM) durchschnittlicher Abfindungsbetrag je Arbeitnehmer Unternehmen mit . . . Beschäftigten

gesamt

in konzernunabhängigen Unternehmen

in konzernabhängigen Unternehmen

1 – 49

14,4

11,8

20,2

50 – 99

21,2

17,2

30,1

100 – 499

17,0

14,2

19,8

500 und mehr

24,1

19,0

25,6

Gesamt

19,9

15,1

23,8

Quelle: Hemmer (1997), S. 127 (Anzahl der antwortenden Unternehmen: 106); zitiert aus IAB Werkstattbericht Nr. 5 / 1999, S. 13.

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4. Kap.: Einzelwirkungen richterlicher Regelbildungen (TOP 10)

Interessant an den Abfindungsbeträgen ist neben ihrer absoluten Höhe auch ihre Verteilung. Es fällt auf, dass in konzernabhängigen Unternehmen wesentlich höhere Abfindungen gezahlt werden. Dies könnte neben der erhöhten Leistungsfähigkeit auch an der sehr weitgehenden Rechtsprechung zu Weiterbeschäftigungspflichten liegen [siehe dazu Kapitel 2 Abschnitt B. II. 4.]. Daneben ist ersichtlich, dass tendenziell Unternehmen mit höheren Mitarbeiterzahlen auch höhere Abfindungssummen zahlen. Nicht in dieser Studie berücksichtigt wurde hingegen, dass in kleineren Betrieben sehr viel seltener überhaupt ein Sozialplan aufgestellt wird, was vorrangig an der geringeren Wahrscheinlichkeit der Existenz eines Betriebsrates liegt.59 Die Kostenbelastung durch das Prinzip der Erforderlichkeit eines Sozialplans bei Betriebsänderungen hat natürlich wie jede Regel Rückwirkungen auf das Verhalten der Regelunterworfenen, also hier der Arbeitgeber. Besonders negative Rückwirkungen zeigen sich dabei, wenn die Sanierung eines Betriebes ansteht. Diese Sanierungen sind wegen der weiten Auslegung des Begriffes Betriebsänderung i. S. der §§ 111 ff. BetrVG sehr häufig sozialplanpflichtig. Die mit dem Sozialplan drohenden Kosten schrecken bereits einige Unternehmen ab, eine Sanierung überhaupt oder aber rechtzeitig durchzuführen. Dies kann dazu führen, dass es zu einer verspäteten Anpassung an Strukturwandel oder sich ändernde Kundenwünsche kommt. Langfristig gesehen kann dies zu einer Gefährdung des gesamten Betriebes und volkswirtschaftlich gesehen zu einer Verlangsamung des Strukturwandels führen. Aber auch wenn sich ein Unternehmen trotz des Erfordernisses eines Sozialplans zu einer Betriebsänderung entscheidet, kommt es zu unerwünschten Reaktionen. Ein Unternehmen setzt sich im Falle einer Sanierung regelmäßig finanzielle Ziele. Sei es z. B. in Form von Planzahlen zu welcher Zeit wieder ein Profit in welcher Höhe zu erreichen ist oder welches Einsparvolumen erreicht werden muss. In allen Fällen wird es bei der Planung, wie diese Ziele zu erreichen sind, berücksichtigen, welche Kosten durch die Sanierung anfallen. Dabei spielen die Kosten eines Sozialplans eine erhebliche Rolle. Im Ergebnis wird daher ein Unternehmen dazu tendieren, das Einsparvolumen und damit auch das Personalabbauvolumen von vornherein höher anzusetzen, da die Sozialplankosten kompensiert werden müssen.60 Zwar hat der Gesetzgeber diese Gefahr gesehen und deshalb in § 112 V Nr. 3 BetrVG als Grundsatz für die Einigungsstelle aufgestellt: „Sie hat bei der Bemessung des Gesamtbetrages der Sozialplanleistungen darauf zu achten, dass der Fortbestand des Unternehmens oder die nach Durchführung der Betriebsänderung verbleibenden Arbeitsplätze nicht gefährdet werden.“ Dieser Grundsatz hat in der Praxis aber die gewünschte Wirkung wohl nicht erreicht.61 Dies liegt sicherlich zum Großteil an der Rechtsprechung. So hat das 59 60

IAB Werkstattbericht Nr. 5 / 1999, S. 11 f. Ähnlich argumentiert auch Gentz, M. (1996), S. 15.

J. Sozialplan

267

BAG beispielsweise entschieden, dass die durch den Sozialplan verursachte Reduktion der Mittel, z. B. für Ersatzinvestitionen, notwendige Folge sei und daher die wirtschaftliche Unvertretbarkeit allein nicht begründen könne.62 Nach anderen Entscheidungen des BAG ist es zulässig, dass sich der Sozialplan einschneidend auf die Ertragskraft des Unternehmens auswirkt63 oder das Volumen des Sozialplans die Einsparungen von einem Jahr übertrifft.64 Auch ist ein Sozialplan nicht deswegen unwirksam oder kündbar, weil es grundsätzlich an den Mitteln zur Durchführung des Sozialplans fehlt.65 Bereits an diesen Beispielen sollte deutlich werden, dass in der Praxis die Belastung des Unternehmens sehr wohl zu weiteren Arbeitsplatzverlusten führen kann. Dies kann sehr gut an der ersten angeführten Entscheidung abgelesen werden. Sicherlich trifft es zu, dass es selbstverständlich ist, dass die Sozialplanleistungen zur Reduktion der zur Verfügung stehenden Mittel führt. Wenn dies aber auch zur Beschneidung von Ersatzinvestitionen führt, wie es das Gericht selbst anspricht, so ist es genauso selbstverständlich, dass dies zur Gefährdung weiterer Arbeitsplätze führt. Auch die Selbstverständlichkeit mit der von der Rechtsprechung und Teilen der Literatur angenommen wird, dass die Höhe der Sozialplankosten das Einsparvolumen von einem oder sogar mehreren Jahren66 übersteigen darf, erstaunt. In der Regel wird ein Unternehmen saniert bzw. eine Betriebsänderung vorgenommen, wenn es Schwierigkeiten hat, am Markt bestehen zu bleiben. Werden die finanziellen Erfolge einer Sanierung aber um Zeiträume von mehr als einem Jahr durch die Belastungen aufgezehrt, ist es wohl häufig zu spät, noch einmal am Markt Fuß zu fassen. Dies gilt wohl vermehrt, da sich das Marktumfeld zunehmend schnell verändert. Im Ergebnis muss man daher davon ausgehen, dass die Sozialplanpflicht bei Betriebsänderungen im Sanierungsfall zu einem verstärkten Personalabbau führt. Pointiert drückt dies der ehemalige Personalvorstand der Daimler Benz AG Gentz aus: „Weil die hohen Sozialplankosten kompensiert werden müssen, wird das Personalabbauvolumen von vornherein höher angesetzt.“67 Auch eine Verlangsamung des Strukturwandels dürfte eine der unerwünschten Folgen der Sozialplanpflicht sein. 61 Vgl. dazu beispielsweise Hümmerich, K. (1996), S. 1292 oder auch Gentz, M. (1996), S. 15. 62 So BAG NJW 1980, 83, (86). Diese Entscheidung ist auch in Bezug auf die Ausdehnung des Begriffs der Betriebsänderung interessant. 63 BAG NZA 1990, 443, (445). 64 BAG NZA 1988, 203, (206 f.). Siehe zu diesen Beispielen auch Hümmerich, K. (1996), S. 1292. 65 BAG NZA 1995, 314 (317). 66 Däubler, W. (1998b), §§ 112, 112a, RN 87. 67 Gentz, M. (1996), S. 15.

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4. Kap.: Einzelwirkungen richterlicher Regelbildungen (TOP 10)

Bei dem gefundenen Ergebnis zu den wirtschaftlichen Auswirkungen fällt auch hier eine Bewertung der Sozialplanpflicht zumindest in der jetzigen Struktur nicht schwer. Durch die Regeln der Sozialplanpflicht werden zwar die Übergangsprobleme der zu Entlassenden gemildert, dies geht aber zu Lasten der noch lebensfähigen Teile des Unternehmens. Insofern werden die noch profitablen oder überlebensfähigen Teile mit den Übergangskosten der zu schließenden Teile belastet und man untergräbt dabei häufig auch deren Überlebensfähigkeit. Aus diesem Grunde scheint es besser, wenn die Gesamtheit oder aber der Arbeitnehmer die Anpassungslasten tragen würde68, um die negativen Wirkungen einer Betriebsstilllegung einzugrenzen.

68 So im Ergebnis auch Franz, W. (1994), S. 453: „Zusammengefaßt sind die Argumente pro Sozialplanleistungen wenig überzeugend, es sei denn, sie werden durch Lohnabschläge finanziert. in diesem Fall lohnt es sich jedoch, über eine explizite Versicherungslösung nachzudenken.“

5. Kapitel

Gründe für die mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung – eigener Erklärungsansatz Die beiden wichtigsten Ergebnisse der Kapitels 3 und 4 werden im Folgenden die Ansatzpunkte für einen eigenen Erklärungsansatz richterlichen Verhaltens sein. Das erste sehr wichtige Ergebnis des letzten Kapitels war, dass die Regeln des Bestandsschutzsystems ordnungsökonomisch gesehen insgesamt schwere Mängel aufweisen und insbesondere die Regelsetzung durch die Rechtsprechung als „ordnungsökonomisch irrational“1 beurteilt werden musste. Zweitens wurde die eindeutige Tendenz der Rechtsprechung nachgewiesen, die Rechte des einzelnen Arbeitnehmers zu Lasten des Arbeitgebers auszuweiten. Diese beiden Ergebnisse bedürfen einer näheren Untersuchung, da sie keineswegs selbstverständlich, sondern angesichts der bisherigen Richtungen der wissenschaftlichen Arbeiten zur Erklärung richterlichen Verhaltens und ihrer Ergebnisse eher überraschend sind. Im folgenden sollen die Gründe für diese beiden Ergebnisse getrennt untersucht werden, obwohl sie einige Gemeinsamkeiten aufweisen, da es ansonsten leicht zu einer Verwirrung der Begriffe und Argumente kommen könnte.

A. Gründe für die ordnungspolitische Irrationalität der Rechtsprechung In diesem Abschnitt soll untersucht werden, aus welchen Gründen es zu der festgestellten ordnungspolitischen Irrationalität bzw. Ineffizienz der Ergebnisse der Rechtsprechung kommt. Anders ausgedrückt: Es soll untersucht werden, welche Faktoren die Richter veranlassen, Urteile zu fällen, die zusammengenommen zu einer ordnungsökonomisch irrationalen Regelbildung führen. Da es, wie schon oben in Kapitel 1 analysiert, bisher keinen Ansatz zur Erklärung richterlichen Verhaltens gibt, der einen Ansatzpunkt ergeben hat, aus dem ein Eigeninteresse des Richters geschlossen werden könnte, soll der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Analyse der unterschiedlichen Verfahren gesetzgeberischer 1 Zum Begriff ,ordnungsökonomisch irrational‘ und der Verbindung zum Begriff ,ineffizient‘ siehe unten Abschnitt A. I. 1.

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

bzw. richterlicher Normsetzung liegen. Ziel ist es festzustellen, ob Vor- oder Nachteile eines Verfahrens einen Grund für unterschiedliche Ergebnisse hinsichtlich der ordnungspolitischen Rationalität darstellen. Bevor wir uns aber den unterschiedlichen Verfahren widmen, soll noch untersucht werden, warum ein Großteil der hauptsächlich aus ökonomischer Richtung stammenden Untersuchungen richterlicher Normsetzung zu dem Ergebnis kommen, diese tendiere zu effizienten Regeln. Diese Untersuchung hat vor allem zwei Gründe. Erstens soll festgestellt werden, ob die bisherigen Annahmen grundsätzlich oder nur für den spezifischen Fall des arbeitsrechtlichen Bestandsschutz nicht zutreffen. Dies bildet zugleich eine Art von Stimmigkeitskontrolle der eigenen Ergebnisse. Zweitens lassen sich aus der Begründung für die bisherige Annahme zum Ergebnis richterlicher Rechtssetzung und deren kritischer Überprüfung Anregungen für die folgende eigene Untersuchung gewinnen.

I. Bisherige These: Effizienz der Rechtsprechung Wenden wir uns dem ersten der wichtigen Ergebnisse des Kapitels 3 zu, nämlich der Erkenntnis der schweren ordnungsökonomischen Mängel der Regeln des geltenden Bestandsschutzsystems. Dort wurde festgestellt, dass insbesondere die Regelsetzung durch die Rechtsprechung als ordnungsökonomisch irrational und damit auch als ineffizient beurteilt werden muss. Dieses Ergebnis steht in Widerspruch zu der schon oben dargestellten und weithin vertretenen These, dass „judge-made rules tend to be efficiency promoting while those made by legislatures tend to be efficiency reducing.“2 Diese These beruht auf Ideen von Rubin3 und wird insbesondere von Posner vertreten, aber – soweit ersichtlich – auch von den meisten deutschen Autoren, die sich mit der economic analysis of law beschäftigen, geteilt.4 So heißt es in einem von Ott und Schäfer – den wohl bekanntesten deutschen Vertretern der ökonomischen Analyse des Rechts – herausgegebenen Buch5: „Unterteilt man das Recht des Güter- und Leistungsaustausches in zwei Kategorien, Richterrecht und Parlamentsrecht und sucht man nach der Effizienz rechtlicher Regeln, so stellt man häufig eine höhere Effizienz des Richterrechts als des Parlamentsrechts fest. ( . . . ) Die Effizienz des Richterrechts ist bisher zwar noch nicht umfassend untersucht worden, aber wesentlich mehr als bloße Vermutung.“ Die Effizienz-These gewinnt zudem durch Verbindungen bzw. Ähnlichkeiten zu einem in Teilen der Ordnungstheorie vertretenen ,evolutionistischen‘ Optimismus bzgl. der Vorteile einer fließenden Normentwicklung an theoretischem Hintergrund. 2 3 4 5

Posner, R. (1977), S. 404. Rubin, P. (1977), S. 51 ff. Schäfer, H. (1989), S. 20. Schäfer, H. (1989), S. 20.

A. Gründe für die ordnungspolitische Irrationalität der Rechtsprechung

271

Bevor wir uns aber der Untersuchung dieser These widmen, muss noch geklärt werden, was von den Vertretern der Effizienz-These unter Effizienz verstanden wird und wie diese mit der von uns bisher untersuchten ordnungsökonomischen Rationalität zusammenhängt.

1. Ordnungsökonomische Rationalität versus Effizienz im Sinne der Ökonomischen Analyse des Rechts Die ökonomische Analyse des Rechts orientiert sich vorrangig an den in der Wohlfahrtsökonomie verwendeten Effizienzkriterien. Dies sind insbesondere das Pareto- und das Kaldor-Hicks-Kriterium. Nach dem Pareto-Kriterium ist ein sozialer Zustand einem anderen Zustand dann sozial vorzuziehen, wenn mindestens ein Gesellschaftsmitglied diesen Zustand für besser hält und alle anderen Gesellschaftsmitglieder diesen Zustand für mindestens gleich gut halten. Das KaldorHicks-Kriterium hingegen lautet: Ein sozialer Zustand x ist besser als ein sozialer Zustand y, wenn es möglich ist, vom Zustand x ausgehend alle durch den Übergang von y zu x benachteiligten Gesellschaftsmitglieder zu entschädigen und nach dieser Entschädigung mindestens ein Gesellschaftsmitglied den Zustand x dem Zustand y vorzieht und niemand den Zustand y dem von x vorzieht.6 Insbesondere dieses zweite Kriterium wird von der Ökonomischen Analyse des Rechts „für die Evaluierung neuer oder modifizierter Rechtsnormen und als allgemeines Kriterium für die Abwägung von Interessen“7 benutzt. Daraus wird deutlich, dass es sich bei der Effizienz im Sinne der Ökonomischen Analyse des Rechts vorwiegend um eine Effizienz im Sinne einer reinen Allokationseffizienz handelt. Anders ausgedrückt, es handelt sich um einen Vergleich zweier sozialer Zustände, wenn von Effizienz die Rede ist. Insofern weicht sie erheblich von der in dieser Arbeit untersuchten ordnungsökonomischen Rationalität ab, die nicht auf Allokationsaspekte beschränkt ist, sondern von der Wünschbarkeit einer Regel im umfassenderen Sinne ausgeht. Zwar wird von Vertretern der Ökonomischen Analyse des Rechts zuweilen auch auf die Legitimationsbasis der einstimmigen Konsensfähigkeit bei der Wahl zwischen zwei alternativen sozialen Zuständen verwiesen, wobei sich Schäfer sogar ausdrücklich auf Buchanan und Tullock bezieht.8 Dies kann aber nicht über die Unterschiede zwischen der Effizienz i. S. der ÖAR und der ordnungsökonomischen Rationalität hinweg täuschen. Diese werden auch in der grundsätzlichen Kritik Buchanans9 deutlich: „Law and legislation that is thoroughly informed by good economics will be based on an understanding of the market‘s funktion in maintaining social order, 6 7 8 9

So Schäfer, H. (1989), S. 3. Schäfer, H. (1989), S. 3. Schäfer, H. (1989), S. 4. Buchanan, J. (1974), S. 486.

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

which is not primarily that of insuring efficiency or maximizing value, as measured in market-determined prices . . . The market economy‘s socio-political function is that of minimizing the necessity of resorting to internal ethical restraints on human behavior and / or external legal-govermental-political restriction. To the extent that men are allowed freely to trade, conceived in the broadest possible sense of this term, there is little need for the preacher or the administrative authority.“ Der Hauptunterschied zwischen Effizienz im Sinne der ÖAR und ordnungsökonomischer Rationalität ist mithin, dass die Effizienz den Vergleich zweier sozialer Zustände, die ordnungsökonomische Rationalität den Vergleich zweier Regeln betrifft. Bezöge man den Begriff der Effizienz auf die Fragestellung nach der Wünschbarkeit einer Regel fiele er hingegen mit dem der ordnungsökonomischen Rationalität zusammen. Aufgrund dieser Ähnlichkeiten bleibt es trotz der Unterschiedlichkeit der Begriffe erstaunlich, dass die Literatur von einer Effizienz der richterlichen Normgebung ausgeht, während in dieser Untersuchung die ordnungsökonomische Irrationalität der Rechtsprechung aufgezeigt wurde, die zudem noch vorrangig auf einer Verletzung des Prinzips der Marktmäßigkeit beruht. Dies ist um so mehr der Fall, wenn auch andere Richtungen zu einer Art von Effizienzthese kommen und dabei von einem sehr viel ähnlicheren oder gleichem Effizienz- bzw. Rationalitätskriterium ausgehen, wie dies insbesondere bei den Vertretern eines „evolutorischen Optimismus“ der Fall ist (dazu gleich unten).

2. Gründe für die bisherige These Posner selbst glaubt, dass eine mögliche Erklärung für den angeblichen Vorteil der richterlichen Regelbildung in den unterschiedlichen Verfahren der Richter und der Legislativen liegt. Er meint, es sei unwahrscheinlich, dass der Richter einen Fall danach entscheide wer die ,bessere‘ Partei sei. Vielmehr sei der Richter geradezu gezwungen, die Parteien als Repräsentanten ihrer Gruppe zu sehen. Zudem sei durch die Verfahrensregeln ein ökonomisches Eigeninteresse des Richters ausgeschlossen. Daher glaubt er: „In these circumstances, it is natural if not inevitable that he should ask which of the compelling activities is more valuable in the economic sense.“10 Im Gegensatz dazu betont er die Anfälligkeit der Legislativen für ,spezial interest legislation‘.11 Verkürzt gesagt, schließt Posner lediglich eine Ursache für ineffiziente Regelbildung, nämlich ,spezial interest legislation‘ aus, und folgert daraus bereits, dass Richter sich am Effizienzkriterium orientieren. Weitere Ursachen, die möglicherweise die Effizienz richterlicher Regelbildung fördern oder behindern, spricht er nicht an. 10 11

Posner, R. (1977), S. 405. Posner, R. (1977), S. 405 ff.

A. Gründe für die ordnungspolitische Irrationalität der Rechtsprechung

273

Dies mag ein Zeichen für einen markanten ,Evolutionistischen Optimismus‘ sein, den Vanberg12 und Brennan / Buchanan13 beschreiben und dessen wichtigster Vertreter Hayek ist. Bei Hayek spielt der Prozess der spontanen Entwicklung von Regeln als evolutionärer Prozess eine entscheidende Rolle. Danach bilden sich die allgemeinen Regeln, welche die Grundlage der spontanen (Handels-)Ordnung sind, „selbst in einem Prozess allmählicher Entwicklung als unintendiertes Produkt des Zusammenspiels individueller Bestrebungen“14, also selbst als spontane Ordnung. Nach der zugrundeliegenden Vorstellung konkurrieren verschiedene mehr oder weniger zufällig herausgebildete Regeln miteinander. Dabei setzen sich in einem Selektions- oder Auswahlprozess diejenigen Regeln durch, „die zur Bildung einer wirksamen Ordnung der ganzen Gruppe führen“15 und „die die Gruppe leistungsfähiger“16 machen. Den Hauptvorteil der evolutorischen Regelbildung und Veränderung sieht Hayek in der besseren Nutzung vorhandener Informationen, da in den spontanen Prozess mehr Wissen eingeht, als einer bewusst planenden Instanz jemals zur Verfügung stehen kann.17 Diesen Gedanken zufolge müsste die richterliche der legislativen Regelbildung überlegen sein, da sich die richterliche von einem Fall zum anderen langsam herausbildet und nicht vom Gesetzgeber konstruiert und mit einem Akt in Kraft gesetzt wird. Durch diese allmähliche Bildung müssten in die richterliche Regelbildung aufgrund der den konkreten Fällen zugrunde liegenden Sachverhalten und Rechtsmeinungen mehr Informationen eingehen. Die effiziente Regel würde sich quasi automatisch unter denen am Anfang divergierenden einzelnen Urteilen herausbilden und mit der Zeit zur verbindlichen Regel werden. Fraglich ist aber, ob es auch einen Mechanismus gibt, der dazu führt, dass das zur Verfügung stehende Wissen tatsächlich zur Bildung einer besseren Regel genutzt wird oder anders ausgedrückt, ob sich im Wettbewerb tatsächlich die effizientere Regel durchsetzt. Diese Problematik spricht Vanberg18 an, wenn er meint: „Nun schließt natürlich dieses Informationsargument, obschon ihm ohne Zweifel ein großes Gewicht zukommt, keineswegs aus, daß spontane Prozesse auch zu [für die betroffenen Akteure] unerwünschten, unintendierten sozialen Gesamtresultaten führen können, ja u.U. zu Ergebnissen, die den Interessen aller Beteiligten zuwiderlaufen.“ Noch eindeutiger formulieren es Brennan / Buchanan19: „Es gibt aber keinen Grund für die Annahme, daß diese Kräfte immer zur Selektion der Vanberg, V. (1982), S. 103. Brennan, G. / Buchanan, J. (1993), S. 13. 14 So beschreibt Vanberg, V. (1982), S. 99 die bei Hayek nicht so deutlich herausgearbeitete Vorstellung. 15 v. Hayek, F. (1970), S. 11 – zitiert nach Vanberg, V. (1982), S. 102. 16 v. Hayek, F. (1969), S. 151 – zitiert nach Vanberg, V. (1982), S. 102. 17 So Vanberg, V. (1982), S. 103. 18 Vanberg, V. (1982), S. 103. 19 Brennan, G. / Buchanan, J. (1993), S. 13. 12 13

18 von Klitzing

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

besten Regeln führen.“ Den Grund dafür sehen sie in der Möglichkeit, „dass nur ein geringer oder gar kein evolutionärer Druck in Richtung auf die Herausbildung einer vorteilhaften Regel wirkt.“20 Als Ansatz für einen Effizienz-Mechanismus gehen die Vertreter der Effizienzthese meist von der unterschiedlichen Struktur der gesetzlichen gegenüber der richterlichen Regelbildung aus. Der Abstraktheit und Starrheit der gesetzlichen Regeln werden dabei von den Befürwortern einer weitgehenden richterlichen Normsetzung die Vorteile einer allmählichen quasi fließenden Entwicklung richterlicher Normentwicklung gegenübergestellt. Rose21 drückt dies folgendermaßen aus: [Die Gerichte] „. . . allein sind in der Lage punktuell, gleichsam sich von Fall zu Fall forttastend, eine gleitende Rechtsentwicklung zu gewährleisten.“ Die Vorstellung geht dahin, dass eine Norm unabhängig davon, ob sie richterrechtlicher oder legislativer Natur ist, vom Richter unter Hinweis auf die Besonderheiten, des von ihm zu entscheidenden Falles, abgeändert werden kann. Die betreffende Norm kann so von den Randbereichen her langsam geändert oder aber in ihrem Wirkungsbereich ausgedehnt bzw. eingeschränkt werden, ohne dass es einer sofortigen Abänderung der entsprechenden Norm bedarf. Erweist sich die neue Interpretation als Lösung der rechtlichen Problematik überlegen, wird sie ausgedehnt und verändert auch den Kernbereich der Norm. Andernfalls kann sie unproblematisch wieder fallengelassen werden.22 Dieser Wirkungsmechanismus kommt wohl der oben beschriebenen Ansicht Hayeks von der Entwicklung einer spontanen Regelordnung recht nahe. Aber auch hier ist im Endeffekt nicht ersichtlich, warum sich gerade die effizienteren Regeln durchsetzen sollten. Zwar wird der Richter häufiger mit einer ähnlichen Problemstellung konfrontiert, so dass er teilweise rückwirkend feststellen kann, ob sich eine Norm bewährt. Da er praktisch Normanwender und Normgeber bzw. -änderer ist, bekommt er ein gewisses Maß an feed back.23 Auf der anderen Seite ist nicht gesagt, dass das feed back zu einer effizienteren Lösung führt. Für den Richter wird das feed back am ehesten zu einer Regeländerung oder Anpassung führen, wenn seine aufgestellte Regel nicht in der Lage ist, die konkrete Rechtsfrage zu entscheiden. In diesem Fall wird er die Regel ausdifferenzieren oder abändern. Ob die Regel dabei effizient im ökonomischen Sinne ist, wird dabei aber keine Rolle spielen. Zudem kann man bei einer Einzelfallentscheidung wohl nie oder nur ganz selten von Effizienz sprechen, da sie meist ein Nullsummenspiel ist. Was der Richter der einen Partei zuspricht, nimmt er der anderen. Erst in der Vielzahl der Fälle bzw. in der Reaktion – der Verhaltensänderung – der Betroffenen zeigt sich, ob die Norm effizient im ökonomischen Sinne ist. Mit dieser Reaktion wird der Richter aber meist gar nicht mehr konfrontiert. Typisches Beispiel dafür ist z. B. die Ver20 21 22 23

Brennan, G. / Buchanan, J. (1993), S. 13. Rose, F. (1997), S. 198, mit weiteren Hinweisen. Ähnlich beschreibt z. B. Wank, R. (1978), S. 127 den Prozess. So Wank, R. (1978), S. 127.

A. Gründe für die ordnungspolitische Irrationalität der Rechtsprechung

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stärkung des Schutzes gegen krankheitsbedingte Kündigungen. Die mögliche Reaktion der Arbeitgeber – keine Arbeitnehmer mit erhöhtem Krankheitsrisiko einzustellen – hat auf die vor dem Richter verhandelten Streitgegenstände keine Auswirkungen. Im Gegenteil, er wird tendenziell seltener mit krankheitsbedingten Kündigungen konfrontiert und hat somit weniger Anlässe und Gründe, die einmal aufgestellten Regeln abzuändern. Es kann festgehalten werden, dass die schrittweise Entwicklung der Rechtsprechung an sich kein Grund für die Entwicklung effizienter Regel ist, solange es an einem Mechanismus fehlt, der ineffiziente Regeln aussortiert.

3. Untersuchung des angeblichen Effizienz-Mechanismus Die Vertreter der Theorie der Effizienz richterlicher Regeln glauben einen Mechanismus gefunden zu haben, der zur Durchsetzung effizienter Regeln bzw. einer höheren Wahrscheinlichkeit der Durchsetzung führt. Sie gehen von einer einmal gesetzten richterlichen Regel aus. Für die Betroffenen dieser Regel besteht nun die Möglichkeit, diese in einem neuen Verfahren überprüfen zu lassen. Dies werden sie vernünftiger Weise tun, wenn der Erwartungswert der Vorteile der Änderung der Regel die Kosten des Verfahrens übersteigt. Nun, so argumentieren sie weiter, wird der Vorteil der Aufhebung einer Regel über viele Fälle gesehen im Schnitt größer sein, wenn die Regel ineffizient ist, als wenn sie effizient ist. Geht man davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit der Aufhebung effizienter Regeln nicht höher ist als die Aufhebung ineffizienter, ist somit der Erwartungswert der Vorteile einer Aufhebung ineffizienter Regeln höher als derjenige effizienter Regeln. Somit werden im Endeffekt ineffiziente Regeln im gerichtlichen Verfahren häufiger angegriffen als effiziente. Geht man nun davon aus, dass der einzelne Richter über die Abänderung der Regel nicht einmal nach Effizienzregeln, sondern rein zufällig entscheidet – und dies wird meist unterstellt – werden effiziente Regeln vorherrschen.24 Diese Theorie von dem Vorhandensein eines Effizienz-Mechanismusses hat aber einige erhebliche Schwächen. Eine dieser Schwächen – und noch dazu eine für unsere Analyse interessante – ist, dass sie vernachlässigt, wie hohe und ob überhaupt Gewinne aus einer Regeländerung für die Unterstützung eines einzelnen Klägers nutzbar sind.25 Nehmen wir zur Veranschaulichung als Beispiel aus dem Bereich des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes die Regelungen zur betriebsbedingten Kündigung. Hier werden die Interessen der beschäftigten Arbeitnehmer 24 Erste Grundlagen zu diesem Verständnis von einem solchen Selektionsmechanismusses legte Rubin, P. (1977), S. 51. Eine gute Zusammenfassung des jetzigen Standes bietet v. Wangenheim, G. (1995), S. 75 f. 25 Diese Kritik erwähnt auch v. Wangenheim, G. (1995), S. 78 f., der zu Recht auf die Theorie der Clubs verweist.

18*

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

durch die Gewerkschaften vertreten, die der Arbeitgeber durch deren Verbände – z. B. durch den Zentralverband des deutschen Handwerks. Hingegen lassen sich die Interessen der Arbeitslosen gar nicht oder nur schwer bündeln. Ihnen mangelt es an einer Interessenvertretung, die ihre Interessen als Drittbetroffene geltend machen könnte. Es fehlt sogar dem Einzelnen wie auch einer potentiellen Interessenvertretung an der Möglichkeit, Regeln aus diesem Bereich anzugreifen oder angreifen zu lassen, da gar kein rechtlicher Weg für die Anfechtung einer Regel durch einen lediglich Drittbetroffenen existiert. Die Interessen der Drittbetroffenen können also auch in den Erwartungswert einer Klage gegen eine Regel gar nicht eingehen. Die Folge ist, dass Regeln, die ineffizient sind, weil sie Dritte negativ betreffen, aufgrund dieser Ineffizienz nicht häufiger angegriffen werden als effiziente. Im Gegenteil: Mit dieser Theorie ließe sich sogar begründen, dass richterrechtliche Regeln gerade dazu neigen, drittbelastende Wirkung zu entfalten, da deren Möglichkeit, und damit der Wahrscheinlichkeitswert eine solche Regel anzugreifen, sehr gering sind. Die Folge könnte eine Tendenz des Richterrechts zur Abwälzung von Nachteilen einer rechtlichen Regelung auf unbeteiligte Dritte sein. Bezogen auf das Beispiel der betriebsbedingten Kündigung könnte dies zu der folgenden Begründung der Gesetzesentwicklung führen: Die ursprünglich vom Gesetzgeber beabsichtigte reine Willkürkontrolle wurde von der Arbeitnehmerschaft und ihrer Interessenvertretung, der Gewerkschaft, als für sie nachteilig angesehen. Der einzelne Arbeitnehmer und insbesondere dessen Interessenvertretung – die Gewerkschaften – versprachen sich erhebliche Vorteile in Form von Arbeitsplatzsicherheit aus einer Abänderung dieser Regel. Die Folge war, dass der Grundsatz der freien Unternehmerentscheidung sehr häufig angegriffen und von der Rechtsprechung allmählich immer mehr eingeschränkt wurde. Diese Einschränkung traf aber auf zunehmenden Widerstand der Arbeitgeber und ihrer Interessenvertretung, nämlich der Arbeitgeberverbände, da die Nachteile in Form geringerer Flexibilität, Lohnfortzahlung etc. recht erheblich waren. Die Reaktion der Arbeitgeberseite wäre nach der oben erläuterten Theorie eine zunehmende arbeitgeberseitige Überprüfung der für sie nachteiligen Regeln. Infolgedessen blieb der Grundsatz der freien Unternehmerentscheidung grundsätzlich erhalten und wird in letzter Zeit auch teilweise wieder weitergehend interpretiert. Die andere Schienen, auf der der Schutz der Arbeitnehmer gegen betriebsbedingte Kündigungen nach und nach verstärkt wurde, war die Weiterbeschäftigungspflicht auf einem anderen Arbeitsplatz. Die Verstärkung dieser Regel lässt sich ebenfalls mit dem hohen Ertrag einer Regeländerung für die beschäftigten Arbeitnehmer und die damit zusammenhängende häufige Überprüfung einer diesbezüglichen Regel begründen. Hier fällt aber der Widerstand der Arbeitgeber nicht so stark aus. Müssen sie einen Arbeitsplatz neu besetzen, täten sie dies zwar lieber ohne rechtliche Bindungen, aber ein so starker Nachteil wie bei einer möglicherweise überflüssigen Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers auf seinem alten Arbeitsplatz fällt für den Arbeitgeber nicht an. Deshalb ist auch die Wahrscheinlichkeit der Anfechtung einer diesbezüglichen für Arbeitnehmer günstigen Regel geringer. Die Regeln in diesem Bereich tendieren

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daher in Richtung auf eine umfangreichere Weiterbeschäftigungspflicht. Benachteiligt sind dadurch die Arbeitsuchenden, die von einem nicht unerheblichen Teil der frei werdenden Stellen ausgeschlossen bleiben, da diese intern besetzt werden müssen. Dieser Nachteil für die drittbetroffenen Arbeitsuchenden schlägt sich aber nicht in einer häufigeren Anfechtung einer diesbezüglichen Regel nieder, da weder einem Arbeitsuchendem noch irgendeiner Interessenvertretung ein Klagerecht zusteht. Das Ergebnis der näheren Untersuchung des Mechanismusses zur Erklärung der tendenziellen Effizienz der Rechtsprechung ist somit, dass es allenfalls eine Tendenz zur „zweiseitigen Effizienz“ gibt, dass diese aber auf Kosten einer Tendenz zu Lasten Drittbetroffener geht. Eine weitere Kritik, die an der Theorie zum „Effizienz-Mechanismus“ geäußert wird, besteht darin, dass sie den Erkenntnissen der Public-Choice Theorie entgegensteht. Diese geht grundsätzlich von dem Eigeninteresse der Individuen aus. Die Theorie zum „Effizienz-Mechanismus“ hingegen vernachlässigt dieses Eigeninteresse. Wangenheim erweitert diese Kritik, indem er anführt, man könne den Effizienz-Mechanismus auch auf die Legislative anwenden. „Gesetze und Verordnungen würden sich dann auf ein Gleichgewicht hinentwickeln, das überwiegend von effizienten Regeln beherrscht würde, da ineffiziente Regeln mit einer größeren Wahrscheinlichkeit im politischen Prozess hinterfragt werden würden als effiziente Regeln.“26 Interessant an dieser Kritik ist meines Erachtens die Idee, den Ansatz die Effizienz-Mechanismus Theorie auch auf die Legislative anzuwenden und die Ergebnisse mit denen einer Anwendung auf die Judikative zu vergleichen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Wahrscheinlichkeit der Anfechtung einer Regel nicht nur von dem Erwartungswert der Gewinne aus der Abänderung der Regel abhängt, sondern auch von der Organisierbarkeit der Gewinne. Auf das obige Beispiel bezogen zeigt sich, dass auch hier die Interessen der Arbeitsuchenden vernachlässigt werden. Die Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer werden von den Gewerkschaften bzw. den Arbeitnehmervereinigungen organisiert. Eine solche Organisation zeigte sich idealtypisch im Kampf des Zentralverbandes des deutschen Handwerks gegen die gesetzliche Regelung zum Schwellenwert des § 23 KSchG. Aufgrund seiner Initiative wurde diese Regel im BeschfG 1996 dahingehend abgeändert, dass von da an nur noch Betriebe mit 11 oder mehr Arbeitnehmern unter das KSchG fielen. Die politischen Proteste und der Einsatz der Gewerkschaften im Wahlkampf 1998 trugen dann dazu bei, dass die diesbezügliche Regelung nach dem Regierungswechsel sofort wieder aufgehoben wurde. Hieran erkennt man, wie gut sich die Vorteile einer Regeländerung durch Interessenverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer organisieren lassen. Eine solche Interessenvertretung steht den Arbeitsuchenden aber nicht zur Verfügung, so dass 26

So v. Wangenheim, G. (1995), S. 77.

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

ihre Interessen wie bei der Judikativen, so auch bei der Legislativen vernachlässigt werden. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass die Politiker und damit die Legislative insgesamt befürchten müssen, dass ihnen Wählerstimmen verloren gehen könnten, wenn sie zu offensichtlich die Interessen der Arbeitsuchenden vernachlässigen. Auch wenn diese Gefahr wegen der schwierigen Regelfolgenabschätzung für den Normalwähler relativ gering sein mag, besteht immerhin diese Art der Einflussnahme für den Arbeitsuchenden. Für den Bereich der Judikativen besteht nicht einmal ein solcher begrenzter Sanktionsmechanismus. Zudem beruht der festgestellte Mangel bei der Regelbildung der Legislativen auf dem Umstand der mangelnden Organisierbarkeit einer speziellen Gruppe und ist damit mehr oder weniger zufällig, während bei der Rechtsprechung aus Verfahrensgründen Drittbetroffene grundsätzlich nicht berücksichtigt werden können. Vielleicht ist dies eine Begründung dafür, dass die Gesetzgebung zwar einen Teil der richterlichen Rechtsfortbildung zum Weiterbeschäftigungsanspruch gesetzlich nachvollzogen hat, aber nicht den ganzen Weg der Rechtsprechung in diesem Bereich gesetzlich bestätigt hat. Die weitere Kritik, dass die Theorie zum „Effizienz-Mechanismus“ gegen die Annahme der Eigeninteressiertheit der Public-Choice Theorie verstoße, trifft meines Erachtens nicht zu. Wie wir bereits festgestellt haben, sind die Regeln zur Richterstellung und zur Prozessordnung sorgfältig darauf abgestimmt, dass der Richter keine eigenen Interessen in einem Prozess verfolgen kann. Die Versuche, trotzdem solche eigennützigen Ziele zu formulieren, sind keineswegs überzeugend. Solange es aber nicht gelingt, vernünftig begründbare, gleichläufige Interessen einer Vielzahl von Richtern auszumachen, ist es nicht möglich, die Eigennutzmaxime der Public Choice Theorie zur Erklärung einer bestimmten Richtung in der Ausgestaltung der Regelungsspielräume durch die Richter einzusetzen. Das heißt aber nicht, dass man andere Bestimmungsgründe für Ergebnisse und Tendenzen der Rechtsprechung nicht analysieren sollte. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass es bisher noch nicht gelungen ist, überzeugend darzulegen, dass sich tatsächlich die effizienteren Regeln evolutorisch durchsetzen. Im Gegenteil konnte eine Tendenz der Rechtsprechung festgestellt werden, die Interessen von Drittbetroffenen zu vernachlässigen und eine Rechtsfortbildung zu ihren Lasten zu betreiben.

II. Vor- und Nachteile des Richterrechts gegenüber Gesetzesrecht Es ist bisher nicht gelungen, einen Anhaltspunkt für eine quasi automatische Effizienz richterlicher Regeln zu finden. Auch Eigeninteressen der Richter, die gleichermaßen für alle oder eine Vielzahl von Richtern gelten würden und eine Tendenz in der Rechtsprechung ausmachen könnten, wurden bisher nicht ausgemacht. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Richter nicht, wie andere Akteure

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auch, eigennützig handeln. Aber auch wenn der einzelne Richter im Zweifel so handelt, wie es auch seinem Interesse entspricht, z. B. eigene Wertungen durchsetzt, seinen Ruf verbessern will oder einfach möglichst viel Freizeit anstrebt, so resultiert daraus noch keine allgemeine Tendenz in der Rechtsprechung, solange nicht eine Vielzahl von Richtern die gleichen (eigennützigen) Ziele verfolgen. Im folgenden soll daher ein anderer Ansatz verfolgt werden, indem die richterliche und die legislative Rechtssetzung vergleichend gegenüber gestellt werden. Dabei wird untersucht, welche Argumente für eine Überlegenheit der richterlichen und welche für eine Überlegenheit der legislativen Regelsetzung sprechen. Zuerst werden wir uns dabei mit den vermeintlichen Vorteilen, danach mit den Nachteilen des ,Richterrechts‘ beschäftigen.

1. Vorteile des Richterrechts In der Rechtswissenschaft werden die Notwendigkeit und die Vorteile der richterlichen Regelbildung meist aus Problemen bzw. Unzulänglichkeiten der legislativen Rechtssetzung begründet. Dabei wird einerseits kritisiert, dass formelle Gesetze zu abstrakt und starr zur Lösung der vielfältigen Probleme einer Gesellschaft seien.27 Die Regelbildung durch die Rechtsprechung, so wird behauptet, sei hingegen sehr flexibel [a)]. Andererseits wird darauf hingewiesen, dass die Richter aufgrund ihrer Unabhängigkeit weniger anfällig für Sonderinteressen und Lobbyarbeit seien [b)].28 a) Flexibilität Als Argument für die Effektivität der richterlichen Regelsetzung wird angeführt, dass sie im Vergleich zur Gesetzgebung ein höheres Maß an Flexibilität aufweise. Es bedürfe insbesondere nicht des aufwendigen und zeitintensiven Gesetzgebungsverfahrens.29 Dies gelte auch oder gerade für die Aufhebung falscher oder nicht mehr zeitgemäßer Regelsetzungen.30 Während, so die Vorstellung, die Rechtsprechung zwanglos eine von ihr entwickelte Norm wieder fallen lassen könne, wenn sie sich nicht bewährt habe oder mittlerweile nicht mehr angemessen sei, sei dies bei einer legislativen Norm nicht möglich. Sie sei durch ein Gesetz festgeschrieben, das nur durch ein aufwendiges Gesetzgebungsverfahren verändert werden könne. Zudem werde auch die Rechtsprechung und die Lehre durch die problematische Norm in eine falsche Richtung gelenkt und verbrauche bei der Diskussion erhebliche Energie, ohne dass dadurch die Ursache der Fehllenkung beseitigt werden könne.31 27 28 29 30 31

Vgl. dazu darstellend z. B. Wank, R. (1978), S. 119 ff. So z. B. v. Hippel, E. (1992), S. 110. Vgl. z. B. Rose, F. (1997), S. 199. Vgl. z. B. v. Hippel, E. (1992), S. 110. Vgl. Wank, R. (1978), S. 123.

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In der theoretischen Diskussion ist diesem Argument eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen. Allerdings erscheint es fraglich, ob sich die höhere Flexibilität der richterlichen Regelsetzung auch praktisch niederschlägt. Im Bestandsschutzsystem haben wir gerade in den letzten Jahren vielfache und zudem nicht unerhebliche Änderungen der gesetzlichen Vorschriften erlebt. Diesbezüglich sei nur an die schon mehrfach erwähnten BeschfG 1986 und 1996, sowie die weitgehende Aufhebung der Änderungen des BeschfG 1996 durch das 1998 erlassene ,Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte‘ erinnert. So tiefgreifende und schnelle Änderungen des Bestandsschutzsystems sind durch die Rechtsprechung noch nicht erfolgt. Generell sind die Beispiele der Änderung wesentlicher richterlicher Prinzipien oder Regeln sehr selten. Grund dafür mag sein, dass der Richter nach seinem Selbstverständnis darauf ausgerichtet ist das Recht zu ,finden‘, d. h. es aus bereits bestehenden Regeln – d. h. wenn legislative Regeln nicht vorhanden oder lückenhaft sind auch aus richterlichen Präjudizien – abzuleiten. Eine einmal bestehende Rechtsprechung wird daher im Zweifel fortgesetzt und nur aufgegeben, wenn besondere Gründe dafür sprechen.32 So erkennen auch Befürworter einer ausgeprägten Mitwirkung der Gerichte an der Regelsetzung, dass es häufig überaus schwierig ist, die Änderung einer verfehlten Rechtsprechung zu erreichen.33 Im Ergebnis ist es daher durchaus fraglich, ob sich die theoretisch einfachere und flexiblere Handhabung des Richterrechts auch praktisch widerspiegelt. In Bezug auf die beklagte Starr- und Abstraktheit der gesetzlichen Normen wird häufig auch vorgetragen, dass die Legislative nicht schnell genug auf neu entstehende gesellschafts- und sozialpolitische Bedürfnisse reagieren könne. Dieses Argument wird zudem häufig mit einer Kritik an der bestehenden parlamentarischen Situation verknüpft.34 Dabei wird meist beklagt, dass aufgrund der komplizierter gewordenen und sich immer schneller verändernden Sachverhalte das Gesetzgebungsverfahren zu lange dauere. Zudem zerstöre die nur vierjährige Legislaturperiode alle in dieser Zeit nicht vollendeten Gesetzgebungsvorhaben. Außerdem seien die politischen Parteien bzw. Fraktionen untereinander von so vielen Interessengruppen durchsetzt, dass dies die Gesetzgebungsarbeit behindere oder nur noch unklare Kompromisse zulasse.35 Man sollte aber auch nicht unberücksichtigt lassen, dass gerade die Vielschichtigkeit des Parlamentes, der Fraktionen und der Parteien die Pluralität unserer Gesellschaft widerspiegelt. Wenn es deshalb häufig erst verzögert oder gar nicht zu gesetzlichen Regelungen kommt, so kann dies bedauerlich sein. Auf der anderen Seite spricht dieser Umstand aber auch für die politische Brisanz des im Parlament Vgl. dazu z. B. Kissel, O. (1999), S. 251. Vgl. v. Hippel, E. (1992), S. 111. 34 So z. B. Rose, F. (1997), S. 187 oder auch Müller, G. (1981), S. 98 sowie derselbe (1980), S. 634. 35 So z. B. Müller, G. (1981), S. 98 sowie derselbe (1980), S. 634. 32 33

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diskutierten Themas, so dass es zumindest fraglich erscheint, ob immer eine richterrechtliche Ausgestaltung angemessen ist. Außerdem sind die politische Vielfalt und die dadurch bedingten Verzögerungen in der legislativen Tätigkeit auch in gewisser Weise ein Schutz des Bürgers gegen zu weitgehende Einmischungen des Staates in das gesellschaftliche Geschehen, und es bestehen [wie oben Kapitel 3 Abschnitt B. III. 2. aufgezeigt] wegen des Vorbehalts des Gesetzes und der Gewaltenteilung auch rechtliche Bedenken gegen eine zu weit vorgreifende Rechtsprechung.36 So kann es auch durchaus positive Wirkungen haben, wenn einige vor allem neu auftretende gesellschaftliche und insbesondere wirtschaftliche Phänomene nicht zu schnell gesetzlich geregelt werden, sondern der gesellschaftlichen Selbstregulierung überlassen bleiben.37 Man kann in dem Phänomen der politischen Untätigkeit wegen politischer Vielschichtigkeit auch durchaus einen Selbstbeschränkungsmechanismus des Leviathans38 sehen. Auch macht es die Rechtsprechung dem Gesetzgeber möglicherweise manchmal zu leicht, untätig zu bleiben. Solange sie die größten Lücken im Gesetzeswerk schließt muss der Gesetzgeber nicht tätig werden. Zudem fällt es dem Gesetzgeber vielfach leichter, sich bei der Kodifizierung von Normtexten auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu einigen, da sich dadurch politische Streitigkeiten vermeiden lassen.39 Hier kann er sich mit dem Verweis auf die richterrechtlichen Regelungen leichter aus der politischen Verantwortung ziehen.

b) Keine Lobby-Arbeit („no spezial interest legislation“) Ein weiteres, auch in der Rechtswissenschaft diskutiertes Problem wurde bereits oben als Argument Posners angesprochen. Es handelt sich um die unterschiedliche Anfälligkeit für spezial interest legislation. So stellt beispielsweise auch Hippel40 fest, dass die Rechtsprechung weniger anfällig als die Politik für Sonderinteressen sei, die von Interessengruppen geltend gemacht werden. Vgl. dazu insbesondere Hillgruber, C. (1996), S. 122 ff. Ein aktuelles Beispiel für den Widerstreit früher rechtlicher Regulierung auf der einen und zumindest vorläufiger Selbstregulierung auf der anderen Seite, zeigt sich in der Diskussion um das Internet. Hier sprechen sich der größte Teil der Wirtschaft und wohl auch die Regierungen des anglo-amerikanischen Bereichs für eine Zurückhaltung bei der Regulierung aus, während die europäischen Regierungen eher für eine umfassendere und zeitlich frühere Regulierung eintreten. Siehe zu diesem Problembereich z. B. Süddeutsche Zeitung vom 12. 10. 99. 38 Der Begriff des ,Leviathan‘ wurde ursprünglich von Thomas Hobbes als Bezeichnung für die absolute Staatsgewalt eingeführt. In der Constitutional Economies wird der Begriff des Leviathan insbesondere benutzt, wenn es um die Begründung von meist institutionellen Absicherungen der Handlungsfreiheit des einzelnen Bürgers gegenüber der Übermacht und Willkür des Staates geht. 39 Rose, F. (1997), S. 187. 40 v. Hippel, E. (1992), S. 110. 36 37

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

Dieses Argument trifft sicherlich auf die Rechtsprechung als Ganzes zu. Auch im Bereich des Arbeitsrechts ist die Gesetzgebung sicherlich anfälliger für Lobbyarbeit und Einzelgruppeninteressen. Kissel,41 der ehemalige Präsident des Bundesarbeitsgerichts, allerdings macht für diesen Bereich auf Besonderheiten aufmerksam. So weist er darauf hin, dass sich in den anderen Gerichtsbarkeiten praktisch immer neue Verfahrensbeteiligte gegenüberstehen. Im Gegensatz dazu stehe insbesondere bei brisanten arbeitsrechtlichen Entscheidungen nur formell der einzelne Arbeitnehmer oder Betriebsrat dem einzelnen Arbeitgeber gegenüber. Tatsächlich ständen aber hinter diesen unterstützend die Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände. „Das führt leicht dazu, dass die Gerichtsverfahren nicht mehr isoliert als Frage um die Anwendung des Rechts angesehen werden, sondern hineingezogen werden in den gesamten sozialpolitischen Gegensatz, in die Versuche zur Durchsetzung der eigenen jeweiligen sozialpolitischen oder unternehmenspolitischen Ziele und in die gesamte Diskussion, Gerichtsverfahren also letztlich als eines der möglichen Mittel zur politischen Zielerreichung angesehen werden.“42 Im Endeffekt beschreibt hier Kissel, wie sich die Lobbyarbeit auch auf die Regelsetzung durch die Gerichte ausgedehnt hat, so dass auch hier vermehrt, wenn auch sicherlich nicht in dem Ausmaß, wie es bei der Legislativen der Fall ist, mit ,spezial interest legislation‘ der Gerichte gerechnet werden muss. Für die letzte Zeit lassen sich durchaus sehr anschauliche Beispiele für spezial interest legislation in der Gesetzgebung aufzeigen. Eine der bedeutendsten Änderungen des Bestandsschutzrechts durch das BeschfG 1996 war die Erhöhung des Schwellenwertes für das Eingreifen des KSchG. Diese Rechtsänderung wurde eindeutig vom ZdH in Gang gesetzt. Es handelte sich dabei um Lobbyarbeit im klassischen Sinne.43 Aber auch die Wiederaufhebung des Schwellenwertes und der meisten anderen Regelungen des BeschfG 1996 durch das Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte von 1998 ist wohl vorrangig der Lobbyarbeit der Gewerkschaften zu verdanken. Sehr deutlich drückte dies z. B. der Bundestagsabgeordnete Kolb (FDP)44 aus, als er in der Bundestagsdebatte vom 20. 11. 1998 über das geplante Gesetz sagte: „Ich kann zwar durchaus nachvollziehen, dass die Regierungskoalition in der Pflicht ist, sich für die massive Unterstützung durch diverse Gewerkschaftsfunktionäre im Wahlkampf zu revanchieren ( . . . ).“ Kissel, O. (1987), S. 1487. Kissel, O. (1987), S. 1487. 43 Dies wird z. B. deutlich aus einer Rede des Bundeskanzlers Helmut Kohl am 11. 09. 1996 vor dem Bundestag, in der er sich mehrfach auf den ZdH beruft oder auch aus der Selbsteinschätzung des ZdH, der diese Erhöhung des Schwellenwertes als Lobbyerfolg ansieht. 44 Siehe Protokolle der Sitzungen des Deutschen Bundestages – 14. Wahlperiode, S. 537 (Freitag 20. November 1998). 41 42

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Solche deutlichen Beispiele der Beeinflussung der Regelsetzung durch Interessengruppen lassen sich für die Rechtsprechung nicht finden. Allerdings gibt es viele Beispiele in der Rechtsprechung, wo neu entwickelte Prinzipien oder einzelne Neuregelungen einzelne Interessengruppen bzw. deren Macht deutlich stärken. Interessant ist es insbesondere, wenn man sich die Machtstellung der Insider näher betrachtet. In der entsprechenden volkswirtschaftlichen Theorie geht man gewöhnlich davon aus, dass die Insider die Möglichkeit haben und auch nutzen, ihre bereits vorhandene Machtstellung durch Lobbyarbeit vermittelt durch die Gewerkschaften etc. beim Gesetzgeber zu verstärken.45 Untersucht man aber gerade die Regeln, welche die Machtstellung der Insider tatsächlich festigen, sind sie praktisch alle richterrechtlichen Ursprungs. So sind die Entwicklung des Ultima-ratio Grundsatzes, der Regeln zur Änderungskündigung, die Weiterbeschäftigungspflicht und die Pflicht zur Umsetzung auf einen freien Arbeitsplatz alles Schöpfungen der Rechtsprechung. Auch wenn einige mittlerweile – teilweise abgeschwächt – vom Gesetzgeber übernommen worden sind, so bleibt festzuhalten, dass sie von der Rechtsprechung entwickelt wurden. Betrachtet man diese Tatsache, so wird die These von der Unempfindlichkeit der Rechtsprechung für special interest legislation fragwürdiger. 2. Nachteile des Richterrechts Bisher haben wir nur angebliche Vorteile von richterrechtlicher Normsetzung untersucht und dabei festgestellt, dass sie zum großen Teil nicht stichhaltig sind oder ihnen aber eine eher geringe praktische Relevanz zukommen dürfte. Daneben werden aber auch einige zum Teil schwerwiegende Nachteile richterlicher Normsetzung diskutiert. Dies sind insbesondere die Ungeeignetheit des gerichtlichen Verfahrens zur Bildung generell-abstrakter Normen [a)], die mit der richterlichen Regelbildung verbundene Rechtsunsicherheit [b)] sowie die geringere demokratische Legitimierung [c)]. a) Schlechteres Verfahren Den Kritikern einer weitgehenden richterlichen Regelsetzung zufolge besteht ein großer Nachteil in dem unzulänglichen Verfahren, dass dem Richter bei der Bildung generell-abstrakter Normen zur Verfügung steht. Die Unzulänglichkeiten zeigen sich danach sowohl in der Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen [aa)] als auch in der Entscheidungsfindung selbst [bb)] sowie in der Folgenbewertung [cc)].

45 So z. B. Görgens, E. (1989), S. 389 f., der sich u. a. auch auf Lindbeck und Snower, die Begründer der Insider-Outsider-Theorie beruft.

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

aa) Mängel bei der Entscheidungsgrundlage Eine problemgerechte Bildung abstrakt-genereller Regeln setzt die Kenntnis der für diesen Regelungsbereich maßgeblichen Umstände und Interessen sowie deren angemessenen Berücksichtigung voraus. Als erstes kann festgestellt werden, dass die eigenen Arbeitsmittel und Erkenntnisquellen der Gerichte denen des Gesetzgebers weit unterlegen sind. Dies folgt erstens aus äußeren Zwängen, wie der Beschränktheit der zur Verfügung stehenden Zeit und der sachlichen Mittel. So verfügt der Richter im Gegensatz zum Gesetzgeber über keinen Mitarbeiterstab und ihm fehlt die Zuarbeit der sachkundigen Bürokratie, der Ausschüsse etc.46 Zweitens folgt die Unterlegenheit aus der bewusst herbeigeführten und gewollten isolierten Stellung des Richters. So fehlen ihm externe Anregungen und Informationen, die sich bei der Legislativen z. B. aus der Lobbyarbeit von Verbänden oder bei Expertenhearings ergeben können. Allerdings ist er aus diesem Grunde, wie oben bereits angesprochen, möglicherweise auch weniger anfällig für spezial interest legislation. Aber selbst wenn der Richter von der gleichen Tatsachenkenntnis bzw. -ermittelbarkeit ausgehen würde, stände der rationalen richterlichen Regelbildung auf der Ebene der Entscheidungsgrundlagen ein Verfahrensgrundsatz im Wege. Dieser Verfahrensgrundsatz ist der der Parteiherrschaft, der mit geringen Ausnahmen im gesamten Zivilrecht einschließlich des Arbeitsrechts gilt. Er umfasst die Prinzipien des Verhandlungsgrundsatzes und der Dispositionsmaxime. Nach dem Verhandlungsgrundsatz können nur die Parteien den Streit- bzw. Prozessstoff, der Entscheidungsgrundlage ist, in den Prozess einführen, über seine Feststellungsbedürftigkeit entscheiden und seine Feststellung betreiben.47 Andere, selbst offenkundige Tatsachen, darf das Gericht nicht berücksichtigen, wenn die Parteien diese nicht aufgreifen.48 Die Dispositionsmaxime bedeutet, dass die Parteien über den Streitgegenstand und damit über den Gang und den Inhalt des Verfahrens verfügen können. Sie bestimmen daher, ob eine Klage erhoben wird, der Rechtsstreit überhaupt und in welchem Umfang weitergeführt oder beendet wird.49 Für den Prozess der Regelsetzung bedeutet dies, dass die Parteien, also die der eventuell neuzubildenden Norm Unterworfenen über das Ob, den Umfang und die Tatsachenbasis der neuen Norm (mit)bestimmen. Ein weiterer Mangel des richterlichen Verfahrens zur Regelbildung ist, dass andere von der Regel Betroffene (Dritte) keine Möglichkeit haben, sich am Verfahren, insbesondere der Sachverhaltsermittlung zu beteiligen. Während die Parteien des Prozesses und die hinter diesen stehenden Interessengruppen aufgrund des 46 47 48 49

S. 2.

Picker, E. (1988), S. 71. Für alle Thomas, H. (1991), Einl. I 1 a, S. 2. Vgl. z. B. Hauck, F. (1996), § 46 RN 10, S. 152. Vgl. z. B. Hauck, F. (1996), § 46 RN 11, S. 152 oder Thomas, H. (1991), Einl. I 1 b,

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rechtlichen Gehörs die Sicherheit haben, dass die von ihnen vorgebrachten Tatsachen und Ansichten berücksichtigt werden, besteht praktisch keine Möglichkeit die Ansichten und Tatsachen der Dritten zu berücksichtigen. Insofern wird die Entscheidung von einer lediglich zweiseitigen Sicht der Dinge ausgehen und daher häufig ein unrichtiges Bild von der wirklichen Tatsachenbasis widerspiegeln.50 Insgesamt muss festgehalten werden, dass die Entscheidungsgrundlagen durch die Verfahrensregeln nur unzureichend ermittelt werden. Der Grund dafür ist, dass die Verfahrensregeln über die Tatsachenermittlung nur auf die Entscheidung eines Einzelfalles zugeschnitten sind.

bb) Mängel bei der Entscheidungsfindung Die Mängel bei der Entscheidungsfindung selbst sind wohl geringer, aber im Vergleich zur legislativen Entscheidung über generell-abstrakte Normen trotzdem gegeben. Die Verfahrensordnung sagt wenig über die Entscheidungsfindung des oder der Richter im konkreten Fall aus. Zu der Entscheidung im Falle einer Rechtsfortbildung ist aus der Verfahrensordnung gar nichts ersichtlich. Da es an konkreten Vorschriften mangelt, ist davon auszugehen, dass das Verhalten des Richters bei der Entscheidung, insbesondere von der juristischen Ausbildung und damit eng verbunden dem Rollenverständnis des Richters, beeinflusst wird.51 Das Rollenverständnis des Richters geht davon aus, dass er einen konkreten Streit zwischen zwei konkreten Parteien entscheiden muss.52 Er hat dabei das Gesetz auszulegen und anzuwenden. Dies tut er im Hinblick auf den konkreten Einzelfall und sieht dabei seine Aufgabe darin, diesen Fall „gerecht“ zu entscheiden. Sein Streben ist also auf die „gerechte“ Einzelfallentscheidung gerichtet.53 Diese Konzentration auf den Einzelfall liegt zum Großteil an der juristischen Ausbildung. In diesem Stadium wird das Grundverständnis des Juristen vom Recht und der Aufgabe des Richters in der Gesellschaft geprägt.54 Die Ausbildung, vor allem das Studium, ist aber von der Einzelfalllösung dominiert. Die Bildung einer abstrakt-generellen Norm, insbesondere deren Formulierung, deren rechtstatsächlichen Hintergründe oder aber auch die Folgenbewertung einer möglichen neuen Norm werden nicht behandelt. So kann es nicht verwundern, dass später auch das Rollenverständnis des Richters vornehmlich auf den Einzelfall gerichtet ist. Dies Vgl. Wank, R. (1978), S. 160. Vgl. Raiser, T. (1995), S. 399. 52 Eidenmüller, H. (1995), S. 404. 53 Diese einseitige Ausrichtung wurde auch auf einem Kongreß des Bundesarbeitskreises Christlich-Demokratischer Juristen festgestellt und beklagt. Siehe dazu Fromme, F. in FAZ vom 18. 3. 96. 54 Vgl. dazu Pawlowsky, H. (1991), S. 136. 50 51

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

gilt besonders für die Richter an den Instanzgerichten. Die Richter der Revisionsgerichte sind sich hingegen sicherlich auch ihrer Aufgabe zur Rechtsfortbildung und -vereinheitlichung bewusst, was aber nichts daran ändert, dass ihre Ausbildung und daher wohl auch ihre Kenntnisse und Fähigkeiten auf die Entscheidung des Einzelfalls gerichtet sind. Sollen nun Richter, deren Orientierung eigentlich dem Einzelfall und dessen ,gerechter‘ Entscheidung gilt, abstrakt-generelle Regeln bilden, so sind Probleme und nicht effiziente Regeln sehr wahrscheinlich. Allerdings muss wohl angemerkt werden, dass auch die Formulierung abstrakt-genereller Regeln durch den Gesetzgeber vornehmlich durch Juristen erfolgt, die gleichermaßen durch ihre Ausbildung geprägt sind. Allerdings haben diese weitergehende Unterstützung aus anderen Fachbereichen. Am negativsten wirkt sich die Prägung der Richter durch die Einzelfallorientierung aber vermutlich bei der Folgenberücksichtigung aus.

cc) Mängel bei der Folgenbewertung Will man rationale bzw. effiziente allgemein-abstrakte Regeln aufstellen, reicht es nicht, die Entscheidungsgrundlagen in Form von Tatsachen und Interessen zu kennen, sondern man muss darüber hinaus auch die gesellschaftlichen Folgen der Neuregelung beurteilen können. Die Beurteilung der Folge meint dabei natürlich nicht die genaue Kenntnis eines vermeintlichen Endzustandes, sondern die Wirkungsweise und Richtung der neuen Regel in Bezug auf die Handelsordnung. Eine solche Folgenberücksichtigung ist sowohl bei der gesetzlichen als auch der richterlichen Rechtsfortbildung notwendig. Für den Richter ist aber die Abschätzung und Berücksichtigung ungleich schwerer als für den Gesetzgeber. Dies liegt einerseits an den schon beschriebenen Mängeln der Ermittlung der Entscheidungsgrundlage. Diese Mängel treffen auch hier zu, da die wesentlich schwerere Beurteilung der zukünftigen Folgen von den gleichen, teilweise nicht gegebenen Voraussetzungen abhängen, wie dies auch bei der Ermittlung der gegebenen Tatsachen der Fall ist.55 Daneben existieren aber zwei weitere Probleme, die in diesem Umfang bei der Ermittlung der gegebenen Tatsachen nicht auftreten. Das erste beruht auf der oben beschriebenen Orientierung des Rollenverständnisses des Richters an der gerechten Entscheidung des Einzelfalls. Wer einen Einzelfall gerecht entscheiden will, kann den gesellschaftlichen Folgen der Entscheidung bzw. den tragenden Gründen – sollten diese sich als abstrakt-generelle Regeln durchsetzen – nicht entscheidungsleitende Bedeutung zumessen.56 Es fehlt somit wohl schon an dem Willen des So im Ergebnis auch Wank, R. (1978), S. 172. Zöllner, W. (1990), S. 4 drückt dies folgendermaßen aus: „Sie [die institutionellen Schwächen richterlicher Normsetzung; Ergänzung des Autors aus dem vorherigen Satz Zöllners] bestehen zum anderen darin, daß der Richter infolge seiner genuinen Aufgabe, einen 55 56

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Richters zur Folgenbewertung. Dies betrifft wohl besonders den Instanzrichter. Da dieser immer den konkreten Fall vor Augen hat, werden ihm Erwägungen zu dem konkret vorliegendem Fall eher einleuchten als generell-abstrakte Erwägungen zu gesellschaftlichen Folgen. Aber auch der Richter in den Revisionsinstanzen wird trotz seiner Aufgabe, neben der Einzelfallgerechtigkeit auch der Rechtsfortbildung und -vereinheitlichung zu dienen, den Einzelfallerwägungen größeres Gewicht beimessen, da ihm dies durch seine juristische Ausbildung und die Berufserfahrung in den unteren Instanzen näher liegt, d. h. vertrauter ist. Der zweite, eng damit verknüpfte Grund ist die mangelnde Fähigkeit der Richter zur Folgenbewertung. So bedarf es eines enormen Sachverstandes, die gesellschaftlichen, insbesondere wirtschaftlichen und sozialen Folgen einer Regeländerung zu beurteilen. Die zur Entscheidung berufenen Richter werden aber in der Mehrzahl einen solchen speziellen Sachverstand nicht besitzen. Die Analyse von Folgen ist, wohl aufgrund der Einzelfallorientierung nicht Teil der juristischen Ausbildung. Zudem fehlt eine ökonomische Ausbildung fast völlig.57 Da die Berufsrichter Juristen sind, haben sie daher im Laufe ihrer Ausbildung und später im Laufe ihrer Berufsausübung vorwiegend oder ausschließlich Kenntnisse auf dem juristischen Gebiet, nicht oder weniger aber auf dem Gebiet der Wirtschaft oder der Sozialwissenschaften erworben. Gerade diese sind aber für eine Folgenabschätzung unerlässlich. Zwar wird in der Arbeitsgerichtsbarkeit durch die ehrenamtlichen Richter zusätzlich ein gewisses Maß an Fachwissen und Praxiserfahrung eingebracht, dieses ist aber mit den vielfältigen Möglichkeiten des Gesetzgebers kaum vergleichbar. Die Folge ist, dass die Mehrzahl der deutschen Richter derzeit wohl überfordert wäre, wenn von ihnen die Berücksichtigung von Urteilsfolgen, insbesondere ökonomischen bzw. ordnungspolitischen, erwartet würde. Wohl auch deshalb spielt die Folgenorientierung des Rechts generell und speziell die ökonomische in der richterlichen Praxis kaum eine Rolle.58 Die Probleme bei der richterlichen Regelbildung in Bezug auf das Verfahren und dessen Ursachen fasst Picker59 treffend zusammen, indem er anführt: „Die Begrenztheit der Mittel entspricht ( . . . ) der Begrenztheit des Zwecks.“ Der Richter ist für die Entscheidung des einzelnen Rechtsstreits zuständig, nicht aber für die Setzung neuer Rechtsregeln. Daran sind auch die begrenzten Möglichkeiten des Richters zu messen. einzelnen Prozeß zu entscheiden, eher dem Eindruck der konkreten Fakten nachgibt als der Weisheit einer den Einzelfall übergreifenden Betrachtung.“ 57 Eidenmüller, H. (1995), S. 427 f. Dieser stellt dort auch die Unterschiede zur Ausbildung in den USA heraus, wo an fast allen bekannten law-schools Lehrstühle auch an Ökonomen vergeben werden, die eine solide ökonomische Ausbildung der Juristen garantieren. 58 Vgl. Eidenmüller, H. (1995), S. 408 f. 59 Picker, E. (1988), S. 72.

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

b) Rechtsunsicherheit Als Nachteil des Richterrechts wird des weiteren die geringere Rechtssicherheit beklagt. Fehlende Rechtssicherheit kann dabei zwei Gründe haben. Erstens kann sie an geringer Rechtsklarheit, andererseits aber auch an mangelnder Rechtskontinuität liegen.60 Grundsätzlich leidet die Rechtsklarheit im Rahmen ausgedehnter Regelsetzung durch die Rechtsprechung bereits an der banalen Tatsache, dass es weitaus mühseliger ist, das geltende Recht an Hand der Rechtsprechung als mit Hilfe von Gesetzen zu ermitteln. Dies liegt einerseits an der wesentlich lückenloseren Veröffentlichung der Gesetzestexte gegenüber den richterlichen Entscheidungen. Des weiteren aber auch an dem Umfang der Materialien. Wird ein Bereich durch den Gesetzgeber geregelt, so ergehen die Regelungen durch eine oder sehr wenige Institutionen (Bundes- und Landesparlamente) in einem oder wenigen Gesetzen. Die Rechtsprechung hingegen regelt einen Bereich durch die Entscheidungen einer Vielzahl von Gerichten in einer großen Menge von Einzelentscheidungen. Zudem lässt sich bei der großen Anzahl von Einzelentscheidungen und Entscheidungsträgern nicht verhindern, dass einige tendenziell abweichende oder divergierende Entscheidungen ergehen, so dass durch die mangelnde Einheitlichkeit die Rechtsklarheit leidet.61 Der Aspekt der Rechtskontinuität bildet quasi die Kehrseite der größeren Flexibilität der Rechtsprechung. Die Dauer und die Formalien einer Gesetzesänderung bewirken, dass eine einmal gesetzlich festgelegte Regel meist längere Zeit in Kraft bleibt, bevor sie abgeändert wird. Dies ist dem Prinzip der Kontinuität natürlich zuträglich. Die Rechtsprechung kann demgegenüber grundsätzlich eine von ihr aufgestellte Regel bei dem nächsten ähnlich gelagerten Fall wieder verwerfen, was zudem ohne Vorwarnung erfolgen kann. Dies wird zwar nur selten vorkommen, da Gerichte zumeist bis zum Auftauchen neuer Entwicklungen (tatsächlicher oder rechtlicher Art) an ihrer Rechtsprechung festhalten, sie sind aber grundsätzlich durch ihre eigene oder gleichinstanzliche Urteile nicht gebunden. Wie aber auch schon im Rahmen der größeren Flexibilität der Rechtsprechung angesprochen, muss man auch hier beachten, dass die Situation in der Praxis des Bestandsschutzes nicht so eindeutig wie in der Theorie dargestellt ist. Die ausgesprochen kurze Geltungsdauer der meistem Regelungen des BeschfG 1996 sind nicht gerade ein Zeichen von legislativer Rechtskontinuität. Demgegenüber sind zumindest die wichtigsten Prinzipien des richterlich gesetzten Bestandsschutzes seit Jahren fast unverändert in Kraft. Allerdings lässt sich an Hand einer Regelung des BeschfG 1996 – der Schwellenwertregelung – auch ein gewisser Vorteil der legislativen Rechtssetzung erkennen. So bestimmte § 23 I KSchG in seiner bis zum 31. 12. 1998 geltenden Fassung, dass die Schwellenwerterhöhung für die Geltung des Kündigungsschutzgesetzes 60 61

Zu dieser Klassifikation siehe Wank, R. (1978), S. 197 ff. Vgl. dazu siehe Wank, R. (1978), S. 198 ff.

A. Gründe für die ordnungspolitische Irrationalität der Rechtsprechung

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durch das BeschfG 1996 für bereits bestehende Arbeitsrechtsverhältnisse erst ab dem 30. 9. 1999 gelten sollten. Mit dieser Bestimmung gewährt der Gesetzgeber den negativ betroffenen Arbeitnehmern einen vorläufigen Bestand ihrer Rechte. Er schützt damit das Vertrauen, dass diese in die bis dahin geltende Rechtslage gesetzt hatten. Zwar nutzt der Gesetzgeber nicht immer die Möglichkeit von Vertrauensschutz aus, wie sich an der übergangslosen Wiederabsenkung des Schwellenwertes zeigt, aber dies ändert nichts an der grundsätzlichen Möglichkeit von vertrauensschützenden Maßnahmen. Einen vergleichbaren Vertrauensschutz kann die Rechtsprechung, von Ausnahmesituationen abgesehen, nicht gewähren. Die Rechtsprechung kann wegen mangelnder Kompetenz das Recht nicht aus autonomen Gründen, z. B. praktischen Erwägungen, ändern, wie es der Gesetzgeber kann. Ein Gericht muss vielmehr eine Änderung seiner Rechtsprechung immer als eine Veränderung darstellen, die im geltenden Gesetz seit jeher angelegt war, nur eventuell vorher nicht so erkannt wurde.62 Durch sie neu gebildete oder veränderte Regeln haben daher – da sie ja schon immer im Gesetz angelegt waren – praktisch immer rückwirkende Kraft, d. h. sie greifen in bereits bestehende Rechtsverhältnisse ein63. Aus diesem Grunde wird auch eine entsprechende Anwendung des Rückwirkungsverbotes, das für Gesetze gilt, überwiegend abgelehnt. Ansonsten wäre die Rechtsprechung auch an eine einmal bestehende Rechtsprechung gebunden, selbst wenn sie sich als nicht haltbar erweist.64 Insgesamt hat Wank65 recht, wenn er zusammenfasst: „Rechtssicherheit als Rechtsklarheit und als Rechtskontinuität kann durch Rechtsprechung nicht in gleichem Maße gewährleistet werden wie durch Gesetzgebung.“

c) Demokratie- bzw. Legitimationsproblem Ein weiterer Kritikpunkt an der Rechtssetzung durch die Judikative ist zudem auch ihre geringere demokratische Legitimation. Zwar werden die Richter durch demokratisch legitimierte Organe (Richterwahlausschüsse) eingesetzt, aber diese Ernennung ist wohl eine eher geringe Legitimation für die lebenszeitliche Amtsausübung, insbesondere wenn weitgehende Rechtsschöpfung damit verbunden ist.66 So sieht es auch der ehemalige Präsident des Bundesarbeitsgerichtes. Dieterich, der aber auch behauptet:67 „Die rechtsprechende Gewalt stützt sich auf das Vertrauen des Volkes, von dem nach Art. 20 Abs. 2 GG alle Staatsgewalt ausgeht. Legitimation durch Vertrauen.“ Dies stellt eine erstaunliche und wohl 62 63 64 65 66 67

Vgl. dazu Roellecke, R. (1996), S. 178. Rose, F. (1997), S. 195. Vgl. Röhl, K. (1995), S. 597. Wank, R. (1978), S. 204 mit vielen weiteren Literaturverweisen. Vgl. dazu Söllner, A. (1994), S. 98 oder auch Rüthers, B. (1993b), S. 112. Dieterich, T. (1986), S. 4.

19 von Klitzing

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

staatsrechtlich neue Legitimierung dar. Vertrauen des Volkes in die Justiz ist zwar zweifellos wünschenswert und in gewissem Maße erforderlich, aber daraus kann sicherlich keine Legitimierung für eine Rechtssetzung durch die Gerichte gefolgert werden.68 3. Zusammenfassende Würdigung Zum Vergleich der Rationalität bzw. Effizienz der Regelsetzung durch den Gesetzgeber einerseits und die Rechtsprechung andererseits kann festgehalten werden, dass – die schrittweise Entwicklung der Rechtsprechung kein Grund für die Entwicklung effizienterer Regeln ist, da es an einem Mechanismus fehlt, der ineffiziente Regeln aussortiert; – die Verfahrensvorteile richterlicher Setzung von abstrakt-generellen Normen, insbesondere in Form höherer Flexibilität und geringerer ,spezial interest legislation‘, zumindest im Bereich des Bestandsschutzes überbewertet werden; – die Nachteile der richterlichen Setzung abstrakt-genereller Normen sehr bedeutend sind. Dabei ist insbesondere das zur Setzung von abstrakt-generellen Normen ungeeignete Prozessverfahren zu nennen, welches schwerwiegende Probleme bei der Ermittlung der ,richtigen‘ Entscheidungsgrundlagen und der notwendigen Folgenbewertung einer beabsichtigten Regelung aufweist. Daneben existieren aber auch Probleme bei der eigentlichen Entscheidungsfindung. Hinzu kommen noch die größere Rechtsunsicherheit und ein gewisses Legitimationsdefizit.

Insgesamt ist es daher sehr zweifelhaft, ob das richterliche Verfahren zur Setzung abstrakt-genereller Regeln gegenüber dem gesetzgeberischen das geeignetere ist. Im Gegenteil wurden im Rahmen dieser Untersuchung Anhaltspunkte für erhebliche Nachteile des richterlichen Regelsetzungsverfahrens gegenüber dem legislativen dargestellt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass auf die richterliche Rechtssetzung verzichtet werden könnte und es schließt auch nicht aus, dass im konkreten Fall eine richterliche Regelsetzung effizienter sein kann als eine gesetzliche. Die obigen Feststellungen entkräften aber die Annahme, dass „judge-made rules tend to be efficiency promoting while those made by legislatures tend to be efficiency reducing.“69 Im Gegenteil führen die Verfahrensmängel dazu, dass die richterliche Rechtssetzung konzeptionell und damit abstrakt-methodologisch unterlegen ist. Es ist daher damit zu rechnen, dass es im Rahmen der richterlichen (im Vergleich zur legislativen) Regelbildung eher zu ineffizienten bzw. ordnungspolitisch irrationalen Regeln 68 69

Vgl. dazu auch Picker, E. (1988), S. 10. Posner, R. (1977), S. 404.

B. Gründe für Tendenz der Rechtsprechung Arbeitnehmerrechte zu verstärken

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kommt.70 Diese Erkenntnis wird für den Bereich des Bestandsschutzes durch die Ergebnisse aus Kap. 2 bezüglich der Irrationalität der richterlichen Rechtssetzung bestätigt. Die festgestellten Verfahrensmängel bieten aber noch keine Erklärung für eine eigene Tendenz der Rechtsprechung, die Arbeitnehmerrechte zu stärken, da nur die Irrationalität, nicht aber eine Richtung der irrationalen Ergebnisse damit erklärt werden konnte. Allerdings wurden bei der Untersuchung des angeblichen Effizienz-Mechanismus Anzeichen für eine Tendenz der Rechtsprechung zur Vernachlässigung von Interessen Drittbetroffener festgestellt. Die Erklärung der eigenen Tendenz der Arbeitsrechtsprechung bezüglich des Bestandsschutzes soll im nächsten Abschnitt erfolgen.

B. Gründe für Tendenz der Rechtsprechung Arbeitnehmerrechte zu verstärken In diesem Abschnitt soll nun geprüft werden, wie es zur Tendenz der Rechtsprechung zur Stärkung der Arbeitnehmerrechte kommt. Um dies zu erklären, muss das Verhalten des einzelnen Richters erklärt werden. Da bisher, wie in Kapitel 1 Abschnitt C. II. 2. b) gezeigt, kein hinreichender Erklärungsansatz vorhanden ist, soll als Kernpunkt dieses Abschnitts ein eigener Erklärungsansatz entwickelt werden [dazu unter II.]. Vorher soll aber noch analysiert werden, ob eine Besonderheit der Arbeitsgerichtsbarkeit, nämlich ihre Eigenständigkeit, einen Grund oder zumindest einen Anhaltspunkt für mögliche Tendenzen der richterlichen Regelbildung bietet [I.].

I. Eigenständigkeit der Arbeitsrechtsprechung Da es Ziel dieses Kapitels ist, die festgestellten Tendenzen der Rechtsprechung zum Bestandsschutz zu erklären und bisher dazu, wie oben gezeigt, keine brauchbaren Ansätze zur Begründung mittels richterlicher Verhaltensweisen existieren, soll nun überprüft werden, ob vielleicht Besonderheiten der Organisation arbeitsrechtlicher Rechtsprechung eine Tendenz hervorgerufen haben könnten. Ein Ansatzpunkt für einen Versuch der Erklärung richterlicher Tendenzen im Bestandsschutz, der nicht auf der Analyse richterlichen Verhaltens beruht, könnte bei einer Eigenart des Arbeitsrechtssystems ansetzen. Diese Besonderheit des Arbeitsrechtssystems liegt darin, dass für seine Anwendung eine eigene Gerichts70 Allerdings wurde bei der zu dieser Schlußfolgerung führenden Untersuchung ein mögliches Eigeninteresse der Politiker nur am Rande berücksichtigt.

19*

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

barkeit zuständig ist. Diese Eigenart ist in der deutschen Rechtsentwicklung fest verankert, aber im internationalen Vergleich außergewöhnlich.71 Die Entwicklung begann schon Anfang des 19. Jahrhunderts mit einer Art von selbständigen Arbeitsgerichten in Form von Innungsschiedsgerichten, Kaufmannsund Gewerbegerichten.72 Ein Meilenstein in der Entwicklung war dann der Erlass des Gesetzes die Gewerbegerichte betreffend vom 29.7 1890 (RGBl. S 141), da bereits dort die Besetzung der Kammern mit jeweils einem Berufsrichter und zwei ehrenamtlichen Beisitzern, von denen einer der Arbeitnehmer- und einer der Arbeitgeberseite angehörte, bestimmt wurde. Eine eigenständige Arbeitsgerichtsbarkeit entstand dann bereits 1926 (RGBl I, 507). Diese war allerdings noch sehr nah an die ordentliche Gerichtsbarkeit angelehnt und die zweite und dritte Instanz waren nur Senate der Landgerichte bzw. des Reichsgerichts. Eine völlig eigenständige Arbeitsgerichtsbarkeit mit drei Instanzen (Arbeitsgericht, Landesarbeitsgericht und Bundesarbeitsgericht) schuf erst das Arbeitsgerichtsgesetz von 1953. Selbst in der Verfassung ist die Eigenständigkeit zumindest der obersten Instanz festgelegt. In Art. 95 I GG heißt es: „Für die Gerichte der ordentlichen, der Verwaltungs-, des Finanz-, der Arbeitsund der Sozialgerichtsbarkeit errichtet der Bund als oberste Gerichtshöfe den Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, den Bundesfinanzhof, das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht.“ Die Eigenständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit ist mittlerweile aber nicht mehr ungefährdet. So hat sich 1998 ein Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ beim Bundesministerium des Inneren dafür ausgesprochen, die Rechtspflege zu zentralisieren und in diesem Rahmen die Arbeitsgerichtsbarkeit mit der „normalen“ Zivilgerichtsbarkeit zusammenzulegen.73 Hauptgrund für diese Absicht sind Kostengesichtspunkte und die ,Verschlankung‘ staatlicher Verwaltung. Gegen die Zusammenlegungsabsicht wendet sich Düwell74 – Richter am BAG. Er glaubt, dass hinter der Absicht der Zusammenlegung bei manchen der Gedanke stehe, „die Spezialisierung habe eine ,tendenzielle Fehlentwicklung‘ auf den Rechtsgebieten, die den Fachgerichten anvertraut sind. . .“, bewirkt. Eine solche Tendenz meint er, möglicherweise in einer Äußerung Frankes75 – Staatssekretär im sächsischen Justizministerium – erkannt zu haben. Ob Franke tatsächlich eine entsprechende Meinung in Bezug auf die Arbeitsgerichtsbarkeit vertritt, ist nicht klar erkennbar. Tatsächlich wurde aber bereits schon von anderen eine Tendenz der Arbeitsrechtsprechung zugunsten der Arbeitnehmer auf die Eigenständigkeit der Arbeitsrechtsprechung zurückgeführt. Diese Stimmen sind aber vereinzelt geblieben 71 72 73 74 75

Vgl. Franke, S. (1997), S. 334 f. Vgl. auch dazu Franke, S. (1997), S. 333. Ausführlicher dazu Düwell, F. (1999), S. 748 oder auch DriZ 1998, S. 137. Düwell, F. (1999), S. 748. Franke, S. (1997), S. 337.

B. Gründe für Tendenz der Rechtsprechung Arbeitnehmerrechte zu verstärken

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und man muss schon relativ weit zurückgreifen, um sie zu finden. 1981 schlug Meilicke76 in einer sehr polemischen, weit überzogenen und sachlich nur teilweise fundierten Kritik am Bundesarbeitsgericht vor, dieses mit dem Bundesgerichtshof zu verschmelzen. Ernstzunehmender ist da sicherlich eine Bemerkung von Reuter77. Dieser macht darauf aufmerksam, dass Reformüberlegungen bzgl. einer Liberalisierung des Arbeitsrechts bzw. der Rechtsprechung vornehmlich von Arbeitsrechtlern stammen, die sich zugleich mit Wirtschaftsrecht befassten und weiter: „Die gleichzeitige Beschäftigung mit Arbeits- und Wirtschaftsrecht vermittelt nämlich die permanente Erfahrung eines Gegeneinander.“ Als Beispiele nennt er Unternehmenskonzentrationen und Marktzutrittsschranken, die durch das Wirtschaftsrecht bekämpft würden, aber deren Ursachen vom Arbeitsrecht gefördert würden. Denkt man diesen Ansatz konsequent weiter, kommt man zu dem Gedanken, dass gewisse Tendenzen im Arbeitsrecht beeinflusst werden könnten, wenn man Arbeitsrecht und Wirtschaftsrecht näher verknüpft, bzw. dass Tendenzen durch die Trennung der Rechtsgebiete begünstigt worden sein könnten. Eine Verknüpfung wiederum ist wohl am leichtesten möglich, wenn man die Norminterpreten bzw. -schaffer, d. h. die Richter, zusammenführt, also die Trennung zwischen Arbeitsund Wirtschaftsrechtsprechung aufhebt. Eine gewisse Verbindung von Tendenzen in der Arbeitsrechtsprechung und deren organisatorischer Selbständigkeit lässt sich auch einer Äußerung des damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des DGB Muhr78 entnehmen. Dieser sagte im Jahre 1987, dass ein Abbau der gegenwärtigen Eigenständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit nach Auffassung des DGB einen Rückschritt darstelle und als Versuch zur Abschaffung anerkannter sozialstaatlicher Grundprinzipien angesehen werde. Diese doch sehr vereinzelten und rudimentären Äußerungen zur Frage der Auswirkungen der Eigenständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit enthalten nur sehr geringe Hinweise auf mögliche Ursachen. Meines Erachtens könnte eine Tendenz aus der Eigenständigkeit nur folgen, wenn wegen der Eigenständigkeit andere Entscheidungsträger, -verfahren oder Spezialisierungseffekte als in der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu beobachten wären. Die Entscheidungsträger in der Arbeits- und in der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterscheiden sich wohl nicht prinzipiell, soweit es die Berufsrichter angeht. Beide haben die Ausbildung zum ,Einheitsjuristen‘ absolviert und es ist auch nirgends ein Anhaltspunkt dafür zu finden, dass sich ihre soziale Herkunft unterscheidet. Ein gewisser Unterschied in der Struktur der Entscheidungsträger könnte möglicherweise gegeben sein, wenn, wie Adomeit anzudeuten scheint, besonders viele sozial engagierte junge Juristen den Weg in die Arbeitsgerichtsbarkeit einschlügen. 76 77 78

Meilicke, H. (1981). Reuter, D. (1985), S. 53. Siehe dazu ArbuR 1987, S. 333.

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Dies könnte aufgrund anderer Wertvorstellungen auch eine andere Tendenz der Arbeitsrechtsprechung begründen. Auf den Einfluss von Wertvorstellungen werden wir aber erst in einem späteren Abschnitt [B. II. 1. und 2. c)] näher eingehen. Hier soll erst einmal der Hinweis darauf genügen, dass nicht davon auszugehen sein wird, dass alle Generationen von jungen Arbeitsrechtlern ein besonderes Interesse an sozialen Fragen gehabt haben und dass dieses Interesse erhalten blieb, bis sie einflussreiche Posten besetzten. Zudem sprechen Rotleuthners Studien gegen einen Einfluss einer arbeitnehmerfreundlichen Grundhaltung auf die Rechtsprechung.79 Zudem ist kaum anzunehmen, dass sich junge besonders sozial engagierte Juristen seltener für den arbeitsrechtlichen Bereich entscheiden würden, wenn er in der ordentlichen Gerichtsbarkeit untergebracht wäre. Auch das Verfahren der Entscheidungsfindung ist im Bereich der Arbeitsrechtsprechung nicht wesentlich anders als im übrigen Zivilrecht. Die wesentlichen Prozessgrundsätze wie z. B. die der Parteiherrschaft und der Herbeibringungsgrundsatz gelten hier wie dort. Als Ursache für eine besondere Tendenz bliebe somit noch die Spezialisierung der Entscheidungsträger. Möglicherweise hat es Wirkungen, wenn ein Entscheidungsträger immer nur mit einer besonderen Art von Fragestellungen befasst wird. Eben diese Wirkung hat ja auch Reuter angedeutet (siehe oben). Tatsächlich spricht eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Entscheidungsträger, je mehr er spezialisiert ist, desto ausdifferenziertere Entscheidungen trifft. Muss beispielsweise ein und derselbe Entscheidungsträger den gesamten Bereich des Zivilrechts abdecken, wird es ihm tendenziell eher an der Spezialkenntnis mangeln, die er benötigt oder die ihn veranlasst, eine neue Regel zu begründen. Es könnte also sein, dass eine besondere Spezialisierung der Gerichte dazu führt, dass mehr Normen produziert werden.80 Auf der anderen Seite bleibt zu bedenken, dass eine gewisse Spezialisierung der Richter auf das Arbeitsrecht kaum vermieden werden kann. Dies folgt schon aus der riesigen Zahl von arbeitsrechtlichen Verfahren,81 der zur Lösung benötigten Erfahrung und des umfassenden Wissens aufgrund der zersplitterten Normstruktur.82 Aus diesen Gründen wäre es naiv anzunehmen, der normale Amtsrichter könne mit arbeitsrechtlichen Fragestellungen befasst werden. Selbst wenn die Arbeits- und die ordentliche Gerichtsbarkeit zusammengefasst würden, müssten eigene Kammern für Arbeitsrecht gebildet werden. In diesen wäre die Spezialisierung vergleichbar dem heutigen Stand, so dass ein Unterschied zur eigenständigen Arbeitsrechtsprechung nicht allzu groß sein dürfte. Es wäre wohl nur ein häufigerer Wechsel zwischen den Rechtsgebieten ermöglicht. Dieser findet aber, wie Düwell83 Siehe dazu oben Kapitel 1 Abschnitt C. II. 2. b) dd). So beispielsweise Franke, S. (1997), S. 335. 81 Düwell, F. (1999), S. 752 spricht von 627.935 arbeitsrechtlichen Verfahren (1995) gegenüber 2,12 Mio. der ordentlichen Gerichte in Zivilsachen (1994). 82 Vgl. dazu Düwell, F. (1999), S. 750. 83 Düwell, F. (1999), S. 749 ff. 79 80

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belegt, auch im gegenwärtigen System zumindest auf dem Gebiet der höheren Instanzen und damit der vorrangigen Rechtsfortbildung statt. Aber selbst wenn aus der Spezialisierung der Arbeitsrechtsprechung eine gewisse Tendenz zur verstärkten Normproduktion folgen sollte, so ergibt sich daraus kein Anhaltspunkt für eine Tendenz zugunsten der Arbeitnehmerrechte. Die Befassung mit nur einer Art von Fragestellung gibt noch keinen Hinweis darauf, wie sich der entsprechende Entscheidungsträger orientieren wird. Treten Tendenzen in einem Rechtsgebiet auf, liegt dies eher an den inneren Gegebenheiten dieses Gebietes, nicht an einer fehlenden Verknüpfung mit anderen. Der Vorschlag von Reuter, die Arbeitsrichter insbesondere auch mit Wirtschaftsrecht zu beschäftigen, um ihnen das Gefühl für die Gegenläufigkeit der Ziele und Wirkungen zu vermitteln, erscheint daher kaum ausreichend. Auch dürfte bereits die reine Masse der arbeitsrechtlichen Verfahren dazu führen, dass immer die arbeitsrechtliche Perspektive des Richters überwöge. Es erscheint daher eher wahrscheinlich, dass die arbeitsrechtliche Sicht die wirtschaftsrechtliche beeinflussen würde als umgekehrt. Zudem zeigt meines Erachtens auch das Beispiel des Wohnungsmietrechts, dass sich mit einer Zusammenführung der Arbeitsrechtsprechung mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit bzgl. der Rechtsfortbildung nichts bewirken ließe. In der Rechtsprechung zum Wohnungsmietrecht zeigen sich sehr ähnliche Tendenzen – insbesondere ordnungsökonomische Irrationalität, Stärkung der Rechte des einzelnen sozial Schwachen zu Lasten der Outsider und letztlich auch zu Lasten der geschützten Gruppe selbst84 – wie in der Rechtsprechung zum Arbeitsrecht. Der Bereich des Wohnungsmietrechts ist aber, so wie alternativ zur bestehenden Ordnung der arbeitsrechtliche Bereich auch gestaltet werden könnte, in besonderen Kammern der ordentlichen Gerichtsbarkeit organisiert. Zuletzt spricht gegen eine weitreichende Wirkung einer Zusammenführung der Gerichtsbarkeiten, dass auch das BVerfG (und der EuGH) in letzter Zeit zunehmend den Schutz des einzelnen Arbeitnehmers mittels Rechtsfortbildung verstärkt und sich somit ähnliche Tendenzen auch auf in den anderen Gerichtszweigen zeigen. Hanau85 geht sogar soweit zu behaupten: „EuGH und BVerfG haben das BAG im Streben nach Arbeitnehmerschutz inzwischen überholt, so daß das BAG zunehmend versucht, den EuGH aufzuhalten, und vom BVerfG zunehmend zugunsten von Arbeitnehmern korrigiert wird.“ Auch wenn diese Einschätzung insbesondere im Hinblick auf die Rolle des BVerfG übertrieben erscheint, so zeigt sich doch zumindest, dass die Gründe für die festgestellten Tendenzen und Irrationalitäten nicht nur in der Isolation der Arbeitsgerichtsbarkeit zu suchen sind, sondern Gesetzmäßigkeiten folgen, die auch in anderen Gerichtsbarkeiten wirken. 84 Siehe dazu die Diplomarbeit des Verfassers an der Albert-Ludwigs Universität Freiburg v. Klitzing, H. (1996). 85 Hanau, P. (1998), S. 73.

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II. Eigener Erklärungsansatz Es war, wie gesehen, bisher nicht möglich, eine plausible eigennutzorientierte Verhaltensannahme für Richter zu formulieren, welche die gleichermaßen für alle oder eine Vielzahl von Richtern gelten würde und somit eine Tendenz in der Rechtsprechung erklären könnte. Da dies aufgrund der isolierten und unabhängigen Stellung der Richter auch in Zukunft kaum gelingen dürfte und auch die Selbständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit keine Tendenz der Rechtsprechung erklären konnte, werden im Folgenden andere Einflüsse auf das richterliche Entscheidungsverhalten untersucht. Dabei wird das Hauptaugenmerk auf der Tätigkeit des Richters, d. h. dem Ablauf der richterlichen Entscheidungsfindung, liegen.

1. Tätigkeit des Richters und die auf ihn einwirkenden drifts Bei der Untersuchung der richterlichen Tätigkeit werden wir von dem praktischen Geschehen, das bis zum erstinstanzlichen Urteil führt, ausgehen und dabei nach Einflüssen suchen, die möglicherweise eigene Tendenzen in der Rechtsprechung begründen. Insbesondere solche wären interessant, die erklären könnten, warum es zu einer Verstärkung des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes durch die Rechtsprechung gekommen ist. Die Beschreibung der richterlichen Tätigkeit erscheint auf den ersten Blick recht einfach. Dem Richter wird von den Parteien eine bestimmte Streitfrage vorgetragen. Er sucht und findet die einschlägigen Rechtsvorschriften, dann prüft er, wem was zusteht und entscheidet dementsprechend.86 In Wirklichkeit ist der Rechtsanwendungsprozess jedoch wesentlich komplizierter und in vielen Punkten sogar heftig umstritten. Im folgenden wird versucht, die Grundzüge der Entscheidungsfindung darzustellen, wobei sich die Untersuchung vorwiegend an der Darstellung von Larenz87 orientiert, da diese wohl der verbreitetsten Meinung entspricht. Danach werden als Gegenpol auch die Ansichten von Esser88 berücksichtigt, um sicher zu stellen, dass gefundene Tendenzen nicht nur auf der Erklärung des Rechtsanwendungsprozesses im Larenz’schen Sinne beruht. Der ,normale‘ Prozess beginnt damit, dass der Kläger eine Klageschrift einreicht, indem er einen Lebenssachverhalt aus seiner Sicht schildert und einen Antrag stellt bzw. einen solchen ankündigt. Diese Klageschrift wird dem Beklagten zugestellt, der dann in angemessener Frist auf diese antworten muss. Dies tut er regelmäßig, indem er ebenfalls den Lebenssachverhalt, diesmal aus seiner Sicht schildert und einen eigenen Antrag stellt. Für gewöhnlich werden sich die beiden geschilderten Sachverhalte nicht decken und die Anträge werden entgegengesetzt 86 87 88

Vgl. zu dieser Darstellung Haase, R. / Keller, R. (1995), RN 151 S. 43. Insbesondere aus Larenz, K. (1992). Vor allem aus Esser, J. (1970).

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sein. Diesen ersten Schriftsätzen folgen eventuell noch weitere, in denen die jeweiligen Sachverhalte präzisiert oder ergänzt werden. Jedenfalls hat der Richter nunmehr einen Sachverhalt meist in zwei Varianten vorliegen. Dieser Sachverhalt wird auch als Rohsachverhalt bezeichnet.89 Dieser Rohsachverhalt ist der eine feststehende Punkt der Rechtsfindung. Von diesem feststehenden Punkt aus muss der Richter nun den Sachverhalt bilden, der im Tatbestand des Urteils als Sachverhalt erscheint, d. h. er muss den „Sachverhalt als Aussage“90 formulieren. Zu dieser Erstellung des Sachverhaltes schreibt Larenz91: „Das Geschehene muss zu diesem Zweck benannt, und das Benannte in eine gewisse Ordnung gebracht werden. Aus der unübersehbaren Fülle, dem ständigen Fluss des tatsächlichen Geschehen nimmt der Sachverhalt als Aussage stets eine Auswahl vor; bereits diese Auswahl trifft der Beurteiler im Hinblick auf die mögliche rechtliche Bedeutsamkeit der einzelnen Fakten.“ Bevor aber das ,Geschehene‘ benannt und daraus eine Auswahl getroffen werden kann, muss ersteinmal festgestellt werden, was wirklich geschehen ist. Auf diese Notwendigkeit kommt auch Larenz zu sprechen und macht dann eine für uns interessante Feststellung, nämlich92: „Der Feststellung dessen, wie es wirklich gewesen ist, sind. . . so überraschend das manchem zunächst klingen mag, auch vom Prozeßrecht her Grenzen gesetzt. Dies gilt vor allem im Bereich des sogenannten Verhandlungsgrundsatzes im Zivilprozessrecht.“ Dieser besagt, wie bereits oben [A. II. 2. a.)] angesprochen, dass nur die Parteien den Streit- bzw. Prozessstoff, der Entscheidungsgrundlage ist, in den Prozess einführen, über seine Feststellungsbedürftigkeit entscheiden und seine Feststellung betreiben können.93 Andere, selbst offenkundige Tatsachen darf das Gericht nicht berücksichtigen, wenn die Parteien diese nicht aufgreifen.94 Der Richter muss somit seiner rechtlichen Beurteilung einen Sachverhalt zugrunde legen, der von den Parteien bestimmt wird. Von diesem ist er unter Umständen persönlich nicht überzeugt und dieser muss auch nicht der Wirklichkeit entsprechen bzw. spiegelt diese nicht vollständig wider. Diese auf den ersten Blick erstaunliche Tatsache ist erklärlich, wenn man von dem eigentlichen Zweck des Verfahrens – der Einzelfallentscheidung – ausgeht. Es ist dann durchaus konsequent, wenn man es den beiden Beteiligten, die auch die einzigen sind, die unmittelbar von der Rechtswirkung des Urteils erfasst werden, überlässt, worüber sie eine Erörterung und Entscheidung haben wollen. Sie werden aufgrund ihres Eigeninteresses schon dafür sorgen, dass alle relevanten Tatsachen, die für ihre Interessen sprechen, dem Richter vorgetragen werden.

89 90 91 92 93 94

So z. B. Larenz, K. (1992), S. 167 oder auch Wank, R. (1978), S. 21. Larenz, K. (1992), S. 166. Larenz, K. (1992), S. 166. Larenz, K. (1992), S. 194. Für alle Thomas, H. (1991), Einl. I 1 a, S. 2. Vgl. z. B. Hauck, F. (1996), § 46 RN 10, S. 152.

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

Problematisch wird die eingeschränkte Wirklichkeit von der der Richter ausgehen muss, erst wenn man eine mögliche rechtsfortbildende Wirkung seines Urteils bedenkt. Zwar wird es selten vorkommen, dass ein erstinstanzliches Urteil als solches zur Rechtsfortbildung beiträgt, aber in der zweiten Tatsacheninstanz geht das Gericht von einem genauso ermittelten Rohsachverhalt aus und auch in der Revisionsinstanz ist der von den Instanzgerichten ermittelte Sachverhalt Ausgangspunkt der rechtlichen Würdigung. Somit wirken mögliche Fehler oder Unvollständigkeiten bis zu rechtsfortbildenden Entscheidungen weiter. Wenn aber ein Urteil rechtsfortbildende Wirkung hat, so werden dadurch nicht nur die Parteien des Prozesses bzw. die durch sie repräsentierten Gruppen, sondern auch Dritte und unter Umständen sogar die Allgemeinheit betroffen. Deren Sicht der Wirklichkeit und ihre Interessen können von dem Richter aber nicht berücksichtigt werden – ja werden wohl meist gar nicht erkannt –, da sie in den ihm von den Parteien vorgegebenen Rohsachverhalt überhaupt nicht eingehen. Diesen Umstand haben wir oben bereits als Rationalitätsmangel richterlicher Regelsetzung kennengelernt. Dieser Mangel bewirkt aber über das allgemeine Rationalitätsdefizit hinaus noch, dass bei Bestandsschutzstreitigkeiten eine Tendenz in der Richtung der Rechtsfortbildung auftreten kann. Wenn die Sicht der Tatsachen eines Betroffenen nicht Teil der Entscheidungsgrundlage ist, so ist die zwangsläufige Folge, dass die Rechtsfortbildung vor allem den Interessen der Beteiligten, weniger aber seinen gerecht wird. Dies mag bei einer einzelnen Entscheidung nicht sichtbar werden, aber im Laufe der evolutorischen Entwicklung des Rechtssystems insgesamt wird sich diese Tendenz bemerkbar machen. Das beste Beispiel im Bereich des Bestandsschutzes ist die Berücksichtigung der Interessen der Arbeitsuchenden. Ihr natürliches Interesse geht dahin, dass ihnen möglichst viele potentielle Stellen zur Verfügung stehen, mithin der Schutz der Arbeitsplatzinhaber nicht zu weit ausgedehnt wird. Insbesondere wirkt es sich für die Arbeitsplatzsuchenden negativ aus, wenn sie gegenüber den zur Zeit Beschäftigten bei der Vergabe freier Stellen benachteiligt werden. Aber gerade diese Tendenz ist in der richterlichen Rechtsfortbildung besonders ausgeprägt. So sind das Ultima-ratio Prinzip, die Weiterbeschäftigungspflicht auch auf anderen Arbeitsplätzen oder auch die Grundsätze zur Änderungskündigung von der Rechtsprechung entwickelt worden. Alle diese richterlichen Rechtsfortbildungen gehen insbesondere zu Lasten der Arbeitsuchenden. Eine Rechtsfortbildung hingegen, die die Rechte der Arbeitsuchenden stärkt, wurde im Rahmen dieser Untersuchung nicht festgestellt. Es sollte durch das oben ausgeführte deutlich geworden sein, dass durch die eingeschränkte Sicht der Wirklichkeit, insbesondere infolge des Grundsatzes der Parteiherrschaft, eine Tendenz oder auch Rechtsprechungsrichtung zur Benachteiligung der am Verfahren Nichtbeteiligten bei der richterlichen Rechtsfortbildung entsteht. Da diese Tendenz aufgrund der Verfahrensgrundsätze bzw. Verfahrensordnung entsteht, wird sie im Folgenden als „proceeding drift“ bezeichnen. Diese Bezeichnung erfolgt in Anlehnung an Buchanans Ausdruck „pragmatic

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drift“95 und hängt damit zusammen. Eine nähere Analyse, welche weiteren Auswirkungen die proceeding drift hat und in welchen Instanzen sie insbesondere auftritt, erfolgt im Abschnitt 2. a). Der Vorgang der richterlichen Entscheidungsfindung wurde bis zur Erstellung des Rohsachverhalts und der aus ihm erfolgenden Ermittlung des Sachverhaltes, der dem Tatbestand des Urteils zugrundegelegt wird, verfolgt. Im Anschluss an Larenz wurde festgestellt, dass es einer Auswahl aus dem Rohsachverhalt bedarf und dass der Richter diese Auswahl im Hinblick auf die mögliche rechtliche Bedeutsamkeit vornimmt. Der Richter wird also nach solchen Umständen im Rohsachverhalt suchen, auf die es nach den in Betracht kommenden Normen ankommen kann. „Er wird auf solche Weise die ursprüngliche Erzählung, den ,Rohsachverhalt‘, so weit teils verkürzen, teils vervollständigen, dass der endgültige Sachverhalt nur noch diejenigen, aber auch alle diejenigen Elemente des tatsächlichen Geschehens enthält, die im Hinblick auf die möglicherweise anwendbaren Rechtsnormen von Bedeutung sind. Der (endgültige) Sachverhalt ist somit das Ergebnis einer gedanklichen Verarbeitung, in der die rechtliche Beurteilung bereits vorweggenommen ist.“96 Die korrekte Beurteilung des endgültigen Sachverhaltes ist somit davon abhängig, dass der Richter vorher bereits die in Betracht kommenden Normen – den zweiten feststehenden Punkt der Rechtsfindung – ermittelt hat. Nach Larenz geschieht dies dadurch, dass der Richter97 die auf den Rohsachverhalt „möglicherweise anwendbaren Rechtssätze gleichsam durchprobiert“. Dabei wird beurteilt, ob der Sachverhalt dem Tatbestand des ,durchprobierten‘ Rechtssatzes unterfällt. Der (endgültige) Sachverhalt wird nach Larenz also durch die in Betracht kommenden Normen gebildet, während die Normen wiederum nach dem zu beurteilenden Sachverhalt ausgesucht werden. Diese wechselseitige Konkretisierung erfolgt durch ein „Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt“.98 95 Buchanan, J. (1977), S. 287 und 296 f. Dass eine englische Bezeichnung gewählt wird, hängt nicht mit der momentanen Tendenz der Wissenschaft zu Anglizismen zusammen, sondern damit, daß es für den angestrebten Sinn kein entsprechendes und gebräuchliches deutsches gibt. Das Wort der englischen Bezeichnung „drift“ am nächsten kommende deutsche „Trift“ oder „Abtrift“ wird praktisch nur im Zusammenhang mit Seefahrt und Meeresströmungen benutzt. Die anderen Übersetzungen wie Strömung, Richtung, Tendenz kommen dem englischen Begriff zwar nahe, treffen den eigentlichen Sinn der richterlichen drift aber nur unvollkommen und insbesondere das am besten passende Wort Tendenz hat im Zusammenhang mit richterlicher Entscheidungsfindung eine leicht negative Färbung, die in dieser Arbeit vermieden werden soll. Für die im Folgenden entwickelten Begriffe „social drift“, „pragmatic drift“ und „constitutional drift“ würden nach meiner Ansicht als deutsche Pendants noch am besten „sozialbedingte Tendenz“, „verfahrensbedingte Tendenz“ und „verfassungsbedingte Tendenz“ passen. 96 So Larenz, K. (1991), S. 167. 97 Larenz spricht allgemeiner von Beurteiler, da er seine Betrachtung nicht auf Richter beschränkt, sondern generell die Entscheidungsfindung von Juristen beschreibt. Vgl. Larenz, K. (1991), S. 169. 98 Engisch, K. (1942), S. 15.

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Bei der Beurteilung, ob der Sachverhalt eine Norm erfüllt, „werden von dem Beurteiler, . . ., Urteile sehr verschiedener Art verlangt.“99 Larenz unterscheidet dabei auf Wahrnehmung beruhende Urteile, auf Deutung menschlichen Verhaltens beruhende Urteile, durch soziale Erfahrungen vermittelte Urteile und Werturteile. Die Urteile aufgrund von Wahrnehmungen beziehen sich insbesondere auf die Feststellung der Wahrheit im konkreten Fall. Die Wahrnehmungen aufgrund der Deutung menschlichen Verhaltens beziehen sich auf den Sinn oder Inhalt einzelner Handlungen. Beide sind vornehmlich auf einen spezifischen Einzelfall beschränkt und daher hier von geringerem Interesse. Ebenfalls meist nur für den einzelnen Fall interessant sind die Urteile, die aufgrund sozialer Erfahrungen gemacht werden. Dabei handelt es sich beispielsweise um die Beurteilung eines Tatbestandsmerkmals bzw. ob es von den Fakten des Einzelfalls erfüllt wird. Daneben hat der Richter aber auch oft einen Sachverhaltes vorliegen, bei dem er selbst einen Bewertungsspielraum hat, den er aufgrund sozialer Erfahrungen oder durch Zuordnung zu einem Typus100 ausfüllen muss. Diese Art der Entscheidung ist bereits eng verwandt mit den Entscheidungen, bei denen der Richter ein eigenes Werturteil abgeben muss. Ein Beispiel für diese Art der Entscheidungen könnte etwa die Frage darstellen, ob eine Fertigungsstätte oder ähnliches einen eigenen Betrieb oder Betriebsteil darstellt oder nur eine unselbständige Einheit oder ob ein Beschäftigter / Beauftragter ein Selbständiger oder aber nur ein Scheinselbständiger und damit Arbeitnehmer ist. Daneben gibt es aber auch noch Entscheidungen bei denen dem Richter ein eigenes Werturteil abverlangt wird. Dies ist besonders deutlich, „wo er den Sachverhalt, um ihn dem Tatbestand der Gesetzesnorm zuordnen zu können, nach einem von ihm selbst erst zu konkretisierenden, ,ausfüllungsbedürftigen‘ Maßstab zu beurteilen hat.“101 Das klarste Beispiel aus dem arbeitsrechtlichen Bestandsschutz für einen Tatbestand einer Gesetzesnorm, die eine eigene Wertung des Richters erfordert, ist vielleicht der „wichtige Grund“ als eine Voraussetzung der Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung eines Arbeitsverhältnisses. Aber auch die Frage, ob beispielsweise betriebliche Gründe für eine Kündigung „dringende“ i. S. des § 1 II S. 1 KSchG sind, kann nur mittels einer Wertung des Richters beurteilt werden. Es wurde dargelegt, dass der Richter Entscheidungen treffen muss und dabei teilweise eigene Wertung abzugeben hat. Bevor die eigentliche Wertung untersucht wird, soll noch der Gegenstand der richterlichen Entscheidung näher dargestellt werden. Bisher wurde nur erläutert, dass er die Entscheidung trifft, ob eine Tatbestandsvoraussetzung eines Gesetzes erfüllt ist. Um tiefer einzusteigen und den eigentlichen Sinn dieser Entscheidung zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, was eigentlich ein Gesetz aussagt bzw. aussagen will. Larenz, K. (1991), S. 171. Larenz, K. (1991), S. 181. 101 Larenz, K. (1991), S. 176. 99

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Nach der heute herrschenden Wertungsjurisprudenz102 sind die Gesetze zumindest auf dem Gebiet des Privatrechts, „( . . . ) dazu da, mögliche und typische Interessenkonflikte zwischen einzelnen oder gesellschaftlichen Gruppen in der Weise zu regeln, dass das eine Interesse hinter das andere, meist nur bis zu einem gewissen Punkte, zurückzutreten hat, das andere also vorgezogen wird.“103 Entscheidet somit der Richter über die Erfüllung eines Tatbestandsmerkmales, so entscheidet er im Grunde darüber, welchem von zwei Interessen er den Vorzug gibt und welches zurückzutreten hat. Für unsere Analyse ist es nun von größter Bedeutung zu ermitteln, welche Beweggründe oder Einflüsse den Richter dazu bewegen, eine Entscheidung für eine der beiden Interessen zu treffen. Normalerweise geht ein ökonomischer Ansatz bei einer Entscheidungssituation vom Eigennutzaxiom aus, d. h. es wird angenommen, dass einzelne Individuen ihre Handlungen an ihrem eigenen Interesse ausrichten.104 Aber bereits oben haben wir festgestellt, dass ein eigennütziges Motiv für Entscheidungen des Richters aufgrund der Verfahrensregeln nicht erkennbar ist bzw. nicht existiert. Wenn aber kein eigennütziges Motiv erkennbar ist, muss nach anderen Einflussfaktoren gesucht werden. Meines Erachtens können mögliche Einflussfaktoren insbesondere aus zwei verschiedenen Bereichen kommen. Einerseits hat die Ausbildung und eng damit verbunden das Selbst- bzw. Rollenverständnis des Richters, wie wohl grundsätzlich beim Menschen, einen wichtigen Einfluss auf sein konkretes berufliches Handeln. Andererseits muss untersucht werden, welche Werte und Wertvorstellungen die Entscheidung des einzelnen Richters beeinflussen und ob sich daraus gewisse Verhaltensvoraussagen bzw. Tendenzen herleiten lassen. Das Rollenverständnis des Richters ist, wie bereits dargestellt105, von der Vorstellung geprägt, dass er einen konkreten Streit zwischen zwei konkreten Parteien entscheiden muss. Dabei ist das Streben des Richters auf die „gerechte“ Einzelfallentscheidung ausgerichtet. Wenn sich der Richter aber, wie festgestellt, nur an der Einzelfallgerechtigkeit orientiert, bleibt zu erklären, welche Auswirkungen dies auf seine Entscheidung beim konkreten Rechtsstreit und auf die Rechtsprechung und insbesondere deren Rechtsfortbildung hat. Hat der Richter bei einem konkreten Arbeitsrechtsfall eine Entscheidung zu treffen und hat er dabei einen eigenen Handlungsspielraum, muss er diesen mit einer eigenen Wertung ausfüllen. Dabei wird er die unterschiedlichen Interessen des einzelnen Arbeitgebers und des einzelnen Arbeitnehmers bewerten, um festzustellen, welche zurückzustehen haben und welche demgegenüber vorrangig und daher zu Larenz, K. (1991), S. 10. Larenz, K. (1991), S. 9. 104 In der Übertragung dieses Eigennutzaxioms auch auf Politiker und Bürokraten und damit auf den vorher häufig als ,gemeinwohlorientiert‘ angesehenen Staatssektor besteht eine der großen Leistungen bzw. Erkenntnisquellen der Public Choice Theorie. 105 Siehe dazu Abschnitt A. II. 2. a) cc). 102 103

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schützen sind. Bei der Bewertung im Einzelfall wird es den Richter häufig beeinflussen, dass der Arbeitnehmer meist an einem konkreten Arbeitsverhältnis ein größeres Interesse hat als der Arbeitgeber. Für den Arbeitnehmer ist das Arbeitsverhältnis häufig die einzige oder zumindest wichtigste Erwerbsquelle, Anknüpfungspunkt für Kontakte mit anderen Menschen etc. und somit oft Mittelpunkt seines Lebens schlechthin. Für den einzelnen Arbeitgeber hingegen geht es meist ,nur‘ um rein wirtschaftliche Interessen und diese sind im Einzelfall sogar meist nicht existenzbedrohend. Somit erscheinen die Interessen des Arbeitnehmers am Erhalt eines Arbeitsplatzes viel bedeutender und schutzbedürftiger als die des sozial stärkeren Arbeitgebers. Betrachtet der Richter nur diese Interessen im Einzelfall, nicht die allgemeinen Auswirkungen (z. B. auf die zukünftige Einstellungsbereitschaft des Arbeitgebers oder das Interesse Dritter) und damit die Interessen der Allgemeinheit, ist es einleuchtend, dass er tendenziell eher den Interessen des Arbeitnehmers ein stärkeres Gewicht beimessen wird. Diese Orientierung des Richters am Einzelfall ist völlig unproblematisch, folgerichtig und praktisch, soweit er tatsächlich ,nur‘ einen Einzelfall entscheidet. Problematisch wird diese klare Ausrichtung jedoch, wenn die einzelne Entscheidung auch zur Bildung einer abstrakt-generellen Norm beiträgt. Hier ist es aus ordnungspolitischer Sicht nicht mehr rational, nur die Interessen der Verfahrensbeteiligten und damit die des Arbeitnehmers verstärkt zu berücksichtigen, sondern es müsste eigentlich der gesamte Einfluss, den die neue Regel auf die Handelnsordnung hat, berücksichtigt werden, d. h. insbesondere der Gesamteinfluss auf die betroffenen Gruppen, deren Repräsentanten die Verfahrensbeteiligten sind, die anderen Drittbetroffenen (insbesondere Erwerbssuchende) sowie die Allgemeinheit und deren Reaktionen. Da sich der Richter aber auch bei Entscheidungen, die zur Bildung einer abstrakt-generellen Regel führen oder beitragen, an der Einzelfallgerechtigkeit orientiert, führt dies fast zwangsläufig zu einer Stärkung der Arbeitnehmerrechte. Wir haben es hier folglich mit einer weiteren (neben der proceeding drift) Tendenz der Rechtsprechung zu tun. Da diese, wie gesehen, von den existenzielleren Interessen und der angeblichen Unterlegenheit des einzelnen Arbeitnehmer herrührt und damit letztlich von seiner stärkeren sozialen Schutzbedürftigkeit, werde ich sie im Folgenden als social drift bezeichnen.106 Einen weiteren erheblichen Einfluss auf die Entscheidung des Richters zwischen den konfligierenden Interessen der einzelnen Verfahrensbeteiligten haben die Wertvorstellungen, die er zur Abwägung heranzieht. Nur wenige der Generalklauseln und unbestimmten Tatbestandsmerkmale enthalten so etwas wie einen Hinweis oder eine Verweisung auf rechtliche oder außerrechtliche Normen, die dem Richter als Maßstab für eine Bewertung der Interessen dienen können. Aber selbst wo ein solcher Maßstab ersichtlich ist, ist dieser meist nicht hinreichend konkret, 106 Diese Bezeichnung erfolgt ebenfalls in Anlehnung an Buchanans Ausdruck „pragmatic drift“ (in Buchanan, J. (1977), S. 287 und 296 f.).

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um daraus eine direkte Folgerung für den einzelnen Rechtsstreit zu ziehen. Daher muss der Richter andere Wertmaßstäbe heranziehen. Diese können grundsätzlich zwei verschiedene Herkunftsarten haben. Erstens können sie persönliche Werte des Richters sein, die er für seine Person akzeptiert oder als wünschenswert für die Gesellschaft erachtet. Andererseits ist es aber auch möglich, dass sie der Richter aus der Gesellschaft selbst bzw. aus der von dieser akzeptierten Grundordnung zieht. Dabei kommt den in der Verfassung verbindlich festgelegten Wertungsmaßstäben eine besondere Bedeutung zu.107 Persönliche Werte des Richters spielen bei der Entscheidungsfindung des Richters sicherlich eine Rolle. Diese Tatsache ist es auch, die Posner und Higgins / Rubin dazu veranlassten, ihre Erklärung richterlichen Verhaltens mit dem Wunsch nach Verwirklichung eigener Wertvorstellungen in der Gesellschaft, z. B. durch Produktion entsprechender Präjudizien, zu begründen.108 Aber dem muss, wie bereits oben angesprochen, entgegengehalten werden, dass persönliche Wertvorstellungen der Richter keine konkreten Aussagen über die Rechtsprechung zulassen, solange die konkreten Wertvorstellungen des speziellen Richters nicht zu erkennen sind. Zudem kann man keine Aussagen über eine Tendenz der Rechtsprechung oder eine Verhaltensvoraussage für eine Entwicklung der Rechtsprechung abgeben, solange nicht erklärt werden kann, welche Wertvorstellungen die Mehrheit oder zumindest einen großen Teil der Richter beeinflussen. Andernfalls liegt es nahe anzunehmen, dass sich die einzelnen divergierenden Wertvorstellungen der verschiedenen Richter gegenseitig aufheben und von daher aus privaten Wertvorstellungen keine Tendenzen der Rechtsprechung insgesamt resultieren. Eine besonders unter den Richtern weit verbreitete, private Wertvorstellung ist aber kaum erkennbar. Ein Ansatzpunkt dafür könnte allenfalls eine Äußerung Adomeits109 sein, der darüber berichtet, warum er und seine Kollegen gleichen Alters gerade Arbeitsrechtler wurden. Er schreibt: „Es mag andere Rechtsgebiete geben, die man studiert aus vorwiegend technischem Interesse, in denen der Jurist seine Zufriedenheit findet allein, weil es so genau aufgeht: ( . . . ). Aber Arbeitsrechtler wird man aus Gefühl, Emotion, Engagement; wir jedenfalls wurden Arbeitsrechtler so. ( . . . ) Hier war ein Rechtsgebiet, wo man zugleich juristisch genau und gutherzig denken durfte! Eine Art Manifest war Otto von Gierkes ,Die soziale Aufgabe des Privatrechts‘ mit den Worten ,Unser Privatrecht wird sozial sein, oder es wird nicht sein‘. ( . . . ) Im arbeitsrechtlichen Seminar wurde an unvergesslichen Abenden um die Verwirklichung dieses Sozialgedankens gerungen.“ In dieser Äußerung könnte man einen Hinweis darauf sehen, dass gerade wegen der gesellschaftlichen und sozialen Brisanz des Rechtsgebiets viele besonders so107 108 109

Vgl. Larenz, K. (1991), S. 179. Siehe dazu vorne 1. Kapitel Abschnitt C. II. 2. b) aa) und cc). Adomeit, K. (1985), S. 1.

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zial engagierte Juristen den Weg ins Arbeitsrecht einschlugen. Weiter gedacht könnte man daraus auf Dauer eine mögliche Überbetonung der sozialen Gerechtigkeit etc. unter den ,privaten‘ Werten der Arbeitsrechtler vermuten, was dann eine Tendenz der Rechtsprechung auslösen könnte. Dagegen sprechen aber mehrere Gründe. Erstens ist nicht ersichtlich, dass alle Generationen der Arbeitsrechtler beim Berufseinstieg von sozialen Fragen beseelt waren. Die Rechtsprechung hat aber praktisch durchgehend die Arbeitnehmerrechte verstärkt. Zweitens, und dafür ist Adomeit selbst das beste Beispiel, ist es keineswegs gesagt, dass die Einstellung eines jungen Jurastudenten zu sozialen Werten im Arbeitsrecht sich nicht verändert hat, bis er selbst Richter, insbesondere in höheren Instanzen oder einflussreicher Arbeitsrechtswissenschaftler, geworden ist. Gegen eine derartige Tendenz sprechen zudem die oben dargestellten rechtssoziologischen Untersuchungen Rottleuthners, wonach die arbeitnehmerfreundliche Haltung der Richter keinen nachweisbaren Einfluss auf die Erfolgschancen der am Prozess beteiligten Arbeitnehmer haben. Als Maßstäbe, die eine Tendenz der Rechtsprechung verursachen können, kommen aber auch solche Werte in Betracht, die in der Rechtsordnung selbst, im besonderen aber in der Verfassung festgelegt sind. Wenn der Richter, wie es sehr häufig geschieht, eine eigene Entscheidung zu treffen hat, so muss er, wie festgestellt, Werte zur Abwägung der Interessen heranziehen. Es ist aber nicht so, dass er dabei ausschließlich oder auch nur vorwiegend ,eigene‘ oder, wie es Larenz ausdrückt, emotionale Werte heranzieht. Im Gegenteil, in seiner Ausbildung und auch in der Berufspraxis wird der Richter zur ,Versachlichung‘ der Wertungen ausgebildet bzw. erzogen, was nach Larenz110„. . . ein an Rechtsgrundsätzen gebundenes Werten mit Hilfe eines, ( . . . ), ,wertorientierten‘ Denkens“ bedeutet. Zudem ist er verpflichtet, die Gründe für seine Entscheidung im Urteil niederzulegen, d. h. seine Entscheidung zu rechtfertigen. ,Rechtfertigen heißt für ihn aber, darlegen, dass die Entscheidung bzw. die dahinter stehenden Werte mit den Wertungsmaßstäben in der Rechtsordnung und insbesondere denen der Verfassung in Einklang stehen. Aus diesem Grunde lässt sich sagen, dass unter den Werten und Prinzipien, die den Richter beeinflussen, denen, die in der Rechtsordnung insbesondere der Verfassung niedergelegt sind, die wichtigste Rolle zukommt. Es ist allgemein anerkannt, dass diese Prinzipien vom Richter bei der Auslegung des einfachen Gesetzesrechtes, insbesondere von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln, und bei der Rechtsfortbildung zu beachten sind.111 Konkret heißt dies, dass der Richter diese Prinzipien zur Auslegung von Gesetzen heranziehen soll, die keine eindeutigen Maßstäbe für die Auslegung enthalten. Das BVerfG112 drückt dies beispielsweise folgendermaßen aus: von mehreren mögLarenz, K. (1991), S. 179. Für alle Larenz, K. (1991), S. 339. 112 BVerfGE 8, 210, (221). Das BAG drückt dies so aus: „Auch das normative Bekenntnis des Grundgesetzes zum sozialen Rechtsstaat (Art. 20, 28), das für die Auslegung des Grund110 111

B. Gründe für Tendenz der Rechtsprechung Arbeitnehmerrechte zu verstärken

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lichen Auslegungen „verdient diejenige den Vorzug, die einer Wertentscheidung der Verfassung besser entspricht“. Diese grundrechts- bzw. verfassungskonforme Auslegung „strahlt“ auch in die Rechtsbeziehung zwischen Privaten aus. Das Bundesverfassungsgericht spricht bezüglich dieser Prinzipien von einer dem Grundgesetz immanenten Wertordnung oder sogar einer Wertrangordnung,113 die auf alle Rechtsgebiete ausstrahlt. Geht man demzufolge davon aus, dass die in der Verfassung niedergelegten Grundwerte eine bedeutende Rolle für die vom Richter zu treffenden Wertung haben, so muss man sich weiterhin fragen, ob daraus irgendwelche Tendenzen der Rechtsprechung abgeleitet werden können. Dazu muss man sich näher mit dem Inhalt der Verfassung beschäftigen. Außer den in der Verfassung festgelegten Grundrechten des einzelnen Bürgers sind in der Verfassung auch die wesentlichen Merkmale und Ziele unseres Staates festgelegt. Das Grundgesetz legt in Art. 20 I und 28 II GG die Verfassungsordnung u. a. auf das Staatsziel des sozialen Rechtsstaates fest.114 Garantiert wird das Sozialstaats- und das Rechtsstaatsprinzip. Die Bedeutung der Festschreibung dieser Prinzipien liegt für den Richter darin, dass er sich an diese Prinzipien halten soll, wenn ein Gesetz ausgelegt werden muss und keine eindeutigen Maßstäbe dafür enthält. Vor allem „das Sozialstaatsprinzip wird vielfach interpretationsleitend sein“.115 Das liegt daran, dass das Rechtsstaatsprinzip klar definiert und damit festgelegt ist, während das Sozialstaatsprinzip offen und damit Rechtfertigung für immer weitere Auslegungen und Gestaltungsaufträge sein kann.116 Wird das Sozialstaatsprinzip, wie vielfach als „soziale Gleichheit in den Lebensverhältnissen“ interpretiert, so führt es gerade zu einen „progressus in infinitum, weil jede gesetzliche Einebnung realer Ungleichheiten neue Ungleichheiten in anderer Relation stiftet.“117 Für das Arbeitsrecht bedeutet die starke Betonung des Sozialstaatsprinzips, dass die Rechtsprechung zu einer Auslegung der Gesetze tendiert, die normalerweise der sozial schwächeren und damit scheinbar schutzbedürftigen Partei der Arbeitnehmer Vorteile bringt.118 Besonders eindeutig hat das Bundesarbeitsgericht diese Wirkung des Sozialstaatsgedankens auf das Arbeitsrecht in einer Entscheidung 1963119 ausgedrückt, die sich mit dem MuSchG beschäftigte, aber wohl problemgesetzes und anderer Gesetze von grundlegender Bedeutung ist, spricht für die unmittelbare privatrechtliche Wirkung der grundrechtlichen Bestimmungen, die für den Verkehr der Rechtsgenossen untereinander in einer freiheitlichen und sozialen Gemeinschaft unentbehrlich sind.“ (BAGE 1,185 (193 f.); seitdem ständige Rechtsprechung). 113 BVerfGE 7, 198, (215); 27, 1, (6); 30, 173, (193). 114 Siehe Degenhardt, C. (1997), S. 131. 115 Karpen, U. (1988), S. 55. 116 Vgl. Streit, M. (1988), S. 47. 117 Isensee, J. (1985), S. 142. 118 Auch wenn diese Vorteile, wie gesehen, nur vordergründig sind. 119 Urteil des BGH v. 9. 8. 1963 = SAE 1964, 47, 49. 20 von Klitzing

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los auf das gesamte Bestandsschutzrecht ausdehnen lässt. Dort heißt es: „Dieser Gedanke [gemeint ist der Sozialstaatsgedanke; Anmerkung des Verfassers] wird erst dann voll verwirklicht sein, wenn der Schutz für die im Arbeitsverhältnis stehenden Mütter möglichst lückenlos ist. Daraus ergibt sich aber für die auf den Sinn des Gesetzes abstellende Auslegung, dass dann, wenn sich Zweifel in der Anwendung aus dem Wortlaut des Gesetzes nicht beheben lassen, eher die zugunsten der ArbN sprechende als die gegenteilige Lösung zu verwirklichen ist.“ Wenn in diesem Zusammenhang von einer Interpretation ,zugunsten der Arbeitnehmer‘ die Rede ist wird dabei regelmäßig nur auf den Einzelfall abgestellt. Die Rückwirkungen auf die Gesamtheit der Arbeitnehmer, die wie gezeigt wurde, gerade negativ sein kann, wird dabei nicht berücksichtigt. Die Wirkung des nur im Hinblick auf den Einzelfall interpretierten Sozialstaatsprinzips wird noch dadurch verstärkt, dass ihm ein Korrektiv fehlt. Unserem Wirtschaftssystem liegt, wie in Kapitel 1 B. III. 2. gezeigt, das Prinzip der sozial geprägten Marktwirtschaft zu Grunde. Während die soziale Prägung im Sozialstaatsprinzip in der Verfassung ausdrücklich verankert ist, fehlt das Prinzip der Marktmäßigkeit. Nirgends im Grundgesetz ist dieses Prinzip ausdrücklich festgelegt. Auch wenn wohl keine andere Wirtschaftsordnung mit dem Grundgesetz vereinbar wäre und im Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion die Soziale Marktwirtschaft und der Leistungswettbewerb als Wirtschaftsordnung des vereinten Deutschlands festgelegt wurde [ausführlich dazu in Kapitel 1 B. III. 2.], so kommt dem für die Entscheidung des Richters nicht die gleiche Bedeutung zu. Bereits in der Ausbildung des Richters werden die Verfassungsprinzipien und ihre Bedeutung für die Gesetzesanwendung und -auslegung ausführlich diskutiert. Da das Prinzip der Marktmäßigkeit nicht im Grundgesetz ausdrücklich verankert ist erfolgt dies bei diesem Prinzip nicht. Zudem ist es wegen der umstrittenen Bedeutung der Marktwirtschaft als Verfassungsbestandteil kaum möglich, eine Entscheidung mit dessen Hilfe zu begründen. Im Ergebnis fließt das Prinzip der Marktmäßigkeit wegen der fehlenden ausdrücklichen Festschreibung auch nicht z. B. im Wege einer verfassungskonformen Auslegung, in das Entscheidungskalkül bzw. den Entscheidungsmaßstab des Richters mit ein, wenn dieser über die Auslegung von Gesetzen zu entscheiden hat, die der Umsetzung des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft in einen Rechtsbereich dient. Die Tendenz der Rechtsprechung, dem (einzelfallbezogen interpretierten) Sozialstaatsprinzip sehr viel Bedeutung beizumessen, wird im folgendem als „constitutional drift“ bezeichnet. 120 Wir haben nun dargelegt, welche Werte der Richter bei der Abwägung zwischen konfligierenden Interessen der Parteien vermehrt heranzieht. Danach muss der Richter nun mit Hilfe der herangezogenen Werte bzw. Wertmaßstäbe eine Ent120 Diese Bezeichnung erfolgt ebenfalls in Anlehnung an Buchanans Ausdruck „pragmatic drift“ (in Buchanan, J. (1977), S. 287 und 296 f.).

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scheidung darüber treffen, welche der konfligierenden Interessen der Verfahrensbeteiligten bis zu welchem Maß hinter die Interessen des bzw. der anderen zurücktreten müssen. Er fasst dann seine Entscheidung und legt diese schriftlich nieder. Der für unsere Untersuchung interessante Teil der richterlichen Arbeit, und mehr oder weniger diese selbst, enden hiermit. Noch einmal kurz zusammengefasst läuft der Entscheidungsfindungsprozess des Richters nach Larenz folgendermaßen ab: Ihm wird von beiden Parteien deren jeweilige Sicht eines Lebenssachverhaltes vorgetragen. Diese bilden den sog. Rohsachverhalt. Mittels dieses Rohsachverhaltes bildet der Richter nun den rechtlich relevanten Tatbestand des Falles, indem er die in Frage kommenden Normen quasi daraufhin ,durchprobiert‘, welcher auf den vorgetragenen Sachverhalt passt. Dabei kommt es zu dem sog. Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Norm und Sachverhalt. Um eine endgültige Deckung von Norm und Sachverhalt zu erreichen, muss der Richter häufig wertende Entscheidungen treffen. Sie besagen, dass das Interesse der einen Partei hinter dem der anderen Partei zurückzutreten hat. Diese Entscheidungen trifft er insbesondere mit Hilfe von Wertungsmaßstäben, die in der Verfassung und den von ihr gebilligten (akzeptierten) Rechtsgrundsätzen vorgegeben sind. Bei diesem Entscheidungsfindungsprozess haben wir drei drifts festgestellt. Die erste (proceeding drift) tritt bereits bei der Bildung des Rohsachverhaltes auf, da die Einschätzung des Lebenssachverhaltes durch Dritte und deren Interessen nicht berücksichtigt werden. Die zweite – nämlich die social drift – tritt bei der Ermittlung und Gewichtung der Interessen der einzelnen Prozessparteien auf. Da nur der Einzelfall betrachtet wird, haben die Interessen des einzelnen Arbeitnehmers tendenziell ein höheres, da existenzielleres, Gewicht als die des vermeintlich stärkeren Arbeitgebers. Die letzte drift (constitutional) folgt dann aus der Heranziehung der Wertungsmaßstäbe, die in der Verfassung niedergelegt sind. Da nur das Rechtsund das Sozialstaatsprinzip, nicht aber die Marktmäßigkeit in der Verfassung festgeschrieben sind und zudem das Sozialstaatsprinzip offen ist, wird dieses überbetont und das Prinzip der Marktmäßigkeit vernachlässigt. Etwas anders stellt Esser den Entscheidungsprozess des Richters dar. Danach geht der Richter nach der Erfassung und ggf. Aufklärung des Rohsachverhaltes in einem zweistufigen Verfahren vor. Im ersten Schritt bildet er sich von der Entscheidung des Einzelfalles eine „Richtigkeitsüberzeugung“ anhand der vorherigen „Zurichtung der Prämissen“ und aufgrund seines „Vorverständnisses“. Erst in einem zweiten Schritt unterwirft er die so gefundene Lösung des Falles einer Stimmigkeitskontrolle, die dazu dient, die Entscheidung auf Verträglichkeit mit dem Rechtssystem zu überprüfen bzw. auch das Ergebnis anhand dieses Systems zu begründen.121

121 Vgl. z. B. die kurze prägnante Darstellung bei Fikentscher, W. (1976), S. 753 ff. oder direkt bei Esser, J. (1972) insbesondere S. 133 ff. und 139 ff.

20*

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

In der Erfassung des Rohsachverhaltes gibt es zwischen beiden Auffassungen keine Unterschiede. Die proceeding drift tritt somit auch nach einem derartigen Vorgehen des Richters auf. Danach jedoch unterscheiden sich die von Esser bzw. von Larenz geschilderten Entscheidungsprozesse. Nach Esser geht der Richter vom Fallergebnis aus, während nach Larenz der Ausgangspunkt die Norm ist. Für unsere Analyse kommt es dabei nicht darauf an zu beurteilen, welches Vorgehen die Richter tatsächlich einschlagen – die Wirklichkeit wird vermutlich irgendwo zwischen beiden Positionen liegen122 – und noch viel weniger welches das richtigere Verfahren ist. Entscheidend ist allein, ob auch bei der Esser’schen Variante die social und die constitutional drift auftreten. Im Esser’schen Prozess wird die Bildung der „Richtigkeitsüberzeugung“ durch das Vorverständnis oder anders ausgedrückt, durch das Rechtsgefühl des Richters bestimmt. Das Rechtsgefühl des Richters ist aber ein anderes als das eines Laien. Es ist durch die Ausbildung und die tägliche Arbeit mit dem Gesetz und dessen Interessenbetrachtung bzw. Wertekatalog, dessen hervorstechendster Teil die Verfassung ist, geprägt.123 In dieser Vorprägung sind aber genauso wie in der Larenz’schen normorientierten Wertung die Einzelfallorientierung und die ,Offenheit des Sozialstaatsprinzips‘ Tendenzen erzeugende Faktoren. Die durch die Ausbildung erzeugte Orientierung des Richters an der Einzelfallgerechtigkeit und die dadurch bewirkte Höhergewichtung der existenzielleren Interessen des sozial schwächeren Arbeitnehmers wird auch hier den Richter tendenziell zu Entscheidungen bewegen, die den einzelnen Arbeitnehmer bevorzugen (social drift). Die Offenheit des Sozialstaatsprinzips und in gewissem Maße das Fehlen einer ausdrücklichen Festschreibung der Marktmäßigkeit wirken bei der Bildung des Vorverständnisses des Richters mit, wie sie auch die Werte im Larenz’schen Prozess mitbestimmt haben, so dass auch hier die constitutional drift wirkt. Diese beiden drifts kommen dann auch teilweise noch mal bei der Stimmigkeitskontrolle der durch das Judiz gewonnenen Lösung zur Geltung. Im Ergebnis kann also festgehalten werden, dass die drei drifts unabhängig von der Vorstellung vom richterlichen Entscheidungsprozess auftreten.

2. Analyse der einzelnen drifts Im folgenden werden die einzelnen drifts näher analysiert. Ziel ist es dabei näher zu untersuchen, wo die einzelnen drifts auftreten [aa)], d. h. in welchen Instanzen sie zu beobachten sind und welche Wirkungen [bb)] sie haben. Daneben sollen die drifts auch noch durch einige Beispiele [cc)] aus der Rechtsprechung oder aus Äußerungen von Arbeitsrechtlern – insbesondere Richtern – verdeutlicht werden.

122 123

Vgl. z. B. Wank, R. (1978), S. 50 f. Vgl. zur Prägung des Rechtsgefühls insbesondere Esser, J. (1972), S. 10 und 136 ff.

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a) Proceeding drift Im vorhergehenden Abschnitt wurde festgestellt, dass die proceeding drift bei der Ermittlung des tatsächlichen Geschehens und der betroffenen Interessen – also der Entscheidungsgrundlage – aus dem Rohsachverhalt auftritt. Grund für die drift war dabei, dass bei der Ermittlung des Geschehens und der Interessen vom Prozessrecht her Grenzen gesetzt sind. Insbesondere der sogenannte Verhandlungsgrundsatz wurde dabei als begrenzender Faktor erkannt. Die Folge dieser Begrenzung ist, dass der Richter von einer eingeschränkten Sicht der Wirklichkeit ausgehen muss, wobei die Sicht und die Interessen Drittbetroffener nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt werden können. Infolgedessen ist die richterliche Rechtsfortbildung ganz überwiegend an den Interessen der Beteiligten nicht aber Drittbetroffener orientiert. Als typische Gruppe der Drittbetroffenen wurde die der Arbeitsplatzsuchenden ausgemacht.

aa) Auftreten Die proceeding drift tritt in allen Instanzen auf. Die eigentlichen Tatsacheninstanzen, d. h. das erstinstanzlich zuständige Arbeitsgericht (§ 2 ArbGG) sowie das in zweiter Instanz als Berufungs- bzw. Beschwerdeinstanz tätige Landesarbeitsgericht (§ 33 ArbGG) ermitteln selbständig, wie oben beschrieben, das tatsächliche Geschehen. Dabei wirkt die proceeding drift gleichermaßen auf die Richter beider Instanzen ein. Die dritte Instanz, die das Bundesarbeitsgericht darstellt, ist nur noch als Revisions- bzw. Rechtsbeschwerdeinstanz tätig. In diesem Rahmen nimmt es selber keine eigene Sachverhaltsermittlung mehr vor. Allerdings wirkt auch hier die proceeding drift weiter, da der vom den Instanzgerichten ermittelte Sachverhalt Ausgangspunkt der rechtlichen Würdigung des BAG ist. Es ist festzuhalten, dass die proceeding-drift in allen Instanzen auftritt, da die unvollständige Ermittlung der Entscheidungsgrundlage bis in die Revisionsinstanz durchschlägt. bb) Wirkungen Bezüglich der Wirkungen der proceeding drift haben wir bereits festgestellt, dass sie sich in der Vernachlässigung der Interessen Drittbetroffener bemerkbar macht. Als typisch Drittbetroffene wurde die Gruppe der Arbeitsuchenden ausgemacht. Ihre Interessen werden im Bereich des Bestandsschutzes in der Regel dem der Beschäftigten diametral entgegengesetzt sein, da jeder Arbeitsplatz der aufgrund des Bestandsschutzes nicht oder nur erschwert freigemacht werden kann, für einen Arbeitsuchenden nicht oder nur erschwert zur Verfügung steht – je stärker folglich der Kündigungsschutz, um so geringere Chancen hat ein Arbeitsuchender, eine Stelle zu finden.124

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

Aber nicht nur die Interessen der Arbeitsuchenden werden vernachlässigt. Rüthers und Franz machen richtigerweise darauf aufmerksam, dass in Kündigungsschutzprozessen auch die Interessen der Kolleginnen und Kollegen des Gekündigten betroffen sind. Sie schreiben125: „Unmittelbar betroffen ist in diesen Fällen zugleich die Belegschaft, und zwar zunächst und besonders diejenigen Teile, welche die personen- und verhaltensbedingten Störungen des Betriebsablaufs durch leistungsschwache, -unfähige oder -unwillige Arbeitnehmer auffangen und ausgleichen müssen. Das bedeutet meist erhebliche Mehrleistungen der Kolleginnen und Kollegen.“ Hinzu kommt noch das erhöhte Risiko des Arbeitsplatzverlustes, der sich aus der Erfolgsminderung des Unternehmens ergibt. In beiden geschilderten Fällen werden die Interessen von Drittbetroffenen zugunsten der Interessen der ,geschützten‘ Arbeitnehmer vernachlässigt, wobei der Vernachlässigung der Interessen der Arbeitsuchenden, insbesondere der Arbeitslosen aus sozialen Gründen, sicherlich die höhere Bedeutung zukommt. Da ihr Interesse, dem der vom Bestandsschutz geschützten Arbeitnehmer diametral entgegengesetzt ist, lässt sich festhalten, dass sich die Vernachlässigung der Interessen der Erwerbssuchenden tendenziell positiv auf die Rechtsstellung eines Arbeitsplatzinhabers auswirkt. cc) Beispiele Beispiele für richterrechtliche Regeln, die von der proceeding drift möglicherweise miterzeugt wurden, sind leicht zu finden. Im Prinzip stellt jede richterrechtliche Verstärkung des Bestandsschutzes eine Benachteiligung Arbeitsuchender dar und ist daher potentiell durch die Vernachlässigung ihrer Interessen mit verursacht. Ausdrückliche Hinweise auf die Interessen von Drittbetroffenen bzw. ihre Nichtberücksichtigung sind hingegen in Urteilen, kaum zu finden. Dies spricht aber eher für als gegen das tatsächliche Wirken dieser drift. Wenn diese drift darauf beruht, dass die Interessen Drittbetroffener im Rahmen der Gerichtsverhandlungen bzw. der Urteilsfindung nicht berücksichtigt werden, so ist es nur folgerichtig, dass diese Interessen auch in den Urteilsbegründungen keinen Niederschlag finden. Ausnahmen sind sehr selten. Das Bundesarbeitsgericht hat 1987126 in seiner Entscheidung zum Lehrer-Fall127 ausgeführt: „Die Wahrung von Drittinteressen, d. h. des Beschäftigungsbedürfnisses der für die Einstellung in Betracht kommen124 Hinzu kommt noch, dass durch den verstärkten Schutz des einzelnen geschützten Beschäftigten in der Summe eine verringerte Bereitschaft der Arbeitgeber resultiert, neue Arbeitsplätze und damit Beschäftigungsmöglichkeiten für Nichtbeschäftigte zu schaffen. 125 Franz, W. / Rüthers, B. (1999), S. 35. 126 BAGE v. 13. 3. 1987 = SAE 1988, 71, 74. 127 Es ging darum, dass das BAG die Kündigung von Lehrern, die neben einer Beamtenvollstelle einer Teilzeitlehrtätigkeit nachgingen, als sozial ungerechtfertigt ansah, obwohl das Land als Arbeitgeber die Kündigung ausgesprochen hatte, um arbeitslose Lehrer einstellen zu können.

B. Gründe für Tendenz der Rechtsprechung Arbeitnehmerrechte zu verstärken

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den Arbeitslosen, sind keine kündigungsschutzrechtlich relevanten Umstände, denn sie führen nicht zu einem Fortfall des Weiterbeschäftigungsbedürfnisses der seitherigen Arbeitnehmer.“ Ausnahmsweise berücksichtigt wurden hingegen die Interessen von Drittbetroffenen in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts128 für den Sonderfall von Rundfunkmitarbeitern, wo es heißt: „Der arbeitsrechtliche Bestandsschutz, der das Grundrecht der Rundfunkfreiheit nach Art. 5 Abs. 2 GG beschränkt, dient zwar der Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips als eines Verfassungsprinzips; er sichert diejenigen Mitarbeiter, die diesen Bestandsschutz genießen, in ihrer beruflichen Position und damit in ihrer verfassungsrechtlich gewährleisteten Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Es ist aber auch zu berücksichtigen, dass der arbeitsrechtliche Bestandsschutz nur festangestellten Mitarbeitern zugute kommt; da den Anstalten in dem Maße, in dem sie Mitarbeiter in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis zu beschäftigen haben, die Möglichkeit eines Wechsels weitgehend genommen ist, entfaltet er eine Sperrwirkung und verschlechtert damit die Chancen derjenigen, welche sich die Mitarbeit im Rundfunk zur Aufgabe machen wollen, insbesondere der Nachwuchskräfte, die im anderen Falle. . . Arbeit und Verdienst finden würden. Diese Auswirkung kann schwerlich im Sinne des Sozialstaatsprinzips liegen, das die Verwirklichung einer sozial gerechten Ordnung für alle gebietet, also gerade auch zur Sorge für diejenigen verpflichtet, die keinen Arbeitsplatz haben und einen solchen suchen. Zugleich wird es den zu diesem Kreis Gehörenden wesentlich erschwert, von ihrem Grundrecht auf freie Berufswahl Gebrauch zu machen.“ Eine über dieses Urteil bzw. über den Bereich des Rundfunks hinausgehende Bedeutung hat dieses Urteil und die darin enthaltene Berücksichtigung der Interessen Drittbetroffener nicht gehabt. Zwar ist der Gedanke der Benachteiligung Arbeitsuchender problemlos verallgemeinerungsfähig, aber er wurde bereits durch das BVerfG merklich auf den Bereich des Art 5 Abs. 1 GG reduziert. In die Rechtsprechung der Arbeitsgerichtsbarkeit wurde dieser Gedanke nicht übernommen. Dieses hatte schon in einer Entscheidung 1970129 ausgeführt: „Wenn ein ArbVerh. befristet abgeschlossen wird, muss sich der Grund dafür aus den konkreten und gegenständl. Umständen des betreffenden ArbVerh. selbst ergeben. Es kommt nur auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Parteien zur Zeit des Vertragsabschlusses an, die daraufhin zu beurteilen sind, ob sie einen verständig denkenden ArbGeb. zu einer Befristung veranlassen konnten. Es ist dagegen kein sachlich gerechtfertigter Grund, wenn ein ArbVerh. im Interesse Dritter, die keine konkreten Beziehungen zu dem Arbeitsplatz haben, befristet wird. In einem solchen Fall fehlt ein Zusammenhang mit den wirtschaftl. oder sozialen Verhältnissen der Parteien.“ 128 129

BVerfGE v. 13. 1. 1982 = BVerfGE 59, 231, 266. BAGE v. 3. 7. 1970 = AP Nr. 33 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag.

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

Diese Rechtsprechung wurde mehrfach vom BAG bestätigt; zuletzt z. B. durch ein Urteil vom 11. 6. 1997130, in dem es hieß: „Mit dem Wunsch auf dauerhafte Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses . . . verfolgt der Arbeitnehmer legitime wirtschaftliche und ideelle Anliegen. Das Arbeitsverhältnis sichert seine wirtschaftliche Existenzgrundlage und bietet ihm die Möglichkeit beruflicher Selbstverwirklichung. . . Demgegenüber steht das Bedürfnis des Arbeitgebers nach einer sachgerechten und berechenbaren Personal- und Nachwuchsplanung. Dabei handelt es sich nicht um ein sogenanntes Drittinteresse, das bei der Prüfung des Sachgrundes unberücksichtigt bleiben muss ( . . . ).“ Die Erwähnung der Interessen Arbeitsloser in den letzten Zitaten, meist in Form des Verwerfens, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Interessen ansonsten überhaupt nicht erwähnt werden. Im Sinne einer ordnungsökonomisch rationalen richterlichen Regelsetzung müsste eigentlich bei jeder rechtsfortbildenden Entscheidung im Bestandsschutz das Interesse der Arbeitsuchenden gegenüber dem der Arbeitsplatzinhaber abgewogen werden. Dies geschieht aber in den seltensten Fällen. Die Tendenz der Nichtberücksichtigung der Interessen Drittbetroffener (proceeding drift) ist aber nicht nur in der Rechtsprechung, sondern auch in der Rechtsliteratur, die durch die gleiche Juristenausbildung der Autoren geprägt ist, erkennbar. So werden auch in der Literatur die Interessen der Arbeitslosen fast vollständig vernachlässigt. Eine kleine Ausnahme bildet die Darstellung und Begründung des Weiterbeschäftigungsanspruches eines gekündigten Arbeitnehmers auf einem anderen Arbeitsplatz. Vielleicht sind hier die Interessen der Arbeitsuchenden einfach zu offensichtlich, um vollständig vernachlässigt zu werden. Dort erwähnen zumindest einige Autoren wie z. B. Löwisch131, Hueck / v. Hoyningen-Huene132 oder auch Preis133 auch die Interessen von außenstehenden Bewerbern für die Besetzung der offenen Stelle. Bei Löwisch heißt es zum Beispiel: „Dass der AG einen anderen Bewerber für den freien Arbeitsplatz vorgesehen hat, macht dessen Besetzung mit dem gekündigten AN hingegen nicht unzumutbar. Die Vermeidung der Kd hat Vorrang vor dem Interesse des AG an einer anderen Besetzung des Arbeitsplatzes und auch vor dem Interesse eines anderen Bewerbers, diesen Arbeitsplatz einzunehmen.“ Einen Grund (aus ordnungsökonomischer Sicht) dafür, dass das Interesse des Arbeitnehmers immer überwiegt, nennt keiner der Autoren.134 BAGE 86, 105, 112. Löwisch, M. (1997), § 1 RN 253. 132 Hueck, A. / v. Hoyningen-Huene, G. (1997), § 1 RN 397. 133 Preis, U. (1988), S. 1392. 134 Aus der Stellung der Ausführungen bei Löwisch läßt sich aber wohl schließen, dass dies eine Folge des Ultima-ratio Grundsatzes sein soll. Dieser stellt aber eigentlich nur einen Rechtsgrundsatz zur Abwägung der Interessen des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers, aber nicht des Drittbetroffenen dar. Eine Nichtbeachtung ihrer Interessen erscheint mir bereits 130 131

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b) Social drift Bei der Untersuchung des Entscheidungsprozesses von Richtern haben wir festgestellt, dass der Richter häufig Entscheidungen treffen muss, bei denen von ihm ein eigenes Werturteil verlangt wird. In einem solchen Fall entscheidet er im Grunde, welchem von zwei Interessen er den Vorzug gibt und welches zurückzutreten hat. Bei einer solchen konkreten Entscheidung beeinflusst den Richter neben rein individuellen Aspekten insbesondere das Rollenverständnis der Richterschaft insgesamt. Dieses Rollenverständnis ist auf die ,gerechte‘ Einzelfallentscheidung ausgerichtet, was zum Großteil eine Folge der juristischen Ausbildung ist. Orientiert sich der Richter aber an der Einzelfallgerechtigkeit, so wird es ihn häufig beeinflussen, dass der einzelne Arbeitnehmer an einem konkreten Arbeitsverhältnis meist ein existenzielleres Interesse als der Arbeitgeber hat. Er wird daher den Interessen des Arbeitnehmers ein tendenziell größeres Gewicht beimessen. Trägt nun eine an der Einzelfallgerechtigkeit orientierte Entscheidung zur Bildung einer abstrakt-generellen Regel bei, so führt dies tendenziell zu einer Stärkung der Arbeitnehmerrechte. Diese Tendenz wurde als social drift bezeichnet und sie wird, wie gezeigt, von der Dominanz der Einzelfallbetrachtung bei der richterlichen Regelbildung verursacht. aa) Auftreten Die social drift kann grundsätzlich in allen Instanzen wirken. Der Grund dafür ist, dass alle Richter die gleiche Ausbildung durchlaufen haben und dort alle auf die gerechte Einzelfallentscheidung hin ausgebildet wurden. Eine Analyse oder auch nur eine Bewertung der möglichen Folgen einer rechtsfortbildenden Entscheidung kommt in der Ausbildung praktisch nicht vor. Allerdings muss man wohl davon ausgehen, dass die Einzelfallorientierung in den verschiedenen Instanzen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Einem Richter am Arbeitsgericht ist wohl vorrangig oder ausschließlich an der gerechten Einzelfallentscheidung gelegen; meist dürfte er gar nicht wahrnehmen, dass auch seine Entscheidung unter Umständen einen kleinen Beitrag zur Rechtsfortbildung leistet. Einem Richter am BAG hingegen ist es sicherlich bewusst, dass er auch an der Rechtsfortbildung mitwirkt. Er wird daher vermutlich auch eher bereit sein, Erwägungen anzustellen, die über die gerechte Entscheidung des Einzelfalles hinausgehen. Trotzdem wird es ihn aber nach wie vor beeinflussen, dass er sowohl in der Ausbildung als auch in seiner vorhergehenden Tätigkeit am Arbeits- oder Landesarbeitsgericht immer nur einen Fall mit Blick auf die Einzelfallgerechtigkeit entschieden hat. Festzuhalten bleibt, dass die social drift verstärkt bei unterinstanzlichen Gerichten auftritt, aber Einfluss bis zum BAG hat. wegen Art. 12 I GG bedenklich, da auch die Arbeitsuchenden sich auf die Berufsfreiheit berufen können.

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bb) Wirkungen Auch die Wirkung der social drift haben wir bereits angesprochen. Der Richter wird aufgrund der Einzelfallbetrachtung dem Interesse des Einzelnen konkret betroffenen Arbeitnehmers tendenziell ein höheres Gewicht beimessen, als dem des einzelnen betroffenen Arbeitgebers. Der Grund dafür ist, dass der Arbeitnehmer ein existenzielleres Interesse an dem Erhalt des Arbeitsverhältnisses hat, als der Arbeitgeber an dessen Auflösung. Stellt man sich die von der Rechtsprechung durchgehend geforderte Interessenabwägung als eine Art „Balkenwaage“135 vor, die die unterschiedlichen Gewichte der vorgebrachten Interessen misst, so ist es unausweichlich, dass diejenigen Interessen, die existentieller sind, tendenziell für den Ausgang der Abwägung den Ausschlag geben werden. Im Bestandsschutz führt dies dazu, dass der Schutz des betroffenen Arbeitsplatzinhabers immer weiter ausgebaut wird. Im Ergebnis wirkt sich also die social drift zugunsten des Schwächeren im konkreten Arbeitsverhältnis aus und stärkt daher die Position des Arbeitnehmers. Neben dieser Bevorteilung des einzelnen Arbeitnehmers hat die Orientierung an der Einzelfallgerechtigkeit aber noch eine weitere Folge. Je mehr Einzelfallgerechtigkeit man verwirklichen will, desto weniger kann man klare Leitlinien ziehen, an denen sich die Rechtsunterworfenen orientieren können. Dies führt zu einer geringeren Rechtssicherheit und -klarheit und beeinträchtigt die Steuerungswirkung der Rechtsregeln.136 Insbesondere die immer wieder verwendete Floskel von der „umfassenden Interessenabwägung im Einzelfall, wobei alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind“, die im Bereich der personen- und verhaltensbedingten Kündigung der ständigen Rechtsprechung entspricht,137 wird mit den Besonderheiten jedes Einzelfalles und dementsprechend mit der Einzelfallgerechtigkeit begründet. Die Folge dieser umfassenden Interessenabwägung unter Berücksichtigung fast unbegrenzter Einflussfaktoren, führt zu einer mangelnden Voraussehbarkeit einer entsprechenden Gerichtsentscheidung. Zusammen mit dieser Vorhersehbarkeit entfällt auch die Klarheit und damit wiederum die Steuerungswirkung des Rechts [siehe Kapitel 3 Abschnitt B. II. 3. und C. II.].

cc) Beispiele Die Tatsache, dass die Rechtsprechung im Arbeitsrecht grundsätzlich zu einer Verstärkung der Rechte der sozial schwächeren Arbeitnehmer geführt hat, ist wohl unbestritten. Klar drückt dies beispielsweise der frühere BAG-Präsident Müller aus138: 135 136 137 138

Dieser Ausdruck stammt von Berkowsky, W. (1993), § 130, RN 53. Vgl. dazu z. B. Geiß, K. (1996), S. 11 f. Vgl. für alle Etzel, G. (1998), § 1 KSchG RN 233 mit vielen Hinweisen auf Urteile. Müller, G. (1980) S. 634 f.

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„Die ,Anhebung sozial Schwacher‘ vollzieht sich bis zur Grenze der Zumutbarkeit via Fürsorgepflicht auf Kosten des ,sozial Stärkeren‘.“ Dass an dieser Anhebung der Rechte des einzelnen Arbeitnehmers, die sog. social drift mitwirkt, ergibt sich zwangsläufig aus der Methode, die die Richter bei der Entscheidung eines Rechtsfalles anwenden. Aber nicht nur die Richter, sondern im Prinzip alle durch die juristische Ausbildung und ihre Einzelfallorientierung geprägten Arbeitsrechtler werden von der social drift beeinflusst. Hromadka139 drückt dies folgendermaßen aus: „. . . weil wir Arbeitsrechtler es gewohnt sind, Arbeitsrecht aus der Sicht des konkreten Arbeitsverhältnisses zu sehen und in diesem Arbeitsverhältnis den Arbeitnehmer als den Schwächeren. Im Kampf des David gegen den Goliath Arbeitgeber neigt sich die Gefühlswaage verständlicherweise eher auf die Seite des Arbeitnehmers. Mitleid schlägt um in die Forderung nach oder in die Behauptung von arbeitsrechtlichem Schutz.“ Ähnlich sieht es wohl auch Zöllner140, wenn er zur „. . . Charakterisierung institutioneller Schwächen richterlicher Normsetzung“ angibt, „. . . dass der Richter infolge seiner genuinen Aufgabe, einen einzelnen Prozess zu entscheiden, eher dem Eindruck der konkreten Fakten nachgibt, als der Weisheit einer den Einzelfall übergreifenden Betrachtung.“ und dabei beklagt, dass der „eigentlich zentrale Aspekt“ der Gerechtigkeit auf den der „sozialen Gerechtigkeit verkürzt wird“.141 Diese social drift ist es wohl auch, welche die Rechtsprechung immer wieder dazu bringt, auch eigentlich mit dem Arbeitsverhältnis gar nicht verknüpfte Belange in die Abwägung über die Sozialwidrigkeit einzubeziehen und ihnen häufig sogar den ausschlaggebenden Einfluss beizumessen [viele Beispiele dazu in Kapitel 2 beispielsweise in Abschnitt B. II. 4. d) und Kapitel 3 in Abschnitt C. II.]. Wie stark sich aber das Bewusstsein und die Berücksichtigung der existenzielleren Interessen des einzelnen Arbeitnehmers bis in die höchsten Instanzen niederschlägt, lässt sich an dem im Jahre 1998 ergangenen Verfassungsgerichtsurteil zur Kleinbetriebsklausel142 ersehen. Dort heißt es: „Bei einer Regelung des Kündigungsschutzes sind auf Seiten des Arbeitnehmers gewichtige Belange in die Waagschale zu werfen. Berufliche Tätigkeit, für die Art. 12 I GG den erforderlichen Freiraum gewährleistet, kann er ausschließlich durch den Abschluss und den Fortbestand von Arbeitsverträgen realisieren ( . . . ). Der Arbeitsplatz ist die wirtschaftliche Existenzgrundlage für ihn und seine Familie. Lebenszuschnitt und Wohnumfeld werden davon bestimmt, ebenso gesellschaftliche Stellung und Selbstwertgefühl. Mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird dieses ökonomische und soziale Beziehungsgeflecht in Frage gestellt.“ 139 140 141 142

Hromadka, W. (1998), S. 9. Zöllner, W. (1990), S. 4. Zöllner, W. (1990), S. 5. BVerfGE NJW 1998, 1475, 1476.

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

In dieser Entscheidung verhalf das BVerfG endgültig dem Gedanken, dass Art. 12 GG nicht nur die freie Wahl des Arbeitsplatzes schütze, sondern auch den Anspruch den einmal gewählten Arbeitsplatz, nicht ohne rechtfertigenden Grund zu verlieren, zum Durchbruch.143 Zwar ist in dieser Entscheidung die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Kleinbetriebsklausel bestätigt worden, aber aus der Begründung ergeben sich einige Hinweise bzw. Fragestellungen, die auf eine weitere Ausdehnung des Bestandsschutzes in Bezug auf den Anwendungsbereich des KSchG, den Schutz während der 6-monatigen Wartezeit, etc. hindeuten.144 Der Einfluss der existenzielleren Abhängigkeit des Arbeitnehmers von seinem Arbeitsplatz und damit die Grundlage der social drift zeigt sich auch in der Diskussion um die allgemeine Legitimation arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften sowie um die Notwendigkeit einer verschärften Vertragskontrolle.145 Dort wird argumentiert, dass der Arbeitsvertrag nicht der freien Vereinbarkeit der Vertragsparteien überlassen werden könne, da das Angewiesensein des Arbeitnehmers auf seinen Arbeitsplatz ihn hindere, wegen Nebenbedingungen einen angebotenen Arbeitsplatz auszuschlagen oder einen vorhandenen aufzugeben.146 Die nach dieser Meinung daraus zu folgernde Ungleichgewichtslage hat sich auch in vielen Gerichtsurteilen niedergeschlagen.147 Allerdings ist nur ein kleiner Teil der entsprechenden Urteile auf dem Gebiet des Bestandsschutzes ergangen. Der Grund dafür, dass die social drift in den Urteilen zum Bestandsschutz seltener erkennbar ist, dürfte sein, dass der einzelne Richter hier ausreichend Möglichkeiten hat, innerhalb von anerkannten Prinzipien (Verhältnismäßigkeitsprinzip, Ultima-ratio Prinzip, umfassende Interessenabwägung) dem existenzielleren Interesse des Arbeitnehmers Rechnung zu tragen. Er muss daher nicht mehr allgemein die Unterlegenheit bzw. das existentiellere Interesse des Arbeitnehmers darlegen. Deshalb ist die social drift mehr aus den Ergebnissen der Rechtsprechung als aus der Begründung der Urteile zu ersehen, da meist nur die zu berücksichtigenden Faktoren, fast nie aber deren Gewichtung durch das Gericht dargestellt werden.

c) Constitutional drift Die Existenz einer constitutional drift haben wir festgestellt, als wir untersuchten, welche Werte der Richter seinen Entscheidungen zugrunde legt, wenn er zwiVgl. dazu ausführlich Hanau, P. (1999), S. 201 ff. Auch hierzu ausführlich Hanau, P. (1999), S. 210 ff. 145 Einen Überblick über die dementsprechenden Argumentationslinien bietet Preis, U. (1993), S. 286. 146 Fastrich, L. (1992), S. 187 oder auch Wolf, M. (1988), S. 272. 147 BAG AP Nr. 80 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag oder Nr. 35 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag; BAG Nr. 54, 57 und 63 zu § 611 BGB Gratifikation; BAG AP Nr. 1 zu § 242 ruhegeld-unterstützungskassen; BAG AP Nr. 6 zu § 65 HGB; BAG AP Nr. 1 und 2 zu 305 BGB Billigkeitskontrolle. 143 144

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schen Interessen abzuwägen hat. Dabei wurde festgestellt, dass den Werten der Rechtsordnung insbesondere denen, die in der Verfassung niedergelegt sind, eine besondere Bedeutung zukommt. Der Richter zieht diese häufig heran, da er zu einer ,Versachlichung‘ seiner Wertungen ausgebildet wurde und zur Begründung dieser Wertungen verpflichtet ist. Zwei der grundlegenden Prinzipien unserer Wirtschaftsordnung, das Sozial- und Rechtsstaatsprinzip, sind in der Verfassung niedergelegt (Art. 20 und 28 GG). Dabei führt die Offenheit des Sozialstaatsbegriffs zu einer Überbetonung der sozialen Komponente unserer Wirtschaftsordnung. Diese Überbetonung wird wohl noch dadurch verstärkt, dass das Ziel des Richters, wie bereits im Rahmen der social drift festgestellt, insbesondere die gerechte Entscheidung des Einzelfalls ist. Dies führt dazu, dass das Sozialstaatsprinzip im Hinblick auf die Entscheidung des Einzelfalls nicht im Hinblick auf die Wirkung einer aus der Entscheidung herleitbaren Regel angewandt wird. Das Rechtsstaatsprinzip hat wegen seiner klaren Abgrenzung ein geringeres Gewicht. Zudem ist das Prinzip der Marktmäßigkeit und damit das wesentliche Ordnungsprinzip unseres Wirtschaftssystems nicht in der Verfassung festgeschrieben. Es wird daher im Rahmen der Rechtsfortbildung durch die Gerichte nicht ausreichend berücksichtigt. Die verfassungsrechtliche Festschreibung des Prinzips der Marktmäßigkeit wird dabei auch nicht ersetzt durch die bereits erwähnten Individualfreiheiten der Art. 2, 9, 12 und 14 GG. Das Markt- und Wettbewerbssystem ist ein lebendiger Prozess der mehr ist als die Summe der geschützten Einzelrechte. Um ein Gegengewicht gegen das Prinzip der Sozialstaatlichkeit zu bilden, müsste die Marktmäßigkeit als Prozess bzw. als System im Grundgesetz enthalten sein.148 Im Falle eines solchen spezifischen Systemschutzes müsste bei der Auslegung von Gesetzen mit starkem Bezug zum Marktgeschehen im Zweifel die marktkonformere Auslegung gewählt werden. Diese Auslegungsregel wäre dann das ein gewisses Korrektiv zu der Auslegungsregel, die das BAG aus dem Sozialstaatsgebot – im Zweifel zu Gunsten des Arbeitnehmers – geschlossen hat. Die constitutional drift ist also die Folge der Offenheit und einseitigen einzelfallbezogenen Interpretation des Sozialstaatsgebotes und des Fehlens des Prinzips der Marktmäßigkeit (als Korrektiv) im Grundgesetz.

aa) Auftreten Die constitutional drift tritt verstärkt in den höheren Instanzen auf, ist aber ebenfalls bei unterinstanzlichen Gerichten möglich. Der Grund dafür ist, dass sich die höheren Gerichte eher mit der Abwägung der Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen beschäftigen und daher auch eher auf die gesamtgesellschaftliche Werteordnung des Grundgesetzes zugreifen als die unteren Instanzen, 148 Sehr eingängig beschreibt Rupp (1997) § 203 RN 3die Wirkung eines ,Systemschutzes‘ durch das Grundgesetz und fordert einen solchen auch für das Markt- und Wettbewerbssystem.

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

die noch stärker auf den einzelnen Fall und dessen konkrete Fakten und Interessen abstellen. Trotzdem wirkt auch dort die constitutional drift, da auch die Arbeitsgerichte für die Auslegung des einfachen Rechts die Wertungen der Verfassung heranziehen dürfen und u. U. auch müssen.

bb) Wirkungen Die Wirkung der constitutional drift ist eng verknüpft mit der grundsätzlichen Bedeutung der Werteordnung des Grundgesetzes und dessen Einfluss auf das Arbeitsrecht. Die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts dazu wird sehr deutlich in einer Entscheidung, die ganz entscheidend für die Entwicklung des Weiterbeschäftigungsanspruchs während des Kündigungsschutzprozesses war. Dort rechtfertigt das BAG die Fortentwicklung der §§ 611 ff. BGB durch eine ergänzende Fortentwicklung des Gesetzesrechts durch die Rechtsprechung. Es heißt im Urteil:149 „Eine solche Rechtsfortbildung verstößt nicht gegen den in Artikel 20 Abs. 3 GG normierten Verfassungsgrundsatz der Bindung des Richters an Gesetz und Recht. Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu verwirklichen.“ Es ist danach also Aufgabe des Richters, die Wertvorstellungen der verfassungsgemäßen Rechtsordnung – insbesondere natürlich die in der Verfassung selbst niedergelegten Werte – selbst gegen den Wortlaut des Gesetzes durch ,bewertendes Erkennen‘ durchzusetzen. Bei den danach erforderlichen Gesetzesauslegungen und -fortbildungen wird aber insbesondere das Sozialstaatsprinzip interpretationsleitend sein. Zur Bedeutung des Sozialstaatsprinzips führt das BAG an: „Daraus ergibt sich für die auf den Sinn des Gesetzes abstellende Auslegung, dass dann, wenn sich Zweifel in der Anwendung des Gesetzes aus dem Wortlaut nicht beheben lassen, eher die zugunsten des Arbeitnehmers als die gegenteilige zu verwirklichen ist.“ Deutlicher kann man die Bedeutung des Sozialstaatsprinzips für das Bestandsschutzsystem kaum ausdrücken150: Der hier dargestellten und behaupteten Bedeutung der Werte des Grundgesetzes für die Werte, die einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden, kann 149 150

BAGE 21. 12. 1983 = BAGE 48, 122, (137). BAGE, SAE 1964, 47 (49).

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entgegengehalten werden, dass die Werte des Grundgesetzes viel zu unpräzise und wenig konkret sind, um einen tatsächlichen Einfluss auf die Tendenzen der Rechtsprechung zu haben. Selbst wenn sie aber Einfluss haben sollten, so läge dies nur daran, dass sie von der Rechtsprechung und Rechtslehre ausgestaltet und weiterentwickelt wurden. So wären die Werte des Grundgesetzes wiederum nur durch die Rechtsprechung bzw. die Juristen erstellt worden, so dass ihnen kein eigener Einfluss bzw. Tendenz entspringe, da sie den gleichen Einflüssen wie die Einzelrechtsprechung unterliege. Oder, anders ausgedrückt, es könne keine Tendenz der Rechtsprechung damit erklärt werden, dass sie in Verfassungsprinzipien ihre Werte und Anschauungen hinein interpretiere, um sie dann in den einzelnen Rechtsgebieten – hier zum Beispiel im arbeitsrechtlichen Bestandsschutz – wieder zur Interpretation von Einzelbestimmungen zu benutzen. Es blieben die gleichen und damit eigenen Werte der Richter. Dieser Argumentation ist sicherlich eine Berechtigung nicht ganz abzusprechen. Tatsächlich sind die im Grundgesetz verankerten Werte nicht sehr konkret gefasst und vieles, was heute wie selbstverständlich zu ihren Sinn ja sogar Kernbereich gehört, ist erst durch die Rechtsprechung entwickelt, also gewissermaßen hineininterpretiert worden. Anderseits lässt sich meiner Ansicht nach nicht leugnen, dass die Verfassungsprinzipien der Rechtsprechung und Lehre zumindest eine Richtung vorgeben haben und noch geben. Nicht umsonst werden gerade die Prinzipien umfassend ausgestaltet und diskutiert, die in der Verfassung niedergelegt sind, während andere ebenfalls mögliche weit weniger Beachtung und Bedeutung erlangen.151 Dieser Ansicht ist wohl auch Hanau152, wenn er schreibt: „Sicher ist, daß die Arbeitsgerichtsbarkeit dem in den Generalklauseln der Verfassung. . . angelegten Trend gefolgt ist, die Rechte der Arbeitnehmer und damit die Pflichten der Arbeitgeber auszubauen.“ Es bleibt daher dabei: Die constitutional drift wirkt schutzverstärkend für den einzelnen Arbeitnehmer. cc) Beispiele Das erste Beispiel für den starken Einfluss des Sozialstaatsgedankens auf die Rechtsfortentwicklung durch das BAG ist bereits im Jahre 1954 zu finden. Am 21. 10. entschied der 2. Senat des BAG in zwei Fällen zur Wirksamkeit von Befristungen von Arbeitsverhältnissen. Er entschied, dass eine Befristung unwirksam sei, wenn keine Gründe dafür sprächen, von der Einstellung auf unbestimmte Zeit abzusehen. In beiden Fällen berief sich das BAG auf den Sozialstaatsgedanken, der 151 Ein einfacher Test zur Bestätigung der These von der größeren Bedeutung von in der Verfassung niedergelegten Prinzipien auch für die wissenschaftliche Diskussion ist es, ein Lehrbuch oder Kommentar aufzuschlagen und im Stichwortverzeichnis die Verweisungen zum Sozialstaatsprinzip und zur Marktwirtschaft zu vergleichen. 152 Hanau, P. (1998), S. 73.

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

zur Einschränkung der Vertragsfreiheit und des § 620 BGB führe. In BAGE 1, 128 (132) heißt es: „Es ist kein innerer Grund dafür ersichtlich, dass der Verfassungsgrundsatz der Sozialstaatlichkeit, wie er im Kündigungsschutzgesetz verwirklicht ist, an der demgegenüber zufälligen rechtlichen Gestaltung des Arbeitsverhältnisses scheitern sollte. Dass das Kündigungsschutzgesetz, also das positive Recht, nur dem tatsächlichen Regelfall der Kündigung sein Augenmerk zuwendet und den selteneren der aneinander gereihten befristeten Verträge außer Acht lässt, kann dem Verfassungsgrundsatz der Sozialstaatlichkeit in seiner durch das Kündigungsschutzgesetz ausgeprägten Gestalt der Bestandssicherung des Arbeitsplatzes nicht seinen Inhalt und seine Wirkung bei dem Vorliegen des letzteren Tatbestandes nehmen. Wenn das positive Recht die Kettenverträge außer Acht lässt, so wird die in § 45 Abs. 2 Satz 2 ArbGG dem Bundesarbeitsgericht ( . . . ) aufgetragene Aufgabe, das Recht fortzubilden, bedeutsam. Das Gericht bleibt innerhalb der Schranken von Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG.). Der Grundsatz der Sozialstaatlichkeit, der für eine Fortbildung auf dem Gebiet des Arbeitsrechts regelmäßig beachtlich wird, verpflichtet auch die Rechtsprechung bei der Rechtsfindung ( . . . ).“ Ähnlich nur in der Rechtsfolge noch weiter heißt es in BAGE 1, 136, (138): „Insbesondere ist hier der in Art 20 Abs. 1, Art 28 Abs. 1 GG aufgestellte Grundsatz des sozialen Staates bedeutsam, der gebietet, einem jeden ein der menschlichen Persönlichkeit würdiges Dasein zu ermöglichen ( . . . ). Die Vertragsfreiheit kann andernfalls dazu führen, dass der meist sozial und wirtschaftlich schwächere Arbeitnehmer von ihr nicht den gleichen Gebrauch machen kann wie der regelmäßig wirtschaftlich und sozial stärkere Arbeitgeber. . . . Der Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses muss dann aber auch an sich bei einem befristeten Arbeitsvertrag bedeutsam werden, . . . Auch dann, wenn der Tatbestand der Kettenverträge nicht vorliegt, muss die Befristung unwirksam werden, wenn sie dem Arbeitnehmer den Kündigungsschutz nimmt, obwohl keine besonderen Gründe, . . . , dafür sprechen, . . . .“ Zwar wurde nach Kritik in der Rechtsliteratur die Rechtfertigung des sachlichen Grundes in einer späteren Entscheidung (BAGE 10, 61, 69 f.) nicht mehr auf den Sozialstaatsgedanken gestützt, sondern auf den gleichermaßen umstrittenen Grundsatz der Gesetzesumgehung, aber die Weichen für das Erfordernis eines sachlichen Grundes für eine wirksame Befristung waren schon durch die ersten beiden Urteile gestellt. Auch später berief sich das BAG zur Rechtfertigung von Rechtsfortbildungen auf das Sozialstaatsprinzip, wie wir es beispielsweise bei der Entscheidung zur „Rangstelle Null“ der Sozialplanansprüche im Konkurs bereits angesprochen haben. Nach der klaren Zurechtweisung durch das BVerfG153 ist dann das BAG in Bezug auf die offene Rechtsfortbildung mittels des Sozialstaatsprinzips wohl vorsichtiger geworden, aber in Bezug auf die Rechtsfortbildung durch Gesetzesauslegung jedenfalls ist die constitutional drift sicherlich weiter am Werke. 153

BVerfGE 65, 182 ff. und dazu oben 2. Kapitel Abschnitt C. II. 3.

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Sehr deutlich formuliert dies der frühere Präsident des Bundesarbeitsgerichts Müller154: „Die materielle Legitimation und der vom Richter einzuhaltende Erkenntnisprozess bei der Findung von Richterrecht ist darüber hinaus durch den Sozialstaatsgrundsatz des Art. 20 I GG gewährleistet. Insbesondere der Arbeitsrechtler pflegt meist nur einen einzigen Aspekt oder doch vorwiegend diesen Aspekt jener Fundamentalnorm zu sehen, nämlich das unmittelbar geltende Gebot der rechtlichen Anhebung der Angehörigen sozial schwacher Schichten und typisch sozial Schwacher überhaupt. Dies ist der geschichtliche Kern der Sozialstaatsnorm“. 3. Gesamtwirkung der drifts Nachdem wir nun die drei drifts einzeln analysiert haben, stellt sich natürlich die Frage, wie diese zusammen wirken, insbesondere ob sie sich gegenseitig verstärken oder aufheben, ob die Gesamtwirkung in den unterschiedlichen Instanzen verschieden ist, und letztlich natürlich, ob sich die festgestellten Tendenzen in der Arbeitsrechtsprechung damit erklären lassen. Die erste Frage nach der Richtung der Gesamtwirkung lässt sich einfach beantworten. Alle drei drifts haben die gleiche Richtung. Sie wirken letztlich alle auf eine Verstärkung der Arbeitnehmerrechte hin. Daher werden sie sich gegenseitig verstärken und nicht aufheben. Da sie alle eine nicht unerhebliche Wirkung haben und sich gegenseitig verstärken, führen sie gemeinsam zu einem „bias“155. Ein bias in diesem Sinne kann als „a predisposition to decide a cause or an issue in a certain way, which does not leave the mind perfectly open to convinction“156 verstanden werden. Dieser bias könnte bewirkt haben, dass die Arbeitnehmerrechte über Jahre hinweg langsam immer weiter ausgebaut wurden. Die Möglichkeit eines bias spricht auch Posner157 an. Dieser glaubt aber wohl, dass ein solcher nur in Ausnahmefällen bestehen kann. Er vergleicht in diesem Zusammenhang den Richter mit einem Zuschauer, der ein Ereignis, z. B. ein Theaterstück, ansieht und innerlich für eine Partei Stellung bezieht. Weiter schreibt er: „Athletic contests are different, mainly because of the built-in bias in favor, normally, of the „home“ team, a bias that makes the judical analogy strained.“158 Müller, G. (1980), S. 634. Hier wurde ein englischer Ausdruck gewählt, da ein entsprechendes deutsches Wort nicht zur Verfügung steht. Am besten würde hier vielleicht noch „Neigung“ oder „Vorliebe“ passen, während die als Bedeutungen im Dictionary ebenfalls vorgeschlagenen „Befangenheit“ oder „Vorurteil“ für den beschriebenen Sachverhalt wesentlich zu starke Beeinflussung der Richter implizieren. 156 Diese Definition stammt aus Black‘s Law Dicitionary, Fith Edition, St. Paul Minn. 1979. 157 Posner, R. (1995), S. 126. 158 Posner, R. (1995), S. 126. 154 155

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Meines Erachtens nach ist die Analogie zum Sportwettkampf aber gar nicht sehr künstlich. Zwar hat sicherlich im Arbeitsrechtsstreit keine Partei einen Heimvorteil, aber andere bias sind durchaus denkbar. Wenn man beim Vergleich mit einem Sportwettkampf bleibt, so böte sich als Beispiel die verbreitete Tendenz des Publikums den vermeintlich Schwächeren – den Underdog – zu unterstützen an. Eine solche Tendenz ist durchaus auch bei einem Richter denkbar und entspricht in etwa der von uns festgestellten social drift. Bezüglich der Gesamtwirkung in den einzelnen Instanzen lässt sich eine derart klare Aussage nicht treffen. Festgestellt wurde, dass die proceeding drift grundsätzlich in allen Instanzen auftritt. Ansatzpunkte hinsichtlich einer Differenzierung der Wirkungsstärke sind nicht zu erkennen. Bezüglich der social drift wurde ermittelt, dass sie verstärkt bei unterinstanzlichen Gerichten auftritt. Bei der constitutional drift wurde das Gegenteil, nämlich eine stärkere Wirkung in den höheren Instanzen angenommen. Da also nach bisheriger Annahme die procceding drift gleichmäßig wirkt, die social und die constitutional drift hingegen in entgegengesetzter Wirkungsintensität liegt die Annahme nahe, dass der bias einigermaßen gleichmäßig in allen Instanzen wirkt. Sehr schwer zu beantworten, bleibt die Frage, ob der gefundene bias ausreicht, um die Tendenz der Arbeitsrechtsprechung zu erklären. Als erstes ist jedoch festzustellen, dass die theoretisch ermittelten Eigenschaften und Wirkungsrichtungen mit den ermittelten Tendenzen der Rechtsprechung auffallend übereinstimmen. Zu nennen ist dabei die ermittelte Tendenz zur Verstärkung der Arbeitnehmerrechte. Daneben zeigen sich aber sowohl in der Theorie wie in der Praxis noch weitergehende Gemeinsamkeiten. Bei einer Komponente des bias – der proceeding drift – wurde als Wirkung die Vernachlässigung der Interessen Drittbetroffener festgestellt. Die gleiche Feststellung wurde aber auch für die Ergebnisse der Rechtsprechung getroffen. Daneben wurde bei der Analyse der Rechtsprechung beklagt, dass sie zu einer fast unübersehbaren Zahl von Einzelfallregelungen und dem Fehlen klarer Leitlinien geführt hat. Eben diese Problematik wurde aber auch bei der Wirkungsanalyse der social drift angedeutet. Zuletzt scheint auch eine Analyse der Rechtsprechung keine eindeutige Beantwortung der Frage zuzulassen, in welcher Instanz die Verstärkung der Arbeitnehmerrechte vorrangig stattfindet, eben dies haben wir aber auch in der theoretischen Herleitung des Bias festgestellt. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die theoretischen Eigenschaften des hergeleiteten Bias mit den tatsächlichen Tendenzen der Arbeitsrechtsprechung zum Bestandsschutz übereinstimmen. Fraglich ist somit nur noch, ob die vermutliche Stärke des bias ausreicht, um die erhebliche Verstärkung der Arbeitnehmerrechte zu erklären. Diesbezüglich muss als erstes festgestellt werden, dass es natürlich keinen allgemeinen Gradmesser gibt, der die Stärke einer drift oder eines bias messen kann, der nur in einem inneren Entscheidungsprozess eines Menschen, hier speziell eines Richters, abläuft. Deshalb ist man bei der Abschätzung von deren Stärken auf reine Plausibilitätsargumente beschränkt.

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Bezüglich der proceeding und der social drift ist hervorzuheben, dass sie bei beinahe jeder Entscheidung eines Richters im Bestandsschutzbereich auftreten oder zumindest auftreten können. Nur in den Fällen, in denen die Rechtslage eindeutig und die Streitfragen des Prozesses entweder reine Beweisfragen sind oder aber auf einer Fehleinschätzung der Rechtslage durch eine der Parteien beruhen, wird eine eigene wertende Entscheidung des Richters überflüssig sein. In allen anderen Fällen und dies dürfte die klare Mehrheit sein, muss der Richter eigene wertende Entscheidungen fällen. In diesem Fall wird er automatisch von der proceeding drift bei der Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen und der social drift bei der Gewichtung der verschiedenen Interessen beeinflusst werden. Auch wenn der Einfluss bei der jeweiligen Entscheidung gering sein mag, so wird er über Jahre hinweg doch sehr merklich sein. Denn jede Entscheidung, die durch die drifts mitverursacht wurde, wirkt daran mit, eine Rechtspraxis zu schaffen von der wiederum der nächste Richter bei einer Entscheidung in einem ähnlichen Fall ausgehen wird. Hier wirken dann erneut die drifts, da der Richter ausgehend von der bisherigen Rechtspraxis der Tendenz unterliegt, den Arbeitnehmer zu begünstigen. So addieren sich praktisch die einzelnen Wirkungen der drifts. Über Jahre hinweg kann dies zu erheblichen Veränderungen der Rechtspraxis führen. Die constitutional drift hingegen wirkt sicherlich nur bei einzelnen Entscheidungen. Bei diesen Entscheidungen handelt es sich aber mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit um rechtsfortbildende. Gerade dort wo das Gesetz vermeintlich lückenhaft oder überholt erscheint und daher eine Rechtsfortbildung nahe liegt, wird der Richter nach Wertmaßstäben suchen, die er für eine Lückenfüllung im geltenden Recht nutzen kann. In diesen Fällen wird der Richter häufig auf die in der Verfassung niedergelegten Werte zurückgreifen. Dabei beeinflusst ihn die constitutional drift fast automatisch. Insofern kann man wohl davon sprechen, dass die social und die proceeding drift bei sehr vielen Entscheidungen des Richters wirken und sich ihre Wirkungen langsam aufsummieren, während die constitutional drift nur in sehr wenigen Entscheidungen ihre Wirkung entfaltet. Diese Entscheidungen sind aber zu einem großen Teil gerade die rechtsfortbildenden. Neben dieser rein theoretischen Wirkungsanalyse tritt noch die Tatsache, dass wir in den Äußerungen in der Rechtsliteratur, aber insbesondere auch in den Veröffentlichungen von einigen der wichtigsten Richter, Bemerkungen gefunden haben, die die Wirkungen der drifts bestätigen. Diese Äußerungen sprechen meines Erachtens auch für eine erhebliche Wirkung, da die Richter in ihren Äußerungen stets zurückhaltend sein werden. Diese Äußerungen werden sie nur machen, wenn es sich um offensichtliche oder zumindest für sie persönlich bedeutende Einflussfaktoren handelt. Der Grund für dieses Verhalten ist, dass jede dieser Äußerungen im Grunde an dem Ruf der Unparteilichkeit der Richter rüttelt und somit in gewisser Weise dem Rollenverständnis des Richters widerspricht. 21*

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Letztlich spricht für die Plausibilität der Begründung der Rechtsprechungstendenz durch den dargestellten bias auch der Vergleich mit den bisherigen Erklärungsversuchen. Die Erklärungen, die auf einem Eigennutzansatz i. S. eines direkten Vorteils der Richter (z. B. Erhöhung der Aufstiegschancen oder Durchsetzung der eigenen Werturteile) beruhen, sollten wir dabei nicht berücksichtigen, da sie zu keinem Ansatz geführt haben, der eine Tendenz der Rechtsprechung insgesamt erklären könnte. Anders sieht es mit der weitverbreiteten Effizienz-Theorie aus. Dort beruht die Annahme der Effizienz, wie dargestellt, auf der höheren Wahrscheinlichkeit der Anfechtung einer nicht effizienten Regel gegenüber einer effizienten. Diese Wahrscheinlichkeit beruhte lediglich auf der Annahme, dass die Erträge aus der Anfechtung einer ineffizienten Regel im Durchschnitt etwas größer sein werden, als diejenigen aus der Anfechtung einer effizienten. Dadurch wird auch der Erwartungswert des Ertrages bei einer möglichen Aufhebung einer ineffizienten Regel im Durchschnitt höher sein und daher auch im Durchschnitt häufiger die voraussichtlichen Prozesskosten übersteigen. Anders ausgedrückt: Eine Tendenz ist nur in den Fällen gegeben, wo ausnahmsweise der erwartete Ertrag einer Regeländerung bei einer ineffiziente Regel gerade noch höher ist als die Prozesskosten, während sie bei einer effizienten Regel gerade geringer als die Prozesskosten sind. Dabei wurde von der zufälligen Entscheidungsfällung durch den Richter ausgegangen. Der festgestellte bias hingegen setzt direkt bei der Entscheidungsfindung an. Er erklärt warum ein Urteil tendenziell eher zu Gunsten des einzelnen Arbeitnehmers ausfällt. Das direkte Wirken des bias auf die Entscheidungsfindung lässt vermuten, dass seine Auswirkungen im Vergleich mit der bloßen Erhöhung der Anfechtungswahrscheinlichkeit wesentlich stärker sind. Zur Gesamtwirkung der drei drifts bleibt festzuhalten: Die proceeding, die social und die constitutional drift wirken in die gleiche Richtung und bilden daher gemeinsam einen bias zugunsten der Rechte des einzelnen Arbeitnehmers. Es spricht einiges dafür, dass der bias in allen drei Instanzen gleichermaßen wirkt. Die Stärke des bias lässt sich kaum messen, aber es erscheint wahrscheinlich, dass er die erhebliche Verstärkung der Rechte des einzelnen Arbeitnehmers durch die Rechtsprechung bewirkt hat, zumindest hat er diese Entwicklung aber gefördert.

C. Möglichkeiten zur Verbesserung der Rechtsprechungsergebnisse Im folgenden Abschnitt sollen Möglichkeiten zur Verbesserung der Rechtsprechungsergebnisse diskutiert werden. Im Rahmen dieser Arbeit ist es jedoch nicht möglich, alle Verbesserungsvorschläge, die angesprochen werden, ausführlich zu erörtern. Deshalb sollen die folgenden Ausführungen mehr den Charakter eines Thesenpapieres haben. Sie sind einerseits eine Abrundung der bisherigen Ergeb-

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nisse. Andererseits sollen sie Ansätze für weitere vertiefende Überlegungen darüber sein, in welche Richtung Reformen gehen könnten. Bei den folgenden Ausführungen bleibt zu bedenken, dass eine Korrektur des Rechtsprechungssystems als Ganzes natürlich nur sinnvoll sein kann, wenn ähnliche Irrationalitäten bzw. Tendenzen auch in anderen Bereichen der Rechtsprechung auftauchen. Ansonsten sind die Reformvorschläge auf den Bereich des Arbeitsrechts oder streng genommen, eigentlich nur auf den des Bestandsschutzes zu beschränken. Es spricht aber einiges dafür, dass die hier am Beispiel des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes gezeigten Irrationalitäten und Tendenzen auch im restlichen Arbeitsrecht und wohl auch in einigen anderen Bereichen des Zivilrechts auftreten. Untersucht wurde dies von dem Autor der vorliegenden Arbeit bereits für den Bereich des Wohnraummietrechts.159 Für diesen Bereich kommt man zu fast identischen Ergebnissen. Auch deshalb erscheint es naheliegend, dass die hier hergeleiteten Irrationalitäten und Tendenzen auch in anderen Rechtsbereichen wirken. In Betracht kommen dafür insbesondere Bereiche, in denen die Regelungen soziale Zwecke verfolgen, wo im allgemeinen Ungleichgewichtslagen angenommen werden oder wo typischer Weise Dritte betroffen sind. Sollte diese Annahme zutreffen, so müsste diskutiert werden, inwieweit auch für diese Bereiche ein Ausgleich der Irrationalitäten bzw. der Tendenzen der Rechtsprechung möglich und wünschenswert sind. Vielleicht können die folgenden Ausführungen auch dazu einen Beitrag leisten. Im Folgenden soll zuerst der mögliche Ausgleich der ordnungspolitischen Irrationalitäten der Rechtsprechung im Hinblick auf das Verfahren, das der Regelsetzung zugrunde liegt, diskutiert werden [I.]. Erst danach wird ein Ausgleich der festgestellten richterlichen Tendenzen bei der Rechtsfortbildung analysiert [II.]. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass zwischen den beiden Themen ein enger Zusammenhang besteht, da die meisten Irrationalitäten der Rechtsprechung durch die Tendenz der einseitigen Verstärkung der Rechte des einzelnen Arbeitnehmers bewirkt wurden. Aus diesem Grunde werden sich einige Verweise auf spätere Ausführungen nicht vermeiden lassen.

I. Beseitigung / Ausgleich der Irrationalitäten bei der Regelsetzung In Abschnitt A. II. 2. wurde festgestellt, dass das richterliche Verfahren gegenüber dem legislativen in Bezug auf die Setzung allgemeiner Regeln erhebliche Mängel aufweist. Die Verfahrensnachteile zeigen sich insbesondere in Mängeln bei der Ermittlung der Entscheidungsgrundlage, der Entscheidungsfindung und 159 Die angesprochene Untersuchung wurde als Diplomarbeit an der Albert-Ludwigs-Universität eingereicht (v. Klitzing, H. (1996)).

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der Folgenbewertung. Die Gründe hierfür liegen insbesondere in den geringeren Arbeitsmitteln und Erkenntnisquellen, dem Prozessgrundsatz der Parteiherrschaft und der mangelnden Drittbeteiligung sowie der Vernachlässigung der Folgenberücksichtigung. Weitere Mängel weist das richterliche Verfahren in Bezug auf Rechtsklarheit und Legitimationsgrundlage auf.

1. Notwendigkeit des Ausgleichs Grundsätzlich dürfte sich die Notwendigkeit des Ausgleichs der ordnungspolitischen Irrationalitäten bereits aus der Bedeutung des Rechtsgebietes für den Arbeitsmarkt und damit für unsere Wirtschaftsordnung insgesamt ergeben. In einem so wichtigem Bereich bewirken falsche bzw. ordnungspolitisch irrationale Regeln eine Anreizsetzung bzw. Steuerung des Verhaltens der Wirtschaftssubjekte, die zu unerwünschten Resultaten in der Handelnsordnung führen. Die Folge kann beispielsweise die Diskriminierung von besonders Schutzbedürftigen und / oder die Entstehung und Verfestigung von Arbeitslosigkeit sein. Will man dies verhindern, muss man die Irrationalitäten bei der Regelsetzung beseitigen.

2. Mittel zum Ausgleich Ein Ausgleich ist grundsätzlich auf zwei Arten möglich. Einerseits kann man die Regelsetzung bei der Gewalt konzentrieren, bei der Irrationalitäten nicht oder im geringeren Umfang auftreten (Legislativen) oder man kann die Irrationalitäten der ebenfalls regelsetzenden Gewalt (Judikativen) beseitigen. Die Konzentration der Regelsetzung bei der Legislativen würde zwar nicht alle Defizite beseitigen, aber einen Schritt hin auf mehr Rationalität bedeuten. Die Gründe für die Überlegenheit der Setzung von generell-abstrakten Regelungen durch die Legislative gegenüber einer solchen durch die Judikative wurden schon umfangreich (siehe. . . ) erörtert. Fraglich ist allerdings, wie realistisch die Hoffnung auf eine solche Konzentration ist. Nach den vielen Anläufen zum Erlass eines einheitlichen Arbeitsgesetzbuches, die mittlerweile seit 1896 unternommen wurden – zuletzt hat ein „Arbeitskreis Deutsche Rechtseinheit im Arbeitsrecht“ einen Vorschlag unterbreitet, der auch dem 59. DJT vorlag,160 zudem vom Freistaat Sachsen aufgegriffen wurde und unter Änderungen sogar als Gesetzesantrag eingebracht wurde161 –, aber alle vergeblich blieben, wäre es wohl vermessen, auf einen erfolgreichen Versuch zu hoffen. Aber selbst wenn ein solcher doch noch erfolgen sollte, so wären damit die Rechtsfortbildung und -setzung durch die Rechtsprechung keineswegs beendet. 160 161

Abgedruckt als Gutachten D zum 59. DJT, 1992. Bundesrat-Drs. 293 / 95.

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Auch ein noch so gutes und / oder ausführliches Gesetz kann niemals so lückenlos sein, dass nicht viel Raum für richterliche Ausgestaltung und Fortbildung bliebe. Verstärkt gilt dies natürlich, wenn der Gesetzgeber keinen umfangreichen Gesetzgebungsakt aus einem ,Guß‘, sondern lediglich einige Randkorrekturen vornimmt. Bestes Beispiel hierfür sind die Diskussionen um Bedeutung und Geltungsumfang der mit dem BeschfG 1996 verbundenen Gesetzesänderungen. In Bezug auf diese ,Unersetzbarkeit‘ der richterlichen Ersatzgesetzgebung162 bleibt es bei der Aussage von Gamillscheg163: „Das Richterrecht bleibt unser Schicksal.“ Dies schließt aber nicht aus, dass sich nicht in einigen Bereichen das Richterrecht zumindest tendenziell zurückdrängen ließe. Die daraus folgende richterliche Zurückhaltung i. S. eines „judical self-restraint“ wird zumindest vom Prinzip her auch von der h. M. befürwortet und selbst das BAG reklamiert die Befugnis zur Rechtsfortbildung oder gar Ersatzgesetzgebung nicht mehr so deutlich. Allerdings sieht sich das Gericht, wie es Picker164 aufzeigt und wir auch vielfach analysiert haben, nicht gehindert von der Rechtsanwendung zur Rechtssetzung überzugehen.165 Eine Möglichkeit, die richterliche Rechtsfortbildung tatsächlich wirksam einzuschränken, mag in der Umsetzung von Hillgrubers166 Gedanken zur Anwendung des Vorbehaltes des Gesetzes auch für Rechtssetzungen der Rechtsprechung liegen. Dies wurde bereits in Kap. 3 Abschnitt B. III. 2. diskutiert. Wenn aber das Richterrecht unser Schicksal bleibt, so sollte man sich bemühen, die auf diese Weise zustande kommende Regelsetzung, möglichst ordnungspolitisch rational zu gestalten. Eine Voraussetzung dafür ist, dass zunächst einmal in der Richterschaft und auch in der Wissenschaft ein stärkeres Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass durch die Rechtsprechung generell-abstrakte Regeln gesetzt werden, die die Handlungen der Rechtssubjekte beeinflussen. Dabei kommt es aus ordnungspolitischer Sicht nicht darauf an, ob diese Regeln „Recht“ im rechtsdogmatischen Sinne darstellen oder aber nicht. Entscheidend ist allein, dass sie für die Rechtsunterworfenen im wesentlichen die gleichen Folgen haben. Es werden sowohl durch diese wie auch durch die eigentlichen legislativen Gesetze die Handlungsspielräume einzelner begrenzt oder erweitert und damit deren Handlungen mitbestimmt. Solange diese Aufgabe der Rechtsprechung nicht klar und eindeutig anerkannt wird167, ist es auch nicht möglich, diese Aufgabe rational zu erledigen. Insoweit ist Söllner voll und ganz zuzustimmen, der eine „umfassende, konsensfähige Theorie Siehe dazu z. B. Söllner, A. (1994), S. 335 und 327. So beschließt Gamillscheg seine Ausführungen über die Grundrechte im Arbeitsrecht. Gamillscheg, F. (1964), S. 445. 164 Picker, E. (1988), S. 2. 165 Gutes Beispiel für die weitere Rechtsetzungstätigkeit des BAG dürfte das Wiederbeschäftigungsgebot sein. 166 Hillgruber, C. (1996), S. 124 f. 167 Siehe dazu Rüthers, B. (1988), S. 258. 162 163

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

der richterlichen Rechtsfortbildung“ fordert, „die sich nicht in der Diskussion von Grundlagen und Grenzen des Richterrechts erschöpft, sondern konkrete Methoden aufzeigt.“168 Zu diskutieren, wie im Einzelnen diese Theorie auszusehen hat, kann natürlich nicht Aufgabe dieser Arbeit sein. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass der Grundgedanke einer Dogmatik wohl aus Art. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches übernommen werden könnte. Dieser besagt, dass der Richter beim Fehlen einer gesetzlichen Vorschrift nach Gewohnheitsrecht, und wo auch ein solches fehlt, nach der Norm zu entscheiden hat, die er als Gesetzgeber aufstellen würde.169 Neben einer solchen generellen Dogmatik ließen sich aber sicherlich auch einige Irrationalitäten vermeiden bzw. die Ergebnisse der Rechtsprechung bei der Setzung generell-abstrakter Regeln verbessern, indem man ganz konkret einige der angesprochenen Defizite bei der Ermittlung der Entscheidungsgrundlage, der Entscheidungsfindung und der Folgenbewertung beseitigt. Sehr intensiv hat sich Hergenröder170 mit den zivilprozessualen Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung befasst. Er stellt beispielsweise die Prozessmaximen in Hinblick auf den Rechtsfortbildungszweck des Prozesses in Frage.171 Insbesondere die uneingeschränkte Geltung des Grundsatzes der Parteiherrschaft (Dispositionsmaxime) kritisiert er, wobei er auf eine schon durch das jetzige Prozessrecht angeblich mögliche Durchbrechungen abstellt, aber auch einer gesetzlichen Einschränkung scheint er positiv gegenüber zu stehen. Ein solcher Ansatz könnte nach der oben analysierten generellen Problematik der Herrschaft der Parteien über das Ob und den Umfang der rechtsfortbildenden Entscheidung ein Fortschritt in Richtung rationalerer Rechtssetzung sein. Daneben fordert Hergenröder auch die verstärkte Beachtung von sog. Rechtsfortbildungstatsachen in der höchstrichterlichen Zivilrechtsjudikatur 172 und postuliert dafür entgegen der h. M. die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes173 anstelle der Verhandlungsmaxime.174 Unter Rechtsfortbildungstatsachen fasst er dabei u. a. Erkenntnisse, die aus der Empirie, Statistik, Demoskopie etc. stammen. Gegen eine damit verbundene Ausweitung richterlicher Argumentation auf außerhalb des bestehenden Rechtssystems stehende, insbesondere rechtspolitische Söllner, A. (1994), S. 334. Dazu näheres bei Söllner, A. (1994), S. 333; Rose, F. (1995), S. 208 f. oder auch Rüthers, B. (1993a), S. 57. 170 Hergenröder, C. (1995). 171 Hergenröder, C. (1995), S 481 ff. 172 Hergenröder, C. (1995), S 353 ff. 173 Im Geltungsbereich des sog. Untersuchungsgrundsatzes hat das Gericht die für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln, in den Prozess einzuführen und ihre Wahrheit festzustellen. Vgl. zur Definition Creifeldts, C. (1999), S. 1352. 174 Hergenröder, C. (1995), S 484 f. und 312 ff. 168 169

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Argumente, wird unter anderem vorgebracht, die mangelnde demokratische Legitimation sowie die mögliche Überforderung der Richterschaft, die für die Berücksichtigung solcher Aspekte nicht ausgebildet wurde, verbiete eine solche Ausweitung.175 Zudem könnte diese Ausweitung auch die Gefahr einer vielleicht sogar vermehrten Rechtssetzung der Gerichte bedeuten, wenn diese nicht anderweitig begrenzt wird. Diese Bedenken betreffen meines Erachtens nach aber vornehmlich die Gebiete, in denen eine richterliche Rechtsfortbildung nicht unbedingt notwendig ist oder diese Fortbildung hinreichend durch legislative Vorgaben determiniert ist. Für diese Bereiche sollte aber eine richterliche Rechtsfortbildung meines Erachtens nach sowieso unterbleiben oder sich eng an die legislativen Vorgaben halten. Hier ist die schon erwähnte richterliche Zurückhaltung bei der Rechtsschöpfung geboten. Allerdings gibt es auch Bereiche, in denen sich eine richterliche Rechtsfortbildung nicht vermeiden lässt und diese durch rechtliche Vorgaben und Argumente nicht eindeutig determiniert ist (eindeutigstes Beispiel dafür ist das Arbeitskampfrecht). In diesen Fällen ist eine ausgedehntere Berücksichtigung von Rechtsfortbildungstatsachen durchaus wünschenswert. Auch wenn die Richterschaft dafür nicht eigens ausgebildet wurde, hat sie doch immerhin einige Erfahrung mit der Berücksichtigung und Einholung von Stellungnahmen (Sachverständigengutachten) über Sachverhalte, in denen die Richter kein spezielles Fachwissen haben. Zudem ist es wohl besser, wenn die „legislative facts“ unvollständig als überhaupt nicht berücksichtigt werden. Grundsätzlich ist daher der Ansatz von Hergenröder begrüßenswert, da er Irrationalitäten auf dem Gebiet der Entscheidungsgrundlage mildern kann. Es muss allerdings sichergestellt werden, dass die erweiterten Mittel der Rechtsprechung nicht zu einem vermehrten „social engeneering“ der Richter führen, sondern nur in den Fällen benutzt werden, in denen eine Rechtsfortbildung unerlässlich ist. Nachteile im Verfahren der richterlichen Regelsetzung gegenüber der legislativen Regelsetzung haben wir des weiteren in Form mangelnder Folgenorientierung ausgemacht. Um diese zu beseitigen, müsste wohl insbesondere die Ausbildung der Juristen umgestellt bzw. ergänzt werden. Es kann nämlich kaum davon ausgegangen werden, dass Richter, die ausschließlich in Bezug auf die gerechte Entscheidung des Einzelfalles ausgebildet wurden, nunmehr auch in der Lage sind, eine mitunter schwierige Abschätzung der Urteilsfolgen vorzunehmen. Dieser Gesichtspunkt wird aber in Abschnitt II. 3. b) noch genauer analysiert. Die ebenfalls aufgezeigten Defizite im Bereich der Rechtssicherheit und der Legitimationsgrundlage hingegen lassen sich wohl nur schwer oder gar nicht beheben. Es wird zwar von einigen Stimmen in der Literatur erwogen, ob es vorteilhaft wäre, wenn Gerichte sich abzeichnende Änderungen der Rechtsprechung schon vorher andeuten, um der Praxis zu ermöglichen, sich darauf einzustellen,176 dem 175 176

Siehe dazu Langenbucher, K. (1996), S. 29 f. Vgl. z. B. Arbeitskreis für Rechtsprechung (1990), S. 1839.

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

ist aber nicht zuzustimmen. Gerade durch eine solche Ankündigung werden zusätzliche Unsicherheiten geschaffen, da nicht klar ist wann, in welchem Umfang und mit welchen Rechtsfolgen eine Änderung dann tatsächlich erfolgt. Für die oben diskutierten Verbesserungsvorschläge taucht jedoch ein grundsätzliches Problem auf. Sie sind jeweils wohl nur anwendbar bzw. beruhen darauf, dass rechtsfortbildende und ,normale‘ Entscheidungen der Gerichte auseinandergehalten werden können. Dies ist jedoch keineswegs einfach. Viele Verfahren werden sich im Graubereich zwischen Fortbildung des Rechts und bloßer erweiternder Anwendung von bereits bestehenden Grundsätzen und Präjudizien bewegen. Es ist aber kaum möglich, auf alle diese Entscheidungen, die hier vorgeschlagenen Veränderungen anzuwenden. Dies würde einen sehr erheblichen Mehraufwand bei der Rechtsfindung bedeuten, der auch im Interesse einer zügigen und kostengünstigen Erledigung der Rechtsstreite nicht vertretbar ist. Es erscheint daher kaum möglich, die oben angerissenen Verbesserungsvorschläge auf mehr als eine begrenzte Anzahl von klar rechtsfortbildenden Entscheidungen der obersten Gerichte anzuwenden. 3. Schlussfolgerungen Die Nachteile richterlicher gegenüber legislativer Rechtssetzung sollten dazu führen, dass der Richter im Sinne des ,judical self-restrain‘ Zurückhaltung übt. Möglicherweise ließe sich dies durch Hillgrubers Gedanke der Anwendung des Vorbehaltes des Gesetzes auch auf die Rechtsfortbildung der Gerichte absichern. Für den verbleibenden Rest der notwendigen richterlichen Rechtsfortbildung sollte eine klarere Dogmatik entwickelt werden, die eventuell den Grundgedanken des Art. 1 ZGB aufnehmen könnte. Daneben können in einigen begrenzten Fällen Änderungen der Prozessordnung eine rationalere Rechtsfortbildung der Gerichte ermöglichen. In diesem Rahmen kommt einer Begrenzung der Maxime von der Parteiherrschaft und des Beibringungsgrundsatz sowie eine Ausdehnung der Beachtung von Rechtsfortbildungstatsachen in Frage. Allerdings scheint dies nur für einige wenige, klar rechtsfortbildende Entscheidungen der obersten Instanz praktikabel, wobei die Unterscheidung zwischen rechtsfortbildenden und anderen Urteilen stets problematisch bleiben würde. Die vorgeschlagene Änderung der Prozessordnung sollte zusammen mit einer generellen Zurückhaltung der Gerichte bei der Rechtsfortbildung ausreichen, zumindest einige der wichtigsten Irrationalitäten der richterlichen Rechtssetzung zu beheben.

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II. Beseitigung / Ausgleich der richterlichen Tendenzen Eines der wichtigsten Ergebnisse der bisherigen Analyse war, dass die Rechtsprechung für den arbeitsrechtlichen Bestandsschutz eine eigene Tendenz zur Verstärkung der Rechte des einzelnen Arbeitnehmers aufweist. Als Gründe für die eigene Tendenz der Rechtsprechung gelang es, eine proceeding, eine social und eine constitutional drift zu identifizieren. Diese bilden gemeinsam einen bias der zugunsten der Rechte des einzelnen Arbeitnehmers wirkt. Auch hier soll zuerst begründet werden, warum ein Ausgleich notwendig ist [1.], um danach die grundsätzliche Geeignetheit der verschiedenen Mittel im Sinne unterschiedlicher Eingriffsebenen zu überprüfen [2.]. Zuletzt sollen Vorschläge für konkrete Maßnahmen auf der geeigneten Regelebene erfolgen [3.]. Im Verlaufe dieser Prüfung werden wir des öfteren auf Erkenntnisse aus Kap. 2 und 3 zurückgreifen, insbesondere bedeutend werden aber die grundsätzlichen Ausführungen in Kap. 1 Abschnitte B. und B. I. zu den Verhältnissen der Regelebenen zueinander sein.

1. Notwendigkeit des Ausgleichs Die Notwendigkeit des Ausgleichs der richterlichen Tendenz ergibt sich aus den negativen Folgen, die der festgestellte bias auf die Handelnsordnung bzw. über diese auf die Endergebnisse des Arbeitsmarktes hat. Auf einem so entscheidenden Markt kann sich eine Gesellschaft dauerhaft keine Fehlsteuerung leisten, ohne gravierende negative Folgen für den Einzelnen und die Gesamtheit zu bewirken. Daneben gibt es aber auch staatstheoretische Bedenken gegen eine eigene Tendenz der Rechtsprechung, denn durch diese eigene Tendenz entfernt sich der Richter von seiner Rechtsgebundenheit und wird zum Sozialingenieur und im Extremfall zum politischen Richter. Sehr klar drückt dies Stern177 aus: „Das richterliche Urteil ist nicht das bessere oder gerechtere Gesetz, wie manche meinen ( . . . ). Wer den ,politischen Richter‘ oder den Richter als ,Sozialingenieur‘ postuliert, steht nicht nur im Widerspruch zum rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzip des Grundgesetzes, sondern er sollte aus der Vergangenheit gelernt haben, dass es gerade der politische, dem Nationalsozialismus oder dem Monarchen verpflichtete Richter war, der in der Gefahr stand, nicht unabhängig und rechtstreu zu judizieren.“ Die Notwendigkeit des Ausgleichs der richterlichen Tendenz besteht auch, wenn es gelingen sollte, einige der oben vorgeschlagenen Reformen zur Beseitigung der Irrationalitäten der Rechtsprechung umzusetzen. Solange nur ein Teil der Irrationalitäten bei der Regelsetzung beseitigt wird – eine vollständige Beseitigung ist schon wegen der oben angesprochenen Gründe nicht möglich – und die Ursachen der Tendenz nicht ausgeglichen werden, besteht eine Fehlsteuerung weiter. Ein 177

Stern, K. (1984), Bd. 4, § 20, S. 801.

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

teilweiser Ausgleich der Irrationalität kann keine grundlegende Wende bringen, da selbst bei einem rationaleren Entscheidungsfindungsvorgang weiterhin ein durch die festgestellte Tendenz verzerrtes Ziel die Entscheidungsfindung leiten würde.

2. Mittel zum Ausgleich Will man den durch richterliche Regelbildung verursachten Fehlsteuerungen des Arbeitsmarkts entgegenwirken, kommen dazu grundsätzlich drei verschiedene Arten von Mitteln in Betracht. Einerseits kann man es mit einfachen Appellen an die Einsicht und Vernunft der Entscheidungsträger versuchen [a)]. Daneben besteht die Möglichkeit, die negativ zu beurteilenden Regeln der geltenden Rechtslage, insbesondere solche, die durch die Rechtsprechung entwickelt wurden, durch einfache gesetzliche Maßnahmen zu korrigieren [b)]. Zuletzt besteht aber auch die Möglichkeit die Regelerstellungsordnung zu verändern [c)]. Diese drei grundsätzlichen Mittel tauchen nicht nur hier auf, sondern im Prinzip bei jeder wirtschaftspolitischen Maßnahme. Allerdings werden sie vornehmlich diskutiert, wenn es darum geht, direkt negative Ergebnisse des betreffenden Marktes zu korrigieren. In diesem Fall wird dann überlegt, ob der Staat direkt durch prozesspolitische (z. B. Subventionen), indirekt durch ordnungspolitische Maßnahmen (z. B. Gesetzesänderungen) oder durch Appelle (runde Tische, Aufforderungen zu tarifpolitischer Mäßigung) eingreifen soll. Praktisch die gleiche Diskussion wird im Folgenden geführt, nur um eine Ebene nach oben verlagert – es geht nicht um Mängel in der Handelsordnung, sondern um solche der Regelordnung. Jede der angesprochenen Maßnahmen zielt im Endeffekt auf eine andere Ordnungsebene oder Wirkungsweise ab. Die Korrektur durch einfache gesetzliche Regelungen greift aus der Sicht der Wirtschaftssubjekte auf der Ebene der Regelordnung ein. Durch die Maßnahme wird eine konkrete von der Rechtsprechung aufgestellte Regel durch die Legislative verändert. Sie gleicht für unser Problem gewissermaßen der Prozesspolitik. Die Änderung der Regelerstellungsordnung hingegen greift direkt, wie es der Name sagt, auf der Ebene der Regelerstellungsordnung ein. Es wird nicht versucht, die Ergebnisse der Rechtsprechung direkt zu korrigieren, sondern man bemüht sich die Regeln zu verändern, die wiederum die Rechtsprechung der Richter beeinflussen. Insofern entspricht diese Art der Korrektur einer ordnungspolitischen Maßnahme, allerdings auf einer höheren Ebene. Das Mittel der Appelle steht von den Ordnungsebenen gesehen her zwischen den Eingriffen auf der Regel- und der Regelerstellungsebene. Es greift weder direkt ein, noch verändert es die übergeordnete Ordnungsebene. Es wendet sich direkt an die Entscheidungsträger, ohne auf irgendeiner Ebene verbindlich zu sein.

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a) Appelle Appelle stellen wohl die gesellschaftliche Maßnahme mit der geringsten Intensität dar. Im vorliegendem Fall würde der Richter zu einem bestimmten Verhalten aufgefordert, ohne dass ein anderweitiges Verhalten durch Maßnahmen verhindert oder sanktioniert würde. Ein solcher Appell wird von vielen verschiedenen Seiten und mit den unterschiedlichsten Zielen unternommen. Fraglich ist hingegen, ob diese Appelle tatsächlich von Nutzen sind. An die Wirksamkeit von reinen Appellen glaubt z. B. Kraft178: „Soweit eine Korrektur der richterlichen Auslegung oder Rechtsfortbildung in Frage steht, ist naturgemäß nur ein Appell an die Gerichte möglich. Da aber der Richter weitgehend der Herr des Arbeitsrechts ist, halte ich einen solchen Appell für legitim und sinnvoll. Ich will mich daher vornehmlich auf diese Möglichkeit konzentrieren.“ Recht zu geben ist Kraft sicherlich darin, dass der Richter Ansatzpunkt für Veränderungen im Hinblick auf eine bessere Regelsetzung im Arbeitsrecht sein sollte. Meines Erachtens aber ist der Weg der einfachen Appelle nicht ausreichend. Um die festgestellten Defizite der richterlichen Regelbildung zu beseitigen oder zu mildern, wäre es erforderlich, die Richter dazu zu bringen, z. B. die Interessen der Allgemeinheit oder der Arbeitslosen stärker zu berücksichtigen oder auch die wirtschaftlichen Folgen ihrer Urteile zu bedenken. Voraussetzung für eine derartige Verhaltensänderung der Richter wäre jedoch, dass diese erkennen und berücksichtigen, dass sie nicht nur einen Einzelfall entscheiden, sondern auch allgemein abstrakte Regeln bilden. Dies ist aber nicht möglich, solange die Einzelfallbetrachtung das richterliche Verhalten dominiert. Die ausschließliche Einzelfallbetrachtung lässt sich aber nicht mit reinen Appellen beseitigen, da sie durch die Ausbildung im richterlichen Denken fest verankert ist. Zudem ist sie, wie gesehen, auch in der Verfahrensordnung niedergelegt. Ebenso wenig werden die drei festgestellten drifts beseitigt. Sie wirken unabhängig von möglichen Appellen weiter; die pragmatic drift, da auch bei gutem Willen der Richter Drittinteressen aufgrund der Verfahrensvorschriften kaum berücksichtigt werden können und die social drift, da die täglichen Erfahrungen der Richter bezüglich der existenzielleren Interessen der einzelnen Arbeitnehmer schwerer als abstrakte Appelle wiegen werden. In Bezug auf die constitutional drift ließe sich vielleicht das Bewusstsein der Richter in Hinsicht auf die Bedeutung der Marktwirtschaft schärfen, aber diese kann trotzdem bei der Auslegung von Gesetzen kaum herangezogen werden, da sie nicht Teil der Werteordnung des Grundgesetzes ist. Neben diesen grundsätzlichen Bedenken gegenüber der Möglichkeit einer Einflussnahme mittels Appellen an die Richterschaft bestehen noch praktische Probleme. So ist z. B. unklar, wie die Richter überhaupt zwischen den vielen ,special interest‘ Appellen und den im konstitutionellen Interesse liegenden unterscheiden 178

Kraft, A. (1994), S. 465.

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

sollen und auch die begrenzte Wirkungsdauer von Appellen sollte berücksichtigt werden. Zuletzt kann darauf hingewiesen werden, dass die meisten Wirtschaftswissenschaftler grundsätzlich an der langfristigen Wirksamkeit moralischen Drucks (moral suasion) zweifeln.179

b) Einzelgesetzgebung Neben den Appellen an die Richter wurde auch schon das zweite Mittel zum Ausgleich der richterlichen Tendenz angewandt. Insbesondere die BeschfG von 1986 und 1996 brachten viele Regelungen, die entweder die durch die Rechtsprechung aufgestellten Regeln abänderten oder in dieser umstrittenen Frage klärten und insoweit einen direkten Eingriff in die Rechtslage darstellten. Mit ihrer Hilfe wurden die Ergebnisse richterlichen Handelns direkt korrigiert. Einzelne Beispiele wie erweiterte Zulassung von befristeten Arbeitsverhältnissen, Einschränkungen bei den zu berücksichtigenden Kriterien bei der Sozialauswahl etc. haben wir mehrfach genannt und analysiert. Diese Maßnahmen brachten auch einige, allerdings eher begrenzte Erfolge. Die beschäftigungsfördernde Wirkung der erweiterten Zulassung der Befristung durch das BeschfG wurde eingehend erörtert [Kapitel 3 Abschnitt C. VIII.]. Die Ergebnisse des BeschfG 1996 dagegen sind sehr viel schwerer abzuschätzen und bleiben letztlich Spekulation, da das Gesetz eine nur sehr kurze Geltungsdauer hatte. Immerhin konnten auch hier gewisse beschäftigungsfördernde Wirkungen durch die Erhöhung des kündigungsschutzrechtlichen Schwellenwertes festgestellt werden. Die meisten anderen Regelungen hatten hingegen nur begrenzten Nutzen. In Rechtsprechung und Literatur konnte sich noch keine herrschende Meinung zur Auslegung der Änderungen bilden. Es zeichnete sich aber wohl die Tendenz ab, die Regelungen und ihre bestandschutzlockernde Wirkung eher einschränkend auszulegen. Deshalb wäre ihre Wirkung wohl auch bei längerer Geltungsdauer eher begrenzt gewesen. Die insgesamt eher verhaltenen gesetzlichen Korrekturen reichten aber aus, um eine starke gesellschaftliche Gegenbewegung auszulösen. Die Unterstützung der SPD durch die Gewerkschaften im Bundestagswahlkampf 1998, führte dann, nach dem Regierungswechsel, auch zur Rückgängigmachung der meisten Änderungen. Insgesamt konnten jedenfalls die bisherigen Versuche, die Tendenz der Rechtsprechung zur Verstärkung der Arbeitnehmerrechte auszugleichen, die Rechtsfortbildung zugunsten des einzelnen Arbeitnehmers nicht stoppen. Zwar wurde dies teilweise auf einigen Gebieten erreicht. Auf anderen hingegen wirkte die Tendenz weiter. So sind insbesondere in letzter Zeit die Entwicklung beim Wiederbeschäfti179 Allerdings wurden die mit moral suasion verbundenen Probleme vorrangig im Zusammenhang mit Preis- oder Einkommensfestsetzungen diskutiert. Vgl. z. B. Stiglitz, J. (1999), S. 991 f. oder Cassel, D. / Thieme, J. (1999), S. 406 und 411.

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gungsanspruch sowie bei der Definition des Arbeitnehmers zu beachten. Eine Korrektur der Regelordnung auf breiterer Front ist hingegen weder versucht worden, noch ist ein derartiger Versuch zu erwarten. Die verschiedenen Versuche, ein Arbeitsgesetzbuch zu schaffen, waren alle aufgrund der Widerstände verschiedener Interessengruppen vergeblich.180 Zudem beschränkten sie sich im wesentlichen auf die Festschreibung der bisher durch die Rechtsprechung entwickelten Regeln. Ein Versuch, die vielen mit negativen Gesamtwirkungen belasteten Richterregeln zu reformieren, wäre wegen starker Widerstände von Interessengruppen und politischer Unbeliebtheit aussichtslos. Zudem würde der Versuch, den Einfluss der Rechtsprechung auf die Rechtsfortbildung und damit die Wirkung des bias zurückzudrängen, voraussetzen, dass ein Wandel des Arbeitsrechts dahingehend erfolgen würde, dass nur noch klare und handhabbare Regeln durch die Legislative gesetzt würden, dies ist aber eher unrealistisch. Zudem ist die Vielschichtigkeit und wohl auch die Veränderungen in der Art der Beschäftigungsverhältnisse zu groß, als dass das Gesetz ohne auslegungsfähige Generalklauseln und offene Tatbestandsmerkmale auskommen könnte. Diese sind aber notwendigerweise richterlicher Auslegung und Wertung offen, so dass sie von den Richtern ausgestaltet und in gewisser Weise auch umgestaltet werden können. Die detaillierte Regelung des gesamten bestandsschutzrechtlichen Bereichs durch den Gesetzgeber scheitert somit bereits an dem Informationsproblem, dass wir oben bereits bei den Problemen der Prozesspolitik angesprochen haben. Handeln, das aber auf der Annahme beruht, über ausreichende Informationen zur Feinsteuerung des Systems zu verfügen, wird zu unerwarteten Wirkungen führen, die meist unerwünscht sind.181 Es ist Rüthers182 recht zu geben, der in Anlehnung an Gamillscheg183 feststellt: „Das Richterecht ist unser Schicksal.“ Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass eine Einzelgesetzgebung (auf der Regelebene) allenfalls begrenzte Wirkung verspricht. Wenn aber das Richterrecht nicht ersetzt werden kann, reicht es nicht, einzelne richterrechtliche Regeln zu korrigieren, sondern man sollte dafür sorgen, dass die Tendenz und nicht nur deren Ergebnisse korrigiert werden.

c) Veränderungen der Regelerstellungsordnung Eine andere Möglichkeit, die Produktion ineffizienter Regeln durch die Rechtsprechung rückgängig zu machen oder zumindest aufzuhalten, wird deutlich, wenn man die Regelsetzung durch die Rechtsprechung wiederum selbst als Handeln einSiehe dazu Adomeit, K., S. 351 f. Zu dieser im wesentlichen auf Hayeks Gedanken beruhender Kritik siehe Tietzel, M. (1988), S. 86 f. 182 So Rüthers, B. gegenüber dem Handelsblatt (Handelsblatt vom 2. 6. 1997, S. 16). 183 Gamillscheg, F. (1964), S. 388. 180 181

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

zelner Richter unter einer übergeordneten Regelordnung, die wir in Kapitel 1 als Regelerstellungsordnung bezeichnet haben, betrachtet. Wendet man nun auf diese neue Sichtweise die Grundüberzeugung der Ordnungsökonomie, dass man nicht in die Handelsordnung eingreifen soll, sondern statt dessen besser die Regelordnung modelliert, an, so folgt daraus ganz selbstverständlich, dass man die Regelerstellungsordnung ändern muss, wenn man die Regelsetzung der Gerichte effizienter gestalten will. Praktische Erfahrungen wie die Veränderung der Regelerstellungsordnung auf die Bildung generell-abstrakter Normen durch die Rechtsprechung wirkt, gibt es, soweit ersichtlich, nicht. Eine solche Analyse dürfte auch nur sehr begrenzt möglich sein, da kaum abschätzbar ist, welche Regeln die Rechtsprechung aufstellen würde, wenn sie dies unter einer anderen Regelerstellungsordnung täte. Insoweit ist auch die richterrechtliche Setzung von Regeln ein offener Prozess. Aus diesem Grunde müssen sich die folgenden Ausführungen auch auf Musteraussagen, d. h. der Angabe von Wirkungsrichtungen beschränken. Aber wir haben ja bereits oben festgestellt, dass die Gestaltung des Regelrahmens immer ohne Zielgarantie erfolgt, d. h. das Endergebnis erst durch die Vielzahl der Einzelentscheidungen der Akteure zustande kommt – hier also die tatsächliche Rechtslage erst durch die Urteile einer Vielzahl von Richtern. Die Vorteile einer Änderung der Regelerstellungsordnung liegen meines Erachtens nach auf der Hand. Zuerst einmal sind sehr viel weniger Informationen für eine Veränderung durch die Legislative erforderlich. Will man die richterlichen Tendenzen mittels Einzelgesetzgebung ändern, muss jede neue Vorschrift genauestens auf mögliche Wirkungen auf die Handelnsordnung und Ausgestaltungen durch die Rechtsprechung analysiert werden, was wegen der komplexen Zusammenhänge nur schwer möglich ist. Bei der Änderung der Regelerstellungsordnung muss hingegen nur die Grundtendenz der Rechtsprechung geändert bzw. ergänzt (Beachtung von Interessen Stellensuchender) werden. Die genaue Ausgestaltung und ggf. Änderung der Regelungen kann den Richtern überlassen werden. Diese können dabei ihre Erfahrungen mit der Lösung von konkreten Problemen nutzen und dann eventuell mit zu berücksichtigenden Folgewirkungen ergänzen. Auch ist die dabei den Gerichten zufallende Rolle realistischer. Ihr Handlungsraum wird nicht eingeschränkt, sondern nur die bei der Ausgestaltung dieses Raumes zu beachtenden Faktoren und das Verfahren werden verändert. Zudem ist das Ansetzen an den Regelungen der Regelerstellungsordnung auch methodisch korrekter. Wenn, wie wir festgestellt haben, die Tendenz der Rechtsprechung aus drifts in diesem Bereich herrühren, ist es nur logisch, diese direkt bei der Entstehung auszugleichen und nicht nur ihre Wirkungen zu beheben. Die festgestellten drifts müssen folglich innerhalb der Regelerstellungsordnung bereinigt oder ausgeglichen werden. Neben der methodischen Korrektheit bringt dies einen weiteren Vorteil. Die Wahrscheinlichkeit für eine Einigung über eine Änderung in der Regelordnung sind normalerweise höher als eine solche über Än-

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derungen in der Handelsordnung.184 Für den politischen Bereich bedeutet dies, dass eine Einigung über die Regelerstellungsordnung im Normalfall leichter fallen wird, als über die Regelordnung selbst. Der Grund dafür ist, dass es für den einzelnen Betroffenen schwerer ist einzuschätzen, wie er direkt von einer Änderung der Regelerstellungsordnung beeinflusst wird, als abzuschätzen, ob eine Änderung der Regelordnung für ihn günstig oder ungünstig ist. Aus diesem Grunde ist es wahrscheinlicher, dass das langfristige konstitutionelle Interesse gegenüber kurzfristigeren rein individuellen Interessen das Übergewicht erhält. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass das geeignetste Mittel zum Ausgleich richterlicher Tendenzen die Veränderung der Regelerstellungsordnung ist. Dies schließt allerdings nicht aus, dass durch Einzelgesetze einige der problematischsten richterrechtlichen Regeln abgeändert werden. Dies würde, soweit es sich durchsetzen lässt, natürlich auch eine schnellere Abhilfe gewährleisten, da die Wirkung nicht auf die allmähliche Entwicklung der Rechtsprechung angewiesen wäre. Zudem erscheint auch ein Appell an die Rechtsprechung nicht unangemessen, da dieser zumindest zu einer zeitweisen Schärfung des Problembewusstseins führen könnte.

3. Konkrete Ansätze zum Ausgleich der einzelnen drifts Wenn nunmehr feststeht, dass eine Veränderung der Regelerstellungsordnung das geeignetste Mittel ist, sollen im Folgenden noch einige konkrete Ansätze zur Änderung der Regelordnung vorgestellt werden.

a) Ausgleich der proceeding drift Wie oben dargelegt, beruht die proceeding drift auf der nicht ausreichenden Berücksichtigung der Tatsachensicht und der Interessen von Drittbetroffenen. Drittbetroffene sind im Rahmen des Bestandsschutzes insbesondere Erwerbssuchende. Der Ausgleich dieser drift ist problematisch. Ein Weg zur Verringerung der proceeding drift dürfte die verstärkte Berücksichtigung von Rechtsfortbildungstatsachen und eventuell die Einschränkung der Parteiherrschaftsmaxime sein, die Hergenröder fordert [Abschnitt C. I. 2.]. Da diese Maßnahmen aber allenfalls für das BAG in Frage kommen, die proceeding drift aber in allen Instanzen auftaucht, reicht dies zur Beseitigung der drift nicht aus. Eine Alternative und Ergänzung dazu wäre, wenn man durch ein Gesetz festlegen würde, dass die Arbeitsgerichte bei der Entscheidung in Bestandschutzangelegenheiten auch die Interessen der Arbeitsuchenden berücksichtigen müssen. Zwar wäre damit das Grundproblem, dass kein Arbeitsuchender bei einem konkre184

Vgl. z. B. Brennan, G. / Buchanan, J. (1993), S. 23.

22 von Klitzing

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ten Verfahren beteiligt ist, nicht beseitigt, aber eventuell ließe sich damit immerhin erreichen, dass die Arbeitsgerichte vermehrt ihre Interessen bei der Gesetzesauslegung berücksichtigen. Dies würde meines Erachtens auch den richtig verstandenen Anforderungen des BVerfG entsprechen, dass die Berücksichtigung von Interessen Arbeitsuchender schon mehrfach angesprochen hat [siehe dazu oben Abschnitt B. II. 2. a)]. Auch würde dies der Berufsfreiheit der Arbeitsuchenden, die durch Art. 12 GG geschützt ist, besser gerecht werden. Insgesamt lässt sich aber wohl die proceeding drift nicht vollständig beseitigen.

b) Ausgleich der social drift In Abschnitt B. II. 2. b) wurde festgestellt, dass die social drift von der Dominanz der Einzelfallbetrachtung und damit einhergehend der Vernachlässigung der Folgen für die Allgemeinheit bei der richterlichen Regelbildung verursacht wird. Ein Ausgleich der social drift würde also voraussetzen, dass die Folgen der Entscheidung für die Allgemeinheit stärkere Berücksichtigung bei der Regelbildung finden. Ein Ansatz dazu könnte die bereits erwähnte Einbeziehung von ,legislativen facts‘ in Prozesse mit rechtsfortbildendem Charakter sein, die Hergenröder fordert und die wir bereits in Abschnitt C. I. 2. diskutiert haben. Eine solche Berücksichtigung von ,legislativen facts‘ reicht aber keinesfalls aus. Einerseits beginnt die Rechtsfortbildung bereits bei den einfachen Prozessen in den unteren Instanzen, wo eine Berücksichtigung nicht möglich sein dürfte, zudem fehlt ein Bindeglied zwischen den facts und der Entscheidungsfindung. Wenn ,legislative facts‘ berücksichtigt werden sollen, hat dies nur einen Sinn, wenn sie zur Abschätzung der Folgen der Regelbildung herangezogen werden und somit gewissermaßen das Interesse der Allgemeinheit an einer wünschenswerten Regelbildung repräsentieren. Für die Abschätzung der Folgen ist der Richter aber nicht ausgebildet worden. Eine Einbeziehung des Interesses der Allgemeinheit in den Prozess, und damit die Abkehr von der Einzelfallgerechtigkeit als alleinigem Ziel, kann daher nur sinnvoll verwirklicht werden, wenn die Ausbildung der Juristen geändert bzw. ergänzt wird. Zuerst müssen die Richter die Fähigkeiten haben, die Folgen einer Entscheidung abzuschätzen, bevor man eine solche Folgenorientierung verlangen kann. Mit einer Folgenorientierung und ihrer eventuellen Einbeziehung in den Prozess hat sich die deutsche Rechtswissenschaft aber nur sehr begrenzt beschäftigt. Ein Schritt zur ordnungsökonomisch sinnvollen Folgenorientierung könnte vielleicht die Einbeziehung der Grundzüge der ökonomischen Analyse des Rechts in die Ausbildung darstellen. Zwar geht diese von einem anderen, meines Erachtens nach zu eng definierten Effizienzbegriff aus [siehe Abschnitt A. I. 1.], aber es wäre ein erster Schritt auf dem richtigen Weg. Da diese den Juristen einen Einblick in die möglichen Folgen und die Steuerungswirkung des Rechts geben und die Interessen der Allgemeinheit als Abwägungsparameter etablieren könnte.

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Für die Möglichkeit und die praktische Ausgestaltung der Einbeziehung der ökonomischen Analyse des Rechts in die Juristenausbildung könnten als Vorbild die USA dienen, wo sie ein fester Bestandteil der Ausbildung ist und in zunehmenden Maße auch die Rechtspraxis beeinflusst.185 Fraglich ist jedoch, ob nicht andere Erwägungen einer Ergänzung der in den Richterspruch einfließenden Interessen um das Gemeinwohlkriterium entgegenstehen. Als Argumente gegen eine Ergänzung werden vor allem vorgebracht, den Richtern fehle die notwendige Legitimation und die erforderliche Kompetenz.186 Zudem muss im Zusammenhang mit der notwendigen Legitimation wohl auch die Gefahr der Politisierung der Rechtsprechung angesprochen werden.187 Es wird kritisiert, zur Folgenberücksichtigung fehle dem Richter die Legitimation, da die Verantwortung für die Folgen der Gesetzgebung allein beim Gesetzgeber lägen. Der Richter dringe in den Funktionsbereich der Gesetzgebung ein, wenn er Folgen berücksichtige, und verletze die Gesetzesbindung und die Gewaltenteilung. Diese Einwände gehen überwiegend davon aus, dass dem Richter ein weiterer oder zusätzlicher Handlungsspielraum eröffnet wird. Nach der hier vertretenen Auffassung soll gerade dies aber nicht geschehen. Es geht nicht darum, den Richter von der Bindung an das Gesetz zu lösen oder den Vorrang des Gesetzgebers zu unterlaufen. Es geht nur darum, dem Richter bei der Deutung der Gesetze, ein weiteres Hilfsmittel an die Hand zu geben,188 das Fehlentwicklungen, die durch Richter selber verursacht werden, verhindert oder deren Häufigkeit verringert. Es soll nur der dem Richter vom Gesetzgeber zugewiesene Spielraum besser ausgefüllt werden. Der Gesetzgeber wird weder kontrolliert noch korrigiert. Im Gegenteil wäre es meines Erachtens nach wünschenswert, den Spielraum der Richter zu verengen. Ein Ansatz dazu wurde bereits angesprochen [Kap. 3 Abschnitt B. III. 2.]. Mit dieser Einschränkung würde man auch der Gefahr einer weitergehenden Politisierung der Richter entgegenwirken. Zudem dürfte es nicht zu einer stärkeren Politisierung beitragen, wenn man nur bestehende Eigentendenzen der Rechtsprechung im Sinne einer neutralen, alle Interessen (auch die der Allgemeinheit) berücksichtigenden Regelbildung, ausgleicht. Der Einwand der mangelnden Kompetenz bezieht sich darauf, dass der Richter weder durch die Ausbildung noch durch andere Hilfsmittel (in Form von Mitarbeitern oder der Möglichkeit, Gutachten einzuholen) in der Lage ist, die Folgen seiner Entscheidung abzuschätzen.189 Dieser Einwand ist insofern berechtigt, als es Siehe hierzu Eidenmüller, H. (1995), S. 404 ff. Eidenmüller, H. (1995) S. 486 ff. Ausführlich Larenz, K. (1991), S. 150 und 231 ff. oder Grimm, D. (1995), S. 144 ff. 187 Siehe hierzu den oben zitierten Stern, K. (1984), Bd. 4, § 20, S. 801. 188 Grimm, D. (1995), S. 145. Im übrigen ist auch das BVerfG, dessen Mitglieder von Bundestag und Bundesrat gewählt werden, demokratisch legitimiert. (Vgl. v. Hippel, E. (1992), S. 135). 189 Eidenmüller, H.(1995), S. 427 f. 185 186

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

sicherlich notwendig ist, die Ausbildung der Richter (wie oben beschrieben) zu ergänzen. Trotzdem wird man sie nicht zu Wirtschaftsexperten machen können und ihnen stehen auch nicht die Möglichkeiten des Gesetzgebers in Bezug auf Gutachten, Sachverständigenanhörungen etc. zur Verfügung, auch wenn man diese Hilfsmittel zumindest dem BAG, wie oben angesprochen, vermehrt zur Verfügung stellen könnte. Die Berücksichtigung wirtschaftlicher Folgen durch die Richter soll aber auch nicht den Gesetzgeber bei deren Berücksichtigung ersetzen, sondern nur ergänzen. Es ist sicherlich besser, wenn die Richter die wirtschaftlichen Folgen ihrer Entscheidungen, wenn auch nicht vollständig, mit bedenken, als wenn sie blind für die Folgen handeln und dann häufig das Gegenteil des gewünschten Resultates bewirken (Bumerangeffekt).190 Zudem könnten die begrenzten Fähigkeiten der Juristen im Bereich der Folgenabschätzung gemildert werden. Öffnet man den Bereich der juristischen Regelbildung für Folgenberücksichtigungen, so verstärkt dies sicherlich auch den Austausch der Fachbereiche. Wenn insbesondere wirtschaftliche Zusammenhänge bei der Regelbildung zunehmend berücksichtigt würden, ergäbe sich auch ein stärkerer Anreiz für Wirtschaftler, sich mit der juristischen Regelsetzung und für Juristen sich mit den wirtschaftlichen Folgenabschätzungen zu beschäftigen. Außerdem wird von den Richtern nicht verlangt, dass sie die genauen Folgen ihrer Urteile voraussehen, sondern nur, dass sie einige ordnungspolitische Prinzipien beachten. Dies dürfte auch für wirtschaftlich nicht perfekt ausgebildete Richter möglich sein, da die ordnungspolitischen Prinzipien auf recht einfachen, einsichtigen Gedankengängen beruhen. Die Einbeziehung der Interessen der Allgemeinheit in das richterliche Entscheidungskalkül wäre auch eine sinnvolle Fortführung der Interessenjurisprudenz im Sinne von Ihering, Heck und Stoll.191 Als Ergebnis dieses Abschnitts sollte feststehen, dass sich die social drift durch eine verstärkte Folgenberücksichtigung, die einerseits in der Verfahrensordnung, insbesondere aber der Ausbildung der Juristen zu implementieren wäre, ausgleichen oder zumindest abmildern ließe.

c) Ausgleich der constitutional drift Wie wir oben festgestellt haben, ist die constitutional drift die Folge der Offenheit des Sozialstaatsgebotes und in gewissem Maße auch dessen einseitiger Anwendung. Zudem fehlt das Prinzip der Marktmäßigkeit im Grundgesetz. Die logische Folge wäre, zum Ausgleich die Offenheit des Sozialstaatsprinzips einzuschränken, dessen einseitige Anwendung zu beseitigen und / oder die Marktmäßigkeit im Grundgesetz festzuschreiben. 190 Besonders deutlich ist diese Kontraproduktivität bei der Rechtsprechung „zugunsten“ bestimmter sozialer Problemgruppen [siehe oben Kapitel 3 insbesondere Abschnitt B. II. 4]. 191 Lehmann, M. (1988), S. 387. Zur Diskussion über die ökonomische Analyse des Rechts siehe die Diskussion zwischen Ott, C. / Schäfer, H. und Fezer, K. (1988), S. 213 – 229.

C. Möglichkeiten zur Verbesserung der Rechtsprechungsergebnisse

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Die erste Alternative ist jedoch unwahrscheinlich. Wenn man die Bedeutung des Sozialstaatsprinzips und der sog. Sozialen Gerechtigkeit in der öffentlichen Diskussion verfolgt, erscheint es unrealistisch, anzunehmen, dass eine Einschränkung dieses Grundsatzes möglich ist. Zudem ist es wohl auch von der Begrifflichkeit nicht ganz einfach, eine klare Abgrenzung für den Begriff sozial zu finden. Eine nicht mehr so einseitige Anwendung des Sozialstaatsprinzips, nur im Hinblick auf den Einzelfall, würde wohl schon in gewissem Maße durch die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Beseitigung der proceeding- und der social drift bewirkt werden. Insbesondere die Berücksichtigung der Interessen der Arbeitsuchenden, die Einbeziehung von ,legislativen facts‘ und die Folgenorientierung dürften einer Anwendung des Sozialstaatsprinzips nur im Hinblick auf den Einzelfall und die Vernachlässigung der Anwendung im Hinblick auf die Folgen einer Regel entgegenwirken. Die weitere Möglichkeit, die constitutional drift zu begrenzen oder gar auszugleichen, könnte in der Aufnahme der Marktwirtschaft bzw. der sozialen Marktwirtschaft als Wirtschaftsverfassung ins Grundgesetz liegen. Die Verwirklichung einer solchen Maßnahme scheint auch nicht von vornherein aussichtslos. Im Gegenteil wird in letzter Zeit wieder verstärkt die verfassungsrechtliche Absicherung der freiheitlichen Wirtschafts- und Finanzverfassung diskutiert.192 Zudem ist die Soziale Marktwirtschaft seit mittlerweile 30 Jahren – seit dem Godesberger Programm der SPD – die praktisch unumstrittene Wirtschaftsform der Bundesrepublik Deutschland. Aus dieser Perspektive heraus scheint auch die Aufnahme des Prinzips der ,Sozialen Marktwirtschaft‘ bzw. der Marktwirtschaft, da ja die Sozialstaatlichkeit bereits verankert ist, durchaus im Rahmen des Möglichen. Zudem ist die Soziale Marktwirtschaft durch den Staatsvertrag der Bundesrepublik Deutschland mit der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990 zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion erstmals gesetzlich fixiert worden. Die Aufnahme der Marktwirtschaft ins Grundgesetz könnte, wie oben bereits angesprochen, natürlich nicht nur mit einer drift in dem verhältnismäßig kleinen Bereich des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes begründet werden, sondern setzt zumindest eine Gesamttendenz in der Rechtsprechung voraus. Ausgehend von der Annahme, dass die constitutional drift auch in anderen Bereichen der Rechtsprechung wirkt und der Grund für diese Tatsache darin zu suchen ist, dass nur zwei grundlegende Prinzipien unserer Wirtschaftsordnung im Grundgesetz ausdrücklich verankert sind, liegt es nahe, das fehlende Prinzip der Marktmäßigkeit ebenfalls in das Grundgesetz aufzunehmen.193 Dem steht nicht entgegen, dass von namhaften Vgl. dazu Klein, F. / Schmidt-Bleibtreu, B. (1999), Einl. RN 60 ff. Dieser Vorschlag mag der Kritik Hayeks am „konstruktivistischen Rationalismus“ unterliegen, obwohl es eigentlich nur eine Festschreibung der spontan entstandenen Marktordnung ist. Jedenfalls ist der Kritik Buchanans an Hayek zuzustimmen: „But man must look on all institutions as potentially improvable. Man must adopt the attitude that he control his fate.“ (Buchanan, J. (1977), S. 38). Siehe dazu auch Vanberg, V. (1981), S. 35 – 41. 192 193

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

Staatsrechtlern die Auffassung vertreten wird, dass das Grundgesetz zwar nicht die soziale Marktwirtschaft als solche vorschreibe, im Endeffekt aber keine andere Wirtschaftsform zulasse. Insbesondere die Grundrechte der Art. 2, 9, 12 und 14 GG ließen keine andere Wirtschaftsform zu.194 Dies trifft zwar sicherlich zu, erübrigt aber nicht die Aufnahme dieses Grundsatzes in die Verfassung. Zwar würde eine grundsätzliche Abschaffung der Marktwirtschaft gegen viele Bestimmungen der Verfassung verstoßen, aber in der täglichen Arbeit der Gerichte und in gewisser Weise auch des Gesetzgebers können die einzelnen Grundrechte, die im Endeffekt eine Marktwirtschaft erfordern, nicht die gleiche Wirkung entfalten, wie eine Niederlegung des Prinzips ,Marktwirtschaft‘ selber. Den Unterschied zwischen der Wirkung der einzelnen Grundrechte und der Marktwirtschaft selber hat Rupp195 sehr gut beschrieben: „Die verfassungsrechtliche Fundierung der Sozialen Marktwirtschaft bedeutet aber auch nicht die bloße arithmetische Summe der investierten grundrechtlichen Individualfreiheiten. ( . . . ) Das Markt- und Wettbewerbssystem ist indessen keine statische Größe, sondern ein überaus lebendiger und dynamischer Prozess, der – ähnlich der politischen Demokratie – einer system- und prozessbezogenen Sicherung des Verfassungsrechtes bedarf. Denn das eigentliche der verfassten Freiheit der Gesellschaft, nämlich der Prozess des Ineinandergreifens, Agierens, Reagierens, Entdeckens, Lernens und vernunftgemäßen Handelns bedarf gerade wegen des prozeßhaften Charakters des Marktes eines spezifischen Schutzes.“ Der so beschriebene ,spezifische Systemschutz‘ hätte sowohl für die Rechtsprechung als auch für die Gesetzgebung weitreichende Folgen. Im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip bedeutet ein Systemschutz durch das Grundgesetz, dass der Staat an Grenzen gebunden ist. Der ,öffentliche Zweck‘ einer die geschützten freiheitlichen Verfahren der Gesellschaft tangierende staatliche Maßnahme ist dann noch keine Rechtfertigung ihrer selbst, vielmehr muss der Zweck der Maßnahme notwendig und das Mittel i. d. S. verhältnismäßig sein, dass die Aufgabe in gleicher Weise und hinreichendem Umfang ohne den eingesetzten staatlichen Zwang von der Gesellschaft und ihren Mechanismen nicht selbst erfüllt werden kann.196 Die praktische Bedeutung eines solchen Systemschutzes lässt sich sehr gut an anderen Prinzipien ersehen, denen durch das Grundgesetz und die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung Systemschutz gewährt wird. Beispiele hierfür sind etwa die Presse- und Meinungsfreiheit oder auch die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. In diesen Bereichen ist nicht nur die Ausübung des Rechts selber, sondern der ganze Prozess, z. B. der Meinungsbildung, geschützt. Eingriffe des Staates sind dabei nur in sehr engen Grenzen und zum Schutz ganz bedeutender anderer Prinzipien zulässig. 194 195 196

Recht ausführlich dazu Klein, F. / Schmidt-Bleibtreu, B. (1999), Einl. RN 60 ff. Rupp, H. (1997), § 203 RN 25. Vgl. ebenfalls Rupp, H. (1997), § 203 RN 26, der sich zudem auf Isensee beruft.

C. Möglichkeiten zur Verbesserung der Rechtsprechungsergebnisse

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So könnten die Gerichte zukünftig bei Gesetzesauslegungen auch das Prinzip der Marktmäßigkeit berücksichtigen. Dieses Prinzip könnte im Idealfall, ähnlich dem Sozialstaatsprinzip, vielfach interpretationsleitend sein. Der Richter müsste unter mehreren möglichen Auslegungen des Gesetzes diejenige wählen, die dem Marktmechanismus am ehesten entspricht.197 Bei der Rechtsfortbildung wäre der Schutz des marktwirtschaftlichen Prozesses zu berücksichtigen und könnte gegenüber anderen wie z. B. dem Sozialstaatsprinzip abgewogen werden. Erforderlich für die konkrete Berücksichtigung wäre natürlich, dass die Einzelelemente der Marktwirtschaft bzw. der Sozialen Marktwirtschaft rechtlich handhabbar aufgearbeitet würden und damit für Gerichte anwendbar werden. Eine solche Aufarbeitung könnte man aber getrost der Rechtsprechung und Lehre überlassen, da die Festschreibung eines Prinzips in der Verfassung einen ausreichenden ,kommunikativen Impuls‘198 für die Lehre und Rechtsprechung setzen würde. Zudem wurde bereits mit der Formulierung der Grundsätze der deutschen Wirtschaftsordnung im Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sowie dem Einigungsvertrag vielversprechende Ansätze gemacht, die Ausgangspunkt für eine Präzisierung durch Rechtsprechung und Lehre sein könnten. Insgesamt würde zudem durch die Festschreibung der Marktwirtschaft der Bedeutung des Sozialstaatsprinzip in der Rechtsprechung ein ausgleichendes Gegengewicht zur Seite gestellt.199 Die „constitutional drift“ würde ausgeglichen. Mit Hilfe dieses Maßstabes und Auftrages könnte das BVerfG möglicherweise die wirtschaftliche Grundordnung ähnlich effektiv schützen, wie es dies mit der politischen Grundordnung schon jetzt tut. So ist die Ausgestaltung und der Schutz der politischen Grundrechte (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit etc.) sehr weitgehend,200 so dass Denninger bereits sagt: „Der Leviathan, der furchtbar – furchterregende, ist alt geworden. Er wird sich mit der Rolle als nützliches Haustier abfinden müssen.“201 Diese Zähmung ist allerdings allenfalls im politischen Bereich erkennbar. Im wirtschaftlichen Bereich ist das Gegenteil feststellbar. Der Staat greift in immer mehr Bereiche und immer intensiver ein.202 Es sollte daher in Betracht gezogen werden, die wirtschaftlichen Handlungsfreiheiten des Bürgers verstärkt gegen Eingriffe des Staates zu schützen. Ein großer Schritt auf diesem Weg wäre die Festschreibung des Prinzips der Marktmäßigkeit im Grundgesetz. Vgl. Karpen, U. (1988), S. 55 zum Sozialstaatsprinzip. Diesen Ausdruck benutzt Rupp, H. (1997), § 203, RN 26. 199 Die Verankerung des Prinzips der Marktmäßigkeit hätte auch Auswirkungen auf die juristische Ausbildung, die in Richtung des Ausgleichs der social-drift wirken würde. 200 So kommt sogar vermehrt Kritik auf, dass das BVerfG den Gesetzgeber zu sehr einschränke und sich so zum „Gesetzgeber des Gesetzgebers“ aufschwinge. (Siehe v. Hippel, E. (1992), S. 134). 201 Denninger, E. (1990), S. 29. 202 Vgl. Dettinger, W. (1980), S. 8 f. und auch Buchanan, J. (1984), S. 230 ff. 197 198

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5. Kap.: Mangelnde ordnungspolitische Rationalität der Rechtsprechung

Möglicherweise ließe sich auf diesem Weg das BVerfG sogar zu einer Art ,Miniersatz‘ für die von Hayek geforderte weitere Kammer des Parlaments machen,203 welches die „constitutional interests“ der Bürger stärker wahrnimmt.204 Dafür würde sprechen, dass Richter generell „institutionell isoliert“ sind205 oder wie es Posner ausdrückt, „. . . sind die Regeln des Gerichtsverfahrens sehr sorgfältig so angelegt, dass der Richter daran gehindert wird, aus der Entscheidung eines Falls in dieser oder der anderen Richtung einen geldwerten Vorteil zu ziehen; zudem minimieren diese Verfahrensregeln den Einfluss politisch wirksamer Interessengruppen auf die richterliche Entscheidung.“206 Sie sind somit weniger anfällig für „speziell interest legislation“ und „rent-seeking“-Verhalten von großen Interessengruppen.207 Wie Rupp zeigt, bestehen einige weitere Ähnlichkeiten zwischen dem BVerfG und den Voraussetzungen für eine „Hayeksche Kammer“ (z. B. lange Amtszeit der Mitglieder, Kontinuität des Spruchkörpers etc.).208 Sicherlich kann das BVerfG aber nicht alle Aufgaben einer Hayek’schen Kammer übernehmen. Insbesondere muss die Gesetzgebung natürlich vollständig in der Hand der Parlamente bleiben, da ansonsten das BVerfG die Einhaltung der selbst erstellten Gesetze überprüfen müsste, und damit fast allmächtig würde. Zudem ist auch in diesem Fall die ,judical self-restraint‘ gefordert, die bereits mehrfach angesprochen wurde. Möglich ist es jedoch, das BVerfG zur Absicherung der wirtschaftlichen Grundordnung gegen innere Aushöhlung einzusetzen. Dies wäre ein weiterer großer Schritt zur Zähmung des Leviathan. Voraussetzung dafür ist die geforderte Grundgesetzergänzung um das Prinzip der Marktmäßigkeit. Unabhängig von der vielleicht etwas zu weit führenden Diskussion bzgl. der Zweiten Hayek’schen Kammer bleibt festzustellen: Die constitutional drift ließe sich durch Aufnahme der Marktmäßigkeit (Marktwirtschaft) ins Grundgesetz begrenzen oder gar neutralisieren. Die Voraussetzung für eine so weitgehende Maßnahme ist aber zumindest, dass sich ähnliche bias auch in anderen Rechtsbereichen zeigen.

Siehe dazu v. Hayek, F. (1969), S. 57 ff. Eine Tendenz zur Ausfüllung dieser Aufgabe durch das BVerfG sieht Rupp, H. (1979), S. 100 ff. 205 Picker, E. (1988), S. 71. 206 Posner, R. (1977), S. 415; Übersetzung aus Assmann, H. (1978), S. 365. 207 Siehe dazu Posner, R. (1977), S. 409 ff. 208 Rupp, H. (1978), S. 93 ff. insbesondere S. 102. 203 204

Zusammenfassung und Schlussbemerkungen Die Leitidee für diese Arbeit bestand darin, dass die Verbindung von Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft nützlich und notwendig ist, um eine optimale Regelbildung im Interesse der Bürger eines Gemeinwesens zu ermöglichen. Aus dieser Idee heraus wurde der Bestandsschutz als Thema der Untersuchung gewählt, da dieser eine der wichtigsten institutionellen Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt darstellt und auf dem Arbeitsmarkt zur Zeit schwere Defizite festzustellen sind. Die Analyse erfolgte dabei aus ordnungsökonomischer Sicht, weshalb auch die Ordnungsebenen unseres Wirtschaftssystems dargestellt wurden. Dabei wurde zwischen der Regelerstellungsordnung, der Regelordnung und der Handelnsordnung unterschieden. Die eigentliche Untersuchung begann damit, dass die geltende Rechtslage dargestellt wurde. Die gesetzlichen Regelungen und die Ausgestaltung und Fortbildung durch die Rechtsprechung wurden dabei getrennt vorgestellt. Als Begründung dafür wurde festgestellt, dass die gesetzlichen Vorschriften des Bestandsschutzes zusammen mit z. B. solchen der Prozessordnung und der Verfassung zugleich die Regelerstellungsordnung für die Regelsetzung durch den einzelnen Richter sind. Die Rechtsprechung bzw. deren Ergebnisse wiederum stellen den Regelrahmen für die einzelnen Wirtschaftsubjekte dar. Die Analyse der Rechtsprechung ergab, dass das Bestandsschutzsystem ganz wesentlich durch die Regelsetzung der Rechtsprechung geprägt ist. Es wurde eine eigene Tendenz der Rechtsprechung zur Verstärkung der Arbeitnehmerrechte festgestellt, die so nicht in den gesetzlichen Regeln des Bestandsschutzes angelegt ist. Diese Tendenz hat zu einer kontinuierlichen und sehr erheblichen Verstärkung der Rechte des einzelnen Arbeitnehmers geführt. Bereits die Feststellung einer eigenen Tendenz der Rechtsprechung ist dabei eine gewisse Überraschung, da eine Eigendynamik der Judikativen bei der Regelsetzung in der Volkswirtschaftlichen Theorie nicht oder nur selten behandelt wird. Dementsprechend gibt es bisher auch keinen Ansatz, der eine hinreichende Erklärung des Verhaltens des einzelnen Richters bietet und für eine Erklärung der eigenen Tendenz der Rechtsprechung herangezogen werden könnte. Im Anschluss an die Darstellung der geltenden Regeln des Bestandsschutzes wurden diese ordnungsökonomisch untersucht. Ziel der Analyse war es dabei zu bewerten, ob die zur Zeit geltenden Regeln im (konstitutionellen) Interesse der ihnen unterworfenen Bürger liegen. Dazu wurde zunächst untersucht, warum der Staat überhaupt mit Regelungen auf dem Arbeitsmarkt eingreift und insbesondere

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Zusammenfassung und Schlussbemerkungen

den Bestandsschutz nicht der Regelung der Arbeitsvertragsparteien überlässt, wie es eigentlich dem Leitbild der dezentralen Koordinations- und Planungsmechanismen, das unsere Wirtschaftsordnung prägt, entspräche. Das Ergebnis der Analyse war, dass keine durchgreifenden Rechtfertigungsgründe für einen starken Bestandsschutz ersichtlich sind. Allenfalls ein reiner Willkürschutz lässt sich aus der Möglichkeit opportunistischen Verhaltens des Arbeitnehmers und einem gewissen Verhandlungsübergewicht des Arbeitgebers in Situationen mit hoher Arbeitslosigkeit rechtfertigen. Danach wurde untersucht, welche konkreten Folgen die bestehenden Bestandsschutzregeln auf die Handelnsordnung und damit das Wirtschaftsgeschehen haben. Um für die Herleitung dieser Folgen einen Maßstab zu haben, wurden dabei die Grundprinzipien unseres Wirtschaftssystems – Marktmäßigkeit, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit – als Referenzsystem verwendet. Die festgestellten Abweichungen der geltenden Regeln von diesen Grundprinzipien wurden auf ihre Folgen untersucht. Dabei war auffällig, dass die einzelnen Grundprinzipien zwar bereits durch die gesetzlichen Regeln beeinträchtigt werden, aber vor allem die Auslegung und Fortbildung der gesetzlichen Regeln durch die Rechtsprechung die grundlegenden Prinzipien der Wirtschaftsordnung vielfach durchbrechen. Die Folgen der Beeinträchtigung und Durchbrechung der grundlegenden Prinzipien lassen sich wie folgt zusammenfassen: Besonders einschneidend und intensiv ist die Abweichung der geltenden Regeln vom Prinzip der Marktmäßigkeit. Die Abweichung ergibt sich dabei insbesondere aus der Beschränkung der Beendigungsfreiheit. Die Folge besteht in einer erheblichen Kostenbelastung der Arbeitgeber, die zu einem zurückhaltenden Einstellungsverhalten, insbesondere in Bezug auf Randarbeitsplätze, führt. Aus diesem Grunde ist im Bereich des Arbeitsmarktes ein trade-off zwischen sozialer Sicherheit für den einzelnen beschäftigten Arbeitnehmer in Form des Bestandsschutzes und der Anzahl der Arbeitsplätze zu beobachten. Daneben führt das rigide Bestandsschutzsystem zu einer Umgehung der geltenden Regeln, die zur Erosion des Normalarbeitsverhältnisses beiträgt. Darüber hinaus werden die Selektionsmechanismen für die Auswahl von Arbeitnehmern verändert. Durch die Regeln des Bestandsschutzes wird bei Kündigungen das Leistungsprinzip weitgehend durch das Bedarfsprinzip ersetzt. Dies hat wiederum die Auswirkung, dass Arbeitgeber bei Einstellungen zunehmend Personen mit Risikomerkmalen aussortieren. Daraus folgt eine Benachteiligung gerade der Problemgruppen, die geschützt werden sollen (Bumerangeffekt). Weitere Folge der Abweichung vom Prinzip der Marktmäßigkeit ist eine mit der Verdünnung der Handlungsrechte einhergehende Verringerung des Marktwertes der Unternehmen, die sich wiederum auf die Durchführung von Investitionen und notwendigen Sanierungen negativ auswirkt. Daneben werden über die Beeinträchtigung des Preissystems und die Beschränkung der Außenseiterkonkurrenz die Lohnsetzungsspielräume der Insider erweitert, das Auftreten eines Sperrklinkeneffekts begünstigt und damit letztlich die Wahrscheinlichkeit von Hochlohnarbeitslosigkeit erhöht.

Zusammenfassung und Schlussbemerkungen

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Es sind insbesondere diese Abweichungen der geltenden Regeln des Bestandsschutzes vom Prinzip der Marktmäßigkeit, die wiederum eine Abweichung vom Sozialstaatlichkeitsprinzip bewirkt. Das geltende Bestandsschutzsystem hat insbesondere wegen der Nettobeschäftigungsverluste sowie der Bumerangeffekte negative Auswirkungen auf soziale Zielsetzungen. Allerdings wird der Schutz des einzelnen Arbeitnehmers mit Normalarbeitsverhältnis gegen existentielle Risiken im Vermögensbereich und gegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte weitgehend gewährleistet. Als Folgen einer Abweichung der bestehenden Regeln vom Prinzip der Rechtsstaatlichkeit wurden eine geringe Vorhersehbarkeit, Beständigkeit und Klarheit der Rechtsprechung festgestellt. Der Darstellung der Folgen, welche die Regeln des geltenden Bestandsschutzsystems haben, folgte die Bewertung der Regeln anhand der festgestellten Folgen. Bewertungsmaßstab war dabei das konstitutionelle Interesse der Bürger und damit die Frage, ob die zur Zeit geltenden Regeln in dem Sinne ordnungsökonomisch rational sind, dass sie den Bürgern optimale Möglichkeiten zur Verfolgung und Erreichung ihrer eigenen Interessen und Ziele bieten. Im Rahmen der Folgenabwägung wurde zunächst der Frage nachgegangen, ob es sich bei der Bewertung der Folgen der geltenden Regeln um einen trade-off zwischen den sozialen Vorteilen eines starken Bestandsschutzes und den wirtschaftlichen Vorteilen eines weniger starken handelt. Der Grund dafür war, dass im Hinblick auf die Abweichungen der geltenden Regeln vom Prinzip der Marktmäßigkeit und Rechtsstaatlichkeit für die Bürger nur nachteilhafte Folgen, in Bezug auf die Verwirklichung des Sozialstaatlichkeitsprinzips hingegen Vor- und Nachteile festgestellt wurden. Im Ergebnis stellten sich aber auch die Nachteile der geltenden Regeln in Bezug auf das Sozialstaatlichkeitsprinzip als bedeutender als die Vorteile heraus. Das Kernargument war dabei, dass die Vorteile in Form des Schutzes der Persönlichkeitsgüter des Arbeitnehmers und der Absicherung gegen existentielle Risiken im Vermögensbereich vor allem Arbeitnehmern mit Normalarbeitsverhältnis zu gute kommen. Diese Vorteile führen neben Nettobeschäftigungsverlusten aber dazu, dass die Arbeitgeber vermehrt Personen mit Risikomerkmalen ausselektieren und zudem viele Stellen nicht über den freien Markt, sondern an einen unternehmensinternen vergeben werden. Sie benachteiligen somit Arbeitsuchende und Arbeitnehmer ohne Normalarbeitsverhältnis. Die Abwägung ergab, dass es für neutrale Beobachter keinen Sinn macht, die relativ starke Gruppe der Arbeitsplatzbesitzer mit Normalarbeitsverhältnis zu Lasten der Problemgruppen des Arbeitsmarktes zu begünstigen. Es ist kaum anzunehmen, dass ein Individuum, welches nicht genau weiß, wie es selbst betroffen ist, derartigen Regel zustimmen würde. Auch wenn der Beurteilende hinter einem Schleier der Ungewissheit oder des Nichtwissens grundsätzlich auch die Chance hat, einer der Begünstigten zu sein, würde er voraussichtlich eine derartige Regel

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Zusammenfassung und Schlussbemerkungen

ablehnen, da die Kosten, die er als Benachteiligter hätte, wesentlich schwerer wiegen würden als die Vorteile als Begünstigter. Dies gilt insbesondere, da mit den Regeln des Bestandsschutzes auch noch Nettobeschäftigungsverluste und andere wirtschaftliche Nachteile verbunden sind, die wiederum über Abgabenbelastungen etc. auch die Gruppe der Begünstigten treffen. Hier scheint sich die Privilegierung bereits zum Nachteil der Privilegierten auszuwirken. ein Bumerangeffekt ist zu beobachten. Da auch in Bezug auf das Sozialstaatsprinzip die Nachteile der geltenden Bestandsschutzregeln die Vorteile überwiegen, handelt es sich bei der Bewertung der Folgen der geltenden Bestandsschutzregeln somit nicht um einen trade-off zwischen sozialen Vorteilen der Bestandsschutzregeln für die Arbeitnehmer und wirtschaftlichen Vorteilen eines wettbewerbsoffneren Systems. Vielmehr konnte das Fazit gezogen werden, dass durch die Abweichungen der geltenden Regeln von den grundlegenden Prinzipien unseres Wirtschaftssystems nachteilige Folgen sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht entstehen. Es besteht die Möglichkeit durch Anpassung der Regeln, eine für alle Bürger bessere Situation zu ermöglichen. Spieltheoretisch ausgedrückt besteht die Möglichkeit durch Anpassung der Spielregeln ein, für alle besseres Spiel zu spielen. Im Hinblick auf diese Bewertung wurde die Regelsetzung, insbesondere der Rechtsprechung, als ordnungsökonomisch irrational eingestuft. Diese Gesamteinschätzung wurde durch die Einzelanalyse der zehn wichtigsten Bereiche der richterlichen Regelbildung bestätigt. Danach tragen viele der richterrechtlichen Regeln zu den dargestellten, unerwünschten Ergebnissen der Handelnsordnung bei oder lösen diese sogar aus. Insbesondere das von der Rechtsprechung entwickelte ultima-ratio Prinzip verursacht die bereits bei der Gesamtanalyse des Bestandsschutzsystems aufgezeigten Folgen. Besonders deutlich wird dies bei der aus diesem Prinzip hergeleiteten Weiterbeschäftigungspflicht des Arbeitgebers. Sie stellt eine eindeutige Bevorzugung eines vorher Beschäftigten gegenüber einem Arbeitsuchenden dar. Auch die Folgen der erhöhten Kostenbelastung des Arbeitgebers und die Veränderung der Einstellungsbereitschaft wurde festgestellt. Auch hier fiel die Beurteilung der Regel dahingehend aus, dass sie nicht im konstitutionellen Interesse der Bürger liegt, da es sinnlos ist, gerade die schwächsten Gruppen mit wirtschaftlich notwendigen Anpassungen zu belasten, wenn damit auch noch Netto-Wohlfahrtsverluste für alle Jurisdiktionsmitglieder verbunden sind. Auch das Prinzip der umfassenden Interessenabwägung wurde als nicht wünschenswert eingestuft. Durch die umfassende Interessenabwägung wird eine rechtssicherheitsstiftende und erwartungsstabilisierende Präzedenzwirkung von richterrechtlichen Regeln weitgehend verhindert. Die Folge sind das Steigen des Risikos von Fehlentscheidungen der Bürger verbunden mit erhöhten Rechtsberatungs- und -durchsetzungskosten. Negativ fielen zudem die Bewertungen des Prognoseprinzips, der Erforderlichkeit einer Abmahnung bei verhaltensbedingter Kündigung, des Wiederbeschäfti-

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gungsanspruchs, der Änderungskündigungsrechtsprechung sowie der Regeln zu befristeten Arbeitsverträgen, zur Sozialauswahl und der Sozialplanpflicht aus. Die Gründe waren zumeist, dass einerseits eine wirtschaftliche Belastung der Betriebe wegen fehlender wirtschaftlicher Vorteile der Arbeitnehmer zu einem Netto-Wohlfahrtsverlust führt, und andererseits gerade die Problemgruppen des Arbeitsmarktes benachteiligt werden. Lediglich die weitverbreitete Abfindungspraxis und die Zulässigkeit der Arbeitnehmerüberlassung wurden als im Interesse der Bürger liegend eingeschätzt. Die Abfindungspraxis überwindet viele mit dem geltenden Bestandsschutzsystem verbundenen Nachteile wie die Höhe der Transaktionskosten, die Rechtsunsicherheit und problematische Selektionsmechanismen. Als freiwilliger Tausch der rechtlichen Position des Arbeitnehmers gegen eine finanzielle Abfindung wird unter den gegebenen Regeln der ökonomische Nutzen der Betroffenen maximiert und ist daher wünschenswert. Die Arbeitnehmerüberlassung hingegen ist insbesondere wegen ihrer Brückenfunktion für die Problemgruppen des Arbeitsmarktes wünschenswert. Die Allgemeinheit profitiert von einer höheren Wirtschaftsleistung und verminderten Sozialkosten. Um die Gründe für die in vielen Bereichen ordnungsökonomisch irrationale Regelbildung herauszufinden, wurde die Regelerstellungsordnung daraufhin untersucht, ob sie dazu beiträgt, dass die von den Richtern gebildete Regelordnung keine wünschenswerte Handelnsordnung bzw. Endergebnisse generiert. Als Gründe für die mangelnde ordnungsökonomische Rationalität der richterlichen Regelsetzung wurde einerseits das ungeeignete Verfahren, andererseits eine Tendenz zur Stärkung der Arbeitnehmerrechte ausgemacht. Das richterliche Verfahren ist ausschließlich auf die Entscheidung von Einzelfällen ausgerichtet. Deshalb kommt es bei der Setzung oder Ausgestaltung abstrakt-genereller Regeln zu schwerwiegenden Problemen, insbesondere bei der Ermittlung der ,richtigen‘ Entscheidungsgrundlagen und der Folgenbewertung einer beabsichtigten Regelung. Die Tendenz der Rechtsprechung, die Rechte des einzelnen Arbeitnehmers auszudehnen, konnte durch die Ermittlung von drei, hier so genannten, „drifts“ erklärt werden. Die proceeding drift folgt aus Beschränkungen des Prozessrechts, wie sie insbesondere der Verhandlungsgrundsatz darstellt. Der Richter muss bei seiner Entscheidungsfindung von einer eingeschränkten Sicht der Wirklichkeit ausgehen, wobei das Interesse Drittbetroffener nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt werden kann. Die Folge ist, dass die richterliche Rechtsfortbildung ganz überwiegend an den Interessen der Prozessbeteiligten nicht aber Drittbetroffener wie z. B. Arbeitsloser orientiert ist. Die zweite drift liegt in der juristischen Ausbildung und dem Rollenverständnis des Richters begründet. Beide sind auf die gerechte Einzelfallentscheidung ausgerichtet. Die Folge bei einer konkreten Entscheidung besteht darin, dass der Richter, wenn er ein eigenes Werturteil über die widerstreitenden Interessen der Prozessparteien abgeben muss, die existenzielleren Interessen des Arbeitnehmers tendenziell stärker gewichten wird als die des Arbeitgebers. Diese Tendenz wurde als social drift bezeichnet. Die dritte drift wurde entdeckt, als un-

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Zusammenfassung und Schlussbemerkungen

tersucht wurde, welche Werte der Richter seinen Entscheidungen zugrunde legt. Dabei wurde festgestellt, dass den Werten der Verfassung eine besondere Bedeutung zukommt. Aufgrund der ,Offenheit‘ des Sozialstaatsprinzips kommt es zur Überbetonung der sozialen Komponente unserer Grundordnung. Diese Tendenz wurde constitutional drift genannt. Da alle drei drifts auf eine Verstärkung der Rechte des einzelnen Arbeitnehmers hinauslaufen, bilden sie gemeinsam einen bias, der bewirkt hat, dass die Arbeitnehmerrechte von der Rechtsprechung kontinuierlich erweitert wurden. Als Abschluss der Arbeit wurden noch einige Möglichkeiten zur Verbesserung der Rechtsprechungsergebnisse diskutiert. Eine allgemeine Korrektur des Rechtsprechungssystems durch eine Veränderung der Regelerstellungsordnung ist dabei nur sinnvoll, wenn sich ähnliche Irrationalitäten und Tendenzen auch in anderen Bereichen der Rechtsprechung zeigen. Unter dieser Prämisse wäre eine klarere Dogmatik der richterlichen Regelsetzung wünschenswert, die sich am judical selfrestrain und bei der dennoch erforderlichen Rechtsfortbildung an § 1 ZGB orientierte, der besagt, dass der Richter beim Fehlen einer gesetzlichen Vorschrift nach Gewohnheitsrecht, und wo auch ein solches fehlt, nach der Norm zu entscheiden hat, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Daneben könnte man eine Einschränkung der Maxime von der Parteiherrschaft und des Beibringungsgrundsatzes sowie eine Ausdehnung der Beachtung von Rechtsfortbildungstatsachen dort in Betracht ziehen, wo es um rechtsfortbildende Entscheidungen geht. Diese Maßnahmen wären auch ein Weg zur Verringerung der proceeding drift. Daneben käme speziell für den Bereich des Bestandsschutzes eine gesetzliche Regel in Betracht, wonach bei Gerichtsentscheidungen auch die Interessen der Arbeitsuchenden berücksichtigt werden müssen. Die social drift ließe sich durch die Einbeziehung von ,legislativen facts‘ bekämpfen. Daneben wäre aber auch eine Veränderung der Juristenausbildung weg von der ausschließlichen Einzelfallbetrachtung hin zu mehr Folgenorientierung wünschenswert. Die constitutional drift hingegen ließe sich durch die Eingrenzung oder Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips ausgleichen. Zudem würde die Aufnahme des Prinzips der Marktmäßigkeit ins Grundgesetz möglicherweise einen Ausgleich bzw. Gegengewicht für die Dominanz des Sozialstaatsprinzips darstellen. Die festgestellten Fehlsteuerungen durch die Rechtsprechung und die diskutierten Möglichkeiten zur Verbesserung der Rechtsprechungsergebnisse sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass natürlich zunächst der Gesetzgeber aufgefordert bleibt, die von der wirtschaftswissenschaftlichen Seite seit langem bemängelte Rechtslage im Bestandsschutz den wirtschaftlichen und dabei insbesondere ordnungsökonomischen Notwendigkeiten des Arbeitsmarktes anzupassen.

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Sachverzeichnis Abfindung 101-102, 126 – 128, 132, 148, 169, 171, 182, 212, 216, 247, 254, 256 – 257, 349 Abmahnung 109 – 111, 147, 221, 247 – 248, 348 Änderungskündigung 95, 97, 106, 110, 116, 120, 133, 137 – 139, 148 – 150, 204 – 205, 221, 228, 250 – 253, 283, 298 Arbeitnehmerüberlassung 97, 135 – 137, 143, 148 – 149, 218, 258 – 260, 349 Arbeitslosigkeit 23, 25 – 28, 32 – 33, 35 – 42, 66 – 67, 75, 155, 198, 205, 209 – 210, 229 – 230, 240, 248, 260, 264 – 265, 326, 346 Arbeitsmarkt 22 – 27, 29 – 33, 35 – 43, 49, 66 – 67, 73, 76, 93, 105, 109, 117 – 118, 152, 154 – 156, 158, 163, 169, 172, 179, 190, 194, 205 – 207, 210, 214, 219, 226 – 228, 230 – 231, 233, 240, 259, 326, 332, 345

Einstellungsverhalten 183 – 187, 196, 201, 227, 262, 346

befristete Arbeitsverträge 133, 135, 141 – 142, 196, 261 betriebsbedingte Kündigung 99, 113 – 114, 116 – 117, 119, 121, 124, 204, 248, 264 Betriebsübergang 144 bias 321 – 322, 324, 331, 335, 344, 350 Bumerangeffekt 200 – 201, 215 – 217, 227 – 228, 340, 346

Insider 33, 35, 37 – 38, 198, 205 – 206, 210, 228, 239 – 240, 257, 283, 346 Insider-Outsider Theorie 33, 37 – 38 Interessenabwägung 97, 102 – 103, 105, 107 – 109, 111, 114, 119, 124 – 125, 147 – 149, 216, 225, 228, 245 – 247, 249, 251, 253, 255, 257, 259, 261, 263, 265, 267, 314, 316, 348

constitutional drift 299, 306, 308, 316 – 320, 322 – 324, 331, 333, 340 – 341, 343 – 344, 350 Constitutional Political Economy 48, 50 – 53, 68, 71 Effizienz 60, 86, 89, 151, 270 – 272, 274 – 275, 277 – 278, 290 – 291, 324 Effizienzlohntheorie 33, 38 – 39, 247 – 248 24 von Klitzing

Freiburger Schule 5, 43, 56 Generalklausel 80, 102, 121, 149, 244 Generalklauseln 81, 91 – 92, 131, 222, 302, 304, 319, 335 Gewaltenteilung 68 – 70, 217, 220, 222, 228, 281, 339 Grundrechte 69, 91 – 92, 217 – 219, 222, 228, 327, 342 – 343 Handelnsordnung 45, 48 – 49, 51, 54 – 55, 79, 174, 182, 302, 326, 331, 336, 345 – 346, 348 – 349 Humankapital 26, 35 – 36, 40, 42, 78, 155, 157, 165 – 167, 170, 174, 194, 199, 216, 232 – 233, 260 Humankapitaltheorie 35 – 36

Kapitalknappheitstheorie 36 keynsianische Theorie 33 krankheitsbedingte Kündigung 102, 106 – 108, 125, 214 Kündigungsschutzkosten 216 Langzeitarbeitslose 35 – 36, 259 Leistungswettbewerb 57 – 60, 62 – 63, 173, 306 Machtasymmetrie 156

370

Sachverzeichnis

Marktmäßigkeit 56 – 57, 173, 200 – 201, 207, 227 – 229, 272, 306 – 308, 317, 340 – 341, 343 – 344, 346 – 347, 350 Massenentlassungen 128 – 129, 131, 169, 178 – 179 Mobilitätskosten 158, 169 – 170 natürlichen Arbeitslosenrate 34 Neoklassik 32 Normalarbeitsverhältnis 195 – 197, 228 – 229, 231 – 233, 244, 260, 347

213,

Offenheit von Märkten 63 – 64, 173, 205 Ordnungsökonomie 5, 22, 43, 46 – 51, 67 – 68, 242, 336 Ordnungsökonomische Rationalität 48, 271 Ordnungspolitik 43, 46 Ordnungstheorie 43, 270 Outsider 33, 35, 37 – 38, 198, 202, 205 – 206, 210, 239 – 240, 257, 283, 295 Politiker 45, 47 – 49, 69, 77 – 79, 81, 235, 278, 291, 301 pragmatic drift 299, 302, 306 Preismechanismus 31 – 32, 34, 60, 63, 173 proceeding drift 298, 302, 307, 309 – 310, 312, 322 – 323, 337 – 338, 349 – 350 Prognoseprinzip 102, 108 – 109, 111, 119, 122 – 123, 148 – 149, 247 – 249 Prozessökonomie 45 – 46 Public Choice 45, 47, 50, 87, 153, 278, 301 Rechtssicherheit 68 – 71, 100 – 101, 217, 224 – 225, 228, 288 – 289, 314, 329 Rechtsstaatlichkeit 56, 68, 217, 228 – 229, 346 – 347 Regelerstellungsordnung 48 – 50, 78 – 79, 81, 237, 332, 335 – 337, 345, 349 – 350 Regelordnung 21, 45 – 50, 174, 182, 227, 235, 245, 274, 332, 335 – 337, 345, 349 Richter 21, 41, 47 – 49, 77, 79 – 88, 102, 147, 149, 160, 214, 220, 223 – 224, 235, 237, 240, 243, 245 – 246, 269, 272, 274 – 275, 278 – 280, 283 – 287, 289, 292 – 294, 296 – 309, 313 – 316, 318 – 319, 321 –

324, 328 – 334, 336, 338 – 340, 343 – 345, 349 – 350 Risikomerkmale 200, 214 – 217 Scheinselbständigkeit 190 – 192, 197, 202, 210, 227 Schwarzarbeit 190 – 191, 193, 195 – 198, 202, 227 Segmentationstheorie 38, 40 – 41 Selektionsmechanismen 174, 178, 183, 200 – 201, 257, 262, 346, 349 social drift 299, 302, 307 – 308, 313 – 317, 322 – 323, 333, 338, 340 – 341, 349 – 350 Sozialauswahl 100, 114, 117 – 118, 131, 139, 148, 150, 178 – 179, 187, 203, 214, 216, 250, 262 – 264, 334, 349 Soziale Marktwirtschaft 56 – 58, 64, 173, 306, 341 Sozialplan 128, 130, 132, 169, 265 – 267 Sozialstaatsprinzip 64 – 65, 90 – 91, 229, 305 – 307, 317 – 320, 343, 348 Sperrklinkeneffekt 205, 229 Transaktionskosten 44, 245 – 246, 257, 349

163 – 164,

198,

ultima-ratio Prinzip 102, 109, 111, 114, 119 – 121, 148 – 149, 238 – 239, 241, 243 – 244, 247, 348 unbestimmte Rechtsbegriffe 80 – 81 verhaltensbedingte Kündigung 109 – 111, 119, 121 – 123, 148, 211, 248 – 249 Verhältnismäßigkeitsprinzip 116, 119 – 121, 125, 239, 243, 316 Vertragsfreiheit 57, 60 – 62, 89 – 90, 92, 128, 141, 156, 163, 173, 179, 182, 199 – 200, 202, 217 – 219, 221, 320 Vertragstheoretischer Ansatz 41 Wiederbeschäftigungsanspruch 124, 149 – 150, 249 – 251, 335 Wissensproblem 43, 58 – 59 Zeitarbeit 136, 190 – 191, 196, 244, 258 – 260