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German Pages 532 [536] Year 1988
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Ernst Behler Wolfgang Müller-Lauter · Heinz Wenzel
Band 20
1988
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche von
Thomas Böning
1988
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister-Boehringer-Ingelheim-Stiftung f ü r Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Anschriften der
Herausgeber:
Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature G N - 3 2 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-1000 Berlin 37 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D-1000 Berlin 33 Redaktion Johannes Neininger Ithweg 5, D-1000 Berlin 37
CIP- Titelaufnahme der Deutschen
Bibliothek
Böning, T h o m a s : Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche / von Thomas Böning. — Berlin: de Gryter, 1988 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung; Bd. 20) ISBN 3-11-011463-1 NE: GT
D 25 ©
Copyright 1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien Mikrofilmen, vorbehalten. Satz: Satz-Rechen-Zentrum, Berlin, D r u c k : H . Heenemann, Berlin 42 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Für meine Eltern in Liebe und Dankbarkeit
. . . imagine there's no heaven, above us only s k y . . .
Es giebt Gegner der Philosophie: und man thut wohl auf sie zu hören, sonderlich wenn sie den erkrankten Köpfen der Deutschen die Metaphysik widerrathen, ihnen aber Reinigung durch die Physis, wie Goethe, oder Heiligung durch die Musik, wie Richard Wagner predigen. (Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KGW 3/2, S. 298)
Sei eine Platte von Gold — so werden sich die Dinge auf dir in goldner Schrift einzeichnen. (Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1881, KGW 5/2, S. 517)
Ich bin zu voll: so vergesse ich mich selber, und alle Dinge sind in mir, und nichts giebt es mehr als alle Dinge. W o bin ich hin ? (Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, November 1882-Februar 1883, KGW 7/1, S. 219)
Vorwort In dieser Arbeit soll, wie ihr Titel sagt, Nietzsches frühe Auseinandersetzung mit Metaphysik, Kunst und Sprache thematisiert werden, wobei sich die zeitliche Bestimmung „ f r ü h " auf jene seit Lou Andreas-Salomes Nietzsche-Buch 1 übliche Einteilung des Nietzscheschen Denkweges in drei Phasen bezieht: terminus ante quem ist mithin 1876, das Jahr der Lösung von Wagner und damit des Endes der sogenannten metaphysischen Periode Nietzsches. Dabei legt die Arbeit ein besonderes Gewicht auf die nachgelassenen Fragmente vom Herbst 1869 an, in denen Nietzsche seinen eigenen philosophischen Ansatz auszubauen sucht, die in der Forschung jedoch, mit einer einzigen löblichen, aber nicht zureichenden Ausnahme, nämlich Karl Schlechtas und Anni Anders' Buch „Friedrich Nietzsche, Aus den verborgenen Anfängen seines Philosophierens" (Stuttgart-Bad Cannstatt 1962), bisher kaum Beachtung gefunden haben — was seinen wesentlichen Grund wohl darin hat, daß sie erst in der neuen Nietzsche-Edition von Giorgio Colli und Mazzino Montinari lückenlos zugänglich gemacht worden sind. Aus vier Gründen sind diese Fragmente von größter Bedeutung: Zum ersten rücken sie, was schon Schlechta/Anders herausgestellt haben, Nietzsches Entwicklung in ein neues Licht — so wird deutlich, daß zwischen „ d e r sogenannten ,ersten Periode' Nietzsches — zwischen dem Kulturkritiker und Wagnerenthusiasten — und dem späteren, dem e i g e n t l i c h e n ' " , will sagen: dem antimetaphysischen Nietzsche „nur vom veröffentlichten Werke h e r " ein „ B r u c h " 2 besteht. Zum zweiten werden bei der Gegenüberstellung von „positivistischen" Fragmenten und „metaphysischen" Werken Bezüge sichtbar, welche die herrschende Auffassung widerlegen, daß zwischen ihnen ein unüberbrückbarer Gegensatz vorhanden ist. D a s gilt, wie wir zeigen werden, vor allem für die „ G e b u r t der T r a g ö d i e " , in der plötzlich Zeichen lesbar werden, die ganz im Sinne der erkenntniskritischen Fragmente nicht nur verraten, daß diese metaphysische Schrift nicht mehr als eine „ B e g r i f f s d i c h t u n g " ist, vielmehr auch begründen, warum sie nur solches sein kann: Die Ausführungen über Dionysos und Apoll können somit zum ersten Male auch als erkenntniskritischer Gedankengang verstanden werden. Zum dritten erhält die Frage, warum Nietzsche seiner antimetaphysischen Grundhaltung zum T r o t z die Idee
χ
Vorwort
jenes Gegensatzpaares in das Schopenhauerisch-Wagnerische Begriffsgewand gekleidet hat (laut „Ecce homo" 3 ist „Eine ,Idee' — der Gegensatz dionysisch und apollinisch — ins Metaphysische übersetzt" der Inhalt der Schrift), erst von den Fragmenten her die nötige Schärfe. Und zum vierten wird erst mit dem Einbezug der nachgelassenen Aufzeichnungen jener unablässige, sich in einer ewigen Wiederkehr des Gleichen zu immer größerer Klarheit aufsteigernde Denkstrom namens Nietzsche ganz sichtbar, zeigt sich deutlich, daß Nietzsches Philosophie auch in ihrer „ F o r m " eine Philosophie des sich unablässig mit sich selbst auseinandersetzenden Werdens ist, so daß ihr der abgeschlossene Einheiten voraussetzende Werkbegriff, der beim späteren Nietzsche ohnehin durch die aphoristische Form unterhöhlt ist, nicht gerecht wird: In dieser Hinsichtnahme auf die — von Nietzsche zum zentralen Thema seines Denkens erhobene — Prozessualität stehen die von ihm nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Notizen und Schriften gleichberechtigt neben den publizierten Werken — die wichtigste Rechtfertigung für unseren Entschluß, sie in die Darstellung mit einzubeziehen. Daß nur derjenige, der weiß, woher jemand kommt, auch weiß, wohin er geht, daß mithin die bisher unterbliebene Auseinandersetzung mit dem frühen Nietzsche unumgänglich ist, wenn man sein Denken zureichend verstehen will, das werden wir vor allem an den Arbeiten von Martin Heidegger und Eugen Fink aufzuzeigen suchen, die nicht zuletzt auch deshalb zu „Fehl"interpretationen des Nietzscheschen Denkens kommen, weil sie sich entweder ausschließlich dem Nachlaß der Achtzigerjahre als der „eigentlichen Philosophie" Nietzsches oder allenfalls noch den frühen „Werken" widmen, die frühen Fragmente aber gänzlich außer acht lassen. Weil aber umgekehrt auch nur derjenige, der im Blick hat, wohin jemand geht, auch einzuschätzen vermag, woher er kommt, darum müssen wir in unseren Ausführungen immer wieder auch Bezug auf spätere Texte Nietzsches nehmen, ohne daß wir deswegen doch gleich den Anspruch erheben könnten, den ganzen Nietzsche unter der leitenden Fragestellung nach Metaphysik, Kunst und Sprache behandelt zu haben — dafür bleibt die Behandlung der späteren Abschnitte seines Denkweges zu marginal. Die Arbeit ist in drei Großkapitel eingeteilt. Im ersten Kapitel „Voraussetzungen: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" sollen zum einen die geschichtlichen Voraussetzungen der Nietzscheschen Philosophie, zum anderen das Voraussetzen als die von Nietzsche vornehmlich in der ausführlich interpretierten Schrift „Ueber Wahrheit und L ü g e " herausgestellte Bedingung der Möglichkeit jedweder Erkenntnis aufgewiesen werden — indem dabei gezeigt wird, daß für Nietzsche der menschliche Erkenntnisapparat als Vorstellungsapparat
Vorwort
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ein Kunstapparat ist, wird zudem die innere Einheit der im Thema der Arbeit genannten Bereiche Metaphysik, Kunst und Sprache offenbar gemacht — und damit insgesamt die Voraussetzungen geschaffen werden für eine extensive Interpretation sowie für eine Er-läuterung von Nietzsches philosophischer Erstlingsschrift, die im 2. Kapitel erfolgen sollen. Es wird nämlich gezeigt, daß sich Nietzsche mit seinen Versuchen, die Welt auf ihre Gründe hin festzustellen, seiner antimetaphysischen Grundhaltung zum Trotz in den Bahnen der überlieferten Metaphysik bewegt. „Physisch" im Sinne des Zarathustra-Wortes „Bleibt der Erde treu!" kann nämlich in unseren Augen nur ein solches Denken genannt werden, das es unterläßt, die Physis auf einen in oder hinter ihr verborgenen, eigentlich wahren oder auch nur „wahreren" Grund als den Grund ihres Erscheinens zurückzuführen und zu reduzieren. Denn diese überkommene Denkverhaltung tut den Phänomenen in der Weise Gewalt an, daß sie — gemäß einer vorausgesetzten Identität von Denken und Sein, die auch Nietzsche nur abwandelt, nämlich zum Schein-Gefüge „umdreht" — als ihr „Wesen" letzlich doch nur solches zuläßt, wodurch sie im Sein oder im Erscheinen ermöglicht werden. D. h. nur solches, was für das Denken feststellbar, was seinen „Berechnungen" zugänglich ist — Grund heißt lat. ratio, was von reri „rechnen", auch „meinen, glauben, dafürhalten" kommt —, was die Phänomene dem animal rationale verfügbar macht: allein das zählt, philosophisch gesehen. Doch die Rechnung geht nicht auf. In dieser ausschließlichen Hinsichtnahme auf das Begründbare werden die Phänomene als das nichtig gesetzt, als was sie zuhöchst viele Dichter erfahren, als ab-gründiger, weil unausdenkbarer atmosphärischer Bezug, als den Menschen umstimmender Belang, der reicher ist als jenes Festgestellte des Gegen-Standes, den der Philosoph allein (aner)kennt. Paradigmatisch wird dieser Widerstreit zwischen verklärendem Dichten und begründendem Denken aufgezeigt an einer Gegenüberstellung von einem frühen Gedicht Goethes und einer Passage der 2. Meditation des Descartes. Auch Nietzsche geht, wie wir an mehreren Aufzeichnungen aufweisen werden, von der „dichterischen" Welterfahrung aus, ohne daß er ihr jedoch denkerisch entsprechen könnte, weil er nämlich in seinen Anfängen bedenkenlos den neuzeitlich-subjektivistischen Ansatz übernimmt, demzufolge der Mensch es ist, der das ihm Entgegenstehende, den Gegenstand, schafft. Wenn es aber so mit Nietzsches Denken steht, daß es sich in dieser Weise am Scheideweg von Metaphysik — das Wort verstanden in dem von uns entfalteten Sinne des Begriffs — und „Physik" befindet, es bezwungen von der Übermacht der Tradition der selbstgewiesenen Aufgabe, der Erde treu zu bleiben, nicht nachzukommen vermag, dann hat eine eingehende
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Vorwort
Interpretation, sofern sie den Anspruch erheben will, Erläuterung zu sein, dieses Denken an allen den Stellen, w o es ihr möglich erscheint, zumindest versuchsweise von jenem Ü b e r k o m m e n e n zu läutern. Eine solche mit Nietzsches entfalteter Philosophie in ein streithaftes Gespräch, will sagen: in eine Aus-einander-setzung eintretende Interpretation soll im 2. Großkapitel „ U b e r s e t z u n g e n : Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" versucht werden. Ihr T h e m a ist Nietzsches „ I d e e " vom Gegensatz des Dionysischen und Apollinischen und sein Grundbegriff des Rausches, die aus dem Metaphysischen ins Physische übersetzt werden sollen. Das letzte Kapitel „Absetzungen: Richard W a g n e r in Bayreuth — Ein Ausblick" wird zunächst noch einmal die Antworten auf die Frage bündeln, w a r u m sich Nietzsche in der ersten Phase seines Denkens in den Dienst des metaphysischen (das W o r t in seinem Sinne verstanden) Kunstwerkes der Z u k u n f t gestellt hat, obwohl er schon im Winter 1867/68 den denkerischen Ansatz Schopenhauers hinter sich gelassen hatte, um sich dann der Frage z u z u w e n d e n , w a r u m es z u r Absetzung von W a g n e r und schließlich zum Bruch mit ihm gekommen ist. Z u m Schluß möchte ich noch einige W o r t e des Dankes aussprechen: Meinem Doktorvater, H e r r n Prof. Dr. Gerhard Kaiser, dem ich f ü r sehr viel mehr als seine immerwährende Gesprächsbereitschaft zu danken habe, Bettina Schulte f ü r ihr alltägliches G e h ö r und die zahlreichen fruchtbaren Streitgespräche, der Studien-Stiftung des deutschen Volkes f ü r die G e w ä h r u n g eines Promotions-Stipendiums, dem Deutschen Klassiker Verlag, der von seinen eigenen Interessen abgesehen hat, um mir die Fertigstellung dieser Arbeit zu ermöglichen, sowie dem Rat der Stiftung „ N i e t z s c h e - H a u s in Sils-Maria", vor allem H e r r n Prof. Dr. Peter Andre Bloch und Frau Annegreth Hediger, denen ich den Aufenthalt in diesem H a u s e verdanke: ohne die pollenfreie Luft und den Zuspruch dieser Landschaft hätte ich die letzten beiden Abschnitte bzw. Kapitel dieser Arbeit nicht schreiben können. Sils-Maria, Pfingsten 1986. D a f ü r , daß diese Arbeit im Rahmen der Nietzsche-Monographien des Verlages Walter de Gruyter erscheinen darf, möchte ich H e r r n Prof. D r . H e i n z Wenzel und H e r r n Prof. Dr. W o l f g a n g Müller-Lauter meinen ganz herzlichen D a n k aussprechen. St. Peter, R o h r e r h o f , Weihnachten 1987.
Inhalt Vorwort Voraussetzungen: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 1. 2. 3. 4. 5.
6.
7. 8. 9. 10. 11.
12. 13.
IX
1
Nietzsches Destruktion der Metaphysik: Schopenhauer und das Ding an sich und die Frage nach der Wahrheit 1 Nietzsches Neuansatz: Das Dissertationsprojekt vom April 1868 . 13 Die Zeitatomenlehre vom Frühjahr 1873: Das Werden als Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit 22 Zum ersten Male: Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Kunst — Der Begriff der Intuition 39 „Schmerz ist der Grundton der Natur": Das reine Werden aus dem Geiste der Musik und das Parmenideische Erbe der Sinnenfeindschaft 50 „Bleibt der Erde treu!": Die Frage nach der Überwindung der Metaphysik und der Widerstreit zwischen begründendem Denken und abgründigem Dichten — Zur Notwendigkeit einer Er-läuterung des Nietzscheschen Denkens 63 Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie der maskenhaften Metamorphosen . . . 70 „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873) 101 „Nothwendige Widersprüche im Denken um leben zu können": Das polemische Denken des Werdens 117 Der letzte Philosoph 122 „Was fruchtbar ist, allein ist wahr" — Erneut: Schopenhauer, sowie zum zweiten Male: Das Verhältnis von Philosophie, Wissenschaft und Kunst 130 „Metaphysik der Cultur. Alles, was diesem Leben einen metaphysischen Sinn unterlegt, ist zu fördern.": Der Genius . . . 1 5 2 „Wahrheits-Pathos in einer Lügenwelt.": Kultur-Leben als Widerstreit von Wissenschafts- und Kunst-Sprache 166
XIV
Inhaltsverzeichnis
14. „Schaffen steht höher als Erkennen": Nietzsches Kunst-Philosophie 185 Ubersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik 1.
2. 3. 4.
5. 6.
. 208
„Vielleicht finde ich aber einmal einen philologischen Stoff, der sich musikalisch behandeln läßt": Das methodische Gepräge der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" Die Artisten-Metaphysik: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll . „Die Geburt der Tragödie" gelesen am physiologischen Leitfaden der Fragmente: Wahr-Schein, Kunst, Sprache und Wissenschaft . „denn nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig g e r e c h t f e r t i g t : — " Noch einmal: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll Die Menschenkunst als kosmisches Ereignis Versuch einer Er-läuterung des philosophischen Ansatzes der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik"
208 212 223
242 251 261
Absetzungen: Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick
322
Anhang
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Zur Zitierweise/Siglenverzeichnis Anmerkungen zum Vorwort Anmerkungen zum Abschnitt „Voraussetzungen: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" Anmerkungen zum Abschnitt „Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" Anmerkungen zum Abschnitt „Absetzungen: Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick" Literaturverzeichnis Personenregister Sachregister
339 342 342 469 489 492 501 505
Voraussetzungen: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 1. Nietzsches Destruktion der Metaphysik: Schopenhauer und das Ding an sich und die Frage nach der Wahrheit Ende Oktober/Anfang November 1865 liest der damals einundzwanzigjährige Student der Altphilologie Friedrich Nietzsche zum ersten Male Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung" 1 . Es wird für ihn, mit Martin Heidegger zu sprechen 2 , „zur eigentlichen ,Quelle' der Prägung und Richtung seiner Gedanken". In Schopenhauers Metaphysik, die sich auf — indes in verflachender Weise gedeutete — Elemente der Platonischen und Kantischen Philosophie stützt, finden „die Grunderfahrungen des erwachenden Denkers [ . . . ] die ersten und unumgänglichen Stützen" 3 . Für Schopenhauer bilden die reinen Formen der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, das „principium individuationis", das die Zerteilung des Seienden in die Vereinzelung hervorruft und im Zusammenwirken mit der seiner Meinung nach einzig wahren der Kantischen Verstandes-Kategorien, der Kategorie der Kausalität, die Vorstellungen der objektiven Welt erzeugt. In der Vielheit dieser Welt, deren ewige Formen die über Zeit und Raum erhabenen Platonischen Ideen bilden, 4 erscheint verschleiert die absolute Einheit des Dinges an sich, welches Schopenhauer — über Kant hinausgehend — als Wille bestimmt. „Die Welt als Wille und Vorstellung" — dieser Titel faßt formelhaft den Grundansatz der Schopenhauerschen Philosophie, die sich als Metaphysik im traditionellen Sinne des Begriffes versteht, nämlich als „Erkenntnis, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur oder die gegebene Erscheinung der Dinge hinausgeht, um Aufschluß zu erteilen über das, wodurch jene in einem oder dem andern Sinne bedingt wäre" 5 . In einer einigermaßen geschlossenen Notizsammlung „Zu Schopenhauer" (BAW 3, 352—361)6, die aus der Zeit Herbst 1867—Frühjahr 1868 stammt und uns die ausführlichste kritische Stellungnahme des jungen Nietzsche zu diesem metaphysischen Ansatz Schopenhauers gibt, formuliert Nietzsche „als den Inbegriff des Sch. Syst(ems)" (354) darum den Satz: „Der grundlose erkenntnißlose Wille offenbart sich, unter einen Vorstel-
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Voraussetzungen
lungsapparat gebracht, als Welt." (353) Von vier Seiten aus meint er „erfolgreiche Angriffe" gegen diesen Satz vortragen zu können: 1. Bereits bei Kant sei der Begriff „Ding an sich" „um mit Überweg zu reden ,nur eine versteckte Kategorie'" 7 (354). 2. Gebe man gleichwohl die Berechtigung des Begriffes „Ding an sich" zu, so sei dasjenige, was Schopenhauer an die Stelle des Kantischen χ setze, nämlich der Wille, „nur mit Hülfe einer poetischen Intuition erzeugt, während die versuchten logischen Beweise weder Schopenhauer noch uns genügen können." 3. Die Prädikate, welche Schopenhauer dem Willen zuspricht — Nietzsche nennt später u. a. Einheit, Ewigkeit (d. h. Zeitlosigkeit), Freiheit (d. h. Grundlosigkeit) —, lauteten für etwas schlechthin Undenkbares viel zu bestimmt und seien durchweg aus dem Gegensatz zur Vorstellungswelt gewonnen: während zwischen dem Ding an sich und der Erscheinung nicht einmal der Begriff des Gegensatzes eine Bedeutung habe. Schopenhauer scheitere letztlich, so führt Nietzsche an anderer Stelle der Notizsammlung aus, an den „Grenzen der Individuation" (356), insofern er verlangen müsse, „daß etwas, was nie Objekt sein kann [das Ding an sich, der Wille], dennoch objektiv gedacht werden soll" (357). 4. Die dreifach „potenzirte Möglichkeit" (354), daß es ein Ding an sich gebe, da „auf dem Gebiete der Transscendenz eben alles m ö g l i c h ist" (354/355), daß dieses mögliche Ding an sich der Wille sein könne und „daß selbst die Prädikate des Willens, die Schopenhauer annahm ihm zukommen können: eben weil zwischen Ding an sich und Erscheinung ein Gegensatz zwar unerweislich ist, aber doch gedacht werden kann", diese Möglichkeit bedeute für „jedes sittliche Denken" 8 (355) eine Unmöglichkeit. Gebe man indes auch dann noch zu, „daß der Denker vor dem Räthsel der Welt stehend eben kein anderes Mittel hat als zu rathen dh. in der H o f f n u n g , daß ein genialer Moment ihm das W o r t auf die Lippen legt, das den Schlüssel zu jener vor all(er) Augen liegenden und doch ungelesnen Schrift bietet, die wir Welt nennen" 9 , so müsse dann jedoch gegen Schopenhauer eingewendet werden, daß sich die Welt nicht so bequem in sein System einspannen lasse, als er in der ersten Finderbegeisterung gehofft habe. Erneut sucht Nietzsche das principium individuationis als die Achillesferse von Schopenhauers Ansatz zu erweisen, wenn er weiter fragt: „ D e r Wille erscheint; wie konnte er erscheinen? Oder anders gefragt: woher der Vorstellungsapparat, in dem der Wille erscheint? Schopenhauer antwortet mit einer ihm eigenthümlichen Wendung, indem er den Intellekt als die μ η χ α ν ή des Willens bezeichnet" (358). Dies aber bedeute, setzt Nietzsche auseinander, daß wir das Gesetz der Kausalität schon vor dem Erscheinen des Intellekts als wirksam annehmen müssen, was den Prämissen
Nietzsches Destruktion der Metaphysik
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des Systems widerspricht, denen zufolge das erkennende Subjekt Träger der Welt der Erscheinungen ist. Anders gesagt: aus einer nicht existierenden W e l t soll plötzlich und unvermittelt die Blume der Erkenntniß hervorbrechen. Dies s o l l zugleich in einer Sphaere der Zeitlosigkeit und Raumlosigkeit geschehen sein, ohne Vermittlung der Causalität: was aber aus einer solchen entweltlichten Welt stammt, muß selbst — nach den Schopenhauerschen Sätzen — Ding an sich sein [ . . . ] Das Schopenh. Ding an sich w ü r d e also zugleich princ. indiv. sein und G r u n d der Necessitation sein: mit andern W o r t e n : die v o r h a n d e n e Welt. Sch. wollte das χ einer Gleichung finden: und es ergiebt sich aus seiner R e c h n u n g daß es = x ist dh. daß er es nicht g e f u n d e n hat. (360) 10
Wie sich aber diese Kritik mit seiner fortgesetzten Schopenhauer-Verehrung vertragen kann, das geht aus einem Brief an seinen Freund Carl von Gersdorff von Ende August 186611 hervor, in dem Nietzsche Kunde gibt von seiner ersten Begegnung mit einem für seine weitere Entwicklung höchst bedeutsamen Buch von Friedrich Albert Lange 12 : Schließlich soll auch Schopenhauer noch erwähnt werden, an dem ich noch mit vollster Sympathie hänge. W a s wir an ihm haben, hat mir kürzlich erst eine andere Schrift recht deutlich gemacht, die in ihrer Art vortrefflich und sehr belehrend ist: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung f ü r die G e g e n w a r t von Fr. A. Lange. 1866. W i r haben hier einen höchst aufgeklärten Kantianer und N a t u r f o r s c h e r vor uns. Sein Resultat ist in folgenden drei Sätzen z u s a m m e n g e f a ß t : 1) die Sinnenwelt ist das P r o d u k t unsrer Organisation. 2) unsre sichtbaren (körperlichen) O r g a n e sind gleich allen andern Theilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbekannten Gegenstandes. 3) Unsre wirkliche Organisation bleibt uns daher ebenso unbekannt, wie die wirklichen Außendinge. W i r haben stets nur das P r o d u k t von beiden vor uns. 13 Also das w a h r e Wesen der Dinge, das D i n g an sich, ist uns nicht nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer E r f a h r u n g irgend eine Bedeutung hat 14 .
Mit diesem letzten Resultat, das, worauf wir bereits oben hingewiesen haben (siehe Anmerkung 7), in Nietzsches Kritik der Schopenhauerschen Philosophie eingegangen ist (Punkt 1), weist Lange die Möglichkeit rationaler metaphysischer Erkenntnis nicht allein im Sinne Kants zurück, wonach die Grenzen empirischer Erkenntnisfähigkeit auf keine Weise — auch nicht durch intuitive Selbsterkenntnis des Selbstbewußtseins, wie Schopenhauer anfangs vermeinte — überstiegen werden können, vielmehr stellt er darüber hinaus auch noch den Erkenntnisanspruch des Begriffes in Frage, auf den sich die Metaphysik nach Kant gründen zu können glaubte, nämlich den Begriff des „wahren Wesens der Dinge", des „Dinges an sich": Auch er rechnet zu der vom Menschen erzeugten Welt der Erscheinungen,
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Voraussetzungen
bezeichnet d e m z u f o l g e nicht, wie es den Anschein hat, ein An-Sich, sondern ein F ü r - U n s , ist d e m z u f o l g e gleichfalls Faktum, Y o r a u s - s e t z u n g des menschlichen Erkenntnisvermögens, im Hinblick auf welche sich dieses die W e l t vorstellt. N u r von solchen Vorstellungen oder Erscheinungen wisse, so Lange, der Mensch. Nietzsche f ä h r t f o r t : Folglich, meint Lange, lasse man die Philosophen frei, vorausgesetzt, daß sie uns hinfüro erbauen. Die Kunst ist frei, auch auf dem Gebiet der Begriffe. Wer will einen Satz von Beethoven widerlegen, und wer will Raphaels Madonna eines Irrthums zeihen? —15 Du siehst, selbst bei diesem strengsten kritischen Standpunkte bleibt uns unser Schopenhauer, ja er wird uns fast noch mehr. Wenn die Philosophie Kunst ist, dann mag auch Haym 16 sich vor Schopenhauer verkriechen; wenn die Philosophie erbauen soll, dann kenne ich wenigstens keinen Philosophen, der mehr erbaut als unser Schopenhauer. Philosophie, wie Nietzsche sie hier versteht, als Versuch, das „ w a h r e W e s e n der D i n g e " zu bestimmen, d. h. als Metaphysik, n i m m t somit — „ e r b a u e n " spricht da eindeutig — den Platz Lebenshalt g e w ä h r e n d e r theologischer W e l t d e u t u n g ein. Zugleich jedoch ist sie als K u n s t zu betrachten. Solches reflektiert auch ein Brief an Paul Deussen von E n d e A p r i l / A n f a n g Mai 1868 17 . Nietzsche f ü h r t d o r t aus: Die Einsicht in die G r e n z e n des menschlichen Erkenntnisvermögens, welche ihm aus der Kenntnis „ d e r einschlägigen U n t e r s u c h u n g e n , vornehmlich der physiologischen seit K a n t " 1 8 erwachsen sei, lasse n u r den einen Schluß z u : Das Reich der Metaphysik, somit die Provinz der „absoluten" Wahrheit ist unweigerlich in eine Reihe mit Poesie und Religion gerückt worden. Wer etwas wissen will, begnügt sich jetzt mit einer bewußten Relativität des Wissens — wie ζ. B. alle namhaften Naturforscher. Metaphysik gehört also bei einigen Menschen ins Gebiet der Gemüthsbedürfnisse, ist wesentlich Erbauung: andernseits ist sie Kunst, nämlich die der Begriffsdichtung; festzuhalten aber ist, daß Metaphysik weder als Religion noch als Kunst etwas mit dem sogenannten „An sich Wahren oder Seienden" zu thun hat. Die „ a b s o l u t e " W a h r h e i t , d. h. die W a h r h e i t „ a n sich", ist dem Menschen unerreichbar, alle W a h r h e i t ist W a h r h e i t „ f ü r i h n " — welche Relativität f ü r die metaphysischen Bestimmungsversuche des „ A n - S i c h " in Nietzsches (und in Langes) A u g e n die Möglichkeit schöpferischer Freiheit bedeutet. 1 9 V o n ihnen ist keine wissenschaftliche „ E r g r ü n d u n g " , vielmehr eine dichterische D e u t u n g der W e l t zu erwarten, die wie jene nicht „ a n sich", sondern „ f ü r j e m a n d e n " „ w a h r " ist. Ebenfalls an Deussen schreibt er E n d e O k t o b e r / A n f a n g N o v e m b e r 1867: Wer mir Schopenhauer durch Gründe widerlegen will, dem raune ich ins Ohr: „Aber, lieber Mann, Weltanschauungen werden weder durch Logik geschaffen, noch vernichtet. Ich fühle mich heimisch in jenem Dunstkreis, Du in jenem. Laß mir doch meine eigne Nase, wie ich Dir die Deinige nicht nehmen werde." 20
Nietzsches Destruktion der Metaphysik
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Seine eigene logische Widerlegung der Schopenhauerschen Philosophie hatte, so haben wir nun zu interpretieren, nicht die Aufgabe, dieselbe vollkommen zu verwerfen, 21 sondern sie als aus dem Bereich erwachsen zu erweisen, dem Nietzsche die größte Fruchtbarkeit für das Leben (dazu im folgenden) zuspricht, dem Bereich der Kunst und ihres Wahrheitsbegriffes. 22 Nietzsches Feststellung, daß Schopenhauer die Bestimmung des Dinges an sich als Wille „nur mit Hülfe einer poetischen Intuition erzeugt" habe, „während die versuchten logischen Beweise weder Schopenhauer noch uns genügen können" 2 3 , kann daher nur so lange als Vorwurf verstanden werden, wie nicht bedacht wird, daß logische Argumentationen im Bereich der Metaphysik für Nietzsche sinnlos sind; implizieren sie doch das Kriterium der Gewißheit, das nur im Bereich der Erscheinungen Gültigkeit besitzt (wenn auch dort, wie wir sehen werden, nur unter gewissen Voraus-setzungen). Vielmehr sucht Nietzsche mit seiner logischen Argumentationsweise Schopenhauers Abfall von den eigenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen — welche, wie Nietzsche vermeint, diejenigen Kants sind — gleichsam rückgängig zu machen, um ihn fürderhin vor solchen Angriffen zu schützen. In der „Geburt der Tragödie" führt er in diesem Sinne über Kant und Schopenhauer aus: Sie hätten, mit einer unglaublichen Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen: bei welchem Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt wurde, welche, an der H a n d der Causalität, sich anmaasst, das innerste Wesen der Dinge ergründen zu können. 24
Wenn Schopenhauer meint, einen W e g gefunden zu haben, auf dem er der Wirksamkeit der Kategorie der Kausalität zu entgehen und darum das innerste Wesen der Dinge zu bestimmen vermag, so erweist Nietzsche diese Ansicht als illusionär und führt Schopenhauer zu der Erkenntnis seines Meisters Kant von der Allwirksamkeit der Verstandeskategorien zurück. Doch geht Nietzsche, sich Lange anschließend, in der erkenntnistheoretischen Resignation auch noch über Kant in der Hinsicht hinaus, daß er den Erkenntniswert des Begriffes „ D i n g an sich" in Zweifel zieht, von dem doch auch seine eigene Erkenntniskritik ausgeht. Dieser Begriff, an dem sich die nachkantische Diskussion immer wieder entzündet hat, weil er den Quell aller vermeintlichen Widersprüche des Kantischen Systems bildet, ist für Kant selbst ein problembehafteter Limes-Begriff 25 . Er soll seiner Annahme einer übersinnlichen und übererfahrungsmäßigen Welt Rechnung tragen, welche — 1. Problem — wohl praktisch mit dem sittlichen Bewußtsein begründet werden kann, theoretisch jedoch nur als Möglichkeit zu deduzieren, nicht aber zu
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Voraussetzungen
beweisen ist. Diese Argumentation geht davon aus, daß der Mensch, der nur eine sinnlich-rezeptive Anschauung besitzt, anders als Gott mit seiner intellektuellen Anschauung auf Gebung von Zu-Erkennendem angewiesen ist. Und dieses der Erkenntnis gegebene unbekannte X wird nun dadurch zum Begriff „Ding an sich" — 2. Problem —, daß die synthetische Funktion, die das gemeinsame Wesen der nur in anschaulicher Vermittlung f ü r die Welt der Erfahrung geltenden Kategorien ausmacht, selber zu einem außerhalb der Vorstellung Bestehenden hypostasiert wird. Aus dem Wissen um diese Genesis des Begriffes „Ding an sich" erwächst, wie wir gesehen haben, Nietzsches Zweifel an der Berechtigung desselben, der — was Nietzsche selber jedoch erst Jahre später erkennt, wenn ihm nämlich die metaphysischen, sprich: die theologischen Implikationen dieses Begriffes noch deutlicher bewußt werden — um so größer sein kann, als er sich schon lange von der Vorstellung einer übersinnlichen Welt gelöst hat. (Daß er sich lösen mußte, daß er in der T a t ein echtes und tiefes Gotteserlebnis gehabt hat — allein das kann die Bedeutung erklären, die „ G o t t " für seinen gesamten Denkweg gehabt hat —, das bezeugt eine kleine Notiz vom Frühling-Sommer 1878: „Als Kind Gott im Glänze gesehn." 26 ) Beredtes Zeugnis für diese Loslösung ist uns eine seinen Freunden Gustav Krug und Wilhelm Pinder zugedachte, fragmentarisch überlieferte Aufzeichnung vom 27. 3. 1862 27 : Daß Gott Mensch geworden ist, weist nur darauf hin, daß der Mensch nicht im Unendlichen seine Seligkeit suchen soll, sondern auf der Erde seinen Himmel gründe; der Wahn einer überirdischen Welt hatte die Menschengeister in eine falsche Stellung zu der irdischen Welt gebracht: er war das Erzeugniß einer Kindheit der Völker. [ . . . ] Unter schweren Zweifeln und Kämpfen wird die Menschheit männlich: sie erkennt in sich „den Anfang, die Mitte, das Ende der Religion." Bereits in dieser frühen, vom Einfluß Feuerbachs kündenden Aufzeichnung — das Zitat stammt aus Feuerbachs „ D a s Wesen des Christentums" 2 8 — zeigt sich die diesseitige oder antimetaphysische Grundstellung des Nietzscheschen Denkens, das schließlich — in der „Götzen-Dämmerung" 2 9 — in der Abschaffung der, Nietzsche zufolge, im Begriff des „Dinges an sich" implizierten Unterscheidung von „ w a h r e r " und „scheinbarer" Welt kulminieren wird. Mit der Aufgabe dieser Unterscheidung zieht Nietzsche nach 22 Jahren die letzte, immer wieder hinausgeschobene Konsequenz aus seinem frühen, von Lange genährten Zweifel an der Berechtigung jenes Begriffes, ohne daß er indes noch Gelegenheit gehabt hätte, diesen neuen Ansatz auszuarbeiten. Jener Zweifel bezieht sich, wie gesehen, eben darauf, daß auch dieser Begriff eines „Außerhalb" unserer Vorstellung doch noch Vorstellung ist und damit innerhalb der „durch den Bau des Gehirns
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bestimmten Grenzen" 3 0 verbleibt, das „ D i n g an sich" ein „ D i n g für u n s " und es somit fraglich ist, ob es den Gegensatz von Innen und Außen, von Wesen und Erscheinung an sich gibt — wiewohl, und das ist das Paradox, dieser extreme Relativismus — das „ a n sich" in dieser Formulierung belegt es — gerade aus jenem Gegensatz hervorgeht, dieser Gegensatz sich somit gleichsam sich selbst entgegensetzt und d. h. relativiert wird. Indem aber das „ D i n g an sich" sich selber abschafft, kommt zugleich das Bestreben auf, das Innen der Welt als reines „ I n n e n " — ohne die Entgegensetzung zu einem Außen — zu denken; ein Bestreben indes, das sich sogleich der Schwierigkeit gegenübersieht, daß alle Begriffe unserer Sprache Oppositionen voraussetzen und damit den Unterschied zwischen „physischer" und metaphysischer Welt supponieren. Am Beginn dieses Denkweges steht eine erkenntnistheoretische Reflexion, die sich in einem „ N a p o l e o n III als Praesident" betitelten „Germania"-Vortrag vom Herbst 1867 findet. 31 Nietzsche spricht hier den „allgemeinen Grundsatz" aus, daß alles, was dem Menschen entgegentritt, nur unter dem Gesichtspunkt seiner geistigen Begabung aufgefaßt werden kann. S o ist alles für den Menschen eigentlich nur Schein; etwas natürlich muß Wahrheit sein; die Erkenntniß dessen ist für uns nur Wahrscheinlichkeit. 3 2
Etwas tritt dem Menschen entgegen, ist ihm gegeben, doch er vermag es nur unter einem vorausgesetzten Gesichtspunkt zu erfassen. Ein Gesichtspunkt eröffnet ein Gesichtsfeld, indem er zum ersten dem Sehen eine Ansicht, einen Aspekt des Ganzen vorlegt, zum zweiten ihm durch eine anfängliche Bestimmung seines Wohin eine perspektivische Leitung auferlegt und zum dritten das Gesehene auf sich selbst zurücksammelt. Dieses Feld ist horizonthaft: eine Fülle von möglichen Aspekten des Wahrzunehmenden bleibt ausgegrenzt, damit unaufgehellt. Und diese Grenze vermag der Blick nur zu verschieben und zu erweitern, niemals aber zu überschreiten. Immer bestimmt und sondert das Sehen so, daß es im Hinblicken auf etwas von allem anderen absieht: indem es zeigt, verhüllt es. In dieser Weise wird seit der Neuzeit, vollends seit Leibniz, der menschliche Logos als im subjektiven Gesichtspunkt gegründete perspektivisch-horizonthafte Re-präsentation gedacht. Jener Gesichtspunkt nun ist für Nietzsche derjenige der geistigen Begabung des Menschen. Darunter sind nicht nur überindividuelle, kantisch gesprochen: gegenstandskonstitutive Funktionen, wie die reinen Formen der Anschauung und des Verstandes, zu verstehen, sondern auch individuelle Mitgiften, wie Vorwissen, Empfänglichkeit, Gestimmtheit etc., mithin die in Kants Augen besonderen und d. h. zufälligen Wahrnehmungsweisen der sinnlichen Qualitäten. Im Lichte des von dieser geistigen Begabung des
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Voraussetzungen
Menschen eröffneten Gesichtsfeldes zeigt sich aber das dem Menschen Entgegentretende nur im Schein der Erscheinung. Doch ist dieser, wie die Aufzeichnung sagt, kein bloßer Schein, vielmehr Schein der Wahrheit „an sich" für uns, er ist Wahr-Schein. Das W o r t „wahrscheinlich", das im 17. Jahrhundert aufkam, geht vermittelt über sein Vorbild, das niederländische Adjektiv waarschijnlijk, auf das lateinische „verisimilis" zurück, das aus verus „ w a h r " und similis „ähnlich" zusammengesetzt ist. ,Die Erkenntnis des Wahren ist für uns Wahrscheinlichkeit' will also sagen: Menschliche Erkenntnis vermag sich der Wahrheit an sich nicht derart anzugleichen, daß Ubereinstimmung zwischen Wahrheit an sich und Erkenntnis, d. h. Wahrheit für uns besteht, vielmehr ist der menschlichen Erkenntnis nur die Möglichkeit eines in seinem Grad ungewiß bleibenden „Anähnelns" gegeben. Insofern das in das Gesichtsfeld Hineingestellte nur aspekthaft erscheint, kann es sich allenfalls ausschnitthaft so zeigen, wie es an sich selbst ist. Damit wird, so können wir Nietzsche interpretieren, der Schein der Erscheinung des Objektes so wesentlich vom Gesichtspunkt des Subjektes bestimmt, daß „Erscheinung" eine anteilmäßig unbestimmbare Gemengelage aus „lucere" und „videtur" ist: weder ist sie bloßer Anschein, noch reiner, vollkommener Aufschein der Wahrheit, d. h. Wesensschein. Unsere Erkenntnis (zu der auch der Begriff „Ding an sich" rechnet) ist nur Wahr-Schein — bei diesem privativen „ n u r " bleibt Nietzsche jedoch, anders als Lange, 33 nicht stehen, er verkehrt es in sein Gegenteil: Wenn die Tatsache, daß menschliche Erkenntnis Wahr-Schein und keine Wahrheit erlangt, Ausdruck davon ist, daß diese kein Passivum, auf dem sich die Dinge gleichsam durch ihre eigene Tätigkeit abkonterfeien, sondern schöpferisches Aktivum ist, dann kann der Schein, in den die Wahrheit getaucht wird, vielleicht nicht nur als Beraubung, sondern im Gegenteil gerade als künstlerische Bereicherung derselben begriffen werden. Das aber hieße, daß bereits der Erkenntnisapparat kunstschaffend ist. Der Schein der Wahrheit wäre dann der Raum, in dem das ,dichtende Wesen der Erkenntnis' 34 spielt — doch nicht nur darum ist diese vielleicht bestrebt, den Schein zu wahren, vielmehr auch deswegen, weil die Wahrheit an sich ihrer, d. h. des menschlichen Geistes unwürdig ist. Davon spricht eine Aufzeichnung vom Juli 18 6 3 35 : Die Quellen des N a t u r g e n u s s e s sind theils in uns, theils in der Natur zu suchen. Alles, was in die geistigen Augen der Seele fällt, durchgeistigt sie und giebt ihm einen individuellen Anstrich. Wir kennen die Dinge nicht an und für sich, sondern nur ihre Abbilder auf dem Spiegel unsrer Seele. Unsre Seele ist nichts als das vergeistigte Auge O h r usw. Farbe und Klang ist nicht den Dingen, sondern Auge und O h r eigen. Alle Abstrakta, Eigenschaften, die wir einem Dinge beilegen, bilden sich in unserm Geiste zusammen. Nichts zieht uns an als das Lebendige. Alles was uns anzieht,
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hat vorher Leben in unsrem Geiste empfangen. Alle(s) Todte ist des Geistes unwürdig. In die Natur legen wir also unsre Seele oder einen Theil derselben, eine Stimmung. Was uns in der Natur anzieht, sind uns eigne edele Gefühle, die wir wie in einem Bild vor uns verkörpert sehn. 36 Diese sind gewöhnlich unbestimmt. Am häufigsten das Gefühl der stolzen Seelenunabhängigkeit, das uns bei dem Anblick einer Weite überkömmt. Dies die E m p f i n d u n g d e s F r e i e ( n ) im Gegensatz zur Enge. An einem Kunstwerk nie etwas schön außer die Empfindung von Seelenweite, die es erregt. [ . . . ] In der Kunst haben wir die N a t u r nachgeahmt und legen in die N a t u r die Kunst hinein.
In diesem Denkansatz geht Nietzsche mit Kant überein. Auch für Kant sind die sinnlichen Qualitäten subjektiv in der Weise, daß sie zwar von einer Beziehung des Gegenstandes auf die Sinne des Subjekts abhängen — darin, daß sie Erkenntnis a posteriori sind, differieren sie von den reinen Formen der Anschauung —, gleichwohl aber „nicht als Beschaffenheiten der Dinge, sondern bloß als Veränderungen unseres Subjekts, die so gar bei verschiedenen Menschen verschieden sein können, betrachtet werden" müssen (Kr. d. r. V., Β 45): Mit gewisser Berechtigung kann man danach sagen, daß das Subjekt die sinnlichen Qualitäten in die Erscheinung hineinlegt, wobei sie als nicht objektive Bestimmungen derselben und d. h. als nicht notwendige Bedingungen ihres Erscheinens in Kants Perspektive unwesentlich sind. 37 Kant wie auch, in seiner Nachfolge, der Nietzsche der von uns bisher angeführten Aufzeichnungen setzen das Objekt der Phänomenbeziehung nichtig: Zwar muß die Sinnlichkeit eines Subjekts von einem Objekt affiziert werden, damit diesem etwas erscheint, doch ist jede Qualität und damit jeglicher „ W e r t " dieser Erscheinung „subjektiv", Produkt der Tätigkeit des Subjekts. So hat das Objekt seinen Adel zu Lehen des Subjekts — gemäß dem Kantischen Grund-Satz: „die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten" (Kr. d. r. V., Β XVI). Max Scheler 38 erkennt in dieser philosophischen Lehre den Ausfluß einer besonderen „Gesamthaltung zur Welt". Insofern Nietzsche mit Kant in jenem Grund-Satz übereinkommt, gelten die nachfolgenden Ausführungen auch für ihn: Diese „ H a l t u n g " kann ich nur mit den Worten einer ganz ursprünglichen „Feindseligkeit" zu oder auch „Mißtrauen" in alles „Gegebene" als solches, Angst und Furcht vor ihm als dem „ C h a o s " bezeichnen — „die Welt da draußen und die Natur da drinnen" —; das ist, auf Worte gebracht, Kants Haltung gegen die Welt, und die „ N a t u r " ist das, was zu formen, zu organisieren, was zu „beherrschen" ist, sie ist „das Feindliche", das „ C h a o s " usw. Also das Gegenteil von Liebe zur Welt, von Vertrauen, von schauender und liebender Hingabe an sie.
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Scheler erblickt darin das W a l t e n einer allgemeinen Weltverhaltung: es ist im Grunde nur der die Denkweise der modernen Welt so stark durchziehende Welthaßdie Weltfeindschaft, das prinzipielle Mißtrauen in sie, und deren Folge, das grenzenlose Aktionsbedürfnis, daß sie „organisiert", „beherrscht" werde. Historisch aber liegt f ü r Scheler eine christliche Weltverhaltung, „die puritanisch-protestantische H a l t u n g " 3 9 z u g r u n d e . Die Berechtigung dieser Ü b e r l e g u n g e n Schelers o f f e n b a r t sich, w e n n m a n beispielsweise als E i n w a n d gegen Kants erkenntnistheoretischen Ansatz 4 0 , gegen seine Lehre vom D i n g an sich, die Möglichkeit einer „ p r ä f o r m i e r t e n H a r m o n i e " 4 1 zwischen den F o r m e n des menschlichen Geistes u n d der „ w i r k l i c h e n " Welt in E r w ä g u n g zieht: H a t K a n t auch nachgewiesen, daß die Erscheinungen in den gesetzmäßigen F u n k t i o n e n unserer Intelligenz g r ü n d e n , so m u ß damit doch noch nicht ausgeschlossen sein, d a ß diese Funktionen zugleich F o r m e n einer „ a b s o l u t e n " Wirklichkeit sind. Auch Nietzsche k o m m t im S o m m e r 1872—Anfang 1873 dieser G e d a n k e : „ G e g e n K a n t ist d a n n immer noch e i n z u w e n d e n , daß, alle seine Sätze zugegeben, doch noch die volle M ö g l i c h k e i t bestehen bleibt, daß die W e l t so ist, wie sie uns erscheint." 4 2 K a n t hat jedoch diese Möglichkeit einer E n t s p r e c h u n g von menschlichem Weltbild u n d „ w i r k l i c h e r " W e l t nicht n u r deshalb nicht in E r w ä g u n g g e z o g e n , weil ihm die Antinomien der reinen V e r n u n f t dagegen zu sprechen schienen, sondern auch, weil seiner Ansicht nach der W e l t der Dinge im Hinblick auf die Erfordernisse der M o r a l Ubersinnlichkeit z u g e s p r o c h e n w e r d e n m u ß u n d sich derweise die sinnliche W e l t als i n k o n g r u e n t e Erscheinung eines „ w a h r e n " Wesens erweist. Nietzsche hat dies im Abschnitt 3 der 1886 geschriebenen V o r r e d e z u r neuen Auflage der „ M o r g e n r ö t h e " , die Scheler mit Sicherheit g e k a n n t hat, wie folgt formuliert: um Raum für s e i n „moralisches Reich" zu schaffen, sah er sich genöthigt, eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches „Jenseits", — dazu eben hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nöthig! Anders ausgedrückt: e r h ä t t e sie n i c h t n ö t h i g g e h a b t , wenn ihm nicht Eins wichtiger als Alles gewesen wäre, das „moralische Reich" unangreifbar, lieber noch ungreifbar für die Vernunft zu machen, — er empfand eben die Angreifbarkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von Seiten der Vernunft zu stark! 43 In Nietzsches A u g e n ist K a n t , den er in der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " 4 4 als „ e i n e n h i n t e r l i s t i g e n Christen z u g u t e r l e t z t " bezeichnet, die A n n a h m e des Dinges an sich bzw. einer intelligiblen O r d n u n g der D i n g e von der metaphysisch-christlichen 4 5 T r a d i t i o n einer w a h r e n u n d göttlichen überirdischen Welt aufgenötigt w o r d e n ; im „Antichrist" 4 6 b e m e r k t Nietzsche — w o r a u f wir noch z u r ü c k k o m m e n w e r d e n — : „ V e r f a l l e i n e s G o t t e s : G o t t w a r d , D i n g an s i c h ' . . . " . Nietzsche b e k ä m p f t diese T r a d i t i o n , weil sie
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im Lichte jener jenseitigen Welt das Hiesige, das Leibhafte und Sinnliche, zum Vorläufigen und Scheinbaren abwertet. Anders als Scheler, der den Verursacher für die moderne, will sagen: für die neuzeitliche Weltfeindschaft, wie sie ihm zufolge in Kants Philosophie kulminiert, bloß in einer Spielart des Christentums, der puritanisch-protestantischen, erkennt, führt bereits der junge Nietzsche diese auf das Christentum überhaupt zurück. S o läßt nämlich die schon zitierte Aufzeichnung vom April 18 6 2 4 7 wissen: „ D a ß Gott Mensch geworden ist, weist nur darauf hin, daß der Mensch nicht im Unendlichen seine Seligkeit suchen soll, sondern auf der Erde seinen Himmel gründe; der Wahn einer überirdischen Welt hatte die Menschengeister in eine falsche Stellung zu der irdischen Welt gebracht". Daß jedoch seine eigene erkenntnistheoretische Ausgangsposition ebenfalls von dieser Weltfeindschaft gezeichnet ist, dies zu erkennen, bedarf es noch einiger Jahre des Nachdenkens. Erst in demjenigen, was er als Nihilismus zu denken versucht, ist ihm der Zusammenhang von Metaphysik, einbegriffen Kants Erkenntniskritik, Christentum und Moderne (decadence) offenbar. Inwieweit die erkenntnistheoretische Konsequenz, die Nietzsche aus seinen Überlegungen zum Nihilismus in der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " zieht, nämlich sowohl „ w a h r e " als auch „scheinbare" Welt im Hinblick auf den „Willen zur M a c h t " abzuschaffen, 4 8 die Feindschaft und das Mißtrauen gegen die Welt, sprich: den Nihilismus im erkenntnistheoretischen Feld wirklich überwindet und inwieweit sie damit seiner Forderung „Bleibt der Erde treu" 4 9 entspricht — das wollen wir zunächst noch offenlassen. Hier können wir nur noch einmal darauf hinweisen, daß dieses „Fabelwerden der wahren W e l t " mit jener durch Lange vermittelten Erkenntnis einsetzt, daß das Ding an sich „ u n s nicht nur unbekannt, sondern [ . . . ] auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes [ist], von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat" 5 0 . Bereits im Sommer 1872/Anfang 1873 scheint sich dieses „ F a b e l w e r d e n " endgültig vollzogen zu haben, wenn Nietzsche nämlich aufzeichnet 5 1 : „ S o b a l d man das Ding an sich e r k e n n e n will, so i s t e s e b e n d i e s e W e l t " , doch deutet der Fortgang des Zitates an, daß sich Nietzsche aus den Denkbahnen der metaphysischen Uberlieferung noch nicht herausgedreht hat: „ e r k e n n e n " , so können wir weiter lesen, ist n u r m ö g l i c h , als ein W i e d e r s p i e g e l n u n d S i c h m e s s e n an e i n e m
Maße
(Empfindung). W i r w i s s e n , w a s die W e l t ist: a b s o l u t e u n d u n b e d i n g t e E r k e n n t n i ß ist Erkennenwollen ohne Erkenntniß.
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Noch nahezu 17 Jahre wird Nietzsche an der Idee einer „absoluten Erkenntnis" als Maßstab für die menschliche Erkenntnis der Welt festhalten und diese demgemäß als relative „Wahrheit", d. h. in seinem Sprachgebrauch als „Schein" oder „Illusion" bestimmen. Das „Ding an sich" aber, das zunächst alles schien — „unsere sichtbaren (körperlichen) Organe sind gleich allen andern Theilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbekannten Gegenstandes"—, ist, eben weil es, das ein Jenseits des Scheins der Erscheinung sein sollte, solches auch nur zu sein schien, bereits jetzt bloßer Schein für Nietzsche und d. h. bedeutungsleer, ein Nichts. Gleiches gilt indes auch für den Schopenhauerschen „Willen" — zumindest dann, wenn man Philosophie nicht von vornherein mit Kunst gleichsetzt und sie damit — als „Begriffsdichtung" 52 — in ihren Begriffen für frei erklärt, sondern sie den Bedingungen unterwirft, denen wissenschaftliche Erkenntnis zu genügen hat. Das aber heißt, wie Nietzsche selber in jenem oben (S. 4) angeführten Brief an Deussen von Ende April/Anfang Mai 1868 reflektiert hat, daß man „sich jetzt mit einer bewußten Relativität des Wissens" begnügt und auf Metaphysik Verzicht leistet, d. h. sein „metaphysisches Bedürfnis" 53 oder, wie Nietzsche in jenem Brief sagt, sein „Gemüthsbedürfnis" nach Aufklärung über das innere Wesen oder den Grund des Seienden unbefriedigt läßt. Schon hier zeichnet sich somit in Umrissen das ab, was Nietzsche im Auge hat, wenn er im Sommer 1872—Anfang 1873 als Titel-Entwurf für das damals geplante Philosophen-Buch — wie wir behaupten werden: auch als Selbstauslegung seines eigenen Philosophierens — notiert 54 : Der Philosoph. B e t r a c h t u n g e n über den Kampf von Kunst und E r k e n n t n i s s . Auf der einen Seite trägt die Philosophie, so können wir vorläufig interpretieren, Wesenszüge der Wissenschaft, auf der anderen Seite Wesenszüge der Kunst. Wenn sie aber Wissenschaft zu sein bestrebt ist, so hat sie dem Satz vom zureichenden Grunde, d. h. kausaler Ableitung zu genügen und sich damit von vornherein auf den Bereich der empirischen Erfahrung zu beschränken, auf den Bereich, den ihr, Nietzsche zufolge, Kant zugewiesen hat. Versteht sie sich hingegen eher als Kunst, so ist sie wohl diesen Bedingungen enthoben, kann eine — wie wir sehen werden — für den Lebensvollzug vielleicht unverzichtbare Gesamtdeutung der Wirklichkeit unternehmen, 55 begibt sich damit aber zugleich auch in die Gefahr, sich in ein „Faulbett des Denkens" 5 6 zu legen — denn „wer will", heißt es in dem oben (S. 4) zitierten Brief an Gersdorff, „einen Satz von Beethoven widerlegen, und wer will Raphaels Madonna eines Irrthums zeihen?"
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Nietzsches Neuansatz: Das Dissertationsprojekt vom April 1868
2. Nietzsches Neuansatz: Das Dissertationsprojekt vom April 1868 J e n e Gefahr scheint Nietzsche sehr bald deutlich geworden zu sein, 5 7 zumindest findet sich in den Notizen zu einem Dissertationsprojekt vom April
1868
(BAW
3,
370—394)
der Versuch
eines
philosophischen
Neuansatzes, in dem der Ausgangspunkt der späteren „Lebensphilosophie" gesehen werden kann. Nietzsche versucht in diesen Aufzeichnungen zu seinem Promotionsvorhaben, das in Briefen an Deussen, Ende April/Anfang Mai 18 6 8 58,
un
d Rohde, 3. oder 4. Mai 1868s 9 , „ Ü b e r den Begriff des
Organischen seit K a n t " , in den Notizen selber „ D i e Teleologie seit K a n t " (372) betitelt ist, eine Kritik an den Überlegungen Kants zur Teleologie 6 0 , eines „praktischen W e r t h f e s ] " (375) wegen: „ E s kommt nur darauf an den Begriff
einer
Überlegungen
höheren zur
Vernunft
Teleologie
in
der
[in der Natur, wie Form
einer
ihn
regulativen
Kants Idee
implizieren] abzulehnen: so sind wir schon zufrieden." Anders als Kant, der „in der Metaphysik stecken [bleibt]" (372) und sich „in eine intellegible W e l t " flüchtet, „in der der Zweck den Dingen immanent ist" (ebd.), will Nietzsche „jedes theologische Interesse aus der Frage sondern" (ebd.). Es geht ihm um den Nachweis, daß es „keine F r a g e " gibt, „die nothwendig nur durch die Annahme einer intelleg(iblen) Welt gelöst w i r d " (373), d. h. um die Zerstörung des Fundaments, auf das K a n t die Metaphysik gegründet hat. D e r „praktische W e r t " , den Nietzsche seiner Arbeit zuspricht, beruht somit in der Destruktion des besagten ,,Wahn[es] einer überirdischen W e l t " , der „die Menschengeister in eine falsche Stellung zu der irdischen W e l t " bringt. Zu diesem Behufe geht er von einem Gedanken des Empedokles aus, der ihm durch Lange vermittelt worden ist 61 und den er im Hinblick auf die T h e o r i e Darwins versteht 6 2 , daß nämlich im Grunde für uns ,,[z]weckmäßig gleich existenzfähig" (381) ist. Wenn der Mensch etwas verfertigt d. h. existenzfähig machen will, so überlegt er, unter welchen Bedingungen dies geschehn könne. Er nennt die Bedingungen zur Existenz am verfertigten Werk nachher z w e c k m ä ß i g . Deshalb nennt er auch die Existenzbedingungen der Dinge z w e c k m ä ß i g : dh. nur unter der Annahme, sie seien wie menschliche Werke entstanden. (376) Will sagen: der Mensch versteht die Erscheinungen menschenähnlich, er anthropomorphisiert sie. Anders als Kant nun, der im Falle der Organismen „eine N ö t h i g u n g " (371) zu teleologischen Urteilen, denen nur ein heuristischer Charakter eignet, zu erweisen sucht, sieht Nietzsche für dieselben die Möglichkeit einer kausalmechanistischen Erklärung als gegeben an, der allein er, darin K a n t folgend, erkenntniskonstitutive Funktion zuspricht. 6 3 In seinen Augen — und denen Langes 6 4 — vermag ,,[d]er Mechanismus verbunden mit dem
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Casualismus" (378) als Ersatz für die Annahme des Waltens höherer Vernunft die Entstehung zweckmäßiger, d. h. f ü r ihn: lebensfähiger Formen zu erklären. D a s Z w e c k m ä ß i g e entstanden als ein Spezialfall des M ö g l i c h e n : eine U n z a h l Formen entstehn dh. mechanische Zusamm(en)setzungen: unter diesen zahllosen k ö n n e n auch lebensfähige sein. (379) 6 5
Noch in einer weiteren, f ü r uns bedeutsamen Hinsicht betrachtet Nietzsche das Problem der Teleologie: Der Begriff des „ G a n z e n " , des „Organismus" ist, so hebt er, von Kant ausgehend, an unser Werk. H i e r liegt die Quelle der Vorstellung des Zwecks. D e r Begriff des G a n z e n liegt nicht in den Dinge(n), sondern in uns. D i e s e Einheiten, Vielheiten.
die wir Organismen
nennen,
sind aber
wieder
Es giebt in Wirklichkeit kein(e) Individuen, vielmehr sind Individuen und Organism nichts als Abstraktionen. In die v o n uns gemachten Einheiten tragen wir nachher die Z w e c k i d e e . (379f.)
Wohl im Zusammenhang mit diesen Gedanken, daß „ D i n g " und „ Z w e c k " Facta unseres Erkenntnisvermögens sind, ist das Notat eines Goethe-Zitates zu sehen, auf das wir hier kurz eingehen wollen, nicht nur aus dem allgemeinen, methodischen Grund, daß konstrastive Vergleiche eine schärfere Bestimmung denkerischer Orte ermöglichen, sondern auch aus dem speziellen, daß Nietzsche sich, was wir an mehreren Stellen zu zeigen beabsichtigen, in der Einrichtung seines Ortes an demjenigen des bewunderten Goethe orientiert. Das Goethe-Zitat findet sich in „Die Absicht eingeleitet" aus: „ Z u r Morphologie", ist zugleich aber auch in Langes „Geschichte des Materialismus" abgedruckt 6 6 : „Jedes Lebendige", sagt G o e t h e , „ist kein Einzelnes, sondern ein(e) Mehrheit: selbst insofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es d o c h eine V e r s a m m l u n g v o n lebendig, selbständigen W e s e n . " (376)
Doch, was Nietzsche in diesem Zusammenhang augenscheinlich übersieht: Anders als für ihn und Kant sind nach Goethes Verständnis die Einheiten der Welt kein Erzeugnis des menschlichen Bewußtseins, das in die atomistisch getrennte Mannigfaltigkeit von Teilen einer „Materie" oder in die ebenso atomistisch getrennte Mannigfaltigkeit von „Empfindungen" und „Anschauungen" seine Einheit hineinträgt, vielmehr ebenso „Tatsache" der Welt wie das in ihnen verbundene Mannigfaltige. N u r die Anschauung bestimme, so Goethe, ob wir uns synthetisierend oder analysierend zu betätigen haben, fehlen könne keines der beiden Konstitutionsmomente, allenfalls überwiege für die Anschauung das eine oder das andere.
Nietzsches Neuansatz: Das Dissertationsprojekt vom April 1868
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Einen dynamisch-ganzheitlichen Ansatz, der von gestalthaft aufgebreiteten Einheiten und einem gleichgewichtigen Entsprechungs-Verhältnis von Subjekt und Objekt ausgeht, stellt Goethe somit dem atomistischen Ansatz Kants und Nietzsches gegenüber, in welchem dem Subjekt eine Vorrangstellung zukommt: „die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten", formuliert Kant, wie gesehen, bündig. Wenn dieser daher die Frage aufwirft, „wie [ . . . ] s u b j e k t i v e B e d i n g u n g e n d e s D e n k e n s sollten o b j e k t i v e G ü l t i g k e i t haben, d. i. Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntnis der Gegenstände abgeben" (Kr. d. r. V., Β 122) 67 , so beantwortet sich für ihn dieses Problem der Vermittlung von Subjekt und Objekt dadurch, daß sich alle unsere Erkenntnis auf Vorstellungen von Gegenständen, auf Erscheinungen bezieht, die deswegen als „bloße Vorstellungen aber [ . . . ] unter gar keinem Gesetze der Verknüpfung [stehen können], als demjenigen, welches das verknüpfende Vermögen vorschreibt" (Kr. d. r. V., Β 164). Frage und Antwort gelten im wesentlichen auch für den jungen Nietzsche. Für Goethe hingegen kann es diese, laut Scheler, aus Feindschaft und Mißtrauen gegen die Welt erwachsende Form des Problems der „Vermittlung" von Subjekt und Objekt nicht geben. Sein — immer erneut zu erringendes — Weltvertrauen äußert sich nicht zuletzt darin, daß die Subjekt-Objekt-Beziehung für ihn ein geschlossenes Ubergreifungsphänomen darstellt, bei dem man nicht ungestraft die zusammengehörenden Pole voneinander isoliert in Ding an sich auf der einen und apriorisches Erkenntnisvermögen auf der anderen Seite, um sich nachher — wie Goethe meint — vergeblich abzumühen, wie das einmal Getrennte „wieder zu vereinigen sein möchte" 6 8 . Goethe kommt es auch nicht an auf das Wissen einer spekulativ erdachten Wesenseinheit von Geist und Natur im Sinne einer theoretischen Weltinterpretation, welche mit den Phänomenen „rechnen" will (siehe dazu im folgenden), sondern auf eine anschauende Einstimmung in das schöpferische Leben der Natur, derart, daß Objekt und Subjekt schließlich ineinander aufgehen: „so wird dir dieses Ding immer lebendiger, wahrer, runder, es wird endlich du selbst werden", schreibt Goethe in „ N a c h Falconet und über Falconet" 69 . V o n diesem schöpferischen Leben schreibt auch Nietzsche in seiner Notizsammlung — doch wie anders! Für ihn kann der einzelne das Ding selbst nicht werden, weil er es bereits ist — und dies noch in anderer Weise, als Kant es mit seiner Aussage meinte: „die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten". Für Kant ist die Welt der Gegenstände ein Erzeugnis der überindividuellen Funktion, die als Erfahrung in jedem einzelnen tätig ist, die jedoch nur dann wirksam wird, wenn sie von „etwas", wie Kant sagt, von
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einem „Ding an sich" affiziert wird. Doch was heißt „Ding an sich" überhaupt? „ D i n g " kommt von althochdeutsch thing, welches W o r t ursprünglich das Gericht, die Versammlung der freien Männer, bezeichnete und schließlich auch die Sache, den Gegenstand, der sie versammelte. Auch heute noch verwendet man im Deutschen „ D i n g " im Sinne von „Sache, Gegenstand". Damit nun aber etwas dem Menschen überhaupt entgegenstehen und ihn dadurch versammeln kann — das nämlich heißt, wie wir eben gesehen haben, eigentlich „Gegen-stand" —, muß es allererst Äer-gestellt sein, nach Kant von der Vor-stellung. Außerhalb dieser Vorstellung ist der Gegenstand Ding an sich oder Gegenstand an sich (das Ding, wie es an sich selbst beschaffen ist). Das meint somit „einen Gegenstand, der für uns keiner ist, weil er stehen soll ohne ein mögliches Gegen: f ü r das menschliche Vorstellen, das ihm entgegnet" 7 0 , doch immer noch etwas, das als solches steht. (Im Gegensatz zu den Empfindungen, die dieses Etwas im Falle einer Affizierung beim Menschen hervorruft: Laut Kant stellen sie ein „Gewühle" dar, das zum Stehen gebracht, ein Chaos, das geordnet werden muß von der produktiven Einbildungskraft, die derweise die Gegenstände originaliter f ü r uns erzeugt). Nietzsche hingegen hat, wie wir wissen, das Ding an sich als ein bedeutungsleeres Nichts verabschiedet — heißt dies, daß damit für ihn auch die Frage, was der Gegenstand ohne „Gegen", d. h. was er außerhalb der menschlichen Vorstellung sei, ebenfalls hinfällig ist? Eine Notiz für sein Dissertationsprojekt wird uns zeigen, daß er sie in verwandelter Form aufgreift: N u n erfassen wir an einem Lebenden überhaupt nichts als F o r m e n . D a s e w i g W e r d e n d e ist das Leben; durch die N a t u r unsres Intellekts erfassen wir Formen: unser Intellekt) ist zu stumpf, um die fortwährende V e r w a n d l u n g w a h r z u n e h m e n : das ihm Erkennbare nennt er Form. In Wahrheit kann es keine Form geben, weil in jedem Punkte eine Unendlichkeit sitzt. Jede gedachte Einheit (Punkt) beschreibt eine Linie Ein ähnlicher Begriff wie die Form ist der Begriff Individuum. Man nennt Organismen s o als Einheiten, als Zweckcentren. Aber es giebt nur Einheiten für unsern Intellekt. Jedes Individuum hat eine Unendlichkeit lebendiger Individ, in sich. Es ist nur eine grobe Anschauung, viell(eicht) v o n dem Körper des Menschen zuerst e n t n o m m e n . ( B A W 3, 387f.) 7 1
Indes, so haben wir zunächst zu fragen, bedenkt Nietzsche hier nicht „Lebendes" im Sinne des Biologischen, und bedeutet dies nicht, daß seine Überlegungen nur organische Gegenstände, d. h. Organismen, und nicht Gegenstände überhaupt betreffen? Keineswegs. Denn wenn Nietzsche an anderer Stelle seiner Notizsammlung bemerkt, „daß innerhalb der
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organischen Natur im Verhalten der Organism zu einander kein andres Princip existirt als in der unorganischen N a t u r " (BAW 3, 385) — wobei „ N a t u r " hier das nicht vom Menschen geschaffene Seiende meint, das Nietzsche bisweilen ebenfalls „Leben" nennt —, und wenn er aus diesem Grunde die Formen der organischen Natur auf die gleiche, nämlich mechanische Weise wie die anorganischen Formen erklären zu können meint, dann gelten Nietzsches Reflexionen über „ F o r m e n " gleichermaßen f ü r organische wie anorganische Gegenstände. Die erkenntnistheoretischen Überlegungen sind, wie sich zeigen wird, grund-sätzlicher, d. h. „metaphysischer" Art (— wobei dieses W o r t in einem anderen Sinne zu verstehen ist, als es Nietzsche verstanden wissen will: Es bezeichnet in unserem Sprachgebrauch die Frage nach dem Grund des Erscheinens der Welt, gleichgültig, ob dieser „absolut" oder „relativ" gedacht wird). Die Vieldeutigkeit, in der der Begriff „Leben" bei Nietzsche zu allen Zeiten schwebt — zuweilen meint er das Seiende im Ganzen, zuweilen die Natur, zuweilen nur das Lebendige, nämlich Pflanze, Tier, Mensch, zuweilen überhaupt nur das menschliche Leben —, zergeht zu einer Eindeutigkeit, wenn man ihren meist verborgen bleibenden Grund im Gedächtnis behält: daß Nietzsches „Metaphysik" von Beginn an wissentlich und willentlich Anthropomorphic, „Begriffsdichtung", ist, daß er nämlich seine Auslegung der Welt, wie sie für uns, und d. h. nicht, wie sie an sich selbst ist, am Leitfaden des Leibes vollzieht — der Arbeitsweise des menschlichen Intellekts entsprechend. Denn die menschliche Vorstellung hat, so lehrt uns obiger Text, allererst das ewig Werdende, das niemals diskrete Punkte, vielmehr durchgängige Linien bildet, zum Stehen zu bringen, damit ihr etwas entgegenzustehen und sie zu sammeln vermag. Anders als bei Kant ist sie eher V o r -Stellung denn Vor-stellung: Damit Seiendes sei, hat der „stumpfe", d . h . endliche menschliche Intellekt in dieses ewig Werdende Formen hineinzutragen. Denn das nicht augenscheinliche, das „ w a h r e " „Sein" soll Nietzsche zufolge kein Sein, auch kein Werden an einem bereits Seienden, das sich im Werden wandelt, sondern reines Werden, reine Lebensflut sein. Zum Gegen-stand gebracht werde diese durch den „Intellekt", d. h. nicht durch die „dumpfe, nichtssagende Empfindung" (Schopenhauer) 7 2 , sondern durch das Denken, 7 3 das mit seinen „Formen", wir interpretieren vorläufig: mit seinen begrifflichen Kategorien in eben jene subjektive Empfindung hineinwirkt und aus ihr die objektive Anschauung formt. Der menschliche Intellekt stellt mithin das Werden zum Seienden vor, um dann dieses als Seiendes, d. h. als Gegen-stand in die Unverborgenheit her-stellen zu können: Er ent-deckt seine eigene Voraus-setzung, indem er sich an diese anmißt. (Wir weisen bereits hier darauf hin, daß in Nietzsches
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Voraussetzungen
Wahrheitsbegriff die alten metaphysischen Bestimmungen der Wahrheit als ά λ ή θ ε ι α und adaequatio fortwirken, siehe dazu im folgenden.) Die Formen, die der Intellekt in das Werden hineinträgt, soll er nun — vielleicht, wie Nietzsche sagt — von seinem Körper zuerst entnommen haben. Doch — ist, wenn „alles für den Menschen eigentlich nur Schein ist" 74 , nicht auch der Mensch für den Menschen nur Schein? Muß nicht der Intellekt allererst den Körper vorstellend herstellen, um nach seinem Bilde den Welt-Körper zu formen? W o h e r hat er aber jene Körperformen? Verirrt sich Nietzsches Denken hier nicht in einem Zirkel? In der T a t — doch werden wir später sehen, daß Nietzsche in der Zirkelhaftigkeit eine Wesenseigenschaft des menschlichen Denkens zu erkennen meint. Aber weiter gefragt: Muß nicht dasjenige, was Form hat, nämlich der Intellekt, selber bereits Form sein? N u r wenn es sich selbst vorstellt, ist es Form, weil es selber das Formgebende ist, antwortet Nietzsche. 75 In einer Notiz vom Herbst 1868 heißt es: „ D e r Intellekt ist keine reale Einheit, sondern nur eine gedankliche: ein zusammenfassendes W o r t für viele Erscheinungen." 7 6 , kann es Einheit doch nur dort geben, wo es Sein „gibt", als welches Nietzsche ja leugnet. Was aber bewirkt die Formen des Intellekts bzw. des vorstellend-herstellenden Denkens, oder anders, aber in gleicher Richtung gefragt, was ist dieses „Etwas", das sich horizonthaft als Mensch und in ihm als Welt vorstellt, was ist dieses Denken außerhalb der Formen des Vorstellens? Kann diese Frage überhaupt gestellt werden, ist ein solches „Außerhalb" überhaupt denkbar? Indes gibt nicht unser Text die Antwort, daß es „ewig Werdendes", daß es „Leben" sei? Aber, so fragen wir dringlicher, woher dieses Wissen? Wie soll ein solches „Formloses" unserem formenden Denken zugänglich sein? Vielleicht in dem seine Akthaftigkeit bedenkenden Denken: aliquid cogitat se cogitare — wenn das „ E g o " als Formgegebenes und -gebendes des Denkens aus Descartes' Formel ausgeschieden wird? W ä r e derweise nicht die Existenz von etwas zugänglich, gerade nicht in dem, was es denkt, sondern daß es denkt? Zugänglich und sichergestellt dadurch, daß es im reinen Prozeß des Denkens eben nicht sich selber denkt — als Verursacher des Denkens etwa 77 —, sondern bloß „etwas" empfindet, das heißt „lebt" („Das,Leben' tritt auf mit dem Empfinden" [BAW 3, 391], formuliert Nietzsche in den Notizen zu seinem Dissertationsprojekt), und zwar empfindet als reinen Prozeß des Werdens? Und könnte dies, so fragen wir, an die abendländische Metaphysik seit Leibniz anknüpfend, weiter, nicht ein Etwas sein, das sich in der Vorstellung reflektiert — das Vorgestellte des Vorstellungsfeldes auf sich zurückbezieht — und in diesen Akten des Vorstellens allererst erwirkt? Ein Etwas mithin, das an sich „ewig Werdendes", reiner Prozeß, für sich, in der Re-präsentation jedoch Form (forma, είδος) ist, das sich als dieser
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Prozeß aber überhaupt erst im Fortgehen von der einen zur anderen Vor-stellung von sich gewinnt — als Vorstellendes? Ein Etwas mithin, das als ewiges Wirken in der Zeit sich in seinen Vor-stellungen zu Formen einräumt und damit die Welt und ihren Raum herstellt? (Wir werden unten den aus dem Frühjahr 1873 stammenden spekulativen Versuch einer Zeitatomenlehre kennenlernen, in dem Nietzsche — wie später in der Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen — das Weltganze temporal zu fassen sucht.) Ein Etwas, das in dieser Weise wohl vorstellbar, doch — die Ausführungen unseres Textes besagen das ebenfalls — als Vorgestelltes eben bestenfalls wahr-schein-lich ist. Denn es vorzustellen heißt, sein „An-Sich" in Formen für uns zu zwingen: „Die Form ist alles, was vom ,Leben' an der Oberfläche sichtbar erscheint.", können wir in der Notizsammlung für die Dissertation lesen (BAW 3, 389). Das gilt auch für die der kategorialen Verstandeserfassung — laut Schopenhauer (s. u.) — vorausliegende Sinnesempfindung: Sie ist Empfindung für uns, mit Schopenhauer gesprochen „etwas wesentlich Subjektives" 78 , oder wie Nietzsche im Frühjahr—Herbst 1873 in Anknüpfung an seine Überlegungen zu einer Zeitatomenlehre schreibt: Empfindung ist die einzige kardinale Thatsache, die wir kennen, die einzige wahre Qualität. Alle Naturgesetze sind auf Bewegungsgesetze zurückzuführen: durchaus ohne Stoff. Wenn man am Ende damit ist, wird man nur die Empfindungsgesetze festgestellt haben. Für das „an sich" ist dann gar nichts gewonnen. 79 Die Idealität der Welt ist keine Hypothese, sondern die handgreiflichste einzige Thatsache. Es ist unsinnig zu glauben, daß je Empfindung erklärt werden könne aus Bewegung, oder aus etwas anderem. Man kann nicht Empfindung aus etwas anderem erklären, da man gar nichts Anderes hat.80
Der Mensch ist, wie Nietzsche an anderer Stelle schreibt, in sein „Bewußtsein" „eingeschlossen, und die Natur warf den Schlüssel weg" 8 1 . Die Kluft zwischen An-Sich und Für-Uns bleibt unüberbrückbar — selbst der Begriff des „An-Sich", den wir doch zu Hilfe nehmen müssen, um auszudrücken, daß uns nichts anderes als unsere Vorstellungen gegeben sind, ist, wie wir bereits erfahren konnten, „nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat." Das aber gilt auch f ü r Nietzsches Begriff des „Lebens", auch er bezeichnet ein allenfalls „wahr-schein-liches" „Für-Uns". Zwar verlautbart im Zweifel der Frage:
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Das Geheimniß ist nur „das Leben" ob auch dies nur eine in der Organisation bedingte Idee
ist? (BAW 3, 380) das metaphysische Bedürfnis in der Form des Wunsches, „Leben" möge die Bestimmung eines „An-Sich" der Welt der Erscheinungen sein, doch ist die Auslegung desselben als „reines W e r d e n " nur vordergründig gesehen der Versuch einer Erfüllung dieses Wunsches, nur vor dem Hintergrund etwa des einige Seiten darauf folgenden Satzes: „Was wir vom Leben sehn ist Form; wie wir sie sehn, Individuum. Was dahinter liegt ist unerkennbar." (390) Zwar ist das „reine W e r d e n " unerkennbar, d. h. nicht denkbar, weil es per definitionem der räumlich-kategorialen Formung voraus-, in anderer Perspektive „dahinter" liegt, derweise diskursiv nicht faßbar ist, aber selbst dann, wenn es, was Nietzsches Kritik an Kants und Schopenhauers Termini des „Dinges an sich" und des „Willens zum Leben" erwarten läßt, mehr ist als ein spekulativer Begriff oder eine regulative Idee und auf, wie er sagen wird, intuitiv Erfahrbares zurückgeht — vielleicht, so legt zumindest die obige conclusio der in einer Empfindungslehre gipfelnden Zeitatomenlehre nahe, auf den Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit („Alle Naturgesetze sind auf Bewegungsgesetze zurückzuführen [ . . . ] . Wenn man am Ende damit ist, wird man nur die Empfindungsgesetze festgestellt haben.") —, so daß die Aufforderung an den Leser, den Rückgang in die tiefste Schicht des Vorbegrifflichen zu vollziehen, der Inhalt des Begriffes „reines W e r d e n " wäre, selbst dann wäre dieses noch oder schon ein „Für-Uns": „Was dahinter liegt ist unerkennbar." Anders als Kant oder Schopenhauer mit ihren Termini „Ding an sich" oder „Wille zum Leben" kann und will Nietzsche mit seinen Begriffen „Leben", „reines Werden", „Wille" oder, später, „Wille zur Macht" nichts anderes geben als eine Bestimmung des „ F ü r - U n s " in seiner tiefsten, allgemeinsten, d. h. unbestimmtesten Schicht. Das gilt schon für sein Dissertationsvorhaben. Ausdrücklich bemerkt er hier, daß seine eigenen „metaphysischen" Überlegungen nichts anderes sein können als Anthropomorphic, weil das Maß aller Überlegungen immer nur der Mensch sei: „ D e r Mensch erkennt einiges Menschenähnliche und Menschenfremde in der Natur und fragt nach der Erklärung." (BAW 3, 391) Ist diese Frage im Sinne der Grundfrage der traditionellen Metaphysik gemeint, die in der Formulierung durch Leibniz so lautet: „ W a r u m ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?" 82 — und wir meinen, daß Nietzsche jene Frage so verstanden wissen will —, dann kann ihre Antwort seiner Auffassung nach nur „Begriffsdichtung" sein, weil sie in seinen Augen als Antwort eine absolute Wahrheit erheischt. Doch zeigt Nietzsches frühe Philosophie, soweit sie Begriffsdichtung ist — das gilt vor allem für die „Geburt der
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Tragödie" —, zugleich, daß und warum sie nur Begriffsdichtung sein kann. („Die Frage ,warum ist etwas' gehört in die äußere Teleologie und liegt ganz aus unserm Bereiche.", heißt es dazu in den Dissertationsnotizen [BAW 3, 388].) Sie begründet „metaphysisch", warum eine Metaphysik im traditionellen Sinne des Begriffs, die den Anspruch auf Gewißheit, auf Wahrheit (an sich) erheben kann, nicht möglich ist.83 Doch auch von einer Metaphysik, wie Heidegger sie versteht, d. h. als „Fragestellung nach dem Sein des Seienden" 84 bzw. nach der „Wahrheit über das Seiende" 85 darf man im Falle Nietzsches — und das gilt für alle Stufen seines Denkweges — nur unter Vorbehalten sprechen, nur dann nämlich, wenn man zum einen im Auge behält, daß sein Denken von einem eigenen, im Verhältnis zur Uberlieferung als „umgedreht" zu bezeichnenden Wahrheitsbegriff ausgeht, insofern es keine Wahrheit (an sich), vielmehr nur Interpretation (für uns) — in Nietzsches Sprache: Illusion zu geben beansprucht, und solches, dies zum zweiten, nicht von der Seiendheit des Seienden — weil Seiendes eine grobe Fiktion ist —, sondern des Geschehens, des Werdens der Welt. Wobei in Nietzsches Augen diese beiden Modifikationen einander bedingen: Absolute Wahrheit „gibt" es nur dort, wo es unbedingtes Sein „gibt", in den Köpfen der Metaphysiker, der Hinterweltler. Indes bedeutet die Relativierung des Wahrheitsanspruches seiner Philosophie für Nietzsche nicht, daß sie beliebig ist. Bestenfalls ist sie etwas „Wahrscheinliches", d. h. etwas notwendig zu Glaubendes, wie wir im folgenden in Fortsetzung des früheren Gedankenganges aufzeigen wollen. Daß es „Etwas" „gibt", hat die bloße Empfindung des reinen Denkprozesses nahegelegt, doch was dieses „Etwas" „an sich" sein möchte, das bleibt uns verschlossen, über unsere Empfindungen und ihre Interpretation können wir nicht hinausgelangen: Bereits die Annahme, einer Wirkung müsse eine Ursache korrelieren, von einer Empfindung könne auf Empfundenes, vom Denken etwa auf ein Denkendes, zurückgeschlossen werden, ist nichts als eine den „Sachverhalt" verfälschende kategoriale Voraussetzung unseres Intellekts: „Man kann nicht Empfindung aus etwas anderem erklären, da man gar nichts Anderes hat." Oder wie es in „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" heißt: „Von dem Nervenreiz [ . . . ] weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde." 86 Auf unser Beispiel bezogen besagt das: Gegeben ist uns „an sich" — das meint in diesem Zusammenhang: in der tiefsten, den kategorialen Fest-stellungen soweit als möglich vorausliegenden Schicht — nichts anderes als das Geschehen des „Denkens" selbst. Verallgemeinert meint das aber: Daß eine Interpretation aus einem „Text" hervorgehen soll, ist eine Interpretation vielleicht erst ermöglichende Interpretation 87 , daß bedingtes
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Seiendes auf Unbedingtes, ein Ding an sich etwa, zurückgehe, vielleicht Bedingung der Möglichkeit, ein solches „Bedingtes" erfahren zu können. („Also das wahre Wesen der Dinge, das Ding an sich, ist uns nicht nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat." Eine Nietzsche fortwährend umtreibende Frage wird die sein, warum der Glaube an ein unbedingtes Sein dem Menschen nötig ist). Vorgestellt werden kann dieses „Etwas" nur als Negation möglicher Vorstellungen — es ist unendlich, ungeformt, unbegrifflich. In dieser Hinsicht kommt Nietzsches „Leben", soweit es „reines Werden" ist, mit Kants „Ding an sich" überein, von dem es sich indes auch in zwiefacher Hinsicht unterscheidet. Zum einen darin, daß es kein „Stand", wenn auch ohne „Gegen", ist, zum anderen darin, daß es empirisch erfahrbar sein soll. Diesem reinen Werden aber vermag das vorstellende Denken nur insoweit — näherungsweise zumindest — zu entsprechen, als es, wie wir bereits angedeutet haben, sein stellendes Wesen in der Weise zu übersteigen versucht, daß es sich vom kategorial geformten Begriff in Richtung auf das Unbegriffliche und damit auf das Unbegreifliche löst, will sagen: daß es sich ent-spricht. Doch was meint das, wohin führt dieser Weg? — eine Frage, die wir in der Weise zu beantworten suchen wollen, daß wir sie umkehren und bestimmter als bisher fragen: Woher überhaupt Nietzsches Annahme eines reinen Werdens, wo und wie ist es erfahrbar?
3. Die Zeitatomenlehre vom Frühjahr 1873: Das Werden als Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit
In seiner 1888 entstandenen Selbstdarstellung „Ecco homo", im Abschnitt über „Die Geburt der Tragödie", weist Nietzsche auf seine Verwandtschaft mit Heraklit hin, die u. a. in der Deutung der Welt als „ W e r d e n , mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs ,Sein'" 8 8 bestehen soll. Seine in den Märztagen des Jahres 1873 geschriebene, von ihm selbst nicht veröffentlichte Schrift „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" spricht von einer „Intuition" 89 , die Heraklit zu dieser Deutung geführt habe — und damit wohl auch Nietzsche, legt sich dieser in seiner Heraklit-Deutung doch auch selber aus, wie dies u. a. der nachfolgende Satz belegt:
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Heraklit hat als sein königliches Besitzthum die höchste Kraft der intuitiven Vorstellung; während er gegen die andre Vorstellungsart, die in Begriffen und logischen Combinationen vollzogen wird, also gegen die Vernunft sich kühl, unempfindlich, ja feindlich zeigt und ein Vergnügen zu empfinden scheint, wenn er ihr mit einer intuitiv gewonnenen Wahrheit widersprechen kann [ . . . ] . W i e wir bereits angezeigt haben, kritisiert insgleichen N i e t z s c h e v o m „reinen W e r d e n " her das begriffliche D e n k e n als die „Wirklichkeit" verfälschend. 9 0 „ D i e intuitive Vorstellung aber umfaßt", beginnt N i e t z s c h e in dem eben genannten Text 9 1 eine Schopenhauer-Paraphrase 9 2 , zweierlei: einmal die gegenwärtige, in allen Erfahrungen an uns heran sich drängende bunte und wechselnde Welt, sodann die Bedingungen, durch die jede Erfahrung von dieser Welt erst möglich wird, Zeit und Raum. Denn diese können, wenn sie auch ohne bestimmten Inhalt sind, unabhängig von jeder Erfahrung und rein an sich intuitiv percipirt, also angeschaut werden. Wenn nun Heraklit in dieser Weise die Zeit, losgelöst von allen Erfahrungen betrachtet, so hatte er an ihr das belehrendste Monogramm alles dessen, was überhaupt unter das Bereich der intuitiven Vorstellung fällt. So wie er die Zeit erkannte, erkannte sie zum Beispiel auch Schopenhauer, als welcher von ihr wiederholt aussagt: daß in ihr jeder Augenblick nur ist, sofern er den vorhergehenden, seinen Vater, vertilgt hat, um selbst ebenso schnell wieder vertilgt zu werden, daß Vergangenheit und Zukunft so nichtig als irgend ein Traum sind, Gegenwart aber nur die ausdehnungs- und bestandlose Grenze zwischen beiden sei, daß aber, wie die Zeit, so der Raum und wie dieser, so auch alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, nur ein relatives Dasein hat, nur durch und für ein Anderes, ihm Gleichartiges d. h. wieder nur ebenso Bestehendes sei. Dies ist eine Wahrheit von der höchsten unmittelbaren, jedermann zugänglichen Anschaulichkeit und eben darum begrifflich und vernünftig sehr schwer zu erreichen. Wer sie vor Augen hat, muß aber auch sofort zu der Heraklitischen Consequenz weitergehen und sagen, daß das ganze Wesen der Wirklichkeit eben nur Wirken ist und daß es für sie keine andre Art Sein giebt; wie dies ebenfalls Schopenhauer dargestellt hat [-••l· 9 3 In A n k n ü p f u n g an Schopenhauers Begriff der Intuition, der in Gegenposition zur Kantischen Lehre den Verstand z u m Organ der unmittelbaren, intuitiven Erkenntnis erklärt, v o n der ausgegangen wird, um das intuitiv, in unmittelbarer Anschauung Erkannte mit Hilfe der Vernunft „in sein abstraktes Wissen, in die Reflexion zu bringen" 9 4 , führt Nietzsche hier die Intuition des reinen Werdens auf die von der empirischen Anschauung absehende reine Anschauung der Zeit zurück. Sie ist, gleich der reinen Form des Raumes, durch Korrelativität gekennzeichnet: Jeder diskrete Zeitpunkt innerhalb des kontinuierlichen Zeitstromes (die Zeit gedacht als Fluß der Jetzt) ist als solcher b e z o g e n auf die zeitlich benachbarten Punkte vorher und nachher, wie insgleichen jeder Raumpunkt
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innerhalb des Raumkontinuums auf die räumlich benachbarten Punkte; denn der Punkt ist nichts Selbständiges, nur Mitte und Grenze, in dieser seiner Relativität aber, wie Schopenhauer sagt, eine „Nichtigkeit" 9 5 . N u n ist aber, wie wir hier einfügen möchten, dieser im einzelnen Punkt waltende Bezug von Diskretion und Kontinuität in sich gedoppelt zu denken: Wenn es einerseits nur in bezug auf den einzelnen Punkt ein Vorher und Nachher bzw. ein Links und Rechts, ein Oben und Unten gibt, so ist andererseits er selbst wiederum doch nur denkbar unter Voraussetzung eben dieses Vorher und Nachher, Links und Rechts (so daß wir keinen absoluten Anfang, weder der Zeit noch des Raumes, denken können). Paradoxal formuliert: U m den Punkt denken zu können, muß man ihn, zumindest implizit, bereits gedacht haben, muß man dazu noch die reale Möglichkeit unendlich vieler Punkte zugegeben haben: H a t man sich ein einziges Mal in reine A n s c h a u u n g versetzt, s o d a ß man sich in ihr denkend bewegt, dann liegt mit einem S c h l a g e die g a n z e unendliche Fülle der Möglichkeiten vor uns und man wird v o m beliebigen A u s g a n g s p u n k t f o r t g e z o g e n zur B e t r a c h t u n g ihrer Gesamtheit, o h n e dabei jemals das d u r c h g e h e n d e G e f ü h l und Wissen von der Einigkeit der R e g i ο η , in der wir denken, zu verlieren. Reine A n s c h a u u n g ist gleichsam Eine große u m f a s s e n d e Synthesis, die eine unendliche Fülle b e s o n d e r e r Synthesen aus sich entläßt. 9 6
Genau dies meinte Kant mit seinen Überlegungen, daß verschiedene Zeiten wie verschiedene Räume nur Teile ein und derselben Zeit (Kr. d. r. V., Β 47), respektive ein und desselben Raumes (B 39) seien, und genau hier dürfte einer der Ausgangspunkte für Nietzsches späteren Versuch beschlossen sein, in der Lehre der ewigen Wiederkunft das G a n z e der Welt als zeitliches G a n z e s zu denken — unter Hintanstellung des Raumes, ebenweiche sich in der oben zitierten Textpassage aus „ D i e Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" bereits andeutet — die reine Anschauung des Flusses der Zeit sei „ d a s belehrendste M o n o g r a m m alles dessen, was überhaupt unter das Bereich der intuitiven Vorstellung fällt", heißt es dort 9 7 —, in einem ebenfalls im Frühjahr 1873 entstandenen, von Nietzsche selbst im fortlaufenden Text „Zeitatomenlehre" genannten Entwurf (III 26 [12], 3 / 4 , 177—181) sich jedoch schon breiter entfaltet sieht. Wie Anni Anders 9 8 herausgearbeitet hat, stellen diese Ausführungen den Versuch Nietzsches dar, seine eigene erkenntnistheoretische Grundposition mit den Anregungen aus der Lektüre teils erkenntnistheoretischer, teils naturwissenschaftlicher Schriften von African Spir, „ D e n k e n und Wirklichkeit" (1873), Johann Carl Friedrich Zöllner, „ Ü b e r die N a t u r der Kometen, Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntnis" (1872), und R o g e r Josef Boscovich, „Philosophiae naturalis T h e o r i a " (1759), in einer
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einzigen Theorie zusammenzufassen. Die für unsere Fragestellung wesentlichen Aspekte dieser Theorie wollen wir hier kurz darstellen. Nietzsche geht aus von der Annahme Boscovichs, daß die ersten Elemente der Materie einfache, ungeteilte und unausgedehnte Massenpunkte seien, die aufeinander eine je nach der Entfernung entweder anziehend oder abstoßend wirkende Kraft ausüben: Raumpunkt Α wirkt auf Raumpunkt Β und umgekehrt. Dazu bedarf es einer Zeit, denn jede Wirkung hat einen Weg zurückzulegen. Aufeinanderfolgende Zeitpunkte würden in einander fallen.
Das aber heißt für Nietzsche: „A trifft mit seiner Wirkung nicht mehr auf das Β des ersten Momentes", ist doch für ihn „das Wirkende in der Z e i t " dadurch gekennzeichnet, daß es „in jedem kleinsten Zeitmomente [ . . . ] ein Verschiedenes [ist]" (177) — eingeschlossen die Kraft. Anni Anders bemerkt dazu richtig: „Nietzsche argumentiert hier mit einem uns ungewohnten Kraftbegriff", sind nämlich heute „naturwissenschaftliche ,Kräfte' gerade dadurch ausgezeichnet, daß sie wirken, ohne sich zu verändern." 9 9 Nietzsche versteht hingegen unter „ K r a f t " ungefähr dasjenige, was wir als „Energie" bezeichnen würden, 1 0 0 wenn er ausführt: Gewöhnlich nimmt man in der atomistischen Physik i η d e r Z e i t unveränderliche Atom-Kräfte an, also οντα im parmenideischen Sinne. Diese können aber nicht wirken. Sondern nur absolut veränderliche Kräfte können wirken,
solche die keinen Augenblick dieselben sind. Alle Kräfte sind nur F u n k t i o n d e r Z e i t . (180) Wenn es an anderer Stelle hinwiederum heißt: „die Zeit beweist das a b s o l u t e N i c h t b e h a r r e n einer K r a f t " (178), Nietzsche sich somit in einem Zirkel bewegt — weil sich die Naturkräfte in ihrem Wirken verändern, darum sind sie als Funktionen der Zeit zu denken, ebenweil sie aber solches sind, müssen sie sich auch verändern —, so erhellt daraus, daß Nietzsches Voraussetzung, es gebe „im Rahmen der Physik keinen für noch so kurze Zeit gleichbleibenden Zustand der Elemente" 101 , auch hier sei alles im Flusse, im Werden — zumindest in diesem Zusammenhang — unbewiesen bleibt. Es steht mithin zu vermuten, daß es sich bei der Annahme des fortwährenden Werdens um die Grund-Voraussetzung des Nietzscheschen Denkens handelt, in deren Lichte die Erscheinungen der Welt allererst ihre Deutung, d. h. ihre Ableitung empfangen. Gehen aber, so fährt Nietzsche in seinen Überlegungen zu einer Zeitatomenlehre fort, die Raumgesetze davon aus, daß die nach einiger Zeit in Β wirkende Kraft des Raumpunktes Α „unverändert dasselbe in dem und jenem Zeitpunkte" (177) ist, dann sind sie
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Voraussetzungen z e i t l o s gedacht, das heißt müssen gleichzeitig und sofort sein. D i e g a n z e W e l t in einem Schlage. D a n n aber giebt es keine B e w e g u n g . (178)
Eine Bewegung, die die Raumgesetze doch gerade erfassen sollen: D i e B e w e g u n g laborirt an dem Widerspruch, daß sie nach R a u m g e s e t z e n construirt und durch A n n a h m e einer Zeit wieder diese G e s e t z e unmöglich macht: d. h. zugleich ist und nicht ist. H i e r ist durch die A n n a h m e z u helfen, daß entweder Zeit o d e r Raum = 0 ist. (178)
Nietzsche aber nimmt, ohne daß er dies eigens begründet, letzteres an: „alle punktuellen Atome fallen zusammen in einen P u n k t " (ebd.) — eine Argumentation, die zu denken gibt: Anstatt daß Nietzsche, wie man erwarten dürfte, die Raumgesetze einfach in der Weise korrigiert, daß die Kraft des Raumpunktes Α in ihrer Größe eben nicht unverändert sein kann, wenn sie nach einiger Zeit im Raumpunkt Β wirkt, weil dieser Annahme ein π ρ ώ τ ο ν ψεϋδος, der von Nietzsche kritisierte Kraftbegriff zugrundeliegt, erkennt er diese ausdrücklich an — obwohl er sich damit als Konsequenz einhandelt, im Widerspruch zum sinnlichen Eindruck die Realität des Raumes leugnen, ihn als illusionär behaupten zu müssen. W o h e r diese Feindschaft gegen den Augenschein, woher dieser jeder einfachen und strengen Argumentation vorausspringende Wille, die Welt auf ein reines Zeitphänomen zu reduzieren? Nietzsche setzt seinen Gedankengang fort: D a aber die Zeit unendlich theilbar ist, so ist die g a n z e W e l t möglich rein als Z e i t p h ä n o m e n , weil ich jeden Zeitpunkt mit dem einen Raumpunkt besetzen kann, somit ihn unendliche Mal setzen kann. (178)
Es wäre derweise eine ganze Körperwelt weiter, die, nur „aus einem Punkte Regelmäßigkeit der Zeitfiguren", d. h. Aufeinanderfolge dieses Raumpunktes, Nebeneinander aber wäre dann das empfindenden Wesen:
denkbar, so spekuliert Nietzsche bestritten" (ebd.), durch „die durch die Weise der zeitlichen bestimmt wird. Das räumliche Produkt der Vorstellung der
W e s e n , w e l c h e den Punkt auf verschiedenen Zeitpunkten als nicht identisch a n n e h m e n und jetzt diese Punkte gleichzeitig nehmen. (179)
Will sagen: die Vorstellung construirt sie als ein N e b e n e i n a n d e r und erklärt jetzt diesem N e b e n e i n a n d e r g e m ä ß den Fortgang der Welt: reine Übertragung in eine andere Sprache, in die des Werdens. (Ebd.)
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An anderer Stelle spricht Nietzsche von einer „Übersetzung ins Räumliche" (180) Die Gesetze des Raumes wären sämmtlich construirt und verbürgten nicht das Dasein des Raumes. (179)
Gemäß welcher „Übersetzung" eine Rück-„Übersetzung aller Bewegungsgesetze in Zeitproportionen" (179) stattzufinden habe. Ist es somit laut Nietzsche möglich: 1) die vorhandene Welt auf punktuelle Raumatomistik zurückzuführen, 2) diese wieder auf Zeitatomistik zurückzuführen, d a n n fällt 3) die Zeitatomistik [ . . . ] endlich zusammen mit einer Empfindungslehre. (181)
Denn der „ d y n a m i s c h e " , d . h . der wirkende, von ,Zeitstelle' zu ,Zeitstelle' springende eine „ Z e i t p u n k t ist identisch mit dem E m p f i n d u n g s p u n k t . Denn es giebt keine Gleichzeitigkeit der Empfindung." (Ebd.) Die für uns primär gegebenen, zeitlich aufeinanderfolgenden Empfindungen werden vielmehr, so ja Nietzsches Voraussetzung, erst in der Vorstellung zu gleichzeitigen, genauer: in der Vorstellung des äußeren Sinnes, der, wie Nietzsche bei Schopenhauer lesen konnte, die uns „unmittelbar bloß in der Form des innern Sinnes, also der Zeit allein, d. h. sukzessiv" 102 zugänglichen Empfindungen in die räumliche Form fügt und so erst, mit der Vorstellung des Nebeneinander, die Vorstellung des Zugleichseins möglich macht. Was aber diese Vereinigung schaffe, sei der — von der Vernunft zu scheidende — „Verstand, der mittelst seiner ihm eigentümlichen Funktion", nämlich der Kausalität, „jene heterogenen Formen der Sinnlichkeit verbindet, so daß aus ihrer wechselseitigen Durchdringung, wiewohl auch nur für ihn selbst, die empirische Realität hervorgeht" 1 0 3 . So jedenfalls Schopenhauer, der in diesem Teil seiner Lehre darum von derjenigen Kants auf das entschiedenste abweicht, weil sie — wie Schopenhauer sich in seiner ein erschreckendes Unverständnis ihres Gegenstandes verratenden „Kritik der Kantischen Philosophie" vernehmen läßt — „über die Art, wie die empirische Anschauung in unser Bewußtsein kommt" 1 0 4 nur Unzureichendes und Widersprüchliches gelehrt habe .. .105 Kants „ so seltsame, komplizierte [Erkenntnis-JMaschine" von den „vielen Rädern, als da sind die zwölf Kategorien, die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, des innern Sinnes, der transzendentalen Einheit der Apperzeption, ferner der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe usw." 106 , kurzerhand auf ein einziges stellend, klärt er seinen Leser Friedrich Nietzsche, der mit Ausnahme der „Kritik der Urteilskraft" die Kantische Lehre nur aus zweiter H a n d , vor allem aus derjenigen Kuno Fischers,
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Voraussetzungen
kannte 1 0 7 , über das Z u s t a n d e k o m m e n der empirischen Erkenntnis w i e f o l g t auf: Erst wenn der Verstand — eine Funktion nicht einzelner zarter Nervenenden, sondern des so künstlich und rätselhaft gebauten drei, ausnahmsweise aber bis fünf Pfund wiegenden Gehirns — in Tätigkeit gerät und seine einzige und alleinige Form, das Gesetz der Kausalität, in Anwendung bringt, geht eine mächtige Verwandlung vor, indem aus der subjektiven Empfindung die objektive Anschauung wird. Er nämlich faßt vermöge seiner selbst-eigenen Form, also a priori, d. i. vor aller Erfahrung (denn diese ist bis dahin noch nicht möglich), die gegebene Empfindung des Leibes als eine Wirkung auf (ein W o r t , welches er allein versteht), die als solche notwendig eine Ursache haben muß. Zugleich nimmt er die ebenfalls im Intellekt, d. i. im Gehirn prädisponiert liegende Form des äußern Sinnes zu Hülfe, den Raum, um jene Ursache außerhalb des Organismus zu verlegen: denn dadurch erst entsteht ihm das Außerhalb, dessen Möglichkeit eben der Raum ist; so daß die reine Anschauung a priori die Grundlage der empirischen abgeben muß. 10 ' D i e V e r e i n i g u n g des Raumes mit der Zeit durch die Kausalität ergibt somit laut S c h o p e n h a u e r die V o r s t e l l u n g Materie, als w e l c h e derweise nichts als Wirksamkeit sei: N u r als wirkend füllt sie den Raum, füllt sie die Zeit: ihre Einwirkung auf das unmittelbare Objekt (das selbst Materie ist) bedingt die Anschauung, in der sie allein existiert: die Folge der Einwirkung jedes andern materiellen Objekts auf ein anderes wird nur erkannt, sofern das letztere jetzt anders als zuvor auf das unmittelbare Objekt einwirkt, besteht nur darin. Ursache und Wirkung ist also das ganze Wesen der Materie: ihr Sein ist ihr Wirken [ . . . ] . Höchst treffend ist daher im Deutschen der Inbegriff alles Materiellen Wirklichkeit genannt, welches W o r t viel bezeichnender ist als Realität. Das, worauf sie wirkt, ist allemal wieder Materie: ihr ganzes Sein und Wesen besteht also nur in der gesetzmäßigen Veränderung, die ein Teil derselben im andern hervorbringt, ist folglich gänzlich relativ, nach einer nur innerhalb ihrer Grenzen geltenden Relation, also eben wie die Zeit, eben wie der Raum 109 . Ebendiese Stelle aus Schopenhauers H a u p t w e r k aber zitiert N i e t z s c h e im Anschluß an seine o b e n besprochenen Auslassungen über Heraklits Intuition des W e r d e n s (s. S. 23). Eine Vielzahl v o n A u f z e i c h n u n g e n 1 1 0 , darunter v o r allem die n o c h z u besprechende Schrift „ U e b e r Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne",
bezeugen
indes,
daß
Nietzsche
in
seinem
erkenntnistheoretischen A n s a t z vor der S c h o p e n h a u e r s c h e n V e r e i n f a c h u n g der Kantischen „ E r k e n n t n i s - M a s c h i n e " in einem entscheidenden
Punkt
endlich d o c h w i e d e r a b z u w e i c h e n g e n e i g t ist, w e n n er nämlich davon ausgeht: „ U n s r e A n s c h a u u n g bereits durch Begriffe modificirt." 1 1 1 unsere habituelle A n s c h a u u n g zumindest.
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Die Zeitatomenlehre vom Frühjahr 1873
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Als Ergebnis unserer Interpretation der „Zeitatomenlehre" können wir somit dreierlei festhalten: Zum einen, daß die im Heraklit-Abschnitt des Fragments über „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" angedeutete Vorrangstellung der Zeit vor dem Räume, die in der „Zeitatomenlehre" zu einer Reduktion des Ganzen der Welt auf die Zeit, genauer: e i n e n springenden Zeitpunkt entfaltet wird, wie die entsprechenden Ausführungen Schopenhauers in der Darstellung gründet, die Kant von beider Verhältnis in der „Transzendentalen Ästhetik" gegeben hat: „Die Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt. Der Raum, als die reine Form aller äußeren Erscheinung ist als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt." (Kr. d. r. V., A 34, Β 50) — ohne daß damit der Raum für Kant weniger real, weniger wahr wäre als die Zeit. Denn anders als Nietzsche, dessen Mißtrauen gegen den Augenschein ihn, wie sich uns bereits angedeutet hat, von der Negation der räumlichen Formen zur Verwerfung des traditionellen Begriffes der Wahrheit führt — der Mensch halte „Illusionen für Wahrheiten" 1 1 2 , behauptet er —, anders als Nietzsche also hält der Kantische Kritizismus an jenem Wahrheitsbegriff fest. In der „Kritik der reinen Vernunft", im Abschnitt Β 82, heißt es ausdrücklich: „Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Ubereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt, und vorausgesetzt". Das Werk will nichts anderes, als die Bedingungen der Möglichkeit von solcherweise wahrer Erkenntnis erhellen. Warum aber kann Nietzsche die Gültigkeit dieser Wahrheit nicht mehr voraussetzen? Und dies nicht einmal in seiner Auslegung Kants — denn versteht er diesen nicht dahingehend, als habe er gerade die Unmöglichkeit menschlicher Erkenntnis erwiesen? (Nietzsche zeichnet im Sommer 1872—Anfang 1873 auf 113 : „Es ist zu b e w e i s e n , daß alle Weltconstruktionen Anthropomorphismen sind: ja alle Wissenschaften, wenn Kant Recht hat." Woran sich die Bemerkung knüpft: „In dieser Skepsis kann niemand leben.//Wir müssen über diese Skepsis hinaus, wir müssen sie v e r g e s s e n ! " ) Und dies, obwohl er die anderslautende Interpretation Kuno Fischers mehrfach, zuerst wohl Ende 1867, studiert hat — womit sogleich auch die Antwort, Nietzsche sei diese „Fehlinterpretation" durch die Schriften Langes und Schopenhauers nahegelegt worden, als vordergründig zurückgewiesen werden kann. Recht verstanden aber gibt sie unserer Frage eine umfassendere Hinsicht, die wir wahren müssen, wenn wir Nietzsche zureichend, nämlich als Gestalt der Geschichte der abendländischen Metaphysik verstehen wollen: Warum können Ding an sich und Wahrheit in der Weise miteinander verknüpft sein, daß aus der Unerkennbarkeit des ersteren die Unmöglichkeit der letzteren folgt? Und warum ist dies bei Kant nicht so?
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Voraussetzungen
Erinnern wir uns bei dieser Frage daran, daß — von Nietzsche aus gesehen — f ü r Kant das Ding an sich darum nicht erkennbar sein konnte, weil seiner Ansicht nach der Welt der Dinge im Hinblick auf die Erfordernisse der Moral Übersinnlichkeit zugesprochen werden muß, so daß sich die sinnliche Welt als inkongruente Erscheinung eines wahren Wesens der Dinge erweist, das im übrigen nur derjenige unverstellt zu erkennen vermag, der das Ding als solches — und nicht nur, wie der Mensch, als Erscheinung — im Anschauen schafft, nämlich der intuitus originarius, d. h. Gott. Gott? Wahrheit? Unerkennbarkeit der Wahrheit? Ahnen wir denn nichts? H a b e n wir nicht gesehen, daß bereits f ü r den jungen Nietzsche Gott tot ist? Kann er darum vielleicht keine Wahrheit mehr annehmen? Und wenn, wie wir gesagt haben, Wahrheit f ü r Nietzsche ein absolutes Sein voraussetzt, was hat das W e r d e n mit dem T o d Gottes zu tun? Uns dämmert, daß die Frage nach Nietzsches Voraussetzungen — woher sein Mißtrauen gegen den Augenschein rührt, das die Intuition des reinen Werdens impliziert, warum mithin die tiefste uns zugängliche Schicht auch die „wahrste" und nicht etwa eine vorläufige, unvollkommene, der sekundären Bearbeitung bedürftige ist114 —, daß diese Frage nach Nietzsches Voraussetzungen über Kant hinaus nach den anfänglichen Voraussetzungen des abendländischen Denkens und d. h. der Metaphysik fragt, die Nietzsche überwinden möchte: Welches Verhältnis von Gott, Wahrheit, Sein und W e r d e n setzt sie Friedrich Nietzsche voraus — den N a m e n dabei ganz im Sinne des Philosophen verstanden als ein solcher f ü r ein Geschick ihrer selbst ( „ W a r u m ich ein Schicksal bin", E H , 6 / 3 , 363)? Doch zunächst einmal haben wir festzuhalten, daß Nietzsche in bezug auf die Kantisch-Schopenhauerischen Ausführungen über das Verhältnis von Raum und Zeit letztere als „das belehrendste M o n o g r a m m alles dessen" bezeichnet, „was überhaupt unter das Bereich der intuitiven Vorstellung fällt". U n d dieses M o n o g r a m m zeigt das „ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen", seine Relativität und d. h. seine Nichtigkeit. Zwar lehren diese Nichtigkeit „wie die Zeit, so auch der Raum, und wie dieser, so auch alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, alles also, was aus Ursachen oder Motiven hervorgeht" ( W a W I, 37), der Wandel der Materie mithin, doch ist, folgt man Schopenhauer, die Lehre des ewigen Werdens aus den anderen Gestaltungen des Satzes vom Grunde einerseits überhaupt nicht — der Raum als solcher kennt nur das starre, unveränderliche Beharren 1 1 5 —, andererseits allein unter großen Schwierigkeiten zu gewinnen: Insofern die Materie in ihrem Wesen, der den „Zustand zu dieser Zeiten diesem Ort"116 bestimmenden Kausalität, den Raum mit der Zeit zu gegenseitiger Beschränkung vereinigt — erst die Verfugnis der bestandlosen Flucht der Zeit mit dem starren Beharren des Raumes führt die
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Möglichkeit des Zugleichseins und der Veränderung, damit das Widerspiel von Dauer und Wechsel sowie den gegenwendigen Bezug von beharrender Substanz und veränderlicher Akzidenz 117 herbei —, insofern „trägt die Materie durchweg das Gepräge von beiden". Für das Werden, die bestandlose Flucht der Zeit aber bedeutet dies, daß sie an ihr den Widerstreit des Seins, des beharrenden Raumes erleidet. Statt von „Widerstreit" aber könnten wir im Hinblick auf das zweite Ergebnis unserer Interpretation auch von „Verstellung" sprechen. Verstellt nämlich wird in diesem Widerstreit die im Rückgang von der intuitiven Anschauung der Welt als tiefste zu erreichende Schicht des subjektiven Flusses der bloßen Empfindung, die f ü r Nietzsche „wahrste", weil am wenigsten scheinhafte Schicht, indem sie in jener „ h ö h e r e n " Schicht der räumlich-kausalen Perzeption als Materie vorgestellt wird, wird doch so, wie gesagt, jener nur im Fortriß der Zeit gehaltene und in dieser seiner Haltlosigkeit mit einem reinen Werden gleichzusetzende Fluß in einen zähen Widerstreit mit dem Sein gefügt. Endgültig entschwindet das Werden anscheinend aber im feststellenden Zugriff des per Abstraktion aus der Anschauung zu gewinnenden Begriffs — weswegen, wie aus Nietzsches Darstellung des Heraklit in seiner Schrift über die Vorplatoniker zu entnehmen ist, die Erkenntnis „des ewigen und alleinigen Werdens" nur im Ausgang von der intuitiven Vorstellung gewonnen werden kann. Hatten wir das aber nicht im Auge, als wir auf S. 22 formalanzeigend bemerkten, daß das vorstellende Denken dem Werden nur insoweit — näherungsweise zumindest — zu entsprechen vermag, als es sein stellendes Wesen in der Weise zu übersteigen versucht, daß es sich ent-spricht? So daß Nietzsche es, wie Kant, f ü r notwendig befände, „seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen)" (Kr. d. r. V., A 51, Β 75) — weil diese andernfalls leer, d. h. sinnlos wären —, um diese Anschauung dann, der begrifflichen Fest-stellung entgegen, als Werdendes, schließlich gar, in der tiefsten uns erreichbaren Schicht, als reines Werden zu erfahren? Und — bedenkt man zudem daß „Anschauung" ja nicht nur „das Angeschaute", sondern auch „der Akt der Anschauung" bedeutet, daß dieser Doppelsinn aber bereits bei Kant insofern einsinnig ist, als der Akt der Anschauung das Angeschaute konstituiert, daß mithin zwischen Vorstellung und Gegenstand der Vorstellung nicht geschieden werden kann — entspräche sich dergestalt das Denken nicht auch in der von der formalanzeigenden Bestimmung geforderten zwiefältigen Weise, daß das Denken sich selbst entspricht, indem es sich solcherweise von der sprachlichen Feststellung frei-, d. h. ent-spricht und so als Werdendes, das es in seinem Wesen ist, erfährt? In der Tat. Doch muß man, um den letzten Schritt in der Reihe dieser Überlegungen einsehen zu können, bereits hier im
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Voraussetzungen
Auge haben, daß für den frühen Nietzsche wie für Schopenhauer gemäß ihrer beider Theorie von der sekundären Natur des Begriffs — die zudem zumindest von Nietzsche eindeutig als sprachlich aufgefaßt wird — „alles Urdenken [ . . . ] in [vorbegrifflichen] Bildern [geschieht]" (WaW II, 488; dazu im folgenden). Indes werden wir noch sehen, daß diese formalanzeigende Bestimmung noch in einer ganz anderen Weise Ausfüllung erhalten kann; nicht zuletzt werden wir in diesem Zusammenhang Nietzsches Selbstkritik an der „Geburt der Tragödie": „Sie hätte s i n g e n sollen, diese ,neue Seele' — und nicht reden !"118 zu bedenken haben. Hier aber muß zunächst als drittes, indes noch nicht vollständig ausgewiesenes Ergebnis unserer Interpretation festgehalten werden, daß die Metaphysik in Nietzsches Augen auch — mag sogar sein: vor allem — ein Problem der Sprache ist, nämlich das des sprachlich verfaßten feststellenden Begriffs und der mit ihm hantierenden Logik. Dem Philosophen des Werdens, Heraklit, der „als sein königliches Besitzthum die höchste Kraft der intuitiven Vorstellung [hat]; während er gegen die andre Vorstellungsart, die in Begriffen und logischen Combinationen vollzogen wird, also gegen die Vernunft sich kühl, unempfindlich, ja feindlich zeigt" 119 , steht als Philosoph des Seins darum, laut Nietzsches Abhandlung über die Vorsokratiker, jener Denker gegenüber, der in seinem „Begriffsvermögen das entscheidende höchste Kriterium über Sein und Nichtsein, das heißt über die objektive Realität und ihr Gegentheil" 120 zu besitzen wähnt, Parmenides... Vorderhand aber haben wir eigens die Kehre der Zeitatomenlehre zur Empfindungslehre zu bedenken, weil Nietzsche darin erkenntnistheoretische Voraussetzungen einholt, die er in einer dem Versuch unmittelbar vorausgehenden Notiz 121 aufgezeichnet hat. Ihre wichtigsten Gedanken lauten: Ich habe nichts als E m p f i n d u n g und Vorstellung. Also kann ich diese nicht aus den Vorstellungs-Inhalten entstanden denken. [•·•]
W i r können uns nichts denken, das nicht E m p f i n d u n g und Vorstellung wäre. Somit auch nicht rein Zeit, Raum W e l t existirend, aber o h n e das E m p f i n d e n d e und Vorstellende. Ich kann mir das Nichtsein nicht vorstellen. D a s Seiende ist Empfindung und Vorstellung. D a s N i c h t s e i e n d e w ä r e etwas, was nicht E m p f i n d u n g und Vorstellung wäre.
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D a s Vorstellende kann sich nicht „ n i c h t vorstellen", wegvorstellen. D a s Vorstellende kann sich nicht als g e w o r d e n denken, noch als vergehend. U n m ö g l i c h auch die Entwicklung der Materie, bis z u m Vorstellenden. 1 2 2 D e n n es giebt g a r nicht diesen G e g e n s a t z von Materie und Vorstellung. D i e Materie selbst ist nur als E m p f i n d u n g gegeben. J e d e r Schluß hinter sie ist unerlaubt. D i e E m p f i n d u n g und die V o r s t e l l u n g ist die U r s a c h e , daß wir an G r ü n d e Stöße K ö r p e r glauben. Wir können sie auf B e w e g u n g und Z a h l e n z u r ü c k f ü h r e n .
M a g eine Einflüssen nachspürende Untersuchung zu dem Ergebnis kommen, daß „ d e r Ansatz und das Vokabular weitgehend Spir entlehnt sind" 1 2 3 , so muß gleichwohl festgehalten werden, daß der in jenen Jahren „völlig u n b e k a n n t e [ . . . ] Spir" 1 2 4 nur darum einen so großen Einfluß auf Nietzsche gewinnen konnte — noch im Sommer 1885 finden sich in dessen Aufzeichnungen Spuren der Auseinandersetzung mit Spir 1 2 5 —, weil der Denker hier in klarer Darstellung und in der Diskussion mit den wichtigsten zeitgenössischen Erkenntnistheorien seine eigene erkenntnistheoretische Grundposition — wenngleich sie auch in einem entscheidenden Punkte von derjenigen Spirs abweicht (s. dazu Anm. 127) —, vor allem aber seine Intuition der Welt als eines fortwährenden Werdens entfaltet sieht. In dem von Nietzsche am 13.2. 1873, kurz nach seinem Erscheinen, aus der Basler Universitätsbibliothek entliehenen 1. Teil seines Hauptwerkes „ D e n k e n und Wirklichkeit" sucht sich Spir die Grundlagen für ein allein auf unmittelbar Gegebenes und Gewisses aufbauendes philosophisches System zu erarbeiten. Unmittelbar gewiß aber sind seinen Ausführungen zufolge nur unsere Empfindungen, als Einzelempfindungen, und, als unser „oberstes D e n k g e s e t z " , der Satz der Identität, in dem wir sowohl einen Begriff vom Wesen der Wirklichkeit als auch das „Prinzip der erfahrungsmäßigen Erkenntnis" besäßen. 126 Für Nietzsche ist neben dieser Grundlegung vor allem die erste von vier Hauptfolgerungen wichtig geworden, die Spir daraus zieht, daß nämlich das Geschehen, die Veränderung — die indes in seinen Augen, und darin unterscheidet sich Nietzsche von ihm, nicht zum wahren, ursprünglichen Wesen der Dinge gehört —, uns wirklich und zwar unmittelbar in der Sukzession der Empfindungen gegeben ist. 127 Nietzsche, für den in diesem Zusammenhang die von ihm an anderer Stelle negativ beantwortete (s. Anm. 77 und Anm. 127) Frage nach unmittelbaren Gewißheiten keine Rolle spielte, konnte hierin eine Bestätigung und Interpretation seiner Intutition der Welt
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als eines ständigen Werdens sehen. 128 Wenn wir „nichts als Empfindung und Vorstellung haben", dann heißt das, daß wir aus der Empfindung, genauer: aus dem Fluß der Empfindung in der Form der Zeit durch räumlich-kategoriale Formung die materielle Wirklichkeit vorstellend herstellen, welcher Fluß aber als tiefste uns zugängliche Schicht für Nietzsche auch die wahrste ist. Dieser aber deutet, wie bereits erwähnt, auf dasjenige hin, was Nietzsche reines Werden nennt. Ihn bezeichnet er im Anschluß an Schopenhauer anfangs auch als „Wille". Empfindung des eigenen Leibes in der Zeit — so kann man nämlich die empirische Erfahrung umschreiben, aus der Schopenhauer im Ausgang von „Kants Lehre vom empirischen und intelligibeln Charakter" 1 2 9 durch eine für Nietzsche unmögliche „Abstraktion von dieser zeitlichen Form der Erscheinung" 1 3 0 sein metaphysisches Prinzip des „Willens" gewinnt. In diesem Sinne schreibt Schopenhauer in „Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde": W e n n wir in unser Inneres blicken, finden wir uns immer als wollend. J e d o c h hat das W o l l e n viele Grade v o m leisesten W u n s c h e bis zur Leidenschaft, und daß nicht nur alle A f f e k t e , sondern auch alle die B e w e g u n g e n unsers Innern, w e l c h e man d e m weiten Begriffe Gefühl subsumiert, Zustände des Willens sind, habe ich öfter auseinandergesetzt 1 3 1 .
In einer der Vorstufen zur „Geburt der Tragödie", in der im Sommer 1870 abgefaßten Schrift „Die dionysische Weltanschauung", heißt es darum: „Was wir ,Gefühl' nennen, das lehrt die auf Schopenhauers Bahnen wandelnde Philosophie als einen Komplex von unbewußten Vorstellungen und Willenszuständen begreifen." 132 , womit Nietzsche nicht etwa nur die Philosophie Eduard von Hartmanns — von ihm nach anfänglicher zurückhaltender Zustimmung 133 wegen der christlichen Verkehrung des Schopenhauerschen Ansatzes 134 bereits in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung auf das schärfste bekämpft —, sondern auch seine eigenen tastenden Ansätze meint. So notiert er beispielsweise im Zeitraum Ende 1870—April 1871: „Die Empfindung als Erscheinung, d . h . der Wille." 135 Und kurz darauf heißt es: „ D e r Wille ist die allgemeinste Erscheinungsform: d. h. der Wechsel von Schmerz und Lust" 136 . Dieses Zitat aber weist bereits auf den grundlegenden Unterschied hin, der zwischen der Willenskonzeption Nietzsches und derjenigen Schopenhauers besteht. In einem längeren, dem Umkreis der „Geburt der Tragödie" zugehörigen Fragment aus dem Frühjahr 1871137 faßt Nietzsche diesen Unterschied wie folgt: A u c h das gesammte Triebleben, das Spiel der G e f ü h l e E m p f i n d u n g e n A f f e k t e Willensakte ist uns — w i e ich hier g e g e n Schopenhauer einschalten muß — bei genauester Selbstprüfung nur als Vorstellung, nicht seinem W e s e n nach, bekannt: und wir dürfen w o h l sagen, daß selbst der „ W i l l e "
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Schopenhauers nichts als die allgemeinste Erscheinungsform eines uns übrigens gänzlich Unentzifferbaren ist.
Oder, wie es an anderer Stelle desselben Textes heißt, nichts anderes als die „allgemeinste Erscheinungsform, aus der und unter der wir alles Werden und alles Wollen einzig verstehen" 138 . Mit den Worten anderer Texte gesprochen: Der Wille ist zeitliche „Form des Werdens" 139 , „ein höchst complicirtes Letztes in der Natur" 1 4 0 , über das keine Wege der Erkenntnis hinausführen in ein Reich des Wesens, des ewigen Seins. Auch nicht diejenigen, die Kant — wie Nietzsche meint: aus der moralischen Nötigung, als Christ dem Menschen Freiheit, und sei es auch nur in einer intelligiblen Ordnung der Dinge, zusprechen zu müssen — und, sich auf Kant berufend, Schopenhauer eingeschlagen haben. Dessen Annahme, daß „ewiges Werden, endloser Fluß" der erscheinenden Welt „zur Offenbarung" eines solchen räum- und zeitlosen „Wesens des Willens" gehören 141 , ist als metaphysische Annahme für Nietzsche bloße Spekulation oder, mit Kant zu sprechen, blinde Begrifflichkeit — wovon der auf Lange zurückgehende Terminus „Begriffsdichtung" augenscheinlich abgeleitet ist. „Ihr gebraucht Namen der Dinge als ob sie eine starre Dauer hätten", läßt Nietzsche in seiner Schrift über die Vorplatoniker Heraklit ausrufen 142 , ohne daß er sich dafür auf irgendein Fragment stützen könnte — ein weiterer Hinweis darauf, daß für ihn das Problem der Metaphysik auch ein sprachliches Problem ist, daß für ihn der Glaube an ein absolutes Sein Folge der begrifflichen Feststellungen, Glaube an die Grammatik ist. Aber — so haben wir hier, unseren Gedankengang unterbrechend, zu fragen, spricht denn nicht auch Nietzsche von einem solchen Sein, und zwar nicht nur in den später veröffentlichten Schriften dieser Frühphase seines Philosophierens, bei denen, wie bereits angedeutet, persönliche Rücksichten, vor allem Hoffnungen auf die Sache Wagners in Anschlag zu bringen sind, sondern auch in den rücksichtslos von seinem eigenen Ansatz kündenden privaten Notizen, beispielsweise in der eben interpretierten Zeitatomenlehre? Heißt es da nicht im Anschluß an die Ableitung des einen Zeitpunktes: „Die Realität der Welt bestünde dann in einem verharrenden Punkte" 143 ? Ist dies kein Sein? Und fährt Nietzsche nicht unmittelbar darauf fort: D i e Vielheit entstünde dadurch, daß es vorstellende Wesen gäbe, welche diesen Punkt in den kleinsten Zeitmomenten wiederholt dächten: Wesen, welche den Punkt auf verschiedenen Zeitpunkten als nicht identisch annehmen und jetzt diese Punkte gleichzeitig nehmen. 144 ,
um dann das Werden der Welt als Täuschung des Vorstellungsapparates zu erweisen:
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die Vorstellung construirt sie [die Zeitfiguren] als ein Nebeneinander und erklärt jetzt diesem Nebeneinander gemäß den Fortgang der Welt: reine Übertragung in eine andere Sprache, in die des Werdens. 145 ?
In der T a t — es hat an dieser Stelle den Anschein, als bestünde für Nietzsche die „ w a h r e " Realität der Welt in einem verharrenden Sein und als sei für ihn das Werden täuschender Augenschein. Jedoch — wird nicht dementgegen dieser Zeitpunkt von ihm als „mit einer constanten Kraft wirkend" 1 4 6 gedacht, als „eine punktuelle Kraft, welche zu jedem späteren Zeitmomente ihrer Existenz eine Relation" 147 hat? Und bemerkt er in Übereinstimmung damit nicht ausdrücklich: In jedem kleinsten Moment müßte die Kraft verschieden sein: aber die Aufeinanderfolge wäre in irgendwelchen Proportionen und die vorhandene Welt bestünde in der S i c h t b a r w e r d u n g d i e s e r K r a f t - P r o p o r t i o n e n , d. h. Übersetzung ins Räumliche. 148 ?
So daß mit der oben angesprochenen „Ubersetzung ins W e r d e n " ganz im Sinne unserer früheren Ausführungen die Übertragung des reinen Werdens oder Wirkens in der Zeit ins Räumliche gemeint wäre, woraus das Widerspiel von Verharren und Vergehen, von Beständigkeit und Veränderung hervorgeht, d. h. das, was wir als Werden vor Augen haben? So ist es. Anders als in den später zu besprechenden, bewußt ein absolutes Sein voraussetzenden Texten darf der Aufschein eines solchen in diesem nur flüchtig ausgeführten Versuch, eben weil er zum Ziele hat, das augenscheinliche Sein der Welt auf ein reines Werden zurückzuführen, nicht anders gedeutet werden denn als Ausfluß der von Nietzsche hier nicht bedachten, hingegen bei Spir thematisierten Tatsache, daß es unserem vorstellenden Denken unmöglich scheint, Werden rein als solches, d. h. ohne Bezug auf ein identisches Sein zu denken — ganz abgesehen von dem damit zusammenhängenden Problem, daß der Begriff „ W e r d e n " selber eine Feststellung, d. h. ein „Sein" ist — und das Bedingte ohne Bezug auf ein Unbedingtes (welchen Schwierigkeiten schließlich die Konzeptionen der ewigen Wiederkunft des Gleichen und des Willens zur Macht Rechnung tragen werden): Das Werden kann scheinbar von uns nur als gehalten im, und das meint: bedingt durch, ein sich in diesem haltendes, unbedingtes Sein begriffen werden. 149 Vermag das vorstellende Denken schon die Bewegung — den Fluß der bloßen, unbestimmten Empfindungen in der Zeit —, den reinen Vollzug des „Lebens" nicht anders als durch Fest-stellungen (räumlicher und kategorialer Art), durch Umsetzung in Bestimmtheiten zu fassen, so naturgemäß erst recht nicht ihr bzw. sein Währen. Wenn Nietzsche im Fragment über die vorplatonischen Philosophen als Lehre Heraklits anführt, „daß das ganze Wesen der Wirklichkeit eben nur Wirken ist und daß es für sie keine andre Art Sein giebt" 150 , so kommt genau dies darin zum Ausdruck, ebenso wie in dem bald darauf folgenden Satz: „Das
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ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, Heraklit lehrt, ist eine furchtbare und betäubende Vorstellung" 1 5 1 ; ist doch das Ewige und zwar, folgt man den Bestimmungen der abendländischen Metaphysik, als das höchste Sein. (Mit dieser Denkvoraussetzung eines gegenwendigen Bezuges von Sein und Werden aber hängt eine weitere, von Nietzsche hier ebenfalls nicht gesehene Fragwürdigkeit zusammen: Wenn denn die „Realität der W e l t " in einem wirkenden, d.h. springenden Zeitpunkte bestehen, ihre Vielheit aber dadurch entstehen soll, daß es vorstellende Wesen gibt, „welche diesen Punkt in dem kleinsten Zeitmomente wiederholt denken", d. h. „den Punkt auf verschiedenen Zeitpunkten als nicht identisch annehmen und jetzt diese Punkte gleichzeitig nehmen" 152 , darüber hinaus sich selbst aber, wie Nietzsche in jener der Zeitatomenlehre unmittelbar vorausgehenden Notiz sagt, 153 „nicht als geworden [ . . . ] , noch als vergehend" denken können, somit als Vorstellende außerhalb dieser Folge von Zeitmomenten stehen und dennoch selber nichts anderes sein können als der sich eben darin setzende eine Zeitpunkt — so muß die Frage gestellt werden, wie denn die Selbstentgegensetzung dieses Punktes zu denken sei?) Zu der Vorstellung der Ewigkeit aber lehrt jene Notiz des weiteren, daß sie in nichts anderem begründet ist, als daß „[i]ch [ . . . ] mir das Nichtsein nicht vorstellen [kann]" 1 5 4 : Sie ist ein Glaube, der durch den Bau unseres Erkentnisvermögens bedingt ist. „Wir können uns nichts denken", heißt es dort, „das nicht Empfindung und Vorstellung wäre. // Somit auch nicht rein Zeit, Raum Welt [d.h. nach Schopenhauer: Kausalität] existirend, aber ohne das Empfindende und Vorstellende." 155 Ebendies aber ist die aus der Kritik der reinen Vernunft erwachsende Lehre Kants: daß alle unsre Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei; daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können.156. Mit Nietzsches Worten in der Schrift über die Vorplatoniker: Durch Worte und Begriffe werden wir nie hinter die Wand der Relationen, etwa in irgend einen fabelhaften Urgrund der Dinge, gelangen und selbst in den reinen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes, in Raum Zeit und Kausalität gewinnen wir nichts, was einer Veritas aeterna ähnlich sähe.157 Als von uns für und entworfene Welt ist die Welt der Erscheinungen, wie Nietzsche in der Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge" sagt, „durch und durch anthropomorphisch und enthält keinen einzigen Punct, der ,wahr an sich', wirklich und allgemeingültig, abgesehen von dem Menschen, wäre" 158
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Voraussetzungen
— die Suche der Metaphysik nach einem solchen archimedischen Punkt ist darum nicht nur vergebens, sondern von vornherein auch verfehlt: Wenn die Welt anthropomorphischen Wesens ist, dann hat sie die Welt auch anthropomorphisch auszulegen: „Ihre Eigenschaften an sich gehen uns nichts an, aber insofern sie auf uns wirken", bemerkt Nietzsche im Sommer 1872— Anfang 1873159. Und an anderer Stelle heißt es, wie bereits gehört (s.S. 11): Sobald man das Ding an sich e r k e n n e n will, so i s t es e b e n d i e s e W e l t — erkennen ist nur möglich, als ein Wiederspiegeln und Sichmessen an e i n e m Maße (Empfindung). 160
Doch bedeutet dies eben nicht nur, wie es bereits bei Schopenhauer zu beobachten ist, bei der Bestimmung des „Wesens der Welt" (reductio) vom Menschen ausgehen, sondern auch einbekanntermaßen bei ihm stehenbleiben zu müssen, zu gestehen, daß derartige Aussagen der Philosophie kein An-Sich der Dinge betreffen, sondern bestenfalls „die allgemeinste Erscheinungsform, aus der und unter der wir alles Werden und alles Wollen einzig verstehen". Für Nietzsche aber ist dies, wie gesehen, der Fluß der Empfindung in der Zeit. Derweise könnte sich die Welt in durchgängig anthropomorphischer Sicht als eine Ansammlung von Empfindungskomplexen erweisen; Nietzsche schreibt Sommer 1872—Anfang 1873 161 : Wenn alles Empfindung hat, so haben wir ein Durcheinander von kleinsten größeren und größten Empfindungscentren. Diese Empfindungscomplexe, größer oder kleiner, wären „Wille" zu benennen.
Womit Nietzsche an Schopenhauer anknüpft, ohne daß er sein „metaphysisches Prinzip", gleich diesem, f ü r eine Bestimmung des An-Sich der Dinge hielte, so daß es, streng genommen, diesen Titel nicht mehr verdient. Daß nämlich den Philosophen auch in der „Intuition" keine „Art von Wunder-Augenglas" zur H a n d ist, „mit dem sie direct in's ,Wesen' sehen" können, dies lehrt nicht erst diese ironische Bemerkung aus dem 162. Aphorismus des ersten Teils von „Menschliches, Allzumenschliches" 162 , vielmehr geht dies in wünschenswerter Deutlichkeit bereits aus früheren Texten hervor, in denen Nietzsche das Wesen dieser Erkenntnisart bedenkt. Doch mögen jene Texte hier nicht etwa nur darum angeführt sein, weil sie einen weiteren — wie spätere Auseinandersetzungen mit anderen Auslegungen zeigen werden — notwendigen Beleg für unsere These liefern, daß bereits Nietzsches Philosophie der Frühzeit nur relative „Wahrheit" beansprucht, sondern auch, weil sie das — wie bereits der Versuch der Zeitatomenlehre erkennen läßt — f ü r Nietzsches Philosophieren wichtige T h e m a des Verhältnisses von Wissenschaft, Philosophie und Kunst bedenken.
Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Kunst — Der Begriff der Intuition 39
4. Zum ersten Male: Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Kunst — Der Begriff der Intuition So ist in einem aus der Zeit Sommer 1872—Anfang 1873 stammenden Fragment 1 6 3 , das in das 3. Kapitel der in den Märztagen des Jahres 1873 geschriebenen Schrift über die Vorplatoniker Eingang gefunden hat 164 , nachfolgende Passage zu lesen: Das philosophische Denken ist mitten in allem wissenschaftlichen Denken zu spüren: selbst bei der Conjektur. (Was im unmittelbar folgenden Fragment 1 6 5 so formuliert wird: „ E s giebt keine aparte Philosophie, getrennt von der W i s s e n s c h a f t : dort wie hier wird gleich g e d a c h t . " ) E s [das philosophische D e n k e n ] springt voraus auf leichten S t ü t z e n : schwerfällig keucht der V e r s t a n d hinter drein und sucht bessere S t ü t z e n , n a c h d e m ihm das lockende Zauberbild erschienen ist. Ein unendlich rasches D u r c h f l i e g e n großer R ä u m e ! [ . . . ] Es ist Flügelschlag der Phantasie, d. h. ein Weiterspringen von Möglichkeit zu Möglichkeit, die einstweilen als Sicherheiten g e n o m m e n werden. H i e r und da von Möglichkeit zu einer Sicherheit und wieder zu einer Möglichkeit. — W a s ist aber eine solche „ M ö g l i c h k e i t " ? Ein Einfall ζ. B. „ e s könnte vielleicht". Aber wie k o m m t der Einfall? Mitunter zufällig äußerlich: ein Vergleichen, das E n t d e c k e n irgend einer A n a l o g i e findet stau. N u n tritt eine E r w e i t e r u n g ein. D i e Phantasie besteht im schnellen Ä h n l i c h k e i t e n s c h a u e n . D i e R e f l e x i o n mißt nachher Begriff an Begriff und prüft. D i e Ä h n l i c h k e i t soll ersetzt werden durch Causalität.
Unter „philosophischem D e n k e n " versteht Nietzsche hier somit das von der Phantasie — einer ,,unlogische[n] Macht", wie er in der entsprechenden Passage der Schrift über die Vorplatoniker hervorhebt 166 — geleitete Denken, d. h., so wird ein im folgenden zitierter Text auch wörtlich belegen, die Intuition. Doch ist dieses Denken nicht nur in der Philosophie — gleichgültig, ob man damit die traditionelle Metaphysik meint oder Nietzsches eigene frühe oder späte denkerische Ansätze im Auge hat 167 —, vielmehr auch in der Wissenschaft, ja sogar im alltäglichen Denken anzutreffen, wenngleich es hier weniger stark ausgeprägt erscheint als in der Wissenschaft, für die hinwiederum das gleiche im Verhältnis zur Philosophie gilt: Die Differenzierung kommt, wie Nietzsche einigermaßen unbestimmt sagt, nur durch unterschiedliche „ G r a d e und Q u a n t i t ä t e n " zustande: „alle Menschen sind künstlerisch philosophisch wissenschaftlich usw." 1 6 8 Zu welcher Notiz anzumerken ist, daß der Kunst insofern eine Sonderstellung zukommt, als ihr „anschauendes D e n k e n " die höchste K r a f t der Phantasie erfordert, ohne irgend auf Begriffe bezogen zu sein. Nächst der Kunst aber verlangt die Philosophie ein Höchstmaß an Intuition,
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Voraussetzungen
da sie anders als die Wissenschaft, die die Empirie in einzelne Teilbereiche aufgliedert, ehe sie denn dort jeweils Zusammenfassungen unternimmt, eine Zusammenschau der Gesamtheit der Phänomene versucht. Wenn damit für den frühen Nietzsche das Wesen des Denkens darin besteht, daß die Phantasie Ähnlichkeiten erschaut, d. h. in der Anschauung voraussetzt, die dann schließlich begrifflich und damit reflexiv eingeholt werden, so ist dies eine Theorie des Denkens und des hermeneutischen Zirkels ("Man muß beim Denken schon haben, was man sucht, durch Phantasie — dann erst kann die Reflexion es beurtheilen." 169 ), die sich mit Notwendigkeit aus der durch Schopenhauer beeinflußten — von uns erst später eingehend abgehandelten — Auffassung Nietzsches ergibt, daß Begriffe sekundärer Natur, nämlich durch Abstraktion aus der Anschauung gewonnen sind. Heißt es bei Schopenhauer: „Alle Begriffe, alles Gedachte sind ja nur Abstraktionen, mithin Teilvorstellungen aus jener [der Anschauung] und bloß durch Wegdenken entstanden. [ . . . ] Alles Urdenken geschieht in Bildern." 170 , so analog bei Nietzsche: „ D e m Begriff entspricht zuerst das Bild, Bilder sind Urdenken" 1 7 1 . Wobei man im Auge behalten muß, daß derjenigen Kraft der Phantasie, „welche das Ahnliche auswählt und betont", eine solche vorhergehen muß, „die die Bilderfülle [d. h. die Welt der Anschauung] erzeugt" 1 7 2 : „Es ist zwiefach eine künstlerische Kraft da, die bildererzeugende und die auswählende." 173 Wenn derweise die Phantasie selbst dasjenige erzeugt, was sie entdeckt und das begriffliche Denken hernach erst einholt, so daß — wie wir bereits auf S. 17 f. ausgeführt haben — das menschliche Vorstellungsvermögen, der Intellekt, selbst dasjenige vorstellt, was es dann in die Unverborgenheit herstellt, um es dort begrifflich erfassen zu können („Es ist ein langer W e g bis zur Abstraktion." 174 ), dann bestätigt das die schon früher (S. 8) aufgestellte These, daß laut Nietzsche der Erkenntnisapparat kunstschaffend und der Intellekt mithin in seinem Wesen als Phantasie zu begreifen ist. In diesem Geschehnis, daß der menschliche Intellekt seine eigene Voraus-setzung ent-deckt, indem er sich an diese anmißt, ist aber dessen Grund- oder Wesensgeschehnis, und das bedeutet zugleich: dasjenige der Wahrheit, zu erkennen — solches lehrt eine Analyse seiner Grundfunktion, des im philosophischen Bereich sich als das Streben nach Zusammenschau des Seienden äußernden Strebens nach Identifikation von Ähnlichkeiten 175 : In der Abhandlung über „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" geht dem Abschnitt, in dem das von der Phantasie geleitete philosophische Denken am Beispiel des Thaies beschrieben wird, der Satz voran, daß diesen
Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Kunst — Der Begriff der Intuition 41
ein metaphysischer Glaubenssatz [getrieben habe], der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat, und dem wir bei allen Philosophien, sammt den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen: der Satz „Alles ist Eins". ( P H G 3, 3/2, 307)
Ein metaphysischer Glaubenssatz, d. h. ein von uns für wahr gehaltener, empirisch nicht überprüfbarer, aus dem Seienden nicht ableitbarer (das meint: „mystisch"), weil unsere Auslegung der Empirie erst ermöglichender, diese nämlich leitender Satz 176 ist somit die Voraussetzung dieses Strebens des Intellektes, eine Voraussetzung, die er in seiner Auslegung des Seienden im Ganzen einzuholen, in „Konkretion" überzuführen sucht 177 ; wir können auch sagen: an die er sich in seiner Auslegung der Welt ins Unverborgene anzumessen bestrebt ist. So daß sich — was wir bereits auf S. 5 angedeutet haben — die Sicherheit sowohl unserer täglichen Verrichtungen als auch die der wissenschaftlichen Erkenntnisse von etwas Unsicherem, nämlich nur Geglaubtem gewährleistet sieht. Des weiteren aber geben obige Ausführungen zumindest einen Anhalt dafür, warum Nietzsches Philosophie, gleich derjenigen Schopenhauers (vgl. dazu und zu dieser Fragestellung überhaupt Anm. 100), Berührungen mit der Fachwissenschaft sucht, und dies nicht etwa nur derweise, daß sie, von den Ergebnissen der Wissenschaft ausgehend, dieser spekulativ, das meint: von einer intuitiven Zusammenschau geleitet, vorausspringt — so ζ. B. auch in der Zeitatomenlehre —, sondern auch dergestalt, daß sie f ü r das intuitiv Gefundene bei der Wissenschaft Bestätigung sucht (wofür sich ein Beispiel in einem im folgenden noch zu besprechenden Abschnitt eines Kollegs über „Vorplatonische Philosophen" findet). Ist letzteres möglich, weil — wie Nietzsche nicht zuletzt in eben jenem Kolleg belegt, insofern er hier die vorplatonischen Philosophen als Wissenschaftler zur Darstellung bringt — „ d o r t w i e h i e r g l e i c h g e d a c h t [wird]", so ist es damit doch zugleich auch notwendig, da somit die Wissenschaft mit ihren Forschungen „gewissermaßen die Rechnungsprobe" 1 7 8 für die philosophischen Ergebnisse zu liefern hat. Ebendas aber meint der eingangs dieses Kapitels zitierte Text, wenn er fordert, daß das intuitiv Gefundene, d. h. das von der Phantasie vorstellend Hergestellte, reflexiv, durch Aneinanderreihung von streng auf die Erscheinungen bezogenen Begriffen in kausaler Ableitung eingeholt werden soll („Die Ä h n l i c h k e i t soll ersetzt werden durch C a u s a l i t ä t . " ) , sind doch kausale Ableitungen das eigentliche Metier der Wissenschaft — als „systematische Erkenntnis am Leitfaden des Satzes vom G r u n d e " definiert sie beispielsweise Schopenhauer 179 . Wenngleich sich diese begrifflichen Ableitungen auch in der traditionellen metaphysischen Philosophie finden — gerade darin ist sie, das erkennt selbst das maliziö se W o r t von der „Begriffsdichtung" an, von der (scheinbar) frei
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phantasierenden Kunst geschieden —, so ist dieses philosophische Denken doch durch ein so hohes Maß an die Folge der Erscheinungen überfliegender Phantasie oder Intuition gekennzeichnet, daß diesem die Kraft zur kausalen Ableitung in den philosophischen Grund-Sätzen von der Art „Alles ist Eins", wie gesehen, wesensmäßig niemals, in den Folge-Sätzen allzu häufig nicht zu entsprechen vermag; man bedenke etwa Nietzsches Kritik an der „mit Hülfe einer poetischen Intuition e r z e u g t e n ] " Schopenhauerschen Willenskonzeption, bei der „die versuchten logischen Beweise weder Schopenhauer noch uns genügen können" (vgl. S. 5). Ist Nietzsche in dieser Zeit seiner Schopenhauerkritik (Herbst 1867—Frühjahr 1868), beeinflußt von den Ausführungen Langes in dessen „Geschichte des Materialismus", dazu geneigt, darob die Philosophie überhaupt jeglichen wissenschaftlichen Begründungszwanges zu entheben, mithin an sie die Maßstäbe der Kunst anzulegen, weil ihm nur so sein Schopenhauer bleiben kann (s. S. 3 ff.), so belegt doch bereits der von dem ,,große[n] Streich" der Baseler Berufung verhinderte Plan des werdenden Philosophen, gemeinsam mit dem Freund Rohde „Chemie zu studieren" (Brief an Rohde vom 16.1. 1869 180 ), daß er schon bald zu jener Ansicht zurückgekehrt ist, die sich in der kleinen, in den Osterferien 1862 entstandenen Studie „Fatum und Geschichte" 181 verzeichnet findet: Geschichte und Naturwissenschaft, die wundervollen Vermächtnisse unsrer ganzen Vergangenheit, die Verkünderinnen unsrer Zukunft, sie allein sind die sichern Grundlagen, auf denen wir den Thurm unsrer Spekulation bauen können. 1 8 2
Noch einmal, in der Zeit der Freundschaft mit Wagner, erlebt er einen „Rückfall" (dazu später) auf jene Stufe der Schopenhauer-Kritik: die „Geburt der Tragödie" muß er selber schließlich als „bilderwüthig [ . . . ] ohne Willen zur logischen Sauberkeit [ . . . ] misstrauisch selbst gegen die Schicklichkeit des Beweisens" 183 kritisieren. Doch auch jetzt überwindet Nietzsche sich schnell, wie — im Widerspruch zur Wissenschaftskritik der ersten drei „Unzeitgemässen Betrachtungen", aber in Ubereinstimmung mit der 1886 geschriebenen Vorrede zum 2. Teil von „Menschliches, Allzumenschliches" 184 — Vorlesungen gleich derjenigen über die Vorplatoniker, zurückgehaltene Schriften wie diejenige „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" sowie eine Vielzahl von Aufzeichnungen und Notizen, darunter ζ. B. die Zeitatomenlehre, belegen: Insofern das philosophische Denken, wie wir noch sehen werden, der in sich einige Widerstreit von Kunst und Wissenschaft und dieser als solcher das Movens des Denkens und damit des Lebens überhaupt ist, haben sich die per intuitionem gefundenen Ergebnisse der Philosophie vor der wissenschaftlichen Forschung auszuweisen, was indes zugleich bedeuten dürfte, daß sich
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das philosophische Denken gleich dem wissenschaftlichen Denken als Interpretation und damit als relativ wahr, als bestenfalls „wahrscheinlich" einbekennen muß. Mit „Menschliches, Allzumenschliches" weicht Nietzsche noch einmal von jener programmatischen Forderung des Achtzehnjährigen ab, diesmal in die entgegengesetzte Richtung, in die der Wissenschaft nämlich. Doch anders als seine Freunde argwöhnten und die meisten Interpreten heute meinen, hat Nietzsche damit „nicht [ . . . ] einen Bruch mit seinem bisherigen Denken vollzogen, sondern er hat die andere Seite seiner längst ausgebildeten Grundanschauung nunmehr in den Vordergrund gerückt." 1 8 5 Skeptisch nicht nur gegenüber der überkommenen Metaphysik, sondern auch gegen die Visionen der Kunst, sucht Nietzsche mit diesem im Jahre 1878 erschienenen Buch die Philosophie vorläufig auf den Boden der Naturwissenschaft zu stellen, indem er den metaphysischen Ansatz der Tradition mit einem historischen Ansatz vertauscht, ehe er denn mit dem vom „Zarathustra" eingeleiteten Spätwerk und seinen auch vor der zeitgenössischen Wissenschaft ausgewiesenen Konzeptionen des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkunft des Gleichen, jener Anfang August 1881 in Sils-Maria mit ungeheurer Intensität geschauten Vision eines Ganzen der Welt, in seiner Philosophie den einigen Widerstreit von künstlerischer Intuition und wissenschaftlicher Erkenntnis im Sinne jener Jugendaufzeichnung neu entfacht, ehe, ganz am Ende, doch die Kunst das letzte W o r t behält. (Vielleicht kann man im Hinblick auf die Gesamtheit des Nietzscheschen Denkweges auch sagen, daß sich dieser Streit in den ersten beiden, je der Kunst oder der Wissenschaft stärker zuneigenden Phasen mehr als ein Nacheinander und erst in der letzten als ein Zugleich der Streitenden entfaltet, um ganz zum Schluß das Hohelied der Kunst zu singen.) — In welcher Weise aber die intuitive Zusammenschau in der Wissenschaft gebräuchlich ist, das lehrt das aus dem Herbst 1868 stammende Fragment „Ueber die Methode der philologischen Quellenkritik" 1 8 6 : Die allgemeinste Form dieser Methode und zugleich ihre Schwäche liegt [ . . . ] darin, dass eine Hypothese, welche eine Reihe spezifischer Erscheinungen einheitlich lösen soll, schliesslich nur eine Möglichkeit ist, deren Ausschliesslichkeit und Verbindlichkeit erst dann erwiesen wäre, w e n n keine coordinirte Möglichkeit übersehen ist. Wir sehn ein Land in ewigem Nebel und wir zeichnen seine Karte mit dem Gefühl, vielleicht das Richtige getroffen zu haben, aber ohne H o f f n u n g uns Gewissheit verschaffen zu können. Alles was wir zu unserm Tröste sagen können, ist aber, dass nach dem vorliegenden Material eine andre Antwort unmöglich ist. [ . . . ]
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Voraussetzungen Auf rein diskursivem W e g e ist es gar nicht möglich in diesen Gebieten z u m Ziele zu k o m m e n , da das vorhandene Material sich nicht in die Form einer logischen Kette giessen lässt, in der Ring auf Ring in gleich kräftigem G e f ü g e folgt [ . . . ] Also ist hier das Bereich der H y p o t h e s e , jenes intuitiv g e f u n d e n e n Bildes, in dem eine längere Reihe spezifischer und bisher vereinzelter Erscheinungen z u s a m m e n g e s c h a u t und als verschiedene W i r k u n g e n einer Ursache an verschiednem Material erkannt wird.
Zuvörderst haben wir zu bemerken, daß der Satz: „Wir sehn ein Land in ewigem Nebel und wir zeichnen seine Karte mit dem Gefühl, vielleicht das Richtige getroffen zu haben, aber ohne H o f f n u n g uns Gewissheit verschaffen zu können." auf jenen anderen der Schopenhauer-Kritik zurückweist, der da lautet (s. S. 2): daß der D e n k e r vor d e m Räthsel der W e l t stehend eben kein anderes Mittel hat als z u rathen dh. in der H o f f n u n g , daß ein genialer M o m e n t ihm das W o r t auf die Lippen legt, das den Schlüssel zu jener vor all(er) A u g e n liegenden und d o c h ungelesnen Schrift bietet, die wir W e l t nennen. 1 8 7
Diese Textzusammenstellung belegt, so können wir des weiteren zusammenfassen, daß Nietzsche in der T a t von jenem Satz ,Metaphysik, d. h. Philosophie, müsse sich wie die Wissenschaft' „mit einer bewußten Relativität des Wissens begnügen", den er in einem Brief an Deussen Ende April/Anfang Mai 1868 niedergeschrieben hatte, auch fünf Jahre später in keiner Weise abgewichen ist: Wenn die „intuitive Vorstellungsart" der Philosophie diejenige der Wissenschaft ist — „Es giebt k e i n e a p a r t e P h i l o s o p h i e , g e t r e n n t von der W i s s e n s c h a f t : d o r t wie hier w i r d g l e i c h g e d a c h t " —, so unterliegt sie der gleichen relativierenden Erkenntniskritik. Auch ihre „Wahrheiten" können niemals unumstößlicher Art, „Gewissheiten", d . h . für Nietzsche: dem Werden entrückte Wahrheiten an sich, sondern nur „Hypothesen", Wahrscheinlichkeiten, d. h. notwendig Geglaubtes sein. Und dies, wie wir gesehen haben, zum einen — vordergründig — darum, weil ihrer Erkenntnis, ihrer Zusammenschau der Phänomene ebensowenig wie derjenigen der Wissenschaft jemals „Ausschließlichkeit und Verbindlichkeit" zugesprochen werden kann — wobei zudem zugegeben werden muß, daß die Wissenschaft in dieser Hinsicht noch exakter, mit größerer Gewißheit als die Philosophie arbeiten kann, insofern sie nämlich nur Aussagen über Teilbereiche und nicht über das Ganze der Welt macht —, zum anderen — hintergründig — darum, weil auch ihre Erkenntnisse „gewiß" nur nach Maßgabe eines unbeweisbaren Glaubenssatzes sind, mit anderen Worten: weil der Wille zur Zusammenschau auf der Erkenntnisvoraus-setzung beruht „Alles ist Eins". (Wie solches letztlich auch noch, trotz der schon im Dissertationsvorhaben ausgeführten Kritik an der menschlichen Einheitsvorstellung [siehe S. 14] für Nietzsches frühe philosophische Gesamtdeutungen der Welt als
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„Leben" oder „Wille" gilt; erst die spätere Konzeption des „Willens zur Macht" sucht streng der Erkenntnis zu entsprechen, daß alle Einheit „ n u r als O r g a n i s a t i o n u n d Z u s a m m e n s p i e l Einheit [ist] [ . . . ] somit ein H e r r s c h a f t s - G e b i l d e , das Eins b e d e u t e t , aber nicht eins ist." 1 8 8 ) Bewußt bezeichnet Nietzsche darum in seinen Ausführungen über Heraklit (siehe S. 32) die „Intuition" als eine „Vorstellungsart", um damit anzuzeigen, daß den Philosophen auch in ihr kein Weg eröffnet ist, um „direct in's ,Wesen' sehen" zu können. Schon in dieser Zeit ist für ihn somit seine Intuition des Werdens keineswegs, wie Eugen Fink sogar noch für deren letzte Ausformungen annimmt, „ e i n e [ . . . ] unbezweifelte[...] philosophische^ . . ] Erkenntnis" 189 , vielmehr ist sie, gemesssen an der uns unerreichbaren Gewißheit oder Wahrheit (an sich), Schein, Illusion oder, um in Nietzsches späterem Sprachgebrauch zu reden, eine „Fiktion", wie die „Dingheit" eine ist — eine Fiktion indes, die weniger fiktiv oder scheinhaft sein muß, da Nietzsche doch sonst vom Werden aus nicht die Kategorie der „Dingheit" oder die der „Einheit" kritisieren könnte. (Später, 1886, wird Nietzsche im Aphorismus 34 aus „Jenseits von Gut und Böse" den Gegensatz von „ w a h r " und „falsch" durch „Stufen der Scheinbarkeit" ersetzen. 190 ) Sie ist notwendig — weil, zumindest vorläufig, nicht widerlegbar — Geglaubtes. 191 Über diese Intuition aber „trägt kein Pfeil hinaus" 192 , sie ist das letzte Faktum, zu dem wir von den empirischen Erscheinungen aus hinunterkommen, 1 9 3 aber als solches immer noch factum, Gemächte unseres Erkenntnisapparates. Wenn also Nietzsches frühe „Begriffsdichtungen" in ihrem Schopenhauerisch-Wagnerschen Kleid auf den ersten Blick auch den Eindruck Wahrheit an sich erheischender transzendenter Spekulation erwecken, so erweisen sie sich, wie wir zeigen werden, bei genauerem Hinsehen doch als immanente Bestimmungen, die den Ubergang vom derweise begrifflich erfaßten — in die Sphäre des Begriffes übersetzten —, uns auch nicht anders denn als „Wirkung", nämlich als Fluß der Empfindung in der Zeit zugänglichen „Etwas" der Welt zu den empirischen Erscheinungen vorstellen sollen. Vornehmste Aufgabe aller dieser „Spekulationen", der künstlerisch-metaphysischen „Begriffsdichtungen" wie der wissenschaftlich fundierten geistigen Experimente, ist es aber, durch den Aufweis der Möglichkeit, bei der Weltauslegung von anderen als den traditionellen Voraussetzungen ausgehen zu können, ihre eigene Grund-Voraussetzung (die Voraussetzung aller ihrer Voraussetzungen) zu bewähren und d. h. — in Entsprechung zu sich selbst — als notwendig zu Glaubendes zu erweisen, Nietzsches Voraussetzung nämlich, daß die Welt, wie sie uns erscheint, nichts anderes ist als unsere eigene Voraussetzung. So daß diese „Spekulationen", falls sie
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sich denn als „coordinirte Möglichkeiten" ausweisen lassen, den konkurrierenden Auslegungen gemäß dieser Voraussetzung zugleich darin überlegen sind, daß sie sich als bloße Interpretation wissen, 194 wenn sie nicht gar zugleich auch explizit die Bedingungen der Möglichkeit solcher „coordinirten Möglichkeiten" und damit des geistigen Werdens mit anführen — wie etwa in der entfalteten Theorie des Willens zur Macht —, so daß sie die menschliche Schöpferkraft nicht nur, wie bisher, im Aufbrechen alter und im Schaffen neuer Voraussetzungen praktisch bewähren, sondern als solche eigens oder theoretisch gewinnen. Als „coordinirte Möglichkeiten" können sich Nietzsches philosophische Interpretationen, entsprechend seinen Überlegungen zum Wesen des Denkens, in bestimmter Hinsicht jedoch nur dann erweisen, wenn sie sich vor der wissenschaftlichen Forschung auszuweisen vermögen. An einem Beispiel wollen wir nun zeigen, wie Nietzsche seine Intuition des reinen Werdens auf die ,sichere Grundlage der Naturwissenschaft' zu stellen, für sie fachwissenschaftliche Bestätigung zu finden versucht — und dies, indem er — bis in seine Spätzeit hinein geübtes Verfahren — die Kantische Kritik der apriorischen Bedingungen des Erkennens biologisiert. In einem Exkurs seines Kollegs über die Vorplatoniker 1 9 5 bemerkt Nietzsche über die Heraklitischen Intuitionen, u. a. diejenige des „Alles fließt": „der naturwissenschaftliche Weg war damals wohl sehr kurz und unsicher", aber „es sind Wahrheiten, zu denen [ . . . ] der νοϋς sich gezwungen fühlt" — womit ihnen der Charakter des notwendig Geglaubten zugesprochen ist. Dies bestätige, so Nietzsche weiter, der Blick auf die moderne Naturwissenschaft. Für sie ist das π ά ν τ α £>ει ein Hauptsatz. Ein starres Beharren ist nirgends, schon weil man zuletzt immer auf Kräfte k o m m t , deren W i r k e n zugleich einen Kraftverlust in sich schliesst." 6
Hier taucht zum ersten Male jene uns ungewohnt anmutende Definition von „ K r a f t " auf, die wir als eine solche der „Energie" auffassen müssen, soll auch uns die Nietzschesche Beweisführung schlüssig erscheinen, „daß es im Rahmen der Physik keinen für noch so kurze Zeit gleichbleibenden Zustand der Elemente gibt." 197 Es liegt nur, so setzt Nietzsche seinen Gedankengang fort, an unserem „kleinlichen Maassstabe", wenn wir in der Natur irgendein Verharren zu erkennen vermeinen 198 — und er stützt diese von ihm lebenslang vertretene Auffassung durch das Referat einer Rede des Naturforschers Karl Ernst von Baer (1792—1876) „Welche Auffassung der lebenden Natur ist die richtige?", die dieser im Mai 1860 zur Eröffnung der russischen entomologischen Gesellschaft gehalten hat (erschienen Berlin 1862). (Ihre Gedanken hat Nietzsche im übrigen in der „Morgenröthe", im 117. — „Im
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Gefängnis" betitelten — Aphorismus, erneut aufgegriffen, ohne die Rede dabei aber eigens zu erwähnen.) Bei seinen Überlegungen geht von Baer von der Hypothese aus — Nietzsche nennt sie eine „Fiktion" —, daß die Schnelligkeit des Empfindens und der willkürlichen Bewegung beim Tier in etwa der Schnelligkeit seines Pulsschlages proportional ist. So wird ein Kaninchen, dessen Pulsschlag ungefähr viermal schneller als derjenige eines Rindes ist, in der gleichen Zeit viermal soviel wie dieses wahrnehmen und erleben. Danach hätte jedes Lebewesen ein subjektives Grundmaß der Zeit. Der Mensch, mit einem relativ kleinen derartigen Grundmaß, erlebt somit innerhalb einer physikalischen Minute verhältnismäßig viel, nur darum erscheinen ihm die organischen Individuen nach Gestalt und Größe als etwas Bleibendes: er kann sie „in einer Minute hundertmal und öfter sehen, ohne äusserlich eine Veränderung zu bemerken." 1 9 9 Wäre aber das menschliche Grundmaß der Zeit lOOOmal kleiner, würde der Mensch also in einer physikalischen Minute lOOOmal so viele Sinneseindrücke empfangen können — dies jedoch bei einer Gesamtlebensdauer von nur 29 Tagen, da der physiologische Ablauf natürlich ebenfalls lOOOmal so schnell erfolgte —, dann erschiene uns die Welt ganz anders als jetzt, beispielsweise könnten wir „gemächlich mit dem Blick" einer Gewehrkugel folgen. Dieses Grundmaß noch einmal auf ein Tausendstel reduziert, erschiene uns das Gras wie jetzt die Gebirge, und die Bewegungen der Tiere vermöchten wir in der Weise zu erschließen, wie wir jetzt den Umlauf der Sterne berechnen: Unser Leben währte nur noch 40 Minuten. Wäre aber das menschliche Grundmaß der Zeit lOOOmal größer als jetzt, lebten wir 80 000 Jahre, so würden wir in 4 physikalischen Minuten den ganzen Jahresablauf erleben. „Wie eine helle und eine dunkle Minute wechselten T a g und Nacht, und die Sonne würde mit der grössten Eile über den Himmelsbogen hinrennen." Das Grundmaß noch einmal um das Tausendfache vergrößert, und wir könnten nur noch 189 Wahrnehmungen in einem physikalischen Jahr machen: dann fiele der Unterschied von Tag und Nacht ganz hinweg, der Sonnenlauf erschiene als ein leuchtender Bogen am Himmel, wie eine rasch im Kreis geschwungene glühende Kohle als feuriger Kreis erscheint: die Vegetation würde in rasender Hast fortwährend emporschiessen und wieder verschwinden.
Aus diesen Gedanken von Baers zieht Nietzsche aber den Schluß: Genug, alle uns bleibend scheinenden Gestalten würden in der Uebereile des Geschehens zerfliessen und vom wilden Sturm des Werdens verschlungen sein. Das Bleiben, das μή f)Etv ergiebt sich als eine vollkommene Täuschung, als Resultat unserer menschlichen Intelligenz: könnten wir noch viel schneller percipiren, so würden wir die Täuschung des Bleibens noch viel stärker haben: dächte man sich die unendlich
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schnellste, aber durchaus menschliche Perception, so hört jede Bewegung auf, alles wäre ewig fest. 200
Aber — so muß man hier erstaunt fragen — warum ist für Nietzsche dann nicht wie für den von ihm interpretierten Parmenides das Werden eine Täuschung, sondern das Sein? („Alle Sinneswahrnehmungen, urtheilt Parmenides, geben nur Täuschungen; und ihre Haupttäuschung ist eben, daß sie vorspiegeln, auch das Nichtseiende sei, auch das Werden habe ein Sein." 201 ) Es erhellt, daß das Mißtrauen gegen den Augenschein und mit ihm zugleich die Intuition des Werdens das Primäre, die Voraussetzung seiner entfalteten Erkenntniskritik ist, ebenwas, darin ist Fink recht zu geben, „die biologistische und pragmatistische Ausdruckweise [ . . . ] weithin verdunkelt" 202 . Biologistisch aber ist auch unsere Antwort auf die Frage gewesen, woher Nietzsches Annahme eines reinen Werdens rührt, aus dem Rückgang von den empirischen Erscheinungen auf den Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit nämlich — wir müssen erkennen, daß diese Antwort noch nicht zureicht, weil wir bisher nur Nietzsches empirischem Aufweis des reinen Werdens nachgedacht haben, nicht aber die Voraussetzung dieser Auslegung, die Voraussetzung für das Mißtrauen gegen den Augenschein aufgewiesen haben. Mag Nietzsches Theorie des Denkens zufolge die intuitive Bestimmung des „Wesens" der Welt auch von einer Deutung der empirischen Erscheinungen ausgehen, indem sie gleichsam über diese hinausspringt, so kann doch, wie wir gegen Nietzsche einwenden müssen, bereits diese Deutung der einzelnen Erscheinungen nur nach Maßgabe eines Vor-Urteils, einer Vor-Bestimmung erfolgen, welche die intuitive Bestimmung dann eigens entfaltet: Es ist dies jener Zirkel des Verstehens, der, wie Martin Heidegger in „Sein und Zeit" aufgewiesen hat, in des Daseins Grundstruktur der Sorge als des Je-schon-sich-selbst-vorweg-Seins beschlossen liegt. 203 Wenn somit die Erscheinungen der Welt bereits im Lichte des „Wesens" der Welt erfahren werden — anders ist Nietzsches Entscheid gegen das doch in gleicher Weise wie das „ W e r d e n " empirisch erfahrene „Sein" nicht zu erklären —, dann ist hinwiederum dieses „ W e s e n " nur in den Erscheinungen der Welt erfahrbar, so daß diese Erfahrung auf jenes Vor-Verständnis einwirken kann. Terminologisch kann man hier von einer Grund-Erfahrung der Welt sprechen; wobei dieselbe — zumindest scheint dies, wie sich auf S. 30 schon andeutete, für das Geschick des Friedrich Nietzsche zu gelten — wesentlich von den Voraussetzungen der Geschichte der Metaphysik bezüglich des Verhältnisses von Gott, Wahrheit, Sein und Werden bestimmt wird: in sie geworfen, hat sich der Mensch mit ihnen auseinanderzusetzen. —
Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Kunst — Der Begriff der Intuition 49
Im Fortgang seines Exkurses löst sich Nietzsche nun von den Gedanken, die von Baer in seiner Rede vorgetragen hat. Setzte dieser bei seinen hypothetischen Veränderungen der menschlichen Perzeption als einzige Variable das subjektive Zeitmaß an, so steigert Nietzsche „fiktiv" bei sonst normalen physiologischen Abläufen die Wahrnehmungsfähigkeit „nach S t ä r k e und Kraft der Organe" 2 0 4 — die räumliche Form wird in Frage gestellt. Derweise wäre es dem Menschen nämlich möglich, die Vorgänge in einer Zelle unmittelbar „zu sehen". Die Naturerscheinungen lösten sich bis in den „unendlich kleinsten Zeittheil" hinein in ein Werden auf. So sei unsere Möglichkeit, Formen zu erkennen und ihr Gleichbleiben oder Verändern zu beobachten, auch an unsere spezifisch menschliche Art der Wahrnehmung gebunden: Die Natur ist nach innen ebenso unendlich als nach aussen: wir gelangen jetzt bis zur Zelle und zu den Theilen der Zelle: aber es giebt gar keine Grenze, wo man sagen könnte, hier ist der letzte Punkt nach innen, das Werden hört bis ins unendlich Kleine nie auf. 205
(Ein Gedanke, der uns bereits in den Aufzeichnungen zum Dissertationsprojekt begegnet ist.206) Indem aber, so dürfen wir schließen, unsere Perzeption dieses Werden in räumliche Formen fügt, treibt es dasselbe zugleich in den Widerstreit mit dem Sein und eröffnet so das Widerspiel von Dauer und Wechsel: denn jetzt erst ist die Möglichkeit gegeben, den Wandel eines Beharrenden zu beobachten (wie solches auch Schopenhauer lehrt). Damit aber muß theoretisch zwischen einem sich am Seienden oder Sein vollziehenden und einem „reinen" Werden, bzw. zwischen einem gebändigten, weil räumlich gefügten, und einem „chaotischen", nur vom Fortriß der Zeit gehaltenen Werden unterschieden werden, das als solches vom vorstellenden Denken nicht faßbar, das nur erfahrbar ist — als Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit. Uber diese anthropomorphe Empfindung aber trägt „kein Pfeil hinaus": das Vorstellende kann sich, so Nietzsche, wie erinnerlich, in den Vorüberlegungen zur Zeitatomenlehre, „nicht ,nicht vorstellen', wegvorstellen." Was dieses reine Werden an sich sein mag, ob es vielleicht ein „Sein" ist — so daß diesem der Charakter des Werdens erst durch unsere Anschauungsform der Zeit verliehen wäre —, das bleibt uns verschlossen. Im Verlauf seiner Rede versucht Nietzsche dann noch zu zeigen, daß es nicht nur im Kleinen, sondern auch im Größten, im astronomischen Bereich, „nichts absolut Unveränderliches" gibt, was er u. a. durch das folgende Zitat aus einer Abhandlung von Hermann von Helmholtz, betitelt „Uber die Wechselwirkungen der N a t u r k r ä f t e " (Königsberg 18 5 4) 207 , zu belegen versucht:
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Voraussetzungen
„Wir kommen zu dem unvermeidlichen Schlüsse, dass jede Ebbe und Fluth fortdauernd und, wenn auch unendlich langsam, doch sicher, den Vorrath mechanischer Kraft des Systems verringert, wobei sich die Achsendrehung der Planeten verlangsamen muss und sie sich der Sonne oder ihre Trabanten ihnen nähern müssen. Also kann auch von einer absoluten Strenge unserer astronomischen Zeitskala nicht die Rede sein." Bemerkenswert an diesem Zitat ist vor allem der die Conclusio ziehende letzte Satz: denn er ist gar kein Zitat, sondern Nietzsches eigene Formulierung. Mit ihr hebt er hervor, daß auch unsere an den Wegstrecken der Himmelskörper orientierte Zeiteinteilung, daß auch die allgemeinen Maße des Flusses der Jetzt, der die Form des reinen Werdens ausmacht, nichts Konstantes, sondern dem Werden unterworfen sind. — W o h e r aber dieser Gedanke des reinen Werdens? — mit welcher Frage wir nun nicht mehr Nietzsches empirischer Begründung seiner „Intuition" nachfragen wollen — als diese haben wir den Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit aufgewiesen —, sondern deren Voraussetzungen: W o h e r Nietzsches Feindschaft gegen den Augenschein, die ihn bewegt, den Reichtum der empirischen Welt auf ein bloßes Zeitphänomen zu reduzieren und mit der „Materie" auch den Raum und mit diesem das Sein als „höhere Täuschung" abzutun? W o h e r sein Mißtrauen, auch diese äußerste Reduktion der sinnlichen Erfahrung, diese tiefste uns zugängliche Schicht noch f ü r eine Täuschung, für Schein zu halten? Gehen Mißtrauen gegen den Augenschein, Leugnung des Seins und Unzugänglichkeit der Wahrheit irgendwo zusammen — vielleicht in jenem leeren Ort, der sich mit dem T o d e Gottes im Gefüge der Metaphysik aufgetan hat?
5. „ Schmerz ist der Grundton der Natur": Das reine Werden aus dem Geiste der Musik und das Parmenideische Erbe der Sinnenfeindschaft Wir fragen der Intuition des fortwährenden Werdens als Nietzsches Grunderfahrung der Welt nach, d. h. einer Erfahrung, die das Verhalten des Menschen zur Welt bestimmt — zum Seienden, zum Mitmenschen, zu sich selbst — und dies zunächst und zumeist, ohne begriffen zu sein. Zunächst und zumeist äußert sich diese Erfahrung als eine Weise der den Mensch beständig umfangenden Gestimmtheit, deren Erschließungsmöglichkeiten gegenüber diejenigen des Erkennens, laut Heideggers phänomenologischer Analyse in „Sein und Zeit" 208 , „viel zu kurz tragen. [ . . . ] Die Stimmung macht offenbar, ,wie einem ist und wird'." In die Erkenntnis gehoben, kann darum eine solche Grunderfahrung niemals — wie, Nietzsche zufolge, zumeist die wissenschaftliche Erkenntnis, — „eine kalte folgenlose Erkenntniss" 209 sein; weder hört sie als begriffene Erfahrung auf, in
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grundlegender Weise das Handeln zu bestimmen, noch verliert sie ihren Stimmungscharakter. (Wenngleich mit der Begrifflichkeit die Gefahr wächst, daß sie zur abstrakten, vom Lebensvollzug abgelösten Erkenntnis absinkt). Die Erkenntnis einer Grunderfahrung ist somit eine gestimmte — und sie wird von einem anderen erst dann recht verstanden, so besagt Nietzsches, hier nur formal anzuzeigender Verstehensbegriff („Historisches Erkennen ist nur N e u e r l e b e n . Aus dem Begriff führt kein W e g in das Wesen der Dinge. Es giebt keinen Weg, die griechische Tragödie zu begreifen, als Sophokles zu sein." 210 ), wenn sie diesen nicht „kalt" läßt, wenn sie nach„erlebt" und nicht nur „begriffen" wird: Das ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist, wie dies Heraklit lehrt, ist eine furchtbare und betäubende Vorstellung und in ihrem Einflüsse am nächsten der Empfindung verwandt, mit der Jemand, bei einem Erdbeben, das Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert. Es gehörte eine erstaunliche Kraft dazu, diese Wirkung in das Entgegengesetzte, in das Erhabne und das beglückte Erstaunen zu übertragen. Dies erreichte Heraklit durch eine Beobachtung über den eigentlichen Hergang jedes Werdens und Vergehens, welchen er unter der Form der Polarität begriff, als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Thätigkeiten. 211
Nach Maßgabe seines existentiellen Verstehensbegriffes verstand Nietzsche, wie er selber meinte, Heraklit nur zu gut, weil er dessen Grunderfahrung teilte und er auch darin Heraklit war, daß er ihr Entsetzliches bändigte, indem er sie in die Gestalt des Tragischen oder, wie Nietzsche hier gleichbedeutend sagt 212 , in die Gestalt des Erhabenen kleidete. Wie Heraklit begreift auch er schließlich — in der „Geburt der Tragödie" — das Werden als Krieg (πόλεμος) des Entgegengesetzten: als in sich einigen Streit von Dionysos und Apoll. Die Bändigung aber besteht für ihn, wie wir später zeigen werden, zum einen inhaltlich in der in diesem Gedanken beschlossenen tragischen Anschauung, „daß Untergang des endlich = Seienden nicht die schlechthinnige Vernichtung, sondern die Heimkehr in den Lebensgrund ist, aus dem alles Vereinzelte aufgestiegen" 213 , in dem, wie Nietzsche sagt, ,,metaphysische[n] Trost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst" 214 — ein auf dem metaphysischen Glaubenssatz „Alles ist Eins" beruhender Trost, der von Nietzsche selbst konsequenterweise als „Illusion" bezeichnet wird. 215 Zum anderen aber besteht die Bändigung formal in der einfachen Tatsache, daß Nietzsche den Fortriß gedanklich oder, wie er selbst sagt, 216 künstlerisch bewältigt: Er gewinnt seinen Gegen-Stand wieder — seinen eigenen, f ü r den Lebensvollzug unabdingbaren, einigermaßen festen Standpunkt und mit ihm die Welt des ihm auf diesem Entgegenstehenden, die Welt der Gegenstände
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Voraussetzungen
—, indem er das ihn seines Standpunktes Ent-setzende in das künstlerische Bild des Streites von Dionysos und Apoll fügt, welcher der „Geburt der Tragödie" zufolge das Wesen des Tragischen ausmacht. Das Tragische aber ist, daß alles von der Flut des Lebens aus sich gestalthaft Herausgeworfene von dieser wieder in sich zurückgeschlungen wird: Das Leben ein ewiger Widerstreit von πέρας und άπειρον, eine ewige Flut des Werdens. Als tragisch aber hat bereits der jugendliche Nietzsche die Welt erfahren: „Schmerz ist der Grundton der Natur" hat der Siebzehnjährige eine Komposition für Klavier zu vier Händen überschrieben 217 , welcher Titel an unsere Ausführungen über das Flutende der bloßen Empfindung als Grund der empirischen Welt zu gemahnen scheint. Doch — werden wir nicht plötzlich hellhörig? Könnte dieser Titel einer Komposition nicht ein Fingerzeig sein, woraus Nietzsches „Ur = Intention seiner heraklitisierenden Philosophie" 218 hervorgegangen ist? — muß uns nicht der „Grundton" in den Ohren dröhnen? — und werden wir nicht plötzlich hellsichtig? — aus einem anderen Sinn als demjenigen, an dem sich die Philosophen, weil ihm beim Menschen eine biologische Prävalenz vor den anderen Sinnen zukommt, in ihren Bestimmungen orientieren, dem optischen nämlich?219 Bereits Parmenides ist mit seiner Bestimmung το γαρ αύτο νοεΐν έστίν τε και είναι — „Sein ist, was im reinen anschauenden Vernehmen sich zeigt" 220 — den Weg gegangen, auf dem ihm die gesamte abendländische Philosophie bis hin zu Hegel gefolgt ist: Ursprüngliche Wahrheit liegt in der reinen Anschauung des Anwesenden. Maßgebend für die Folgezeit hat dann Piaton diesen Anfang dahingehend entfaltet, daß die Anwesenheit des Anwesenden vom Aussehen (dem είδος, der ίδέα) her vorzustellen ist, womit die Schau (die θεωρία), endgültig als „theoretische" Grundhaltung befestigt wurde. Nietzsche bedenkt dies im Zeitraum Winter 1869/70—Frühjahr 1870 wie folgt: Der „Schein der Wahrheit", „die Kunst der Begriffe" als der „Bilder der Dinge". In Plato höchste Verherrlichung der Dinge als der Urbilder, d. h. die Welt ganz vom Standpunkt des Auges (Apollos) angesehn. 221
Wenn Aristoteles darum seine erste Abhandlung zur Ontologie mit dem Satz eröffnet: πάντες άνθρωποι τοΟ είδέναι όρέγονται φύσει (Metaphysik ΑΙ,980 a 21), dann ist dies wie folgt interpretierend zu übersetzen: „Im Sein des Menschen liegt wesenhaft die Sorge des Sehens." 222 Des weiteren führt Aristoteles dort aus, warum der Mensch vor allen anderen Wahrnehmungen diejenige des Auges schätzt: αίτιον δ' δτι μάλιστα ποιεί γνωρίζειν ημάς αΰτη των αισθήσεων και πολλάς δηλοΐ διαφοράς — „Ursache davon ist, daß dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt."
„Schmerz ist der Grundton der Natur"
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Was will es dagegen besagen, daß Nietzsche im Entwurf eines Briefes an H e r m a n n Levi am 20.10. 1887 schreibt: „Vielleicht hat es nie einen Philosophen gegeben, der in dem Grade im Grund so sehr Musiker war, wie ich es bin." 223 ? Was will es besagen, daß Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" als Adressaten dieser Schrift diejenigen bezeichnet, „die, unmittelbar verwandt mit der Musik, in ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit den Dingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in Verbindung stehen." 224 ? Etwa nur, daß er sich mit dieser Schrift ausschließlich an Wagnerianer wendet? Oder nicht doch auch, daß die Schrift selber — wie der „Gegenstand", von dem sie handelt — aus dem Geiste der Musik geboren ist? Damit aber überhaupt die Tragödie Nietzsche—Zarathustra? Deutet nicht nachfolgende Überlegung Nietzsches darauf hin? Daß M u s i k G e d a n k e n erzeugen kann? Zunächst Bilder, Charaktere, dann Gedanken.225 Nicht erst recht, wenn man die nachfolgende mit hinzunimmt? Dem Begriff entspricht zuerst das Bild, Bilder sind Urdenken d. h. die Oberflächen der Dinge im Spiegel des Auges zusammengefaßt. [··•] Bilder in menschlichen Augen! Das beherrscht alles menschliche Wesen: vom A u g e aus! Subjekt! das O h r hört den Klang! Eine ganz andere wunderbare Conception derselben Welt.226 Eine ganz andere als die überkommene Konzeption ist Nietzsches Auslegung der Welt aber ganz gewiß (im Gegensatz zu Nietzsche denkt die gesamte Metaphysik seit den Frühgriechen, einschließlich Heraklit, aus der Beständigkeit heraus, siehe dazu Anm. 819) — und gemahnt nicht bereits das gewöhnliche Sprechen von „Klangflut" oder „Klangmeer" an das reine Werden? „ H ö r t " darum Nietzsche nicht vielleicht die Welt, wenn er sie solcherweise, die räumlichen Formen negierend, bestimmt? Die objektiven Anschauungen gehen, so erläutert Schopenhauer in seiner Dissertation „Uber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" (SG 70 f.), letztendlich nur aus zwei Arten von Sinnesempfindungen hervor, aus denjenigen des Getasts und des Gesichts: Sie allein liefern die Data, auf deren Grundlage der Verstand durch den angegebenen Prozeß [ihnen eine Ursache im Räume zu unterstellen] die objektive Welt entstehn läßt. (So daß dasjenige, „was Getast und Gesicht liefern, noch keineswegs die Anschauung, sondern bloß der rohe Stoff dazu [ist]": Unsere vorangegangenen Ausführungen über eine empirische Begründung von Nietzsches Intuition des reinen Werdens werden somit in keiner Weise durch die nachfolgenden Überlegungen gegenstandslos. 227 ) „Die andern drei Sinne", so fährt Schopenhauer fort,
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Voraussetzungen
bleiben in der Hauptsache subjektiv: denn ihre Empfindungen deuten zwar auf eine äußere Ursache, aber enthalten keine Data zur Bestimmung räumlicher Verhältnisse derselben. Nun ist aber der Raum die Form aller Anschauung, d. i. der Apprehension, in welcher allein Objekte sich eigentlich darstellen können. Daher können jene drei Sinne zwar dienen, uns die Gegenwart der uns schon anderweitig bekannten Objekte anzukündigen: aber auf Grundlage ihrer Data kommt keine räumliche Konstruktion, also keine objektive Anschauung zustande. Aus dem Geruch können wir nie die Rose konstruieren; und ein Blinder kann sein Leben lang Musik hören, ohne von den Musikern oder den Instrumenten oder den Luftvibrationen die mindeste objektive Vorstellung zu erhalten. [ . . . ] daher würde ein Blinder ohne Hände und Füße zwar den Raum in seiner ganzen Gesetzmäßigkeit a priori sich konstruieren können, aber von der objektiven Welt nur eine sehr unklare Vorstellung erhalten. Allein die optischen und die — wie man mit Nietzsche gegen Schopenhauer einwenden muß — auf die optischen Empfindungen bezogenen haptischen Empfindungen 2 2 8 eignen sich dazu, räumlich oder objektiv vorgestellt zu werden, die anderen bleiben subjektiv, d. h. innerlich, und, abgesehen von der Zeit, formlos 2 2 9 : Ist das nicht eine erkenntnistheoretische Begründung des abendländischen
Ophthalmozentrismus?
Von
dem sich
„ g a n z andere wunderbare Conception derselben W e l t "
Nietzsches
augenscheinlich
löst? Schopenhauers Ausführungen modifizierend zeichnet Nietzsche in der Zeit S o m m e r 1 8 7 2 — A n f a n g 1873 auf: Das Bild im Auge ist für unser Erkennen maßgebend, dann der Rhythmus unseres Gehörs. Vom Auge aus würden wir n i e zur Zeitvorstellung kommen, vom Ohre aus nie zur Raumvorstellung. Dem Tastgefühl entspricht die Kausalitätsempfindung. Von vorn herein sehen wir ja die Bilder im Auge nur in u n s , wir hören den Ton nur in u n s — von da zur Annahme einer Außenwelt ist ein weiter Schritt. Die Pflanze ζ. B. empfindet keine Außenwelt. Das Tastgefühl, und zugleich das Gesichtsbild geben zwei Empfindungen nebeneinander empirisch, diese, weil sie immer mit einander erscheinen, erwecken die Vorstellung eines Zusammenhangs [ . . .]. 230 Muß darum nicht Nietzsches Denken im Hinblick auf seine Grunderfahrung
der
Welt
als
ein
musikalisches
bezeichnet
werden?
Als
ein
musikalisches Denken, das anders als dasjenige des unglücklichen, in sich entzweiten Bewußtsein Hegels 2 3 1 wohl zum Begriffe kommt, nicht aber zu diesem uneingeschränkt will, weil der Begriff als solcher Diskontinuitäten, räumliche F o r m e n voraussetzt und feststellt und sich damit dem Fluß des reinen Werdens in der Zeit entgegenstellt: Nietzsches Grunderfahrung der W e l t , die allein die Musik wiederzugeben vermag, weil das musikalische W e r k , wie Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik ausführt, 2 3 2 kein dauerndes äußerliches Bestehen im R ä u m e hat, vielmehr „umgekehrt seine reale
Existenz
zu einem unmittelbaren
zeitlichen Vergehen
derselben
„Schmerz ist der Grundton der Natur"
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[verflüchtigt]", es des weiteren auch nicht wie die Poesie, eine vom äußerlichen, in der Zeit entschwindenden Material abgehobene, bleibende somit begrifflich faßbare, weil bildliche Vorstellung ausbildet. „Gleichniß der Musik. Wie kann man von ihr reden?", fragt Nietzsche in einer Vorstufe seiner Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" 233 . V o n ihr selber gar nicht, ist doch ihre Sphäre ganz anderen Wesens als der auf objektiven Anschauungen basierende Begriff. Wie Hegel sagt: Kaum hat das Ohr sie gefaßt, so ist sie verstummt; der Eindruck, der hier stattfinden soll, verinnerlicht sich sogleich; die T ö n e klingen nur in der tiefsten Seele nach, die in ihrer ideellen Subjektivität ergriffen und in Bewegung gebracht wird. 234
Reden kann man allein von dieser ihrer Wirkung auf die Innerlichkeit, sofern sich diese zur Vorstellung verdichtet und gefügt hat, d. h. auf die Weise des Lyrikers, wie Nietzsche sie in der „Geburt der Tragödie" beschrieben hat. Der Lyriker ist diesen Ausführungen zufolge derjenige, „der jenes begrifflich unnahbare Bereich des ,Willens', den eigentlichen Inhalt und Gegenstand der Musik, sich in die Gleichnißwelt der" — bestimmten — „Gefühle übersetzt." 235 , dem die Musik „wie in einem g l e i c h n i s s a r t i g e n T r a u m b i l d e [ . . . ] sichtbar [wird]" 236 , so zwar, daß er von jener Sphäre des Willens absteht, der unmittelbaren Wirkung der unbestimmten Affekte entrückt ist. Denn während die Sprache die Anschauung zu begreifen sucht, derweise dem Bereich des principium individuationis zurechnet — sie setzt zum einen die Formen von „Zeit Raum und Kausalität" voraus, „sodann die Urphantasie der Übertragungen in Bilder: das erste giebt die Materie,, das zweite die Qualitäten, an die wir glauben" 237 —, ist der „Gegenstand" der Zeitkunst Musik, wie es in einem umfangreichen, bereits in anderem Zusammenhang angeführten (s. S. 34 f.) Fragment zur „Geburt der Tragödie" heißt, „der Wille in seiner allergrößten Allgemeinheit, als die ursprünglichste Erscheinungsform, unter der alles Werden zu verstehn ist" 238 . Empirisch oder physiologisch gesehen, jener fortwährende Fluß purer „Lust- und Unlustempfindungen", der „als nie fehlender Grundbaß alle übrigen Vorstellungen [begleitet]" 239 . Alle Reden über Musik aus ihrer Wirkung auf die Innerlichkeit heraus sind zudem trotz ihrer objektiven Form in der Hinsicht subjektiv zu nennen, daß sie, mit Hegel zu sprechen 240 , u n s e r e Vorstellung und Anschauung [sind], zu der wohl das Musikwerk den Anstoß gegeben, die es jedoch nicht selber durch seine musikalische Behandlung der T ö n e unmittelbar hervorgebracht hat.
Ihnen eignet darum ein erheblicher Grad an Beliebigkeit, wie sogleich der Vergleich mit den Empfindungen, Anschauungen und Vorstellungen erhellt, die die Poesie hervorruft: Sie spricht diese
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Voraussetzungen
selber aus, und vermag uns auch ein Bild äußerer Gegenstände zu entwerfen, obgleich sie ihrer Seits weder die deutliche Plastik der Skulptur und Malerei, noch die Seeleninnigkeit der Musik erreichen kann, und deshalb unsere sonstige sinnliche Anschauung und sprachlose Gemüthsauffassung zur Ergänzung heranrufen muß. —
Ein anderes Fragment aus dem Umkreis der „Geburt der Tragödie" hebt jene physiologischen Überlegungen Nietzsches auf das Reflexionsniveau der „Artisten-Metaphysik": Das Scheinende, das Leuchtende, das Licht, die Farbe. [...] Der Ton stammt aus der Nacht: Die Welt des S c h e i n s hält die Individuation fest. Die Welt des Tons knüpft aneinander: sie muß dem Willen verwandter sein. Der Ton: ist die S p r a c h e d e s G e n i u s d e r G a t t u n g . 2 4 1
Befreit von allen „nachtischen" Gedanken Wagners ( „ O h sink hernieder, Nacht der Liebe") — siehe dazu die Ausführungen des 2. Abschnitts — und fern den Vordergründen einer biologischen Ausdrucksweise könnte das heißen: Die Musik offenbart in ihrer Artikulation, dem Spiel der diskreten Töne, die Scheinhaftigkeit des Seienden, der Artikulationen der lichten Welt, indem sie diese ihre flüchtigen Individualitäten oder Diskontinuitäten zu einer immerfort werdenden, in sich bewegten Kontinuität fügt, damit aber gleichnishaft („Gleichniß der Musik") — d. h. als ihren „Geist" — jene Kontinuität des Werdens zum Vorschein bringt und ausspricht, die ansonsten nur dunkel, an der Grenze aller in der Helle des Tages aufleuchtenden Diskontinuitäten aufscheint·, diese sind für uns (vgl. Anm. 819), was sie sind, nur im Gegenhalt der an sie gefügten Kontinuität — wie der Schein des Tages er selbst nur in der Ausgrenzung des Dunkels der Nacht ist: er ist T a g nur von der Nacht her. Zunächst und zumeist aber erwecken die Diskontinuitäten bei uns den Anschein, als bestünden sie in sich selbst, als seien sie je f ü r sich, wenn wir nämlich in den kleinlichen Differenzen, den Vereinzelungen unserer täglichen Welt befangen sind, ohne den Blick für die an ihnen aufscheinende eine Differenz von Einheit und Vielheit, von „kontinuierlichem" Werden und „diskontinuierlichem" Sein der Welt oder des Lebens zu haben. (In der „Geburt der Tragödie" und den Aufzeichnungen aus ihrem Umkreis spricht Nietzsche dem „Leben" oder „Willen" in Fortführung des f ü r ihn in Schopenhauer inkarnierten traditionellen metaphysischen Ansatzes „Einheit" zu — so redet er dort etwa vom „Ureinen" —, obwohl er, wie wir gesehen haben, bereits in den Notizen für das Dissertationsprojekt die Vorstellung der „Einheit" als höheren Schein, als Täuschung ausgewiesen hat. Die spätere Konzeption des „Willens zur Macht" nimmt diesen Gedanken, darauf haben wir
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ebenfalls schon aufmerksam gemacht (siehe Anm. 71), in sich auf. Dagegen bemerkt er beispielsweise im September 1870—Januar 1871: „Vom Standpunkte des bewußten Denkens erscheint die Welt wie eine Unsumme ineinander geschachtelter Individuen: womit eigentlich der Begriff des Individuums aufgehoben ist. Die Welt ein ungeheurer sich selbst gebärender und erhaltender Organismus: die Vielheit liegt in den Dingen, weil der Intellekt in ihnen ist [gemeint ist der eine „Urintellekt", der sich als und in der Vielheit der Welt vorstellt]. Vielheit und Einheit dasselbe — ein undenkbarer Gedanke." 242 ) Die Musik eröffnet uns aber laut Nietzsche den Blick für diese Differenz von Einheit und Vielheit, von kontinuierlichem Werden und diskontinuierlichem Sein — und mit ihm zugleich auch den Blick für ihre eigene Gleichnishaftigkeit —, indem sie uns mit ihrer „elementarischen Macht" (wie Hegel weiß 243 , „zieht uns das musikalische Kunstwerk ganz in sich hinein und trägt uns mit sich fort") vorübergehend, für die Zeit ihrer Wirkung, unserer zerstückelten Tageswirklichkeit und damit unserer Individualität, der Ständigkeit unseres subjektiven Standpunktes entsetzt: Und wie ich vom Mannheimer Concert zurückkam, hatte ich wirklich das sonderbar gesteigerte übernächtige Grauen vor der Tageswirklichkeit: weil sie mir gar nicht mehr wirklich erschien, sondern gespenstisch. 244 ,
schreibt Nietzsche an seinen Freund Erwin Rohde am 21.12. 1871 über ein Wagner-Konzert, das tags zuvor in Mannheim stattgefunden hat. Erfährt so der H ö r e r in der Ek-stasis des Hörens unmittelbar die Aufhebung der Diskontinuitäten des lichten Tages in der nächtlichen Kontinuität, den Untergang der Vielheit in einer verschwimmenden „Einheit", der „Einheit" des Lebens — so erschließt sich ihm diese Aufhebung als solche doch erst nach ihrer Aufhebung, nach der Rückkehr in die Diskontinuität; denn unsere anschauende Vernunft, das lumen naturale, setzt einen festen Blickpunkt voraus, so daß wir die Kontinuität oder „Einheit" der Welt gar nicht anders denn taghaft, d. h. im Ausgang vom T a g und seinen Diskontinuitäten als deren Entgegensetzung oder Aufhebung, nämlich als ununterbrochene Folge von Diskontinuitäten denken können. Was die Kontinuität oder „Einheit" des Lebens als solche oder an sich ist, wissen wir nicht. Im Lichte dieses erschlossenen Unterschiedes erscheint aber die Diskontinuität anders als früher, sie erscheint gar nicht mehr wirklich, vielmehr gespenstisch und d. h. scheinhaft. Wie Nietzsche in jenem bereits zitierten Fragment bemerkt: Vom Standpunkte des bewußten Denkens erscheint die Welt wie eine Unsumme ineinander geschachtelter Individuen: womit eigentlich der Begriff des Individuums aufgehoben ist. Die Welt ein ungeheurer sich selbst gebärender und erhaltender Organismus.
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Voraussetzungen
Wirklich erscheint so allein die Kontinuität, die „Einheit". D o c h kommt alles darauf an zu sehen, daß umgekehrt diese selbst für uns nur ist, was sie ist, im Gegenhalt der Diskontinuität, der Vielheit der Individuen. Denn die „ E i n h e i t " des Lebens bringt sich selbst nur als Vielheit hervor: Vielheit und Einheit dasselbe — ein undenkbarer Gedanke. 245 Sofern das Leben ist — und das meint: für uns ist — , zeitigt es sich; die Zeit als die Form aller uns möglicher Erfahrungen aber ist, wie nicht zuletzt die Musik, die Zeitkunst, lehrt, eine Folge diskreter Jetzt. S o waltet und d. h. wird das „ L e b e n " oder der „ W i l l e " als dieser fortwährende eine Unterschied von Kontinuität und Diskontinuität, von Einheit und Vielheit, der in die Vielheit von Differenzen zwischen den Diskontinuitäten gebrochen ist. Für den Menschen ist jedoch das Walten dieser Macht zumeist verstellt, weil er im Augenschein der Ständigkeit der Individuen befangen ist, die im Setzen und Aufheben der Vielheit beständig werdende „ E i n h e i t " nicht erkennt. Fixiert wird dieser Augenschein Nietzsche zufolge aber durch „ d a s Grobmaterielle des B e g r i f f s " 2 4 6 , der als solcher zwar, so werden wir aufzuzeigen wissen, wie jedes Seiende den einen Unterschied an sich trägt, derweise wohl in sich bewegt ist; in seinem Streben, die Wirk-lichkeit jederzeit verfügbar zu machen, diese aber petrifiziert: Die begriffliche Abstraktion ist ein d a u e r n d e r im Gedächtniß festgehaltener und h a r t g e w o r d e n e r E i n d r u c k , der auf sehr viele Erscheinungen paßt und deshalb, j e d e m Einzelnen g e g e n ü b e r , sehr g r o b und unzureichend ist. 247
S o ist das Sein des Parmenides, das Nietzsche als die Entgegensetzung des von Heraklit gedachten Werdens auslegt, in seinen Augen das Sein der begrifflichen Abstraktionen 2 4 8 : In noch weitaus geringerem Maße als das lyrisch-metaphorische Sprechen vermag der Begriff dasjenige wiederzugeben, was wirk-lich ist, den werdenden Willen oder das werdende Leben, geht er doch aus jenem Sprechen, wie wir sehen werden, durch Habitualisierung hervor. Unmittelbar vom Wirklichen zu reden vermag allein die Musik, die Nietzsche darum als „ S p r a c h e des Genius der G a t t u n g " bezeichnet — wir interpretieren: als Sprache des Geistes, der die Menschheit „beseelt" 2 4 9 , d. h. des Willens. Darin aber, daß er die Musik, genauer: daß er die gegenstandsund begriffslose Instrumentalmusik, die sogenannte „absolute M u s i k " , als „eine Sprache ,über' der Sprache" 2 5 0 etabliert, folgt Nietzsche — von Schopenhauer und Wagner geführt — 2 5 1 der romantischen Musikästhetik. Sie räumt der absoluten Musik nämlich den Platz ein, den der dichterische Unsagbarkeits-Topos frei gemacht hat und der eigentlich der religiösen Erhebung vorbehalten w a r : „ M u s i k drückt aus, was Worte nicht einmal zu
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stammeln vemögen" 252 , weil diese, anders als jene, die sich vom Anschaulichen und schließlich auch — wie Nietzsche gegen Schopenhauer hervorheben wird — vom Affektiven löst, in den Kategorien der Erscheinungswelt befangen bleiben. Die Musik hingegen macht sich fort und fort vom Sinnlichen frei; 253 als derweise metaphysischste aller Künste ist sie die reinste und geistigste Offenbarung des „Absoluten" — f ü r Wackenroder, Tieck, Ε. T. A. H o f f m a n n und Schleiermacher ist dies ein christlich ausgelegtes Unendliches, für Schelling das Absolute, für Schopenhauer der Wille, für den Nietzsche der vordergründigen Schicht der „Geburt der Tragödie" das in allem Endlichen anwesende, sich in diesem hervorbringende Leben. Auch bei ihm ist somit die Musik nichts als ein Organon der Metaphysik — „Metaphysik" dabei verstanden als der Versuch, die Phänomene auf einen hinter oder in ihnen verborgenen Grund zurückzuführen. Nietzsche unterläßt es darum, die Macht des Anganges der Musik rein als solche, d. h. das Phänomen in seiner Phänomenhaftigkeit zu bedenken — das meint, den Menschen entsprechend seiner Empfänglichkeit be-stimmend zu beziehen (siehe dazu im folgenden). Statt dessen degradiert er sie zum Zeichen eines ihr anderen Metaphysischen („Gleichniß der Musik"). Das aber heißt, daß er ihr als Phänomen der Physis untreu wird. Und noch eines verdient hervorgehoben zu werden, auch wenn es auf den ersten Blick trivial erscheinen mag: Damit Musik überhaupt als übersprachliche Sprache des Genius der Gattung erlebt werden kann, muß paradoxerweise ausgesprochen werden, daß es so sei. Daß das Außersprachliche ein Übersprachliches und was dieses als solches sei, muß besprochen werden, weil der Mensch als denkendes Wesen ein sprechendes Wesen ist. Damit aber erweist sich das Außersprachliche als sprachlich bestimmt. Das wiederum erklärt mit, warum, wie wir oben gesagt haben, sich dem H ö r e r die Aufhebung der Diskontinuitäten in der Ek-stasis des Hörens erst nach deren Aufhebung, nach der Rückkehr in die Diskontinuität — und das meint: in die sprachlich verfaßte Diskontinuität — erschließt. Sprache setzt, wie man nicht erst seit Saussure weiß, Unterschiede voraus. Im Gegensatz zu Nietzsche und seinem Mißtrauen gegen das Begriffliche geht nun Parmenides in seinem Glauben an sie so weit, daß er, wie Nietzsche wähnt, in den Begriffen und dem Begriffsvermögen — der Vernunft, wie Nietzsche auch sagt — 254 „das entscheidende Kriterium über Sein und Nichtsein, das heißt über die objektive Realität und ihr Gegentheil" zu besitzen glaubt: jene Begriffe sollen sich nicht an der Wirklichkeit bewähren und corrigiren, wie sie doch aus ihr thatsächlich abgeleitet sind, sondern sollen
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im Gegentheil die Wirklichkeit messen und richten und, im Falle eines Widerspruchs mit dem Logischen, sogar verdammen. So Nietzsche in seiner Schrift über die Vorplatoniker ( P H G 12, 3 / 2 , 3 4 3 ) . Im Lichte des Logischen aber, so legt Nietzsche dort weiter dar, erweisen sich für Parmenides die „vielen wahrnehmbaren Qualitäten" und damit das Werden
als „Phantasmata
unsrer Sinne"
(PHG
6, 3 / 2 , 3 2 1 ) .
„Damit
vollzog e r " , führt Nietzsche weiter aus ( P H G 10, 3 / 2 337f.), die überaus wichtige, wenn auch noch so unzulängliche und in ihren Folgen verhängnißvolle erste Kritik des Erkenntnißapparats: dadurch daß er die Sinne und die Befähigung Abstraktionen zu denken, also die Vernunft jäh auseinander riß, als ob es zwei durchaus getrennte Vermögen seien, hat er den Intellekt selbst zertrümmert und zu jener gänzlich irrthümlichen Scheidung von „Geist" und „Körper" aufgemuntert, die, besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt. Alle Sinneswahrnehmungen, urtheilt Parmenides, geben nur Täuschungen; und ihre Haupttäuschung ist eben, daß sie vorspiegeln, auch das Nichtseiende sei, auch das Werden habe ein Sein. Alle jene Vielheit und Buntheit der erfahrungsmäßig bekannten Welt, der Wechsel ihrer Qualitäten, die Ordnung in ihrem Auf und Nieder wird erbarmungslos als ein bloßer Schein und Wahn bei Seite geworfen; von dorther ist nichts zu lernen, also ist jede Mühe verschwendet, die man sich mit dieser erlogenen, durch und durch nichtigen und durch die Sinne gleichsam erschwindelten Welt giebt. Wer so im Ganzen urtheilt, wie dies Parmenides that, hört damit auf, ein Naturforscher im Einzelnen zu sein; seine Theilnahme für die Phänomene dorrt ab, es bildet sich selbst ein Haß, diesen ewigen Trug der Sinne nicht loswerden zu können. Zwar
sucht
Nietzsche
jene
irrtümliche
Scheidung
von
„Geist"
und
„ K ö r p e r " zu überwinden, und dies, indem er die W e l t am Leitfaden des Leibes als leibendes Leben auslegt, so daß der Geist nur noch ein Mittel desselben darstellt, seinen Vollzug zu erwirken; z w a r verwirft er keineswegs die Vielheit
und
Buntheit
der empirischen
Welt,
den Wechsel
ihrer
Qualitäten als bloßen Schein und als W a h n , sondern sucht sie vielmehr zu verklären, indem er die scheinbare W e l t zur einzigen erklärt und die wahre Welt
als
hinzugelogen
behauptet
—
doch
besteht
beide
Male
die
Überwindung der Voraussetzungen der abendländischen Philosophie seit Parmenides in einer bloßen Umdrehung derselben und nicht in einer „ H e r a u s d r e h u n g " 2 5 5 aus ihr. Das aber bedeutet nichts anderes, als daß diese Voraussetzungen bei Nietzsche fortleben. Für sein Verständnis des Geistes werden wir das noch zu belegen haben, von Nietzsches V o r w u r f , unsere Sinneseindrücke gesprochen.
seien
trügerisch,
haben
wir
indes
schon
eingehend
„Schmerz ist der Grundton der Natur"
61
Die Natur hat den Menschen in lauter Illusionen gebettet. — Das ist sein eigentliches Element. Formen sieht er, Reize empfindet er statt der Wahrheiten.256, faßt unsere Ausführungen eine Notiz aus dem Sommer 1872—Anfang 1873 bündig zusammen, die in unmittelbarem Zusammenhang steht mit jener später zu besprechenden Bemerkung der Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne": „die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind" 257 . Daß ein ausdrücklicher Wille zur Umdrehung oder, wie Nietzsche schließlich auch sagen wird, zur „ U m w e r t u n g " der abendländischen Philosophie nicht erst Nietzsches spätere Philosophie bestimmt — Nietzsche sich somit erst später diesen seinen Grundansatz zu-gedacht hätte —, belegt folgende, aus der Frühzeit Ende 1870—April 1871 stammende Aufzeichnung: Meine Philosophie u m g e d r e h t e r P i a t o n i s m u s : je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.258 Wir haben diese Aufzeichnung zunächst einmal so zu interpretieren, daß Nietzsche an die Stelle des Seins, der ιδέα, das reine Werden setzt, welches eingedenk dessen, daß das Sein von Piaton als immer Seiendes (άεί öv) begriffen wird, „das weder entsteht noch vergeht (οΰτε γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν οΰτε ά π ο λ λ ύ μ ε ν ο ν ) " (Symp. 211 a), auch als Nicht-Sein, als μή öv, bezeichnet werden kann. Damit vertauscht Nietzsche aber, folgt man seinen eigenen Notaten, den Standpunkt der bisherigen Weltauslegung, den Standpunkt des kurz-sichtigen, weil beharrende Formen sehenden Auges, den er in dem obigen Zitat in Übereinstimmung mit seinen Überlegungen in der „Geburt der Tragödie" der Kunst- und Traumgottheit Apollo zuspricht, mit dem „Standpunkt" des Ohres, für den die Gottheit der Musik einzustehen hat, Dionysos, der auch die Gottheit des Rausches, der Ek-stasis, ist. Indes haben wir auch damit noch keine befriedigende Antwort auf die Frage erhalten, worauf Nietzsches Annahme eines reinen Werdens zurückgeht: Daß diese seine Grunderfahrung der Welt musikalisch genannt werden kann, weil sie aus der Hörerfahrung erwächst, ist noch immer eine — zumindest im weitesten Sinne — erkenntnistheoretische und damit unzureichende Aussage; muß doch gefragt werden, wie es dazu kommen kann, daß die musikalische Welterfahrung philosophisch bestimmend wird. 259 — Indem Nietzsche den Standpunkt der bisherigen Weltauslegung, den Standpunkt Apollos, mit demjenigen des Dionysos vertauscht, will er jedoch nicht nur das Ohr, sondern auch die anderen „subjektiven" Sinne von den
62
Voraussetzungen
Vor-stellungen des bisherigen Denkens befreien, in der H o f f n u n g , daß dieses sinnlicher werde: Unser Denken soll kräftig duften wie ein Kornfeld an Sommer-Abenden. 2 6 0 ,
schreibt Nietzsche unvergeßlich im Sommer 1878, woran sich auch beispielsweise die nachfolgende Bemerkung aus einem Abschnitt der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " , betitelt „ D i e ,Vernunft' in der Philosophie", anschließen läßt: — U n d was für feine W e r k z e u g e der Beobachtung haben wir an unsren Sinnen! Diese N a s e zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das nun zu Gebote steht: es vermag noch Minimaldifferenzen der Bewegung zu constatiren, die selbst das Spektroskop nicht constatirt. Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne a n z u n e h m e n , — als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. 261
Alles dies ist aber in Zarathustras Forderung enthalten: „Bleibt der Erde treu!" 2 6 2 Doch — bewahrt dieses Denken wirklich Treue zur Erde, wenn sich ihm letztgültig das „ L e b e n " , d. h. die Welt, verflüchtigt zu einer ,,dauernde[n] Form von Ρ r ο ζ e ß der K r a f t f e s t s t e l l u n g e n , w o die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen." 2 6 3 ? In welcher Definition nur zum Austrag kommt, was Nietzsche schon früh, beispielsweise im Sommer 1872—Anfang 1873 erkenntnistheoretisch entworfen hat 2 6 4 : „die letzte Grenze alles Erkennbaren sind Q u a n t i t ä t e n , er [der Mensch] v e r s t e h t keine Qualität, sondern nur eine Q u a n t i t ä t . " Die Materie selbst ist nur als Empfindung gegeben. [ . . . ] Wir können sie [die Empfindung und damit auch die Materie] auf Bewegung und Zahlen zurückführen. 2 6 5 ,
so haben wir oben bereits gelesen (siehe Seite 33). Wir fragen hierbei mit dem skeptischen Hinweis darauf, daß „ t r e u " , was eigentlich „stark, fest wie ein B a u m " bedeutet, nicht nur über seine indogermanische Wurzel *deru-, „Eiche, B a u m " , mit „ t r a u e n " verwandt ist, sondern daß man phänomenal gesehen T r e u e auch nur dort beweist, wo man etwas „betreut", d. h. in die S o r g e nimmt. Bewahrt aber Nietzsches Denken in diesem Sinne T r e u e zur Erde? Sucht es ihrem physischen, ihrem sinnlichen Reichtum in bewahrender Weise zu entsprechen? O d e r folgt es den, wenn auch erst von Descartes erschlossenen, so doch — wie Heidegger sehr viel tiefgründiger als Nietzsche ( „ E s giebt keine aparte Philosophie, getrennt von der Wissenschaft: dort wie hier wird gleich gedacht.") aufgewiesen hat — bereits mit den Anfängen der abendländischen Metaphysik vorausgesetzten 266 Bahnen des neuzeitlich-technischen Denkens, daß die Erde als
„Bleibt der Erde treu!": Die Frage nach der Überwindung der Metaphysik
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Potential herausherstellbarer Kräfte entwirft und dabei ihre „Qualitäten" zu „Quantitäten" reduziert? 267 Läßt es sich nicht vielmehr ebenso wie das seit seinen Anfängen nach der ά ρ χ ή fragende philosophische und das aus diesem hervorgehende herstellend-rechnende naturwissenschaftliche Denken 268 von dem Willen leiten, die Phänomene auf einen in oder hinter ihnen verborgenen, wahren — in Nietzsches Perspektive: weniger scheinbaren — „ G r u n d " zurückzuführen, will es nicht in dieser Weise über den Augenschein der Physis hinaus, weil es ihm als einer groben Täuschung mißtraut? 269 Wir aber meinen, diesen Willen, ausdrücklich und eigens das zu vollziehen, was die menschliche Vernunft mit ihrem Anspruch der ratio reddenda immer schon tut, nicht anders denn als metaphysischen Willen bezeichnen zu können. 270 Wenn Nietzsche hingegen glaubt, sich darum als Überwinder der Metaphysik ausgeben zu dürfen, weil er, die Feststellung eines transzendenten Seins als höchsten Schein entlarvend, diesem ein reines Werden als „ G r u n d " entgegensetzt, dann geht er bei dieser Annahme unseres Erachtens von einer unzureichenden Bestimmung dessen aus, was „Metaphysik" ist. Ein zureichender Begriff der metaphysischen Weltverhaltung ist indes allein in Auseinandersetzung mit demjenigen zu gewinnen, was wir als „dichterische Weltverhaltung" bezeichnen wollen, weil diese in unserer Überlieferung sprachlich allein in dichterischen Texten bewahrt wird. (Ausdrücklich sei angemerkt, daß wir mit dieser Benennung somit keineswegs die Behauptung aufstellen, als erwachse alles gemeinhin als „Dichtung" bezeichnete künstlerische Schaffen aus der von uns im folgenden bedachten Weltverhaltung: Von den reflektierenden Texten künden — was angesichts der Übermacht unserer metaphysischen Tradition auch nicht verwundern kann — nur wenige von einer solchen Erfahrung; in ihrem Lichte können dann jene — zahlreicheren — Texte gedeutet werden, in denen diese Welterfahrung vollkommen in der Form aufgegangen ist. Insgleichen ist von uns auch nicht der Schluß intendiert, jene Dichtungen, die sich auf die von uns „dichterisch" genannte Weltverhaltung beziehen, seien als „eigentliche" oder „wesentliche" Dichtungen zu bezeichnen: Das Erkenntnisziel des folgenden Abschnittes ist viel bescheidener, als es der Versuch einer Bestimmung des Wesens des allgemein Dichterischen wäre.) 6. „Bleibt der Erde treu!": Die Frage nach der Überwindung der Metaphysik und der Widerstreit zwischen begründendem Denken und abgründigem Dichten — Zur Notwendigkeit einer Er-läuterung des Nietzscheschen Denkens In seinem 1770 erschienenen Gedicht „Die Freuden" 271 zeichnet der junge Goethe auf:
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Voraussetzungen D a flattert um die Quelle Die wechselnde Libelle, Der Wasserpapillon, Bald dunkel und bald helle Wie ein Chamäleon; Bald rot und blau, bald blau und grün, Ο daß ich in der N ä h e D o c h seine Farben sähe! D a fliegt der Kleine vor mir hin U n d setzt sich auf die stillen Weiden. D a hab' ich ihn, da hab' ich ihn! U n d nun betracht' ich ihn genau U n d seh' ein traurig dunkles Blau. S o geht es dir, Zergliedrer deiner Freuden!
Getrieben von dem Wunsch, dasjenige, was es freudig stimmt, das irisierende Farbenspiel der umherschwirrenden Libelle, genauer in Augenschein nehmen zu können, um ihm auf den Grund zu kommen, fängt das Ich des Gedichts das Tier ein, muß aber zu seiner Trauer erkennen, daß ihm — entgegen seiner fiebernden Erwartung: „ D a hab' ich ihn, da hab' ich ihn!" — in diesem Geschehnis der Zergliederung der Gegenstand seiner Freude und damit auch seine Freude selbst unter den Händen zergangen ist: Das Ich sieht nichts als einen Farbfleck, ein „traurig dunkles Blau". Was ist geschehen? Das Ich hat es nicht bei der freudigen Stimmung als seiner und des Phänomens Bestimmung bewenden lassen, sondern, der metaphysischen Bestimmung des Menschen als eines unter dem Anspruch der ratio reddenda stehenden Wesens (animal rationale) eingedenk, diesen atmosphärischen Bezug des Phänomens zerstört, um es — gemäß der metaphysischen Weltverhaltung — auf seinen Grund (ratio) zurückzuführen: Dieser Weltverhaltung bedeutet „ P h ä n o m e n " nicht mehr unausdenkbares, bezugsmäßig Angehendes, sondern Erscheinendes oder Aufgehendes, das auf sein Konstitutives, auf die Gründe seines Erscheinens, hin befragt werden kann. Doch nicht erst mit der — vom Ich des Gedichts allzu handgreiflich vollführten — Feststellung eines solchen Grundes, vielmehr bereits mit der bloßen Annahme, daß es überhaupt möglich, wenn nicht gar notwendig sei, das Phänomen auf einen Grund zu reduzieren, bereits hier, wo man ein anderes als das uns unmittelbar angehende Phänomen nur in der Vorhabe hat, wird der atmosphärische Bezug 272 zerstört, mit dem das Phänomen — nicht die Libelle, sondern das Ganze, das dem lyrischen Ich als Freude aufgeht — den begegnenden Menschen, seiner Empfänglichkeit entsprechend, bezieht. Und dies nicht etwa unwillkürlich, sondern absichtsvoll — die Rückführung des Phänomens auf die Bedingungen seines
„Bleibt der Erde treu!": Die Frage nach der Überwindung der Metaphysik
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Erscheinens ist nämlich getragen von der Absicht, dieses beherrschbar, der rechnenden Vernunft verfügbar zu machen: Wenn erst die Gründe des Sichzeigenden festgestellt sind, ist dieses selbst sichergestellt und d. h. berechenbar: Müssen wir daran erinnern, daß ratio, „die Vernunft, der G r u n d " , von reri kommt, was ursprünglich „rechnen", übertragen dann „meinen, glauben, dafürhalten" bedeutet? Dieser Absicht aber steht der atmosphärische Bezug im Wege, als welcher die Macht des Phänomens ist, den Menschen zu umfangen und in dieser Umfängnis gemäß dem Grad seiner Empfänglichkeit zu be-stimmen. (Im Gedicht ist der Einklang dieses waltenden Bezuges darin ausgesprochen, daß in dem Vorwurf „So geht es dir, Zergliedrer deiner Freuden!" zwischen dem Gegenstand der Freude und dem Gefühl selbst nicht geschieden wird: Mit dem Gegenstand zergeht auch der atmosphärische Bezug, den das Ich als Freude empfindet. Beides ist eines. Leider hat Goethe später die hier aufscheinende ursprüngliche, und d. h. der Subjekt-Objekt-Spaltung vorausliegende Zugehörigkeit des Menschen zur Welt im Sinne der Überlieferung höchst unzureichend, nämlich „platonisch" als Entsprechungsverhältnis von Subjekt und Objekt gedeutet. 273 ) Als ein solcherweise Umfangendes ist das atmosphärische Phänomen nämlich umfänglicher als die menschliche Vernunft, so daß es als dieses niemals auf die Bedingungen seines Erscheinens hin befragt werden kann, setzte dieses doch die Möglichkeit voraus, hinter es zurückgehen zu können. So aber ist das Ganze, das dem Ich des Gedichts als Freude aufgeht, für es das Unumgängliche in der zwiefachen Bedeutung, daß es sich, von ihm umfangen und be-stimmt, auf es verwiesen sieht, ohne ihm doch je faßbar werden zu können. Denn weil dieses atmosphärische Ganze mehr ist als die Summe seiner begrifflich fixierbaren Teile — die Libelle, das auf ihren Flügeln tanzende Licht, ihr Widerschein im glänzenden Quell —, darum ist es, wie das Ich schließlich erkennt, nicht zergliederbar und d. h. nicht begründbar. Am Ende jenes Versuches steht darum der Katzenjammer, die Trauer über den Verlust des atmosphärischen Bezuges, der das Ich derweise nur noch als abwesend anwesender bestimmt. Das aber setzt voraus, daß das Ich den atmosphärischen Bezug überhaupt als Reichtum, wenn nicht gar als Bestimmung und als Wesen des Phänomens erfährt, worauf es bei unserem Ich, einem dichterischen Ich hinauszulaufen scheint. (Mag auch das Gedicht literarisch gesehen wenig bedeutsam und in den meisten Zügen — vielleicht mit Ausnahme jener Passage, aus der die Einheit von Empfindung und empfundenem „Gegenstand" spricht — als konventionelle Anakreontik-Dichtung erscheinen: Daß ihr gleichwohl eine echte und Goethes Weltverhaltung bis ins Tiefste hinein bestimmende Erfahrung zugrundeliegt, könnte eine Auseinandersetzung mit seinen naturwissenschaftlichen Versuchen zeigen, die hier leider unterbleiben muß.
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Voraussetzungen
In ihnen ringt Goethe darum, eine solche Form der Analyse zu finden, die die „Objekte" nicht um ihren physischen Reichtum bringt. Bei einer solchen Auseinandersetzung käme daher alles darauf an, in dem von Goethe gebrauchten metaphysischen Vokabular seine „vormetaphysische" Welterfahrung aufzuspüren.) Ganz anders als der Dichter Johann Wolfgang Goethe denkt indes der Metaphysiker, Rene Descartes zum Beispiel. In der zweiten seiner sechs „Meditationes de prima philosophia" 274 betrachtet dieser ein Stück Wachs: V o r kurzem erst hat man es aus der Wachsscheibe gewonnen, noch verlor es nicht ganz den Geschmack des H o n i g s , noch blieb ein wenig zurück von dem D u f t e der Blumen, aus denen es gesammelt worden; seine Farbe, Gestalt, Größe liegen offen zutage, es ist hart, auch kalt, man kann es leicht anfassen, und schlägt man mit dem Knöchel darauf, so gibt es einen T o n von sich, kurz — es besitzt alles, was erforderlich scheint, um irgendeinen K ö r p e r g a n z deutlich erkennbar zu machen. D o c h sieh! Während ich noch so rede, nähert man es dem Feuer, — was an Geschmack da war, geht verloren, der Geruch entschwindet, die Farbe ändert sich, es wird unförmig, wird größer, wird flüssig, wird warm, kaum mehr läßt es sich anfassen, und wenn man darauf klopft, so wird es keinen T o n mehr von sich geben. Bleibt es denn noch dasselbe Wachs? Man muß zugeben — es bleibt, keiner leugnet es, niemand ist darüber anderer Meinung. Was an ihm also war es, das man so deutlich erkannte? Sicherlich nichts von dem, was im Bereich der Sinne lag; denn alles, was unter den Geschmack, den Geruch, das Gesicht, das Gefühl oder das Gehör fiel, ist ja jetzt verändert, und doch es bleibt — das Wachs.
Unter dem Zugriff der reductio hat sich das Wachsstück in einen bloßen Fleck verwandelt, vergleichbar dem blauen Fleck, von dem das Gedicht spricht. Doch während dort das lyrische Ich betrauert, daß dieser Fleck nur ein nichtiger Rest des Lichtphänomens ist, das es vorher zur Freude bestimmt hat, antwortet Descartes auf seine eigene Frage „Bleibt es denn noch dasselbe Wachs?" in unglaublich selbstsicherer Weise: „Man muß zugeben — es bleibt, keiner leugnet es, niemand ist darüber anderer Meinung." D. h. er setzt das, was das Ich des Gedichts als die Bestimmung des Phänomens erfährt, den atmosphärischen Bezug der Freude, nichtig; was indes — der Satz: „noch blieb ein wenig zurück von dem Dufte der Blumen, aus denen es gesammelt worden" sagt es — nicht bedeutet, daß Descartes für das Atmosphärische von vornherein überhaupt unempfänglich wäre. Doch entzieht es sich ob seiner Flüchtigkeit, seiner Zu-fälligkeit und Beliebigkeit — ein und dasselbe Phänomen bezieht jeden, ja sogar ein und denselben Menschen zu verschiedenen Zeiten anders — allen Begründungsversuchen, allen Berechnungen und „juridischen" Rechtfertigungsforderungen (Grund heißt lat. causa) der rechnenden Vernunft, die, wie auch Nietzsche erkennt 275 , Währendes festzustellen sucht. Seit Descartes, der der
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Philosophie und der Wissenschaft auch darin eine Richtung gewiesen hat, daß er als erster die Mathematik zum Ideal der Wissenschaft erhob, meint dies aber, daß es sich allen mathematischen Berechnungen entzieht. Ausschließlich qualitativ bestimmt, läßt es sich nicht auf quantitative Bestimmungen reduzieren. Allein diese aber sind für Descartes wahr, d. h. real. Denn nur dort, so seine den Fluch der Metaphysik über die Sinnlichkeit prolongierende Voraussetzung, wo die Denktätigkeit des Verstandes rein in sich selbst verweile, da entwickle diese klare und deutliche Vorstellungen, wohingegen die sinnliche Wahrnehmung als solche nur eine getrübte Erkenntnis hervorbringe. Rein in sich selbst verweile der Verstand aber in der Geometrie, so nimmt Descartes an (— fälschlicherweise, wie Kant mit dem Aufweis der anschaulichen Grundlagen der mathematischen Erkenntnis gezeigt hat). Das erklärt, warum sich schließlich als das wahre Attribut der Körper — das meint: dasjenige ihrer Attribute, welches nach Abzug der sinnlichen Qualitäten vor dem Urteil des Verstandes zu bestehen vermag — die räumliche Ausdehnung erweist: sie ist berechenbar. Wenn uns somit die sinnliche Wahrnehmungsvorstellung (imaginatio) die Dinge als qualitativ bestimmt zeigt, dann hat das Denken (intellectio) Descartes zufolge die Aufgabe, die quantitativen Verhältnisse herauszustellen, in denen das reale Wesen dieser Phänomene beschlossen liegt. Ganz im Sinne Galileis, und damit in jenem Sinne, den Goethe später in Newton bekämpfen sollte, weist Descartes darum der Physik die Aufgabe zu, die Reduktion der qualitativen auf quantitative Bestimmungen zu vollziehen. 276 Insofern sie aber dabei die den Menschen angehende, ihn be-stimmende atmosphärische Erscheinung verläßt und sie auf ein ihr Fremdes hin übersteigt, wobei sich ihr „ W e s e n " in einer Weise verändert, die nur als Verfolgung und Vernichtung desselben bezeichnet werden kann, insofern ist die Physik in ihrem Wesen „Meta"physik, sind doch dies die drei Bedeutungen des griechischen μέτα (von etwas weg zu etwas anderem hin, hinüber; hinter etwas her; ver . . . im Sinne der Veränderung, des Wandels), die dann sprechend werden, wenn φύσις nicht mehr nur Aufgehen in die Unverborgenheit bedeutet (intransitive Bedeutung von griech. φ ύ ω „aufgehen, zum Vorschein kommen"), sondern als wachsenlassende Umfängnis (transitive Bedeutung von griech. φ ύ ω „wachsenlassen, schaffen") verstanden wird. Ganz in jenem Sinne und damit im eklatanten Widerspruch zu seiner eigenen Kritik am Sokratismus wegen der ihm wesenseigentümlichen „Uebersetzung des D i o n y s i s c h e n in den naturalistischen Affekt" ( G T 14, 3/1, 90) reduziert aber auch Nietzsche in jenem Fragment VII [38] 12 (7/3, 338 f.) vom Juni—Juli 1885, das, wie Eugen Fink bemerkt 277 , „auf eine erstaunliche Weise aller Gedankenelemente" von dessen später „Weltvision versammelt", die Welt auf „ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne
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Voraussetzungen
Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht sondern nur verwandelt". 278 Und doch: In der Forderung „Unser Denken soll kräftig duften wie ein Kornfeld an Sommer-Abenden" scheint die Erkenntnis aufzublitzen, daß das Denken, um die Metaphysik zu überwinden, dichterisch in dem Sinne zu werden hat, daß es demjenigen nachzudenken sucht, was bisher erst manche Dichter als höchste „Bestimmung" der Phänomene erfahren haben, und d. h. denkend dem zu entsprechen bestrebt ist, was die Worte jener Dichter bewahren wollen, das ab-gründige Atmosphärische. Erst ein solches Denken, das das Sinnliche nicht mehr nichtig setzt durch Reduzierung desselben auf einen sei es dahinter, darin oder daran aufscheinenden Grund, es vielmehr als Grundloses denkend in die Obhut nimmt — und ihm mithin auch keine teleologische Bestimmung zuweist —, erst ein solches Denken wird wahrhaft Treue zur Erde wahren, weil erst dieses Denken deren Flüchtigstem und damit Endlichstem, dem atmosphärischen Bezug, traut und es betreut. So meinen wir zumindest jene Forderung im Hinblick auf Zarathustras Ausruf auslegen zu müssen, wenngleich dies hier nur in vorläufiger und skizzenhafter Weise geschehen konnte. Ebendieser Forderung aber kann Nietzsche zunächst schon darum nicht entsprechen, weil sein Denken, wie gesehen, von der Position der neuzeitlichen Subjektivität ausgeht, wonach der Mensch es ist, der das ihm Entgegenstehende, den Gegenstand, schafft: Farbe und Klang ist nicht den Dingen, sondern Auge und O h r eigen. Alle Abstrakta, Eigenschaften, die wir einem Dinge beilegen, bilden sich in unserm Geiste zusammen. Nichts zieht uns an als das Lebendige. Alles was uns anzieht, hat vorher Leben in unserem Geiste empfangen. Alle(s) Todte ist des Geistes unwürdig. In die Natur legen wir also unsre Seele oder einen Theil derselben, eine Stimmung. Was uns in der N a t u r anzieht, sind uns eigne edele Gefühle, die wir wie in einem Bild vor uns verkörpert sehn.,
haben wir beim jungen Nietzsche lesen können (siehe Seite 8 f.). Erst im Gefolge jener späteren Denkversuche, in denen der neuzeitliche Subjektivismus in seine Krisis geführt wird, tauchen bisweilen deutliche Formulierungen auf, in denen Nietzsche — was von nahezu allen seinen Interpreten, auch von den großen, übersehen wird — seine Spät-Philosophie des Willens zur Macht als in gewisser Hinsicht vordergründig und vor allem als unangemessen bezeichnet gegenüber dem Bedachten, dem „Leben", dem nur die Kunst und die ihr nachdenkende sogenannte „Artisten-Metaphysik" im tiefsten gerecht werden könne. 279 Wenn es aber so mit Nietzsches Denken steht, daß es sich in dieser Weise am Scheideweg von Metaphysik und „Physik" befindet — bezwungen von der Übermacht der metaphysischen Tradition, es der selbstgewiesenen
„Bleibt der Erde treu!": Die Frage nach der Überwindung der Metaphysik
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Aufgabe nicht nachzukommen vermag 280 —, dann hat eine eingehende Deutung, sofern sie den Anspruch erheben will, Er-läuterung zu sein, dieses Denken an allen den Stellen, wo es ihr möglich erscheint, zumindest versuchsweise und ganz behutsam von jenem Überkommenen zu läutern, anders gesagt: es im Sinne seiner ureigensten Sache, der Forderung, der Physis Treue zu halten, zu übersetzen und damit zukünftig, d h. fruchtbar zu machen; ist doch, wie Goethe uns lehrt, nur das Fruchtbare im tieferen Sinne wahr. N u r dann aber ist die Deutung auch wahrhaft Er-örterung, insofern sie nämlich auf diese Weise das Denken in seinen sich selbst zugedachten, aber verfehlten O r t weist, es somit zu ihm übersetzt. In diesem doppelten Sinne will unsere Deutung von Nietzsches frühem, seinen gesamten Denkweg bestimmenden Denkansatz schließlich auch „Übersetz u n g " desselben sein. Nietzsches Verstrickung in die Metaphysik aber offenbart nicht zuletzt jenes Argument, mit dem der späte Nietzsche in jenem bereits mehrfach zitierten Abschnitt der „Götzen-Dämmerung", „Die ,Vernunft' in der Philosophie" 281 , den Titel der Sinnlichkeit für sein Denken beansprucht: daß nämlich der von ihm negierte Augenschein der Physis eine Verfälschung des Zeugnisses der Sinne durch die Vernunft und ihre metaphysischen Vorurteile (Kategorien) sei. So lege sie in dieses (physische) Zeugnis „zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der D a u e r " hinein: Die „Vernunft" ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht...
Ebendieses Argument, mit dem Nietzsche f ü r sich die Überwindung der Metaphysik reklamiert, hat aber die, wie Nietzsche meint, Grundvoraussetzung der Metaphysik zu seiner Voraussetzung, nämlich die Kritik des Parmenides am Erkenntnisapparat mit der daraus erwachsenden Konsequenz, Vernunft und Sinne auseinanderzureißen, jene von Nietzsche selbst als ,gänzlich irrthümlich' beurteilte „Scheidung von ,Geist' und ,Körper' [ . . . ] die, besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt" 282 . N u r daß Nietzsche die Stoßrichtung dieser Kritik und damit die Metaphysik insgesamt — nach seinen eigenen Worten, wie wir gesehen haben — „ u m d r e h t " und das Zeugnis der Sinne für „ w a h r " , d. h. f ü r weniger „scheinbar" hält als das der Vernunft. 2 8 3 Zumindest dort, so schränkt Nietzsche ein, wo die Sinne „das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen" — zeigen sie doch, wie bereits Heraklit zu seinem Leidwesen erkennen mußte, augenscheinlich ebenfalls Dauer und Einheit. Dieses Zeugnis aber spricht Nietzsche unbeirrt der lügnerischen Vernunft zu. Was erneut erhellt, daß die Intuition des Werdens die Voraussetzung von
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Voraussetzungen
Nietzsches Erkenntniskritik — die ihrem Anspruch nach ja Metaphysik-Kritik sein will — ist, daß aus dieser Intuition das Mißtrauen gegen den Augenschein erwächst. Letzteres aber heißt jetzt auch, daß sich Nietzsche bei seiner Auslegung der Welt weniger an den „objektiven" Sinnen orientiert, an Auge und Getast, die, grob gesprochen, ob ihrer Stumpfheit ohnehin zur Verdinglichung des flutenden Werdens neigen, als an den „subjektiven", den ätherischen, Flüchtiges ausweisenden Sinnen, an Geruch und Gehör, d. h. an den Sinnen, deren Wahrnehmungen bisher als beiherspielend und damit unwesentlich abgetan wurden (vgl. S. 61 f.). Woher dieses die Auslegung der empirischen Erscheinungen leitende Vorurteil?, so haben wir gefragt und vorläufig mit der Mutmaßung geantwortet, ob nicht sowohl Nietzsches Leugnung des augenscheinlichen Seins als auch seine Negierung der Möglichkeit von Wahrheit vielleicht einen gemeinsamen Ursprung in jenem leeren O r t haben könnten, den der T o d Gottes im Gefüge der Metaphysik hinterlassen hat, so daß mit diesem Geschehnis sowohl das Ereignis der Auflösung des Seins in ein haltloses Werden als auch das der Verkehrung der Wahrheit zum Schein bezeichnet wäre?
7. Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Philosophie der maskenhaften Metamorphosen
Nietzsches
Eine erste Bestätigung f ü r diese Vermutung liefert der Blick auf den im April 1862 entstandenen Aufsatz „Fatum und Geschichte" 284 . Keime für die meisten Gedanken der entfalteten Philosophie in sich bergend, 285 offenbart er, daß schon der ganz junge Nietzsche 286 in der Historie nichts als eine ewige Flut des Werdens, den ewigen Widerstreit von πέρας und ά π ε ι ρ ω ν zu erblicken vermochte. Nietzsche fragt dort: Hat dies ewige Werden nie ein Ende? [ . . . ] Für uns Zweck, für uns ist Veränderung da, für uns giebt es Epochen und Perioden. Wie könnten auch wir höhre Pläne sehen. Wir sehen nur, wie aus derselben Quelle, aus der Humanität sich unter den äußern Eindrücken Ideen bilden; wie diese Leben und Gestalt gewinnen; Gemeingut aller, Gewissen, Pflichtgefühl werden; wie der ewige Produktionstrieb sie als Stoff zu neuen verarbeitet, wie sie das Leben gestalten, die Geschichte regieren; wie sie im Kampf von einander annehmen und wie aus dieser Mischung neue Gestaltungen hervorgehn. Ein Kämpfen und Wogen verschiedenster Strömungen mit Ebbe und Fluth, alle dem ewigen Ozeane zu.287
Ein Werden, in dem keine Vernunft waltet — in deutlicher Absetzung von Hegel 288 zeichnet Nietzsche 6 Jahre später in seinen Notizen „Zu einer
Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie
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Geschichte der litterarischen Studien im Altherthum und in der Neuzeit" 2 8 9 auf: Die Ereignisse, weder die des Einzeln(en) noch die der Geschichte haben einen nothwendigen Gang dh. den Gang einer vernünftigen Nothwendigkeit. Es versteht sich, daß alles was ist aus Gründen ist und daß diese Kette nicht abbricht. Diese Nothwendigkeit ist nichts Erhabnes, nichts Schönes, nichts Vernünftiges. ZB. ein Mann, der ein V o l k oder eine Familie beglücken kann, fällt unter dem Sturz des Baumes. Hier ist Ursache und Wirkung, aber keine Vernünftigkeit.
Den „ G a n g einer vernünftigen Nothwendigkeit", den die „Hegelisch verstandene Geschichte" nimmt, habe man, so führt Nietzsche in seiner 2. Unzeitgemäßen Betrachtung zustimmend aus, „mit H o h n das Wandeln Gottes auf der Erde genannt, welcher Gott aber seinerseits erst durch die Geschichte gemacht wird." 290 Hegels absoluter Geist, der sich aus seinem Ansichsein zur Schöpfung der Natur und des leiblich-seelischen Daseins des Menschen entäußert und damit verendlicht, dann im menschlichen Geiste und seiner Geschichte zu sich selbst zurückkehrt und so f ü r sich selbst wird, um schließlich im zum Unendlichen aufsteigenden Gang durch Kunst, Religion und Philosophie sich mit sich selber zu versöhnen und so erst wirklich absoluter Geist zu werden —: dieser absolute Geist, „als welcher allein die wahrhafte Natur Gottes ist" 291 , entläßt in diesem Prozeß des Werdens in der Zeit stufenweise das aus sich, was in ihm selbst in schöpferischer Spannung ewig und zeitlos und d. h. in keiner Weise getrennt und unterschieden angelegt ist; mithin das, was von Hegel in der „Logik" als Prozeß der Begriffe entfaltet wird. 292 Auch f ü r Hegel ist somit die Zeit wie f ü r alle anderen von Nietzsche als metaphysisch bezeichneten Ansätze ein „bewegliches Abbild der Unvergänglichkeit", wie Piaton im „Timaios" (37d) formuliert — bei ihm nun aber in der Weise, daß ein ewiger Prozeß, als welcher der absolute Geist ist, sich in Endlichkeit und Zeit vollzieht, die Zeit mithin in der Ewigkeit, das Endliche im Unendlichen „aufgehoben" ist, 293 so daß hier antik-zyklische und christlich-lineare Geschichtsauffassung eine Synthese eingegangen sind. Obwohl sich somit Hegels Gott vom christlichen Gott, mit Nietzsche zu sprechen, darin unterscheidet, daß er auf der Erde wandelt, nämlich nicht wie jener vom Werden der endlichen Welt in der Weise losgelöst ist, daß er, wie die Geschichtstheologie des Augustinus lehrt, als dessen Lenker über ihm schwebt, er aber auch nicht, pantheistisch, im, sondern als dieses Werden ist, so nimmt dieser Gott dennoch in Hegels philosophischer Theologie jene Position des überkommenen metaphysischen Gefüges ein, die vordem u. a. auch der christliche Gott innegehabt hat: die Position des allem Werden
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Voraussetzungen
Sinn und Wirklichkeit verleihenden Seins. 294 „Dieser Gott a b e r " , so fährt Nietzsche in seiner 2. Unzeitgemäßen Betrachtung fort, w u r d e sich selbst innerhalb der Hegelischen Hirnschalen durchsichtig und verständlich und ist bereits alle dialektisch möglichen Stufen seines W e r d e n s , bis zu jener Selbstoffenbarung, emporgestiegen: so dass für H e g e l der H ö h e p u n k t und der E n d p u n k t des Weltprozesses in seiner eigenen Berliner Existenz zusammenfielen. J a er hätte sagen müssen, dass alle nach ihm k o m m e n d e n Dinge eigentlich nur als eine musikalische C o d a des weltgeschichtlichen R o n d o s , noch eigentlicher, als überflüsssig zu schätzen seien. 295
Einmal abgesehen davon, daß in Nietzsches Augen empirische
Befund
gegen
eine
Geschichte
spricht
—
seinen
in
solche
allein schon
der
Auslegung
der
teleologische
Entwürfen
Betrachtung bemerkt er sarkastisch: „ D e r
zur
2.
Unzeitgemäßen
Hegeische
,Weltprozess'
verlief sich in einen fetten preussischen Staat mit guter Polizei." 2 9 6 — , so hält er sie auch in denkerischer Hinsicht für unmöglich, setzt sie doch voraus, daß die wesentliche Geschichte an ihr Ende gekommen ist. D o c h ruft diese Behauptung bei Nietzsche nicht nur Empörung darüber heraus, daß mit ihr die auf Hegel folgenden Zeitläufte zum bloßen Appendix der eigentlichen Geschichte erniedrigt werden, wodurch der Fort-schritt des Lebens eine massive Behinderung erfährt, vielmehr bringt Nietzsche gegen sie in jener Aufzeichnung auch den — bereits von K a n t thematisierten — Einwand vor, daß wir „Anfang und Ende nicht zu denken vermögen". V o r allem aber sieht er Hegels Versuch, den ganzen U m f a n g des Wirklichen als Erscheinung des absoluten Geistes zu deuten ( „ W a s vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig" 2 9 7 ), daran scheitern, daß der vernunftwidrige Zufall ( „ Z B . ein Mann, der ein V o l k oder eine Familie beglücken kann, fällt unter dem Sturz des Baumes. Hier ist Ursache und Wirkung, aber keine Vernünftigkeit.") außer acht bleiben muß. 298 Angesichts solcher Erlebnisse — und wer dächte bei jenem Beispiel nicht an Nietzsches eigenes Schicksal der frühen Vaterlosigkeit? — , denen niemand auch nur einen Hauch von Vernünftigkeit abgewinnen Gedanken
kann, es sei denn, daß er sich zu jenem
eines vernünftigen Willens flüchtet,
der höher ist als alle
menschliche Vernunft, angesichts solcher Erlebnisse muß sich Nietzsche der Gedanke aufdrängen, daß jeglicher Sinn, den der Mensch in der Geschichte findet, nichts als eine Setzung des Menschen ist, nach deren Maßgabe er das einzelne Geschehnis auszulegen sucht. Eine solche Voraussetzung ist für Nietzsche aber auch jener höhere Wille, insofern dieser nämlich, falls er wirklich
über
alle Vernunft
hinaus
sein
soll,
geistigem
Vernehmen
unerreichbar und unbekannt, folglich aber auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend sein dürfte 2 9 9 : „ F ü r uns Zweck, für uns ist Veränderung da, für uns giebt es Epochen und Perioden. W i e könnten auch wir höhre Pläne
Der T o d Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie
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sehen.", haben wir oben gelesen und damit erfahren, daß die Möglichkeit der Offenbarung für Nietzsche eine denkerische Unmöglichkeit ist. So bemerkt er auch zum Hegeischen Geschichtsentwurf: „lassen wir doch diese Entwicklung' auf sich beruhen! Es ist sofort lächerlich!" Es ist lächerlich vor allem deswegen, weil in Hegel der kleine Mensch sich anmaßt, den — angenommenen — großen, an sich seienden Gott — kantisch gesprochen: das Ding an sich300 — erkennen zu können: „ D e r Mensch und der ,Weltprozeß'! Der Erdfloh und der Weltgeist!" höhnt Nietzsche in jener bereits mehrfach zitierten Aufzeichnung vom Sommer—Herbst 1873. Diese Bemerkung ist nicht zuletzt darum höchst bedenkenswert, weil die darin bezeichnete Spannung auf Nietzsches spätere, Wesentliches seiner Philosophie formelhaft fassende Selbstcharakteristik als „göttlicher Hanswurst" 3 0 ' vorausdeutet: Weist Nietzsche mit dieser Bemerkung den Anspruch des Menschen, erkennen zu können, was die unendliche Welt im Innersten zusammenhält, angesichts seiner Endlichkeit als absurd zurück — solches setzte voraus, daß es ihm möglich wäre, zum „Ubermenschen" 3 0 2 oder, man vergleiche Nietzsches Kritik an Hegel, im Ausgang von der Berufung auf die Ebenbildlichkeit zum Gott „aufzuschwellen" —, so ist Heinrich Fausts „ D e n Göttern gleich' ich nicht! Zu tief ist es gefühlt;/ Dem W u r m e gleich' ich, der den Staub durchwühlt" Nietzsches letztes W o r t doch auch nicht. In seiner von Nietzsche tief gefühlten Nichtigkeit — mit den Worten des Erdgeists: „ D u gleichst dem Geist, den du begreifst" — ist der Mensch absurder- oder vielleicht besser: paradoxerweise doch insofern ein dem Gott der Tradition vergleichbarer Schöpfer, als er selbst es ist, der die von ihm begriffene Welt, sich selbst und die Götter eingeschlossen, im Akt des Begreifens schafft — und er wird, Nietzsche zufolge, zum „Übermenschen", zum Gott, indem er dieses Wissen handelnd ergreift; wohlgemerkt: zum Gott als Hanswurst. W a r es nicht die Einsicht in diese absurd-paradoxe Grundspannung des menschlichen Daseins, die Nietzsche schließlich in den T a n z auf den Straßen Turins riß, ihn ver-rückt machte? Die niederschmetternde Erkenntnis, daß jedwede Erkenntnis anthropomorphisch, der erkennende Mensch darum ein unwissender und ohnmächtiger Hanswurst ist, stellt die Bedingung der Möglichkeit dafür dar, daß der Philosoph in der Auslegung des weltschaffenden Auslegungsgeschehens sich als göttlich erkennen konnte. Wohingegen ihm der Hegeische Mensch und sein Philosoph in ihrer göttlichen Erhebung darum als Hanswürste erscheinen mußten, weil sie nicht erkannten, daß der vorgeblich an sich seiende Gott, zu dem sie aufschauten, nun für sie, d. h. ihre eigene Schöpfung, mithin sie selbst war.
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Voraussetzungen
Wie Nietzsche in seiner Schrift über die Vorsokratiker meint — und damit wenden wir uns zu dem hier eigentlich in Rede stehenden Zeitraum zurück —, ist es nämlich „nach K a n t " nicht anders denn als „kecke Ignoranz" zu bezeichnen, wenn es hier und da, besonders auch unter schlecht unterrichteten Theologen, die den Philosophen spielen wollen, als Aufgabe der Philosophie hingestellt wird, das „Absolute mit dem Bewußtsein zu erfassen", etwa gar in der Form „das Absolute ist schon vorhanden, wie könnte es sonst gesucht werden?", wie Hegel sich ausgedrückt hat,303 oder mit der Wendung des Beneke 304 , „daß das Sein irgendwie gegeben, irgendwie für uns erreichbar sein müsse, da wir sonst nicht einmal den Begriff des Seins haben könnten". 305
Damit vermeint man nämlich, so führt Nietzsche weiter aus, daß man „aus dem ewig subjektiven Begriff zu einem An-sich-sein" kommen könne. Er höhnt deswegen über den Begriff des Seins: Als ob der nicht den ärmlichsten empirischen Ursprung bereits in der Etymologie des Wortes aufzeigte! Denn esse heißt ja im Grunde nur „athmen": wenn es der Mensch von allen anderen Dingen gebraucht, so überträgt er die Überzeugung, daß er selbst athmet und lebt, durch eine Metapher, das heißt durch etwas Unlogisches [— eine Passage, die wir hier noch uninterpretiert lassen müssen —], auf die anderen Dinge und begreift ihre Existenz als ein Athmen nach menschlicher Analogie. Nun verwischt sich bald die originale Bedeutung des Wortes: es bleibt aber immer so viel übrig, daß der Mensch sich das Dasein andrer Dinge nach Analogie des eignen Daseins, also anthropomorphisch, und jedenfalls durch eine unlogische Übertragung, vorstellt.306
Dasjenige, was in den Augen der Philosophen das Seiende zum Seienden macht, das Sein — in der Tradition auch als ο ύ σ ί α oder essentia bezeichnet — ist, wir kennen diese hier etymologisch begründete Voraussetzung des Nietzscheschen Philosophierens bereits, nichts als eine Voraussetzung des Menschen, in deren Lichte ihm die Welt als Welt des Seienden erscheint: Sein ist eine Fiktion, wie Gott eine Fiktion ist — weil Gott eine Fiktion ist: Wie Nietzsche nämlich aus der Geschichte des abendländischen Denkens ersehen konnte, wurde seit deren Beginn das — von seinem Standpunkt aus gesehen — immer nur über dem Werden der Welt aufscheinende, ihm Bestand verleihende, wahrhafte Sein zunächst, bei den Griechen, unpersönlich als das Göttliche, τ ο θείον 3 0 7 , später, in der nunmehr vom Christentum bestimmten Philosophie, als Gott bezeichnet. Weil Nietzsche aber dieser Gott als Grund oder Ur-sache alles Seienden gestorben, d. h. als Setzung des Menschen entlarvt ist, darum kann seine Philosophie nichts anderes als das reine grundlose Werden für wahr halten, das als solches f ü r den Menschen unbegreiflich bleibt, darum muß sie, insofern auch für sie Wahrheit immer 308 nur veritas aeterna heißen kann, zugleich leugnen, daß es
Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie
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für den M e n s c h e n anderes denn Schein gebe. S o bemerkt N i e t z s c h e im Frühjahr—Herbst 1881: In Hinsicht auf alle u n s e r e Erfahrung müssen wir immer s k e p t i s c h bleiben und ζ. B. sagen: wir können von keinem „Naturgesetz" eine ewige Gültigkeit behaupten, wir können von keiner chemischen Qualität ihr ewiges Verharren behaupten, wir sind nicht f e i n genug, um den muthmaaßlichen a b s o l u t e n F l u ß d e s G e s c h e h e n s zu sehen: das B l e i b e n d e ist nur vermöge unserer groben Organe da, welche uns behauptet, weil wir die feinste absolute Bewegung nicht wahrnehmen können: wir legen eine m a t h e m a t i s c h e Durchschnittslinie hinein in die absolute Bewegung, überhaupt Linien und Flächen b r i n g e n w i r h i n z u , auf der Grundlage des Intellekts, welches der I r r t h u m ist: die Annahme des Gleichen und des Beharrens, weil wir nur Beharrendes s e h e n können und nur bei Ähnlichem (Gleichem) uns e r i n n e r n . Aber an sich ist es anders: wir dürfen unsere Skepsis nicht in die Essenz übertragen. 309 D a ß diese W e l t d e u t u n g die n o t w e n d i g e Folge seiner besonderen, durch S c h o p e n h a u e r vorgeprägten K a n t - R e z e p t i o n darstellt — als w e l c h e den Begriff des D i n g e s an sich einerseits v o m Limes- z u m Zentral-Begriff erhebt, andererseits aber ihn nachher als undenkbar verwirft — , das g e h t aus jenem Abschnitt v o n Schopenhauers „Kritik der Kantischen P h i l o s o p h i e " hervor, d e n N i e t z s c h e s M e n t o r „Kants größte[m] Verdienst", der „ Unterscheidung der Erscheinung vom Dinge an sich", g e w i d m e t hat. Darin heißt es u. a. 310 : Wie nun also Kants [ . . . ] Sonderung der Erscheinung vom Dinge an sich in ihrer Begründung an Tiefsinn und Besonnenheit alles, was je dagewesen, weit übertraf; so war sie auch in ihren Ergebnissen unendlich folgenreich. Denn ganz aus sich selbst, auf eine völlig neue Weise, von einer neuen Seite und auf einem neuen Wege gefunden, stellte er hierin dieselbe Wahrheit dar, die schon Piaton unermüdlich wiederholt und in seiner Sprache meistens so ausdrückt: diese den Sinnen erscheinende Welt habe kein wahres Sein, sondern nur ein unaufhörliches Werden, sie sei und sei auch nicht, und ihre Auffassung sei nicht sowohl eine Erkenntnis als ein Wahn. Dies ist es auch, was er in der [ . . . ] wichtigsten Stelle aller seiner Werke, dem Anfange des siebenten Buches der ,Republik', mythisch ausspricht, indem er sagt, die Menschen, in einer finstern Höhle festgekettet, sähen weder das echte ursprüngliche Licht noch die wirklichen Dinge, sondern nur das dürftige Licht des Feuers in der Höhle und die Schatten wirklicher Dinge, die hinter ihrem Rücken an diesem Feuer vorüberziehn: sie meinten jedoch, die Schatten seien die Realität und die Bestimmung der Sukzession dieser Schatten sei die wahre Weisheit. — S o m i t scheint sich der T o d Gottes als die gesuchte V o r a u s s e t z u n g des N i e t z s c h e s c h e n Philosophierens z u erweisen. Eine V o r a u s s e t z u n g , die die V o r a u s s e t z u n g der Geschichte des abendländischen D e n k e n s mithin in jener z w i e f a c h e n W e i s e abträgt, daß trotz des Verlustes des höchsten Seienden das in ihm gegründete metaphysische G e f ü g e bei N i e t z s c h e fortwirkt: Indem er nämlich im Z u g e der Entgöttlichung der W e l t das ständige W e r d e n
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als deren am wenigsten scheinbare, als deren wahrste Schicht anerkennt, wendet er sich wohl jenen von der Philosophie seit ihren Anfängen als χάος, als μή öv oder auch als „Gewühle" abgetanen Bereichen zu, er übernimmt dabei die bisherige — von ihm nur umgewertete — Auslegung derselben, so etwa, wenn er im 109. Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft" bemerkt: Der Gesammt-Charakter der Welt ist [ . . . ] in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen. 311
Vor allem aber wirkt so — und deshalb bezeichnen wir, wie erinnerlich, den Grundansatz von Nietzsches entfaltetem philosophischen Fragen als metaphysisch — bei Nietzsche der überkommene Begründungswille fort. Das Fortbestehen dieses metaphysischen Gefüges wollen wir im folgenden anhand des Wahrheitsbegriffes zu erweisen suchen, indem wir den Weg skizzieren, den das Denken von seinen Anfängen bis zu Nietzsche hin in der Ausarbeitung dieser Frage genommen hat. Mit der sich daran anschließenden Erörterung der Nietzscheschen Antwort beabsichtigen wir darüber hinaus einerseits unsere Behauptung zu belegen, daß die Position der neuzeitlichen Subjektivität, wonach der Mensch als sub-iectum dasjenige „Seiende" ist, in dem das übrige Seiende gegründet ist, bei Nietzsche in die Krisis geführt wird — und zwar, wie wir meinen, ebenfalls durch den Tod Gottes, durch die Erkenntnis der Menschheit, daß sie „ ,den Anfang, die Mitte, das Ende der Religion'" bildet —, und zum anderen den Boden zu bereiten für eine Auslegung der Gedanken des frühen Nietzsche zur Sprache und zur Kunst, als welche wesentlich von jener Antwort bestimmt sind. Wahrheit wird seit Aristoteles (De interpretatione 1,16 A 6 ff.) als Ubereinstimmung (όμοίωσίς) einer Aussage (λόγος) mit einer Sache (πραγμα) aufgefaßt. Aristoteles führt aus, daß die „Erlebnisse" der Seele, die νοήματα („Vorstellungen"), Angleichungen an die Dinge sind: παθήματα της ψυχής των πραγμάτων όμοιώματα. Dieser Bestimmung liegt, wie Martin Heidegger in „Piatons Lehre von der Wahrheit" 312 aufgewiesen hat, ein Wandel der Wahrheit bei Piaton voraus. Er vollzieht sich in der Bestimmung des Seins des Seienden, der ούσία, als ίδέα. Nicht mehr wird wie im Anfang des abendländischen Denkens bei den Vorsokratikern die ούσία, die Anwesung des Anwesenden, als Aufgang des Verborgenen in die Unverborgenheit, in die άλήθεια gedacht, so daß Wahrheit als das einer Verborgenheit Abgerungene „der Grundzug des Seins selbst"313 ist, vielmehr meint Unverborgenheit „jetzt das Unverborgene stets als das durch die Scheinsamkeit der Idee Zugängliche" 314 : „Die άλήθεια kommt unter das Joch der ίδέα." 315 Es ist nunmehr die ίδέα, welche
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die Anwesung des Anwesenden vollbringt, indem sie etwas in dem, was es ist, erscheinen läßt. Um das Seiende recht vernehmen zu können, hat sich darum das Vernehmen als ein ίδεΐν nach der jeweiligen ίδέα auszurichten; vereinfacht gesagt: es gleicht sich an die Idee derweise an, daß eine όμοίωσις, eine Ubereinstimmung des Erkennens mit der Sache besteht. Zusammengespannt wird das Gesehene und das Sehen von der höchsten Idee, τό αγαθόν, welche als Ermöglichung und d. h. als Idee aller Ideen der Ursprung, die Ur-sache aller Sachen und ihrer Sachheit ist. Im VI. Buch der Politeia (508 e) führt Piaton aus: ,,Τοϋτο τοίνυν το την άλήθειαν παρέχον τοις γιγνωσκομένοις και τω γιγνώσκοντι την δόναμιν άποδιδόν την τοϋ άγαθοϋ ίδέαν φάθι είναι — Dieses also, was dem Erkennbaren Unverborgenheit mitteilt und dem Erkennenden das Vermögen hergibt [zu erkennen], sage, sei die Idee des Guten." Piaton veranschaulicht dies in seinem Höhlengleichnis (Politeia VII, 514 a, 2—517 a, 7) dadurch, daß die Sonne, das Bild für die Idee des Guten, als Quelle des Lichtes nicht nur dem Sichtbaren seine Sichtbarkeit verleiht, sondern daß dieses dem Sehen nur insofern zugänglich ist, als das Auge selber ήλιοειδές, „sonnenhaft" und d. h. der Wesensart der Sonne, ihrem Scheinen zugehörig ist: In einem Dasein vor der Geburt ist die menschliche Seele der Idee des Guten und mit ihr auch aller anderen Ideen teilhaftig geworden, wie die Dialoge Menon und Phaidon erläutern. Wenn die Menschen daher das Wissen (είδέναι) und den richtigen Begriff (όρθός λόγος) „in ihrem Innern" (αύτοΐς επιστήμη ένοϋσα, Phaidon 73a) besitzen, dann vollzieht sich die oben angesprochene richtige Erkenntnis in der Weise, daß der Mensch, angestoßen durch die sinnlich wahrgenommenen Dinge, zu sich selbst zurückkehrt, um selbst Wahrheit zu „werden": Indem er das Wahrgenommene auf die Ideen überträgt (άναφέρειν) — die zwei Tätigkeiten der Seele, Wahrnehmung und Noesis, d. h. reines Denken, werden von Piaton in dieser Hinsicht als Einheit betrachtet —, wird der Mensch an das erinnert, was er vor der Geburt schon gewußt hat. Die ίδέα τοϋ άγαθοϋ als die höchste und erste Ursache aber wird von Piaton — und entsprechend von Aristoteles — το θείον, das Göttliche genannt. Aufgabe des Denkens ist es, μετ' έκεΐνα (Politeia VII, 516 c, 3), über das Schatten- und Abbildhafte des Sinnlichen hinaus zu den übersinnlichen Ideen, dem wahren Sein (όντως öv), ja wenn es sich schickt, bis zur höchsten Idee und damit zum Göttlichen zu gelangen. Martin Heidegger folgert: „Seit der Auslegung des Seins als ίδέα ist das Denken auf das Sein des Seienden metaphysisch, und die Metaphysik ist theologisch. Theologie bedeutet hier die Auslegung der ,Ursache' des Seienden als Gott und die Verlegung des Seins in diese Ursache, die das Sein in sich enthält und aus sich entläßt, weil sie das Seiendste des Seienden ist."316
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Daß „der Glaube Plato's [ . . . ] , dass Gott die Wahrheit ist, dass die "Wahrheit göttlich ist", wie Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft" ausführt 3 1 7 , auch „Christen-Glaube" war, wollen wir jetzt an der mittelalterlichen (scholastischen) Definition von Wahrheit zeigen, wie sie Thomas von Aquin in „ D e veritate" (qu. I, art. 1) gegeben hat. Auch er geht von der Auffassung der Wahrheit als Übereinstimmung aus, wenn er formuliert: Veritas est adaequatio rei et intellectus. Dies bedeutet zweierlei: zum einen „veritas est adaequatio intellectus ad rem", Wahrheit ist die Angleichung der Erkenntnis an die Sache, zum anderen „veritas est adaequatio rei ad intellectum", Wahrheit ist die Angleichung der Sache an die Erkenntnis. Letztere Wahrheit, die sogenannte Sachwahrheit, gibt den Grund für die Möglichkeit ersterer Wahrheit, die als Satzwahrheit bezeichnet wird. Zunächst ist zu beachten, daß beide Formeln intellectus und res jeweils verschieden denken. Die Bestimmung der Sachwahrheit erfolgt nämlich aus dem christlichen Glauben, „daß die Sachen in dem, was sie sind [essentia] und ob sie sind [existentia], nur sind, sofern sie als je erschaffene (ens creatum) der im intellectus divinus, d. h. in dem Geiste Gottes, vorgedachten idea entsprechen und somit idee-gerecht (richtig) und in diesem Sinne ,wahr' sind." 318 Auch der intellectus humanus creatus, der menschliche Geist, erhält in diesem Sinn sein Maß vom göttlichen Geist. Diese seine Ideegerechtheit oder Sachwahrheit bezeugt er indes erst dann, wenn er die Satzwahrheit vollzieht: wenn er seine Urteilserkenntnis an die ihrerseits einer idea entsprechende Sache angleicht, so daß er von ihr das Maß ihres Seins empfängt. Die Möglichkeit der Wahrheit menschlicher Erkenntnis gründet somit darin, daß Sache und Satz je ideegerecht und in dieser Bezogenheit auf den Schöpfer aufeinander bezogen sind. Veritas ist mithin convenientia, „das Ubereinkommen des Seienden unter sich als eines geschaffenen mit dem Schöpfer, ein ,Stimmen' nach der Bestimmung der Schöpfungsordnung." 3 1 9 Gott ist der Garant der Möglichkeit einer Ubereinstimmung von Aussage und Sache — und in dieser Hinsicht kommt er mit der göttlichen Idee des Guten bei Piaton überein. Wenn im Mittelalter der Mensch wie alles Seiende ens creatum, vom Schöpfergott als oberster Ursache Geschaffenes ist, als solches zu einer bestimmten Stufe der Schöpfungsordnung rechnet und der Schöpfungsursache zu entsprechen hat (analogia entis), so hebt die Neuzeit damit an, daß der Mensch sich von den mittelalterlichen Bindungen zu sich selbst befreit, daß er zur — im doppelten Sinn des Wortes — selbstbezogenen Bezugsmitte des Seienden als solchen und damit zum Subjekt wird. Denn die Befreiung aus der Bindung an die offenbarungsmäßige Heilsgewißheit befreit den Menschen zu einer Gewißheit, in welcher er sich selbst — und nicht mehr der Schöpfergott — das Wahre als das Gewußte seines eigenen Wissens zu
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sichern hat. 320 Gesichert wird es aber den „Meditationes de prima philosophia" des Descartes zufolge im fundamentum absolutum inconsussum des me cogitare = me esse, welches als Grundgewißheit jederzeit unbezweifelbar vorstellbar sein soll. Denn in jedem vorsellenden Denken (repraesentatio), in jedem vorstellenden Bezug zu einem Vorgestellten, stellt der Mensch von sich her etwas vor sich auf sich selbst zurück und sichert so das derweise Gestellte. Erst und nur dann aber, wenn etwas durch den Menschen in dieser Weise vor- und her-gestellt worden ist, kommt ihm der Charakter der Seiendheit zu. Dies begründet, warum der Mensch sub-iectum, allem Seienden als Grund Zugrundeliegendes, wird, warum die menschliche Selbstgewißheit an die Stelle tritt, die vordem Gott vorbehalten war. Und weil das Sicherstellen zugleich ein Berechnen sein muß, da nur durch die Berechenbarkeit auch im voraus Gewißheit für das Vorzustellende gewährleistet ist, wird die Mathematik zur Richtschnur alles wissenschaftlichen und vor allem alles philosophischen Denkens: Die ratio entfaltet ihr Wesen als rechnende Vernunft. In dieser Auslegung des Seienden und der Wahrheit folgt Descartes die gesamte neuzeitliche Metaphysik, zum Teil auch Nietzsche. Gleichwohl muß gesehen werden, daß dieser neuzeitliche Begriff der Wahrheit als im Subjekt gegründeter Gewißheit (certitudo) nur eine Modifikation der Bestimmung der Wahrheit als Richtigkeit (adaequatio) ist. Dies lehrt der Satz aus Descartes' Schrift „Regulae ad directionem ingenii" 321 , daß „veritatem proprie vel falsitatem non nisi in solo intellectu esse posse — Wahrheit oder Falschheit im eigentlichen Sinne nur im Verstände allein sein können". Und liegt auch der Wandel der Wahrheit zur certitudo darin beschlossen, daß der Mensch sich nicht mehr als „ens creatum" im mittelalterlichen Sinne begreift, so heißt das gleichwohl nicht, daß sich Descartes und die Philosophen der Folgezeit auch des tradierten metaphysischen Begründungsversuches f ü r die Wahrheit entschlagen. Denn wenn es in den „Meditationes de prima philosophia" auf der dritten und höchsten Stufe des radikalen Zweifels an der Realität den Anschein haben kann, Gott sei „genium aliquem malignum eundemque summe potentem et callidum — irgendein böser Geist, der zugleich allmächtig und verschlagen ist" 322 , und wenn damit zu Beginn der Neuzeit fraglich wird, was für das Mittelalter noch unerschütterlich festgestanden hat, daß nämlich Gott den Menschen in die Sach- und Satz-Wahrheit gesetzt hat — sich darum das Subjekt als fundamentum absolutum inconcussum veritatis konstituiert —, dann ist es für Descartes gleichwohl nötig, im Ausgang von der Selbstgewißheit des Subjekts Dasein und Wahrhaftigkeit Gottes zu beweisen, nicht um Gottes willen, sondern um das Ich aus seiner Weltlosigkeit befreien und die Wahrheit seiner Weltdeutung sichern zu
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Voraussetzungen
können. 3 2 3 D a ß Gott dennoch der Garant der Wahrheit nur „von G n a d e n " des Subjekts ist, dieses somit im Grunde bereits in der Wahrheit sein muß, bevor es sie von ihm erhalten kann, zeigt sich nicht zuletzt in den Gottesbeweisen des Descartes, welche eben diesen Zirkel aufweisen. 324 D a ß auch die folgende Zeit vor der Tatsache zurückschreckt, daß allein der Mensch die W e l t im Ganzen trägt und bestimmt, weswegen sie versucht, G o t t weiterhin als das eigentliche Maß alle Dinge erscheinen zu lassen, das wollen wir im folgenden an Leibniz, Goethe und K a n t aufzeigen, um damit zugleich für Nietzsches Position bedeutsame Entwicklungsstufen in der Frage nach der Wahrheit abzuhandeln. D e r Wandel der Wahrheit zur Gewißheit bestimmt die Weise, wie Leibniz die überlieferte Antwort auf die Anfangsfrage der Metaphysik „ W a s ist das in Wahrheit Seiende?", nämlich: „Sein bedeutet Einessein" 3 2 5 , zur Entfaltung bringt. Die Monadologie sucht ein wahrhaft Eines sicherzustellen: N u r das, was im Ubergang von einer Vorstellung zur anderen mit sich einig bleibt, ist Substanz und ständiger als ein Phänomen 3 2 6 . Das Streben der Monade (appetitus) von Vorstellung zu Vorstellung (perceptio) ist somit ein Sich-Erstreben,
ihr
inneres
Wirken
ein
willenhaftes
Sich-Erwirken.
Zugleich ist dieses aber auch ein Erwirken von Welt, ist es doch deren W e s e n , Vorgestelltes der Monade zu sein. S o entfaltet diese im Vollzug der in ihr angelegten Entwicklung die in ihr eingefaltete Welt, ent-wickelt sie als sub-iectum die Welt ihrer Objekte. In der Bestimmung des Seins des Seienden von der Monade aus als Einheit von perceptio und appetitus, d. h. als Entelechie oder vis primitiva activa bedeutet Sein darum nicht mehr, wie noch in der aristotelisch-mittelalterlichen Philosophie Anwesen im Sinne eines Währens im Telos oder eines Bestehens im Gepräge des Aussehens, will sagen: des Anblicks des είδος, sondern Wirk-samkeit: beständiger Ausgriff der Entelechie im ständigen Wandel der Vorstellungen.
„Die
Monadologie löst endgültig die Teleologie des είδος durch eine Teleologie des Willens a b " , bemerkt Wolfgang J a n k e zutreffend. 3 2 7 D a für Leibniz die Vorstellungen der Monade nicht mehr das Ende eines Umwandlungsprozesses bilden, an dessen Anfang ein Körper und seine Affektation stehen, sie vielmehr reines Produkt der Selbsttätigkeit sind — von der Monade wird gesagt, sie sei fensterlos 328 — , muß er den Begriff der Wahrheit als adaequatio von intellectus und res umdenken. Wahrheit als Ubereinstimmung
zeigt sich
monadologisch
als Ubereinstimmung
der
Repräsentationen, als Entsprechung und Zuordnung unendlicher Vorstellungsmomente in unendlichen Monaden, 3 2 9 in eine Formel gefaßt: „relatio est fundamentum veritatis — Beziehung ist die Grundlage der Wahrheit" 3 3 0 . D o c h nur die von Leibniz supponierte prästabilierte Harmonie der Monaden garantiert, daß die jeweiligen Vorstellungen trotz ihrer Herkunft aus der
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subjektiven Innensphäre nicht in der Willkür und Beliebigkeit eines Einzelgültigen befangen bleiben, sondern Ausdruck eines gleichsam „Außer-ihnen-Seienden" und damit Objektiv-Allgemeingültigen sind. Sie selbst aber hat ihren Ermöglichungsgrund in der göttlichen Urmonade, welche alle Monaden von Beginn an mit einem solchen Inhalt ausgestattet hat, daß eine jede in der Notwendigkeit ihrer Entwicklung stets mit allen übrigen in Ubereinstimmung bleibt. Man erinnere sich an die mittelalterliche convenientia: auch bei Leibniz ist Gott der Garant sowohl von Sachwahrheit — "grundsätzlich und allgemein" handelt „es sich in den Perzeptionen der [von ihm geschaffenen] Monade [ . . . ] nicht um Vorspiegelungen, sondern um vertretende Darstellung eines unabhängigen Seins 331 — als auch der Garant der in der Sachwahrheit fundierten Satzwahrheit, nämlich der Entsprechung der Vorstellung mit dem „Gegenstand", welche so exakt sein kann, daß der Gegenstand völlig adäquat wiedergegeben wird, nämlich wie er an sich selbst bestimmt ist.332 Zugleich spricht sich in der Deutung des Seins des Seienden als Monade, welche Offenbarmachen von Welt und sich in diesem Offenbarmachen äußernde Kraft des Bewußtseins in einem zumal ist, ein neuer Sinn von Wahrheit aus. Denn wenn die Metaphysik vor Leibniz Wahrheit als Offenbarkeit des wahrhaft Einen in seiner Einheit auffaßte, dann hebt mit ihm, für den das wahrhaft Eine aus dem Genus des Geistes ist, eine dynamische Deutung derselben an, in welcher „Wahrheit (άλήθεια) und Wirklichkeit (ενέργεια) [zusammen]gehen 3 3 3 : Wahrheit ist nunmehr Selbstoffenbarung des Geistes — eine Deutung, die in der Philosophie Hegels zu ihrer höchsten Entfaltung gelangen sollte. Eine mit Leibniz vergleichbare metaphysische Grundstellung scheint Goethe einzunehmen, 334 wenn er wie dieser nicht nur das Wesen des Menschen 335 , sondern das des Seienden überhaupt als sich im Tätigsein erwirkende unteilbare Lebenseinheit bestimmt und diese ebenfalls als Entelechie („Die Griechen nannten Entelecheia ein Wesen, das immer in Funktion ist." — „Die Funktion ist das Dasein, in Tätigkeit gedacht." 336 ) oder als Monade bezeichnet. 337 Ein wesentlicher Unterschied zu Leibniz besteht indes darin, daß der Mensch, wenn er auch „die Welt durch Antizipation" bereits in sich trägt, 338 er gleichwohl „in der äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder zu suchen" hat, um „dadurch das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen zu steigern" 339 : In der Annahme einer Autarkie (Fensterlosigkeit) der Monade konnte Goethe Leibniz nicht zustimmen, das Moment der Erfahrung, der Einwirkung von außen bedeutete ihm eine unerläßliche Bedingung für die Entwicklung der Entelechie: „Jeder neue Gegenstand wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf." 340 Ebendann aber kommt der Goethesche Gedanke der Antizipation mit der
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Platonischen Anamnesis überein, die zu ihrer Auslösung ebenfalls der sinnlichen Wahrnehmung bedarf (Phaidon 75 a; Phaidros 249 b c).341 Die Strukturparallele reicht gar bis zur Annahme einer Metempsychose: Im Gespräch mit Falk an Wielands Begräbnistag 342 offenbart Goethe seine Vorstellung von einer Seelen- oder Monadenwanderung, die die Antizipation als eine Form der Anamnesis erscheinen läßt. 343 Indem er aber im Unterschied zu Piaton, in dessen Augen das menschliche Denken das Wesen der Dinge und das Wesen des Kosmos als Einheit anschauen und im Wissen reproduzieren kann, das Wesen der geistigen Akte gleichwohl nicht eher passiv, sondern in der Weise begreift, daß er sie als Element des fortwirkenden Lebens ansieht, nähert er sich augenscheinlich wieder Leibniz und seiner Monadologie, die, wie wir sagten, die Teleologie des είδος durch eine Teleologie des Willens ablöst. Eine Nähe, die sich nicht zuletzt darin zu bekunden scheint, daß den Inhalten des Lebens Idealität nicht von einem Äußeren, sondern vom reinen Lebensprozeß her zugesprochen wird: die tätige Entwicklung erscheint als Selbstzweck. Anders gesagt: Goethe ist das Leben ein Wert, der jenseits aller Inhalte steht, ein Wert, der selber alle anderen Werte bestimmt: „Es kommt offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat desselben an.", formuliert er bündig. 344 Daß das Leben in erster Linie sich selber will, diese Ansicht spricht sich augenscheinlich auch in Goethes Bestimmung der Wahrheit aus: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr." 3 4 5 Eine Bestimmung, die die Frage nach der Wahrheit in eine Frage nach ihrem Wert für das Leben transformiert: Diesem Ansatz werden wir — in charakteristischer Umbildung indes — bei Nietzsche wiederbegegnen. (Als erster Hinweis möge hier genügen, daß Nietzsche seine 2. Unzeitgemäße Betrachtung „ V o m Nutzen und Nachtheil der Historie f ü r das Leben" programmatisch mit einem Goethe-Zitat eröffnet, das sich auf ebendiesen Wahrheitsbegriff gründet: „Übrigens ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben." 346 ) In der T a t hat Georg Simmel herausarbeiten können, daß Goethes Wahrheitsbegriff „ein übergreifender Wahrheitsbegriff [ist], der zunächst gar nicht an einem Gegensatz zu theoretischem Irrtum orientiert ist, sondern seinen Sinn in seiner Seins- und Funktionsbedeutung hat" 347 , nämlich darin, daß das jeweilig daseiende Leben durch eine Vorstellung gefördert wird. „Förderung" darf dabei, dies dürfte nach den bisherigen Ausführungen deutlich sein, auf keinen Fall im utilitarischen Sinne verstanden werden. Nicht durch dasjenige wird eine Vorstellung förderlich, was sie dem Menschen von außen vermittelt, indem das von ihr geleitete Handeln die erwünschte Reaktion in der Außenwelt zeitigt, sondern durch das, was sie bewirkt, indem der Mensch sie denkt, d. h. durch das, was sie als Element des inneren Lebensvollzuges für diesen
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selbst bedeutet. Um für den Menschen in dieser Weise fruchtbar sein zu können, muß sich die einzelne Vorstellung „dem einheitlichen Totalsinne seiner innern Existenz anschließen, und die Energie, die sie innerhalb dieser einsetzt, muß ein Moment dieser fortschreitenden Existenz selber werden" 3 4 8 . Diese „vitale Wahrheit" kann für Goethe nun aber zugleich auch die „theoretische Wahrheit" (Wahrheit im Sinne der Richtigkeit des vorstellenden Denkens in bezug auf das vorgestellte Objekt) insofern sein, als die Pole von Subjekt und Objekt von einem Gemeinsamen, das Goethe „ I d e e " , „Leben", „ N a t u r " oder auch „ G o t t " nennt, durchwest und damit zu einer Einheit zusammengeschlossen sind. Indem der Mensch und die Dinge je ihrer Idee entsprechen, stehen sie auch vermittelt durch die eine Idee, die sich in die vielen Ideen als ihre Modi aufgebreitet hat, 349 in einem Entsprechungsverhältnis zueinander: „ D a s Prinzip der Ordnung allen Lebens ist zugleich der Inbegriff der geistigen Struktur, in der sich diese Ordnung spiegelt" 350 . Auch bei Goethe währt somit das überkommene metaphysische Wahrheitsgefüge fort, jedoch nicht in seiner neuzeitlichen Ausformung — das Goethesche „Subjekt" ist kein allem Seienden als Grund zugrundeliegendes sub-iectum 351 , dem die Objekte von einem Gott her zugedacht sind, was auch bedeuten würde, daß er sie seinem Gemächte überantwortet hat —, indes auch nicht in seiner mittelalterlichen Gestalt — ist doch Goethes göttlicher Grund keineswegs mit dem christlichen Schöpfergeist ineinszusetzen —, sondern, so hat es den Anschein, in einer an Piaton gemahnenden Ausformung. Zeugnis dafür gibt das Wasserfall-Gleichnis vom Prolog-Schluß des zweiten Faust, das Wolfgang Schadewaldt 352 zu Recht als eine Weiter- und Umbildung des Platonischen Höhlengleichnisses gedeutet hat. Übereinstimmend findet sich bei beiden die Sonne als Quell des Lebens, d. h. als Bild für die Ur-sache aller Sachen und ihrer Sachheit — bei Piaton ist dies die Idee des Guten, welche als Idee der Ideen die Möglichkeit aller andern Ideen in sich birgt und somit das Tauglichmachende für alles bildet, 353 wohingegen es bei Goethe die ewige und einzige Idee ist. Doch während Piaton die Möglichkeit kennt, daß im — indes seltenen — Einzelfall durch philosophische Gewöhnung und göttliche Fügung die Sonne selbst geschaut werden kann, hat sich für Goethe der Mensch grundsätzlich mit dem „farbigen Abglanz" der irdischen Phänomene zu begnügen. Für Goethe trägt diese Resignation aber positive Züge. Denn nicht allein ist ihm zufolge das Wesen nur, indem es erscheint: D e r Schein, was ist er, dem das Wesen fehlt? D a s Wesen, wär' es, wenn es nicht erschiene?
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— so fragt er in „ D i e natürliche Tochter" 3 5 4 —, vielmehr ist endlich auch zu bedenken, was er in einer gegen Plotin gerichteten Maxime bemerkt: Eine geistige Form wird aber keineswegs verkürzt, wenn sie in der Erscheinung hervortritt, vorausgesetzt, daß ihr Hervortreten eine wahre Zeugung, eine wahre Fortpflanzung sei. Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende, ja es ist der Vorteil lebendiger Zeugung, daß das Gezeugte vortrefflicher sein kann als das Zeugende.355 H a t man denn noch nicht bemerkt, daß dies eine „ U m d r e h u n g " des Piatonismus, d. h. der Metaphysik, lange vor Nietzsche ist? Weil Goethe nämlich in der Physis alles findet — auch das Allgemeine, das Göttliche —, d a r u m fühlt er sich in seiner Schau auch nicht gedrängt, über ihren Bereich hinauszustreben. 3 5 6 N a t u r wie Naturbetrachtung versteht Goethe somit im G r u n d e nicht Platonisch, sondern frühgriechisch, nämlich als φ ύ σ ι ς — „das ebenso lautlose wie mächtige Wesen und Walten, das in allem Seienden um uns her wie auch in uns selber unerschöpflich produktiv am W e r k e ist" 357 — und als θ ε ω ρ ί α , „die ursprünglich das Beiwohnen und Schauen sakraler Festgesandter bei einer religiösen Schau und Feier ist." 358 Denn die N a t u r ist f ü r Goethe, wie eben die Physis f ü r die Frühgriechen, ein an sich selber Heiliges, Göttliches, das man mit Staunen und Scheu auf das hin betrachtet, was sich in ihr als Wesendes offenbart, und keine N a t u r , die göttlich nur von einem unsichtbaren, jenseitigen Gott her ist 359 und schließlich, in der Neuzeit, als ein dem Menschen Uberlassenes dessen Berechnungen unterworfen werden kann, weil G o t t selber sie errechnet hat: Cum DEUS calculat et cogitationem exercet, fit mundus — weiß Leibniz zu bemerken 3 6 0 : Auch die neuzeitliche Naturwissenschaft ist „ t h e o r i a " , aber eine solche, die der Unsichtbarkeit des christlichen Gottes und dem neuzeitlichen Wahrheitsbegriff der certitudo entsprechend keine Schau, sondern Berechnung ist. Rechnend k o m m t der Mensch G o t t auf die Spur. G a n z anders Goethe, dessen Lebensbegriff sich damit in seiner tiefsten Schicht von demjenigen Leibnizens als in höchstem Maße verschieden erweist: Er erfährt die N a t u r wie die Frühgriechen als ein Ursprüngliches, das sich erscheinend verschenkt, ohne sich je zu erschöpfen (siehe das Gespräch mit Riemer am 2.[6./7.?] August 1807, in dem Goethe bemerkt: „ m a n entdeckt täglich mehr Relationen der Dinge zu uns, empfindet ihnen noch immer etwas ab. Das heißt, die Dinge sind unendlich." 3 6 1 ) — und dieser ihrer Fruchtbarkeit, das meint: Wahrheit, sucht Goethe in seiner Betrachtung zu entsprechen: Sie ist f ü r ihn nur dann wahr, nämlich fruchtbar, wenn sie vorab die Physis als das Unausdenkbare und Unergründliche in die Sorge nimmt, ehe sie sich vorstellend an ihre Gegenstände anzumessen sucht und damit die tradierte adaequatio vollzieht. (So daß der Goethe eigentümliche Wahrheitsbegriff den Gültigkeitsbereich
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besagter adaequatio bestimmt — der adaequatio und nicht der certitudo, die es bei Goethe darum nicht geben kann, weil sein „Subjekt" nicht das neuzeitliche sub-iectum ist: Keineswegs kommt für ihn dem Seienden der Charakter der Seiendheit erst dann zu, wenn es durch das seiner selbst gewisse Subjekt vor- und her-gestellt ist.) Erst hier ist die tiefste Schicht des Goetheschen Wahrheitsbegriffes erreicht. Da ,,[a]lles Lebendige [ . . . ] eine Atmosphäre um sich her [bildet]" 362 , hat die Wissenschaft, hat das Denken in ihrem Umgang mit jenem Lebendigen diese Atmosphäre zu bewahren, wenn sie das Phänomen nicht zerstören und derweise um seine Fruchtbarkeit bringen will (vgl. dazu unsere Ausführungen auf S. 63 ff.). „Atmosphäre", eine gelehrte Neubildung des 17. Jahrhunderts zu ά τ μ ο ς „ D u n s t " und σ φ α ί ρ α „Scheibe, Kugel; Erdkugel" — von letzterem Ausdruck ist das W o r t „Sphäre" abkünftig (siehe zur Etymologie von „Atmosphäre" Anmerkung 272) — meint hier ein „Fluidum", das auf den Menschen vom „ P h ä n o m e n " überfließt, sobald er in dessen Sphäre, in dessen Machtbereich, eintritt, eine Stimmung, die ihn dort überfällt und umfängt, so daß ihn jenes Phänomen zu sich um- und einstimmt. (Weswegen, wie Goethe Eckermann gegenüber ausspricht, 363 „wer sein Lebenlang von hohen ernsten Eichen umgeben wäre, [ . . . ] ein anderer Mensch werden [müßte], als wer täglich unter luftigen Birken sich erginge.") Goethe spricht dieses Geschehnis der Be-stimmung im 6. Buch von „Dichtung und Wahrheit" 3 6 4 in bezug auf jenes an, was er das „Erhabene" nennt, welches, wenn es durch äußere Dinge in uns erregt werden soll, formlos, oder zu unfaßlichen Formen gebildet, uns mit einer Größe umgeben muß, der wir nicht gewachsen sind.
In der Jugend vielfältig gegenwärtig, werde es durch „wachsende Bildung vernichtet [ . . . ] , wenn es nicht glücklich genug ist, sich zu dem Schönen zu flüchten". Die Kunst bewahrt mithin das Atmosphärische der Phänomene: nicht nur in der Weise, daß sie es in ihren „Inhalten" darstellt, sondern vor allem in der Weise, daß sie in der „ F o r m " selber atmosphärisch ist — in ungleich höherem Maße als das Denken, das jenem Fluidum „ n u r " nachzudenken vermag, an sich selbst es aber kaum aufweisen kann. In dieser Hinsicht muß das Denken hinter der Kunst zurückbleiben — falls es sich überhaupt jemals rückhaltlos jenem höchsten Wissen zu öffnen vermag, dessen bisher nur einige wenige Dichtungen eingedenk geblieben sind: daß wir in unseren höchsten Momenten unfaßliche, nämlich unbegreifliche, maßlose, d. h. unberechenbare, damit nicht fest-stellbare Wirkungen gewahr werden, die zerstört werden — und mit ihnen das in ihnen wesende Phänomen als solches —, wenn sie der rechnenden Vernunft unterworfen — das meint Goethe mit „Bildung" — und auf ein „Wesen" oder auf „Wesensstrukturen" reduziert und d. h. überstiegen werden. Der Vollzug
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dieses Überstiegs ist aber das (Un-)Wesen der Meta-physik und damit auch das (Un-)Wesen der auf deren Ansatz fußenden Wissenschaft. Beide übersehen, daß im Be-stimmungsgeschehen des Atmosphärischen das „ W e s e n " des Phänomens beruht, andernfalls sie „ P h ä n o m e n " nicht vorzüglich als „Erscheinendes" oder „ A u f g e h e n d e s " , sondern als „bezugsmäßig Angehendes" verstehen müßten. Durch dieses Verständnis, das es ihnen ermöglicht, das Begegnende auf Gründe hin zu befragen — als welche nämlich Gründe seines Erscheinens sind —, bringen Metaphysik wie Wissenschaft das Phänomen um seine K r a f t des Belangs, indem sie diesen in jenem Verständnis nichtig setzen, als unwesentlich bezeichnen. V o n der Erfahrung her gesehen, die Goethe in seinem Gedicht „ D i e F r e u d e n " anspricht, erfassen sie solcherweise aber gerade umgekehrt nur ein Unwesen vom Phänomen. Inzwischen haben wir darlegen können, daß dieser von Piaton mit seinem Streben nach übersinnlichen Ideen gesetzte Ansatz dort, w o er in seine Krisis geführt wird, in der neuzeitlichen Metaphysik nämlich, aber wesentlich vom Wesensentwurf der Wahrheit als certitudo bestimmt ist. Mithin bekämpft Goethe eigentlich ihn, wenn er die neuzeitliche Wissenschaft angreift, weil sie seiner Ansicht nach die N a t u r in ihren Versuchen auf die „ F o l t e r " spannt, 3 6 5 um ihr als Wesensgeständnis mathematische Formeln abzupressen. S o in seinen Augen ζ. B. Newton, weil er in seinen Versuchen zur Farbenlehre „ d a s Licht durch kleine Öffnungen, durch winzige Spalten [beschränkt]" und „ a u f hunderterlei Art in die Enge gebracht" habe. 3 6 6 U m solchen Fest-stellungen entgehen zu können, bestimmt Goethe den Begriff „ W e s e n " im Sinne seiner Erfahrung der Natur als Physis — wobei er noch insofern über die Frühgriechen hinausgeht, als er diese als den Menschen Angehendes, ihn Wachsenlassendes versteht, als ob er aus dem griechischen φύω die transitive Bedeutung heraushörte: W i r k u n g e n w e r d e n wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser W i r k u n g e n umfaßte wohl allenfalls das W e s e n jenes D i n g e s . V e r g e b e n s bemühen wir uns, den C h a r a k t e r eines Menschen zu schildern; m a n stelle d a g e g e n seine H a n d l u n g e n , seine T a t e n z u s a m m e n , und ein Bild des C h a r a k t e r s wird uns entgegentreten. 3 6 7
In diesem Wissen stellt er die Farben als Taten und Leiden des Lichts dar, systematisch und doch sie freilassend in ihrem Ereignischarakter: D i e N a t u r hat sich so viel Freiheit vorbehalten, daß wir mit Wissen und W i s s e n s c h a f t ihr nicht d u r c h g ä n g i g b e i k o m m e n o d e r sie in die E n g e treiben können. 3 6 8 ,
bemerkt er.
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Soweit Goethe wissenschaftlich systematisiert, nämlich die Phänomene auf die Gründe ihres Erscheinens hin befragt, bewegt er sich in den Bahnen der Metaphysik, die, wie wir sagten, ausdrücklich und eigens das vollzieht, was die menschliche Vernunft mit ihrem Anspruch der ratio reddenda immer schon tut, nämlich das Seiende hinsichtlich seines Seins vorzustellen, soweit bleibt er auch der Gegen-ständigkeit eines, indes nicht neuzeitlich zu denkenden, „Subjekt-Objekt-Verhältnisses" verhaftet. Soweit er indes den Farben ihren Ereignischarakter beläßt, ihnen die Macht des phänomenalen Anganges gewährt — w o f ü r Bedingung ist, daß sie so betrachtet werden, wie sie den Menschen immer schon angehen, und eben nicht mathematisch reduziert, d. h. quantifiziert, und objektiviert werden —, soweit er mithin als Wissenschaftler in der Weise Dichter bleibt, daß er sowohl um das Defizitäre des für den alltäglichen Lebensvollzug notwendigen Systematisierens und Begründens als auch um das „Wesen" dieses Defizits weiß — von beidem ahnt die Metaphysik nichts —, soweit führt ihn auch sein Weg aus jenen überkommenen Bahnen hinaus, beginnt er das Phänomen als abgründiges, als nur im Ab-gründigen wesendes, denkend in die Obhut zu nehmen: in der Bestimmung, wonach das Wahre das für den Menschen Fruchtbare sei. Das ist es, was eine Erläuterung bei Goethe zu läutern hat — von den Verdeckungen Platonischer und Leibnizscher Begrifflichkeit. 369 (Vorgreifend und in Parenthese wollen wir bemerken, daß auch Nietzsche, dessen Nähe zu Goethe in der Ferne — das nämlich ist die Sehnsucht — kaum überschätzt werden kann, von den zuletzt angesprochenen Problemen angegangen worden ist. So heißt es etwa in der 2. Unzeitgemäßen Betrachtung, in welcher die Historie paradigmatisch für die moderne wissenschaftliche Weltverhaltung behandelt wird: Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein Erkenntnissphänomen aufgelöst, ist für den, der es erkannt hat, todt. 370
Und einer der von Nietzsche immer wieder scharf kritisierten Irrtümer der Metaphysik ist jener der Trennung von „Thäter und Thun" 3 7 1 , das meint die Zurückführung einer Wirkung auf eine Ursache. Zum ersten Male findet sie sich in einem Fragment vom Sommer 1872/Anfang 1873: Aus Q u a l i t ä t u n d T h a t : eine E i g e n s c h a f t von uns führt zum Handeln: während im Grunde es so ist, daß aus Handlungen wir auf Eigenschaften schließen: wir nehmen Eigenschaften an, weil wir Handlungen bestimmter Art sehn. Also: das Erste ist die H a n d l u n g , diese verknüpfen wir mit einer Eigenschaft. Zuerst entsteht das Wort für die Handlung, von da das Wort für die Qualität. Dies Verhältniß übertragen auf alle Dinge ist C a u s a l i t ä t .
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Zuerst „sehen", dann „Gesicht". Das „Sehende" gilt als Ursache des „Sehens".372) — Auch Kant hält am traditionellen Begriff der Wahrheit fest: sie sei „Ubereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande", heißt es in der „Kritik der reinen Vernunft" 373 . In seiner Lehre des transzendentalen Phänomenalismus, nach welcher die Gegenstände von einer überindividuellen Funktion im individuellen Geist für diesen aus den Empfindungen eines „Ding an sich" originaliter erzeugt werden, bedeutet dies: Ubereinstimmung der individuellen mit der überindividuellen Vorstellung. Dasjenige, was an der subjektiven Vorstellung notwendig und allgemeingültig, nämlich gegenstandskonstitutiv ist, heißt objektiv und wahr. Daß auch diese Bestimmung der Wahrheit aus dem Verständnis der Wahrheit als Gewißheit erwächst, zeigt sich darin, daß der tiefste Grund jener überindividuellen Organisation von der transzendentalen Apperzeption, dem reinen Selbstbewußtsein, gebildet wird, welches als der in allem gleichbleibende Akt „ich denke" nicht nur alle Vorstellungen begleitet, sondern überhaupt erst ermöglicht. Den alten metaphysischen Begründungsversuch für die Wahrheit hat die „Kritik der reinen Vernunft" indes aufgegeben. Gleichwohl ist das Wahrheitsgefüge, wie Thomas von Aquin es gelehrt hat, auf den ersten Blick noch erkennbar. Denn wenn Kant in seiner Kritik der reinen theoretischen, endlichen Vernunft bewußt alle jene Bezüge zu solchem ausklammert, was diese Vernunft transzendiert, dann unternimmt er dennoch, um diese Endlichkeit positiv auszulegen, eine Abgrenzung gegen den unendlichen göttlichen Verstand. Und dieser Kantische intuitus originarius, welcher als Limes-Begriff fungiert, ist dem intellectus divinus des Thomas von Aquin vergleichbar: Seine Anschauung, welche nicht mehr wie die des Menschen bloß als sinnlich-rezeptiv, sondern als spontan zu denken ist, soll nicht nur Erscheinungen, sondern Dinge an sich erzeugen. Des weiteren wird der Begriff Gottes in der „Kritik der reinen Vernunft" als „Idee" gefaßt, als notwendiger Vernunftbegriff, „dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann" (B 384); d. h. als regulatives Prinzip der Vernunft, welches Einheit in die Betrachtung der Natur bringt, insofern es lehrt, „alle Verbindung in der Welt so anzusehen, a l s o b sie aus einer allgenugsamen notwendigen Ursache entspränge" (B 647). Gott erscheint hier als ein reiner Leitbegriff der innerweltlichen Forschung. Daß er für Kant dennoch mehr ist, deutet bereits das Vorwort der „Kritik der reinen Vernunft" an, das die Verbindung zur „Kritik der praktischen Vernunft" aufzeigt:
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Ich kann also G o t t , F r e i h e i t und U n s t e r b l i c h k e i t [laut Kant die drei Ideen der Metaphysik] zum Behuf des notwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal a n n e h m e n , wenn ich nicht der spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwenglicher Einsichten b e n e h m e . Und rückblickend bestimmt er ebendort (B XXIXf.) als eine der Aufgaben, die er sich mit „Kritik der reinen V e r n u n f t " gesetzt hatte: Ich mußte also das W i s s e n aufheben, um zum G l a u b e n Platz zu bekommen — ein Satz, den Nietzsche vielerorts bedacht hat 374 und auf den sich seine Einschätzung Kants als „eines h i n t e r l i s t i g e n Christen zu guterletzt" 3 7 5 gründet. Denn wenn laut Kant „ f ü r das Dasein des Urwesens, als einer Gottheit, [ . . . ] schlechterdings kein Beweis in theoretischer Absicht [ . . . ] für die menschliche Vernunft möglich" (Kr. d.U., Β 453), es bloß denkbar ist, kommt ihm „objektive Realität" (Kr. d. pr. V., A 242) im Sinne eines jener Postulate der reinen praktischen Vernunft zu, welches diese „zur Möglichkeit ihres, und zwar praktisch-schlechthin notwendigen, Objekts des höchsten Guts [der Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit] 376 unvermeidlich bedarf" — weswegen „die theoretische dadurch berechtigt wird, sie vorauszusetzen" (Kr. d. pr. V., A 242). Wohl kommt Gott als , , r e i n e [ m ] p r a k t i s c h e [ n ] V e r n u n f t g l a u b e [ n ] " (Kr.d.pr.V., A 263) der Charakter eines „theoretisch unzureichende[n]" (Kr. d. r. V., Β 851) „Fürwahrhaltens in moralischer Absicht" ( K r . d . p r . V . , A 263) zu, doch ist dabei ausdrücklich hervorzuheben, daß „dieses Fürwahrhalten [ . . . ] dem Grade nach keinem Wissen nachsteht, ob es gleich der Art nach davon völlig unterschieden ist" 377 , ist doch „jener Glaube in einer praktisch-wohlgegründeten, theoretisch aber unwiderleglichen Voraussetzung völlig gesichert" 378 . Und so kann man mit gewisser Berechtigung sagen, daß dieser „moralische [ . . . ] Glaube" (Kr. d . U . , Β 459) an einen Gott als den „Schöpfer der Naturdinge" und „Urheber aller Naturgesetze" ( K r . d . p r . V . , A 203), an diesen — im Hinblick auf das moralische Gesetz gesprochen — „Gott in uns" 379 , auch die Grundlage der „Kritik der reinen V e r n u n f t " prägt: Die theoretische Lehre vom Ding an sich ist getragen von diesem aus dem praktischen Leben erwachsenden Glauben an einen Gott, welcher die Gegenstände an sich erschafft, indem er sie erschaut. N u r so scheint es, folgt man Nietzsche (siehe unsere Ausführungen auf S. 10), erklärlich zu sein, daß Kant von der theoretischen Konsequenz, wonach es f ü r unser Wissen nur Vorstellungen mit ihren immanenten begrifflichen Beziehungen gibt, abweicht und ein Stück weit jenem naiven Realismus folgt, f ü r den nichts gewisser ist als die Existenz von Dingen an sich außerhalb der Vorstellung. Dieser Glaube an den alten Garanten der Sachund Satzwahrheit verhindert so den Sturz ins Nichts: daß es nämlich
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überhaupt und an sich nichts weiter gibt als unsere Vorstellungen — und damit die Gefahr skeptischer Hoffnungslosigkeit, welche Kant, ebenso wie den dogmatischen Trotz, für den „ T o d einer gesunden Philosophie" (Kr. d. r. V., Β 434) hält. 380 Es ist dies indes eine Gefahr, die, wiederum Nietzsches Ausführungen in der „Morgenröthe" zufolge, dieser Glaube selber allererst heraufbeschworen hat: Nietzsches Ansicht nach mußte Kant darum eine Kluft zwischen den Formen des menschlichen Geistes und der „wirklichen" Welt voraussetzen, weil er davon überzeugt war, daß der Mensch Bürger zweier Welten und die gesamte sinnliche Welt eine inkongruente Erscheinungsform der übersinnlichen Welt der Zwecke ist: um Raum für s e i n „moralisches Reich" zu schaffen, sah er sich genöthigt, eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches „Jenseits", — dazu eben hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nöthig! Anders ausgedrückt: e r h ä t t e s i e n i c h t n ö t h i g g e h a b t , w e n n ihm nicht Eins wichtiger als Alles gewesen wäre, das „moralische Reich" unangreifbar, lieber noch ungreifbar für die Vernunft zu machen, — er empfand eben die Angreifbarkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von Seiten der Vernunft zu stark!
Und im „Antichrist" bemerkt er, wie wir ebenfalls bereits gehört haben: V e r f a l l e i n e s G o t t e s : Gott ward „Ding an sich"... „Verfall" — das besagt aber auch, daß die „Kritik der reinen V e r n u n f t " in entgegengesetzter Sichtweise — vor allem dann nämlich, wenn sie für sich betrachtet wird — einen bedeutenden Schritt der Philosophie auf dem Wege ihrer Ablösung von der Theologie, will sagen: von der Metaphysik 381 darstellt — nicht zuletzt beruft sich Nietzsche selbst in seiner Kritik an der Möglichkeit von Metaphysik auf Kant 382 . Gleichwohl ist Gott für Kant noch „notwendig" — als Begriff sowohl der theoretischen wie der praktischen Vernunft, deren „Funktionieren" er ermöglicht. Erst Nietzsches W o r t des „ G o t t ist tot" 3 8 3 gibt dem göttlichen „Ding an sich" den Todesstoß. 384 Was aber geschieht mit dem Gefüge der Wahrheit, wenn Gott als Garant desselben verabschiedet wird, wie dies — wir erinnern uns — bereits beim jungen Nietzsche zu beobachten ist? In einer im Zeitraum von Ende 1870—April 1871 entstandenen Fragmentpassage 385 , in der Nietzsche das Wesen wissenschaftlicher Weltverhaltung und Welterkenntnis im Hinblick auf die Anfänge griechischer Wissenschaft bei den Vorplatonikern bedenkt, finden sich folgende Ausführungen: Wir haben uns hier zu erinnern, daß der Intellekt nur ein Organ des Willens ist und somit in allem seinem Wirken auf das Dasein, mit nothwendiger Gier, hindrängt und daß es sich bei seinem Ziele nur um verschiedene Formen des Daseins, nie aber um die Frage nach Sein oder Nichtsein handeln kann. Für den Intellekt giebt es kein Nichts als Ziel, somit auch keine absolute Erkenntniß, weil diese dem Sein gegenüber ein
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Nichtsein wäre. Das Leben unterstützen — zum Leben verführen, ist demnach die jeder Erkenntniß zu Grunde liegende Absicht, das unlogische Element, welches als der Vater jeder Erkenntniß auch die Grenzen derselben bestimmt.
Der Intellekt, jenes, was dem Menschen „Erkenntniß" vermittelt, ist ein ο ρ γ α ν ο ν — an anderer Stelle 386 spricht Nietzsche von μ η χ α ν ή —, ein Werkzeug des „Willens", der sich mit seiner Hilfe als „Wille zum Leben" ins Werk setzt. (Nietzsche knüpft hier — wie in seiner Frühzeit überhaupt — an Schopenhauers Willenskonzeption an. 387 ) Als solcherweise Gehandhabtes aber kann der Intellekt nur das Leben wollen: „mit nothwendiger Gier" drängt er zu ihm hin, d. h. die Möglichkeit einer Wahl seines Zieles besteht für den Intellekt — und damit für den Menschen — in der Weise nicht, daß er das „Nichts" nicht wählen kann. 388 Dieses „Nichts" soll nun das Alles der „absoluten Erkenntnis" sein, und zwar darum, „weil diese dem Sein gegenüber ein Nichtsein wäre". Wie kann aber die größte Fülle die größte Leere sein? Und was heißt hier überhaupt „Nichtsein"? Unter „Sein" versteht Nietzsche „Leben" oder „Dasein" im Sinne des endlichen menschlichen Seins, zu dessen Charakter das Möglichsein gehört. Endliches menschliches Sein ist Sein bestimmter Möglichkeiten unter Ausschluß aller anderen; doch ist es solches nur so lange, wie die Möglichkeit der schlechthinnigen Unmöglichkeit nicht ist bzw. noch aussteht. Diese Möglichkeit der schlechthinnigen Unmöglichkeit kann T o d , aber auch „absolute Erkenntniß" genannt werden — beides ist die Grenze der Endlichkeit. Die „absolute Erkenntniß", weil sie keine Perspektive und keinen Horizont, nämlich keinen Gesichtspunkt mehr kennt, von dem her und auf den hin das Endliche seit Descartes und Leibniz gedacht wird. Menschliches Leben ist Fortschreiten von Möglichkeit zu Möglichkeit, weswegen der Intellekt das Ziel, auf das hin er angelegt sein mag, das Ziel absoluter Erkenntnis, notwendigerweise zu verfehlen hat, um sein zu können, d. h. Leben zu haben. Diese Tatsache sei, so fährt Nietzsche fort, das „jeder Erkenntniß zu Grunde liegende [ . . . ] unlogische Element". Zwischen Logik und Leben besteht somit ein Widerspruch. Es gibt, so notiert Nietzsche an anderer Stelle 389 , ,,[n]othwendige Widersprüche im Denken, um leben zu können." Kurze Zeit später äußert er diesen Gedanken in der Form des Verdachts, „daß die Dinge und das Denken mit einander nicht adäquat sind. In der Logik nämlich herrscht der Satz des Widerspruches, der v i e l l e i c h t nicht bei den Dingen gilt, die Verschiedenes, Entgegengesetztes s i n d . " 3 9 0 Nietzsche sagt „vielleicht" und geht doch davon aus, daß es Wahrheit im Sinne der adaequatio von Sache und Intellekt nicht gibt, daß Übereinstimmung, όμοίωσις, einer Aussage, λόγος, mit einer Sache, π ρ α γ μ α , nicht möglich ist, weil er, im
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Unterschied zu Goethe beispielsweise, die Meinung hegt, daß die Gesetze des Denkens, des Logos, andere als die der „Sachen", der Sache(n) des „Lebens", sind. Martin Heidegger hat in „Sein und Zeit", § 7Β „ D e r Begriff des Logos" 391 , als Grundbedeutung des λόγος, die Rede im Sinne der
άπόφανσις 392 herausgearbeitet: In der Rede (άπόφανσις) soll, wofern sie echt ist, das, was geredet ist, aus dem, worüber geredet wird, geschöpft sein, so daß die redende Mitteilung in ihrem Gesagten das, worüber sie redet, offenbar und so dem anderen zugänglich macht. (Wobei Heidegger zu bedenken gibt, daß, wenn „der λόγος ein bestimmter Modus des Sehenlassens ist", er „gerade nicht als der primäre ,Ort' der Wahrheit angesprochen werden [darf]": „Im reinsten und ursprünglichsten Sinne ,wahr' — d. h. nur entdeckend, so daß es nie verdecken kann, ist das reine ν ο ε ΐ ν , das schlicht hinsehende Vernehmen der einfachsten Seinsbestimmungen des Seienden als solchen." 393 ) Und weil „die Funktion des λόγος im schlichten Sehenlassen von etwas liegt, im Vernehmenlassen des Seienden" 394 , darum könne er als Vernunft aufgefaßt werden. Für Nietzsche jedoch ist der Logos, die Vernunft, die Rede, nicht entdeckend, sondern verdeckend: Indem er sie sehen lassen, sie in die Unverborgenheit tw-stellen will, verhüllt er die „Dinge", genauer: verhüllt er das, was eigentlich „ist" — vermutlich zumindest 395 —, das Werden, weil er es vor -stellt in seinem Be-griff des Seins. Nietzsches H o h n über diesen Begriff haben wir bereits vernommen: Als ob der nicht den ärmlichsten empirischen Ursprung bereits in der Etymologie des Wortes aufzeigte! Denn esse heißt ja im Grunde nur „athmen": wenn es der Mensch von allen anderen Dingen gebraucht, so überträgt er die Uberzeugung, daß er selbst athmet und lebt, durch eine Metapher, das heißt durch etwas Unlogisches, auf die anderen Dinge und begreift ihre Existenz als ein Athmen nach menschlicher Analogie. Unlogisch ist diese Übertragung — das griechische W o r t dafür ist μεταφορά, das lateinische translatio — deshalb, weil sie, laut Nietzsche, gerade nicht aus dem geschöpft ist, worüber der Redende zu reden, der Vernehmenlassende vernehmen zu lassen vorgibt, sondern aus dem Redenden, dem Vernehmenlassenden selbst. Solches aber ereignet sich nicht zufällig und ausnahmsweise mit diesem einen Begriff, vielmehr geschieht es, da der Begriff „Sein" insofern der Grundbegriff schlechthin ist, als ein jeder Begriff sagt: „etwas ist etwas" — d. h. ein „Sein" dessen voraussetzt, was er begreift — im Falle aller Begriffe. So ist denn jene Passage auch Bestandteil jenes Widerlegungsversuches, den Nietzsche gegen die oberste Denkvoraussetzung der Ontologie unternimmt, gegen den Satz des Parmenides nämlich, daß Denken und Sein ein und dasselbe sind. 396 . In Nietzsches Perspektive kann der Begriff „Sein" bestenfalls als „Hilfsbegriff" aufgefaßt werden, der
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— vergleichbar etwa dem Kantischen „ D i n g an sich" — bezeichnen soll, was „ a n sich", d. h. außerhalb des vorstellenden Denkens „ i s t " . In einer N o t i z vom September 1870—Januar 1871 heißt es: D e n k e n und Sein sind keinesfalls dasselbe. D a s D e n k e n muß u n f ä h i g sein, d e m Sein zu nahen und es zu packen. 3 9 7
Ebenwas Nietzsche, wie wir teilweise schon gehört haben, in der Schrift über die Vorplatoniker wie folgt erläutert: D i e W o r t e sind nur S y m b o l e f ü r die Relationen der D i n g e unter einander und zu uns und berühren nirgends die absolute Wahrheit: und g a r das W o r t „ S e i n " bezeichnet nur die allgemeinste Relation, die alle D i n g e v e r k n ü p f t , ebenso wie das W o r t „ N i c h t s e i n " . Ist aber die Existenz der D i n g e selbst nicht nachzuweisen, so wird die Relation der D i n g e unter einander, das s o g e n a n n t e „ S e i n " und „ N i c h t s e i n " uns auch keinen Schritt d e m L a n d e der Wahrheit näher bringen können. D u r c h W o r t e und B e g r i f f e werden wir nie hinter die W a n d der Relationen, etwa in irgend einen fabelhaften U r g r u n d der D i n g e , g e l a n g e n und selbst in den reinen F o r m e n der Sinnlichkeit und des V e r s t a n d e s , in R a u m Zeit und K a u s a l i t ä t gewinnen wir nichts, w a s einer Veritas aeterna ähnlich sähe. Es ist unbedingt f ü r das S u b j e k t unmöglich, über sich selbst hinaus etwas sehen und erkennen zu wollen, so unmöglich daß E r k e n n e n und Sein die sich widersprechendsten aller S p h ä r e n sind. U n d wenn P a r m e n i d e s , in der unbelehrten N a i v e t ä t der d a m a l i g e n Kritik des Intellekts, wähnen durfte, aus dem ewig subjektiven Begriff zu einem An-sich-sein zu k o m m e n , so ist es heute, nach K a n t , eine kecke I g n o r a n z 3 9 8 .
Nietzsches Kritik an Parmenides und damit an Ontologie und Metaphysik überhaupt ist mithin in seinem Verständnis der Kantischen Philosophie begründet, die er nicht „ K a n t i s c h " dahingehend auslegt, daß sie die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis herausgearbeitet hat, sondern sie vielmehr so interpretiert, als wäre von ihr, die sie doch am traditionellen Begriff der Wahrheit festhält, die Unmöglichkeit menschlicher Erkenntnis im Sinne der adaequatio erwiesen worden: Eine solche von ihm von vornherein — und ebendann findet sich die Differenz zu Kant beschlossen — als „absolute Wahrheit" ausgelegte Übereinstimmung läge für ihn nur dann vor, wenn der Mensch das „ D i n g an sich" erkennen könnte, will sagen: wenn er sich an einen die Relativität seines Standpunktes übersteigenden absoluten Bereich anmessen könnte — nach Kant ein absurder Gedanke: V e r z w e i f l u n g an der Wahrheit. D i e s e G e f a h r begleitet jeden D e n k e r , welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen W e g nimmt,
heißt es in der 3. Unzeitgemässen Betrachtung „Schopenhauer als Erzieher" 3 9 9 , in die laut „ E c c o h o m o " 4 0 0 Nietzsches „innerste Geschichte, [s]ein W e r d e n eingeschrieben" ist. (Somit gilt für Nietzsche selbst, was er in seinem Dissertationsprojekt Kant zuspricht: „ E s fällt Kant sehr schwer
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sich in fremde Philosophem(e) zu versetzen: was für einen originellen Denker sehr charakteristisch ist." 401 ) Mithin sieht Nietzsche durch Kants Kritizismus seine anfängliche Überzeugung, die metaphysische Voraussetzung, bestätigt, „daß zwischen der Unendlichkeit des Lebens und seiner konkreten Wirklichkeit einerseits und der Begrenztheit des Verstandes andererseits eine unüberbrückbare Diskrepanz besteht" 402 , eine Überzeugung, die wir in jenem „allgemeinen Grundsatz" ausgesprochen fanden, daß „alles, was dem Menschen entgegentritt, nur unter dem Gesichtspunkt seiner geistigen Begabung aufgefaßt werden kann." 4 0 3 Im Vorwort seiner im Sommer 1871 gehaltenen Vorlesung „Einleitung in das Studium der classischen Philosophie" 404 bedenkt Nietzsche dies am Beispiel des historischen Verstehens wie folgt: Das historische Verständniss ist nichts anderes als das Begreifen bestimmter Thatsachen unter philosophischen Voraussetzungen. Die Höhe der Voraussetzungen bestimmt den Werth des historischen Verständnisses. Denn eine Thatsache ist etwas Unendliches, nie völlig Reproducirbares. Es giebt nur Grade des historischen Verständnisses. Eine historische Tatsache ist etwas Unendliches — das meint, sie hat — wie ein Individuum oder ein Organismus (siehe S. 14) — an sich selbst keine „Einheit", will sagen: sie hat potentiell unendlich viele Aspekte, die von jeweils unterschiedlichen Gesichtspunkten hervorgebracht werden, so daß die vom Historiker interpretierte Tatsache in Nietzsches Sicht Tat-sache, factum, seines endlichen Gesichtsfeldes ist. Mit diesem Ansatz aber steht Nietzsche in der neuzeitlichen Überlieferung, die den menschlichen Logos — im Unterschied zu den Griechen — als im Subjekt gegründete perspektivisch-horizonthafte, d. h. ineins enthüllende und verhüllende (darin klingt die griechische άλήθεια nach), Re-präsentation denkt, die das Vor-gestellte allererst her-stellt. Wenn die neuzeitliche Überlieferung gleichwohl daran festhalten konnte, daß dem Menschen Wahrheit im Sinne der adaequatio zugänglich ist, Nietzsches Mensch hingegen überall nur Metamorphosen Verkleidungen Maskeraden405
zu erblicken vermag, dann erreicht darin jene N o t ihren Gipfelpunkt, die zum erstenmal bei Descartes aufblitzte, nämlich die N o t des zur selbst-bezogenen Bezugsmitte der Welt gewordenen Menschen der Neuzeit, des Subjekts, eines selbständigen Bürgen für die Richtigkeit (rectitudo gleich adaequatio), d. h. für die Angemessenheit und f ü r die Gültigkeit seiner Vorstellungen entbehren zu müssen — eine Not, die indes für lange Zeit mit Hilfe jenes von Descartes heraufbeschworenen deus ex machina unterdrückt werden konnte. Noch bei Kant steht er — verdeckt — dafür ein, daß dem menschlichen Erkenntnisvermögen Wahrheit zugänglich ist: als gottgeschaffenes ist es in die Wahrheit gesetzt. So faßt Kant den menschlichen Intellekt als ewig auf: In ihrer „Relativität" sind die apriorischen Strukturen
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absolut, für die Menschen aller Zeiten und Örter gültig. Liest man jedoch seine Philosophie, wie Nietzsche das tut, im Hinblick auf die Darwinsche „ L e h r e [ . . . ] vom souverainen Werden, von der Flüssigkeit aller [ . . . ] Arten, von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier" 4 0 6 , dann geht daraus der Gedanke hervor, daß unsere „Wahrheiten" nichts anderes als Behauptungen sind, die in der Weise „funktionieren", daß sie uns das Uberleben ermöglichen. Zunächst und vor allem aber die höchste Wahrheit, als welche alle übrigen Wahrheiten garantiert: Gott, den ja bereits Kant als bloßes, doch notwendiges Postulat der praktischen Vernunft erwiesen hatte, ohne daß sich ihm der Schluß aufdrängte — und ebendies belegt, daß er gläubig Gott voraussetzte —, der Gedanke Gottes sei nur in einer Eigentümlichkeit unserer Natur begründet. Nietzsche hingegen kennt ein solches übersinnliches „ A u ß e n " der Welt, eine über die menschliche Sphäre hinausreichende und diese in irgendeiner Weise mit den Objekten vermittelnde Transzendenz nur noch in Form einer Leerstelle. Sowohl jenes „Prinzip" des „Willens zum Leben", um das sein frühes Denken kreist, als auch jenes Quale 407 des „Willens zur Macht", das im Mittelpunkt seines späteren Denkens steht, beide sind ein reines „ I n n e n " dieser Sphäre 408 , das alles, eingeschlossen sich selbst, f ü r sich selbst hervorbringt. Es ist relativ zu sich selbst, reine Bewegung in sich ohne jeglichen Bezug zu einem Ansich, d. h. zu einem Absoluten als Garanten einer (absoluten) Wahrheit. Derweise aber ist es selber ebenfalls nicht wahr. Auch für Nietzsche und sein Denken gilt, was er von den Menschen allgemein sagt: Sie sind tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr A u g e gleitet nur auf der Oberfläche der D i n g e herum und sieht „ F o r m e n " , ihre E m p f i n d u n g führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich R e i z e z u e m p f a n g e n und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem R ü c k e n der D i n g e z u spielen.
So heißt es in der Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 409 , die — wie wir anläßlich einer eingehenden Interpretation zeigen werden —, wie alle Texte Nietzsches das ist, wovon sie spricht: Illusion. Aber weil Nietzsches Texte das auch wissen und einbekennen, darum sind sie weniger Illusion als andere: Solange seine Philosophie einer bloßen Umdrehung des Piatonismus verhaftet bleibt, treten in ihr an die Stelle der Wahrheit — wie es im 34. Aphorismus von „Jenseits von Gut und Böse" lautet — „Stufen der Scheinbarkeit" 410 . (Die „ H e r a u s d r e h u n g " aus dem Piatonismus liegt dann darin beschlossen, daß Nietzsche schließlich, in dem Aphorismus „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel w u r d e " aus der „Götzen-Dämmerung", die Scheinbarkeit nicht mehr im Gegensatz zur
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überkommenen Wahrheit denkt, diese Opposition vielmehr zu überwinden sucht.) Daß die Annahme von „Stufen der Scheinbarkeit" einer Zeit angehört, „ w o wir dafür b e z a h l e n müssen, zwei Jahrtausende lang C h r i s t e n gewesen zu sein", weil wir mit dem Tode Gottes, d . h . für Nietzsche: mit dem Ende der Metaphysik, „das S c h w e r g e w i c h t [verlieren], das uns leben ließ" 411 , das geht mit jener höchsten Luzidität, die Nietzsche erst in den Achtzigerjahren zu Gebote stand, aus einem Nachlaßfragment vom Herbst 1885—Herbst 1886 hervor»?: Inwiefern die Dialektik und der Glaube an die V e r n u n f t n o c h auf moralischen Vorurtheilen ruht. Bei Plato sind wir als einstmalige B e w o h n e r einer intelligibelen W e l t des G u t e n n o c h im Besitz eines Vermächtnisses jener Zeit: die göttliche Dialektik, als aus d e m Guten stammend, führt z u allem Guten (— also gleichsam „ z u r ü c k " — ) A u c h Descartes hatte einen Begriff davon, daß in einer christlich-moralischen Grunddenkweise, w e l c h e an einen g u t e n G o t t als Schöpfer der D i n g e glaubt, die Wahrhaftigkeit Gottes erst uns unsre Sinnesurtheile v e r b ü r g t . Abseits v o n einer religiösen Sanktion und V e r b ü r g u n g unsrer Sinne und Vernünftigkeit — w o h e r sollten wir ein Recht auf Vertrauen g e g e n das D a s e i n haben! D a ß das D e n k e n gar ein Maaß des Wirklichen sei, — daß w a s nicht gedacht w e r d e n kann, nicht i s t , — ist ein plumpes n o n plus ultra einer moralistischen Vertrauens-seligkeit (auf ein essentielles WahrheitsPrincip im Grund der D i n g e ) , an sich eine tolle Behauptung, der unsre Erfahrung in jedem Augenblicke widerspricht. W i r k ö n n e n gerade gar nichts denken, in w i e f e r n es i s t . . .
Wie wir bereits ausgeführt haben, ist das Denken auf das Sein des Seienden metaphysisch und die Metaphysik gleichzeitig theologisch in jenem Sinne, daß die „Ur-sache" des Seienden, das Seiendste des Seienden, als Gott ausgelegt wird. Für Piaton ist diese Ursache die ίδέα τοΟ ά γ α θ ο ϋ , die „Idee des Guten", welche indes nicht nur als Idee aller das Sein des Seienden ausmachenden Ideen der Ursprung aller Sachen und ihrer Sachheit ist — sie im Gepräge ihres Aussehens hält —, sondern darüber hinaus auch den Bezug zwischen dem erkennenden Menschen und seinem Erkannten in der Weise ermöglicht, daß der Mensch ihrer als „einstmaliger Bewohner" des übersinnlichen Reiches dieser Ideen teilhaftig geworden ist und sich ihm darum in ihrem Licht jedes einzelne Seiende als dieses und jenes zu zeigen vermag. Nietzsche deutet indes die Bezeichnung τ ο ά γ α θ ο ν , darauf haben schon Heidegger und Fink hingewiesen, 413 ungriechisch, nämlich neuzeitlich-moralisch: danach projiziert der Mensch seinen moralischen Trieb zur Wahrheit außer sich als metaphysische Welt, weil er derweise das Leben eher zu bewältigen glaubt. Der Mensch hegt nämlich Nietzsche zufolge die
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„moralische Überzeugung von der N o t w e n d i g k e i t einer festen Convention, wenn eine menschliche Gesellschaft existiren soll." 414 Der gute Mensch will nun auch wahr sein und glaubt an die Wahrheit aller Dinge. Nicht nur der Societät, sondern der Welt. Somit auch an die Ergründbarkeit. Denn weshalb sollte die Welt ihn täuschen? Also er überträgt seinen Hang auf die Welt und glaubt, daß auch die Welt wahr gegen ihn sein muß. 4 1 5
„ D e r Philosoph sucht" darum „Wahrheit, die b l e i b t ," 416 Indem er nun ein Wahrheit verbürgendes Prinzip μετά τ ά φ υ σ ι κ ά glaubt, befestigt er des sichernden Vor-stellens Gegen-stand gegen das reine Werden, d. h. gegen das, als was sich Nietzsche die Welt in ihrer tiefsten Schicht erweist. Nun, da das wahrheitsverbürgende Prinzip aus Liebe zur Wahrheit als Machwerk entlarvt ist — die Wahrheit schafft sich selbst ab —, 417 steht nichts mehr auf festen Füßen: Es gibt keinen der Zeit und damit der Vergänglichkeit entrückten O r t mehr, durch den die adaequatio von Denken und Sein garantiert wird, so zwar, daß er diese adaequatio ist. Darum vermag Nietzsches Mensch überall nur „Metamorphosen Verkleidungen Maskeraden", d. h. beständiges Werden sowie Schein und Illusion zu erkennen: Mit Gott ist für Nietzsche jene metaphysische Instanz entschwunden, die die Dinge bei allem — monadologischen oder willensmäßigen — Wandel doch in der Weise im Gepräge ihres Aussehens zu halten vermochte, daß es dieses und damit den von Sein und Seiendem kündenden Augenschein verbürgte. Jetzt aber erweist sich dieser gegenüber dem Werden, welches uns empirisch gesehen in der — nun nicht mehr als vorläufig und unvollkommen begriffenen (siehe Seite 30) — Schicht des Flusses der bloßen Empfindung in der Zeit zugänglich ist, als höherer Schein. Denn auch das Werden ist keine Wahrheit, sondern nur eine — obzwar tiefere — Scheinbarkeit: Wie das Adjektiv „ w a h r " selber sagt, gibt es Wahrheit nur dort, wo man vertrauen kann, wo etwas vertrauenswert ist: „wahr", mittel- wie auch althochdeutsch war, gehört zusammen mit den urverwandten Worten lateinisch verus „ w a h r " und altirisch flr „ w a h r " im Sinne von „vertrauenswert" zu der indogermanischen Wurzel *uer- „Gunst, Freundlichkeit [erweisen]". Jetzt, da sich zeigt: μετά τ ά φ υ σ ι κ ά ist nichts, offenbart sich, was die Metaphysik und die von ihr bestimmte Geschichte des Abendlandes in ihrem Wesen gewesen ist: Mißtrauen zur Welt, zur φύσις. N u r unter Bezugnahme auf einen die Welt begründenden transzendenten, übersinnlichen Grund, der dieser ihre Un-heimlichkeit nehmen sollte, vermochten die Menschen ihr In-der-Welt-Sein zu ertragen. Da sich dieser Grund nunmehr als Nichts erweist, verdrängt eben nichts mehr diese in der langen Verborgenheit vielleicht noch gewachsene Unheimlichkeit.
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W o h e r sollten wir jetzt noch ein Recht auf Vertrauen gegen das Dasein haben?, fragt deshalb Nietzsche, der seine Forderung nach Uberwindung der Metaphysik im Zarathustra in die Formel faßt: „Bleibt der Erde treu!" Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß auch „ t r e u " mit „trauen" verwandt ist — und melden nach den obigen Ausführungen verstärkten Zweifel daran an, ob Nietzsches Denken und Dichten in dieser, seiner eigenen Hinsicht die Metaphysik wirklich überwindet. Daß seine Philosophie auch und gerade hier eben nur ein umgedrehter Piatonismus und damit immer noch ein Piatonismus ist, äußert sich darin, daß in ihr Denken und Dichten immer noch gewohnt bleiben, einen transzendenten Zeugen für die Wahrheit anzurufen, so daß sie nun, da sie selber für ihre Wahrheit einstehen müssen — selber O r t nicht mehr einer Repräsentation, sondern unmittelbare Präsentation der Wahrheit zu sein haben —, überall nur Schein zu erblicken vermögen. Rückschlag v o n „ G o t t ist die Wahrheit" in den fanatischen Glauben „Alles ist falsch".,
bemerkt Nietzsche selber in einer Aufzeichnung vom Herbst 1885— Herbst 1886 418 : Bei ihm bleibt der Mensch, um in dem von Schopenhauer erwähnten Bilde des Platonischen Höhlengleichnisses zu sprechen, mit dem Kopf zur W a n d gefesselt. Keine göttliche „ F ü g u n g " (θεία μοίρα) 4 1 9 gewährt ihm den W e g der Befreiung hinaus und hinauf bis hin zur Sichtsamkeit der Sonne selber — denn Gott ist tot, will sagen: es „gibt" keine Sonne mehr für den Menschen. Zwar glaubt er eine Lichtquelle in seinem Rücken zu erahnen, doch nur von den wechselnden Erscheinungen an der Höhlenwand, den Schatten, her — die als Schatten zu deuten, ihn indes allein, so Nietzsche, die Überlieferung anhält. Konnte nach Goethes Ansicht der Mensch noch ungefähr an die Stelle gelangen, wo bei Piaton der Entfesselte die Abbilder und Spiegelungen der Dinge und Menschen im Wasser sieht, so bleibt der Mensch Nietzsches einzig auf die Erscheinungen an der Höhlenwand verwiesen. Und wenn Goethe die Resignation beim Abglanz darum nicht schwerfiel, weil — wie der Titel „Abglanz" schon sagt — dessen Farben als Schattiges in sich das ewige Licht bewahren und es ahnen lassen 420 , so fällt Nietzsche eine solche Bejahung — seine Formel des „amor fati" verrät es — sehr viel schwerer: Er sucht das „Licht", von dem die Uberlieferung kündet, und kann es doch nicht mehr finden. N u r von „innen", nur vom Reflex an der Innenseite der Höhle her vermag er das Leben auszulegen — ebendeshalb bezeichnet Nietzsche seine Weltdeutungen als „Illusion", damit zum Ausdruck bringend, daß er immer noch in Bezug auf ein „ A u ß e n " denkt, obwohl er es, wie gesehen, für undenkbar hält.
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Das gilt schon, wie wir noch zeigen werden, für die „Artisten-Metaphysik" der „Geburt der Tragödie". Auch sie gibt sich, indes nur bei genauer Lektüre, als eine Auslegung der Welt „von innen her" zu erkennen. Nietzsche selber hat darauf in seiner Interpretation des Grundansatzes der Schrift vom Herbst 1885—Herbst 18 8 6 4 2 1 hingewiesen: Das Werden, von innen her empfunden und ausgelegt, wäre das fortwährende Schaffen eines Unbefriedigten, Überreichen, Unendlich-Gespannten und -Gedrängten, eines Gottes, der die Qual des Seins nur durch beständiges Verwandeln und Wechseln überwindet: — der Schein als seine zeitweilige, in jedem Augenblick erreichte Erlösung; die Welt als die Abfolge göttlicher Visionen und Erlösungen im Scheine.
Gleiches gilt, wie aus einem zeitlich benachbarten Fragment vom August—September 18 8 5 4 2 2 hervorgeht, auch für den „Willen zur Macht". Nietzsche erklärt sich in dieser Aufzeichnung wie schon in der vorangehenden 423 gegen „gegen das Wort , E r s c h e i n u n g e n ' . " : N B . S c h e i n wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge [ . . . ] Ich setze also nicht „ S c h e i n " in Gegensatz zur „Realität" sondern nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginative „ W a h r h e i t s - W e l t " widersetzt. Ein bestimmter N a m e für diese Realität wäre „der Wille zur M a c h t " , nämlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus.
Doch erst in der „Götzen-Dämmerung" 4 2 9 zieht Nietzsche die Konsequenz aus seiner Erkenntnis, daß der Schein „die wirkliche und einzige Realität der Dinge" darstellt, erst dort beginnt er, sich aus dem Gefüge der Metaphysik herauszudrehen, erst dort schafft er mit der wahren auch die scheinbare Welt ab: Aus dem Jenseits von Gut und Böse wird — Nietzsches höchste und kaum noch denkbare Formel der Bejahung — ein Jenseits aller Oppositionssysteme: Es gibt kein Außen und kein Innen, kein Oben und Unten mehr, sondern nur noch die eine schattenlose Welt, die jetzt selber Quelle und Hort des Lichts darstellt. Nietzsches Bild für diese Herausdrehung aus dem Platonischen Höhlengleichnis ist der große Mittag des großen Pan: (Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrthums; Höhepunkt der Menschheit; I N C I P I T Z A R A T H U S T R A . ) ,
mit diesen Worten endet Nietzsches Aphorismus „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde." — Weil aber der nunmehr entschwundene Wahrheits-Zeuge bisher auch den Sinn des Seins überhaupt, nämlich den Sinn des Daseins wie auch des übrigen Seienden, verbürgt hat, darum ist mit seinem Verschwinden nunmehr alles „an sich" sinnlos geworden. Der Mensch hat derweise seinem Lebensvollzug selber einen Sinn zu geben, der gemessen an dem Sinn an sich
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der Überlieferung als ein bloßer Sinn für ihn nur ein scheinhafter Sinn sein kann: D a s s mein Leben keinen Z w e c k hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines Entstehens klar; dass ich einen Z w e c k mir setzen kann, ist etwas anderes.,
bemerkt Nietzsche im Zeitraum Sommer/Herbst 18 7 3.425 „So ist alles für den Menschen eigentlich nur Schein; etwas natürlich muß Wahrheit sein; die Erkenntniß dessen ist für uns nur Wahrscheinlichkeit.", hatte der 19jährige Nietzsche aus seinem an Kant orientierten erkenntnistheoretischen Grundsatz gefolgert, daß „alles, was dem Menschen entgegentritt, nur unter dem Gesichtspunkt seiner geistigen Begabung aufgefaßt werden kann." (Siehe Seite 7) Diese Folgerung meint jetzt: Insofern das den erkennenden „Menschen" umgreifende, über jedwede Möglichkeit endlicher Erkenntnis seiner selbst immer schon hinausgehende, weil potentiell unendliche „Leben", als welches in endlicher Perspektive fortwährendes Werden ist, in der vorstellenden Voraus-setzung durch den intellectus humanus eine mögliche Sinn-Gestalt seiner selbst in die Unverborgenheit (griechisch: ά-λήθεια) vorstellt und derweise sich sich selbst aufsteigernd vollzieht — wobei gesehen werden muß, daß es allein in solchen Gestalten wirklich ist — 426 , insofern scheint darin gleichwohl nicht, wie Heidegger vermeint, 427 die Wahrheit, vielmehr die tiefste für uns erreichbare Scheinbarkeit auf: das reine Werden, das reine Vollzugsgeschehen des Lebens. Blitzhaft — weil sich dieser leuchtende Aufschein der tiefsten Scheinbarkeit augenblicklich zum bloßen Anschein, damit zu einer höheren Scheinbarkeit verdüstert, wenn diese Möglichkeit selber — was unvermeidlich ist, soll sich das Leben vollziehen können 428 — als Wahrheit ergriffen wird, so zwar, daß der intellectus humanus, indem er sich an diese „seine" Voraussetzung anmißt, d. h. die adaequatio vollzieht, das Werden in einer bestimmten Möglichkeit festmacht und beständigt. (Bereits auf S. 8 haben wir darauf hingewiesen, daß schon für den ganz jungen Nietzsche „Erscheinung" eine Gemengelage von „Aufschein" und „Anschein" bedeutet). In dieser Weise leben die alten metaphysischen Bestimmungen des Wesens der Wahrheit, leben άλήθεια und adaequatio bei Nietzsche fort — nun allerdings, in konsequenter Umkehrung des Platonischen Denk-Gebäudes, im Rahmen eines in sich gestaffelten Schein-Gefüges. 429 „Wahrheiten sind Illusionen", bemerkt Nietzsche in seiner im folgenden zu besprechenden Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" 430 , weil Denken und Sein für ihn dasselbe sind — aber dies in ganz anderer Weise als Parmenides meinte: N u r dort nämlich, wo es dem Werden entzogenes, gleichwohl begreifbares Sein an sich gibt, kann es für Nietzsche Wahrheit, das meint für ihn nämlich: absolute Wahrheit geben — aber das uns zugängliche Sein ist nicht dem Werden entzogen, im Gegenteil: in ihm
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allein vollzieht sich untergründig das — niemals an sich vorhandene — W e r d e n . Das von uns als W a h r h e i t denkend vorgestellte Sein ist bloßer Anschein, in dem und an dem m o m e n t h a f t der tiefste Schein, das W e r d e n , aufscheint, als welches auch, im Abstoß von den gestalthaften Vorstellungen der Welt in jenem bloßen Fluß der dumpfen E m p f i n d u n g in der Zeit zugänglich ist, der indes zu solchen festen Gestalten gefügt werden muß, weil das „ L e b e n " zu seinem Vollzug auf Begreifbares, auf die Illusion des Seins mithin, angewiesen ist. U m fortschreiten zu können, muß es im eigenen Fortriß Halt gewinnen, muß es sich allererst selbst beständigen. So kann eine vorläufige Antwort auf die Frage lauten, w a r u m das reine W e r d e n der Illusion gefügter Einheiten bedarf, w a r u m der Glaube an Identitäten und damit an Logik f ü r uns nötig ist, w a r u m somit das „ , u n l o g i s c h e [ . . . ] C e n t r u m [ . . . ] ' der W e l t " , dessen Erkenntnis paradoxerweise das Logische „als Ziel" 4 3 1 hat, die Logik hervorbringt — denn Logik wie Wissenschaft sind als P r o d u k t e des Intellekts ebenfalls „eine μ η χ α ν ή des Willens" 4 3 2 . U n d weil die Frage nach der Logik die Frage nach der Sprache ist — „ D i e Logik ist nur die Sklaverei in den Banden der Sprache", bemerkt Nietzsche im S o m m e r / H e r b s t 18 7 3 433 —, da die E r z e u g u n g der Identität, das „Gleichsetzen des Nichtgleichen" 4 3 4 , seiner Ansicht nach im Begriff statthat — auch ist die G r u n d b e d e u t u n g von λ ό γ ο ς , wie erwähnt, „ R e d e " —, so hat dieses D e n k e n im Hinblick auf die Möglichkeit bzw., wie f ü r Nietzsche feststeht, auf die Unmöglichkeit der Ubereinstimmung von Sache und Erkenntnis und den gerade dadurch ermöglichten Vollzug des Werdens die Sprache und ihr Verhältnis zum Denken in die Frage zu stellen.
8. „ Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873) 45 Jahre vor Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus", im S o m m e r 1872/Anfang 1873, notiert Nietzsche: „ D e r Philosoph in den N e t z e n der S p r a c h e eingefangen." 4 3 5 D u r c h d a c h t hat er diese Kritik an der Metaphysik in seiner zurückgehaltenen Schrift „ U e b e r W a h r h e i t und Lüge im aussermoralischen Sinne" vom Juni 1873, deren „sprachphilosophische [ . . ·] V o r a u s s e t z u n g e n " Karl Schlechta zufolge „im ganzen späteren W e r k e [ . . . ] gültig geblieben sind." 436 Ebenso wie die u n g e f ä h r ein halbes Jahr f r ü h e r verfaßten Notizen f ü r Vorlesungen über Rhetorik 4 3 7 ist die Schrift „ U e b e r W a h r h e i t und Lüge im aussermoralischen Sinne" wesentlich von einem Buch eines mehr oder minder unbekannten zeitgenössischen Sprachwissenschaftlers beeinflußt w o r d e n , von dem 1. Band des schließlich zweibändigen Werkes „ D i e Sprache als Kunst", das von Gustav Gerber 4 3 8 verfaßt worden ist. (Der erste
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Band ist 1871 veröffentlicht worden, der zweite, von Nietzsche nicht mehr zur Kenntnis genommene Teil im Jahre 1874, gleich dem vorhergehenden in Bromberg.) So ergeben sich die teilweise bis in die wörtlichen Formulierungen hineinreichenden Ubereinstimmungen zwischen den Überlegungen von „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" und vor allem dem 3. Abschnitt („Verhältniss des Rhetorischen zur Sprache" 439 ) der Rhetorik-Aufzeichnungen, an dessen Ende im übrigen auf Gerbers Werk verwiesen wird 440 , im wesentlichen aus beiden Texten gemeinsamen Ubernahmen der Hauptpunkte von Gerbers Sprachphilosophie — das haben erst jüngst unabhängig voneinander Anthonie Meijers und Martin Stingelin herausgearbeitet 441 . Doch gilt in diesem Falle Ähnliches wie f ü r Nietzsches Verhältnis zu dem seinerzeit gleichfalls weitgehend unbekannten African Spir (siehe Seite 33) — wie im übrigen auch für die Beziehung zu Johann Carl Friedrich Zöllner, dessen Buch „Uber die Natur der Kometen, Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntnis" (vgl. S. 24) ebenfalls nicht ohne Einfluß auf den hier in Rede stehenden Aufsatz geblieben ist: Gerber konnte nur darum auf Nietzsche einen so großen Einfluß gewinnen, weil der Denker hier auf spachphilosophischem Felde seine eigene erkenntnistheoretische Grundposition entfaltet sah. Wie bei Lange steht nämlich auch bei Gerber die Auffassung im Mittelpunkt, daß die Welt immer eine Welt für uns ist: „des Menschen Geist und des Menschen Welt sind nicht der Geist und die Welt, sondern sein Geist und seine Welt; — aus dieser Welt kann er nicht heraus", lautet die erkenntnistheoretische Grundthese von „Die Sprache als Kunst" 4 4 2 , aus der sich dann die von Nietzsche aufgenommenen sprachphilosophischen Haupt-Thesen Gerbers über das am Nervenreiz-Modell aufgewiesene metaphorische Wesen der Sprache und deren ursprünglichen Kunstwerk-Charakter ergeben. Bildet aber jene erkenntnistheoretische Ubereinstimmung die Basis, den „ G r u n d " f ü r Nietzsches Übernahmen der Gerberschen Gedankengänge, so wird damit auch die Grenze einer Abhängigkeiten nachspürenden positivistischen Fragestellung deutlich: N u r die spezifische Ausgestaltung eines denkerischen Ortes gerät einer solchen Fragehinsicht in den Blick; die Ortschaft selbst dieses Ortes, die Grundposition eines Denkers, die Tatsache, daß er von ganz bestimmten Grundannahmen ausgeht, vermag eine solche Fragestellung — entgegen ihrem Vermeinen — nicht zu befragen, stellen diese doch umgekehrt die Voraussetzung der Übernahmen dar. Sie ergeben sich aus den geschichtlich bedingten Denk-Möglichkeiten des Denkers selbst, in die er sich geworfen sieht. Die Beobachtung, daßein Denker etwas in sein Werk übernommen hat, ist mithin letztlich weitaus weniger bedeutsam, als jene, wie etwas übernommen, welche Ausformung es in seinem W e r k gefunden hat.
„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873)
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„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne": Der Titel besagt, daß in dieser Schrift Wahrheit und Lüge nicht als moralische Phänomene thematisiert werden sollen. Insofern sie nämlich als solche ihren O r t innerhalb der Weltauslegung des menschlichen Intellekts haben, ist die Frage nach der moralischen Wahrheit oder Unwahrheit jener nach der Wahrheit des menschlichen Intellektes, nach der Wahrheit unserer Erkenntnis überhaupt nachgeordnet. „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — das meint so, zumindest vorläufig, „Wahrheit und Lüge physiologisch", wie es in einem Notat aus der Entstehungszeit dieser Schrift heißt. 443 (Die Kontinuität seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen wird deutlich: In jenem auf S. 4 f. interpretierten Brief an Deussen von Ende April/Anfang Mai 1868 hatte Nietzsche seine diesbezüglichen Schlüsse aus den „einschlägigen Untersuchungen, vornehmlich der physiologischen seit K a n t " mitgeteilt. Auch hier sucht er f ü r seine metaphysischen Gedankengänge — in vorliegendem Fall über die begriffliche Unfaßbarkeit des metaphysisch verstandenen „Lebens" — wieder Stützen in biologischen Forschungen.) Wir kennen bereits Nietzsches pragmatische Auslegung des menschlichen Intellekts als ό ρ γ α ν ο ν oder μ η χ α ν ή des Willens zum Leben (siehe Seite 90 f.) — in Übereinstimmung damit spricht er in diesem Text, der unausgesprochenerweise Schopenhauer mit Darwin, jenen Willen zum Leben mit dem struggle for life, zusammenliest, davon, daß der menschliche Intellekt „ n u r als Hülfsmittel den unglücklichsten delikatesten vergänglichsten Wesen beigegeben ist, um sie eine Minute im Dasein festzuhalten" (1, 370): Sein Zweck ist das Zum-Leben-Verführen, seine „allgemeinste W i r k u n g " darum „Täuschung". Dies aber in vierfacher Hinsicht: Zunächst nämlich ist der Intellekt im „Kampf um die Existenz" ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, das seine Hauptkräfte in der Verstellung entfaltet. Es erreicht im Menschentier notgedrungen seine größte Stärke: wegen seiner Körperschwäche — es besitzt weder Hörner noch ein scharfes Raubtiergebiß — muß es mit Geisteskraft sein Überleben zu sichern versuchen. 444 Nietzsche deutet somit bereits jetzt 445 den Geist als Mittel der Kompensation f ü r einen körperlichen Mangel und den Menschen als „das n o c h n i c h t f e s t g e s t e l l t e T h i e r " 4 4 6 , als das Tier, das nur in geringem Maße instinktgebunden, nämlich auf bestimmte Möglichkeiten der Daseinsverhaltung festgelegt ist. Täuschung aber ist der Intellekt auch in einem zweiten uns bekannten Sinne: Die Menschen sind für Nietzsche tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr A u g e gleitet nur auf der Oberfläche der D i n g e herum und sieht „ F o r m e n " , ihre E m p f i n d u n g führt nirgends in die Wahrheit, sondern b e g n ü g t sich Reize zu e m p f a n g e n und
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Voraussetzungen gleichsam ein tastendes Spiel auf dem R ü c k e n der D i n g e zu spielen. (1,370)
Das Ding, wie es an sich selbst ist, bleibt dem Menschen unzugänglich, was er wahrnimmt, ist nur ein Ding für ihn, d. h. Nervenreize, die, wie Nietzsche zunächst bemerkt, einer Relation jenes „Dinges an sich" zum Körper entsprechen, um dann später einzuschränken: V o n d e m Nervenreiz aber weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten A n w e n d u n g des Satzes v o m Grunde. (1, 372)
(Diese Einschränkung geschieht ganz im Sinne Kants, dessen Begriff des „Dinges an sich", wie erinnerlich, die Crux in sich beschließt, gedacht werden zu müssen — will man nicht wie der englische Sensualismus davon ausgehen, als gebe es nicht nur in Rücksicht auf unsere Erkenntnis, sondern überhaupt und an sich gar nichts weiter als unsere Vorstellungen —, auf der anderen Seite aber als solcher gar nicht gedacht werden zu können.) Doch eben dies, daß ihm die „Dinge", wie sie „wirklich" „sind", verschlossen bleiben, verhehlt sich der Mensch — dritte Täuschung, welche einen „mit dem Erkennen und Empfinden verbundene[n] H o c h m u t h " (1, 370) hervorbringt, der seinerseits wiederum, vierte Täuschung, die Menschen über den „Werth des Daseins" (ebd.) in Illusionen wiegt: so meint gar der stolzeste Mensch, der Philosoph, v o n allen Seiten die A u g e n des Weltalls teleskopisch auf sein H a n d e l n und D e n k e n gerichtet z u sehen (1, 369 f.),
während Nietzsche über den menschlichen Intellekt nur zu bemerken weiß: es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; w e n n es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. D e n n es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger [der ihn in seinem Leben für sein Leben hervorgebracht hat] nimmt ihn so pathetisch, als ob die A n g e l n der W e l t sich in ihm drehten. (1, 369)
Im Rückblick bestätigt sich unsere Behauptung — die Rede vom „Kampf um die Existenz", vom Menschen als „klugen T h i e r " spricht da gerade auch in ihrem Bezug zur philosophischen Tradition (animal rationale!) eindeutig —, daß Darwin es war, der bei Nietzsche nach Kant, nach Feuerbach den Menschen endgültig, wie er im Herbst 1885—Herbst 1886 bemerkt 447 , „aus dem Centrum ins x " rollen ließ, ihm die Würde genommen hat, die ihm die metaphysische Tradition zugesprochen hat. Wie wir gesehen haben, konnte nämlich Kant darum am traditionellen Begriff der Wahrheit festhalten, weil er den menschlichen Intellekt als ewig, d. h. im Grunde als von Gott geschaffen auffaßte: In ihrer „Relativität" sind, so sagten wir, bei Kant die apriorischen Strukturen absolut, für die Menschen aller Zeiten und Örter gültig.
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Anders Nietzsche, für den aus dem Darwinschen Ansatz hervorgeht, daß sich im „ K a m p f um die E x i s t e n z " gemeinsam mit dem
menschlichen
Intellekt auch die „ W a h r h e i t e n " verändern: Die entsetzliche Consequenz des Darwinismus, den ich übrigens für wahr halte. 448 Alle unsre Verehrung bezieht sich auf Qualitäten, die wir für ewig halten: moralisch, künstlerisch, religiös usw. 449 , notiert sich Nietzsche im Zeitraum S o m m e r 1 8 7 2 — A n f a n g 1873. W i r d damit in bestimmter Hinsicht die Überlegung Kants, daß die W e l t unserer Erfahrung nicht dieselbe sein kann wie die „wirkliche" Welt, nicht nur untermauert, sondern gar noch verschärft — in „Jenseits von Gut und B ö s e " wird Nietzsche schließlich ausführen: es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage „wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?" durch eine andre Frage zu ersetzen „warum ist der Glaube an solche Urtheile n ö t h i g ? " — nämlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr g e g l a u b t werden müssen; weshalb sie natürlich noch f a l s c h e Urtheile sein könnten! 450 —, so scheint sich doch in anderer Hinsicht hinwiederum mit einer solchen „ H i s t o r i s i e r u n g " des Kantischen Ansatzes die Möglichkeit zu eröffnen, daß inzwischen die aus der Materie „sehr allmählich" entstandenen „ F o r m e n des Intellekts [ . . . ] streng der W a h r h e i t adäquat sind." 4 5 1 Auch andere N o t i z e n belegen, daß Nietzsche in der Zeit S o m m e r 1 8 7 2 — A n f a n g 1 8 7 3 einen solchen Ausweg aus der ihm durch Kant vermittelten Skepsis — „In dieser Skepsis kann niemand leben." 4 5 2 , bemerkt er — gesucht hat: Unsre Sinne aber sind das P r o d u k t d e r M a t e r i e u n d d e r D i n g e , ebenso u n s e r G e i s t . Ich meine: man muß von den N a t u r w i s s e n s c h a f t e n aus zu einem D i n g an s i c h kommen. 453 K u r z e Zeit vorher hat er in dieser Richtung schon ähnliche Überlegungen angestellt, die auf jenem bereits einläßlich behandelten
Grundgedanken
basieren, daß „Empfindung die einzige kardinale Thatsache [ist], die wir kennen": Die Unverbrüchlichkeit der Naturgesetze heißt doch: Empfindung und Gedächtniß ist im Wesen der Dinge. Daß sich ein Stoff, bei der Berührung mit einem anderen, gerade so entscheidet, ist Gedächtniß und Empfindungssache. Irgendwann hat er es g e l e r n t , d. h. die Thätigkeiten der Stoffe sind g e w o r d e n e G e s e t z e . Dann aber muß die Entscheidung gegeben sein durch Lust und Unlust. Wenn aber Lust Unlust Empfindung Gedächtniß Reflexbewegung zum Wesen der Materie gehört, dann r e i c h t d i e E r k e n n t n i ß d e s M e n s c h e n viel t i e f e r in's W e s e n der Dinge.454 „ W e n n Gedächtniß und Empfindung das M a t e r i a l der Dinge w ä r e n ! " 4 5 5 , ruft Nietzsche beschwörend aus — dann wäre ein res und intellectus Gemeinsames, ein ihre adaequatio Gewährleistendes gefunden: An die Stelle
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der Platonischen Idee des Guten, die dann vom christlichen Schöpfergott abgelöst wurde, könnte das „Naturgesetz" treten: D i e g a n z e L o g i k in der N a t u r löst sich dann auf in ein L u s t - und U n l u s t system. J e d e s greift nach der Lust und flieht die Unlust, das sind die ewigen N a t u r g e s e t z e . 4 5 6
Das Naturgesetz das von der Naturwissenschaft gefundene „Ding an sich" — das erinnert an die gleichfalls im Piatonismus gründende Position Goethes 457 , der in seinen Naturgesetzen ahnend die Gottheit, das „Eine an sich" 4 5 8 , erschaut. D a ß die N a t u r in allen Reichen g l e i c h v e r f ä h r t : ein G e s e t z , das f ü r den Menschen gilt, gilt f ü r alle N a t u r . D e r Mensch wirklich ein Mikrokosmos.459,
diese Ausführung könnte auch von Goethe stammen. Doch in dieser versuchten Nähe muß Nietzsche seine Ferne von Goethes denkerischem Ort erkennen. Jene Stunde ontotheologisch gefügter Entsprechung von menschlichem Geist und Welt ist vorbei: „was ist für uns überhaupt ein Naturgesetz", fragt Nietzsche in „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (2, 379 f.) und gibt als Antwort: es ist uns nicht an sich bekannt, sondern nur in seinen W i r k u n g e n d. h. in seinen Relationen zu anderen N a t u r g e s e t z e n , die uns wieder nur als Relationen bekannt sind. Also verweisen alle diese Relationen immer nur wieder auf einander und sind uns ihrem W e s e n nach unverständlich durch und d u r c h ; nur das, w a s wir hinzubringen, die Zeit, der R a u m , also Successionsverhältnisse und Zahlen sind uns wirklich d a r a n bekannt. [ . . . ] Alle G e s e t z m ä s s i g k e i t , die uns im Sternenlauf und im chemischen Process so imponirt, fällt im G r u n d mit jenen E i g e n s c h a f t e n z u s a m m e n , die wir selbst an die D i n g e heranbringen, so dass wir damit uns selber imponiren.
Nietzsches Entwurf einer Entsprechung von Geist und Welt zergeht somit an der neuzeitlichen Voraussetzung der bei ihm nunmehr fessellos gewordenen und damit erst zu sich selbst gekommenen Anthropomorphic aller Erkenntnis, die sich derweise (noch einmal) als eine Nietzsches Willkür entzogene, von ihm abzutragende Voraussetzung der abendländischen Geschichte erweist. Allein deswegen kann Nietzsche später zu behaupten wagen, „die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte" 4 6 0 vorauszusehen, die Geschichte des Nihilismus nämlich: Nun da Gott tot ist, muß Nietzsche, müssen wir, die wir seine Mörder sind, ohne es zu wissen, die Strafe für den Sündenfall Piatons übernehmen, einen transzendenten Gott für die Wahrheit einstehen zu lassen: „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt"46·. Das dieses „Nichts ist wahr" die Grundvoraussetzung der Nietzscheschen Philosophie ist, bezeugt auch unser Text, wenn er folgendes bemerkt:
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Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinirbares X. Denn auch unser Gegensatz von Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen der Dinge, wenn wir auch nicht zu sagen wagen, dass er ihm nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegentheil. (1, 374) 462
Wenn Nietzsche es auch nicht zu sagen wagt, auch gar nicht sagen darf gemäß seiner Voraussetzung, daß alle Erkenntnis anthropomorphisch ist, so beruht doch seine gesamte folgende Argumentation auf eben jener geschichtlich begründeten Erkenntnis „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt" (vgl. auch schon S. 96) 463 . Denn bei Nietzsche, e r s t bei Nietzsche wagt sich das Denken jene bei Descartes gesetzte Voraussetzung — Nietzsche gemäßer wäre es zu sagen: jene bei Descartes zum ersten Male aufscheinende, indes immer schon geübte Grundvoraussetzung des menschlichen Handelns —, daß der Mensch als Subjekt „das Maß aller Dinge sei" 464 , in seiner ganzen Radikalität zuzudenken, einschließlich der Erkenntnis, daß jedwede Maßvorgaben und d. h. Bindungen gewährende „ T r a n s z e n d e n z " nichts als eine menschliche Setzung ist. Dies mit der Konsequenz, daß der Mensch zunächst — jener Satz ist dem heimatlosen Schatten des Zarathustra, nicht diesem selbst in den Mund gelegt —, bindungslos im Bodenlosen schwebt — die Subjektivität ist, wie wir gesehen haben (Seite 16 ff.), derart umfassend, daß sich mit dem Objekt auch das Subjekt in ein unendliches Chaos lebendiger „Individuen" auflöst 465 —, ehe er sich denn jener Voraussetzung endlich in der Weise übereignet, daß er sich nunmehr entschlossen an selbstgesetzte Bindungen bindet, er somit die bloße „Freiheit wovon" des „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt" in eine „Freiheit w o z u " kehrt. Und zwar an Bindungen bindet, die gebunden, d. h. gesetzt sind im Hinblick auf den vielleicht ungebundenen, für uns aber immer schon gebundenen Willen zur Macht. In ihm nämlich sucht sich Nietzsche schließlich das Wesen dieser Voraussetzung zuzudenken, gleichsam die Voraussetzung dieser Voraussetzung, in der für uns, die wir ihn nur von innen her und nicht in seiner ungefähren Proteus-Natur erkennen können, sich der Wille zur Macht nunmehr unverhüllt als verhüllter, weil sich in seinem An-Sich selbst verhüllender Verhüller dieses Auslegungsgeschehens, das wir die Welt nennen, 466 zu erkennen gibt. Denn das muß — späteren Ausführungen vorgreifend — deutlich gesagt werden: Keineswegs ist es so, daß nach der Formulierung dieses Satzes „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt" nunmehr alles „ w a h r " ist, kann doch richtig in der Folge nur ein solches Denken genannt werden, daß sich nach diesem Grund-Satz richtet, als welcher die Grundlage jedweder per se Wahrheit
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erheischender Aussage voraussetzt. „Wahr" ist demnach nur ein solches Denken, das einbekennt, daß nichts, eingeschlossen es selbst, wahr ist, daß vielmehr alles scheinbar oder begriffsdichterisch ist — wie dies, nach Nietzsche, etwa die Kunst tut.467 Zudem hat sich das Denken, wenn es wissenschaftlichen Ansprüchen genügen will, zu bemühen, so weit hinabzudenken, daß es auf, wie wir formelhaft fassen wollen, (zumindest vorläufig) notwendig zu Glaubendes stößt. Notwendig zu Glaubendes — dies Nietzsches neue Definition der Wahrheit, 468 mit der, wie gesagt, die Ausweisbarkeit der Philosophie vor der Wissenschaft angesprochen ist. Voraussetzung ist jedoch, daß — wir kennen dieses Notat Nietzsches aus dem Zeitraum Sommer 1872—Anfang 1873 bereits (siehe Seite 39 ff.) — in Philosophie wie Wissenschaft „ d o r t w i e h i e r [ . . . ] g l e i c h g e d a c h t w i r d " , gleich gedacht wird nämlich in der Art des Denkens, das für ihn in der Tat bei beiden künstlerisch, d. h. schöpferisch, weil in beiden Fällen ein Bilderdenken ist. Indes unterscheiden sich beide im Grad der Schöpferkraft. Die Philosophie hat infolge der Größe, der Schönheit und Erhabenheit ihrer Bilder — die Wissenschaften zerfallen in festgestellte Einzelerkenntnisse — einen höheren ästhetischen Wert und d. h. einen höheren Lebenswert, 469 da das Leben zu seinem Vollzug vorausgesetzter scheinhafter Ganzheiten, Werte, wie Nietzsche schließlich sagen wird, bedarf. 470 Und die Fruchtbarkeit für das Leben entscheidet zuletzt: dies das letzte und wichtigste Kriterium der neuen Bestimmung der Wahrheit, so daß man formelhaft fassen kann: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr". Es ist das bekanntlich — nicht zuletzt kündet der Beginn des Vorwortes zur 2. Unzeitgemässen Betrachtung davon — auch der Wahrheitsbegriff des von Nietzsche zeitlebens — selbst und gerade dann, wenn er ihn ironisiert — bewunderten Goethe. Die Verwandtschaft rührt daher, daß beide — obzwar Goethe, wie wir gezeigt haben, nur in höchst vordergründiger Sichtweise — auf dem Boden der Leibnizschen Metaphysik stehen, die das Leben monadologisch als sich vorstellend-herstellenden Willensprozeß denkt. Anders als sie kennt Nietzsche jedoch keine prästabilierte göttliche Harmonie mehr, der Mensch muß sich bei ihm die Bindungen, an die er sich bindet, selber schaffen. (Und erst nach der endgültigen Abtragung auch des letzten Restes eines transzendenten Bezuges mag sich für Nietzsche in der Ferne zu Goethe wieder eine Nähe ergeben: Das Fabelwerden von wahrer und scheinbarer Welt ist der — von Nietzsche selbst immer wieder in Frage gestellte — Versuch, ein neues Weltvertrauen im Durchgang durch die Kantische Irritation und nicht, wie Nietzsche zeitweilig, in jenen oben diskutierten Aufzeichnungen, versucht war, im Gang hinter sie zurück zu gewinnen.) —
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W o h e r aber rührt, fragt Nietzsche in jener Schrift weiter, der Trieb zur Wahrheit, wenn doch der Mensch diesen ihn täuschenden Intellekt zunächst vor allem zur Verstellung benutzt, um als Antwort „eine Genealogie des Wahrheitstriebes aus dem Verstellungstriebe und Fälschungstrieb selbst zu erweisen." 471 Nietzsches augenscheinlich in Anknüpfung an Hobbes, Rousseau und Schopenhauer 4 7 2 gegebene Antwort lautet nämlich: Weil der Mensch „aus Noth und Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise existiren will" — bezeichnend, daß auch für Nietzsche der ursprüngliche Mensch der Einsame ist—, „braucht er einen Friedensschluss und trachtet darnach dass wenigstens das allergröbste bellum omnium contra omnes aus seiner Welt verschwinde." (1, 371) Der Abschluß eines „Gesellschaftsvertrages" 473 erweist sich so als Voraussetzung für das Entstehen von Kultur — und nur als ein solches Mittel zur Kultur ist der Staat f ü r Nietzsche überhaupt gerechtfertigt. 474 Zu den Bestimmungen des Vertrages rechnet darum nicht zuletzt „eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge" — das Problem des Sprachursprungs behandelt diese Schrift nicht 475 — und diese „Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit." Jetzt erst ist die Möglichkeit der „eigentlichen", der moralischen Lüge gegeben, insofern nämlich die Verpflichtung besteht, einen roten Stein auch rot zu nennen: Die sprachliche Gesetzgebung legt das Fundament der Moral. Sprachliche „Conventionen" (1, 371) sind derweise moralische Konventionen. Zugleich aber wird mit der Verpflichtung, die Wahrheit zu sagen, der Glaube erzeugt, „daß auch die Natur gegen uns wahr sein muß. Erkenntnißtrieb beruht auf dieser Übertragung.", ist in den Notizen vom Sommer 1872—Anfang 1873 zu lesen. 476 Jene bereits angesprochene (S. 96) „moralistische Vertrauensseligkeit (auf ein essentielles Wahrheits-Princip im Grund der Dinge)" wird erzeugt. So lehrt diese genealogische Besinnung — von Nietzsche später mit Meisterschaft gehandhabtes Instrument zur Entlarvung überkommener Wahrheiten als Illusionen —, daß die Menschen nicht etwa darum einander auf die Wahrheit verpflichten, weil sie, wie Stiftungsmythen der Moral gerne glauben machen möchten, aus Wahrheitsliebe das „Betrogenwerden" fliehen, sondern weil sie „das Beschädigtwerden durch Betrug" (1, 372) fürchten. Der Durchschnittsmensch nämlich begehrt allein „die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit; gegen die reine folgenlose Erkenntniss ist er gleichgültig, gegen die vielleicht schädlichen und zerstörenden Wahrheiten sogar feindlich gestimmt." (Ebd.) Ganz anders Nietzsche, der zum Immoralisten aus Moralismus wird, die „Wahrheit" aus Wahrheitsstrenge abschafft, um endlich — so indes erst uneingeschränkt der
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späte Nietzsche — dem in seinen Augen erkrankten Leben der Gegenwart zur Gesundung zu verhelfen. 477 Die Frage nach dem Charakter der außermoralischen Wahrheit hat sich so mittlerweile in eine Frage nach dem Wesen der Sprache gewandelt: „decken sich die Bezeichnungen und die Dinge? Ist die Sprache der adäquate Ausdruck aller Realitäten?", fragt Nietzsche (1, 372) und stellt damit die längt obsolet gewordene sprachphilosophische Grundfrage des siebzehnten Jahrhunderts 4 7 8 : Seit dem jungen Herder kreist das Denken zumindest der deutschen Sprachphilosophie um die Ausdrucksfunktion der Sprache, um die Frage, ob und wie sich das Individuum im Allgemeinen der Sprache sagen kann. Doch noch deren pessimistische Teilantwort — „Individuum est ineffabile" — radikalisiert Nietzsche, wenn er im Ausgang von jener alten Frage zu der weite Kreise der Moderne beherrschenden Erkenntnis vorstößt, daß die Wörter letztlich nichts als sich selbst bezeichnen, da sie in Wahrheit tautologisch sind, insofern sie das, was sie bezeichnen, selber allererst schaffen (1,372): „die Tautologie, [ . . . ] die einzig zugängliche Form der Wahrheit", zeichnet sich Nietzsche auf. 479 Denn: „Was ist ein W o r t ? " , fragt er in der Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge" und gibt als Antwort: „Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. Von dem Nervenreiz" — Beispiel: „ h a r t " — „aber weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde", ist doch „ h a r t " „eine ganz subjektive Reizung". Und dieser Nervenreiz wird dann übertragen in ein Bild, ζ. B. das des „harten Steines". Übertragung aber heißt lateinisch translatio, griechisch μ ε τ α φ ο ρ ά , weswegen Nietzsche im Falle dieses Bildes, in Ausweitung des Sprachgebrauches der Rhetorik von einer Metapher spricht. Und er nennt diesen Vorgang der Übertragung willkürlich (1, 372) oder schöpferisch — dies die beiden gegensätzlichen Möglichkeiten, die Erkenntnis zu bewerten, daß „das Verhältniss eines Nervenreizes zu dem hervorgebrachten Bilde [ . . . ] an sich kein nothwendiges [ist]" (1, 378), ebensowenig wie die Nachformung des Bildes in der Sphäre des Lautes, mit der die zweite Metapher vorliegt. Streng genommen muß man sie sogar als die dritte bezeichnen, liegt doch die erste Übertragung bereits im Falle derjenigen des „räthselhaften X des Dings an sich" (1, 373) — wenn man es denn annimmt — in einen Nervenreiz vor. Wenn Wahrheit der Sprache aber heißen soll, daß sich Bezeichnungen und Dinge decken, daß sie adäquat sind, so zwar, daß bei „der Genesis der Sprache [ . . . ] der Gesichtspunkt der Gewissheit bei den Bezeichnungen allein entscheidend gewesen wäre" (1, 372), dann haben diese Überlegungen zum Ergebnis, daß Sprache unwahr ist, weil sie sich im Wesen als metaphorisch erweist 480 :
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Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen. (1, 373)
U n d wenn man weiter bedenkt, daß, wie Nietzsche in dieser Schrift zeigt, die mit dem Abschluß eines „Gesellschaftsvertrages" einhergehende Gesetzgebung der Sprache auch die moralischen Gesetze der Wahrheit gibt, dann heißt das, daß diese in ihrem Wesen nur Unwahrheit sein können, weil bereits die außermoralische Wahrheit nichts als Illusion oder Lüge ist. Denn jetzt gibt es keinen Garanten mehr f ü r jene Gewißheit, die Nietzsche erheischt: Die Zeit ist gekommen, „ w o wir", lautet es in einer Aufzeichnung v o m N o v e m b e r 1887—März 1888, dafür b e z a h l e n müssen, zwei Jahrtausende lang C h r i s t e n gewesen zu sein: wir verlieren das S c h w e r g e w i c h t , das uns leben ließ, — wir wissen eine Zeit lang nicht, wo aus, noch ein. Wir stürzen jählings in die e n t g e g e n g e s e t z t e n Werthungen, mit dem gleichen Maaße von Energie, mit dem wir Christen gewesen sind [ . . . ] Jetzt ist Alles durch und durch falsch, „ W o r t " [ . . . ] «i
„ W a s also ist Wahrheit?", fragt Nietzsche und in „Ueber Wahrheit und L ü g e " in diesem außermoralischen Sinne und antwortet: Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien 482 , Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, [ . . . ] . (1, 374f.)
D e n n der Standpunkt des neuzeitlichen Subjekts hat seinen Verankerungspunkt verloren, als welcher bei aller Verschiedenheit der jeweiligen Perspektiven in „prästabilierter H a r m o n i e " die Übereinstimmung aller und damit die Richtigkeit einer jeden garantierte. Ein jeder Standpunkt ist nunmehr relativ zu sich selbst und darum — wahrscheinlich zumindest — falsch: Man kann sich einen Menschen denken, der ganz taub ist und nie eine Empfindung des Tones und der Musik gehabt hat: wie dieser etwa die Chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt, ihre Ursachen im Erzittern der Saite findet und nun darauf schwören wird, jetzt müsse er wissen, was die Menschen den Ton nennen, so geht es uns allen mit der Sprache. (1,373)
G a n z anders als der ebenfalls unter den Voraussetzungen der Philosophien von Leibniz und Kant denkende Wilhelm von Humboldt 4 8 3 , der noch eine „ursprüngliche Uebereinstimmung zwischen der Welt und dem Menschen" annehmen konnte, „auf welcher die Möglichkeit aller Erkenntniss der W a h r h e i t beruht" 4 8 4 , und dies, weil er, wie Ernst Cassirer ausführt 4 8 5 , in A n k n ü p f u n g an Spinoza und H e r d e r „den menschlichen Geist und seine
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Entwicklung überall hineingestellt [sieht] in ein dynamisches All-Leben der N a t u r " , eine Anschauung, die „ihn häufig bis an die Schwelle der Alleinheitslehre, bis zu Schellings metaphysischer Fassung der Identitätsphilosophie" weitergeführt habe, — ganz anders als Humboldt muß Nietzsche darum aus der Erkenntnis, daß die Verschiedenheit der Sprachen „eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst" 486 ist, den Schluß ziehen, dass es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen. (1, 373)
Uberhaupt scheint Nietzsche, wie er an späterer Stelle des Textes deutlich herausteilt, die richtige Perception — das würde heissen der adäquate Ausdruck eines Objekts im Subjekt — ein widerspruchsvolles Unding: denn zwischen zwei absolut verschiedenen [das meint: unvermittelten] Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ä s t h e t i s c h e s Verhalten, ich meine eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache (1, 378)
— zunächst in einen Nervenreiz, dann in ein Bild und schließlich in einen Laut: wie f ü r den Dramatiker W o r t und Vers nur das Stammeln in einer fremden Sprache sind, um in ihr zu sagen, was er lebte und schaute, so ist der Ausdruck jeder tiefen philosophischen Intuition durch Dialektik und wissenschaftliches Reflektiren zwar einerseits das einzige Mittel, um das Geschaute mitzutheilen, aber ein kümmerliches Mittel, ja im Grunde eine metaphorische, ganz und gar ungetreue Übertragung in eine verschiedene Sphäre und Sprache. So schaute Thaies die Einheit des Seienden: und wie er sich mittheilen wollte, redete er vom Wasser! 487 ,
führt Nietzsche in diesem Sinne in seiner Schrift über die Vorsokratiker aus. Für welche Übertragung es, wie in „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" zu lesen ist (1, 378), jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft bedarf
denn [v]on dem Nervenreiz [ . . . ] weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde. D a ß nämlich „das Eine die Ursache des Andern ist", bedeutet — wie die Formen von Raum und Zeit 488 — schon eine Übertragung, „ e i n e M e t a p h e r , e n t l e h n t a u s W i l l e u n d T h a t " , als der, wie es im Sommer 1872—Anfang 1873 heißt 489 , ,,einzige[n] Kausalität, die uns bewußt ist." So bezeichnet es Nietzsche als ein „Urphänomen", den im Auge empfundenen Reiz auf das Auge zu beziehn, das heißt eine Sinneserregung auf den Sinn zu beziehn. An sich gegeben ist ja nur ein Reiz: diesen als Aktion des Auges zu empfinden und ihn sehen zu nennen ist ein Kausalitätsschluß. E i n e n R e i z a l s e i n e T h ä t i g k e i t z u
„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873) empfinden,
etwas
Passives
aktiv
zu
empfinden
ist
1 13 die
erste
Kausalitätsempfindung, d. h. die erste E m p f i n d u n g bringt bereits diese Kausalitätsempfindung hervor. 4 9 0
Unsre von der Kausalität geprägte Empfindung unterstellt so dem Reizoder Geschehenskomplex des „Sehens" ein Subjekt, mit der Konsequenz, daß dieser Komplex in Täter und Tun, in Wille und T a t gespalten wird, obwohl — dies die von Nietzsche im Ausgang von Schopenhauer immer erneut vorgebrachte Kritik 491 — der Wille selber bereits die T a t ist. Diese Spaltung aber erfolgt aus der Voraussetzung, daß der Mensch frei ist und damit für sein T u n verantwortlich zeichnet. Gerade diese moralisch-metaphysische Voraussetzung aber leugnet Nietzsche bereits in seinem „pseudometaphysischen" Ansatz der Frühzeit, wonach alles, was ist, ein Organ des allumfassenden Willens zur Beförderung seines Erkenntnisvollzuges darstellt: „Wie wir handeln, wie wir denken — alles nur Prozeß und nothwendiger." 4 9 2 Doch damit wir diese Notwendigkeit vollziehen, erzeugt der Wille, der mit unserem T u n anderes als das von uns Intendierte bezweckt, 493 den T r u g der Freiheit: D e r g a n z e P r o z e ß der Weltgeschichte b e w e g t sich so, als ob W i l l e n s f r e i h e i t und Verantwortlichkeit existire. Es ist dies eine n o t h w e n d i g e moralische V o r a u s s e t z u n g , eine Kategorie unseres H a n delns. 4 9 4
Tatsächlich aber tut der „Mensch" in jedem Augenblick nur das, was „ e r " nicht lassen kann. Der menschliche Wille ist kein Vermögen, 4 9 5 denn die Willensfreiheit des Menschen ist Notwendigkeit des Willens zum Leben und die Notwendigkeit des Menschen ist die Freiheit des Lebens. Freiheit und Notwendigkeit sind somit — siehe auch die spätere Lehre von der ewigen Wiederkunft — für Nietzsche eines. Das aber lehrt ihn nicht zuletzt die Erfahrung des schöpferischen Aktes. 496 So haben auch die tyrannischen Eroberer — von Nietzsche später, in „ Z u r Genealogie der Moral", bezeichnet als „die unfreiwilligsten, unbewusstesten Künstler, die es giebt": sie formen den „ R o h s t o f f " Mensch 497 — keine Freiheit, anderes als Eroberer zu sein, weil sie nichts als die Vollstrecker des Willens (der Natur — wie Nietzsche in der Frühzeit auch sagt —) sind, zum Staate als dem Ermöglichungsgrund der Kultur zu gelangen. Sie tragen den Staat als ihr Schicksal in sich, sie sind ihr Tun, insofern die Freiheit die Notwendigkeit des unschuldigen Werdens ist.498 Ebendies aber leugnen der „Genealogie der Moral" zufolge die von ihnen Unterworfenen, indem diese, die von jenen als Ausdruck des Pathos der Distanz schlichtweg „Schlichte", d. h. „Gemeine, Niedrige", genannt werden, die Eroberer umgekehrt als die „Bösen" verurteilen. Und sie gründen dieses Verdikt ihrer Ressentiment-Moral, die die aristokratischen Wertgleichungen umkehrt, auf die in der Sprache „versteinerten
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Voraussetzungen
Grundirrthümer der Vernunft" 499 : Die Sprache nämlich sieht „alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein ,Subjekt'" 500 , dem es als solchem freisteht, dieses oder jenes zu wirken. Das aber leugnet Nietzsche schon mit seinem Grundansatz der Frühzeit, daß Seiendes „von uns" festgestelltes Werden ist, dem kein Subjekt-Sein zukommt, neben dem es noch etwas tut, sondern reines Vollzugsgeschehen ist. Demzufolge muß das von uns erdichtete Subjekt als ein zum Substrat festgestelltes Ensemble verschiedener Kräfte, als ein „Geschehenscomplex" 501 begriffen werden. So nennen wir, wie Nietzsche in „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" als Beispiel anführt, „einen Menschen ehrlich; warum hat er heute so ehrlich gehandelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt zu lauten: seiner Ehrlichkeit wegen." Dagegen wendet Nietzsche ein: Wir wissen ja gar nichts v o n einer w e s e n h a f t e n Qualität, die die Ehrlichkeit hiesse, w o h l aber v o n zahlreichen individualisirten, somit ungleichen H a n d l u n g e n , die wir durch W e g l a s s e n des U n g l e i c h e n gleichsetzen und jetzt als ehrliche H a n d l u n g e n b e z e i c h n e n ; zuletzt formuliren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem N a m e n : die Ehrlichkeit. (1, 374)
Mit Goethe gesprochen, der indes die Existenz einer solchen „qualitas occulta", eines „Wesens" annimmt: nichts als „Wirkungen werden wir gewahr" (siehe Seite 86), Wirkungen, denen wir jedoch qua Wirkung eine Ursache unterstellen. Aber „ ,der Thäter' ist", so haben wir gesehen, nach Nietzsche „zum Thun bloss hinzugedichtet, — das Thun ist Alles."502 Und mit dem Täter als Subjekt der Handlung — konsequenterweise — auch deren Objekt, das in Nietzsches Augen selbst nichts anderes als „ein m o d u s d e s S u b j e k t s " ist503. D . h . letztlich überhaupt die Dinglichkeit, die wir „nur nach dem Vorbilde des Subjektes [ . . . ] erfunden und in den Sensationen-Wirrwarr hineininterpretirt [haben]." 504 Das Überwindende als Subjekt und das Überwundene als Objekt der Handlung des Überwindens — „das ist nur der Schein des Überwindungsvollzuges im Lichte des begrifflichen Denkens." 505 Wir verdoppeln, wie Nietzsche meint, das Tun, wenn wir den Ehrlichen ehrlich sein lassen oder „sehen" auf ein „Sehendes" zurückführen, sei doch solches „ein Thun-Thun": Wir setzen „dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung." 506 Dieser sprachlich in der Spaltung von Nomina = Absicht, Wille und Verba = Tun 507 versteinerte Irrtum gibt nun aber Gelegenheit, den Täter für sein Tun moralisch und strafrechtlich verantwortlich zu machen: dem Verbrecher das Verbrechen anzulasten 508 sowie dem Starken die Stärke — dem Raubvogel das Raubvogelsein — als Schuld, dem Schwachen die Schwäche hingegen als Verdienst zuzumessen: als könnte das Lamm, wenn es nur wollte, auch Raubvogel sein.509 So daß der in der Sprache festgehaltene Grundirrtum der Vernunft, den Täter vom Tun zu scheiden,
„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873)
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von der Sklavenmoral für ihre Absicht der Unterdrückung der Machtvollen benutzt wird. Zugleich aber ist er, der Gedanke der Freiheit, ein Grundgedanke der Metaphysik — ebenso wie der genetisch damit zusammenhängende, daß alles, was ist, sei es die ehrliche Handlung, sei es das Blatt, — man denke an Piaton — Abbild einer unvergänglichen Idee als seiner U r f o r m ist. Was Nietzsche insofern nicht verwundern kann, als die Metaphysik in seinen Augen ohnehin nur der Sprache nachdenkt („wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben", bemerkt er in der „Götzen-Dämmerung" 5 1 0 ). Damit aber erweist sich die Metaphysik in ihrem Wesen als moralisch, genauer als sklavenmoralisch, nämlich als Moral des sinkenden, das Leben ob des Leidens an ihm zugunsten eines μετά τ ά φ υ σ ι κ ά gelegenen Ortes moralisch verurteilenden und negierenden Lebens (— denn auch die Immoral Nietzsches, mit der er Metaphysik und bisherige Moral überwinden will, gibt schließlich eine Antwort auf die Frage nach dem Wert des Lebens, als welche die Leitfrage der Moral und Nietzsches Grundfrage ist). In diesem Sinne kann Nietzsche am 5. 10. 1887 in einem seinem Verleger nachgereichten und endlich doch noch zurückgehaltenen Abschnitt seiner Vorrede zur „Genealogie der Moral" sagen: Zuletzt, daß ich wenigstens mit Einem Worte auf einen ungeheuren und noch gänzlich unentdeckten Thatbestand hinweise, der sich mir langsam, langsam festgestellt hat: es gab bisher keine g r u n d s ä t z l i c h e r e n Probleme als die moralischen, ihre treibende Kraft war es, aus der alle großen Conceptionen im Reiche der bisherigen Werthe ihren Ursprung genommen haben (— Alles somit, was gemeinhin „Philosophie" genannt wird; und dies bis hinab in deren letzte erkenntnißtheoretische Voraussetzungen)511. Wenn aber Moral und Metaphysik Nietzsches Grundprobleme, diese hinwiederum Probleme der Sprache sind, dann bedeutet das nicht nur, daß Nietzsche an erster Stelle die Sprache zu bedenken hat, sondern auch, daß der Versuch einer Überwindung von lebensschwächender Moral und Metaphysik umwillen des beständig werdenden und fortwährend sich selbst übersteigenden Lebens die sprachlich vorgegebenen Setzungen zu überwinden hat — ein Ansatz, bei dem Nietzsche von der nicht unproblematischen Annahme eines vorsprachlichen, erst nachträglich in die sprachliche Sphäre übersetzten Denkens ausgeht. In der Frühzeit seines Philosophierens nimmt Nietzsche dabei, wie wir gesehen haben, in Anknüpfung an Schopenhauer und dessen Begriff der Intuition ein rein bildliches Denken an. So spricht er in der hier in Rede stehenden Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" beispielsweise von der Gleichsetzung des Nicht-Gleichen, die der Begriff unter den unmittelbaren Anschauungen bewirken soll (1, 374). Aber ist nicht, so fragen
116
Voraussetzungen
wir, das Nicht-Gleiche, das Besondere nur im Widerhalt des Gleichen, des Allgemeinen? Sehen wir somit nicht bereits mit Hilfe der laut Nietzsche in der Sprache „versteinerten Grundirrthümer der Vernunft"? Sind nicht — wie man mit Hamann, Herder und Humboldt einwenden muß, deren grundsätzliche Formulierungen' „gar nichts anderes besagen als die sprachphilosophische Fassung der transzendentalphilosophischen Fundamentproblematik"5n — die von Kant aufgewiesenen Verstandeskategorien tatsächlich sprachliche Kategorien? 513 Darauf scheint Nietzsche selber zu deuten, wenn er in der 1869/70 entstandenen Skizze „Vom Ursprung der Sprache" 5 1 4 bemerkt: „Jedes bewusste Denken erst mit Hülfe der Sprache möglich." 515 — es ist dies die positive Fassung der Erkenntnis: „Die Verführer der Philosophen sind die Worte, sie zappeln in den Netzen der Sprache" 5 1 6 —, woraufhin er fortfährt: Die tiefsten philosophischen Erkenntnisse liegen schon vorbereitet in der Sprache. Kant sagt: „Ein grosser Theil, vielleicht der grösste Theil von dem Geschäfte der Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe, die er [der Mensch] schon in sich vorfindet." Man denke an Subjekt und Objekt; der Begriff des Unheils ist vom grammatischen Satze abstrahirt. Aus Subjekt und Prädikat wurden die Kategorien von Substanz und Accidenz.517 Dem sich hier eröffnenden Widerspruch kann Nietzsche nur dadurch entgehen, daß er dem vorsprachlichen Bilderdenken Unbewußtheit zuspricht. So notiert er im Sommer 1872—Anfang 1873: Die unbewußten S c h l ü s s e erregen mein Bedenken: es wird wohl jenes Übergehn von Bild zu Bild sein: das letzterreichte Bild wirkt dann als Reiz und Motiv. Das unbewußte Denken muß sich ohne Begriffe vollziehn: also in A n s c h a u u n g e n . [...] Dieses Bilderdenken ist nicht von vorn herein streng l o g i s c h e r Natur, aber doch mehr oder weniger logisch. Der Philosoph bemüht sich dann, an Stelle des Bilderdenkens ein Begriffsdenken zu setzen.518 Keineswegs ist damit aber unser Einwand entkräftet, daß wir das Besondere nur im Widerhalt des Allgemeinen wahrnehmen können — wie entsprechend das Werden nur im Widerstreit zum Sein: Wir werden sehen, daß Nietzsche in seiner Artisten-Metaphysik im Ausgang von dieser letzten Einsicht zu einer Sprach- und Erkenntniskonzeption gelangt, die den eben dargelegten Ausführungen widerspricht. Mit den sprachlich vorgegebenen Setzungen, die Nietzsche umwillen des beständig werdenden Lebens zu überwinden hat, sind indes nicht nur die in der Sprache versteinerten Irrtümer der Vernunft gemeint, die Kant als Verstandeskategorien deduziert hat, ohne zu sehen, daß es sich um sprachliche Kategorien handelt, sondern ihr begrifflicher Charakter als solcher, insofern dieser — „Ihr gebraucht Namen der Dinge als ob sie eine starre Dauer hätten", läßt Nietzsche Heraklit ausrufen 519 — den Vollzug
Das polemische Denken des Werdens
117
des Werdens so feststellt, daß er ihn verhindert. Denn ein gewisses Maß an begrifflicher Fixierung ist hinwiederum für diesen Vollzug vonnöten, hat sich doch das Leben allererst zu beständigen, ehe es sich selbst zu überwinden und aufzusteigern vermag: Bestandsicherung und Steigerung sieht Nietzsche später als gleich wesentlich für den Willen zur Macht an. Ebendieser Aspekt ist in der Bemerkung unserer Schrift beschlossen, wonach der handelnde Mensch sein Leben an die V e r n u n f t und ihre Begriffe bindet, um nicht f o r t g e s c h w e m m t zu w e r d e n und sich nicht selbst z u verlieren (2,380).
Und noch an einer anderen Stelle verrät der Text, daß Nietzsche das Leben als fortwährendes Werden ansetzt, wenn er nämlich von dem Begriffe bildenden Menschen sagt, man dürfe ihn w o h l bewundern
als ein gewaltiges
Baugenie,
dem auf
beweglichen
Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das A u f t h ü r m e n eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt (1, 376).
Im Versuch, das reine Werden zu denken, hat Nietzsche somit gegen die sprachlich vorausgesetzten Fest-stellungen anzudenken, gleichwie er nachher, im Versuch, das Gedachte auszusprechen, gegen die Strukturen und Setzungen der Sprache „polemisch" zu sein hat. Aber wie? Gleichniß der Musik. W i e kann man v o n ihr reden?,
faßt Nietzsche in der Vorstufe zu „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" am Ende des 1. Abschnittes 520 gleichnishaft diese Schwierigkeit der „Uebersetzung in eine ganz fremde", will sagen: dem zu Übersetzenden völlig unangemessene Sprache, wobei die Musik, die reine Zeitkunst, selber als Gleichnis oder Symbol des Werdens, 521 als Übertragung desselben in eine ganz verschiedene Sphäre, 522 d. h. als Metapher verstanden werden muß. Eine Metapher indes, die weniger metaphorisch als die Sprache ist: Wir erinnern an unsere Ausführungen, wonach Nietzsches Denken des reinen Werdens als ein Denken aus dem Geiste der Musik aufzufassen ist. „Gleichniß der Musik. Wie kann man von ihr reden?", das meint zunächst: Wie kann man als Philosoph den begrifflichen Fest-stellungen entgehen?
9. „Nothwendige
Widersprüche im Denken, um leben zu können": Das polemische Denken des Werdens
„Wahrheiten sind Illusionen": einen ersten Hinweis, in welcher Weise sich Nietzsche aus den Netzen der Begriffe zu befreien versucht, sich der Sprache ent-spricht, um dem Werden entsprechen zu können, gibt dieser
118
Voraussetzungen
Satz. Denn er hat den traditionellen Wahrheitsbegriff nicht etwa nur, wie bisher aufgezeigt, in der negativen Weise zu seinem Fundament, daß der intellectus humanus in der Anmessung an die von ihm vorausgesetzten res die Übereinstimmung (adaequatio) mit der tiefsten Scheinbarkeit des Werdens immer schon verfehlt, seine Offenbarkeit (άλήθεια) verhüllt hat, so daß wahre Fest-stellungen als solche gerade das verfehlen, was laut Nietzsche wahrer, weniger scheinbar ist, und sich derweise, gemessen am eigenen Anspruch, paradoxerweise als unwahr erweisen, — vielmehr hat dieser Satz jenen Wahrheitsbegriff auch in der positiven Weise zu seinem Fundament, daß er sich gerade als paradoxal formulierter, nämlich sowohl in sich widersprüchlicher — Wahrheiten sind Illusionen — wie auch sich selbst widersprechender — er verkündet als Wahrheit, daß Wahrheiten Illusionen sind—, daß er gerade als derart in sich bewegter Satz, der jedem per se Wahrheit erheischenden Begriff als Grund-Satz zugrundeliegt, sich nach dem richtet, mit dem übereinzustimmen versucht, was man Nietzsches Intuition des Werdens nennen kann. Anders gesagt: Indem dieser G r u n d - S a t z seine eigene Fest-stellung dementiert, scheint in ihm vielleicht das Werden auf, vermag Nietzsche vielleicht dem begrifflichen Zugriff zu entrinnen. 523 Genau so deutet er selber jedenfalls das paradoxale Denken in mehreren Passagen seiner Schrift über die Vorsokratiker, deren Auslegung des Heraklit, wie gesagt, auch als Selbstauslegung aufgefaßt werden kann: Heraklit hat als sein königliches Besitzthum die höchste Kraft der intuitiven Vorstellung; während er gegen die andre Vorstellungsart, die in Begriffen und logischen Combinationen vollzogen wird, also gegen die Vernunft sich kühl, unempfindlich, ja feindlich zeigt und ein Vergnügen zu empfinden scheint, wenn er ihr mit einer intuitiv gewonnenen Wahrheit widersprechen kann: und dies thut er in Sätzen, wie „Alles hat jederzeit das Entgegengesetzte an sich" so ungescheut, daß Aristoteles ihn des höchsten Verbrechens vor dem Tribunale der Vernunft zeiht, gegen den Satz vom Widerspruch gesündigt zu haben.524 U n d wenig später weiß er über den Seins-Denker Parmenides, „ d e m an der strengsten Scheidung von Sein und Nichtsein alles gelegen w a r " , und seine Reaktion auf das „Antinomien-Spiel Heraklits" zu berichten, daß es ihm tief verhaßt sein [mußte]; ein Satz wie der „wir sind und sind zugleich nicht" „Sein und Nichtsein ist zugleich dasselbe und wieder nicht dasselbe" 525 , ein Satz, durch den alles das wieder trübe und unentwirrbar wurde, was er eben aufgehellt und entwirrt hatte, reizte ihn zur Wuth: weg mit den Menschen, schrie er, die zwei Köpfe zu haben scheinen, und doch nichts wissen! Ist doch bei ihnen alles im Fluß, auch ihr Denken! 526 U n d vielleicht sucht Nietzsches Denken ebendies zu sein, Denken im Fluß, um sich derweise dem anzumessen, von dem es eine „Intuition" hat, dem „reinen W e r d e n " . Dies bedeutet aber, wie gesehen, daß das Denken, insofern es mit Kategorien, mit Zuständen und isolierten Einheiten arbeitet,
Das polemische Denken des Werdens
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seine eigenen Gesetze, d. h. die Gesetze der Logik, in Frage zu stellen hat — in der Antinomie oder der Paradoxie 527 — und so das Denken eigens vollzieht, was das Leben immer schon tut — „Nothwendige Widersprüche im Denken, um leben zu können.", lautet eine Aufzeichnung 5 2 8 von Ende 1870—April 1871 —, es dergestalt ist, wovon es spricht: Werden oder Prozeß. Denn dieses Werden ist seinem Wesen nach schlechthin alogisch — eine Erkenntnis, die Nietzsche „schon bei Schopenhauer wie eine Offenbarung getroffen [hatte]", die er dann bei Lange bestätigt fand 529 und die ihn fortan in entschiedenen Gegensatz zu allen Versuchen bringen sollte, die Welt begrifflich in der Weise auf ihre Gründe hin festzustellen, wie dies in seinen Augen als erste die Eleaten getan haben: Alle unsre Vorstellungen, sobald ihr empirisch gegebner, aus dieser anschaulichen Welt geschöpfter Inhalt als veritas aeterna genommen wird, führen auf Widersprüche. Giebt es absolute Bewegung, so giebt es keinen Raum: giebt es absoluten Raum, so giebt es keine Bewegung; giebt es ein absolutes Sein, so giebt es keine Vielheit. Giebt es eine absolute Vielheit, so giebt es keine Einheit. 530 Da sollte Einem doch klar werden, wie wenig wir mit solchen Begriffen das H e r z der Dinge berühren oder den Knoten der Realität aufknüpfen: während Parmenides und Zeno umgekehrt an der Wahrheit und Allgültigkeit der Begriffe festhalten und die anschauliche Welt als das Gegenstück der wahren und allgültigen Begriffe, als eine Objektivation des Unlogischen und Widerspruchsvollen verwerfen. Sie gehen bei allen ihren Beweisen von der gänzlich unbeweisbaren, ja unwahrscheinlichen Voraussetzung aus, daß wir, in jenem Begriffsvermögen das entscheidende höchste Kriterium über Sein und Nichtsein, das heißt über die objektive Realität und ihr Gegentheil, besitzen: jene Begriffe sollen sich nicht an der Wirklichkeit bewähren und corrigiren, wie sie doch aus ihr thatsächlich abgeleitet sind, sondern sollen im Gegentheil die Wirklichkeit messen und richten und, im Falle eines Widerspruchs mit dem Logischen, sogar verdammen. 531
Bereits die Metaphysik des deutschen Idealismus hat, nachdem von Kant in den Antinomien der reinen Vernunft die Bedeutung des Widerspruchs sichtbar gemacht worden war, 532 nachdem Goethe die Polarität, „die Erscheinungen des Zwiefachen, ja Mehrfachen in einer entschiedenen Einheit" 533 , neben der Steigerung als eines „der zwei großen Triebräder aller Natur" 5 3 4 herausgestellt hatte, den Widerspruch nicht als das vom Denken zu Vermeidende, vielmehr als das eigens zu Ergreifende angesehen, weil es Durchgang zu einer höheren Einheit sein soll. In deutlicher Vorläuferschaft Nietzsches führt Hegel etwa in seinen Vorlesungen über Ästhetik aus — wobei er zum Austrag bringt, was von Novalis und Friedrich Schlegel gegen den Satz vom Widerspruch eingewendet worden war—:
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Voraussetzungen W e r aber verlangt, daß nichts existire, w a s in sich einen W i d e r s p r u c h als Identität E n t g e g e n g e s e t z t e r trägt, der f o r d e r t zugleich, daß nichts Lebendiges existire. D e n n die K r a f t des Lebens und mehr noch die M a c h t des Geistes besteht eben darin, den W i d e r s p r u c h in sich zu setzen, zu ertragen und zu überwinden. Dieses S e t z e n und A u f l ö s e n des W i d e r s p r u c h s von ideeller Einheit und realem Außereinander der Glieder macht den steten P r o c e ß des Lebens aus, und das Leben ist nur als Prozeß.535
Der wesentliche Unterschied dieser Ausführung Hegels zum Denken Nietzsches besteht aber darin, daß für letzteren der Widerspruch im tiefsten Grunde in keiner höheren Einheit, in keiner Identität vermittelt und aufgehoben ist. Seine Philosophie des reinen Werdens kennt den Begriff der Identität nur als illusionäre Fest-stellung des Erkenntnisvermögens, das seiner bedarf, um sich und damit den fortschreitenden Vollzug des Werdens zu ermöglichen. 536 Denn indem das Erkenntnisvermögen, genauer: ein „ E t w a s " — denn auch das Erkenntnisvermögen ist, insoweit es Identität voraussetzt, Illusion 537 —, indem dieses „ E t w a s " das reine Werden (der bloßen Empfindung in der Zeit räumlich) 538 bestreitet, erstreitet es die uns erscheinende Welt des Seienden. Als zur Welt gehörig aber kann das diesen Weltstreit bedenkende Denken indes nicht nur nicht umhin, dieser Streit zu sein, vielmehr hat es, sofern es ihm entsprechen will, ihn eigens zu ergreifen. Die Deutung der Welt gibt somit die Weise des Denkens vor, ist ihre Voraussetzung, bedenkt doch, wie bereits angedeutet, Nietzsche zufolge das Denken nichts als seine eigenen Voraussetzungen: sein Denken kann daher nur dort, wo es sich den zu Einheiten gefügten Erscheinungen zuwendet, d. h. in einer Schicht höherer, dem Augenschein verpflichteter Scheinbarkeit, dialektisch sein, 539 wo es sich hingegen der Tiefe der Welt und damit seiner Grunderfahrung des reinen Werdens zukehrt, da vermag es nur streithaft, „polemisch" — im ursprünglichen, nämlich Heraklitischen Sinne des Wortes 540 — zu sein. Fortwährend bestreitet es sich selbst, um fortschreiten, um leben zu können, bestreitet es, um in sich das reine Werden aufscheinen zu lassen, seine Einheit 541 — ohne letztlich doch verhindern zu können und im Grunde auch verhindern zu dürfen 542 — das Werden muß sich wie gesagt immer erst beständigen, damit es im Ausgang von der Uberwindung dieser Beständigung fortzuschreiten vermag —, daß es in unseren, wie Nietzsche dargelegt hat, notwendig Einheit voraussetzenden Augen gerade so seine Einheit gewinnt: die Zuschreibung dieses Denkens zu einem Denker namens Nietzsche, nicht zuletzt aber diese ein Grundgefüge des Nietzscheschen Denkens feststellende Arbeit belegen das. Doch allzuschnell neigen wir dabei dazu, uns auf jenen vom geistigen T o d gesetzten Standpunkt zu stellen, der diesen Denkprozeß als abgeschlossenes Textcorpus erscheinen läßt. Dementgegen gilt es sich aber vor Augen zu
Das polemische Denken des Werdens
121
führen, daß dieser Punkt dem Denken Nietzsches insofern äußerlich ist, als es dem Anspruch nach über jeden abschließenden Punkt hinauszielt: Es konnte sich darum bei keiner Wahrheit abschließend beruhigen, weil ihm die Prozeßhaftigkeit selber die „Wahrheit" als tiefste Scheinbarkeit war. Aus dieser Erkenntnis erwachsen zwei Folgerungen: Zum einen jene bereits in der Einleitung dargelegte methodische Voraussetzung unserer Arbeit, in die Darstellung auch die von Nietzsche nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Notizen einzubeziehen, weil sie als Bestandteil jenes unablässigen Denkstromes namens „Nietzsche" gleichberechtigt gegenüber den veröffentlichten „ W e r k e n " erscheinen, denen nur in der — Nietzsches Denken allein in einer Schicht höherer Scheinbarkeit gerecht werdenden — Perspektive des abgeschlossene Einheiten voraussetzenden Werkbegriffes — der bei ihm ohnehin durch die aphoristische Form unterhöhlt ist — ein Vorrang zukommt. Zum anderen, daß die gewöhnliche Erklärung des Nietzscheschen Polyperspektivismus, 543 wonach er aus dem Willen hervorgeht, möglichst viele Aspekte eines Gegenstandes aufweisen und ihn derweise zumindest näherungsweise umfassen, die perspektivische Beschränktheit in Richtung auf absolute Erkenntnis hin überschreiten zu können — daß diese Erklärung, obwohl sie sich auf gewisse Äußerungen Nietzsches berufen kann, 544 einseitig und vor allem vordergründig, nämlich einer Stufe höherer Scheinbarkeit verpflichtet bleibt. (Wenn sie nicht überhaupt verkennt, daß die Perspektive den Aspekt allererst schafft und nicht bloß entdeckt. 545 Denn einen selbständig anwesenden Gegenstand, den das Bewußtsein nur abzuspiegeln hätte, um ihn zu entdecken, gibt es auf dem Boden der in Grundzügen noch bei Nietzsche fortwährenden Leibnizschen Metaphysik nicht mehr, für die er vielmehr in lebendiger perspektivischer Re-präsentation der Monade entsteht und währt. 546 ) Diese Auslegung ist aber darum einseitig und vordergründig, weil sie übersieht, daß dem konstruktiven Moment des Schaffens gleichursprünglich ein destruktives Moment zugehört 5 4 7 und daß es letztlich weniger um die ohnehin bald wieder zu destruierenden Erkenntnisse selbst, als vielmehr um die von ihnen ermöglichte Erkenntnisbewegung geht, als welche nämlich die Bewegung des sich vorstellend-herstellenden Lebens selber ist.548 Anders und im Vorblick auf kommende Ausführungen gesagt: Die größere Wahrheit als tiefere Scheinbarkeit kommt der kontinuierlichen Erkenntnisbewegung als solcher zu, die das Denken vorstellend herzustellen sucht, dergestalt, daß es sich in seinen diskontinuierlichen Inhalten an sie anzumessen, nach ihr zu richten sucht, wobei sich die „Richtigkeit" letztendlich aus dem Maß an Fruchtbarkeit ergibt, mit der ihm die Beförderung dieses Lebensvollzuges gelingt. Formelhaft gesprochen: Die „ F o r m " dieses Denkens ist die Maßgabe der Richtigkeit für seinen Inhalt. Noch kürzer gefaßt — und das
122
Voraussetzungen
stimmt mit Nietzsches kunsttheoretischen Aussagen überein — : Die „ F o r m " ist der Inhalt dieses Denkens. 5 4 9 D a r u m aber ist Nietzsches Philosophie weniger scheinbar, d. h. w a h r e r als jedes andere Denken — vorläufig zumindest. D e m bauend-zerstörenden Vorstellungsvollzug verspürt Nietzsche selber nämlich:
des
Lebens
hörig,
Tiefe Abneigung, in irgend einer Gesammt-Betrachtung der Welt ein für alle Mal auszuruhen; Zauber der entgegengesetzten Denkweise; sich den Anreiz des änigmatischen Charakters nicht nehmen lassen.550,
wie er im Herbst 1885—Herbst 1886 bemerkt. Darin k o m m t er mit dem theoretischen Menschen der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " überein, dessen „Grundgeheimniss" Lessing, der nach Nietzsche „ehrlichste theoretische Mensch", dahingehend ausgesprochen habe, „dass ihm mehr am Suchen der W a h r h e i t als an ihr selbst gelegen sei" 551 : Mit seinem T o d hat Gott Nietzsche Lessings Bitte, ihm die W a h r h e i t vorzuenthalten, in der Weise erfüllt, daß nunmehr der Prozeß, die Suche nach der W a h r h e i t als tiefster Scheinbarkeit an die Stelle der absoluten W a h r h e i t getreten ist. D a r u m f o r d e r t Nietzsche-Zarathustra seine J ü n g e r auf, ihn zu verlassen, befolgt man seine Lehre doch erst dann, wenn man über sie hinausgeht. U n d darum auch schließt Nietzsche den letzten Aphorismus der „ M o r g e n r ö t h e " mit einem das gesamte W e r k frag-würdig und vorläufig erscheinen lassenden „ O d e r meine Brüder? O d e r ? —" 5 5 2 : Nietzsches Denken ist mithin auch in der Hinsicht „polemisches Denken des reinen W e r d e n s " , daß es von diesem zu seinem eigenen Vollzug hervorgebracht wird: grammatisch gesehen muß darum das Attribut sowohl als Genitivus subjectivus wie auch als Gentivus objectivus aufgefaßt werden.
10. Der letzte
Philosoph
D a ß der f r ü h e Nietzsche alle Weltansichten f ü r Perspektiven der Erhaltung und Steigerung des Lebens erklärt, in dem sich der Wille ins W e r k setzt — den er darum in A n k n ü p f u n g an Schopenhauer als „Willen zum Leben" bezeichnet —, das verweist, wie gesagt, auf die metaphysische Grundstellung Leibnizens, f ü r den das w a h r e Leben in der Lebendigkeit des Geistes, des Bewußtseins beruht: Die durch appetitus und repraesentatio geprägte M o n a d e strebt von sich her danach, in endlosem Ausgreifen Welt vorzustellen und diese perspektivischen Präsentationen auf sich z u r ü c k z u beziehen (re-praesentare), um derweise sich selbst als die Einheit welterfüllten Bewußtseins zu erwirken und zu sichern (Wahrheit als Gewißheit). So will die M o n a d e als vis primitiva activa, als Wille sich selbst:
Der letzte Philosoph
123
sie ist in ihrem Wesen "Wille zum Willen. Insgleichen der sich als Welt repräsentierende, begriffsdichterische „Wille zum Leben" Nietzsches 553 — mit der Zuspitzung, daß Nietzsche keinen Wahrheit, keinen Teleologie und ineins damit Sinn gewährenden und verbürgenden Gott mehr kennt, der herrscht, indem er Welt zueignet. Und infolge dieses Fehlens eines „absoluten Geistes" als Ur-Sache des Seienden kann er das Wesen des Lebens auch nicht mehr als Geist begreifen, der sich im Lebendigen verwirklicht, vielmehr verwirklicht sich in seiner Sicht ein leiblicher oder, mit einem Ausdruck Heideggers 554 gesprochen, ein „leibender" Wille unter Zuhilfenahme des ihm eigenen Mittels des Geistes. 555 Nicht am Leitfaden des Geistes, sondern „am Leitfaden des Leibes", wie er im Sommer—Herbst 1884 bemerkt 556 , legt Nietzsche mithin die Welt als Wille aus, dabei bewußt anthropomorphisch verfahrend, weil, so meint er zu wissen, alle Erkenntnis anthropomorphisch ist und bleibt. In diesem Sinne gibt er Ende 1876—Sommer 1877 zu bedenken — wohl auch selbstkritisch im Hinblick auf seine eigenen Überlegungen in der „Geburt der Tragödie": Schopenhauer concipirt die Welt als einen ungeheuren Menschen, dessen Handlungen wir sehen und dessen Charakter völlig unveränderlich ist: diesen können wir eben aus jenen Handlungen erschließen. Insofern ist es Pantheismus oder vielleicht Pandiabolismus, denn er hat kein Interesse, alles was er wahrnimmt in's Gute und Vollkommene umzudeuten. Aber diese ganze Unterscheidung zwischen Handlungen als Wirkungen und einem an sich seienden Charakter als Ursache ist schon am Menschen falsch, erst recht in Hinsicht auf die Welt. So etwas wie der Charakter hat an sich keine Existenz, sondern ist eine erleichternde Abstraktion. Und dies ist der Werth solcher Metaphysiker wie Schopenhauer: sie versuchen ein Weltbild: nur ist Schade, daß es die Welt in einen Menschen verwandelt: man möchte sagen, die Welt ist Schopenhauer im Großen. Das ist eben nicht wahr. 557
Auch Nietzsches Weltdeutungen, die frühe des „Willens zum Leben" wie die späte des „Willens zur Macht", die sich von der ersteren nicht zuletzt dadurch unterscheidet, daß in sie Nietzsches frühzeitige und, wie er meint, die Grundfesten der Metaphysik einreißende Zurückweisung einer „Unterscheidung zwischen Handlungen als Wirkungen und einem an sich seienden Charakter als Ursache" eingegangen ist, wie sie auch, darin sich ebenfalls vom Leibnizschen Ansatz unterscheidend, seiner frühen Verwerfung aller Einheitsvorstellungen Rechnung zu tragen sucht (der „Wille zur Macht" ist nur als Quale „vieler" Willen zur Macht) — auch die beiden Weltdeutungen Nietzsches verwandeln die Welt in einen Menschen, nur ziehen sie daraus die Konsequenz, keine Wahrheit im traditionellen metaphysischen Sinne mehr zu beanspruchen. Und sie erklären auch das Warum für diesen Verzicht; mit Nietzsches Worten aus dem Aphorismus 22 von „Jenseits von Gut und Böse" gesprochen: Alles „ist Interpretation, nicht
124
Voraussetzungen
T e x t " — so auch „ d e r " „Mensch", der immer schon von der Interpretation, die das „Leben" für „ u n s " ist, umgriffen wird. Auch er ist eine Perspektive zur Erhaltung und Steigerung des Lebens, wie das „Leben" selbst: denn „ e s " selbst ist „sich" in „uns", in denen es sich auslegt, nur perspektivisch, keineswegs absolut gegeben. Alles ist „subjektiv" und damit illusionär, auch das Subjekt — erst bei Nietzsche wird Descartes' Zweifel radikal, dergestalt, daß auch das fundamentum absolutum inconcussum des Zweifels, von dem man, wie wir gesehen haben, sagen kann, daß es nur im Gegenhalt zu Gott war, bezweifelt wird. Zwar hat bereits Kant in seiner Kritik des Cartesischen cogito in den Paralogismen der „Kritik der reinen V e r n u n f t " (B 422 Anm.) die Möglichkeit zurückgewiesen, daß mit seiner Hilfe die Gegebenheit von Substanz, Singularität, Personalität, Unsterblichkeit einer Seele bewiesen werden könne. Gleichwohl ist für ihn zumindest im Akt des Denkens das Daß eines Daseins mitgegeben: Das Ich denke ist, wie schon gesagt, ein empirischer Satz, und hält den Satz, Ich existiere, in sich.558
Doch eine solche „unmittelbare Gewißheit" eines Seins gibt es f ü r Nietzsche nicht — auch sie ist nichts als eine Vorstellung und kein Ursprüngliches, wie es in seinen Augen nur das „Ding an sich" sein könnte. 559 Es gibt keinen festen Punkt, von dem her und auf den hin etwas vor- und zurückgestellt werden kann, auch er ist bloß vor-gestellt in der Flut des Werdens. 560 Das Subjekt ist total, es ist alles — und darum nichts, denn jedes Subjekt ist immer schon Objekt, so daß Nietzsche diese grammatikalische Unterscheidung später ausdrücklich f ü r unsinnig erklärt. 561 Nichts i s t , alles w i r d . Und doch muß, so Nietzsche, das Ist geglaubt werden, weil nur so das Leben in seinem Werden sich erhalten, d. h. sichern, und — in der Uberwindung des Ist — sich steigern kann: allein in dieser Weise kann das Werden sein. Bisher konnte die Welt nur darum eine gewußte sein, weil ein geglaubtes metaphysisches „Prinzip" für ihr Sein gebürgt hat, jetzt zeigt sie sich unverhüllt als das, was sie immer war: eine Welt des Glaubens. In dieser Glaubens-Hinsicht wird nunmehr das physische „Leben", das der frühe Nietzsche bisweilen noch metaphysisch (nach seinem Wortverständnis) drapiert, zum „Gott" 5 6 2 : Es ist f ü r Nietzsche die Illusionen produzierende Illusion, die „es" im Menschen als Wahrheiten aufgehen läßt. 563 (Doch anders als einem metaphysischen „Prinzip" kommt ihm „an sich selbst", d. h. in der tiefsten uns erreichbaren Schicht, keine „Einheit" zu.) Das Leben aber bringt diese Wahrheit wie gesagt hervor, um seinen eigenen selbststeigernden Vollzug ins W e r k setzen zu können. Daraus ergibt sich für Nietzsche, daß f ü r es dasjenige wahr ist, was diesen Vollzug befördert — mit den Worten Goethes, aber nicht mit dem Goetheschen,
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sondern einem leibnizschen Sinne gesprochen: Was für es fruchtbar ist, ist f ü r es „ w a h r " — solange es fruchtbar ist, nämlich den Vollzug des Lebens befördert. Bereits in jenem eingangs dieser Arbeit (S. 4) zitierten Brief an Paul Deussen vom Oktober/November 1867 unterlegt Nietzsche seinen Ausführungen diesen Wahrheitsbegriff: Wer mir Schopenhauer durch Gründe widerlegen will, dem raune ich ins Ohr: „Aber, lieber Mann, Weltanschauungen werden weder durch Logik geschaffen, noch vernichtet. Ich fühle mich heimisch in jenem Dunstkreis, Du in jenem. Laß mir doch meine eigene Nase, wie ich Dir die Deinige nicht nehmen werde." Mitunter zwar werde ich ärgerlich, wenn ich zeitgenössische Philosophen höre oder lese und ihren Ruf bemerke und frage eindringlich wie jener bekannte Hamlet seine Mutter fragte „Habt ihr Augen? Habt ihr Augen?" Ich meine, sie haben keine, aber ich kann mich irren und die meinigen sind vielleicht zu kurzsichtig, daß ich einen Esel und ein Pferd verwechsle.[...] , Das Beste, was wir haben, sich eins zu fühlen mit einem großen Geiste, sympathisch auf seine Ideengänge eingehen zu können, eine Heimat des Gedankens, eine Zufluchtsstätte für trübe Stunden gefunden zu haben — wir werden dies anderen nicht rauben wollen, wir werden es uns selbst 564 nicht rauben lassen. Sei es ein Irrthum, sei es eine Lüge ,
(Um dieses letztgültig entscheiden zu können, fehlt es indes an jedwedem Kriterium — wessen Augen könnten so weit- und umsichtig sein, daß sie die Wahrheit an sich zu erkennen vermöchten?: Woraus Nietzsche die Konsequenz zieht, die Frage nach ihr, die die fatale Folge hat, den Menschen in eine schiefe Stellung zur Physis zu bringen, auf sich beruhen zu lassen.) Die „Wahrheit" einer Philosophie kann demnach nur noch der Lebensvollzug selber sein: Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben. [ . . . ] Aber das Beispiel muss durch das sichtbare Leben und nicht bloss durch Bücher gegeben werden,565 schreibt Nietzsche in der 3. Unzeitgemässen Betrachtung „Schopenhauer als Erzieher". Denn „an Systemen, die widerlegt sind" — und „philosophische Systeme [sind] nur f ü r ihre Gründer ganz w a h r " —, „kann uns eben nur noch das Persönliche interessiren, denn dies ist das ewig Unwiderlegbare" 5 6 6 : D i e Art zu leben und die menschlichen Dinge anzusehn ist jedenfalls einmal dagewesen und also möglich: das „System" ist das Gewächs dieses 567 Bodens, oder wenigstens ein Theil dieses Systems,
— so lehrt beispielsweise die Geschichte der „Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen". 568
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Aber sie lehrt eben auch die Relativität und damit die Vergänglichkeit der Wahrheit — Nietzsche notiert: „Sonderbares Problem: das sich Verzehren der philosophischen Systeme!"569 —, wiewohl ein jeder Philosoph glaubte: Er hat die Wahrheit; mag das Rad der Zeit rollen, wohin es will, nie wird es der Wahrheit entfliehen können. 5 7 0
Die Geschichte der Philosophie zeigt, daß es keine ewigen Wahrheiten gibt — außer den beiden vielleicht, daß es keine gibt, daß der Mensch aber nur schaffen, d. h. temporäre Wahrheiten hervorbringen kann in dem Glauben, daß es sich in ihrem Falle um bleibende Wahrheiten handelt. Damit aber scheint sich diese Illusion als fruchtbarer und damit als wahrer für das Leben zu erweisen als jene weniger scheinbare „Wahrheit", die doch eigentlich, und das erscheint paradox, den Lebensvollzug in seiner Vollzugshaftigkeit freizugeben versucht. Aber sie unterläuft dabei die „Erkenntnis", die sich als lebenserhaltend erwiesen hat, den Glauben, daß ein Sein sei... Und der Erweis ihrer eigenen Fruchtbarkeit steht noch aus, der Erweis mithin, daß die Lehre: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr", wirklich fruchtbar ist.571 „Der letzte Philosoph — es können ganze Generationen sein."572, der um die Anthropomorphic aller Erkenntnis und damit auch um die Anthropomorphic jeglichen Sinnes weiß und darob keine andere Aufgabe mehr sieht, als „nur zum L e b e n zu helfen" 573 , er muß im Unterschied zu allen Philosophen vor ihm die Illusion als „ I l l u s i o n w o l l e n " 5 7 4 — was nicht nur bedeutet, daß er um die Illusionshaftigkeit aller „Wahrheiten" weiß, sondern auch, daß er, darin einen Willen des Lebens zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung erkennend, seiner einen Aufgabe nur durch die Bejahung dieses Willens zu obliegen vermag: Er beweist die Nothwendigkeit der Illusion, der Kunst und der das Leben beherrschenden Kunst. 575
Denn die Erkenntnis der Illusionshaftigkeit aller menschlichen Erkenntnis ruft im Philosophen „einen qualvollen Zustand hervor: dagegen nur Heilung in dem Schein der Kunst", wie Nietzsche im September 1870—Januar 187 1 576 festhält. Sie nämlich tritt der nicht nur für den Philosophen furchbaren Relativierung alles Wissens und alles Seins insofern entgegen, als sie die Form ist, „in der die Welt unter der Wahnvorstellung ihrer Nothwendigkeit erscheint." 577 So sieht sich der letzte Philosoph beinahe aussichtslos verstrickt: Er will die Erkenntnis, aber er darf sie eigentlich nicht wollen, weil sie das blinde Zutrauen zum Leben vernichtet, indem sie alles „Sein" als Schein entlarvt — eingeschlossen sich selbst; woraus Nietzsche wiederum, wie gezeigt (siehe Seite 90 f.), schließt, daß dem Philosophen die Erkenntnis, so wie er sie will,
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als absolute nämlich, darum verwehrt ist, weil dies den Stillstand des Lebens bedeuten würde, wovor sich dieses selbst zu schützen sucht. Warum nimmt also der letzte Philosoph den Illusionen ihre lebenserhaltende Kraft, indem er sie als Illusion erweist? Der Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es allerdings, daß die nächste Wirkung die von kleinen Dosen Opium ist: Steigerung der Weltbejahung, zeichnet Nietzsche im Zeitraum Winter 1869/70—Frühjahr 18 7 0578 auf. Betreibt nicht auch der letzte Philosoph Friedrich Nietzsche mit seiner wissenschaftlich gestützten Erkenntnistheorie jenes weltzerstörerische Geschäft? Und wie kann er dieses nihilistische T u n rechtfertigen?: Fragen, die Nietzsche vom Beginn seines Denkens an umtreiben und die er erst in dem Maße einer seiner geistigen Redlichkeit genügenden Antwort zuzuführen weiß, als er sich seinen einen Gedanken des Nihilismus und dessen Uberwindung zudenkt, den Gedanken, Vollstrecker und Zerstörer der metaphysischen Voraussetzungen von Parmenides und Piaton zu sein. Erst dann gelingt es ihm auch, die von Anfang an gültige Antwort auf diese Fragen von der obengenannten Opium-Verdächtigung zu befreien und die diese Antwort tragende Erfahrung einer Steigerung der eigenen Weltbejahung zu verallgemeinern und auf die zukünftige Geschichte als ganze auszudehnen, die Antwort nämlich, daß er nicht anders könne, weil das Leben ihn so wolle. Denn bei aller Betonung der schöpferischen Freiheit menschlichen Tuns erblickt Nietzsche doch in ihrer Bewährung das Wirken höchster Notwendigkeit, die er in seiner Artisten-Metaphysik als Vollstreckung des Wollens des Weltwillens deutet. 579 Nietzsche begründet somit sein T u n durch das als Zwang des eigenen Lebens erfahrene Wollen jenes Willens, der, „an sich" sinnlos, ihm damit paradoxerweise Sinn gibt. (Eine Paradoxie, von der Nietzsches gesamtes Denken gezeichnet ist und aus der sich als grundlegender Einwand gegen dessen philosophischen Ansatz die — hier nicht beantwortbare — Frage gewinnen läßt: Wie etwas an sich selber sinnlos sein kann, wenn es unentwegt Sinn produziert, weil es zu seinem Vollzug auf Sinnfindung angewiesen ist?)580 Für Nietzsche kann indes dieser Sinn immer nur illusionär, weil bloß vorgestellt, sein. In seinem Falle bedeutet dies aber, daß nicht mehr nur die bloße Ersetzung einer als Illusion erkannten Wahrheit durch eine neue, letztlich doch auch wieder nur vermeintliche Wahrheit, sondern die Aufdeckung des illusionären Charakters der Wahrheit als solcher die sein Leben vorantreibende Illusion ist. Er selber bedenkt dies am Ende der ersten seiner „Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern", betitelt „Ueber das Pathos der Wahrheit". Ausgehend von dem Gedanken, daß den Menschen die einzige ihm zugängliche Wahrheit, nämlich „die Wahrheit, ewig zur Unwahrheit
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verdammt zu sein" 581 , eigentlich „zur Verzweiflung und Vernichtung treiben" müßte, bemerkt er dort: Dem Menschen geziemt aber allein der Glaube an die erreichbare Wahrheit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion. Lebt er nicht eigentlich d u r c h ein fortwährendes Getäuschtwerden? Verschweigt ihm die Natur nicht das Allermeiste, ja gerade das Allernächste ζ. B. seinen eignen Leib, von dem er nur ein gauklerisches „Bewußtsein" hat? In dieses Bewußtsein ist er eingeschlossen, und die Natur warf den Schlüssel weg. Ο der verhängnißvollen Neubegier des Philosophen, der durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtheits-Zimmer hinaus und hinab zu sehen verlangt: vielleicht ahnt er dann, wie auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtswissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. [ . . . ] „Weckt ihn auf" ruft der Philosoph, im Pathos der Wahrheit. Doch er selbst versinkt, während er den Schlafenden zu rütteln glaubt, in einen noch tieferen magischen Schlummer — vielleicht träumt er dann von den „Ideen" oder von der Unsterblichkeit. 582 Es gibt kein Entrinnen aus dem Netz der Illusionen, in das sich der Mensch verstrickt sieht: Selbst die Erkenntniß über ihr Wesen vernichtet nicht ihre Wirksamkeit. Wohl aber bringt die Erkenntniß einen qualvollen Zustand hervor 583 , kann man in einer aus dem Zeitraum September 1 8 7 0 — J a n u a r 1 8 7 1 stammenden Aufzeichnung lesen. Doch wenn es dem Philosophen gelingen mag, diese Erkenntnisqual in K r a f t f ü r den eigenen Erkenntnisfort-schritt umzumünzen, sie somit f ü r das eigene Leben fruchtbar zu machen — kann er gleiches auch von der Menge erwarten?: Die Wahnvorstellungen: wer sie durchschaut, hat nur die Kunst zum Trost. Das Durchdringen ist jetzt für die Freigeister Nothwendigkeit: wie sich dazu die Menge verhält, ist nicht zu errathen., gibt Nietzsche im gleichen Zeitraum zu bedenken. 584 Eine Frage, die f ü r ihn darum so bedeutsam ist, weil eben der letzte Philosoph einer, wie sich nun zeigt, „ f ü r uns an sich" sinnlosen W e l t „nur zum L e b e n zu helfen" 5 8 5 hat — und dies, gemäß Nietzsches „existenziellem" Wahrheitsbegriff, v o r allem durch sein Vorbild: Das Product des Philosophen ist sein L e b e n (zuerst, vor seinen W e r k e n ) . Das ist sein Kunstwerk. Jedes Kunstwerk ist einmal dem Künstler, sodann den andern Menschen zugekehrt. 586 Darin, in dieser Beziehung zu den anderen Menschen, liegt seine Aufgabe und seine Verantwortung: selbst wenn er sich streng von ihnen absondert, als Einsiedler, so giebt er damit eine Lehre, ein Beispiel und ist Philosoph auch für die Andern. 587
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Brücke zur Zukunft, zur eigenen wie zu der der Nachkommenden, zu sein und damit den Lebensvollzug als solchen zu befördern — „Die Individuen sind die Brücken, auf denen das Werden beruht.", lautet eine Aufzeichnung vom Sommer 1872—Anfang 18 7 3 588 —, das ist nach Nietzsches Ansicht die — selbstgestellte — Aufgabe des Philosophen. Solches bedenkt auch eine späte Aufzeichnung vom Sommer 1883: Man sucht das Bild der Welt in der Philosophie, bei der es uns am freiesten zu Muthe wird; d. h. bei der unser mächtigster Trieb sich frei fühlt zu seiner Thätigkeit. So wird es auch bei mir stehn! 589
„Man sucht das Bild der Welt in der Philosophie, bei der uns am freiesten zu Muthe wird": auf das Zerstören von Illusionen hat das Bauen neuer zu folgen: Kunst, nämlich ein selbstgeschaffenes und als solches einbekanntes, als notwendig zu glaubende Illusion und keineswegs als Wahrheit ausgegebenes Weltbild steht nunmehr am Ende des philosophischen Erkenntnisweges, dessen Destruktionsabschnitt es dadurch rechtfertigen kann, daß es einen freieren Lebensvollzug als die zerstörten Illusionen ermöglicht, somit fruchtbarer, was jetzt heißt: wahrer als jene i s t . . . „Die Philosophie hat die tragische Bedürftigkeit zu erzeugen.", notiert sich Nietzsche im Sommer 1872—Anfang 18 7 3590 und meint damit den die Erkenntnisqual, nichts in seinem „An-Sich" erkennen zu können, überwindenden Willen zum „frei gesetzten" und in dieser seiner Illusionshaftigkeit bejahten, künstlerisch zu nennenden Weltbild. Aber in seiner Frühzeit setzt Nietzsche in seinen veröffentlichten Werken dieses Bild, ohne seinen illusionären Charakter unverblümt auszusprechen, er wagt sich noch nicht einzugestehen, daß er die auflösenden Tendenzen unseres Zeitalters allererst in ihre Krisis treiben muß, bevor ein Neubau möglich ist. Er glaubt dasjenige, was er später den „Nihilismus" nennt, noch aufhalten zu können und vor allem aufhalten zu müssen — und zwar mit Hilfe desjenigen, worin er später die Ursache des Nihilismus erkennt, der Metaphysik nämlich. Erst in dem frühesten der „nachwagnerschen" Werke, in „Menschliches, Allzumenschliches", sucht er jener Aufgabe der Philosophie in der Weise zu entsprechen, daß er den Menschen zu zeigen beginnt: „,Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt'". 591 Jetzt wagt er es, sie die furchtbare Wahrheit, „ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein", zu lehren, weil er glaubt, diese zum Auslese- und Züchtungskriterium für den Übermenschen machen zu können 592 : Während jene „ M i ß r a t h e n e n und Unglücklichen" 593 , die nur als potentielle Himmelsbewohner das Leben zu ertragen vermögen, wie er wünscht, an dieser „Wahrheit" des Fehlens jeglicher Wahrheit zugrundegehen werden, wird dieser seiner Ansicht nach jene Wahrheit als Freisetzung zur eigenen Schöpferkraft auffassen und damit endlich die Erde als Heimat und Herrschaft übernehmen. Tragende
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Voraussetzung dieses Züchtungsgedankens ist aber die — inzwischen widerlegte — Lamarckistische These von der Vererbbarkeit geistiger Prägungen. 594 An sie glaubend, kann Nietzsche schließlich hoffen, mit der radikalsten Destruktion zu bauen: Die F o l g e n meiner Lehre müssen fürchterlich wüthen: aber es s o l l e n a n i h r U n z ä h l i g e zu Grunde g e h e n . — wir m a c h e n einen V e r s u c h mit der Wahrheit! Vielleicht geht die Menschheit dran zu Grunde! Wohlan! 595 ,
notiert sich Nietzsche im Frühjahr 1884 unmittelbar im Anschluß an die erste Aufzeichnung des Assassinen-Spruches: „ ,Nichts ist wahr, alles ist erlaubt'." 596 Indem Nietzsche ineins mit diesem Satz dem Menschen jenes Schöpfertum in allen seinen Handlungen und Taten aufweist, hält er ihn dazu an, dieses als sein Wesen nunmehr eigens zu ergreifen. Weswegen seine Philosophie gemäß ihrer eigenen Voraussetzung, daß das Leben sich als einen schöpferischen Prozeß will, in seinen Augen fruchtbarer und d. h. wahrer als andere erweist. Willens, dieser Voraussetzung zu entsprechen, darf sich indes nicht nur Nietzsche selber bei keiner „Gesammt-Betrachtung der Welt ein für alle Mal" beruhigen, vielmehr muß er auch seine „Jünger" dazu aufrufen, ihn und sein W e r k hinter sich zu lassen, so daß sich das Paradoxon ergibt, daß man seine Lehre erst dann befolgt, wenn man über sie hinausgeht. 597 So daß seine Philosophie ihrem eigenen Vergehen voraus ist... Der „Hanswurst" trotz gegenteiliger Bekundung — „Ich w i l l keine ,Gläubigen' [ . . . ] Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst" 5 9 8 — sich heilig spricht: als närrischer Hanswurst. — 11.,, Was fruchtbar ist, allein ist wahr." — Erneut: Schopenhauer, sowie zum zweiten Male: das Verhältnis von Philosophie, Wissenschaft und Kunst Zunächst jedoch hängt er „Schopenhauer als Erzieher" an, nicht weil er dessen willensverneinende Philosophie in dem von ihr beanspruchten Sinne f ü r wahr hielte — diesen Anspruch hat er, wie wir gesehen haben, bereits Ende 1867/Anfang 1868 zurückgewiesen —, sondern weil er sich vorläufig noch in ihrem „Dunstkreis" „heimisch" fühlt, weil mithin diese Philosophie f ü r ihn fruchtbar und damit im Sinne seines eigenen Wahrheitsbegriffes „ w a h r " ist. Im „Rückblick auf seine zwei Leipziger J a h r e " weiß er über die Gestimmtheit, in der ihm Schopenhauers Hauptwerk Ende O k t o b e r / A n fang November 1865 begegnete, zu berichten: „Ich lernte damals mit Behagen schwarz sehen, nachdem es mir selber, wider meine Schuld wie mir schien, schwarz gegangen war." 599 — in seinem Bonner Studienjahr nämlich.
„Was fruchtbar ist, allein ist wahr."
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Nun vergegenwärtige man sich, wie in solchem Zustande die Lektüre von Schopenhauers Hauptwerk wirken mußte. [ . . . ] Hier war jede Zeile, die Entsagung, Verneinung, Resignation schrie, hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt Leben und eigen Gemüth in entsetzlicher Großartigkeit erblickte. Hier sah mich das volle interesselose Sonnenauge der Kunst an, hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hölle und Himmel. 600
Und am 8.10. 1868 schreibt er an Rohde 6 0 ': Mir behagt an Wagner, was mir an Schopenhauer behagt, die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft etc.
Nietzsche und Schopenhauer berührte die Welt auf die gleiche Weise, das Leiden war für Schopenhauer wie Nietzsche („Schmerz ist der Grundton der Natur") das factum brutum derselben. 602 Indes war ihnen nur kurze Zeit die Hinsichtnahme auf dieses Faktum gemeinsam. Bald schied Nietzsche zwischen einem lebensverneinenden Pessimismus, den er Schopenhauer zusprach, und einem lebensbejahenden, den er für sich in Anspruch nahm, zwischen einem, wie er später sagte, Pessimismus der Schwäche als „Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Missrathenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte [ . . . ] — wie er es bei den Indern war, wie er es, allem Anschein nach, bei uns, den ,modernen' Menschen und Europäern ist", und einem Pessimismus der Stärke, einer „intellektueile[n] Vorneigung f ü r das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus F ü l l e des Daseins". 603 (Daß er im „Versuch einer Selbstkritik" seiner „Geburt der Tragödie" Anlaß haben sollte, darüber Klage zu führen, sich diese seine „dionysischefn] Ahnungen" „mit Schopenhauerischen Formeln [ . . . ] verdunkelt und verdorben zu haben" 604 , das hat seinen Grund nicht zuletzt darin, daß er an demjenigen, dem seine philosophische Erstlingsschrift gewidmet war, an Richard Wagner nämlich, doch auch anderes fand als bloßes Behagen über die ,ethische Luft' etc.: Er sah in ihm, wie er am 9. Dezember 1868 an Rohde schrieb, „die leibhaftigste Illustration dessen, was Schopenhauer ein Genie nennt" 6 0 5 , dazu im folgenden.) Jene Umdrehung der Sichtweise auf das Leben oder den „Willen" hebt mit der Einsicht an, daß der lebensverneinende Pessimismus Schopenhauers als „Folge der [logischen] Erkenntniß vom absolut Unlogischen der Weltordnung" 6 0 6 selber „praktisch und theoretisch unlogisch [ist]. Weil die Logik nur die μ η χ α ν ή des Willens ist." 607 In allem, was ist, will der Wille sich, d. h.: Man kommt nicht über den Willen hinweg: die Moral, die Kunst stehen nur in s e i n e m Dienste und arbeiten nur für ihn. Vielleicht ist die Illusion, daß es gegen ihn geschehe, nothwendig. 608
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Für die „asketischen Richtungen", zu denen Nietzsche neben dem Christentum auch Schopenhauer zählt, gilt nämlich, daß sie „die Folge der verkümmerten Natur" 6 0 9 sind, was meint, daß das Leben so entartet ist, daß der Wille sich nur wollen kann, indem er sich — scheinbar — negiert: Dies ist die große Illusion: der Wille hält uns am Dasein fest und wendet jede Überzeugung hin zu einer Ansicht, die das Dasein ermöglicht.610 „Dies ist die große Illusion" — der Satz sagt es: auch er selbst — als Gewollter des Willens, der er ist. Denn der „Wille" Nietzsches ist seinem eigenen Anspruch nach „Illusion" — auch der „Wille" der „Geburt der Tragödie", welcher demjenigen Schopenhauers eben doch nur in vordergründiger Sichtweise ähnelt. Einer Interpretation, die das am veröffentlichten Text nachweisen wird, vorgreifend, läßt sich solches aufzeigen an der Vorstufe des ,,Fragment[s] einer erweiterten Form der ,Geburt der Tragödie', geschrieben in den ersten Wochen des Jahres 1871 ".en In diesem Text denkt Nietzsche wie in seiner philosophischen Erstlingsschrift die Welt vom Ur-Einen oder „Weltauge" aus als Schein desselben, darin sich dieses wiederspiegelt und anschaut, in noch höherer Weise aber im Schein des Kunstwerkes, welches der Genius für es schafft: als Schein des Scheins der Welt stellt es einen potenzierten Schein dar. Die Vorstufe bemerkt zu dieser Konzeption aber: [Dabei vergessen] wir nicht, daß jener ganze Prozeß [des Werdens der Welt und der Entstehung des Genius, Th. B.] nur unsere nothwendige Erscheinungsform [ist], soweit ohne alle metaphysische Realität ist: daß wir aber mit all unseren Beweisen aus dieser Schranke nicht heraus können und sie höchstens als solche zu erkennen befähigt sind. Wenn ich im Vorhergehenden von dem Genius und dem Schein zu reden wagte, als ob mir eine über jene Schranke herausgehende Erkenntniß zu Gebote stünde und als ob ich aus dem r e i n e n großen Weltauge zu blicken vermöchte: so sei nachträglich erklärt, wie ich mit jener Bildersprache nicht glaube, aus dem anthrophomorphischen Kreise herausgetreten zu sein. Aber wer hielte das Dasein aus, ohne solche mystische Möglichkeiten? Und noch erwarte ich Wir, die wir genöthigt sind, alles unter der Form des Werdens 612 d. h. als Willen zu verstehen
Wenn der „Wille" Schopenhauers, welcher gleichfalls in der Welt zu seiner Selbsterkenntnis zu gelangen sucht, beansprucht, Bestimmung des Kantischen „Dinges an sich" und damit Wahrheit an sich, metaphysische Realität, zu sein, so weiß Nietzsche, wie wir schon früher ausgeführt haben (siehe Seite 34 f.), daß dieser „Wille" bestenfalls „die allgemeinste Erscheinungsform" 6 1 3 sein kann. Das wird auch an einigen Stellen der „Geburt der Tragödie" deutlich, obgleich sich ihre Bestimmungen vordergründig als metaphysische Realitäten auszugeben bestrebt sind. Den Grund dafür nennt die obige Textpassage: „wer hielte das Dasein aus, ohne solche mystische Möglichkeiten?", d . h . ohne metaphysischen Glauben.
„ W a s f r u c h t b a r ist, allein ist w a h r . "
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Das Bedürfnis des Menschen nach Metaphysik hat bereits Kant in der transzendentalen Dialektik der „Kritik der reinen V e r n u n f t " zu begründen versucht, indem er die Notwendigkeit von Vorstellungen des Unbedingten als Regulationen der Erkenntnis erwiesen hat: das Bestreben menschlicher Erkenntnis geht immer darauf hinaus, den Zusammenhang des von der Erfahrung dargebotenen Bedingten auf ein „Unbedingtes" zu beziehen, das indes infolge der Endlichkeit der Erfahrung niemals ein Gegenstand derselben sein kann. In Bezugnahme auf diese Ausführungen hat dann Schopenhauer ausdrücklich von einem „metaphysischen Bedürfnis" des Menschen gesprochen 614 und als weitere Erklärung für dasselbe hinzugefügt: ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Not des Lebens, was den stärksten Anstoß zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der Welt gibt. (WaWII, 207 f.) Es sei dies letztlich die Frage danach, „warum die Welt dasei und gerade diese Beschaffenheit habe" (ebd., S. 208), welche er, wenn auch nicht in Hinblick auf ein „Absolutum", das, so seine Selbstkorrektur im 2. Teil seines Hauptwerkes, „der menschliche Intellekt zu fassen und zu denken völlig unfähig ist" (edb., S. 240), so doch zumindest in Hinblick auf die Welt der Erscheinungen schlüssig, d. h. richtig 615 , und damit letztgültig beantwortet habe. Dementgegen geht Nietzsche davon aus, daß „die reine Wahrheit unerkennbar" 6 1 6 ist, woraus zwar auf die „Unmöglichkeit der Metaphysik" 617 , nicht aber zugleich auf den Verlust ihrer Existenzberechtigung geschlossen werden kann. W a s soll j e t z t die P h i l o s o p h i e ? , fragt Nietzsche im Winter 1872/73 618 , und er findet als eine Antwort: „einen Menschen concentriren". 619 Sie soll mithin den Horizont setzen, von dem her sich der einzelne zu sich und seinem Lebensvollzug sammeln kann. Sie soll das Leben zu einer Einheit zusammenschließen und damit das leisten, was einst der Mythos als ,,zusammengezogene[s] Weltbild", als „Abbreviatur der Erscheinung" 6 2 0 vollbracht hat. Zerstört wurde der Mythos zufolge der „Geburt der Tragödie" durch die Wissenschaft 621 , welche den Menschen in eine „Unendlichkeit des Horizontes" 6 2 2 hineinstellt „durch fortwährendes Verschieben der Horizont-Perspektiven". 6 2 3 Aber es ist ein allgemeines Gesetz: jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend einen Horizont um sich zu ziehen und zu selbstisch wiederum, innerhalb eines fremden den eigenen Blick einzuschliessen, so siecht es matt oder überhastig zu zeitigem Untergange dahin.624
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Die Aspekte von „ W e l t " mögen potentiell unendlich sein, aber die Lebens-,,Welt" kann, weil Leben sich im Fortschreiten von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt vollzieht, nur endlich und d. h. perspektivisch und horizonthaft sein: Bereits der Eröffner dieser metaphysischen Grundstellung, Leibniz, hat darauf hingewiesen, daß Welt (werelt) „Umkreis der Erde, orbis terrarum" besagt: Wirren, Werre ( W i r e bey den Engländern, G y r u s bei den Griechen) bedeutet, was in die Runde sich herum ziehet. 625
Das, was ist, zur „ W e l t " und d . h . für ihn: zur Vorstellung eines unbedingten Zusammenhangs aller äußeren Erscheinungen zu ründen, das hat Kant schließlich als ein Bedürfnis unserer Verstandeserkenntnis zu erweisen gesucht: „ W e l t " rechne zu den notwendigen Vorstellungen, die dem menschlichen Verstand aufgegeben sind. Mit dem Aufkommen der wissenschaftlichen Weltverhaltung bei den Vorsokratikern — Nietzsche sieht in Thaies den ersten Zerstörer des Mythos 626 — befindet sich ihm zufolge das Leben oder der „Wille" indes in der Gefahr, seinen jeweiligen sich selbst gesetzten Horizont und damit die Menge der Aspekte von Welt, welche Aspekte seiner selbst sind, über das ihm für seinen Vollzug eben noch zuträgliche Maß hinaus zu erweitern und damit seine eigene Zerstörung zu betreiben. Der Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es allerdings, daß die nächste Wirkung die von kleinen Dosen Opium ist: Steigerung der Weltbejahung. [ . . . ] . Es ist nachzuweisen, daß in Griechenland der Prozeß im Kleinen schon vollzogen ist: obwohl diese griechische Wissenschaft nur wenig bedeutet. 627
Bereits im Winter 1869/70—Frühjahr 1870 ist Nietzsche dieser nihilistische Charakter der Wissenschaft, ihre Vernichtung der „Welt", aufgegangen. Welcher Prozeß, wie wir sehen werden, in Nietzsches Augen seinen H ö h e p u n k t erreicht mit Kants Nachweis, daß „Welt", sofern man sie für die Vorstellung eines Gegenstandes hält, nichts als transzendentaler Schein ist. Wie indes eine solche Selbstgefährdung des „Willens" möglich sein, wie das Leben entarten kann, wenn doch alles, was ist, ihm zu dienen hat — auch die Wissenschaft (um dies zum Ausdruck zu bringen, spricht Nietzsche von „Erkenntnißtrieb", und so geht von ihr zunächst ja auch eine „Steigerung der Weltbejahung" aus: Die Wissenschaft steht auch unter der Herrschaft des Triebes zum Leben: die Welt ist werth erkannt zu werden: der Triumph der Erkenntniß hält am Leben fest.,
notiert sich Nietzsche im Zeitraum Winter 1869/70—Frühjahr 18 7 0628) — ob es f ü r jene Selbstzerstörung des Willens überhaupt eine stichhaltige
„ W a s fruchtbar ist, allein ist wahr."
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Erklärung geben kann, das müssen wir zunächst offenlassen. Vorderhand haben wir vielmehr daran zu erinnern: D a s Leben unterstützen — zum Leben verführen, ist [ . . . ] die jeder Erkenntniß zu G r u n d e liegende Absicht, das unlogische Element, welches als der Vater jeder Erkenntniß auch die Grenzen derselben bestimmt. 6 2 9
D a s äußert sich nicht zuletzt in der Weise eines beständigen ,,Umschlagen[s] der Wissenschaft in K u n s t " , d. h. in ein ,,mythische[s], mit Phantasmen geschmückte[s] Weltbild" 6 3 0 , und dies — „ g e m ä ß einer Art von Alloeopathie der N a t u r " — bei dem jedesmaligen Erreichen ihrer Grenzen. D e n Beginn des letzteren Prozesses haben wir uns etwa so vorzustellen, daß der theoretische Mensch an irgend einem Punkt der anschaulichen Welt die Existenz einer Illusion wahrnimmt, die allgemeine Existenz einer naiven T ä u s c h u n g der Sinnlichkeit und des Verstandes, von der er unter behutsamem Gebauch der Kausalität und an der H a n d des logischen Mechanismus sich selbst befreit: dabei entdeckt er zugleich, daß die gewöhnliche mythische Vorstellung jenes H e r g a n g s im Vergleich mit seiner Erkenntniß einen Irrthum enthalte, daß somit das als glaubwürdig verehrte Weltbild des V o l k s mit nachweisbaren Irrthümern behaftet sei. S o beginnt die griechische Wissenschaft 6 3 1 ,
die sich somit in ihrem Wesen als nihilistisch erweist, insofern sie Illusionen zerstört, die sich als lebenserhaltend gezeigt haben: die das Denken und T u n des Volkes bestimmenden Weltbilder. 6 3 2 Doch pendelt die griechische Wissenschaft diese nihilistische T e n d e n z sogleich wieder aus, indem sie, wie Nietzsche fortfährt, sofort in ihren ersten Stadien, im G r u n d e nur als Embryo der Wissenschaft, schon in Kunst umschlägt und von dem fußbreiten soeben errungenen Standpunkte aus durch eine phantastische Analogie ein neues Weltbild ins Blaue zeichnet, die Welt als Wasser oder als Luft oder als Feuer. Hier ist ein einfaches chemisches Experiment durch eine Hohlspiegelvergrößerung zum Ursprung des Seins gemacht w o r d e n : als welchen K o s m o g o n i e n zu Liebe jetzt die Vielheit und Unendlichkeit des Vorhandenen nur durch eine U n z a h l physikalischer Phantasmen, j a wenn diese nicht zureichen, selbst durch die alten Volksgötter, erklärt werden müssen. 6 3 3
Nachdem das „griechische" Leben den Mythos zerstört hat, weil es sich angesichts ,,[d]essen grenzenlose[r] Unsicherheit und W o g e n " „nach Sicherem" sehnte 634 , treibt es umgekehrt hinwiederum, im unvergänglichen Bedürfnis nach einem horizonthaft geschlossenen Weltbild, über die Erkenntnis des einzelnen Seienden hinaus, wobei es sich über die — von der Erkenntnis selber hervorgebrachten — logischen Gesetze hinwegsetzt. Was fruchtbar ist, ist dem Leben wahr — und fruchtbar sind die wissenschaftlichen Feststellungen für es allein dort, wo sie in einem ihnen vorausgesetzten Weltbild aufgehoben sind, „denn ohne ein solches
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Voraussetzungen
regulatives Gesammtbild sind sie Stricke, die nirgends an's Ende führen und unsern Lebenslauf nur noch verwirrter und labyrinthischer machen." 635 So mag immerhin jenes mythische, mit Phantasmen geschmückte Weltbild nur als Übertreibung einer kleinen wissenschaftlichen Einzelerkenntniß erscheinen: in Wahrheit ist es der treibende Grund dieser Erkenntniß 636 .
Und dies darum, weil in jenem Weltbild, das die künstlerische Phantasie, der Erkenntnis vorausspringend, dieser voraussetzt, dem Leben neue Möglichkeiten seiner Aufsteigerung eröffnet werden — in dieser ihrer Fruchtbarkeit sind sie wahr. Im Geschehnis der Voraussetzung dieses Weltbildes scheint somit die tiefste Scheinbarkeit des Werdens auf — indes nur momenthaft, weil sie in ihm zugleich auf bestimmte Möglichkeiten festgemacht wird, die die nachhinkende Erkenntnis zu ergreifen sucht. Solcherweise ergriffen, hat sich der Aufschein unter der H a n d immer schon zum Anschein verdüstert. In diesem „Kampf von Kunst und Erkenntniss" 637 vollzieht sich mithin das Werden des Lebens, es ist nichts anderes als dieser Widerstreit von Setzung eines phantasieerzeugten Bildes vom „ G a n z e n " der Welt und Aufhebung desselben durch feststellende Erforschung des einzelnen, ein Widerstreit, der Nietzsche zufolge vorzüglich im Philosophen statthat; denn in den Vorsokratikern sieht Nietzsche auch die ersten Philosophen. Woraus sich ergibt, daß Philosophie Wissenschaft ist, soweit sie Erkenntnis am Leitfaden der Kausalität anstrebt, und daß sie zur Kunst wird, soweit sie über eine solche Erkenntnis hinausgehend ein horizonthaft geschlossenes Weltbild anstrebt. Wenn Thaies ausgehend von dem Satz „Alles ist Eins" — der, wie wir wissen, „seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat, und dem wir bei allen Philosophien [ . . . ] begegnen" 638 —, wenn Thaies sagt „Alles ist Wasser", so zuckt der Mensch empor aus dem wurmartigen Betasten und Herumkriechen der einzelnen Wissenschaften, er ahnt die letzte Lösung der Dinge und überwindet, durch diese Ahnung, die gemeine Befangenheit der niederen Erkenntnißgrade. 639 ,
bändigt derweise den Erkenntnistrieb durch ein künstlerisches Bild, so lange, bis dieser erneut seine Fesseln zerreißt — und so fort: „In Thaies siegt zum ersten Male der wissenschaftliche Mensch über den mythischen und wieder der weise Mensch über den wissenschaftlichen.", notiert sich Nietzsche im Sommer 18 75.640 Es liegen somit fortwährend, wie Nietzsche auch sagt, „Wissenschaft und Weisheit im Kampfe" 6 4 1 — was man zureichend erst dann verstehen kann, wenn man, wie wir dies erst anläßlich unserer Interpretation der „Geburt der Tragödie" tun können, bedenkt, was „ K a m p f " für Nietzsche heißt. Hier wollen wir zu jenem besonderen Kampf mit Nietzsche nur noch soviel bemerken:
„Was fruchtbar ist, allein ist wahr."
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Das griechische W o r t , welches den „Weisen" bezeichnet, gehört etymologisch zu sapio ich schmecke, sapiens der Schmeckende, sisyphos der Mann des schärfsten Geschmacks; ein scharfes Herausmerken und -erkennen, ein bedeutendes Unterscheiden macht also, nach dem Bewußtsein des Volkes, die eigenthümliche Kunst des Philosophen aus. [ . . . ] Die Wissenschaft stürzt sich, ohne solches Auswählen, ohne solchen Feingeschmack, auf alles Wißbare, in der blinden Begierde, alles um jeden Preis erkennen zu wollen; das philosophische Denken dagegen ist immer auf der Fährte der wissenswürdigsten Dinge, der großen und wichtigen Erkenntnisse. N u n ist der Begriff der Größe wandelbar, sowohl im moralischen als ästhetischen Bereiche: so beginnt die Philosophie mit einer Gesetzgebung der Größe, ein Namengeben ist mit ihr verbunden. „Das ist g r o ß " sagt sie und damit erhebt sie den Menschen über das blinde ungebändigte Begehren seines Erkenntnißtriebes. Durch den Begriff der Größe bändigt sie diesen Trieb: und am meisten dadurch, daß sie die größte Erkenntniß, vom Wesen und Kern der Dinge, als erreichbar und als erreicht betrachtet. 642
Sofern die Philosophie ihrem Namen und d. h. ihrer Wesensbestimmung entsprechend „Liebe zur Weisheit" ist, ist sie Kunst, weil sie einen Begriff von Größe schafft, der den Erkenntnistrieb und damit die Wissenschaft bändigt. Insofern die Philosophie auch Wissenschaft oder, wie in der Antike, die nur vereinzelt, mit Aristoteles und seiner Schule, den großen Ärzten und den Atomistikern etwa, Ansätze zu einzelwissenschaftlichem Denken ausbildete, die Wissenschaft ist, vollzieht sich diese Bändigung einerseits innerhalb ihrer selbst, seit dem Ausgang der Antike, mit dem sich die Philosophie in das Gewand der christlichen Theologie kleidet 643 , andererseits auch im Widerstreit gegen die einzelwissenschaftlichen Disziplinen. In welchem Kampf es jedoch keineswegs „um eine Vernichtung der Wissenschaft, sondern um eine B e h e r r s c h u n g " 6 4 4 derselben durch die Kunst-Philosophie geht, die diese bisher vor allem dadurch erlangt hat, „daß sie die größte Erkenntniß, vom Wesen und Kern der Dinge, als erreichbar und als erreicht betrachtet [hat]." Doch ausgerechnet jetzt, da das Leben mehr denn je einer solchen Bändigung des Erkenntnistriebes bedarf, ist dieser „ u r s p r ü n g l i c h e Z w e c k d e r P h i l o s o p h i e [ . . . ] v e r e i t e l t " 6 4 5 worden. Im Zuge der Kulturentwicklung hat der Mensch nämlich inzwischen den Instinkt verloren für das ihm zuträgliche Maß an Erkenntnis — der Erkenntnistrieb wird nicht mehr „hervorgerufen durch Hunger, regulirt durch den Grad des Bedürfnisses, in Schranken gehalten durch die innewohnende plastische Kraft" 6 4 6 , d. h. die Fähigkeit, das erkannte Fremde sich anzuverwandeln. 647 Dies aber nur vordergründig darum, weil die Erkenntnis nicht mehr im Dienste des Lebensvollzuges steht, sondern Selbstzweck geworden ist 648 ; denn die Erkenntnis ist als Trieb, wie gesagt,
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Voraussetzungen
nicht nur Treiber, sondern auch Getriebener des Lebens, das sich in ihm selber treibt. „Der maaßlose unwählerische Erkenntnißtrieb" ist darum für Nietzsche ein Zeichen, daß das Leben alt geworden ist: die Gefahr ist groß, daß die Individuen s c h 1 e c h t werden, deshalb werden ihre Interessen gewaltsam an Erkenntnißobjekte gefesselt, gleichviel welche. Die allgemeinen Triebe sind so matt geworden und halten das Individuum nicht mehr im Zaume.649 Wird damit zum einen deutlich, daß Nietzsche seinen Grundbegriff des Lebens, den er indes erst in seiner Spätphilosophie einer zureichenden Klärung zuzuführen weiß650, biologisch zu verstehen geneigt ist, so zeigt sich gleichzeitig, daß ihm dieses Verständnis als Erklärung für die beobachteten Gefährdungen des Lebensvollzuges zu dienen hat. Er sucht damit dem Grundproblem einer jeden monistischen Philosophie oder Weltanschauung zu entgehen, wie sie nämlich die Dualismen der Welt erklären soll. Uns erscheint jedoch die Annahme eines biologischen Alterungsvorganges als Antwort auf die Frage nach dem Woher der Selbstgefährdung des Lebens nicht stichhaltig — woraus sollte ihm dann die Fähigkeit zu einer erneuten Blüte erwachsen? Ein besseres Erklärungsmuster bietet das ebenfalls gebrauchte Bild der Erkrankung, das Nietzsche vor allem in seiner Spätphilosophie — in Anknüpfung an Goethes Unterscheidung: „Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke" 651 — auf sämtliche decadence-Erscheinungen bezieht. „Der Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es allerdings, daß die nächste Wirkung die von kleinen Dosen Opium ist: Steigerung der Weltbejahung." —: Um die gefährlichen Spätfolgen des Konsums dieser Droge verhüten zu können, bedarf die Wissenschaft einer höheren Aufsicht und Ueberwachung; eine Gesundheitslehre d e s L e b e n s stellt sich dicht neben die Wissenschaft. 652
Und diese hätte nunmehr bewußt zu sein: die Philosophie. So lautet ein Titelentwurf Nietzsches zu einem geplanten Philosophenbuch: D e r P h i l o s o p h als A r z t der Cultur.653
Indes ist es fraglich, wie sie, die sie dieses Wächteramt bisher mehr oder minder unbewußt ausgeübt hat — von dem Kampf zwischen Weisheit und Erkenntnis weiß sie, so Nietzsche, erst seit Kant —, sich für dieses nunmehr legitimieren soll, insofern zu dem hemmungslosen „ l a i s s e r a l l e r u n s e r e r W i s s e n s c h a f t " 654 „in gewissem Sinne" eben Kant beigetragen hat, indem in Konsequenz seiner Erkenntnis jenes Gegensatzes der „Glaube an die Metaphysik [ . . . ] verloren gegangen [ist]"655, welche den Erkenntnistrieb in der Weise bändigte, daß sie die von ihr gesetzten Werte als Werte an sich ausgab. Wie aber sollen jetzt Werte legitimiert und d. h.
„ W a s fruchtbar ist, allein ist w a h r . "
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allgemein verbindlich gemacht werden können, wenn seit der „Kritik der reinen Vernunft" die Erkenntnis von Wahrheiten an sich, und d. h. im Hinblick auf den Vollzug des Lebens eben: von Werten an sich, als unmöglich erwiesen ist und damit „das Ende der Philosophie" — worunter Nietzsche in seiner Frühzeit immer „Metaphysik" versteht — durch „Selbstcastration" 6 5 6 gekommen scheint. So ist auch der Satz „Alles ist Eins", dem wir „bei allen Philosophien, sammt den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen" 6 5 7 , nunmehr als „ein metaphysischer Glaubenssatz" erwiesen worden, „der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat" 6 5 8 , stellt er doch ein Derivat desjenigen dar, was Kant mit „Welt" faßt 659 und als regulative Vernunftidee ausgewiesen hat, als eine Idee mithin, der kein Gegenstand möglicher Erkenntnis zukommt und damit jede Vergewisserungsmöglichkeit abgeht. In unserer von den Wissenschaften und ihrem Wahrheitsbegriff der certitudo beherrschten Zeit gilt aber „das Geringste, was hier wirklich a u s g e m a c h t werden kann, [ . . . ] höher als alle metaphysischen Ideen." 660 Wenn Kant im Namen dieses Wahrheitsbegriffes die bisherige Metaphysik kritisiert hat — nicht um die „Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt" (Kr.d.r.V., A XII) zu erweisen, sondern um „eine völlige Reform, oder vielmehr eine neue Geburt derselben" (Prolegomena, A 7) einzuleiten, und dies, erfüllt von Lutherischem Geiste, auf dem Felde des Glaubens, des ,,reine[n] praktische[n] Vernunftglaube[ns]" (Kr.d.pr.V., A 236) nämlich, der „dem Grade nach keinem Wissen nachsteht" 661 ; erinnert sei an einen Kernsatz der Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft" (Β X X X ) : „Ich mußte [ . . . ] das W i s s e n aufheben, um zum G l a u b e n Platz zu bekommen" —, so ist dieser Versuch, „ein Gebiet vor d e m W i s s e n [zu] r e t t e n " 6 6 2 , nach Nietzsches Beobachtungen gescheitert. Solches in unserer wissenschaftsgläubigen Zeit zu unternehmen, heißt, wie er erkennt, das betreffende Gebiet dem Absterben preiszugeben, denn: D e r Grad der S i c h e r h e i t bestimmt hier den Werth, nicht den Grad der U n e n t b e h r l i c h k e i t für den Menschen. [ . . . ] Während jeder Mensch zufrieden ist, wenn ein T a g vorbei ist, wühlt gräbt und combinirt später der Historiker nach diesem T a g , um ihn der Vergessenheit zu entreißen 663 .
Jetzt, da die Wissenschaft im Kampf gegen die Weisheit endgültig obsiegt zu haben scheint — auf Kants „ ,Ding an sich' wird niemand rechnen können, als ob es ein bändigendes Princip sei" 6 6 4 — gefährdet sie nach Nietzsches Ansicht den Vollzug des Lebens, zu dessen Beförderung sie doch eigentlich von diesem hervorgebracht worden ist: zum einen durch ihr nunmehr ungebändigtes Streben nach sicheren und sichernden Fest-stellungen und zum andern durch die damit einhergehende, beständig wachsende Aufsplitterung der Erkenntnisse — Wissenschaft gründet und vereinzelt sich
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Voraussetzungen
in b e s t i m m t e G e g e n s t a n d s b e r e i c h e , die d a r ü b e r h i n a u s selber w i e d e r z e r l e g t werden665—, deren Z u s a m m e n f a s s u n g zu einem geschlossenen philosophis c h e n u n d d. h. f ü r N i e t z s c h e j e t z t n o c h : m e t a p h y s i s c h e n W e l t b i l d , in d e m „ a l l e s E i n z e l n e u n d V e r e i n z e l t e als e t w a s V e r w e r f l i c h e s v e r d a m p f t u n d n u r d a s G a n z e u n d E i n h e i t l i c h e b e s t e h e n bleibt" 6 6 6 , als b l o ß s p e k u l a t i v u n d d a m i t illusionär v e r w o r f e n wird. Mit diesem Weltbild aber geht dem menschlichen H a n d e l n M a ß und R i c h t u n g v e r l o r e n — d a s W i s s e n u m das W e s e n t l i c h e e n t s c h w i n d e t . In s e i n e r 2. U n z e i t g e m ä s s e n B e t r a c h t u n g , in d e r N i e t z s c h e a m Beispiel d e r H i s t o r i e die F o l g e n u n t e r s u c h t , die diese E n t f e s s e l u n g d e r W i s s e n s c h a f t e n f ü r das Leben hat, bemerkt er d a z u : Machen wir uns jetzt ein Bild von dem geistigen Vorgange, der hierdurch in der Seele des modernen Menschen herbeigeführt wird. Das historische Wissen strömt aus unversieglichen Quellen immer von Neuem hinzu und hinein, das Fremde und Zusammenhangslose drängt sich, das Gedächtniss öffnet alle seine T h o r e und ist doch nicht weit genug geöffnet, die N a t u r bemüht sich a u f s Höchste, diese fremden Gäste zu empfangen, zu ordnen und zu ehren, diese selbst aber sind im Kampfe mit einander, und es scheint nöthig, sie alle zu bezwingen und zu bewältigen, um nicht selbst an ihrem Kampfe zu Grunde zu gehen. Die Gewöhnung an ein solches unordentliches, stürmisches und kämpfendes Hauswesen wird allmählich zu einer zweiten Natur, ob es gleich ausser Frage steht, dass diese zweite N a t u r viel schwächer, viel ruheloser und durch und durch ungesünder ist, als die erste. Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heisst. Durch dieses Rumpeln verräth sich die eigenste Eigenschaft dieses modernen Menschen: der merkwürdige Gegensatz eines Inneren, dem kein Aeusseres, eines Aeusseren, dem kein Inneres entspricht, ein Gegensatz, den die alten Völker nicht kennen. Das Wissen, das im Uebermaasse ohne Hunger, ja wider das Bedürfniss aufgenommen wird, wirkt jetzt nicht mehr als umgestaltendes, nach aussen treibendes Motiv und bleibt in einer gewissen chaotischen Innenwelt verborgen, die jener moderne Mensch mit seltsamem Stolze als die ihm eigenthümliche „Innerlichkeit" bezeichnet. Man sagt dann wohl, dass man den Inhalt habe und dass es nur an der Form fehle; aber bei allem Lebendigen ist dies ein ganz ungehöriger Gegensatz. Unsere moderne Bildung ist eben deshalb nichts Lebendiges, weil sie ohne jenen Gegensatz sich gar nicht begreifen lässt, das heisst: sie ist gar keine wirkliche Bildung, sondern nur eine Art Wissen um die Bildung, es bleibt in ihr bei dem Bildungs-Gedanken, bei dem Bildungs-Gefühl, es wird kein Bildungs-Entschluss daraus. 667 D a ß das L e b e n n u r n o c h d u r c h die w i s s e n s c h a f t l i c h e W e l t v e r h a l t u n g seinen V o l l z u g z u e r m ö g l i c h e n w e i ß , z e u g t in N i e t z s c h e s A u g e n , w i e g e h ö r t , davon, „ d a ß das Leben alt", „die allgemeinen Triebe [ . . . ] matt g e w o r d e n s i n d " (siehe Seite 138). Es sichert n u r n o c h s e i n e n B e s t a n d — dies die A u f g a b e der feststellenden Erkenntnis, der Wissenschaft —, aber treibt nicht m e h r
„Was fruchtbar ist, allein ist wahr."
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über den jeweils gesicherten Stand hinaus, eröffnet sich mithin kaum noch neue Möglichkeiten des Werdens, die aufscheinen zu lassen, dem Schein der Kunst obliegt, zu der Nietzsche, gestuft nach dem Grad der Schöpferkraft, jede die Physis umschaffend aufsteigernde, d. h. verbessernde Tätigkeit zählt: „Verbesserte Physis" ist, so werden wir noch sehen, sein, an der Antike orientierter, Begriff der Kultur, einer Kultur „ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention, [ . . . ] als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen" 6 6 8 . Die wissenschaftliche oder, wie Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" sagt, die sokratische Kultur verbessert hingegen, so lehrt uns der oben zitierte Text, die Physis nicht, sondern verschlechtert sie — und dies vor allem deswegen, weil ihr in allem T u n „die praktische Wendung" 6 6 9 fehlt: Alles A l l g e m e i n - W i c h t i g e geworden oder f e h l t g a n z .
einer
Wissenschaft
ist
zufällig
Das Sprachstudium, ohne die Stillehre und die Rhetorik. Die indischen Studien, ohne die Philosophie. Das klassische Alterthum, ohne Zusammenhang mit den praktischen Bestrebungen, von ihm zu lernen. Die Naturwissenschaft, ohne jene Heilung und Ruhe, die Goethe fand. Die Geschichte, ohne den Enthusiasmus. 670
Erkenntnis wird zum reinen Selbstzweck, die Frage nach ihrem Nutzen für den Lebensvollzug wird nicht gestellt, der Handlungswille, und d. h. für Nietzsche: der Wille zur kulturschaffenden Tat, ist gelähmt. Der „Weltinnenraum" ist auf Kosten des Außenraumes hypertrophiert. Eine „ G e s u n d h e i t s l e h r e d e s L e b e n s " hat darob zunächst den zerstörerischen Einfluß des Wahrheitsbegriffes der certitudo zurückzudämmen, welcher, so Nietzsche, gegebene Wahrheiten an sich festzustellen sucht. Nietzsche tut dies, indem er ihn im Namen eines, seines umfassenderen, dem Leben gemäßeren Wahrheitsbegriffes kritisiert. Oder besser: destruiert — wenn „Destruktion" dabei in jenem Sinne verstanden wird, in dem Heidegger diesen Begriff in „Sein und Zeit", §6, verwendet: Er faßt in ihm die „positive Absicht", philosophische Bestimmungen auf ihre vergessenen oder überhaupt niemals in den Blick geratenen Fundamente, ihre „Voraussetzungen", zurückzuführen und durchsichtig zu machen, ohne daß diese „in Nichtigkeit begraben" 6 7 1 werden sollen. Geht es Nietzsche, wie gesagt, doch keineswegs um eine Zerstörung der Wissenschaft — der vor allem ja die den Vollzug des Werdens gründende Bestandsicherung des Lebens obliegt —, sondern nur um eine Bändigung derselben. Demgemäß entwickelt er zunächst, daß alles, was ist, vom reinen Werden des Lebens zur Beförderung seines Vollzuges hervorgebracht wird, auch der Wahrheitsbegriff:
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Voraussetzungen W e n n es auf den W e r t h der Erkenntniß a n k o m m t , anderseits ein schöner W a h n , wenn nur an ihn g e g l a u b t wird, g a n z den gleichen W e r t h wie eine Erkenntniß hat, s o sieht man, daß das Leben Illusionen braucht, d. h. f ü r Wahrheiten gehaltene Unwahrheiten. Es braucht den G l a u b e n an die Wahrheit, aber es g e n ü g t dann die Illusion, d. h. die beweisen sich durch ihre W i r k u n g e n ,
„Wahrheiten"
nicht durch logische
Beweise,
Beweise der K r a f t . D a s W a h r e und das W i r k e n d e gilt f ü r identisch, m a n beugt sich der G e w a l t auch hier. 6 7 2
In der tiefsten Schicht zeigt sich mithin, daß vom Leben „wahr" derjenige Schein, alle die „Illusionen" genannt werden, die für seinen Vollzug von Wert und d. h. fruchtbar sind. Sämtliche möglichen „ontischen" Wahrheitsbegriffe sind derweise „ontologisch" fundiert in der Wahrheit als Fruchtbarkeit oder Wert für das Leben, bzw. für den sich selbst wollenden Willen. (Wobei die aus der Tradition überkommenen Begriffe „ontisch" und „ontologisch", die im Falle Nietzsches, für den das öv höherer Schein ist, an sich nur negativ gebraucht werden können — so spricht Fink etwa von „negativer Ontologie des Dinges" bei Nietzsche 673 —, hier nur zur Bezeichnung eines Stufungs- bzw. Fundierungsverhältnisses verwendet werden.) Fruchtbar ist die certitudo der Wissenschaft, wie Nietzsche sie versteht, nun aber in der Weise, daß sie mit ihrem Willen, Wahres festzustellen, dem Leben im Strome seines eigenen Werdens den für den Vollzug desselben notwendigen Halt und Bestand verschafft, wenngleich solches auch nur dem Scheine nach. Doch zeigt sich mehr und mehr, daß ihr feststellender Begriff, weil er vermeint, Wahres an sich zu halten, diesen Bestand nicht mehr ins Werden freigibt — was in Nietzsches Augen von einer Schwäche des Lebens kündet, seinen Vollzug zu wollen. Fruchtbarer und wahrer, weil das Werden bejahend und fördernd, schein es Nietzsche dementgegen zu verkünden: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr" — wie dies beispielsweise die 2. Unzeitgemässe Betrachtung in bezug auf die Geschichte ausführt 674 , indes in mehr oder minder verhüllter Weise. Die aus dem Wissen um die Relativität jedweder Erkenntnis hervorgehenden Gedanken über den „letzten Philosophen" hält Nietzsche nämlich zurück. Ihre Mitteilung weiß er noch nicht zu rechtfertigen, scheinen sie ihm doch für die Mehrheit seiner Leser kaum fruchtbar zu sein... Dabei bedeutete doch eine solche Verkündigung nichts anderes, als daß man dazu angehalten wird, auf der „ontischen" Ebene ausdrücklich und damit „eigentlich" zu sagen und zu tun, was das Leben, wie die „ontologische" Bestimmung erweist, „uneigentlich" immer schon getan hat. Wie solches für ein starkes, gesundes Leben sprechen würde, das in der Zurückweisung von unaufhebbaren Fest-stellungen das Werden und damit
„Was fruchtbar ist, allein ist wahr."
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sein eigenes „ W e s e n " bejaht und sich somit selbst ergreift — im Gegensatz zum selbstentfremdeten, schwachen Leben. Schon in diesem f r ü h e n Ansatz ist somit zu erkennen, was nach Fink erst „die Schriften der Folgezeit nach dem ,Zarathustra'" 6 7 5 beherrscht. Nietzsche bleibt nämlich nicht „bei der philosophischen Besinnung auf den transcendentalen Wertentwurf des Daseins stehen, w o das Leben als das Letzlich = W a g e n d e und Spielende erscheint in allen W e r t u n g e n , sondern er geht über zu einer ,inhaltlichen', ,materiellen' D e u t u n g des Lebens." 6 7 6 Keineswegs nämlich sind f ü r Nietzsche alle Formen und W e r t e des Lebens, weil von diesem hervorgebracht, gleichwertig, vielmehr bewertet er sie als Formen steigenden oder sinkenden Lebens, und dies entsprechend ihrer Gemäßheit in bezug auf den Willen des Lebens zum selbstüberwindenden Vollzug, w o z u , wie man an den drei Arten von Geschichte aufzeigen kann, die die 2. Unzeitgemässe Betrachtung kennt, Bauen, Bewahren und Zerstören gleichermaßen vonnöten sind. 677 „ G e m ä ß h e i t " aber kann man übersetzen mit „ a d a e q u a t i o " — so daß man sagen kann, die Frage der Bewertung ist f ü r Nietzsche eine Frage nach der W a h r h e i t im überkommenen Sinne der adaequatio in jener Weise, ob die von uns als „ o n t i s c h " bzw. „ontologisch" bezeichneten Ebenen übereinstimmen. Für die Frage nach der W a h r h e i t heißt dies aber, daß ein Wahrheitsbegriff in Nietzsches Augen um so wahrer, d. h. um so weniger scheinhaft ist, je mehr er mit der Bestimmung „ W a s f r u c h t b a r ist f ü r das Leben, ist f ü r es w a h r " übereinkommt. H ö c h s t e r erreichbarer Grad der W a h r h e i t in diesem Sinne ist darob die Tautologie: „ W a s f r u c h t b a r ist f ü r das Leben, ist f ü r es w a h r : W a s fruchtbar ist f ü r das Leben, ist f ü r es w a h r . " W a s insofern nicht verwunderlich sein kann, weil die Tautologie, wie bereits gehört, Nietzsche zufolge „die einzig [uns] zugängliche Form der Wahrheit" 6 7 8 darstellt. W e n n Aristoteles in seiner traditionsgründenden, unausdrücklichen Wesensdefinition der W a h r h e i t sagt, die „Erlebnisse" der Seele, die ν ο ή μ α τ α , d. h. die Vorstellungen, seien Angleichungen an die Dinge, so heißt das f ü r Nietzsche nichts anderes, als daß der Intellekt seine eigenen V o r -Stellungen vor-s teilt, nämlich seine eigenen Voraus-setzungen entdeckt, daß er aber voraussetzt, was dem „ L e b e n " „in i h m " fruchtbar erscheint, was es, um sich vollziehen zu können, notwendig glauben muß. W o r a u s sich ergibt, daß der überkommene Wahrheitsbegriff der ό μ ο ί ω σ ι ς o d e r adaequatio jenem der Fruchtbarkeit untergeordnet ist. Die W a h r h e i t suchen heißt f ü r Nietzsche demnach: richtig rubriziren, d. h. einem vorhandenen Begriff richtig die einzelnen Fälle unterordnen. Hier ist aber der Begriff unsere That, wie auch die vergangenen Zeiten. Die ganze Welt unter die richtigen Begriffe subsumiren heißt doch nichts als unter die ursprünglich menschlichen
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Voraussetzungen
allgemeinsten Formen der Relation die einzelnen Dinge einreihen: also die Begriffe nur b e w ä h r e n , das was wir unter sie steckten, wieder auch unter ihnen zu suchen — also im Grunde auch Tautologie. 679
Alle wahre Erkenntnis ist für Nietzsche demnach darum tautologisch, weil sie nichts als Auffindung, d. h. Anmessung an die „eigenen" Voraus-setzungen, weil sie mithin anthropomorphisch und nicht „wahr an sich" ist. Solches gilt auch für die vom „Leben" in „Nietzsche" „erkannte" Voraussetzung dieser Voraus-setzungen, daß f ü r es dasjenige wahr ist, was f ü r es fruchtbar ist. Auch sie ist nichts als eine Voraussetzung, die sich in der Auslegung bisheriger Auslegungen und Erkenntnisse in der Weise bewährt, daß sie sich als fruchtbar erweist, womit sie sich gemäß ihrer eigenen Aussage als Wahrheit im Sinne tiefster Scheinbarkeit bezeugt. Die tautologische Struktur wird erneut deutlich: „Was fruchtbar ist, allein ist w a h r " und dies ist eben: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr". Tautologie — das heißt demnach: der Satz hat für sich selbst einzustehen, er selbst ist der Bürge seiner Wahrheit, als unmittelbare Präsentation der „Wahrheit" muß und kann er nur auf sich selbst bezogen werden, er ist derweise relativ zu sich selbst. Dieses unumgängliche Voraussetzen dessen, was erkannt werden soll, bedenkt Nietzsche später als „Wille zur Macht". Im Aphorismus 9 aus „Jenseits von Gut und Böse" führt er aus: Aber dies ist eine alte ewige Geschichte: was sich damals mit den Stoikern begab, begiebt sich heute noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an sich selbst zu glauben. Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur „Schaffung der Welt", zur causa prima. 680
Zwar verzichtet Nietzsche schließlich auf die Fest-stellung eines Seins als einer „causa prima", doch insofern seine Philosophie die Gegebenheit eines Daseins ablehnt und die Frage nach dem „ G r u n d " des weltschaffenden Geschehens stellt, ist auch sie nichts anderes als „dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht" — so daß der Satz sich selbst aussagt, der „Wille zur Macht" sich mithin als die Voraussetzung seiner selbst erweist. Von den Sätzen aus führt keine Brücke zu irgendwelchen „Gegenständen", sie selbst erschaffen solche „Gegenstände" erst für sich und bleiben darob in sich: der Appell an ein ganz anderes ist längst „Im grossen Schweigen" verhallt (siehe Anmerkung 418). Der „Wille zur Macht" ist die Philosophie dieser Erkenntnis, die sich selbst entsprechend, nichts als Voraus-setzung, autoritative Behauptung, Machtsetzung darstellt — dies die Erklärung für das allen Selbstrelativierungen scheinbar widersprechende Pathos des Nietzscheschen Sagens. Selbstrelativierung und Machtgestus erwachsen somit aus einer gemeinsamen Wurzel, wie die nachfolgende Aufzeichnung vom August—September 1885 belegt:
„Was fruchtbar ist, allein ist wahr."
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Unter dem nicht ungefährlichen Titel „der Wille zur Macht" soll hiermit eine neue Philosophie, oder, deutlicher geredet, d e r V e r s u c h e i n e r n e u e n A u s l e g u n g a l l e s G e s c h e h e n s zu Worte kommen: billigerweise nur vorläufig und versucherisch, nur vorbereitend und vorfragend, nur „vorspielend" zu einem Ernste, zu dem es eingeweihter und auserlesener Ohren bedarf [ . . . ] Denn jeder Philosoph soll insoweit die Tugend des Erziehers haben, daß er, bevor er zu überzeugen unternimmt, erst verstehen muß zu überreden. Ja der Verführer hat vor allem Beweisen zu untergraben und zu erschüttern, vor allem Befehlen und Vorangehn erst zu versuchen, in wie weit er versteht, auch zu verführen. 6 8 1
Halten wir fest: Nicht nur „erkennt" das „Leben" mit „Nietzsche" zum ersten Mal, daß es selbst wertsetzend und nicht nur wertfindend ist,682 vielmehr bewertet es zugleich auch seine bisherigen Wertsetzungen in bezug auf diese Erkenntnis, die, insofern sich durch die Frage nach der Wahrheit zu einer Frage nach deren Wert für den Lebensvollzug wandelt, ihre eigene „Wahrheit" nur durch ihren Vollzug im Leben erweisen kann. 683 Möglich geworden ist diese Destruktion des Wahrheitsbegriffes der certitudo aber, wie Nietzsche meint, durch Kant: Es ist zu b e w e i s e n , daß alle Weltconstruktionen Anthropomorphismen sind: ja alle Wissenschaften, wenn Kant Recht hat. 684
So daß sich Nietzsches eigene Voraussetzung zu bewahrheiten scheint, daß in des Lebens Hervorbringungen nicht nur Nachteile f ü r dasselbe beschlossen sein können, andernfalls es diese nicht erzeugt hätte. Indes kann der Nutzen jener Erkenntnis nicht allein in der Destruktion liegen — die positive „Strukturbestimmung" der Wahrheit „Was fruchtbar ist für das Leben, ist für es w a h r " harrt noch der inhaltlichen Füllung und d. h. der Aneignung. Will sagen: Auf die selbstergreifende Erkenntnis des Lebens, daß es selber wertsetzend ist, hat nunmehr die Setzung neuer Werte zu erfolgen — und zwar gemäß dieser Erkenntnis. Unfruchtbar ist, so hat Nietzsche erkannt, vor allem ein ungebändigter Erkenntnistrieb. In seinen Gedanken über die Möglichkeit einer denselben zügelnden Wertsetzung geht er wiederum von erkenntniskritischen Überlegungen im Gefolge Kants aus, wobei er aufweist, daß jener in der T a t die Metaphysik, der ja bisher die Bändigung der Wissenschaft oblag, auf einen neuen Boden gestellt hat, einen anderen jedoch, als er selber meinte, nämlich den der Kunst. Im Zeitraum Sommer 1872—Anfang 1873 zeichnet Nietzsche auf: Wir leben allerdings durch die Oberflächlichkeit unseres Intellekts in einer fortwährenden Illusion: d . h . wir brauchen, um zu leben, in jedem Augenblicke die Kunst. Unser Auge hält uns an den F o r m e n fest. Wenn wir es aber selbst sind, die allmählich uns dies Auge anerzogen haben, so sehen wir in uns selbst eine K u n s t k r a f t walten. 685
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Voraussetzungen
Und an anderer Stelle bemerkt er über diese: sie s c h a f f t . Ihr Hauptmittel ist w e g l a s s e n und ü b e r s e h e n ü b e r h ö r e n . 686 ,
und
um von den Kontinuitäten des Werdeflusses der „Welt" zu Diskontinuitäten, nämlich zu differenzierten Formen und damit zu einer dem Lebensvollzug Halt gewährenden Ordnung gelangen zu können. Insofern wir mit Hilfe dieser künstlerischen Kraft gleichsam „die Hauptzüge [der Welt] verstärken, die Nebenzüge vergessen", könne diese „antiwissenschaftlich" genannt werden: „denn sie hat nicht für alles Wahrgenommene ein gleiches Interesse".687 Wir sehen also in der Natur selbst Mechanismen gegen das absolute W i s s e n : der P h i l o s o p h e r k e n n t d i e S p r a c h e d e r N a t u r und s a g t : „wir brauchen die Kunst" und „wir bedürfen nur eines Theils des Wissens". 688
Er hält somit die Menschen an zu einer Entsprechung von willkürlichem und unwillkürlichem Tun — oder anders gesagt: Er entnimmt die Gesetze der Kultur der „Physis", er gewinnt sie aus der Physiologie. Physiologie und Biologie legitimieren mithin die Wertsetzung des letzten Philosophen.689 Den Kampf von Weisheit und Wissenschaft, in dem sich das Leben, solange er währte, in Gesundheit vollzog, sucht Nietzsche somit dadurch erneut zu entfachen, daß er jenen Akt, welcher die Wissenschaft zum endgültig Obsiegenden zu machen schien, die „Selbstcastration" der Philosophie durch Kant, dahingehend umdeutet, daß Kant das R e l a t i v e aller Erkenntniß [ . . . ] und das A n t h r o p o m o r p h i s e h e , so wie die überall herrschende Kraft der I l l u s i o n 6 9 0
erwiesen habe. Alle Erkenntnis ist demnach illusionäre Fest-stellung dessen, was „ist" — auch die der Wissenschaften: Es giebt k e i n e a p a r t e P h i l o s o p h i e , g e t r e n n t v o n W i s s e n s c h a f t : d o r t wie hier wird gleich gedacht.691
der
Hatten wir diesen Satz bisher angeführt, um den Gedanken als irrig zu erweisen, den Philosophen stehe mit der „Intuition" ein besonderes „Wunder-Augenglas" zur Verfügung, welches ihnen erlaubte, über die kurzsichtige Sphäre gewöhnlicher oder wissenschaftlicher Erkenntnis hinaus „direct in's ,Wesen'" zu springen, so soll er hier in umgekehrter Hinsicht belegen, daß das wissenschaftliche Denken in seiner qualitas von derjenigen des philosophischen Denkens zunächst einmal in keiner Weise differiert: Das philosophische Denken ist spezifisch gleichartig mit dem wissenschaftlichen, aber bezieht sich auf g r o ß e Dinge und Angelegenheiten. 692
Der Unterschied liegt somit zunächst allein in der quantitas — was letztlich denn doch in einen Qualitätsunterschied umschlägt. Denn, so haben wir bereits vernommen:
„ W a s fruchtbar ist, allein ist w a h r . "
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Die Wissenschaft stürzt sich, ohne [ . . . ] Auswählen, ohne [ . . . ] Feingeschmack, auf alles Wißbare, in der blinden Begierde, alles um jeden Preis erkennen zu wollen; das philosophische Denken dagegen ist immer auf der Fährte der wissenswürdigsten Dinge, der großen und wichtigen Erkenntnisse. Nun ist der Begriff der Größe wandelbar, sowohl im moralischen als auch ästhetischen Bereiche: so beginnt die Philosophie mit einer Gesetzgebung der Größe, ein Namengeben ist mit ihr verbunden. Schien mit K a n t die Philosophie dieses Recht der Gesetzgebung f ü r die wissenschaftliche Erkenntnis, d. h. das Recht z u r V o r g a b e an „Zielen u n d M e t h o d e n " 6 9 3 , endgültig verloren zu haben, so glaubt Nietzsche die V e r k e h r u n g , d a ß die Philosophie n u n m e h r der Wissenschaft n u r n o c h n a c h - , aber nicht mehr vorausdenkt, 6 9 4 wieder u m k e h r e n zu k ö n n e n : Die Analyse des menschlichen Erkenntnisapparates zeigt dem Philosophen, d a ß dieser als solcher bereits wertsetzend ist, er e r k e n n t d i e S p r a c h e d e r N a t u r und s a g t : „wir brauchen die Kunst" und „wir bedürfen nur eines Theils des Wissens". Legitimiert durch die Physiologie setzt der Philosoph somit die Kunst als Gesetzgeber der Kultur ein. Er b e g r ü n d e t wissenschaftlich die V o r h e r r schaft der Kunst über die Wissenschaft, indem er zeigt, daß diese in ihrem W e s e n eine niedere, weil „ u n e i g e n t l i c h e " Kunst darstellt. So d a ß sich jener P u n k t , in dem die d e m wissenschaftlichen Erkenntiswillen wesenseigene nihilistische T e n d e n z kulminiert, als P u n k t ihrer U b e r w i n d u n g erweisen k ö n n t e : Die zunächst jedwedes H a n d e l n lähmende tragische Erkenntnis, ewig z u r U n w a h r h e i t v e r d a m m t zu sein, wird damit f r u c h t b a r gemacht f ü r das Leben u n d erst damit g e m ä ß Nietzsches eigenen V o r a u s s e t z u n g e n im eigentlichen Sinne „ w a h r " . Im Z e i t r a u m S o m m e r 1872—Anfang 1873 zeichnet er auf: Die Konsequenzen der Kantischen Lehre: Ende der Metaphysik als Wissenschaft. Die barbarisirende Einwirkung des Wissens. Die Bändigung des Wissens als Trieb der Kunst. Wir l e b e n nur durch diese Illusionen der Kunst. Jede höhere Kultur ist es durch diese Bändigung. Die philosophischen Systeme der älteren Griechen. Es offenbart sich dieselbe Welt, die die Tragödie schuf. Hier begreifen wir die Einheit der Philosophie und der Kunst zum Zweck der Kultur. Der ästhetische Begriff des Großen und Erhabenen: dazu zu erziehn die Aufgabe. Die Kultur abhängig von der Art, wie man „das Große" definirt.695 N i c h t n u r haben seine Studien über die „Philosophie im tragischen Zeitalter d e r G r i e c h e n " Nietzsche gelehrt, daß die g r o ß e n D e n k e r dieses Zeitalters, die er zugleich als die ersten g r o ß e n Wissenschaftler ansieht, 6 9 6 „ ü b e r keine a n d e r n P r o b l e m e n a c h [ d e n k e n ] als die, welche ebenfalls die Kunst
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Voraussetzungen
erfaßt" 6 9 7 , vielmehr lassen sie auch beispielhaft das lebensnotwendige beständige „Umschlagen der Wissenschaft in Kunst" 698 erkennen, das Umschlagen in ein von der Phantasie, d. h. einer „unlogischen", sich nämlich über Regeln der Logik hinwegsetzenden „Macht" 6 9 9 , erzeugtes philosophisches Gesamtbild der Welt: Der künstlerische Trieb in der Verpuppung als P h i l o s o p h i e . ,
notiert sich Nietzsche im Sommer 1872—Anfang 18 7 3.700 Er bringt damit zum Ausdruck, daß die Philosophie, sobald sie Werte setzt, von dem Bereich der Wissenschaft in den Bereich der Kunst übergeht, sind doch Werte in den Augen der Wissenschaft willkürliche Voraussetzungen, die diese erst allmählich auf logischem Wege einzuholen vermag, wobei sie zumeist deren „Fehlerhaftigkeit" erweisen kann (siehe Seite 135). Schon früher, auf Seite 39, im Zusammenhang einer ersten Interpretation des Begriffes der Intuition, haben wir ein Fragment vom Sommer 1872—Anfang 1873 zitiert, in dem Nietzsche diesen Aspekt des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft bedenkt. Das Ergebnis seiner Überlegungen hält er in dem folgenden Notat fest: Der Erkenntnißtrieb wird also gebändigt durch die Phantasie in der Kultur eines Volkes. Dabei ist der Philosoph vom höchsten W a h r h e i t s p a t h o s erfüllt: der W e r t h [d.h. die Fruchtbarkeit] seiner Erkenntniß verbürgt ihm ihre W a h r h e i t . 7 0 1
Auch wenn das vom Philosophen entworfene Bild der Welt letztlich „wissenschaftlich betrachtet, [ . . . ] eine Illusion [ist], eine Unwahrheit, die den Trieb nach Erkenntniß täuscht und nur vorläufig befriedigt", so liegt doch der „Werth der Philosophie", beispielsweise derjenige der Schopenhauerschen für Nietzsche, in jener „Lebenssphäre", in die auch die von der Wissenschaft ausgefüllte „Erkenntnißsphäre" 7 0 2 eingebettet ist. Denn die certitudo der Wissenschaft ist unter der Optik des Lebens betrachtet 703 nur so lange wahr, nämlich fruchtbar, als ihre Erkenntnisse vom Horizont eines philosophischen Weltbildes umschlossen sind — das hinwiederum mit Rücksicht auf die Werdebewegung des Lebens nicht zu geschlossen, nicht zu starr sein darf —, als, mit Nietzsches Formulierung, der Kampf, d. h. der Streit, mit der Weisheit währt — was indes auch in der umgekehrten Hinsicht gilt: Jede Kraft (Religion, Mythus, Wissenstrieb) hat, in einem Übermaße, barbarisirende, unsittliche und verdummende Wirkungen, als starre Herrschaft. (Sokrates.),
lautet eine Aufzeichnung Nietzsches aus dem Winter 1872/73 704 , in der der Ausdruck „Sokrates" als Chiffre gedeutet werden muß für das zerstörerische „ l a i s s e r a l l e r u n s e r e r W i s s e n s c h a f t " 7 0 5 , welches Nietzsche, wie wir noch darstellen werden, in der „Geburt der Tragödie" auf Sokrates zurückführt und darob „Sokratismus" nennt.
„ W a s fruchtbar ist, allein ist w a h r . "
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D a s Leben bedarf zu seinem Vollzug Horizonte setzender Weltbilder, über die es im Willen zum Fort-schritt hinausgehen muß. D a s Geschäft, diese zu zersetzen, übernimmt dabei die Wissenschaft, welche ihr nihilistisches T u n legitimiert durch die Illusion, einem Telos näher zu rücken, dem „Fortschritt" zu dienen. „ D e s Menschen Tätigkeit kann allzuleicht erschlaffen,/Er liebt sich bald die unbedingte R u h " : die Wissenschaft als Provokateur sorgt dafür, daß sich der Mensch in einem Weltbild nicht ein für allemal beruhigt und so den Erkenntnistrieb, welcher am Leben festhält, indem er sagt: „ d i e Welt ist werth erkannt zu werden" 7 0 6 , absterben läßt und sich in ein „Faulbett des Denkens" 7 0 7 legt. In welcher Gefahr beispielsweise die Griechen in bezug auf ihren Mythos fortwährend geschwebt hätten, so daß etwa Demokrit „ d a g e g e n die kalte Abstraktion und die strenge Wissenschaft" 7 0 8 gestellt habe — neben dem Streben „ n a c h S i c h e r e m " ein weiterer Grund für die Auflösung des Mythos durch die Vorsokratiker. N u r dort, wo der Mythos als geschlossenes Weltbild dem Erkenntnistrieb noch Spielraum läßt, kann er fruchtbar sein: Dieser Einsicht sucht Nietzsche selber nicht nur mit seiner frühen Konzeption einer dem Mythos verwandten monumentalischen Historie 7 0 9 zu entsprechen, sondern auch mit den großen philosophischen Entwürfen der Spätzeit, zum Beispiel der ewigen Wiederkunft des Gleichen, in der sich seinerseits neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem künstlerischen oder mythischen Bild vom Ganzen der Welt erweitert finden. S o daß diesem Gedanken in Nietzsches Sicht der Charakter eines notwendig zu Glaubenden zugesprochen werden muß: D a s Epitheton erwächst ihm zum einen aus der darin erfüllten Notwendigkeit des Lebensvollzuges, das Werden in der Weise zu fixieren, daß es in ihm Halt, nämlich Horizont und Perspektive, gewinnen kann, zum anderen aber auch daraus, daß Wissenschaft, mag sie auf der einen Seite auch am meisten im Schein befangen sein — insofern sie nämlich, anders als Nietzsche zufolge die Kunst (siehe dazu im folgenden), um ihre eigene Scheinhaftigkeit nicht weiß — , auf der anderen Seite hinwiederum am wenigsten im Schein befangen ist: vorläufig kämen wir, so Nietzsche, über die in jenem Gedanken aufgehobenen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht hinaus, welche darum vorderhand unumgänglich seien — trotz des Wissens um ihre Scheinhaftigkeit. K u r z gesagt: Sie seien vorübergehend notwendig Fürwahrzuhaltendes, wie demzufolge auch der sie zusammenschließende Gedanke der ewigen Wiederkunft. Philosophie hat dieser Widerstreit von Wissenschaft und Weisheit, von Erkenntnis des einzelnen und Uberschau des Ganzen zu sein, will sagen: Sie hat die wissenschaftlichen Erkenntnisse als Vorgaben für ein geschlossenes, dabei aber nicht in sich verschlossenes Weltbild zu benutzen, kann es doch
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seine Aufgabe, den Fort-schritt des Lebens zu befördern, um so besser erfüllen, je weniger abgeschlossen es ist.710 Sie hat, mit Nietzsches Worten gesprochen, das W i s s e n in eine künstlerische Weltconception h i n e i n f z u z i e h e n j u n d dadurch [zu veredeln]711, so daß sich der Philosoph, wie Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" formelhaft sagt 712 , als ein „ m u s i k t r e i b e n d e r S o k r a t e s " erweisen würde. O b dieses Widerstreites von Wissenschaft und Kunst bei jenen, welche Nietzsche die Frage beantworten sollten: „ W a s i s t d e r P h i l o s o p h ? " 7 1 3 — wohlgemerkt, der weltbildschaffende, gesetzgebende — war Nietzsche zunächst in ,,[g]roße Verlegenheit" geraten, ob die Philosophie eine Kunst oder eine Wissenschaft ist. Es ist eine Kunst in ihren Zwecken und in ihrer Produktion. Aber das Mittel, die Darstellung in Begriffen, hat sie mit der Wissenschaft gemein. 714
Von ebenjenem Zwiespalt insgleichen dieses Notat:
auch
seiner
eigenen
Philosophie
kündet
Die Philosophie hat nichts Gemeinsames, sie hat bald Wissenschaft, bald Kunst.,
was Nietzsche ebenfalls am Beispiel der Vorsokratiker belegt: Der einzig ruhende ist Heraclit. Thaies will zur Wissenschaft, Ebenso Anaxagoras Democrit
Anaxim(ander) wieder von ihr weg.
Parmenides Organon
Empedocles
Socrates. 715
Pythagoras.
„An sich", so erkennt er, ist die Philosophie „ganz und gar nicht vorhanden", vielmehr ist sie „gefärbt und gefüllt nach der Zeit", als ein „Präservativ[.. ,]" 716 der Kultur stärkt sie im Kampf von Wissenschaft und Weisheit die jeweils bedrohte Seite. 717 Nietzsche nun scheint die „Symptomenlehre der Zeit" 718 — was er später korrigieren wird — eine Unterstützungsbedürftigkeit der Kunst auszuweisen, ohne daß seine Philosophie dabei, sofern sie „große", d. h. den Streit von Wissenschaft und Kunst in einem Weltbild austragende Philosophie sein will, „reine" Kunst — oder später: „reine" Wissenschaft — sein könnte. Wie dieses, so haben wir hören können, ebenfalls an den Vorsokratikern abgelesen werden kann: Thaies will zur Wissenschaft, aber sein Denken schlägt in Kunst um — Pythagoras sucht ein mythisches Weltbild zu errichten, aber die in seinem Ansatz zur Allherrschaft gelangende Zahl bildet ein Fundament der Naturwissenschaft. Wobei die Größe einer Philosophie letztendlich doch — gerade die Unvergänglichkeit der Fragmente der Vorsokratiker, die wissenschaftlich inzwischen „als curioser I r r g a r t e n - G a n g der Vernunft" 7 1 9 betrachtet werden, beweist es — in ihrem Kunstcharakter beruht:
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„Was fruchtbar ist, allein ist wahr."
Daß ein u n b e w e i s b a r e s Philosophiren noch einen Werth hat, mehr als meistens ein wissenschaftlicher Satz, hat seinen Grund in dem aesthetischen W e r t he eines solchen Philosophirens, d.h. durch Schönheit und Erhabenheit. Es ist als K u n s t w e r k noch vorhanden, wenn es sich als wissenschaftlicher Bau nicht erweisen kann.720 Weswegen Nietzsche jenen Bestimmungsversuch großer, d. h. wertvoller Philosophie, der da begann: „Es ist eine Kunst, in ihren Zwecken und in ihrer Produktion. Aber das Mittel, die Darstellung in Begriffen, hat sie mit der Wissenschaft gemein.", mit den Worten schließt: „Es ist eine Form der Dichtkunst.", um daran als „ N a t u r b e s c h r e i b u n g d e s P h i l o s o p h e n " die Überlegung anzuknüpfen: Er erkennt, indem er dichtet, und dichtet, indem er erkennt. 721
Wie dies, insofern die Vernunft „dichtenden Wesens" ist, im kleineren Maßstab für jeden Menschen gilt, auch für den wissenschaftlichen beispielsweise. Der Unterschied zwischen Wissenschaft und weltbildschaffender Philosophie liegt somit in der Größe der schöpferischen Potenz beschlossen, ist doch eine solche Philosophie die
Dichtung
außer den
Grenzen
der Erfahrung,
Fortsetzung
des
m y t h i s c h e n T r i e b e s ; auch wesentlich in Bildern. 722
W a r es einst eine trotz ihrer antimythischen Tendenz im Grunde doch mythische Philosophie, mit welcher die Vorsokratiker „die Zügel der Wissenschaft" 7 2 3 in den Händen hielten, übernahm dann die Theologie, bzw. die auf dem christlichen Mythos fußende Philosophie der Scholastik diese Lenkungsaufgabe, so zeigt nunmehr das Scheitern der Versuche Kants, der ein Gebiet vor dem Wissen f ü r den Glauben retten wollte, und Schopenhauers, der eben „dorthin [ . . . ] die Wurzeln alles Höchsten und Tiefsten, Kunst und Ethik [legte]" 724 — Versuche, welche in den Augen Nietzsches noch einmal die ,,[i]nnerste Verwandtschaft der P h i l o s o p h e n und der R e l i g i o n s S t i f t e r " 7 2 5 beweisen —, daß „seit der Kritik der reinen V e r n u n f t " die „Schöpfung einer Religion" „ u n w a h r s c h e i n l i c h " geworden ist. (Was er später hinsichtlich seiner Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen zurücknehmen wird, siehe Anm. 819.) Sie eben „würde darin liegen, daß einer für sein in das Vacuum [des Wissens] hineingestelltes mythisches Gebäude G l a u b e n e r w e c k t " . 7 2 6 Wenn sich somit die Metaphysik auf der einbn Seite mit der Religion berührt, so auf der anderen, wie wir schon aus dem Brief an Deussen von Ende April/Anfang Mai 1868 wissen (siehe Seite 4), mit der Kunst — dort könnte nunmehr die Möglichkeit einer Bändigung des Erkenntnistriebes seitens der Philosophie gefunden werden. Nietzsche fährt fort: D a g e g e n kann ich mir eine ganz neue Art des P h i l o s o p h e n - K ü n s t l e r s imaginiren, der ein K u n s t w e r k hinein in die Lücke stellt, mit ästhetischem Werthe. 7 2 7
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Voraussetzungen
So weiß die „Geburt der Tragödie", die jenes Kunstwerk ist, von dem Nietzsche spricht, von einem ,,metaphysische[n] Trost, — mit welchem [ . . . ] , uns jede wahre Tragödie entläßt" 7 2 8 ; und noch das vierte Stück der Unzeitgemässen Betrachtungen, in dem sich für den, der zu lesen versteht, auch ohne Kenntnis der Fragmente vom Frühjahr 18 7 4729, der Abschied von „Richard Wagner in Bayreuth" bereits ankündigt, spricht von jenem O r t als einer „Morgen-Weihe am Tage des Kampfes" 7 3 0 — scheinbar unverändert in jenem Tonfall, mit dem Nietzsche im Januar 1873, also zu einer Zeit, da er an Bayreuth noch seine größten H o f f n u n g e n knüpfte, und somit nur vordergründig ironisch sich brieflich mit seinem Freund Rohde f ü r einen Besuch bei Wagners verabredete: „Also im Sommer Bayreuther Concil! Wir als die Bischöfe und Würdenträger der neuen Kirche!" 731
12. „Metaphysik der Cultur. Alles, was diesem Leben einen metaphysischen unterlegt, ist zu fördern.": Der Genius
Sinn
„Kunstreligion" — das ist eine seit dem Jahre 1799, seit den Reden „Über die Religion" und den „Phantasien über die Kunst" bekannte geistesgeschichtliche Erscheinung: „es war Wackenroder, bei dem die Kunstreligion, der Schleiermacher den Namen und Tieck das Dogma gab, originäre Erfahrung war." 7 3 2 Anschauung des Unendlichen in ästhetischer Kontemplation — durch dieses T u n und Denken der Frühromantiker, dessen Ursprung, „mindestens partiell, in der Schicht aus Pietismus und Empfindsamkeit zu liegen [scheint], die für die Vorgeschichte der Romantik insgesamt von tragender Bedeutung gewesen ist" 733 , und in dem „eine Kunstidee, die zur Religion, mit einer Religionsidee, die zur Kunst drängte, zusammentraf" 7 3 4 , war die Kunst in den Rang eines Metaphysikums erhoben worden. Als deutlichster Ausdruck des Absoluten wurde dabei vor allen anderen Künsten die „absolute" Musik ausgezeichnet, die, wie man meinte, begriffs-, objekt- und zwecklose Sprache über der an den Erscheinungen haftenden (Wort-)Sprache. Und dies bereits bei Wackenroder/Tieck 7 3 5 und nicht erst bei Schopenhauer, dessen These, „daß ein musikalisch ausgedrückter Affekt sich durch Abstraktheit — durch Loslösung von Gegenständen und Motivationen — zu metaphysischer W ü r d e erhebe, [ . . . ] von Wackenroder inspiriert worden zu sein [scheint]." 736 (Wobei der wesentliche Unterschied darin beschlossen liegt, daß dies bei dem einen im Rahmen einer resignierten „buddhaistischen" Metaphysik des Willens, bei dem anderen im Zeichen der ästhetischen Andacht einer christlichen Kunstreligion geschieht.)
Metaphysik der Cultur: Der Genius
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Nietzsche, bei dem die geglaubte Metaphysik des Jahrhundertanfangs zur Fiktion verblaßt ist, bemüht sich angesichts der drohenden Sinnlosigkeit eine Zeitlang verzweifelt, an metaphysische Sinnsetzungen glauben zu können. Ein Schlüsseldokument ist dabei jener bedeutsame Brief vom 21.6.1871 7 3 7 , in dem Nietzsche darüber Bericht erstattet, wie er auf die Nachricht von der vermeintlichen Zerstörung des Louvre beim Brand der Tuilerien am 24. Mai 1871 während des Aufstandes der Pariser Commune reagiert hat: Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich für einige Tage völlig vernichtet und aufgelöst in Thränen und Zweifeln: die ganze wissenschaftliche und philosophisch-künstlerische Existenz erschien mir als eine Absurdität, wenn ein einzelner T a g die herrlichsten Kunstwerke, ja ganze Perioden der Kunst austilgen konnte; ich klammerte mich mit ernster Überzeugung an den metaphysischen Werth der Kunst, die der armen Menschen w e g e n nicht da sein kann, sondern höhere Missionen zu erfüllen hat.
Nicht zuletzt darum bindet sich Nietzsche an Wagner — für ihn, wie wir bereits vernommen haben, „die leibhafte Illustration, dessen, was Schopenhauer ein ,Genie' nennt" — und an dessen Kunst, scheinen ihm doch beide einen Anhalt für einen solchen Glauben geben zu können: Meine Religion, wenn ich irgendetwas noch so nennen darf, liegt in der Arbeit für die Erzeugung des Genius; Erziehung ist alles zu H o f f e n d e , alles Tröstende heisst Kunst. 738 ,
zeichnet sich Nietzsche im Frühling—Sommer 1875 auf. Ubereinstimmend damit hat er bereits im Winter 1869/70—Frühjahr 1870 festgehalten: Einzige Möglichkeit des Lebens: in der Kunst. Sonst Abwendung vom Leben. Völlige Vernichtung der Illusion ist der Trieb der Wissenschaften: es würde Quietismus folgen — wäre nicht die Kunst. Deutschland als eigentlicher Orakelsitz der Kunst. — Ziel: eine staatliche Kunstorganisation — Kunst als Erziehungsmittel — Beseitigung der s p e z i f i s c h wissenschaftlichen Ausbildungen. D i e Auflösung der noch lebenden religiösen Empfindungen in's Bereich der Kunst — dies das praktische Ziel. Bewußte Vernichtung des Kriticismus der Kunst durch vermehrte W e i h e der Kunst.
Dies als Trieb des deutschen Idealismus nachzuweisen. Also: Befreiung von dem Überherrschen des άνθρωπος θεωρητικός.739 N u r noch in der Scheinwelt der Kunst scheint ihm ein Leben möglich zu sein angesichts der, wie er später sagt, „ t r a g i s c h e n E r k e n n t n i ß " 7 4 0 , daß wir nichts wissen können und darum alles glauben müssen, angesichts auch der lebensbedrohenden Zerstörung geschlossener wertesetzender metaphysisch-mythischer Weltbilder durch die Wissenschaften. Auf solche nunmehr „künstlich"-künstlerisch zu erschaffenden „Abbreviaturen] der Erscheinung" 7 4 1 wünscht er die verbliebenen religiösen Gefühle übertragen, um ihre Bändigungskraft verstärken und sie dem Zugriff der haltlosen Gelehrtenkul-
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tur entziehen zu können, die in ihrem journalistischen Abschaum den Ruf des Kunstwerkes: „ D u mußt dein Leben ändern" erstickt, weil sie sich von diesem nicht zu sich umstimmen, nicht zu sich ent-setzen lassen will aus ihren gewohnten, sicheren Verrichtungen. 742 Als Arzt der Kultur weiß Nietzsche mithin noch nicht zwischen Allopathie (siehe Seite 135) und Homöopathie zu unterscheiden: Er vermeint noch, den „Nihilismus", den er vor allem an den Wissenschaften diagnostiziert, durch Gaben von Metaphysik heilen zu können, weil er auf einen Verlust der Möglichkeit, an metaphysische Werte zu glauben, zurückführt, was — wie er später erkennt — bereits in diesem Glauben an ein Jenseitiges selber statthat: Die Nichtigsetzung der Welt. (Welche Erkenntnis sich im übrigen ankündigt in Nietzsches Behauptung aus der 2. Unzeitgemässen Betrachtung, daß die Historie seiner Zeit nichts anderes sei als „eine verkappte Theologie" 7 4 3 ; mag dies auch zunächst nicht mehr als ein abgewandeltes Feuerbach-Zitat sein, das er vielleicht aus Wagners Einleitung zum dritten und vierten Band seiner Schriften kannte, wo die Philosophie eine verkappte Theologie genannt wird. 744 ) Und da jetzt ,,[n]ur als K u n s t [ . . . ] noch so ein System möglich [ist]" 745 , wie es beispielsweise ein jeder der vorsokratischen Philosophen erbaut hat, legt er selbst in seinen veröffentlichten Schriften die Kunst als Metaphysik aus und erklärt sich den Bestrebungen all jener für aufgeschlossen, die „von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens im Sinne des Mannes überzeugt" sind, dem Nietzsche als seinem „erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn" seine „Geburt der Tragödie" 7 4 6 widmet — Richard Wagner, mit dem zu brechen für Nietzsche dann in dem Maße unvermeidlich wird, als er zu seinem Wesensgesetz zurückfindet, sich bei keiner Anschauung nur darum zu befestigen, weil man, so der Zwanzigjährige in einem Brief an die Schwester, sich bei ihr „am bequemsten befindet" 7 4 7 , und d. h. in dem Maße, als er sich, seinem „Genius" folgend, seinen einen Gedanken des Nihilismus zudenkt und damit ablehnen muß, was ihn bei Wagner Anlehnung suchen ließ, weil er sich von ihm die Rettung der Gegenwartskultur erhoffte: das metaphysischreligiöse Wesen seiner Kunst und der Genie-Kult um seine Person: Metaphysik der Cultur. Alles, was diesem Leben einen metaphysischen Sinn unterlegt, ist zu fördern. Das Religiöse nicht mehr rein, sondern versetzt möglich. Woher der Drang nach Erziehung, Kenntnissen usw.? Die Vortheile für den Kampf des Daseins?
Metaphysik der Cultur: Der Genius
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U n s t e r b l i c h k e i t des Genius, des Dranges nach dem Genius.748, hält Nietzsche Anfang 1874—Frühjahr 1874 in seinem Notizheft fest. Wir haben bereits dargelegt, daß für ihn Kultur und Natur einander nicht entgegengesetzt sind, daß vielmehr die Kultur und die sie bestimmenden Gesetze in der Natur angelegt sein sollen: Die Natur ist in seinen Augen bereits insofern Kultur, als sie vom dichtenden Wesen des Erkenntnisvermögens erzeugt wird — Konsequenz dessen, daß Nietzsche, wie wir anläßlich der Interpretation der „Geburt der Tragödie" noch genauer ausführen werden, aus der Erfahrung des kunstschaffenden Zustandes heraus die Welt denkt: diesen selber jedoch legt er am Leitfaden des leibenden Lebens aus und mit ihm das „Seiende" im „ G a n z e n " überhaupt. Darin aber liegt, wie Hans Martin Klinkenberg richtig gesehen hat, beschlossen, daß der Begriff „Kultur" ontologisch „keine eigene Basis mehr [hat], da der ,Geist', mit dessen Abgesondertheit vom ,Stoff' Kultur als Weise des Geistes in einem spezifischen Bereich eingegrenzt war, bei Nietzsche nur noch Funktion und Mittel des allumfassenden Lebens bleibt." 749 Was zugleich erklärt, warum dieser Begriff — der ohnehin in der Mitte der 70er Jahre verschwindet: der reife Philosoph sucht den Zugang zu dem dabei in Rede stehenden „Vorzugs-Interesse" 7 5 0 seines Denkens an anderer Stelle — merkwürdig verschwommen bleibt. Wie Klinkenberg bemerkt, ist er „immer nur von anderen Begriffen aus ahnbar" 7 5 1 . Enger als der Terminus „Leben", umfaßt er als Horizontbegriff die Trias (Geistes-)Wissenschaft, Philosophie (wozu Nietzsche auch die Religion — Metaphysik! — rechnet) und Kunst, in welchem Zusammenschluß sich der Einfluß der philosophischen Tradition bemerkbar macht, hat diese doch seit Aristoteles Wissenschaft, Philosophie und Kunst zusammengebracht als Gebiete und Weisen des Erkennens. Auch wenn, wie sich uns bereits angedeutet hat, bei Nietzsche anstelle des Erkennens das Schaffen von Schein diese Trias verbindet und in seiner Perspektive nicht mehr der Geist sich im Lebendigen und Stofflichen, vielmehr umgekehrt das „Leben" selbst sich verwirklicht unter Heranziehung des ihm eigenen Mittels des Geistes — in welchem Ansatz er die Abspaltung des Geistes vom „Stoff", vom Leib, als einen furchtbaren Irrtum bekämpft —, so bezeugt sich doch in dem darin erkennbaren Ausschluß von Technik und im Grunde auch von Naturwissenschaft — im Ausschluß der, wenn man so will, „Stoffmanipulier e r " — das Fortwirken der von Nietzsche abgelehnten „Geistesmetaphysik"; ein weiteres Indiz dafür, daß seine Philosophie dem „Piatonismus" verhaftet bleibt. (Daß Kultur von ihm rein ästhetisch aufgefaßt wird, nämlich nur von der Kunst getragen scheint, ist auch biographisch dadurch zu erklären, daß ihm die Bereiche von Technik und Naturwissenschaft in
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Voraussetzungen
seiner einseitig humanistischen Ausbildung nicht eröffnet wurden, wie er im 195. Aphorismus der „Morgenröthe" Schulpforta vorwirft. 752 ) Kultur wird vom Leben zur Verbesserung seiner Erscheinung als Natur, als Physis, als erster Physis, hervorgebracht. Nietzsche spricht darum von „der Cultur als einer neuen und verbesserten Physis" 753 , dabei die Etymologie des Wortes interpretierend: „Kultur" stammt von lateinisch colere „hegen und pflegen, bebauen, ausbilden, tätig verehren" und bedeutete ursprünglich: Bearbeitung des Bodens — „agricultura" —, um ihn den Bedürfnissen des Menschen gemäß aufzubereiten. Derweise bleibt die Kultur, die neue oder zweite Physis, auf die alte, erste Physis, die Natur, bezogen, 754 aus der sie ohne Sprung, nämlich „organisch" hervorgeht, weil sie eben nichts anderes ist als ein όργανον der allumfassenden, sowohl erste wie zweite Physis umschließenden, einen Physis des beständig sich selbst vollziehenden Lebens: W e n n man von H u m a n i t ä t redet, so liegt die Vorstellung zu G r u n d e , es m ö g e das sein, w a s den Menschen von der N a t u r
abscheidet
und
auszeichnet. Aber eine solche A b s c h e i d u n g giebt es in Wirklichkeit nicht: die
„natürlichen"
Eigenschaften
und
die
eigentlich
„menschlich"
genannten sind untrennbar verwachsen. D e r Mensch, in seinen höchsten und edelsten K r ä f t e n , ist g a n z N a t u r und trägt ihren
unheimlichen
Doppelcharakter
unmenschlich
an
sich.
Seine
furchtbaren
und
als
geltenden B e f ä h i g u n g e n sind vielleicht s o g a r der fruchtbare B o d e n , aus dem
allein
alle
Humanität,
in
Regungen
Thaten
und
Werken
hervorwachsen kann. 7 5 5
Nietzsche zeigt dies am Beispiel der Griechen, die den „Kampf um's Dasein" — vor allem unter dem Einfluß ihrer Dichter — „ z u einem freien Wettkampfe idealisirt" 756 und ihn damit auf höhere Kulturziele ausgerichtet haben sollen: der άγών wurde wie die gute ερίς des Hesiod zum movens der griechischen Kultur. Umgekehrt sind Miltiades, Athen und Sparta, welche durch Taten der Hybris ihren Untergang selbst herbeigeführt haben, für Nietzsche, wie er in der nachgelassenen Vorrede „Homers Wettkampf" bemerkt 757 , „Beweise dafür, daß ohne Neid Eifersucht und wettkämpfenden Ehrgeiz der hellenische Staat wie der hellenische Mensch entartet. Er wird böse und grausam, er wird rachsüchtig und gottlos". Kultur ist somit modern, gleichwohl aber mit Nietzsche gesprochen, der jenes Wort als erster im heute üblichen Sinne gebraucht hat 758 : „sublimierte" Physis; was man jedoch erst dann zureichend verstehen kann, wenn man auch in dieser Formel die Grundfigur des Nietzscheschen Denkens, den — erst später darzustellenden — „Streit" erkennt. 759 Wenn Kultur aber Setzung und Verwirklichung oberster Werte durch die Pflege der höchsten Güter des Menschen ist, Nietzsche jedoch nunmehr „aufgedeckt" hat, daß durch den Menschen hindurch das Leben in Sorge für
Metaphysik der Cultur: Der Genius
157
seinen aufsteigernden Selbstvollzug diese Werte setzt, so hat jetzt der Mensch ausdrücklich dessen stummem Willen hörig zu sein. In den Vorträgen „ U e b e r die Zukunft unserer Bildungsanstalten" verdeutlicht dies Nietzsche dadurch, daß die Stimme des Philosophen „ f a s t zu einer Naturmusik" 7 6 0 wird, wenn sie, wie es in der 3. Unzeitgemässen Betrachtung heißt: eine B e l e h r u n g auf die G e s e l l s c h a f t u n d ihre Z w e c k e a n w e n d e [ t ] , w e l c h e m a n aus der B e t r a c h t u n g einer j e d e n A r t des T h i e r - u n d P f l a n z e n r e i c h s g e w i n n e n k a n n , dass es bei ihr allein a u f d a s einzelne h ö h e r e E x e m p l a r a n k o m m t , auf d a s u n g e w ö h n l i c h e r e , m ä c h t i g e r e , complicirtere, f r u c h t b a rere 7 6 1 ,
und darob verkündet: d a s Ziel d e r M e n s c h h e i t k a n n [ . . . ] nur in ihren höchsten [liegen] 7 6 2 .
Exemplaren
Als verbesserte Physis hat Kultur darum für Nietzsche allein die Aufgabe, den Genius zu erzeugen, um „ d a d u r c h a n d e r V o l l e n d u n g d e r N a t u r zu arbeiten."763 Indes, so müssen wir fragen, hat Nietzsche nicht gerade in seinem Dissertationsprojekt „ D i e Teleologie seit K a n t " jede teleologische Deutung der N a t u r als der menschlichen Vorstellung „enthörig" 7 6 4 erwiesen? In der T a t . Doch hat er dabei in keiner Weise das Phänomen als solches bestritten, das Anlaß zu einer teleologischen Deutung gibt. Wie erinnerlich ist für ihn im Anschluß an Darwin, dessen Kenntnis ihm durch Lange vermittelt wurde, die Zweckmäßigkeit organischer Formen nichts anderes als „Lebensfähigkeit", welche einigen unter den zahllosen Entwürfen der Natur zukommt — zufällig, wie man angesichts der ungeheuren Zahl an Versuchen sagen muß. Nietzsche notiert: Teleologie: innre Z w e c k m ä ß i g k e i t . W i r sehen eine complicirte M a s c h i n e , die sich erhält u n d k ö n n e n nicht einen a n d e r n B a u aussinnen wie sie e i n f a c h e r zu c o n s t r u i r e n sei. dh. a b e r n u r : die M a s c h i n e erhält sich, also ist sie z w e c k m ä ß i g . [ . . . ] eine äußere Z w e c k m ä ß i g k e i t ist eine T ä u s c h u n g . Dagegen
ist uns die M e t h o d e der N a t u r b e k a n n t , w i e ein
solch
„ z w e c k m ä ß . " K ö r p e r entsteht, eine sinnlose M e t h o d e . D e m n a c h erweist sich die Z w e c k m ä ß i g k e i t nur als L e b e n s f ä h i g k e i t dh. als cond. sine qua non. D e r Z u f a l l k a n n die s c h ö n s t e M e l o d i e f i n d e n . Z w e i t e n s k e n n e n wir die M e t h o d e d e r N a t u r , wie solch ein z w e c k m ä ß . K ( ö r p e r ) erhalten wird. Mit s i n n l o s e m Leicht(t)sinn. 7 6 5
Ahnliches gelte für die — bei Nietzsche von der übrigen N a t u r ja nicht mehr abzutrennende — Welt des Geistes. Fast immer bringe die Natur nur eine Halbheit hervor, den gewöhnlichen Menschen, selten, g a n z selten nur
158
Voraussetzungen
glücke hingegen der große Wurf, und ein vollkommener Mensch, das Genie — gemäß Nietzsches Kulturtrias: der Heilige, der Künstler, der Philosoph, der hier f ü r die Wissenschaften mit einzustehen hat — entstehe, ohne daß die „ N a t u r " in der Lage wäre, dieses „Nicht-mehr-Thier" 7 6 6 seiner Seltenheit entsprechend zu behandeln. (Somit hält Nietzsche Darwins Lehre „von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier" 7 6 7 im Grunde nur in bezug auf den gemeinen Menschen, dessen Fertigkeiten und Strebungen, für wahr. Erst mit den Schöpfungen von Religion, Kunst und Philosophie erreicht die Natur in Nietzsches Augen eine neue, eine genuin menschliche Stufe — und nicht in der Technik, die, so dürfte er meinen, bereits im Tierreich vorkommt. 768 Darum sind f ü r ihn der Künstler, der Heilige und der Philosoph Repräsentanten wahrer Menschlichkeit und Kultur. Nicht zwischen Mensch und Tier, sondern zwischen Mensch und Genius setzt er mithin eine Kluft, einen Sprung der N a t u r an.) Fast immer ist nämlich Mißachtung in der Gestalt der „Mitmenschen" die Reaktion der Natur auf ihr eigenes Gelingen, allzuoft sogar gleichgültige Zerstörung. 769 Von einer liebenden „Mutter N a t u r " weiß Nietzsche — anders als Goethe etwa — nichts: Grausamkeit und Indifferenz, dies die Charakterzüge, von denen er künden kann. Denn sie ist auch dort, w o sie das Schönste z u erschaffen angestrengt ist, etwas Entsetzliches. D i e s e m ihren W e s e n ist es gemäß, daß die T r i u m p h z ü g e der K u l t u r nur einer unglaublich geringen Minderheit v o n bevorzugten Sterblichen zu Gute k o m m e n , daß d a g e g e n der S k l a v e n d i e n s t der großen Masse eine N o t h w e n d i g k e i t ist, w e n n es wirklich z u einer rechten Werdelust der Kunst k o m m e n soll. 770
In dem unsere Zeit prägenden „Glauben an die Güte der N a t u r " , der seiner Ansicht nach die französische Revolution hervorgerufen hat, 771 erkennt er — in Vorwegnahme dessen, was er später als Herrschaft des Ressentiments bedenken wird — die „Kultur"herrschaft des Sklaven, als welcher seiner N a t u r nach alle seine Verhältnisse mit trügerischen N a m e n bezeichnen muß, um leben zu können. Solche P h a n t o m e , wie die W ü r d e des Menschen, die W ü r d e der Arbeit, sind die dürftigen Erzeugnisse des sich vor sich selbst versteckenden Sklaventhums. 7 7 2
Doch nur, wo der Mut aufgebracht wird, das Entsetzliche der Natur zu erschauen und zu ertragen, kann nach Nietzsche als Veredelung desselben wahrhafte Kunst und damit wahre Kultur entstehen. Denn produktiv macht allein der Schmerz, „der als verwandte Gegenfarbe das Schöne erzeugt" 7 7 3 , er allein macht, wie wir schon gesehen haben, kunstbedürftig. Schmerz ist der Grundton der Natur...
Metaphysik der Cultur: Der Genius
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Mag auch das T u n der Natur „an sich" sinnlos sein, der Mensch, mit dem der Sinn überhaupt erst möglich, zugleich aber auch nötig wird, ist bestrebt, dieses Tun, aus dem er selber hervorgeht, in einen Sinn zu überführen: Dass mein Leben keinen Zweck hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines Entstehens klar; dass ich einen Zweck mir setzen kann, ist etwas anderes., haben wir bereits auf S. 100 vernommen. Eine „neue und verbesserte Physis", kein Gegensatz zur Physis hat Kultur für Nietzsche zu sein, ihre Sinnsetzungen haben sich an „Vorgaben" der Natur anzuschließen, so daß der vom Menschen gesetzte Sinn gleichsam aus der Natur hervorgeht: Mit diesem von der Kunst geprägten Begriff der Kultur knüpft Nietzsche entfernt an die Bestimmung der τ έ χ ν η an, wie sie Aristoteles in seiner „Physik" (II, 8; 199 a 15—17) gegeben hat: „ ό λ ω ς τε ή τ έ χ ν η τ ά μεν έπιτελεΐ ά ή φύσις ά δ υ ν α τ ε ΐ ά π ε ρ γ ά σ α σ θ α ι , τ ά δε μιμείται — , Kunst' hat einerseits zu vollenden, andererseits das Naturgegebene nachzuahmen". Wobei „ K u n s t " als Übersetzung von τ έ χ ν η umfänglicher als heute üblich zu verstehen ist, nämlich als „Inbegriff f ü r alle Fertigkeiten des Menschen, werksetzend und gestaltend wirksam zu werden" 7 7 4 , so daß darin Künstliches und Künstlerisches zusammengeschlossen sind. Die Kunst wird in jener Bestimmung des Aristoteles mithin als Vollstreckerin der Entelechie des Gegebenen aufgefaßt, fügt sie sich doch im Aufnehmen des von der Natur Liegengelassenen deren Vorzeichnung. Solches fordert auch Nietzsche von der wahren Kultur, die er nicht umsonst als „griechische Cultur" bezeichnet. Der fundamentale Unterschied zwischen Aristoteles und Nietzsche besteht aber darin, daß ersterer die τ έ χ ν η von der φύσις her deutet — so daß, wer ein Haus baut, nur genau das tut, was die Natur täte, ließe sie Häuser „wachsen" (Physik II, 8; 199 a 12—15): „ars imitatur naturam" lautet die Formel für diese Sichtweise (Aristoteles, Physik II, 2; 194 a 21f.; Meteorologie IV, 3; 381 b 3—7) —, während der letztere die Natur umgekehrt von der Kunst her deutet. Abgesehen davon, daß in seinen Augen die Natur ein Kunstprodukt des dichtenden Wesens unserer Erkenntnis ist, meint das in diesem Zusammenhang, daß Nietzsche die Kunst, obwohl sie als Vollstreckerin des Willens der Natur in deren Dienst steht, dennoch als das Vollkommenere über die Natur stellt. So zeichnet er sich im Frühjahr—Sommer 1874 in den Notizen zu seiner 3. Unzeitgemässen Betrachtung auf: Erzwingt sich nicht jedes wahre Kunstwerk ein Bekenntniss, mit dem der Satz des Aristoteles Lügen gestraft wird? Ist es nicht die Natur, welche die Kunst nachahmt? Stottert sie nicht mit der Unruhe ihres Werdens etwas nach, in unzureichender Sprache und in immer neuen Versuchen, was der Künstler rein ausspricht? Sehnt sie sich nicht nach dem Künstler, dass er sie von ihrer Unvollkommenheit erlöse? 775
160
Voraussetzungen
Sie sehnt sich mithin nach dem Genius, er ist in Nietzsches Augen die Sinnsetzung, die die Natur dem Menschen „anbietet". Allein er und keine Massenbildung hat darob das Ziel der Kultur zu sein. Die „ w a h r e " Kultur ist „eine aristokratische" 776 , denn darüber müssen wir einmüthig sein, daß von der Natur selbst nur unendlich seltne Menschen zu einem wahren Bildungsgange ausgeschickt werden, und daß zu deren glücklicher Entfaltung auch eine weit geringere Anzahl von höheren Bildungsanstalten ausreicht, daß aber in den gegenwärtigen auf breite Massen angelegten Bildungsanstaken gerade diejenigen am wenigsten sich gefördert fühlen müssen, für die etwas Derartiges zu gründen überhaupt erst einen Sinn hat.777 Kultur wird, wie wir wissen, vom Leben zur Verbesserung seiner selbst hervorgebracht. Das meint in metaphysischer Deutung (das W o r t im Heideggerschen Sinne verstanden): Es bedarf zu seinem Vollzug notwendig perspektivischer und damit horizonthafter Einheit, welche es in der Kultur f ü r sich setzt: Kultur ist vor allem Einheit des Lebensäusserungen eines Volkes. 778
künstlerischen
Stiles
in
allen
Kultur ist Konsequenz von Kunst, insofern diese durch Stilbildung die Lebensäußerungen vereinheitlicht. Die Kunst hinwiederum wird vom Genius erzeugt, so daß dieser als Gesetzgeber der Kultur auftritt. Aus dem Strome der Zeit heraustretend, weist er als Unzeitgemäßer seiner Zeit Richtung und Maß: wie die großen Führer der Geführten bedürfen, so bedürfen die zu Führenden der Führer: hier herrscht in der Ordnung der Geister eine gegenseitige Prädisposition, ja eine Art von prästabilirter Harmonie.779 Nietzsche verrät in einer der „Fünf Vorreden", in „ D e r griechische Staat", daß er das Urbild des Staates im Soldatenstande und seiner Kastenordnung erkennt: Ich dächte, der kriegerische Mensch wäre ein M i t t e l des militärischen Genius und seine Arbeit wiederum nur ein Mittel desselben Genius; und nicht ihm, als absolutem Menschen und Nichtgenius, sondern ihm als Mittel des Genius — der auch seine Vernichtung als Mittel des kriegerischen Kunstwerks belieben kann, — komme ein Grad von W ü r d e zu, jener Würde nämlich, z u m M i t t e l d e s G e n i u s g e w ü r d i g t z u sein.780
Darum fängt in Nietzsches Augen „alle Bildung [ . . . ] mit dem Gegentheile alles dessen an, was man jetzt" — wie er meint: naturwidrig, weil gegen die Instinkte gerichtet — „als akademische Freiheit preist, mit dem Gehorsam, mit der Unterordnung, mit der Zucht, mit der Dienstbarkeit." 781 So bemerkt er in einem Brief an Deussen vom September 1868 lapidar: „Es giebt eben Arbeitsgeber und Fabrikarbeiter", wie etwa die Philologen und den philosophischen Halbgott 7 8 2 , der, so heißt es in einer Aufzeichnung vom März 1875 gleichsinnig, „ihre Ameisenarbeit zu nutzen versteht, um über
Metaphysik der Cultur: Der Genius
161
den W e r t h d e s L e b e n s eine Aussage zu machen. Freilich ist, wenn es keine L e i t u n g giebt, der g r ö s s t e T h e i l jener Ameisenarbeit einfach U n s i n n und überflüssig." 783 Vorarbeiten zu einer „Geschichte der litterarischen Studien im Alterthum und in der Neuzeit" hätten ihn, wie er Rohde im Februar 1868 brieflich 784 zu berichten weiß, nämlich gelehrt: D a ß wir alle aufklärenden Gedanken in der Litteraturgeschichte von jenen wenigen großen Genien empfangen haben, die im Munde der Gebildeten leben und daß alle guten und fördernden Leistungen auf dem besagten Gebiete nichts als praktische Anwendungen jener typischen Ideen waren, daß mithin das Schöpferische in der litterarischen Forschung von solchen stammt, die selbst derartige Studien nicht oder wenig trieben, daß dagegen die gerühmten Werke des Gebietes von solchen verfaßt wurden, die des schöpferischen Funkens bar waren — diese stark pessimistischen Anschauungen, in sich einen neuen Kultus des Genius bergend, beschäftigen mich anhaltend und machen mich geneigt, einmal die Geschichte darauf hin zu prüfen. An mir selbst stimmt die Probe; denn mir ist es so, als ob D u bei den niedergeschrieben(en) Zeilen den D u f t von Schopenhauerscher Küche riechen müßtest.
„Gleiches durch Gleiches", dieser zuerst von Parmenides, Empedokles und Piaton geäußerte Gedanke bedeutet somit in dem hier in Rede stehenden Zusammenhang, daß allein der Genius den anderen Genius und sein Werk verstehen kann: „Es giebt keinen Weg, die griechische Tragödie zu begreifen, als Sophokles zu sein.", konnten wir bereits unter Nietzsches Aufzeichnungen von Ende 1870—April 1871 lesen. Das Bemühen der „Alltagsfliegen" 785 um ein Verständnis der Kunstwerke kann darum allein den Sinn haben, diese f ü r das nächste Genie zu bewahren, tritt es erst hier doch wieder in seine eigentliche Wirk-lichkeit ein. Kein Mensch würde, führt Nietzsche in den Reden „Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalt e n " aus, nach Bildung streben, wenn er wüßte, wie unglaublich klein die Zahl der wirklich Gebildeten zuletzt ist und überhaupt sein kann. U n d trotzdem sei auch diese kleine Anzahl von wahrhaft Gebildeten nicht einmal möglich, wenn nicht eine große Masse, im Grunde gegen ihre Natur, und nur durch eine verlockende Täuschung bestimmt, sich mit der Bildung einließe. Man dürfe deshalb von jener lächerlichen Improportionalität zwischen der Zahl der wahrhaft Gebildeten und dem ungeheuer großen Bildungsapparat nichts öffentlich verrathen 786 .
(Daß Nietzsche dies dennoch gerade mit diesem Satz tut, geschieht wohl aus der verzweifelten Erkenntnis heraus, daß die Kultur der „Jetztzeit" die „Bedingungen für die Entstehung des Genius [ . . . ] nicht v e r b e s s e r t , sondern v e r s c h l i m m e r t " hat 787 und allein Aufklärung vielleicht noch auf Umkehr der Tendenz hoffen läßt. 788 ) Das Kleine ist somit nötig, damit das Große entstehen kann, doch auch nur dazu ist es nötig. Auch hier, im Bereich der Bildung, geht Nietzsche somit davon aus, daß sich das Leben nur
Voraussetzungen
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in Illusionen vollziehen kann: „Die Illusion nöthig, um in der Kultur fortzuschreiten.", zeichnet er sich im Sommer 1872—Anfang 1873 auf. 789 Aufgabe der Bildung ist somit: ,,[d]ie höchsten Geister zu perpetuiren" 7 9 0 , ihr Mittel für diesen Zweck — die Historie, die monumentalische wohlgemerkt, die in ihrem Weltbildcharakter ähnliche Aufgaben zu übernehmen hat, wie seinerzeit der Mythos bei den Griechen. Diese nämlich waren, wie es in der „Geburt der Tragödie" heißt, unwillkürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen a n z u k n ü p f e n , ja es nur durch die A n k n ü p f u n g zu begreifen: w o d u r c h auch die nächste G e g e n w a r t ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. In diesen Strom des Zeitlosen 7 " aber tauchte sich eben so der Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und Gier des Augenblicks Ruhe z u finden. U n d gerade nur so viel ist ein V o l k — w i e übrigens auch ein Mensch — werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des E w i g e n zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche U e b e r z e u g u n g v o n der Relativität der Zeit und v o n der wahren, d. h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. 7 9 2
In diesem Sinne soll die monumentalische Historie ein „zeitlos-gleichzeitig[es]" Fortleben der großen Schöpferischen in der „Genialen-Republik" ermöglichen, v o n der einmal S c h o p e n h a u e r erzählt; ein Riese ruft dem anderen durch die ö d e n Zwischenräume der Zeiten z u , und ungestört durch muthwilliges lärmendes G e z w e r g e , welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das h o h e Geistergespräch fort. 7 9 3
Obwohl sie letztlich nicht für es selbst, sondern für das aus ihm hervorgehende Genie bestimmt sind, 794 soll das Volk in diesen von der monumentalischen Historie überlieferten Geschichtsbildern sich selber, zur Idealgestalt verklärt, wiedererkennen. Denn dieses „ist die wahrhaft reale ,Geschichte' eines Volkes, alles andere ist schattenhafte unzählige Variation in schlechterem Stoffe, Kopien ungeübter H ä n d e " , wie Nietzsche im Sommer 1872—Anfang 1873 aufzeichnet, spiegelt doch „das ganze Leben eines Volkes unrein und verworren das Bild w i d e r [ . . . ] , das seine höchsten Genien bieten." 795 Umgekehrt gibt das Genie oder der Genius die höchste Bestimmung eines V o l k e s in dem gleichnißartigen W e s e n eines Individuums und in einem e w i g e n W e r k e zu erkennen [ . . . ] , sein V o l k selbst damit an das E w i g e anknüpfend und aus der w e c h s e l n d e n Sphäre des M o m e n t a n e n erlösend,
was alles der Genius indes nur vermag, „wenn er im Mutterschooße der Bildung eines Volkes gereift und genährt ist" 796 : der Belege für die Abkünftigkeit des Nietzscheschen Genie-Begriffs von demjenigen Diderots und dessen Fortbildung durch die Stürmer-und-Dränger sind übergenug. Die Verwandtschaft reicht bis zur Kritik am neuen, von Hegel als „das höchste Ziel der Menschheit" 797 verklärten Götzen Staat 798 , der entgegen
Metaphysik der Cultur: Der Genius
163
seiner ursprünglichen Aufgabe, den Boden für die Bildung des Genies zu bereiten — in erster Linie durch die Verhinderung des „natürlichen bellum omnium contra omnes" 7 9 9 —, um so „Noth- und Schutzanstalt" 800 für die Kultur sein zu können, sich selbst „als Leitstern der Bildung" 8 0 1 und damit eine „uniformirte Staatskultur" 802 erzwingt; vor allem aber schließt die Verwandtschaft die folgende Vorstellung mit ein: J e d e r ist im G r u n d e Genius, insofern er e i n m a l
da ist und einen g a n z
neuen Blick auf die D i n g e wirft. Er v e r m e h r t die N a t u r , er z e u g t mit diesem neuen Blick. 8 0 3
Eine Vorstellung, die einerseits Leibnizens Gedanken verschärft, jede Monade sei aufgrund ihres Gesichtspunktes auf die Welt, d. h. aufgrund ihres situs, einzig — nicht mehr ist Nietzsches „ M o n a d e " schaffend nur im Sinne des ent-deckenden Ausfaltens der in sie durch Gott bereits vollständig eingefalteten Welt, vielmehr stellt sie selber vorstellend Welt ursprünglich her —, zum anderen aber auf das δαιμόνιον des Sokrates zurückgeht. 804 War dieses, wie aus der gegen Sokrates erhobenen Anklage, neue Götter eingeführt zu haben, hervorgeht, Sondermitgift eines ausgezeichneten einzelnen, eben des Philosophen, 805 so spricht der frühe Nietzsche eine solche vor Gefährdungen des Selbst warnende innere Stimme einem jeden zu. D e r Mensch, welcher nicht nur M a s s e g e h ö r e n will, braucht nur a u f z u h ö r e n , g e g e n sich b e q u e m zu sein; er f o l g e seinem G e w i s s e n , welches ihm z u r u f t : „ s e i du selbst! D a s bist du alles nicht, w a s du jetzt thust, meinst, begehrst."806
Genius, d. h. Genie, ist danach der, welcher seinem Genius folgt und wahres Selbst, „Unicum" wird, das er ist. Er ist der wahre Mensch, nämlich nicht festgestelltes Tier 807 , weil er sich durch die Konventionen seiner Umwelt in seiner Entwicklung nicht festlegen oder feststellen läßt. ,Öffentlich meinender Scheinmensch' — Vorwegnahme des Heideggerschen „ M a n " —, d. h. im Grunde Tier, hingegen der, welcher aus Faulheit und aus Furcht vor gesellschaftlichen Sanktionen den Ruf des Gewissens überhört, verbesserte Physis, „ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention", zu werden, d. h. sein vorgefundenes Selbst zu kultivieren, und in „einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen" 808 zu leben. Ein J e d e r trägt eine productive Einzigkeit in sich, als den K e r n seines W e s e n s ; und wenn er sich dieser Einzigkeit bewusst wird, erscheint um ihn ein f r e m d a r t i g e r G l a n z , der des U n g e w ö h n l i c h e n . Dies ist den Meisten etwas U n e r t r ä g l i c h e s : weil sie, wie g e s a g t , faul sind und weil an jener Einzigkeit eine K e t t e von M ü h e n und Lasten hängt. E s ist kein Zweifel, dass f ü r den U n g e w ö h n l i c h e n , der sich mit dieser K e t t e beschwert, das Leben fast Alles, w a s man von ihm in der J u g e n d ersehnt, Heiterkeit, Sicherheit, Leichtigkeit, Ehre, einbüsst; das L o o s der V e r e i n s a m u n g ist das
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Voraussetzungen
Geschenk, welches ihm die Mitmenschen machen; die Wüste und die Höhle ist sofort da, er mag leben, wo er will.809
Im „Kampf eines solchen Grossen g e g e n seine Zeit" bekämpft dieser aber das, was ihn hindert, gross zu sein, das bedeutet bei ihm nur: frei und ganz er selbst zu sein. Daraus folgt, dass seine Feindschaft im Grunde gerade gegen das gerichtet ist, was zwar an ihm selbst, was aber nicht eigentlich er selbst ist, nämlich gegen das unreine Durch- und Nebeneinander von Unmischbarem und ewig Unvereinbarem, gegen die falsche Anlöthung des Zeitgemässen an sein Unzeitgemässes 810 .
Unzeitgemäß ist, so behauptet der frühe Nietzsche, der menschliche Kern, weil er zeitlos ist: die Verwandtschaft der Großen aller Zeiten — eine in Ansätzen bereits in der Renaissance nachweisbare Vorstellung 811 — gemahne fast handgreiflich an beinahe scheint es, als nur eine Wolke sei, Zusammengehörigkeit
das sehr relative Wesen aller Zeitbegriffe [ . . . ] : ob manche Dinge zusammen gehören und die Zeit welche es unseren Augen schwer macht, diese zu sehen. 812
Das Gedächtnis an die großen, zeitlosen „Kämpfer g e g e n die G e s c h i c h t e , das heisst gegen die blinde Macht des Wirklichen" 8 1 3 , gegen den Fluß von Werden und Vergehen bewahrt jedoch, wie gesehen, die überhistorische monumentalische Historie. In ihrer mythologisierenden Tendenz, das historische Geschehen von allem Zeitgeschichtlichen, Zeitgemäßen zu befreien und ins Unzeitgemäße, Uberhistorische zu heben, es derweise nicht, wie die beiden anderen Arten von Historie, als geschehen in die Vergangenheit abzuschieben, sondern es vielmehr einer jeden Zeit in der Weise zugänglich zu machen, daß sie sich, wie dies die Griechen mit ihren Mythen konnten, ihr jeweiliges Erleben an diesen Geschichtsbildern zu deuten vermag: in dieser ihrer Tendenz entspricht sie dem Glauben der Kämpfenden an die ewige Notwendigkeit ihrer Schöpfungen für alle Kommenden, ohne den sie zu ihrem T u n niemals befähigt wären. 814 Die monumentalische Historie verbessert damit die Vergänglichkeit des Physischen zur Unvergänglichkeit des kulturellen Erbes — der scheinbaren Unvergänglichkeit indes, denn als verbesserte Physis, die sie ist, bleibt die Kultur den Gesetzen der Physis unterworfen und hat darum auch die Vergängnis nicht nur zu bejahen, sondern auch zu wollen, wenn sie „gesund" bleiben will: „Im Ganzen ist es", so mahnt Nietzsche die historismuskranken Deutschen, ein gefährliches Anzeichen, wenn das geistige Ringen eines Volkes vornehmlich der Vergangenheit gilt, ein Merkmal von Erschlaffung, von Rück- und Hinfälligkeit 815 ,
Metaphysik der Cultur: Der Genius
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ein solches Volk hat buchstäblich keine Zukunft, denn es dient „der Historie, aber nicht dem Leben" 816 , welches, um bauen zu können, zerstören muß. Aber die Erinnerung der monumentalischen Historie geschieht gerade im Zeichen und umwillen der Zukunft, sie ist der zum Vollzug des Werdens notwendige Versuch, das Werden zu überwinden, wie dies, Nietzsche zufolge, auch Kunst und Religion, d . h . Metaphysik unternehmen: die monumentalische Historie ist, wie wir sehen werden, künstlerischen und metaphysischen Wesens. Ja, es reicht zu sagen, daß sie metaphysischen Wesens ist, spricht doch, wie schon erwähnt, Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" von der Kunst als „der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens". Kunst und Religion bezeichnet Nietzsche in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung eben darum als „überhistorische" Mächte, weil sie „den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt" 817 , d . h . für Nietzsche: hin zum Metaphysischen. In diesem Sinne lehre auch die monumentalische Historie im ,,Glaube[n] an die Zusammengehörigkeit und Continuität des Grossen aller Zeiten", „dass das Grosse, das einmal da war, jedenfalls einmal m ö g l i c h war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird": Im „Protest gegen den Wechsel der Geschlechter und die Vergänglichkeit" 818 tendiert sie dazu, eine ewige Wiederkunft des Gleichen zu lehren, welche indes von Nietzsche hier noch ausdrücklich als Illusion bezeichnet wird: N u r wenn die Erde ihr Theaterstück jedesmal nach dem fünften Akt von N e u e m anfienge, wenn es feststünde, dass dieselbe Verknotung von Motiven, derselbe deus ex machina, dieselbe Katastrophe in bestimmten Zwischenräumen wiederkehrten, dürfte der Mächtige die monumentale Historie in voller ikonischer W a h r h a f t i g k e i t , das heisst jedes Factum in seiner genau gebildeten Eigenthümlichkeit und Einzigkeit begehren: wahrscheinlich also nicht eher, als bis die Astronomen wieder zu Astrologen geworden sind. Bis dahin wird die monumentale Historie jene volle Wahrhaftigkeit nicht brauchen können: immer wird sie das Ungleiche annähern, verallgemeinern und endlich gleichsetzen, immer wird sie die Verschiedenheit der Motive und Anlässe abschwächen, um auf Kosten der c a u s a e die e f f e c t u s monumental, nämlich vorbildlich und nachahmungswürdig, hinzustellen: so dass man sie, weil sie möglichst von den Ursachen absieht, mit geringer Uebertreibung eine Sammlung d e r „ E f f e c t e an sich" nennen könnte, als von Ereignissen, die zu allen Zeiten Effect machen werden. 819
O b dieses Absehens von den causae muß die monumentalische Historie — wir erinnern an unsere diesbezüglichen, im folgenden noch zu vertiefenden Ausführungen im Abschnitt 6 (S. 63 ff.) sowie in Anmerkung 279 — der Kunst zugerechnet werden. Bejaht und ergreift sie doch damit das, was nach Nietzsche das verdeckte Wesen aller Erkenntnis ausmacht, den Kunsttrieb
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nämlich, der sich in den anderen Arten von Historie darum schwächer äußert, weil er hier nicht eigens ergriffen wird: [ . . . ] Alles aneinander denken, das Vereinzelte zum Ganzen weben: überall mit der Voraussetzung, dass eine Einheit des Planes in die Dinge gelegt werden müsse, wann sie nicht darinnen sei. So überspinnt der Mensch die Vergangenheit und bändigt sie, so äussert sich sein Kunsttrieb — nicht aber sein Wahrheits-, sein Gerechtigkeitstrieb.820 Schreibbar allein von einem Genie 821 , sollen die mythisch-metaphysischen Bilder der monumentalischen Historie allein der einen Aufgabe von Kultur dienen, das Genie zu ermöglichen, kann doch Nietzsche zufolge die Kultur, als Konsequenz der Kunst, und mit der Kultur das Leben, die „Physis", nur durch das Genie den eigenen Vollzug sichern: das Genie zeugt darum das Genie. Dies die — im Heideggerschen Sinne des Wortes — metaphysische Begründung Nietzsches für den Rang und die Notwendigkeit des Genies. Doch weil er die Befürchtung hegt, daß die „Massenmenschen" nur dann von der Verfolgung ihrer egoistischen Ziele absehen und sich der gemeinschaftlichen Aufgabe, den Genius hervorzubringen, zuwenden können, wenn diesem ein transzendenter Sinn, ein Wert an sich, zukommt, spricht Nietzsche dem Genius die kosmologische Bedeutung zu, Stätte der Selbsterkenntnis des Ur-Einen zu sein — wider die eigene Erkenntnis: „Zu e r w e i s e n ist weder die metaphysische, noch die ethische, noch die aesthetische Bedeutung des Daseins." 822 , wohingegen zu „ b e w e i s e n " ist, „daß alle Weltconstruktionen Anthropomorphismen sind" 823 , eine Erkenntnis, vor der er sich ob der daraus hervorgehenden Sinnlosigkeit zudem selber fürchtet und vor der er sich in den Wagner-Kreis zu flüchten sucht: dies die Gründe für die — das Wort nun im Nietzscheschen Sinne verstanden — metaphysische Gründung des Genies, für den Genie-„Kult" in den veröffentlichten Schriften des frühen Nietzsche.
13. „ Wahrheits-Pathos in einer Lügenwelt.": Kultur-Leben als Widerstreit von Wissenschafts- und Kunst-Sprache Kultur ist, so haben wir ausgeführt, Konsequenz von Kunst, weil diese durch Stilbildung die Lebensäußerungen vereinheitlicht — wie das Leben, das die Kultur zur Verbesserung seiner selbst hervorbringt, auf seiner „biologischen Stufe" als Konsequenz jener im Erkenntnisapparat waltenden Kunstkraft angesehen werden muß, weil sie den amorphen Fluß des Werdens zu Formeinheiten feststellt. Neue und alte Physis kommen somit darin überein, daß sie zu ihrem jeweiligen Vollzug des Scheines der Kunst bedürfen. Die bereits zitierte Aufzeichnung Nietzsches vom Juli 1863 (siehe Seite 8 f.):
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Alles, was in die geistigen Augen der Seele fällt, durchgeistigt sie und giebt ihm einen individuellen Anstrich. Wir kennen die Dinge nicht an und für sich, sondern nur ihre Abbilder auf dem Spiegel unsrer Seele. [ . . . ] In der Kunst haben wir die Natur nachgeahmt und legen in die Natur die Kunst hinein.
— diese Aufzeichnung bedeutete bei dem jetzigen Stand der Dinge: Kunst ahmt dasjenige nach, was die Kunst des Erkenntnisapparates allererst als N a t u r erzeugt hat. Indes ist sie dahingehend zu korrigieren, daß Kunst für Nietzsche nun nicht mehr „nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zu deren Ueberwindung neben sie gestellt." 824 Kunst geht über das Physische hinaus, μετά τ ά φ υ σ ι κ ά , schafft einen höheren, „korrigierten" Schein, sie ist, wie es in der „Geburt der Tragödie" heißt, die „eigentlich metaphysischef...] Thätigkeit" 8 2 5 . (Doch schon der niedere Schein der alten Physis kann — was hier außer acht bleiben soll — insofern metaphysisch genannt werden, als er das Ergebnis eines Hinausgehens des Erkenntnisapparates vom bestandlosen Werden zu einem beständigen Sein darstellt; siehe dazu Anmerkung 819 sowie unsere Interpretation von Nietzsches philosophischer Erstlingsschrift.) „Eine Weltcorrektion — das ist Religion oder Kunst. Wie muß die Welt erscheinen, um lebenswerth zu sein?" 826 , lautet die Frage, die Nietzsche zufolge die Kunst mehr oder minder unbewußt bewegt. Illusionäre Verschleierung d. h. Verklärung der Illusionen der Welt ist darum ihr T u n — in der Absicht, die Physis zu steigern, nämlich Kultur zu schaffen: Jede Art von K u l t u r beginnt damit, daß eine Menge von Dingen v e r s c h l e i e r t werden. Der Fortschritt des Menschen hängt an diesem Verschleiern — das Leben in einer reinen und edlen Sphäre und das Abschließen der gemeineren Reizungen. D e r Kampf gegen die „Sinnlichkeit" durch die Tugend ist wesentlich ästhetischer Art. W e n n wir die g r o ß e n Individuen als unsere Leitsterne gebrauchen, so verschleiern wir viel an ihnen, ja wir verhüllen alle die Umstände und Zufälle, die ihr Entstehen möglich machen, wir i s o l i r e n sie uns, um sie zu verehren. Jede Religion enthält so ein Element: die Menschen unter göttlicher Obhut, als etwas unendlich Wichtiges. Ja, alle Ethik beginnt damit, daß wir das einzelne Individuum u n e n d l i c h w i c h t i g nehmen — anders als die Natur, die grausam und spielend verfährt. W e n n wir besser und edler sind, so haben es die isolirenden Illusionen gemacht! 827
,,[N]ur als a e s t h e t i s c h e s " — d . h . als ein wie ein Kunstwerk betrachtetes — „ P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig g e r e c h t f e r t i g t " lautet ein noch zu bedenkender Zentralsatz der „Geburt der Tragödie" 8 2 8 .
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Feindin dieser fruchtbaren, weil lebensfördernden, vom Genius geschaffenen 829 Illusionen ist die Wissenschaft — das große Thema der 2. Unzeitgemässen Betrachtung, die vom „ N u t z e n und Nachtheil der Historie für das Leben" handelt: Eine Religion zum Beispiel, die in historisches Wissen, unter dem Walten der reinen Gerechtigkeit, umgesetzt werden soll, eine Religion, die durch und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich vernichtet. Der Grund liegt darin, dass bei der historischen Nachrechnung jedesmal so viel Falsches, Rohes, Unmenschliches, Absurdes, Gewaltsames zu Tage tritt, dass die pietätvolle Illusions-Stimmung, in der Alles, was leben will, allein leben kann, nothwendig zerstiebt: nur in Liebe aber, nur umschattet von der Illusion der Liebe schafft der Mensch, nämlich nur im unbedingten Glauben an das Vollkommene und Rechte. 830
Und diese Zerstörung der Illusionen hat statt: — im Zeichen einer Illusion, der Illusion der Objektivität. (Hier ist das bereits zitierte W o r t Nietzsches: „Es ist naiv zu glauben, daß wir je aus diesem Meer der Illusion herauskommen könnten." 8 3 1 zu ergänzen durch jenes: „ W e n n man die Wahnvorstellung sich als solche auflöst, so muß der Wille — w e n n a n d e r s er unser Fortbestehen will — eine n e u e schaffen." 832 , braucht er doch zu seinem Vollzug den Schein.) „Objektivität", d. h. die Wiedergabe ,des empirischen Wesens der Dinge' 833 zu fordern, heißt nämlich für Nietzsche, das dichtende Wesen der Vernunft zu verkennen, sich in der Illusion zu wiegen, als würden sich „die Dinge gleichsam durch ihre eigene Thätigkeit auf einem reinen Passivum abzeichnen, abkonterfeien, abphotographiren" 8 3 4 . Indes äußert sich, wie bereits gehört, schon in dem Bestreben des Menschen, im Vergangenen Zusammenhänge zu erkennen, „überall mit der Voraussetzung, dass eine Einheit des Planes in die Dinge gelegt werden müsse, wann sie nicht darinnen sei [ . . . ] sein Kunsttrieb — nicht aber sein Wahrheits-, sein Gerechtigkeitstrieb" 835 . Auch hier zeigt sich somit das Bemühen des Erkenntnisapparates, die unendliche Zahl von Erscheinungen zu überschaubaren Einheiten zusammenzufassen. Wenn beispielsweise der Historiker Bilder der „griechischen Kultur" entwirft, sind dies mithin, wie Hans Martin Klinkenberg richtig bemerkt, „zustandhafte, isolierende Metaphern für kontinuierliche Bewegung in und durch große Einzelne" 836 , für als solche nicht denkbare Vollzüge des Werdens, die indes selber bereits von illusionären Einheitsvorstellungen geleitet werden. „Von Illusionen sich nicht beherrschen lassen, ist ein unendlich naiver Glaube, aber es ist der intellektuelle Imperativ, das Gebot der Wissenschaft." 837 , merkt sich Nietzsche im September—Januar 1871 an.
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Wenn die philosophische Tradition seit Aristoteles Wissenschaft, Philosophie und Kunst als Weisen und Gebiete des Erkennens zusammengebracht hat, so verbindet sie nunmehr in Nietzsches Philosophie des umgedrehten Piatonismus, welche alles unter der Optik des auf den Schein zielenden Lebens betrachtet, das Schaffen solchen Scheins, das Voraussetzen von Werten, die dem Leben Richtung geben. Piaton ist der erste Denker gewesen, welcher die Kunst in grundsätzlicher, in ontologischer Weise bedacht hat — im 10. Buch der Politeia (595 ff.). Dort bestimmt er das Wesen der Kunst am Beispiel zweier elementarer Gebrauchsgegenstände (σκεύη), Bett und Tisch, als ,,τριττά ά π έ χ ο ν τ α τ ο ϋ ο ν τ ο ς " (599 a), als an dritter Stelle vom eigentlich Seienden entfernt stehend, nämlich nach den vom göttlichen Wesensbildner (φυτουργός) geschaffenen Ideen und den vom Werkbildner oder Handwerker (δημιουργός) im geistigen Hinblick auf die Ideen geschaffenen und damit durch Ideenteilhabe (μέθεξις) gezeichneten Zeugdinge: Der Maler (ζωγράφος) hat, wenn er Tisch und Bett darstellt, nicht die Idee selbst, sondern das ihr schon Nachgebildete im Blick. Als bloße μίμησις 8 3 8 desselben aber ist sein Geschaffenes, bezogen auf die Idee, nicht mehr als ein Schattenbild (ειδωλον). Dieser potenzierte Schein ( φ α ι ν ό μ ε ν ο ν ) — hinsichtlich der Ideen ist auch das Zeugding Schein ( „ κ α ι τ ο ϋ τ ο ά μ υ δ ρ ό ν τι τ υ γ χ ά ν ε ι öv πρός ά λ ή θ ε ι α ν — etwas Trübes ist gegen die Wahrheit", 597 a) — stellt in Piatons Augen insofern eine große Gefahr dar, als er selbstgenügsam zu sich selbst verführend die Frage nach dem Unterschied von Wahrheit und Schein verschließt. Damit aber verweigert die Kunst dem Menschen die Wesensprägung, die π α ι δ ε ί α , die in dieser Frage eröffnet wird, und muß daher — mit Ausnahme etwa der „Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer" (607 a) — aus der menschlichen Gemeinschaft, der πόλις, ausgeschlossen werden, wenn diese gelingen soll. Aristoteles rettet in seiner „Poetik" die Kunst aus dieser Verwerfung, indem er, ihre Eigenart anerkennend, ihr einen Platz anweist zwischen der Historie, dem niederen Wissen des tatsächlich Geschehenden, d. h. des Besonderen (καθ' έκαστον), und dem höchsten Wissen der Philosophie um das Intelligible, das Allgemeine (καθόλου): „ D e r Unterschied ist, daß der Historiker berichtet, was geschehen ist, der Dichter aber Dinge, die gegebenenfalls hätten geschehen können. Darum ist die Poesie philosophischer und gehaltvoller als die Geschichtsschreibung. Die Poesie stellt mehr das Allgemeine dar; der geschichtliche Begriff aber das Einzelne." 839 Indem die μίμησίς der Poesie das Allgemeine darstellt, das als solches obzwar nicht real, gleichwohl in verschiedenen Realisierungen immer wieder aufscheint,
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ist sie wissender als die Historie, indes nicht so wissend wie die Philosophie, welche u. a. auch das höchste Allgemeine begrifflich zu erfassen sucht. Wie Piaton bestimmt auch Aristoteles das Wesen der Kunst im Hinblick auf Erkenntnis und Wissen — und darin ist beiden Denkern die gesamte Metaphysik gefolgt. Zwar erkennt die folgende Metaphysikgeschichte wie Aristoteles die Kunst als eine eigene Art der Erkenntnis, des Fassens und Bewahrens des Wahren an — die Kunst lasse das Wahre, die Idee, im Sinnlichen scheinen — , doch steht auch für sie „ d i e Entbergungsleistung der Kunst wesentlich hinter derjenigen der Erkenntnis, dem direkten Fassen der Idee, zurück. Alle Metaphysik hat der Kunst eine dienende Stellung gegenüber der Erkenntnis angewiesen, — in der Sprache Nietzsches: die Erkenntnis ist unbedingt mehr wert als die Kunst." 8 4 0 Dieses Wertverhältnis kehrt sich bei Nietzsche um. Wenn Piaton aus dem „ G l a u b e n " an die Wahrheit und das An-sich-Sein der Ideen heraus die Kunst als den zu sich selbst verführenden potenzierten Schein meinte verwerfen zu müssen, so sieht Nietzsche, Piatons Wesensbestimmung der Kunst übernehmend, in der Kunst die gegenüber der Wahrheit, d. h. in seinem Falle: der certitudo, wesentlichere Bedingung des Lebens. Denn Nietzsche hat sich auch die Wahrheit als für das Leben notwendige, weil dessen Bestand sichernde Illusion, d. h. als Schein erwiesen. Als Schein aber steht sie niedriger und ist sie weniger wert für das Leben denn der „ p o t e n z i e r t e " Schein der Kunst. Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos g e w o r d e n sind, M ü n z e n , die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als M ü n z e n in Betracht k o m m e n . ,
heißt es in „ U e b e r Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" 8 4 1 . Dieser S a t z mahnt uns, das angesprochene Verhältnis von Wissenschaft und Kunst im Wesensbereich der Sprache zu bedenken, in dem es ihm zufolge gegründet ist. Mit Nietzsche haben wir bereits gesehen, „ d a ß Wort und Ding sich nicht vollständig und nothwendig decken, sondern daß das Wort ein S y m b o l " — in der Schrift „ U e b e r Wahrheit und L ü g e " sagt Nietzsche gleichsinnig: eine Metapher — ist, dies aber darum, weil es nur unsere Vorstellungen von der Welt symbolisiert, „seien dies nun bewußte oder, der Mehrzahl nach unbewußte": so Nietzsche in einem umfänglichen Fragment zur „ G e b u r t der T r a g ö d i e " 8 4 2 , in dem er im folgenden an Schopenhauers, mehr aber noch an Wagners vor allem in „ O p e r und D r a m a " ausgesprochene Gedanken zur Sprache anknüpft, die in der mit Herder anhebenden sprachtheoretischen Tradition stehen.
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Im Bereich jener Vorstellungen lassen sich, so heißt es dort weiter, „zwei Hauptgattungen unterscheiden." 843 Zum einen die als „Wille" zu bezeichnenden Lust- und Unlustempfindungen, zum anderen alle übrigen, von jenen „als nie fehlender Grundbaß" begleiteten Vorstellungen. Abgesehen von der Möglichkeit, diese ,,[t]heilweise, aber sehr theilweise [ . . . ] in Gedanken, also in bewußte Vorstellungen" 8 4 4 umzusetzen, können letztere nur durch „ G e b e r d e n s y m b o l i k " 8 4 5 oder „ G e b e r d e n s p r a c h e " 846 mitgeteilt werden. Darunter versteht Nietzsche zunächst jene durch Reflexbewegungen erzeugten körperlichen Bewegungen, die das Auge instinktiv, wie er, Wagners an Feuerbach anknüpfender Ideologie des Reinmenschlichen hörig, jetzt noch vermeint, 847 auf den Zustand hin zu deuten weiß, „der die Geberde hervorbrachte und den sie symbolisirt: zumeist fühlt der Sehende eine sympathische Innervation derselben Gesichtstheile oder Glieder, deren Bewegung er wahrnimmt." 8 4 8 Indes ist „im Allgemeinen [ . . . ] jeder Geberde ein T o n parallel" 849 , jener Schrei der Empfindung, auf den in der vorherderschen Tradition der Ursprung der Sprache verengt wurde. Doch distanziert sich Nietzsche breits im Herbst des Jahres 18 6 7 850 desgleichen von dem auch von Wagner 8 5 1 geteilten, jene Anschauung reformierenden Gedanken Herders, daß „die Interjektion die Mutter der Sprache sei" — so Nietzsches Formulierung in der besagten Aufzeichnung „Vom Ursprung der Sprache", wo verschiedene Sprachursprungstheorien von den Griechen bis zu Herder abgehandelt werden. Er bezeichnet sie dort dementgegen als deren „Negation" 8 5 2 , markiert sie doch, wie er in „Die dionysische Weltanschauung" 8 5 3 ausführt, den Übergang „ z u m reinen Klange", zur Musik, bis zu der den T o n zu steigern nur dem Rausche des Gefühls gelinge: Vor allem in den höchsten Lust- und Unlustzuständen des Willens, als jubelnder Wille oder zum Tode geängsteter, kurz im R a u s c h e d e s Gefühls:im Schrei.
Gleichwohl hätten auch „die milderen Erregungen des Willens [ . . . ] ihre Tonsymbolik": weiterhin hält auch Nietzsche die menschliche Sprache weniger f ü r eine Reflexions-, denn eine Gefühlssprache, 854 ist sie doch „die innigste und häufigste Verschmelzung von einer Art Geberdensymbolik und dem T o n . " So nämlich, daß dieser „ f ü r die Sprache eben so fundamental [ist]", wie jene von ihm symbolisierte allgemeinste „Erscheinungsform [des Willens] f ü r alle übrigen Vorstellungen. Alle Lust- und Unlustgrade [ . . . ] symbolisiren sich [nämlich] im T o n e d e s S p r e c h e n d e n " 8 5 5 , in seinem Fall, seiner Stärke und seinem Rhythmus, 856 wohingegen „durch die Mundgeberde die begleitende Vorstellung, das Bild, die Erscheinung" 857 bezeichnet wird. Denn das „ganze Bereich des Consonantischen und Vokalischen" glaubt Nietzsche
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nur unter die Geberdensymbolik rechnen zu dürfen — Consonanten u n d 858 Vokale sind ohne den vor allem nöthigen fundamentalen T o n nichts als S t e l l u n g e n der Sprachorgane, kurz Geberden —; sobald wir uns das W o r t aus dem Munde des Menschen hervorquellen denken, so erzeugt sich zu allererst die Wurzel des Wortes und das Fundament jener Geberdensymbolik, der T o n u n t e r g r u n d , der Wiederklang der Lustund Unlustempfindungen. Wie sich unsre ganze Leiblichkeit zu jener ursprünglichsten Erscheinungsform, dem Willen verhält, so verhält sich das consonantisch-vokalische W o r t zu seinem Tonfundamente. 8 5 9
Anders als für Herder, der zufolge Nietzsches im Jahre 1869/70 entstandenem Fragment „ V o m Ursprung der Sprache" die Anschauung hegte, daß der zur Sprache geborene Mensch, gemäß einer ,inneren Drängniss' „die Sprache aus sich äussernden Lauten sich verinnerlicht" 860 , ihr somit erst allmählich die Fähigkeit der Gedankensymbolisierung gewonnen habe, ist für Nietzsche der Sprache diese Fähigkeit von Beginn an eigentümlich: „instinktiv und mit großer und weiser Gesetzmäßigkeit" 861 sollen diese Symbole wachsen. „Instinktiv" — mit diesem Terminus weist Nietzsche Herders Annahme einer über der Sprachentwicklung waltenden Gottheit zurück, glaubt er damit doch — wir erinnern an Nietzsches Notizen für sein Dissertationsprojekt (siehe Seite 13) — Kants Erklärung der Teleologie in der Natur fassen zu können, wonach „etwas zweckmäßig sei ohne ein Bewußtsein". Ebendas aber ist für Nietzsche „das Wesen des Instinktes" 862 . Der Mensch — nicht der einzelne, auch nicht eine Gruppe von Menschen, sondern der menschliche Geist schlechthin — ist somit instinktiver und d. h. weder göttlich inspirierter noch bewußter Schöpfer der Sprache. So Nietzsche in dem schon erwähnten Fragment „Vom Ursprung der Sprache" und der im Juni—Juli 1870 verfaßten Schrift „Die dionysische Weltanschauung", deren Gedanken zur Sprache sich mithin einerseits noch ganz im Rahmen der Auffassungen seines Dissertationsprojektes vom Jahre 1868 bewegen, andererseits aber auch in Übereinstimmung mit den damals herrschenden Ansichten stehen, wie sie etwa von Carl Wilhelm Ludwig Heyse (1797—1855) vertreten wurden. In seinem im Jahre 1856 erschienenen Buch „System der Sprachwissenschaft" äußert dieser die Meinung, daß „nicht der physische Organismus des Menschen, noch auch der subjektive Geist das schaffende Prinzip der Sprache [ist]; sondern die Erzeugung der Sprache geschieht mit Notwendigkeit, ohne besonnene Absicht und klares Bewusstsein, aus innerem Instinkt des Geistes"*6*. Allererst in der unter dem Einfluß Gustav Gerbers im Sommer 1873 abgefaßten Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" behandelt Nietzsche die sozialen Aspekte der Sprachentstehung, wie auch hier zum erstenmal von ihm der Kunstwerk-Charakter der Sprache herausgestellt wird.
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Mit Hilfe der von ihm geschaffenen Sprache vermenschlicht der Mensch die Welt, verbessert er die Physis zur Kultur, als welche, so wissen wir, „vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes" ist. Nietzsche exemplifiziert dies in einem Fragment vom Sommer 1872—Anfang 1873 an den Griechen, deren Kultur er als die bisher höchste des Abendlandes bewertet: Erste Stufe der Kultur: der Glaube an die Sprache, als durchgehende
Metapherbezeichnung. Zweite Stufe der Kultur: Einheit und Zusammenhang der Metapherwelt durch Anlehnung an Homer.864 Die Sprache schließt ein Volk zu einer kulturellen Einheit zusammen. Sie gibt die Voraussetzung dafür ab, daß die großen einzelnen ihre Werke schaffen können, die dann jene kulturelle Einheit bis ins letzte prägen, derart, daß die Kulturgemeinschaft sich in den Werken und ihren Schöpfern wiederzuerkennen meint. Sprache wie Werke — „beidemal sind es Kunstwerke" 8 6 5 , aus denen die Kultur f ü r Nietzsche hervorgeht. Das kann darum nicht verwundern, weil, wie erinnerlich, für ihn Kultur „Herrschaft der K u n s t über das L e b e n " 8 6 6 ist: Die Kultur kann immer nur von der centralisirenden Bedeutung einer Kunst oder eines Kunstwerks ausgehen. Unwillkürlich wird die Philosophie dessen Weltbetrachtung vorarbeiten. 867 ,
bemerkt Nietzsche im Winter 1872/73 und bringt damit zum Ausdruck, daß zu den Obliegenheiten des Philosophen als Arzt der Kultur auch das — gemeinsam mit den Dichtern wahrzunehmende — Wächteramt über die Sprache rechnet. 868 Dabei verhält es sich mit dem Kunstwerk Sprache ähnlich wie mit den anderen Kunstwerken: sie ist die Geburt der genialsten Wesen, zum Gebrauch f ü r die genialsten Wesen, während das Volk sie zum geringsten Theile braucht und gleichsam nur die Abfälle benutzt. 869
Die Sprachschöpfung ist Kunsttriebes eines Volkes;
nach
Nietzsche
die
erste
Äußerung
des
in einer späteren Zeit werfen sich die gleichen Kräfte in die Form von Dichtern und Musikern und Schauspielern Rednern und Propheten; aber als diese Kräfte noch in der strotzenden Fülle der ersten Jugend waren, erzeugten sie Sprachenbildner: das waren die fruchtbarsten Menschen aller Zeiten, und sie zeichnete aus, was jene Musiker und Künstler zu allen Zeiten auszeichnet: ihre Seele war grösser, liebevoller, gemeinsamer und beinahe mehr in allen als in einem einzelnen dumpfen Winkel lebend. In ihnen sprach die allgemeine Seele mit sich.870
Der romantische Gedanke von der Volksseele in der Vereinigung mit dem Schopenhauerschen Willensbegriff liefert die Basis für diese Theorie vom Ursprung der Sprache, die einzig darin originell ist, daß sie die Annahme, eine Mangel- oder Notsituation habe die Menschen zum Sprechen bewegt,
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als irrig abweist. Bemerkt Nietzsche in seiner Aufzeichnung vom Ende des Jahres 1874 zunächst noch: es ist nicht wahr, dass die Noth die Sprache erzeuge, die Noth des Individuums; sondern höchstens die Noth einer ganzen Heerde871, so geht er gleich anschließend noch einen Schritt weiter und führt — u. a. in entschiedenem Widerspruch zu seiner Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge", wo er die Sprache als Teil des Friedensschlusses interpretiert, den der Mensch eingeht, weil er „zugleich aus N o t h und Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise existiren will" 872 — die erste kulturelle T a t der Sprachschöpfung auf eine Situation der Überfülle zurück: Und klingt denn wirklich das herrliche Tonwesen einer Sprache nach Noth, als der Mutter der Sprache? Ist nicht alles mit Lust und Üppigkeit geboren, frei und mit den Zeichen betrachtenden Tiefsinns? Was hat der affenartige Mensch mit unsern Sprachen zu thun! Ein Volk, welches sechs Casus hat und seine Verben mit hundert Formen abbeugt, hat eine volle gemeinsame und überströmende Seele; und das Volk, welches eine solche Sprach sich schuf, hat die Fülle seiner Seele auf alle Nachwelt ausgegossen; t···]· 873 Ebendieser Gedanke aber weist auf den späten Nietzsche voraus, der in der Frage, ob etwas aus der Uberfülle oder der Verarmung des Lebens entstanden, ob „hier der H u n g e r oder der Ueberfluss schöpferisch geworden" 8 7 4 ist, die Grundfrage seiner Ästhetik sieht — in dem einen Falle weist er das Hervorgebrachte dem Romantischen, in dem andern Falle hingegen dem Dionysischen zu. Später läßt Nietzsche auch diese Unterscheidung noch hinter sich, indem er die Meinung äußert, daß Kunst als „ B e j a h u n g , S e g n u n g , V e r g ö t t l i c h u n g d e s D a s e i n s " 8 7 5 nur aus der Uberfülle heraus geschaffen werden könne (siehe Anmerkung 279). Sprache entsteht, so fährt Nietzsche in jener Aufzeichnung vom Ende des Jahres 1874 fort, nur dann, wenn „die Seele weiter als das Individuum [ . . . ] geworden [ist]", denn „sie muss auf Reisen gehen, sich wieder finden w o l l e n , sie muss erst sprechen w o l l e n , bevor sie spricht; und dieser Wille ist nichts Individuelles." 876 Metaphysisch betrachtet kann er darum nichts Individuelles sein, weil er Äußerung des einen Willens ist, dessen Einheit, wie Nietzsche sagt, nicht im Räume liegt wie die Vielheit der Menschen. 877 Aller Verkehr unter Menschen beruht darauf, dass der eine in der Seele des andern lesen kann; und die gemeinsame Sprache ist der tönende Ausdruck einer gemeinsamen Seele.878 Sprache ist Ausdruck: für Nietzsche, der das „sibi scribere" zu seinem Wahlspruch erkoren 879 und bereits im Sommer 1872—Anfang 1873 „ O e d i p u s " betitelte „Reden des letzten Philosophen mit sich selbst" 880 entworfen hat — ein Motiv, das nicht nur in seinen Gedanken und Versen, vor allem in jenem schmerzhaft-schönen Venedig-Lied des „Ecce homo" 8 8 1 ,
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wiederkehren, sondern das schließlich auch auf entsetzliche Weise sein Leben zeichnen sollte —: für Nietzsche heißt das, daß die Sprache in ihrem Wesen nur vordergründig dialogisch ist, daß sie sich keineswegs an einen anderen als anderen richtet, diesen als anderen anerkennt: Sprechen ist im Grunde ein Fragen des Mitmenschen, ob er mit mir die gleiche Seele hat; die ältesten Sätze scheinen mir Fragesätze und im Accent vermuthe ich den Nachklang jenes ältesten Fragens der Seele an sich selbst, aber in einem andern Gehäuse. Erkennst du dich wieder? — dies Gefühl begleitet jeden Satz des Sprechenden; er macht den Versuch eines Monologs und Zwiegesprächs mit sich selbst. Je weniger er sich wieder erkennt, um so mehr verstummt er, und im erzwungenen Verstummen wird seine Seele ärmer und kleiner.882
Wir können in diesem Zusammenhang nicht auf die Frage eingehen, in welcher Weise dieser — in Nietzsches Tendenz zum Solipsismus gegründete — sprachphilosphische Ansatz, demzufolge der Sprecher im H ö r e r nur sich selbst wiederzufinden sucht, Nietzsches spätere, auf dem Gedanken des Willens zur Macht basierende Theorie des Mitteilens und Verstehens als des Einprägens und Einverleibens „ e i n e s W i l l e n s a u f e i n e n a n d e r e n W i l l e n " 8 8 3 bestimmt hat. Hier wollen wir uns vielmehr Nietzsches Behauptung zuwenden, daß in der Gegenwart wie das Leben und die Kulturen so auch die Sprachen der Zivilisationen erkrankt sind: „überall ist hier die S p r a c h e erkrankt, und auf der ganzen menschlichen Entwickelung lastet der Druck dieser ungeheuerlichen Krankheit", mahnt Nietzsche in der 4. Unzeitgemässen Betrachtung 884 . Wir haben bereits gesehen, daß nach Nietzsches Ansicht die Sprache bereits in ihrem hypothetischen geschichtlichen Ursprung in ihr volles Wesen getreten ist, als welches die Verschmelzung von T o n , als Symbol der Erscheinungsform des Werdens, d. h. des Willens, und Gebärde, als Symbol der begleitenden Vorstellung, darstellt. Der Charakter dieser Verschmelzung aber ist, wie wir im Gefolge unserer Interpretation der „Geburt der Tragödie" zeigen werden, der des Streites, was bedeutet, daß Bild und bedeutungsvoller Sprachlaut für Nietzsche wie bereits für Humboldt und später auch f ü r Saussure nur durch einander sind. Damit aber scheint ein Widerspruch zu jenen Äußerungen auf, die von einem zunächst rein bildlichen, erst nachträglich versprachlichten Denken ausgehen. Nietzsche hat diesen Widerspruch nicht gesehen. Bild und bedeutungsvoller Sprachlaut sind durch einander — das meint, daß die Sprache nur dort wesensgemäß spricht, wo dieser Streit aufrechterhalten wird. Räumt Nietzsche auch im Sprachzeichen dem Laut darum eine Prävalenz ein, zum ersten weil er Ausdruck der Erscheinungsform des Werdens ist, zum zweiten weil er ein unmittelbares, der Auffassung des
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Gedankens vorgängiges affektives Verständnis ermöglicht — „ das Bild wird erst begriffen, nachdem durch den T o n bereits Einverständniß erzeugt ist", meint Nietzsche im Winter 1870/71—Herbst 1872885 s o heißt das gleichwohl nicht, daß er Texten aus „Musikdunst" — so bereits 1871 über Wagners Texte 886 — oder gar dadaistischen Signifikantendelirien das W o r t redete, um das weiße Rauschen zu erfassen; 887 vielmehr heißt dies, daß sich der sprechende Mensch um bildliche, die Erscheinungen der Welt vorstellend-herstellende Sprachdarstellungen bemühen soll, im Bewußtsein indes, daß sie Erscheinungen, vergängliche Gleichnisse 888 , Metaphern des im Lautkontinuum symbolisierten Willens sind, der als tiefste uns zugängliche Schicht der Welt sich für uns nur in solchen Erscheinungen fortzeugt. Und nur wenn der Mensch in dieser Weise, dem Wesen der Sprache entsprechend, spricht, entspricht er, das sprechende Wesen, dem Wesen der Welt, dem Werden, das f ü r uns als Widerstreit von Werden und Sein — in der Sprache der Artisten-Metaphysik: von Dionysos und Apoll — west, nur dann zeugt er aber auch sprechend den Weltstreit fort, als welcher sich das Leben vollzieht 889 : Die Notiz „eigentlich germanisch: Gedanken aus Musik zu gebären" 8 9 0 ist eben auch als Imperativ zu verstehen. Doch nur im Hinblick auf den Nietzscheschen Grundgedanken des dionysischen Widerstreites zwischen Dionysos und Apoll kann der Sprache die Bedeutung zugesprochen werden, daß sie das — an sich nicht vorhandene — Werden allererst dadurch herstellt, daß sie es im Zusammentreffen mit einem Laut zu Erscheinungen fügt: Nietzsches Charakterisierung der Sprache als „Ausdruck" zeigt an, daß er ihr ansonsten nur die sekundäre Rolle zuspricht, nachträgliche Verlautbarung eines bereits Konstituierten zu sein, sei dies — was, wie das nachfolgende Zitat deutlich macht, nicht immer auf das Fortleben des Schopenhauerschen Ansatzes mit seiner Annahme eines an sich vorhandenen Willens hindeuten muß — auf der tiefsten Ebene der Wille bzw. das Werden, sei dies auf höherer Ebene das Seiende in Form der vom Menschen vorstellend hergestellten Metapher, mit der, wie es in „Ueber Wahrheit und Lüge" heißt, „in uns jede Empfindung" — d. h. der Fluß des Werdens — „beginnt" 8 9 1 . Die beiden verschiedenen Sichtweisen kommen aber darin überein, daß sich Sprache wie Leben nur dann gesund, nämlich im Rahmen ihrer höchsten Möglichkeiten vollziehen können, wenn der Werdecharakter des Lebens zur Sprache kommt. Ebendies ist aber Nietzsche zufolge in der Gegenwart nicht mehr der Fall, weil die Sprache — nicht zuletzt unter dem Einfluß der zunehmenden Verschriftlichung unserer Kultur — zur reinen Begriffssprache entartet ist: das Wesensmerkmal des Sokratismus.
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Welche Bedeutung Nietzsche der Sprache des Begriffs für die Entartung des Lebens zuzumessen geneigt ist, das geht aus einer Aufzeichnung vom Winter 1869/70—Frühjahr 1870«« hervor. Danach ist der Begriff das einzige δ ρ γ ά ν ο ν des Willens, das sich von diesem unabhängig zu machen vermag. (So daß hier eine neue Antwort auf die früher angesprochene Frage gefunden wäre, wie denn das Leben entarten kann, wenn doch alles, was ist, nur seiner Beförderung dient — sähe sich Nietzsche nicht genötigt, auf die nächste Frage, warum sich der Mensch dieser Begriffssprache in einem lebensschädlichen Ubermaße bedient, wieder mit dem Hinweis auf die Erkrankung des Lebens zu antworten: der Mensch ist als ganzer ein Gewollter des Willens. Über das Erklärungsmodell der Krankheit gelangt Nietzsche mithin auch hier nicht hinaus.) Die Aufzeichnung lautet: Das Einzige ihm [dem Willen] nicht unbedingt Unterlegene ist die Abstraktion, ursprünglich ein Mittel, allmählich emancipirt. Ein Begriff ist für Nietzsche nämlich ein „gemerktes Symbol [ . . . ] : da bei dem Festhalten im Gedächtniß der T o n ganz verklingt, ist im Begriff nur das Symbol der begleitenden Vorstellung gewahrt." 893 Im sprachlichen Begriff ist somit der Lebensvollzug zum Stillstand gekommen. Der Mensch klammert sich an die vorgestellten Erscheinungen und stellt sie begrifflich fest, indem er von ihren sichtbaren Eigenheiten abstrahiert. „Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe", fordert Nietzsche in seiner Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge" seine Leser auf: jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.894 V o r allem aber abstrahiert der Begriff von der zeitlichen Bestimmtheit der jeweiligen Anschauung: Der Begriff ist der Zeitreihe enthoben, so zwar, daß er, wie Hegel sagt, die Zeit der Sache ist, läßt er doch die Sache da sein, während sie nicht da ist.895 So vergißt der Mensch beim Gebrauch des Wortes als Begriff, daß es sich nur auf die eine Anschauung, das eine Sinnending des einen bestimmten schöpferischen Augenblicks bezieht, er fixiert mithin das im schöpferischen Augenblick des Entstehens der Metapher aufscheinende Werden — und dies umwillen der f ü r den Vollzug jenes Werdens notwendigen Bestandsicherung, umwillen des alltäglichen Lebensvollzugs, in dem der Mensch es nicht leidet, „durch die plötzlichen Eindrücke, durch die Anschauungen fortgerissen zu werden". In seinen alltäglichen Verrichtungen muß der Mensch seine Erkenntnisse vergleichen und handhaben, er muß als animal rationale mit den Erscheinungen rechnen können:
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Alles, was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen; im Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale O r d n u n g nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen, die nun der anderen anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulirende und Imperativische. 896
Ist damit die begriffliche Feststellung auch als lebensnotwendig erkannt, so darf doch nicht übersehen werden, daß in ihr zwei große, miteinander verknüpfte Gefahren beschlossen liegen. Zum einen, daß vergessen wird, daß diese Begriffe nur dann sinnvoll sind, wenn sie mit einer Anschauung verknüpft werden, somit nicht als pure Begriffe begriffen, als bloße Gedanken verstanden werden. 897 Dieser Gefahr erliegen in seinen Augen einerseits die Metaphysiker, wenn sie, wie Parmenides und Zeno, an der Wahrheit und Allgültigkeit der Begriffe festhalten und die anschauliche Welt als das Gegenstück der wahren und allgültigen Begriffe, als eine Objektivation des Unlogischen und Widerspruchsvollen verwerfen. 898
oder, wie Plato, die Begriffe zu einer metaphysischen Ideenwelt hypostasieren. Andererseits erliegen ihr die Wissenschaftler, die „unaufhaltsam an jenem grossen Columbarium der Begriffe, der Begräbnissstätte der Anschauung" 899 fortbauen. Sie alle vergessen dabei wie der Alltagsmensch „die originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und [nehmen] sie als die Dinge selbst"900, sie vergessen, daß die Worte „nur Symbole für die Relationen der Dinge unter einander und zu uns [sind] und [ . . . ] nirgends die absolute Wahrheit [berühren]."901 Das aber ist die Zeugungsstunde für eine tiefsinnige W a h n v o r s t e l l u n g , welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu c o r r i g i r e n im Stande sei.902
Es ist dies der flache Optimismus des Sokratismus, der Optimismus unserer Gegenwartskultur des passiven Nihilismus, der „nichts mehr ganz haben [will], ganz auch mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge." 903 Eine Kultur, die sich vor der Unergründlichkeit der Welt, vor dem Rätsel von Werden und Vergehen fürchtet und sich darum an die begrifflich festgestellten und damit von ihrer Lebenswurzel abgeschnittenen historischen Erscheinungen klammert, ohne zu bemerken, daß ihr dabei das Leben zu bloßen Worthülsen verkommt. Diese Tendenz wird zudem noch dadurch verstärkt, daß in den Zivilisationen die Schriftsprache gegenüber der gesprochenen Sprache, als der ursprünglichen und eigentlichen Sprache, in
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solcher Weise dominiert 904 , daß die Sprache ihren Charakter verliert, nur kurzfristig Bleibendes in der Flucht der Zeit zu sein. Allein dann aber, wenn das Bewußtsein um die Vergänglichkeit des Sprechens wachgehalten würde, könnte die ihr widerstreitende Verschriftlichung ihre f ü r die Tradierung der Kultur so segensreichen Wirkungen voll entfalten. Stattdessen gilt, was Nietzsche Ende 1874 ,,[z]um Lesen" bemerkt: wir sind eine Zeit, deren Cultur an den Mitteln der Cultur zu Grunde geht. 905
Wir sehen, daß auch hier, im Bereich des Sprechens, Nietzsches Grundgedanke wiederkehrt, wonach sich das Leben nur dann gesund vollziehen kann, wenn der Widerstreit zwischen Sein und Werden nicht durch die Dominanz eines der beiden Streitpartner aufgehoben wird. Das würde aber zum anderen verlangen, daß der Mensch nicht über dem begrifflichen Festhalten der Vorstellungen „als k ü n s t l e r i s c h s c h a f f e n d e s Subjekt" 906 vergessen würde. Denn schon „das Verhältniss eines Nervenreizes zu dem hervorgebrachten Bilde", das dann in einem Laut nachgeformt wird, ist in Nietzsches Augen „an sich kein nothwendiges" 9 0 7 , sondern ein rein konventionelles, das den Anschein der Notwendigkeit nur darum erweckt, weil „dasselbe Bild Millionen Mal hervorgebracht und durch viele Menschengeschlechter hindurch vererbt ist" 908 . Indem der Mensch sein W o r t für das Ding selber nimmt, vergißt er, daß er es war, der in Gestalt der Metapher das Ding allererst erschaffen hat, es nämlich aus dem Fluß des Werdens vorstellend hergestellt hat: Daß eine Einheit, ein Baum ζ. B., uns als Vielheit von Eigenschaften, von Relationen erscheint, ist in doppelter Weise anthropomorphisch: erstens existirt diese abgegrenzte Einheit „ B a u m " nicht, es ist willkürlich ein Ding so herauszuschneiden (nach dem Auge, nach der Form), es ist jede Relation nicht die wahre absolute Relation, sondern wieder anthropomorphisch gefärbt. 909
Mag auch dieses Vergessen wiederum lebensnotwendig sein: Denkt euch das äusserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler Heraklits kaum mehr wagen den Finger zu heben. Zu allem Handeln gehört Vergessen 910 ,
so führt das Vergessen dieses Vergessens dazu, daß das Leben erkrankt. Denn in dem Maße, in dem vergessen bleibt, daß der Mensch in seinem Wesen nicht animal rationale, das tatsächlich gar zum bloßen „cogital" hinabgesunken ist, sondern animal creans ist — so, wie wir im nächsten Kapitel zeigen werden, die seiner Lebenshaltung eines Pessimismus der Stärke entsprechende Neubestimmung des Wesens des Menschen, die
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Nietzsche seinem Schmerz „dass ich verbannt sei von aller Wahrheit" 9 1 1 immer aufs neue abringen muß —, in dem Maße also, als vergessen bleibt, daß der ursprüngliche und eigentliche Mensch Künstler und nicht Erkennender ist, in dem Maße bleibt auch vergessen, daß die ursprüngliche und eigentliche Sprache die dichterische, daß die Sprache in ihrem Wesen Dichtung, nämlich ursprüngliche Auseinandersetzung 912 des Menschen mit dem Leben und damit des Lebens mit sich selbst ist. Weil dies aber vergessen bleibt, muß Nietzsche in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung bemerken: wir sind ohne Bildung, noch mehr, wir sind zum Leben, zum richtigen und einfachen Sehen und Hören, zum glücklichen Ergreifen des Nächsten und Natürlichen verdorben und haben bis jetzt noch nicht einmal das Fundament einer Cultur, weil wir selbst davon nicht überzeugt sind, ein wahrhaftiges Leben in uns zu haben. Zerbröckelt und auseinandergefallen, im Ganzen in ein Inneres und Aeusseres halb mechanisch zerlegt, mit Begriffen wie mit Drachenzähnen übersäet, Begriffs-Drachen erzeugend, dazu an der Krankheit der Worte leidend und ohne Vertrauen zu jeder eigenen Empfindung, die noch nicht mit Worten abgestempelt ist: als eine solche unlebendige und doch unheimlich regsame Begriffs- und Wort-Fabrik habe ich vielleicht noch das Recht von mir zu sagen cogito ergo sum, nicht aber vivo, ergo cogito. Das leere „Sein", nicht das volle und grüne „Leben" ist mir gewährleistet; meine ursprüngliche Empfindung verbürgt mir nur, dass ich ein denkendes, nicht dass ich ein lebendiges Wesen, dass ich kein animal, sondern höchstens ein cogital bin. Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur daraus schaffen! 913
Ist es für den Menschen schon bei „normalen" Verhältnissen „schwer [ . . . ] , sich wirklich a u s zudrücken", um so freizuwerden 9 1 4 , so ist es jetzt für die Menschen nahezu unmöglich. Weil die Sprache zu einer reinen Begriffssprache verkommen ist, darum können sie ihren Empfindungen, als welche die tiefste uns zugängliche Schicht der Welt und somit die unmittelbarste Äußerung des Werdens darstellen, keinen Ausdruck mehr verleihen. Ihr Inneres kann nicht mehr nach außen gelangen und bleibt ihnen selbst damit unzugänglich, Innen und Außen fallen beziehungslos auseinander — ein Riß, von dem die gesamte Kultur der Gegenwart gezeichnet ist, die sich damit — wir erinnern uns an Nietzsches Begriff von Kultur als einer „neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention, [ . . . ] als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen" — als Unkultur erweist. In der 4. Unzeitgemässen Betrachtung bedenkt Nietzsche dies in der persona Richard Wagners 9 1 5 , der in seiner Schrift „ O p e r und D r a m a " Ahnliches geäußert hatte 916 : Indem die Sprache fortwährend auf die letzten Sprossen des ihr Erreichbaren steigen musste, um, möglichst ferne von der starken Gefühlsregung, der sie ursprünglich in aller Schlichtheit zu entsprechen vermochte, das dem Gefühl Entgegengesetzte, das Reich des Gedankens
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zu erfassen, ist ihre Kraft durch dieses übermässige Sich-Ausrecken in dem kurzen Zeiträume der neueren Civilisation erschöpft worden: so dass sie nun gerade Das nicht mehr zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da ist: um über die einfachsten Lebensnöthe die Leidenden miteinander zu verständigen. Der Mensch kann sich in seiner N o t h vermöge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei diesem dunkel gefühlten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt f ü r sich geworden, welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie mit einander sich zu verständigen und zu einem Werke zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe, ja der reinen Wortklänge, und in Folge dieser Unfähigkeit, sich mitzutheilen, tragen dann wieder die Schöpfungen ihres Gemeinsinns das Zeichen des Sich-nicht-verstehens, insofern sie nicht den wirklichen Nöthen entsprechen, sondern eben nur der Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe: so nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der C o n v e n t i o n hinzu, dass heisst des Uebereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Uebereinkommen des Gefühls. [ . . . ] unter diesem Zwange vermag Niemand mehr sich selbst zu zeigen, naiv zu sprechen, und Wenige überhaupt vermögen sich ihre Individualität zu wahren, im Kampfe mit einer Bildung, welche ihr Gelingen nicht damit zu beweisen glaubt, dass sie deutlichen Empfindungen und Bedürfnissen bildend entgegenkomme, sondern damit, dass sie das Individuum in das Netz der „deutlichen Begriffe" einspinne und richtig denken lehre: als ob es irgend einen Werth hätte, Jemanden zu einem richtig denkenden und schliessenden Wesen zu machen, wenn es nicht gelungen ist, ihn vorher zu einem richtig empfindenden zu machen. 917 In dieser S i t u a t i o n h o f f t N i e t z s c h e v o r allem auf „ d i e M u s i k
unserer
d e u t s c h e n M e i s t e r " 9 1 8 , d a s m e i n t in e r s t e r Linie die M u s i k R i c h a r d W a g n e r s , weil sie „ d i e r i c h t i g e E m p f i n d u n g , die F e i n d i n aller C o n v e n t i o n , aller künstlichen E n t f r e m d u n g und Unverständlichkeit zwischen Mensch
und
M e n s c h " z u m E r k l i n g e n b r i n g e : „ d i e s e M u s i k ist R ü c k k e h r z u r N a t u r " b e h a u p t e t N i e t z s c h e — u n d z i t i e r t d a m i t in v e r s t e c k t e r W e i s e die „ G e b u r t der Tragödie": Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. 919 D i e „ r i c h t i g e E m p f i n d u n g " ist m i t h i n die d i o n y s i s c h e E m p f i n d u n g , die E m p f i n d u n g des, w i e w i r v o r l ä u f i g s a g e n w o l l e n , w i l l e n h a f t e n W e r d e n s als d e r t i e f s t e n u n s z u g ä n g l i c h e n S c h i c h t d e r W e l t , die als G r u n d aller a n d e r e n E m p f i n d u n g e n d e n Z u g a n g z u diesen e r ö f f n e t u n d d a m i t das L e b e n aus d e r b e g r i f f l i c h e n V e r m e s s e n h e i t des S o k r a t i s m u s in die W e i t r ä u m i g k e i t seines ursprünglichen, potentiell unendlichen Möglichseins befreit, ihm derweise die v e r l o r e n e D i m e n s i o n seines F o r t - s c h r i t t s z u r ü c k g e w i n n t .
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Wie soll aber ein Philosoph „ A r z t d e r C u l t u r " 920 sein können, wenn er seinem Patienten doch nur schreibend zu helfen vermag — das Medium der Schriftsprache aber schon gegenüber der gesprochenen Sprache und erst recht im Verhältnis zur Musik nicht anders denn als minderwertig bezeichnet werden kann? Daß dem so ist, das macht noch einmal die folgende Aufzeichnung Nietzsches vom Winter 1869/70—Frühjahr 1870 deutlich, die ihn allerdings erst auf dem Wege zu seiner Metaphernkonzeption zeigt — am Ende des Fragments vollzieht er den ersten Schritt in ihre Richtung: D i e Musik ist eine Sprache, die einer unendlichen Verdeutlichung fähig ist. D i e Sprache deutet nur durch Begriffe, also durch das Medium
des
Gedankens entsteht die Mitempfindung. D i e s setzt ihr eine Grenze. D i e s gilt nur v o n der objektiven Schriftsprache, die Wortsprache ist tönend: und die Intervalle, die Rhythmen, die Tempi's, die Stärke und B e t o n u n g sind alle symbolisch für den darzustellenden Gefühlsinhalt. D i e s ist zugleich alles der Musik z u eigen. D i e größte Masse des Gefühls aber äußert sich nicht durch Worte. U n d auch das W o r t deutet eben nur hin: es ist die Oberfläche der b e w e g t e n See, während sie in der T i e f e stürmt.
[...] D i e D i c h t u n g ist häufig auf einem W e g e zur Musik: entweder indem sie die allerzartesten Begriffe aufsucht, in deren Bereich das Grobmateriel921 le des B e g r i f f s fast entschwindet
Abgesehen von dem Was, dem Inhalt dieses Schreibens, den wir ζ. T. schon dargestellt haben — wie, in welcher Weise muß der Philosoph vom Leben schreiben, um es gesunden zu lassen, damit es sich nunmehr auf das kräftigste vollziehen kann? Wie kann man als Philosoph den oben beschriebenen begrifflichen Feststellungen entgehen, sofern man ihnen entgehen will — denn auch besagte Feststellungen können dem Leben dienlich sein, und dies noch in anderer als der zuletzt besprochenen Art. Nietzsches erste Antwort lautet nämlich: Indem man des durch begriffliche Destruktion der herrschenden metaphysischen Begriffe, d. h. durch genealogische Besinnung wieder erinnerten dichterischen Wesens des Denkens und Sprechens eingedenk bleibt und dem für den alltäglichen Lebensvollzug nötigen Trieb zur Begriffsbildung den anderen „Fundamentaltrieb des Menschen" 922 , jenen schöpferischen „Trieb zur Metapherbildung" 9 2 3 widerstreiten läßt, mit der der sprechende Mensch „der mächtigen gegenwärtigen Intuition", d. h. der unmittelbaren sinnlichen Empfindung, „schöpferisch zu entsprechen" 9 2 4 sucht. Denn: „Die Metapher ist", so belehrt uns Nietzsche in der „Geburt der Tragödie", für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt. 9 2 5
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Für Nietzsche aber ist der eigentliche Dichter der eigentliche Philosoph, insofern der eigentliche „ P o e t " jener ist, dessen π ο ί η σ ι ς die Wahrheit schafft, ein neues Weltbild und damit Weltverständnis setzt 9 2 6 : Dichten und Denken, Kunst und Philosophie werden bei Nietzsche eines, weil, wie erinnerlich, in seinen an Kants Lehre von der transzendentalen Einbildungskraft geschulten Augen der Erkenntnisapparat als Vorstellungsapparat ein Kunstapparat ist. D a r u m irren alle jene, die Nietzsches gedichtete, von Metaphern — indes nicht immer solchen ursprünglicher Art — überquellende Philosophie auf den Begriff zu bringen suchen: D a s Denken vollzieht sich ihr zufolge — und das ist eine Selbstauslegung — ursprünglich in Bildern (wobei es gleichgültig ist, ob in solchen vorlautlicher oder lautlich gefaßter Art). D a r u m betrachtet Nietzsche den „ Z a r a t h u s t r a " auch nicht als überholungsbedürftig durch eine theoretische Darstellung, 9 2 7 wie er darum auch etwa am Anfang der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " ausdrücklich darauf hinweist, daß seine Ausführungen „nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der A n s c h a u u n g " gelangen wollen. 9 2 8 In diesen Werken nutzt seine Philosophie den dichterischen „ S p i e l r a u m " , den sie sich in ihren begrifflichen Texten dadurch eröffnet hat, daß sie die in die Sphäre des Metaphysischen gerückten Fest-stellungen unserer Tradition destruiert. S o bemerkt Nietzsche in „ U e b e r Wahrheit und L ü g e im aussermoralischen S i n n e " : Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, ist dadurch, dass aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flussbette und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst. Forwährend verwirrt er die Rubriken und Zellen der Begriffe dadurch dass er neue Uebertragungen, Metaphern, Metonymien hinstellt, fortwährend zeigt er die Begierde, die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmässig folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des T r a u m e s ist. An sich ist ja der wache Mensch nur durch das starre und regelmässige Begriffsgespinnst darüber im Klaren, dass er wache, und kommt eben deshalb mitunter in den Glauben, er träume, wenn jenes Begriffsgespinnst einmal durch die Kunst zerrissen wird. 9 2 9
Wir werden zu zeigen haben, daß die „ G e b u r t der T r a g ö d i e " in genau diesem Sinne der tragische Mythos oder das tragische Kunstwerk ist, von dem sie spricht, ein Kunstwerk, das im Wettstreit mit den Wagnerschen Schöpfungen die tragische Gesinnung wiederbeleben will, das bejahende Innestehen in der Unergründlichkeit und Ungegründetheit der Welt. Ein Kunstwerk, das die ihm vorausliegenden begrifflichen Texte mithin darin
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überbietet, daß es ihre theoretischen Leistungen auf die Ebene der „Begriffsdichtung" hebt, nämlich für das Zu-Denkende und — denken und danken sind in unserer Sprache Worte ein und desselben Ursprungs — denkend Zu-Bewahrende, nämlich die Rätselhaftigkeit der Welt, originäre Metaphern findet, so daß es anders als die theoretischen Texte die Illusionshaftigkeit der menschlichen Erkenntnis nicht nur ausspricht, sondern zugleich ergreift und sie so bejaht: Die „Geburt der Tragödie" ist die Illusion, von der sie spricht, die lebenserhaltende Illusion, die sagt, warum sie nur Illusion sein kann und warum sie Illusion sein muß. „Incipit tragoedia ultimi philosophi" könnte darum ihr Motto lauten... Doch auch die begrifflich argumentierenden Texte Nietzsches, in denen er darlegt, daß die menschliche Erkenntnis dichterischen Wesens ist, sind bisweilen schon auf dem Weg, dieses Wissen auch „formal" zum Ausdruck zu bringen: bisweilen weisen auch sie dichterische Elemente auf. So eröffnet Nietzsche seine Abhandlung „Ueber Wahrheit und Lüge" mit folgender Fabel, die ihre zentrale These illustrieren soll, daß es für den menschlichen „Intellekt keine weitere Mission [gibt], die über das Menschenleben hinausführte": In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der „Weltgeschichte": aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. —930 Wie im Falle der auf S. 46 interpretierten Ausführungen über das Heraklitische — besser: das heraklitisierende — π ά ν τ α ^εϊ, die Nietzsche im Rahmen seines Kollegs über die Vorplatoniker gemacht hat, handelt es sich hier um eine „Spekulation". Gleich der früheren hat auch sie die Relativität des menschlichen Erkenntnisvermögens zum Inhalt. Diese Relativität ist aber beider eigene Voraussetzung: Vornehmste Aufgabe solcher Spekulationen sei es, so sagten wir schon damals, durch den Aufweis der Möglichkeit, bei der Weltauslegung von anderen als den traditionellen Voraussetzungen ausgehen zu können, Nietzsches eigene Grundvoraussetzung zu bewähren, daß die Welt, wie sie uns erscheint, nichts anderes ist als unsere eigene Voraussetzung, daß der Mensch selber mithin Schöpfer der ihm erscheinenden Welt ist. Wenn derweise die beiden hier verglichenen Ausführungen „inhaltlich" gesehen darin übereinstimmen, daß sie ihre eigene Voraussetzung „theoretisch" ergreifen, so unterscheiden sie sich doch in „formaler" Hinsicht in der Art, wie sie an sich selbst das dichtende Wesen der menschlichen Vernunft zum Ausdruck bringen: die Eingangspassage von „Ueber Wahrheit und Lüge" erscheint dichterischer als der Exkurs des Heraklit-Abschnittes. Doch bleibt sie in dieser Beziehung hinter der
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„ G e b u r t der T r a g ö d i e " oder dem „ Z a r a t h u s t r a " zurück, die beide mit dem „theoretischen" W o r t von der „Begriffsdichtung" auch „praktisch" ernst machen und dem Verstellungstrieb als der H a u p t k r a f t des menschlichen Intellekts „ein Spielen mit dem Ernste" 9 3 1 gestatten — und dies im Dienste des Lebens und seiner Kultur, die mit ihren festen Konventionen die Menschen bisher dazu anhielt, unbewußt „schaarenweise in einem f ü r alle verbindlichen Stile zu lügen" 9 3 2 : Zumindest f ü r den letzten Philosophen, der sich vorderhand noch nicht öffentlich als solcher zu bekennen wagt, sind diese Konventionen jetzt weniger fest und das Lügen geschieht bewußt: Wahrheitsphatos in einer Lügenwelt. Lügenwelt wieder in den höchsten Spitzen der Philosophie. Zweck dieser höchsten Lügen Bändigung des unumschränkten Erkenntnißtriebes.933 Die zweite Antwort, die Nietzsche zu der Frage nach der Art des Schreibens findet, mit der man dem Leben zur Gesundung verhelfen kann, besteht darin, daß er schließlich — angefangen mit dem ersten Aphorismusbuch — in seinen Schriften die Unmittelbarkeit des Sprechklanges zu erhalten sucht. Geboren aus dem Geiste der Musik, sind sie, wie Karl Pestalozzi bemerkt hat, „in ihrem Druckbild [ . . . ] eine Art Partitur, die auf akustische Realisierung angewiesen ist. Die logische wird so von einer melodisch-emphatischen Argumentation begleitet." 934 In äußerster Anstrengung sucht Nietzsche in den W o r t l a u t seiner Schriften das Tiefste seiner Philosophie einzusenken, die Empfindung oder, wie er später sagt: den Affekt, d. h. den Willen zur Macht, um ihn so möglichst unmittelbar übertragen und den Leser übermächtigen zu können. 9 3 5 Weil aber die W o r t e im Hinblick auf die Affektübertragung doch die „mangelhaftesten Zeichen" 9 3 6 genannt werden müssen, d a r u m wünscht er schließlich im O k t o b e r 1887 in einem Brief an den Dirigenten Felix Mottl, daß der von ihm komponierte „ H y m n u s an das Leben" ergänzend eintreten möge, wo das W o r t des Philosophen nach der Art des Wortes nothwendig undeutlich bleiben muß. Der A f f e k t meiner Philosophie drückt sich in diesem Hymnus aus.937
14. „Schaffen steht höher als Erkennen": Nietzsches
Kunst-Philosophie
Metaphysik als Kunst und Kunst als Metaphysik sollen jenes „regulative [ . . . ] Gesammtbild" 9 3 8 der Welt entwerfen, in dem sich das Dasein seine Lebensmöglichkeiten aufschließt und vorhält, indem es andere verschließt: mit der Perspektive des Bildes wird dem menschlichen Streben Maß und Richtung gewiesen innerhalb des endlichen Möglichkeitsraumes, der durch seinen H o r i z o n t umgrenzt wird. Dieses wertsetzende Bild leistet somit, was
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einst der Mythos, „das zusammengezogene Weltbild" 939 , „als Abbreviatur der Erscheinung" 940 geleistet hat: es schließt „eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab" 941 . Es macht so Kultur im strengen Sinne überhaupt erst möglich, ist diese doch „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes" 942 . Ohne Mythos, in den umzuschlagen die "Wissenschaft Nietzsche zufolge zu allen Zeiten ja geneigt sein soll, „geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig." 943 Denn: W o r a u f weist das ungeheure historische Bedürfniss der unbefriedigten m o d e r n e n Cultur, das U m s i c h s a m m e l n zahlloser anderer Culturen [mit der K o n s e q u e n z der Stillosigkeit], das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen H e i m a t , des mythischen Mutterschoosses? 9 4 4
Historisch abstrakt 945 , durch fortwährend hastiger und wahlloser werdende Ent-fernung und Ent-fremdung immer weiterer Zeiträume und immer fernerer Kulturen ohne Rücksicht auf seine „plastische Kraft", sein Vermögen zur Aneignung, sucht der Mensch der Moderne seine „Kultur" zu gründen, weil ihm das einst Nächste zum Fernsten geworden ist, die Sage vom Woher und Wohin, vom Was der Welt, worin sich ihm ursprünglich das zusprach, was ihm begegnete — auch er selbst —, so daß sie es war, die ihn in der Welt verwurzelte. Denn sie war die Sage eines Ortes, der die Menschen zu sich versammelte, in dessen Nähe ihnen heimisch, fernab von ihm aber unheimisch, befremdlich zumute war; dies Gefühl der Befremdung immer m e h r zu verlieren, über nichts m e h r übermässig zu erstaunen, endlich alles sich gefallen lassen — das nennt man dann wohl den historischen Sinn, die historische Bildung. 9 4 6
In ihr fällt alles in einer indifferenten Nähe zusammen: D e r junge Mensch ist so heimatlos g e w o r d e n und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. J e t z t weiss er es: in allen Zeiten w a r es anders, es k o m m t nicht darauf an, wie du bist. 947 A n d e r s d i e G r i e c h e n . S i e w a r e n bis z u m A u f k o m m e n d e s S o k r a t i s m u s , d e r rein wissenschaftlichen
Weltverhaltung,
unwillkürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzuknüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen: w o d u r c h auch die nächste G e g e n w a r t ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. 9 4 8
Von ihnen — die, so meinen wir, in bestimmter Hinsicht selber ein Mythos sind — ist Nietzsche zufolge zu lernen, daß sich des Daseins Möglichkeit, im historischen Augenblick der Gegenwart entschlossen „da" zu sein, neben der Kraft und dem Willen zu vergessen allein einem mit überhistorischen, im Falle der Griechen heißt das: einem mit mythischen Bildern umstellten Horizont verdankt 949 : das Hauptthema der 2. Unzeitgemässen Betrachtung, die mit der monumentalischen Historie und ihrem Willen zur
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Wieder-holung von Geschichte 950 eine Geschichtsschreibung entwirft, welche sich dem Mythos annähert und derweise wie die Philosophie „das W i s s e n in eine künstlerische Weltconception h i n e i n z i e h t und dadurch veredelt" 9 5 1 : Die Geschichte soll Exemplifikationen der philosophischen Wahrheiten geben, aber nicht Allegorien, sondern Mythen.,
zeichnet Nietzsche im Winter 1870/71—Herbst 1872 auf 952 . N u r wenn die Geschichtsschreibung von historischen Ereignissen künstlerische Bilder mit metaphysischen Vorstellungsinhalten zu entwerfen weiß, vermag sie danach den Blick des Menschen von Werden und Vergehen überhistorisch abzulenken, „hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt" 953 , um so das Grundproblem der Gegenwart, die zunehmende Zersplitterung der Zeit, zu lösen. Denn wie die Hast unseres wissenschaftlichen Zeitalters mit seiner Tendenz zum Riesigen, zum riesig Großen und zum riesig Kleinen, 954 Nietzsche zufolge lehrt, schenkt allein der metaphysische Glaube an ein „monumentum aere perennius" dem Menschen ein über seine eigene kurze Lebenszeit hinaus ausgespanntes Zeitgefühl: ruhig arbeitet er dann sein Leben lang an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegte Institutionen, ohne daß er selbst eine Frucht von jenem Baume, den er pflanzt, zu pflücken wünschen muß: Der ruhige Blick in die Zukunft erst möglich, wenn wir uns nicht mehr so ephemer fühlen, so wie eine Welle.955, gibt es Sinn für den Menschen doch nur dort, wo es aus dem Werden herausgehobenes Sein gibt: Dieses ewige Werden ist ein lügnerisches Puppenspiel, über welchem der Mensch sich selbst vergisst, die eigentliche Zerstreuung, die das Individuum nach allen Winden auseinanderstreut, das endlose Spiel der Albernheit, welches das grosse Kind Zeit vor uns und mit uns spielt. Jener Heroismus der Wahrhaftigkeit besteht darin, eines Tages aufzuhören, sein Spielzeug zu sein. Im Werden ist Alles hohl, betrügerisch, flach und unserer Verachtung würdig; das Räthsel, welches der Mensch lösen soll, kann er nur aus dem Sein lösen, im So- und nicht Anderssein, im Unvergänglichen ,956,
schreibt Nietzsche in „Schopenhauer als Erzieher". Und in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung heißt es in dem gleichen, nämlich nur in vordergründiger Sichtweise entgegengesetzten Sinne: Wenn dagegen die Lehren vom souverainen Werden, von der Flüssigkeit aller Begriffe, Typen und Arten, von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier — Lehren, die ich für wahr, aber f ü r tödtlich halte — in der jetzt üblichen Belehrungs-Wuth noch ein Menschenalter hindurch in das Volk geschleudert werden, so soll es Niemanden W u n d e r nehmen, wenn das Volk am egoistischen Kleinen und Elenden, an Verknöcherung und Selbstsucht zu Grunde geht, zuerst nämlich auseinanderfällt und aufhört Volk zu sein 957 .
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„Lehren, die ich für wahr, aber für tödtlich halte": Im Vorwort einer Vorstufe der „Geburt der Tragödie" 9 5 8 bezeichnet Nietzsche es als sein „Glaubensbekenntniß", „daß jede tiefere Erkenntniß schrecklich ist"; d. h. daß jene Lehren rein erkenntnismäßig gesehen für wahr gehalten werden müssen, im Hinblick auf den Lebensvollzug jedoch unwahr, weil unfruchtbar sein können. In bezug auf die oben angeführten Lehren klaffen in diesem Sinne „wissenschaftliche" und lebensmäßige Wahrheit auseinander — zumindest, was die Masse der Menschen angeht. Es muß dabei gesehen werden, daß Nietzsche unter „Tödlichkeit" erst in zweiter Linie eine leibliche Bedrohung und dann auch nicht einzelner, sondern des leibenden Lebens überhaupt versteht: Die leibliche Bedrohung ist nämlich eine Folge der geistigen Lähmung, die aus diesen Lehren erwachsen kann — und bei der Masse der Menschen nach Nietzsches Diagnose auch eintritt, dabei aber das Leben als solches betrifft. Denn die Masse der „letzten Menschen" weiß ihr Leben nur noch in der Verfolgung ihrer egoistischen Triebe zu fristen: Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.
sagt Zarathustra über sie.959 Indem die Masse so nichts Größeres mehr als sich selbst weiß, wird sie ihrer einzigen Lebensaufgabe untreu, als einiges Volk 960 den „Mutterschooß[.. .]" 961 für die Kulturschaffenden, für die Genies, abzugeben. Damit ist aber nicht nur der Fort-schritt der Kultur, sondern auch der Vollzug des immer weiter und höher hinaus wollenden Lebens überhaupt bedroht. Sich verzettelnd in der Verfolgung kleinlicher Ziele, sieht es sich nämlich um die Möglichkeit der Aufsteigerung gebracht, es stagniert und degeneriert. In dieser Weise erweisen sich jene — vom Leben selbst hervorgebrachten — Lehren für die Massenmenschen und das in ihnen leibende Leben als tödlich, unbeschadet des leiblichen — vorderhand vielleicht nicht einmal so schlechten — Fortlebens der letzten Menschen. Aber ein allein den leiblichen Genüssen frönendes Leben ist für den immer noch der Geistmetaphysik verpflichteten Nietzsche nicht mehr als ein Vegetieren, als welchem der T o d vorzuziehen wäre: Den geistigen T o d betrachtet er als furchtbarer denn den leiblichen, weil das leibliche Leben letztlich nur durch das geistige Leben zu rechtfertigen sei — „denn nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig g e r e c h t f e r t i g t " , heißt es in der „Geburt der Tragödie" 9 6 2 . Das leibliche Leben hat sich somit in den Dienst des geistigen Lebens zu stellen, das mit jenem wohl untrennbar verbunden ist — denn der Geist ist leiblich —, dabei aber dessen Spitze darstellt.
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Darum erweisen sich jene Lehren in Nietzsches Augen für denjenigen nicht als tödlich, welcher, sein leibliches Leben nicht achtend „in allen Dingen bis auf diesen hoffnungslosen Grund sehen [will]" 963 , und sich darob zu ent-setzen vermag, nämlich die dabei freiwerdende Kraft der Verzweiflung umzuprägen und in ein währendes Werk zu setzen weiß, sei dies ein Menschenwerk — die neue Form, die der sich Ent-setzende für sich oder, durch eine politische Tat, für andere erringt —, sei dies ein Kunstwerk: Dem Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n — das ist der höchste W i l l e z u r M a c h t . 9 6 4 ,
wird Nietzsche später in bezug auf die erste der oben angesprochenen Lehren ausführen, welche die anderen beiden in sich birgt. Im Falle eines solchen Menschen erwiese sich die Fruchtbarkeit, und das meint: die lebensmäßige Wahrheit jener wissenschaftlichen Wahrheiten selbst dann, wenn er, wie dies etwa Heinrich von Kleist mit der Kantischen Lehre gegangen ist965, an ihnen zugrundegehen sollte, denn sie hätten ihn schöpferisch gemacht: N u r im Schaffen aber kann sich das Leben über sich selbst hinaussteigern. Wenn somit allein die Schöpferischen dem Leben einen starken Stimulus geben können, dann heißt das nicht nur, daß die Kunst über die Wissenschaft dominiert, sondern auch, daß allein die Kunst mit ihrer größeren Lebensfruchtbarkeit die wissenschaftlichen Erkenntnisse rechtfertigen kann: Nicht im E r k e n n e n , im S c h a f f e n liegt unser Heil! 966 ,
zeichnet Nietzsche im Sommer 1872—Anfang 1873 auf, und im Sommer 1875 gibt er zu bedenken: S c h a f f e n s t e h t h ö h e r als E r k e n n e n . 9 6 7
Und das erkennende Leben steht höher als das allein um seine Leibhaftigkeit besorgte Leben: Ebendann ist einer der Ausgangspunkte für die spätere Verwerfung des Schopenhauerschen „Willens zum Leben" zu sehen, über den Nietzsche in der hier behandelten Hinsicht implizit schon hinausgeht: sein Wille will nicht das Leben, sondern das Mehr-Leben, die Steigerung — und sei es auch um den Preis des Lebens 968 . In diesem Sinne hinterlassen nämlich alle Großen für ihn die e i n e Lehre [ . . . ] , daß der das Dasein am schönsten lebt, der es nicht achtet.969
Und zwar nicht achtet um eines großen schöpferischen Zieles willen: denn mag er sich in der Verfolgung desselben schließlich auch aufreiben, so wisse er, Nietzsche, doch keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und Unmöglichen, animae magnae prodigus, zu Grunde zu gehen. 970
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Voraussetzungen
Solange Nietzsche jene Revision seines Willens-Begriffes aber noch nicht vollzogen hat, solange bleiben Fälle wie der Kleistische für ihn zuhöchst fragwürdig. Insofern er nämlich von ihm zugrunde gerichtet wird, legt Kleist deutlicher noch als andere große Lebensläufe von einem Kampf zweier, nach verschiedenen Richtungen drängender Triebe ab: der welcher das Erkennen will, muss den B o d e n , auf dem der Mensch lebt, immer wieder verlassen und sich ins U n g e w i s s e w a g e n , und der Trieb, der das Leben will, muss immer wieder sich z u einer ungefähr sicheren Stelle hintasten, auf der sich stehen lässt 971 .
Zwei Triebe, welche doch das beide beugende und nach Maßgabe ihrer jeweiligen Kräfte an Stärke zunehmende Joch gleichwohl niemals auseinanderreißen dürften, wenn denn dieses wirklich nichts anderes als Wille zum Leben und derweise der den Illusionstrieb bestreitende Erkenntnistrieb als ein Beförderungsmittel dieses Vollzuges letztlich ebenfalls nur lebenserhaltend sein kann. An dieses Joch klammert sich Nietzsche aber um so fester, 972 je stärker ihn die Erkenntnis angreift, daß das Denken, nicht nur das wissenschaftliche, sondern auch das philosophische — weil ja „ d o r t w i e h i e r [ . . . ] g l e i c h g e d a c h t " wird 973 — im Klartext: daß auch sein Denken „überhaupt nicht fruchtbar" 9 7 4 , weil weltvernichtend 975 , d. h. nihilistisch ist, soweit es eben wie die Wissenschaft illusionszerstörend wirkt. Kein Text spricht von diesem Anklammern beredter als der schon häufiger angesprochene (siehe vor allem Seite 128) Schluß der ersten von „Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern" mit dem Titel „Das Pathos der Wahrheit". Nachdem Nietzsche dort ausgeführt hat, daß die Wahrheit des Menschen darin besteht, „ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein", und daß diese Wahrheit ihn „ z u r Verzweiflung und Vernichtung treiben" müßte, „wenn er eben nur ein erkennendes Thier wäre", fährt er fort: D e m Menschen g e z i e m t aber allein der Glaube an die erreichbare Wahrheit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion. Lebt er nicht eigentlich d u r c h ein fortwährendes Getäuschtwerden? V e r s c h w e i g t ihm die N a t u r nicht das Allermeiste, ja gerade das Allernächste ζ. B. seinen eignen Leib, v o n d e m er nur ein gauklerisches „ B e w u ß t s e i n " hat? In dieses Bewußtsein ist er eingeschlossen, und die N a t u r warf den Schlüssel w e g . Ο der verhängnißvollen N e u b e g i e r des Philosophen, der durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtheits-Zimmer hinaus und hinab zu sehen verlangt: vielleicht ahnt er dann, wie auf d e m Gierigen, dem Unersättlichen, dem Ekelhaften, d e m Erbarmungslosen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens und gleichsam auf dem R ü c k e n eines Tigers in T r ä u m e n hängend.
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„Laßt ihn hängen", ruft die K u n s t . „Weckt ihn auf" ruft der Philosoph, im Pathos der Wahrheit. Doch er selbst versinkt, während er den Schlafenden zu rütteln glaubt, in einen noch tieferen magischen Schlummer — vielleicht träumt er dann von den „Ideen" oder von der Unsterblichkeit. Die Kunst ist mächtiger als die Erkenntniß, denn s i e will das Leben, und jene erreicht als letztes Ziel nur — die Vernichtung.—976 Mehr als eine Ahnung vom Entsetzlichen des Lebens, von der Wahrheit wird dem Philosophen nicht zuteil, dann versinkt auch er in lebenserhaltenden Illusionen, schlägt die Erkenntnis in Kunst um, weil diese mächtiger, d. h. fruchtbarer und wertvoller f ü r das Leben ist als jene: Das Leben schützt sich selber und taucht sich in den schönen Schein der Kunst (vgl. dazu bereits unsere Ausführungen auf S. 8). Die dem Menschen zugängliche „Wahrheit" ist nicht mehr als bestenfalls ahnungsvoller Wahr-Schein, eine untrennbare Gemengelage von „ein wenig" Aufschein und „ungeheuer viel m e h r " Anschein der Wahrheit. So reicht der Aufschein der Wahrheit allenfalls dazu, die Erkenntnis zu eröffnen, ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein. Und doch ist bereits diese Erkenntnis, als welche unsere Grunderkenntnis darstellt, wie der Fall Kleist lehrt, so furchtbar, daß das Leben sie künstlerisch umschleiern und so fruchtbar machen muß, wenn es an ihr nicht zugrundegehen will: „Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion" 977 , sagt laut Nietzsche die „Hamletlehre" aus. Daß das Leben diese Umschleierung von sich aus leistet, ist die wesentliche Behauptung des angeführten Textes. Doch — so müssen wir aus unserer Kenntnis der Struktur Nietzschescher Aussagen fragen — kann diese Deutung nicht auf sich selbst bezogen werden, so daß sie selbst der T r a u m wäre, von dem sie spricht? Eine Illusion, welche den nihilistischen Charakter der Erkenntnis abzuschwächen sucht, um Nietzsche das Fortschreiten auf seinem Illusionen zerstörenden Lebensweg zu ermöglichen? 978 Und in dieser Selbstfürsprache Einholung der eigenen Voraussetzung, daß das Leben, als der Grundwert, der es ist, in allem Seienden sich selbst will? Ist dieser Gedanke nicht vergleichbar jenem, wie in unseren Tagen immer deutlicher wird: Aberglauben an die Güte eines Gottes, der seine eigene Schöpfung niemals in die Vernichtung treiben kann? Dieser Gedanke wäre somit eine Glaubensvoraussetzung, zu der sich Nietzsche angesichts der lähmenden nihilistischen oder, wie er jetzt noch sagt, tragischen Entdeckung Kants und Schopenhauers ent-setzt, indem er sie auf sich selbst bezöge: Auch sie muß danach lebenserhaltende Illusion sein können, wenn sie wahrer als andere, nämlich fruchtbarer sein will. Denn dem „Menschen geziemt [ . . . ] allein der Glaube an die erreichbare Wahrheit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion" und nicht die Verzweiflung über „die Wahrheit, ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein"
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— zumindest soweit er mehr als „nur erkennendes Thier" 9 7 9 ist. Ebendiese Abwendung von der traditionellen Bestimmung des Wesens des Menschen als animal rationale aber macht Nietzsches Versuch aus, jene furchtbare Wahrheit, daß seine Wahrheiten bestenfalls Wahrscheinlichkeiten sein können, in die fruchtbare Wahrheit umzuwerten, daß sich in besagtem Wahr-Schein das dichterische Vermögen eines animal creans ausspricht, dessen Erkenntnisapparat genuine Seinsmächtigkeit zuzusprechen ist. Indes erscheint es Nietzsche selber als fraglich, ob auch die anderen Menschen, auf die er seine H o f f n u n g e n für die Neubegründung der Kultur setzt, in dieser Weise die lähmende Wirkung jener Wahrheit zu überwinden vermögen. Ob nicht in ihrem Falle der Traum vom Selbstschutz des Lebens bloßer Traum bleibt? Erweisen sich nicht für sie „die Lehren vom souverainen Werden, von der Flüssigkeit aller Begriffe, Typen und Arten, von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und T h i e r " als, wenn man so sagen dürfte, tödlicher denn die Lehre Kants für Kleist — weil den geistigen T o d bringend? Infolge ihrer Unfähigkeit zur geistigen Erschütterung mit dem daraus erwachsenden Zwang zur gestaltenden Uberwindung — nach Nietzsches Ansicht macht ja nur der Schmerz, das Leid produktiv 980 — legen sich nämlich diese Lehren auf sie als Mehltau „eines zernagenden und zerbröckelnden Relativismus" 981 . Jene Menschen, das sind wir, diejenigen, welche Nietzsche als „letzte Menschen" bezeichnet, weil sie alle Kraft zur Selbstüberwindung verloren haben und in einem passiven Nihilismus vegetieren, den der über sie hinausgehende Mensch, der Übermensch, hinwegfegen wird. Als Menschen des Marktplatzes leben sie im Ereignis des Todes Gottes, ohne daß sie um es wissen — obwohl sie selbst es herbeigeführt haben. Doch während der „tolle Mensch" Nietzsche 982 , der die Ver-rückung durch Gottes Tod 9 8 3 übernehmende Nietzsche, seine Aufgabe darin sieht, den Nihilismus durch die Offenbarung dieses Ereignisses allererst in seine Krisis und dadurch in die Möglichkeit seiner Überwindung hineinzuführen, meint der „höhere Mensch" 984 Nietzsche noch, den Nihilismus aufhalten zu müssen, nicht etwa nur durch Verschweigen von Gottes T o d , sondern gar durch Reden an die Menschen, daß ein „ G o t t " sei: daß nämlich der Genius metaphysische Bedeutung für ein Ur-Eines habe, seine Hervorbringung somit metaphysische Pflicht aller sei. N u r so glaubt er der zunehmenden Atomisierung des gegenwärtigen Lebens — der Aufsplitterung der Lebensinteressen in Gruppen- und Einzelegoismen, womit eine Zersplitterung des Zeitempfindens einhergeht, weil jeder nur noch von seiner eigenen kurzen Lebensspanne her denkt, sowie der Zerfällung der Welt in unzusammenhängende Gegenstandsbereiche — vielleicht entgegentreten und dem Leben die für seinen Vollzug unabdingbaren „Einheiten" sichern
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zu können. N u r durch die Ersetzung von „Egoismus" durch „Genius" in jenem Dekret unserer Zeit: „der Egoismus soll unser Gott sein" 985 glaubt er jenes in existentieller Hinsicht für ihn dringlichste Anliegen verwirklichen zu können, um dessentwillen er nach eigenem Bekunden die Unzeitgemässen Betrachtungen geschrieben hat: Ich will den Menschen die Ruhe wiedergeben, ohne welche keine Cultur werden und bestehen kann. Ebenso die S c h l i c h t h e i t . 9 8 6 Er will sie nach dem Vorbild der Griechen 987 Besinnung auf die echten und wesentlichen Lebensbedürfnisse lehren. Und dies vor allem mit Hilfe der Kunst. So schreibt er in „Richard Wagner in Bayreuth." Der Einzelne soll zu etwas Ueberpersönlichem geweiht werden — das will die Tragödie; er soll die schreckliche Beängstigung, welche der T o d und die Zeit dem Individuum macht, verlernen: denn schon im kleinsten Augenblick, im kürzesten Atom seines Lebenslaufes kann ihm etwas Heiliges begegnen, das allen Kampf und alle N o t h überschwänglich aufwiegt — das heisst t r a g i s c h g e s i n n t s e i n . U n d wenn die ganze Menschheit einmal sterben muss — wer dürfte daran zweifeln! — so ist ihr als höchste Aufgabe für alle kommenden Zeiten das Ziel gestellt, so in's Eine und Gemeinsame zusammenzuwachsen, dass sie als e i n G a n z e s ihrem bevorstehenden Untergange mit einer t r a g i s c h e n G e s i n n u n g entgegengehe; in dieser höchsten Aufgabe liegt alle Veredelung der Menschen eingeschlossen; aus dem endgültigen Abweisen derselben ergäbe sich das trübste Bild, welches sich ein Menschenfreund vor die Seele stellen könnte. So empfinde ich es! Es giebt nur Eine H o f f n u n g und Eine Gewähr für die Zukunft des Menschlichen: sie liegt darin, d a s s d i e t r a g i s c h e G e s i n n u n g nicht absterbe.988
Denn die tragische Gesinnung, welche die Tragödie lehrt, hält das Entsetzliche und Sinnlose des Daseins nicht nur aus, sondern bejaht es auch — im Hinblick auf die schönen, scheinbar sinnerfüllten Augenblicke, die das Leben schenkt: Augenblicke höchster Illusion, zu denen nicht zuletzt auch die Tragödie selber rechnet: Die Tragödie ist schön, insofern der Trieb, der das Schreckliche im Leben schafft, hier als Kunsttrieb, mit seinem Lächeln, als spielendes Kind erscheint.' 89 ,
skizziert Nietzsche Ende 1870—April 1871 einen zentralen Gedanken seiner „Geburt der Tragödie", in der er die Erkenntnis, daß alle Erkenntnis Illusion ist, glaubt verheimlichen und statt dessen Illusionen als Erkenntnisse meint ausgeben zu müssen. „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt" — diese Maxime seines Handelns bleibt hier verborgen — wie dies in noch höherem Maße auch für die anderen Veröffentlichungen seiner Frühzeit gilt, die nach Nietzsches eigener Aussage zum Teil zumindest — so im Falle der ersten drei Unzeitgemässen Betrachtungen — gedanklich „hinter die Entstehungs- und Erlebnisszeit" 990 der „Geburt der Tragödie" zurückgehen.
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Denn er vermeint bauen zu müssen, wo noch nicht genügend zerstört worden ist — und stellt sich damit in Gegensatz zu der folgenden Reflexion über die Aufgabe eines Philosophen: Zu allen positivis einer Kultur, einer Religion ist er z e r s t ö r e n d (selbst wenn er zu b e g r ü n d e n
auflösend,
sucht).
Er ist am nützlichsten, wenn es v i e l z u z e r s t ö r e n g i e b t , in Zeiten des Chaotischen oder der Entartung. 991
D a ß das gegenwärtige Zeitalter aber eine solche Epoche des Zerfalls ist und somit zunächst das destruktive Tun des Philosophen an der Zeit wäre, das bedenkt Nietzsche im Winter 1869/70—Frühjahr 1870 in einer kosmologisch verkleideten Reflexion, nämlich bezugnehmend auf das Bild des zerrissenen Dionysos: D e r absterbende Wille (der s t e r b e n d e G o t t ) zerbröckelt in die Individualitäten. Sein Bestreben ist immer die verlorene Einheit, sein τέλος immer weiteres Zerfallen. Jede errungene Einheit sein Triumph, vornehmlich die Kunst, die Religion. In jeder Erscheinung höchster Trieb sich zu bejahen, bis sie endlich dem τέλος verfällt. 992
Diese Zersetzung sucht Nietzsche aufzuhalten, um so die Ankunft des ,,unheimlichste[n] aller Gäste" 993 , die Ankunft des Nihilismus, von der er doch zumindest schon ahnt, daß sie als eine Voraussetzung unserer Geschichte unabwendbar ist994, verhindern zu können. Seine eschatologisch gestimmte Erkenntnis, am Ende einer langen Tradition zu stehen, meint er verschweigen zu müssen — aus Verantwortungsbewußtsein, weiß er doch noch nicht, wohin er gehen soll. (Den Gelehrten, die dem Volk ihr „historisches Scheidewasser [ . . . ] als Lebens- und Labetrank" anbieten, wirft er dagegen vor: ihr handelt als praktische Pessimisten, ich meine als Menschen, welche die Ahnung eines Unterganges leitet und die dadurch gegen das fremde, ja gegen das eigene Wohl gleichgültig und lässlich werden. W e n n u n s nur die Scholle noch trägt! U n d wenn sie uns nicht mehr trägt, dann soll es auch recht sein — so empfinden sie und leben eine i r o n i s c h e Existenz. 995 )
Er wagt noch nicht, jener kritische Historiker seiner 2. Unzeitgemässen Betrachtung zu sein, der im Willen, dem Leben eine bessere Zukunft zu bereiten, die Vergangenheit, deren Resultat die Gegenwart ist, „vor Gericht zieht, peinlich inquirirt, und endlich verurtheilt", ist dies doch Nietzsche zufolge immer, und d. h. erst recht in schwankenden Zeiten ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher Prozess: und Menschen oder Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen, dass sie eine Vergangenheit richten und vernichten, sind immer gefährliche und gefährdete Menschen und Zeiten [ . . . ] , weil es so schwer ist eine Grenze im Verneinen des Vergangenen zu finden 996 ,
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erkennt Nietzsche seine eigene Gefährdung, die um so größer ist, als er, erst langsam von der historischen Krankheit genesend, 997 das historische Schwert noch nicht mit Sicherheit zu führen versteht und die Zukunft, die er ist, nur dunkel erahnt. Nach fehlt der Plan für einen dichterischen Bau, dem er mit dem wissenschaftlichen Seziermesser Platz bereiten könnte. Erst dann aber vermöchten zunächst weltvernichtende „Wahrheiten" letztlich doch weltbegründend und damit fruchtbar für das Leben zu sein — wie dies in seinen Augen schließlich für seine Lehren des Willens zur Macht, der ewigen Wiederkunft und des Übermenschen gilt. Mit diesen Gedanken meint er das leibliche Zugrundegehen der Mehrzahl der letzten Menschen um der geistigen Gesundung willen befördern zu dürfen. Vorderhand aber muß er verschweigen, daß er sich als jenen Typus des letzten Philosophen sieht, über den er in sein Notizbuch im Sommer 1872—Anfang 1873 aufzeichnet: „Er hat nur zum L e b e n zu helfen. [ . . . ] Er beweist die Nothwendigkeit der Illusion, der Kunst und der das Leben beherrschenden Kunst." 998 Er hat „noch nicht den Muth (oder die Unbescheidenheit?)" 999 , wie er in seinem Versuch einer Selbstkritik der „Geburt der Tragödie" es nennt, als dieser letzte Philosoph, der an gar nichts mehr glaubt1000, auf das Forum zu treten. Wagner und den anderen höheren oder niederen Menschen seiner Umgebung mutet er seine „tiefste" Erkenntnis vom Fehlen jeglichen Sinnes, die doch unbewußt die Menschen schon längst beherrscht, noch nicht zu (einzig Cosima Wagner deutet er sie in der ihr zugedachten Vorrede „Ueber das Pathos der Wahrheit" an). Denn, wie er am Ende der „Geburt der Tragödie" ausführt, darf von dem „Fundamente aller Existenz [ . . . ] genau nur soviel dem menschlichen Individuum in's Bewusstsein treten", als von seinen plastischen Kräften, von dem Willen zum Schaffen des Scheins „wieder überwunden werden kann" 1001 . Zwar beweist die „Geburt der Tragödie" „die Nothwendigkeit der Illusion, der Kunst und der das Leben beherrschenden Kunst", aber sie macht es zu einem Geheimnis, einem offenbaren indes, daß diese ihre Aussagen auf sich selbst hin gelesen werden sollen, daß sie selbst Illusion sind, daß die „Geburt der Tragödie" mithin selbst bereits das Kunstwerk ist, von dem sie spricht, daß sie eine Philosophie der Kunst in der Form eines philosophischen Kunstwerkes entwirft. „Wir erlauben die Begriffsdichtung nicht mehr. Nur im Kunstwerk." 1002 , zeichnet Nietzsche kurze Zeit nach dem Erscheinen der „Geburt der Tragödie" auf. So will sie nicht nur mit philosophischen, sondern vor allem mit künstlerischen Wertmaßstäben beurteilt werden: D i e Schönheit und die Großartigkeit einer Weltconstruktion (alias Philosophie) entscheidet jetzt über ihren Werth — d. h. sie wird als K u n s t beurtheilt. 1003
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Als K u n s t w e r k ist sie aber, wie wir wissen, der Vergänglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis e n t h o b e n : Daßein u n b e w e i s b a r e s Philosophiren noch einen Werth hat, mehr als meistens ein wissenschaftlicher Satz, hat seinen Grund in dem aesthetischen W e r t h e eines solchen Philosophirens, d.h. durch Schönheit und Erhabenheit. Es ist als K u n s t w e r k noch vorhanden, wenn es sich als wissenschaftlicher Bau nicht erweisen kann. 1004 , d e n n ein K u n s t w e r k ist unwiderlegbar. D e r Kreis schließt sich: solches hat Nietzsche bereits 6 J a h r e f r ü h e r in einem Brief an Carl von Gersdorff mitgeteilt, den wir schon eingangs unserer Arbeit zitiert haben (S. 3 f.): Die Kunst ist frei, auch auf dem Gebiet der Begriffe. Wer will einen Satz von Beethoven widerlegen, und wer will Raphaels Madonna eines Irrthums zeihen?, f r a g t Nietzsche dort. W i r haben aber schon damals auf die G e f a h r hingewiesen, die der Philosophie d r o h t , w e n n sie sich eindeutig auf den Boden der Kunst stellt, die G e f a h r nämlich, daß sie sich auf diese Weise in ein „Faulbett des D e n k e n s " legt und so den Fort-schritt des sich vorstellend herstellenden Lebens verhindert. U m dem entgegenwirken zu k ö n n e n , m u ß sie sich auf den Boden der Wissenschaft stellen. Sie hat mithin in sich den K a m p f , den Widerstreit von Kunst und Erkenntnis auszutragen, der ja insofern in sich einig ist, als „ d o r t w i e h i e r [ . . . ] g l e i c h g e d a c h t [ w i r d ] " . Die „ G e b u r t der T r a g ö d i e " sucht dieser A u f g a b e nun in der Weise zu genügen, daß sie als K u n s t - W e r k befriedigen soll, was sie als D e n k - W e r k zu wecken h a t : „die tragische Bedürftigkeit" 1 0 0 5 , welche nach Nietzsches H o f f n u n g aus dem Aufweis des , , U n g e n ü g e n d e [ n ] der Wissenschaft" 1 0 0 6 hervorgehen wird. N u r so meint er die S c h a f f u n g einer K u l t u r — „ d e n n wir haben keine" 1 0 0 7 — einleiten zu k ö n n e n , die nach seiner E r f a h r u n g niemals von einer reine Begriffsarbeit leistenden D e n k - P h i l o s o phie ausgehen k a n n : Es ist nicht möglich, eine Volkskultur auf Philosophie zu gründen. Also kann die Philosophie im Verhältniß zu einer Kultur nie fundamentale und immer nur eine Nebenbedeutung haben.1008, schreibt Nietzsche im W i n t e r 1872/73. D e n G r u n d d a f ü r nennt er einige Zeit später: N i e hat ein Philosoph in seinen positivis das Volk hinter sich drein gezogen. Denn er lebt im Kultus des Intellekts.1009 D a r a u s folgt f ü r Nietzsche: Die Kultur kann immer nur von der centralisirenden Bedeutung einer Kunst oder eines Kunstwerks ausgehen. Unwillkürlich wird die Philosophie dessen Weltbetrachtung vorarbeiten. 1010 Gelesen im Hinblick auf die „ G e b u r t der T r a g ö d i e " heißt das, d a ß sie als D e n k - W e r k demjenigen vorzuarbeiten sucht, was sie als K u n s t - W e r k ist. Sie bereitet somit nicht etwa die G e b u r t der Kultur durch ein anderes
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Kunstwerk nur vor, sondern hofft selbst diese Geburt zu sein. Sie stellt sich nicht etwa nur in den Dienst des Wagnerschen Kunstwerkes der Zukunft, sondern tritt auch in einen Wettstreit 1011 mit ihm ein. (Einmal träumt Nietzsche gar von einem Diktat: Der Philosoph soll e r k e n n e n , w a s n o t h t h u t , und der Künstler soll es s c h a f f e n . 1 0 1 2 )
Wie Wagner will Nietzsche „eine gesetzgeberische Natur" 1 0 1 3 sein, ein „ V e r e i n f a c h e r d e r W e l t " 1 0 1 4 , „ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammengebrachten" 1 0 1 5 . Was nicht nur bedeutet, daß sie — wie alle Philosophen und Künstler — als „ H e m m s c h u h i m R a d e d e r Z e i t " 1 0 1 6 ,,[i]nmitten der ameisenhaften Wimmelei das Problem des Daseins, überhaupt die ewigen Probleme zu betonen" 1 0 1 7 haben, derweise als „Unzeitgemässe" „alle die verzeitlichenden Elemente mit Bewußtsein [ . . . ] bekämpfen" 1 0 1 8 müssen, sondern auch, daß sie mit ihren Schöpfungen zum ,,ästhetische[n] Begriff des Großen und Erhabenen" 1 0 1 9 als ,,künstlerische[r] Bändigung des Entsetzlichen" 1020 und zur Schönheit als „Verbergen der Noth" 1 0 2 1 , zu erziehen suchen, d. h. zu einer Bändigung des Erkenntnistriebes. Denn das Schöne ist oberflächlich; wie eine Analyse unseres Erkenntnisapparates zeigt, verbirgt er die immer häßliche Wahrheit vor uns — daß wir nämlich „auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen [ruhen]" 1022 —, um uns so im Leben festzuhalten: Die menschliche S i n n e n e r k e n n t n i ß ist sicherlich auf S c h ö n h e i t aus, sie verklärt die Welt. Was haschen wir nach einer anderen? Was wollen wir über unsere Sinne hinaus? Die rastlose Erkenntniß geht in's Oede und Häßliche. — Z u f r i e d e n s e i n mit der künstlerisch angeschauten Welt! 1023
Weswegen behauptet werden kann, daß die S c h ö n h e i t [ . . . ] bei dem wählerischen Erkenntnißtrieb wieder als Macht hervor[tritt]. 1024
Was deshalb von Bedeutung ist, weil das Schöne aufgrund seiner Illusionskraft, seinem hohen Grad an Lüge und Täuschung, das stärkste Stimulans des Willens zum Leben darstellt 1025 : das S c h ö n e ist ein Lächeln der Natur, ein Uberschuß von Kraft und Lustgefühl des Daseins: man denke an die Pflanze. Es ist der Jungfrauenleib der Sphinx. Der Zweck des Schönen ist das zum Dasein Verführen. 1 0 2 6
Es wird mithin deutlich, daß Nietzsche schon jetzt in Gegensatz zur Kantischen Fassung des ästhetischen Problems gerät, wie sie ihm von Schopenhauer überliefert worden ist. Ansatzpunkt ist Kants Bestimmung des Schönen, die er in den §§ 2—5 der „Kritik der Urteilskraft" entwickelt. Danach ist „schön" dasjenige, was „rein" gefällt, was einen Gegenstand
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„bloßen" Wohlgefallens darstellt, was „ohne alles Interesse" betrachtet wird. In Kants Zusammenfassung (Kr. d.U., § 5, A 16, Β 16): G e s c h m a c k ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Mißfallen, o h n e a l l e s I n t e r e s s e . Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.
Was nichts anderes besagt, als daß der Gegenstand nur als reiner, nämlich von allem mit ihm möglichen Absehen freier Gegenstand seine höchste W ü r d e besitzt und daß darum diese seine Schönheit nur nach höchster Anstrengung des Menschen, nach Ausschaltung allen gewöhnlichen Interesses zum Vorschein kommt. Schopenhauers Philosophie mißdeutet nun diese Bestimmung, ästhetisches Verhalten sei „Wohlgefallen ohne alles Interesse", als Gleichgültigkeit, als Befreiung von der taumelnden Unrast des Willens zum Leben. 1027 In der reinen Anschauung der Natur oder derjenigen der aus dieser Anschauung hervorgehenden Kunst — sie befestigt das in der reinen Anschauung der Natur Angeschaute — werde die Welt als bloßes Objekt des Vorstellens erfahren. Wenn im ästhetischen Zustand der Musik — Gipfel der Betrachtung — der Wille selbst angeschaut werde, so in demjenigen der anderen, der bildenden und dichtenden Künste die in der Welt der Erscheinung verwirklichten platonischen Ideen, als welche die adäquate Objektität des Willens ausmachen sollen. 1028 In diesem Akt reiner Anschauung wird Schopenhauer zufolge somit das angeschaute Objekt von den Formen des Satzes vom Grunde und ineins damit als Subjekt sowohl von der Individualität als auch von der Dienstbarkeit des Willens freigesetzt, „indem es im angeschauten Gegenstand ganz aufgeht, dieser Gegenstand selbst" 1029 wird. Mag dies zunächst auch nur eine vorübergehende Freisetzung sein, so wird doch durch sie eine anhaltende dadurch vorbereitet, daß der Mensch sich in ihr unmittelbar inne [wird], daß er als solches die Bedingung, also der Träger der Welt und alles objektiven Daseins ist, da dieses nunmehr als von dem seinigen abhängig sich darstellt. Er zieht also die Natur in sich hinein, so daß er sie nur noch als ein Akzidenz seines Wesens empfindet.1030 Mag auch die Behauptung einer Unmittelbarkeit solchen Erkennens nicht einleuchten — nachdem es im angeschauten Gegenstand aufgegangen ist, muß sich das Subjekt wohl allererst selbst wieder „fassen", zu sich in einer höheren denn der gewöhnlichen Weise zurückkehren, ehe es denn die beschriebene Erkenntnis zu fassen vermag 1031 — so haben wir doch festzuhalten, daß in Schopenhauers Augen die reine Kontemplation der N a t u r und des schönen Scheins der Kunst den Schein der Welt als Schein und das Subjekt als dessen Bedingung entdeckt und daß in dieser zeitweiligen Erlösung vom Streben des Willens das Subjekt den Weg zu
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einer endgültigen Befreiung gewiesen sieht, die in Askese und Q u i e s z i e r u n g des Willens und schließlich auch im Mitleid statthaben kann. Nietzsche kritisiert n u n an diesen, wie S c h o p e n h a u e r vermeint, Kants Ansichten wiedergebenden Bestimmungen der Kunst, daß beide Philosophen gleich allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des Künstlers (des Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu visiren, allein vom „Zuschauer" aus über die Kunst und das Schöne nachgedacht hätten. U n d diese Kritik findet sich nicht erst in der „ G e n e a l o g i e der M o r a l " , der dieses Zitat e n t n o m m e n ist 1032 , sondern bereits im ästhetischen Ansatz der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " 1 0 3 3 u n d , n o c h deutlicher, in den A u s f ü h r u n g e n einer ihrer V o r s t u f e n , mit dem Titel „ D i e dionysische Weltanschauung". Nietzsche zeigt hier, d a ß allein im Ausgang vom künstlerischen S c h ö p f u n g s a k t sowohl die Wirk-lichkeit des Kunstwerkes als auch das W e s e n des „ R e z i p i e n t e n " zureichend e r f a ß t w e r d e n k a n n : während der Bildner uns durch den behauenen Marmor zu dem von ihm traumhaft geschauten l e b e n d i g e n Gotte führt, so daß die eigentlich als τέλος vorschwebende Gestalt sowohl dem Bildner als dem Zuschauer deutlich wird und der Erstere den Letzteren durch die M i t t e l g e s t a l t der Statue zum Nachschauen veranlaßt: so sieht der epische Dichter die gleiche lebendige Gestalt und will sie auch Anderen zum Anschauen vorführen. Aber er stellt keine Statue mehr zwischen sich und den Menschen: er erzählt vielmehr, wie jene Gestalt ihr Leben beweist, in Bewegung, Ton, Wort, Handlung, er zwingt uns eine Menge Wirkungen zur Ursache zurückzuführen, er nöthigt uns zu einer künstlerischen Komposition. Er hat sein Ziel erreicht, wenn wir die Gestalt oder die Gruppe oder das Bild deutlich vor uns sehen, wenn er uns jenen traumhaften Zustand mittheilt, in dem er selbst zuerst jene Vorstellungen erzeugte. Die Aufforderung des Epos zum p l a s t i s c h e n Schaffen beweist, wie absolut verschieden die Lyrik vom Epos ist, da jene niemals das Formen von Bildern als Ziel hat.1034 G e h t es Nietzsche zufolge in der Lyrik doch d a r u m , mit Hilfe der W o r t k l ä n g e einer musikalischen Gestimmtheit A u s d r u c k zu verleihen, d e m dionysischen Rauschzustand, wie er in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " sagt, 1035 w ä h r e n d in den plastischen Künsten der apollinische T r a u m z u s t a n d A u s g a n g u n d Ziel der Kunstbetätigung darstellt. Das Gemeinsame zwischen beiden [Epos und Lyrik] ist nur etwas Stoffliches, das Wort, noch allgemeiner der Begriff: wenn wir von Poesie reden, so haben wir damit keine Kategorie, die mit der bildenden Kunst und der Musik coordinirt wäre, sondern eine Conglutination von zwei in sich total verschiedenen Kunstmitteln, von denen das Eine einen Weg zur bildenden Kunst, das Andere einen Weg zur Musik bedeutet: beide aber sind nur W e g e zum Kunstschaffen, nicht Künste selbst. In diesem Sinne sind natürlich auch Malerei und Skulptur nur Kunstmittel: die eigentliche
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Voraussetzungen K u n s t ist das E r s c h a f f e n k ö n n e n von Bildern, gleichgültig ob dies d a s V o r - s c h a f f e n o d e r N a c h - s c h a f f e n ist. 1 0 3 6
D a s K u n s t w e r k wird im Rezeptionsakt mithin in der Weise wirk-lich, daß es den „ W i l l e n " des Rezipienten z u m N a c h s c h a f f e n des V o r g e s c h a f f e n e n , z u m N a c h s c h a f f e n des dem Künstler bei seinem S c h a f f e n vorschwebenden τ έ λ ο ς stimuliert. Diese Wirk-lichkeit macht sein Wesen aus (so daß „ W e s e n " hier im verbalen Sinne verstanden werden kann). D e n n die Kunstwerke sind f ü r Nietzsche nur Kunstmittel, um den Rezipienten in den schöpferischen Zustand, als welcher eigentlich die K u n s t ist, versetzen zu können. Sie sind nichts als Zeichen, die diesen Zustand übermitteln. S o daß sie keine Wirklichkeit nachahmen, sondern eine Wirklichkeit bewirken: den schöpferischen Z u s t a n d : A u f dieser E i g e n s c h a f t — einer allgemein menschlichen — beruht die Kulturbedeutung
der
Kunst.
Der
Künstler
—
als
der
durch
Kunstmittel z u r K u n s t nöthigende — kann nicht zugleich das a u f s a u g e n d e O r g a n der K u n s t b e t h ä t i g u n g sein. 1 0 3 7
D e n schöpferischen Zustand versteht Nietzsche aber als Zustand höchster Gegenwärtigkeit des Lebens, als Rausch- oder T r a u m z u s t a n d . Wir meinen, daß auch ohne einen V o r g r i f f auf die im nächsten Kapitel anstehende A u s l e g u n g dieser B e g r i f f e klar sein dürfte, w a r u m Nietzsche die „ K u n s t als das Jubelfest des Willens" 1 0 3 8 und keineswegs als Zustand bloßer Kontemplation und d. h. „Willenslosigkeit" auffaßt — w o v o n , was Nietzsche j e d o c h nicht weiß, auch K a n t nichts weiß. Es ist dies eine V e r k e h r u n g der Schopenhauerischen Kunstauslegung, welche mit N o t w e n digkeit aus Nietzsches grundsätzlicher V e r k e h r u n g der Schopenhauerischen Verkehrtheit eines Pessimismus der Schwäche in einen solchen der Stärke f o l g t : Wenn in allem, was ist, sich der Wille z u m Leben will, dann ist es, so schließt Nietzsche, gemäß dieser V o r a u s s e t z u n g „ u n l o g i s c h " , daß eine Befreiung von solchem Wollen möglich sein soll 1 0 3 9 — aber wenn sie schon möglich sein soll, dann gewiß nicht in jenem Akt, in dem sich der Mensch schöpferisch, d. h. in höchstem Maße lebensbejahend betätigt. N u r gelegentlich finden sich in Nietzsches N o t i z h e f t e n auch Auslegungen der K u n s t v o m Schopenhauerischen Ansatz her — als bald wieder verworfene Gedankenexperimente. Die nachfolgende A u f z e i c h n u n g v o m S o m m e r — H e r b s t 1873 ist aber deshalb von großer Bedeutung, weil sie erneut deutlich macht, daß in Nietzsches Philosophie, soweit sie D e n k - W e r k zu sein beansprucht, der moralische Anspruch der von ihm b e k ä m p f t e n Metaphysik fortwirkt. Meint das zunächst auch seinen Begriff von „ M e t a p h y s i k " , so muß doch, wie der spätere Versuch einer Er-läuterung der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " zeigen wird, ebenso nach unserem Verständnis von Metaphysik das Verdienst einer U b e r w i n d u n g derselben jenen Bereichen der Nietzscheschen Philosophie zugesprochen werden, in
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denen sie der Erfahrung des Künstlers nachdenkt und die Welt nicht mehr als begründbaren Schein betrachtet: Wie ist nur die Kunst als Lüge möglich! Mein Auge, geschlossen, sieht in sich zahllose wechselnde Bilder — diese producirt die Phantasie und ich weiss dass sie der Realität nicht entsprechen. Also ich glaube ihnen nur als Bildern, nicht als Realitäten. Oberflächen Formen. Kunst enthält die Freude, durch Oberflächen Glauben zu erwecken: aber man wird ja nicht getäuscht? Dann hörte ja die Kunst auf! Die Kunst legt es doch auf eine Täuschung ab — aber wir werden nicht getäuscht? W o h e r die Lust an der versuchten Täuschung, an dem Schein, der immer als Schein erkannt wird? Kunst behandelt also den S c h e i n a l s S c h e i n , will also gerade n i c h t täuschen, i s t w a h r . Das reine begierdenlose Betrachten ist nur an dem Scheine möglich, der als Schein erkannt wird, der gar nicht zum Glauben verführen will und insofern unsern Willen gar nicht anregt. N u r der, der die ganze Welt a l s S c h e i n betrachten könnte, wäre im Stande, sie begierden- und trieblos anzusehen — Künstler und Philosoph. Hier hört der Trieb auf. So lange man Wahrheit an der Welt sucht, steht man unter der Herrschaft des Triebes: der aber will L u s t und nicht Wahrheit, er will den Glauben an die Wahrheit, also die Lustwirkungen dieses Glaubens.
D i e W e l t als S c h e i n — Heiliger Künstler Philosoph.1040 Ausgehend vom — wie Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" sagt — „Kunsttrieb" des Tagträumens, dessen Bildprodukte — im Hinblick auf das gesellschaftlich sanktionierte „starre und regelmässige Begriffsgespinnst" 1041 — als scheinhaft erkannt werden, glaubt Nietzsche in dieser Aufzeichnung der Kunst nur insofern Wahrheit zusprechen zu können, als sie den Schein als Schein behandelt, als sie sagt: „ich lüge". Und nur, wenn sie solches sagt, vermöchte sie danach den Intellekt von der Herrschaft des Willens zu erlösen, wie es das Ziel des Heiligen oder des christlich-metaphysischen Philosophen ist. Doch begreift sich denn, wie Nietzsche hier behauptet, die Kunst tatsächlich als lügnerisch? Erfährt sie selber sich nicht gerade — man denke an die von Nietzsche in „Ueber Wahrheit und Lüge" geschilderten Griechen, die ihre Götter tatsächlich gesehen haben sollen 1042 — als zuhöchst wirklich? Wurde nicht gerade deswegen in der ersten grundsätzlichen Besinnung auf die Kunst, die das Abendland kennt, im 10. Buch von Piatons „Politeia" (595 ff.), vorgeschlagen, sie aus der πόλις, dem Wesensbereich der menschlichen Gemeinschaft, auszuschließen? Mit der Begründung nämlich, daß ihr selbstgenügsamer Schein so sehr zu sich selbst verführt, daß sie den Blick des Menschen für den Unterschied von Wahrheit und Schein verschließt und damit die παιδεία, die bildende
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Voraussetzungen
W e s e n s p r ä g u n g , v e r h i n d e r t ? U n d b e r u h t d e n n nicht ihre F ä h i g k e i t ,
das
L e b e n z u s t i m u l i e r e n , g e r a d e d a r a u f , d a ß sie e b e n nicht s a g t : „ i c h l ü g e " ? Liegt
denn
nicht
gerade
in
der
Behauptung
ihrer
Wirklichkeit
ihre
e i g e n t l i c h e W i r k - l i c h k e i t , ihre F r u c h t b a r k e i t u n d d a m i t , g e m ä ß N i e t z s c h e s U m d r e h u n g des Piatonismus ( „ j e weiter ab v o m w a h r h a f t Seienden, u m so r e i n e r s c h ö n e r b e s s e r ist es. D a s L e b e n im S c h e i n als Z i e l " ) , ihre e i g e n t l i c h e Wahrheit? N i e t z s c h e w e i ß d a s u n d er b e j a h t es — i n d e s n i c h t u n e i n g e s c h r ä n k t . Auch
der
Schluß
seiner
Abhandlung
„Ueber
Wahrheit
und
Lüge
im
a u s s e r m o r a l i s c h e n S i n n e " k ü n d e t v o n d e n z w e i S e e l e n in s e i n e r B r u s t , d e r e r k e n n e n d e n , d i e sich d e r m o r a l i s c h - m e t a p h y s i s c h e n T r a d i t i o n v e r p f l i c h t e t w e i ß , u n d d e r k ü n s t l e r i s c h e n 1 0 4 3 — d e r „ i n t u i t i v e n " , w i e N i e t z s c h e hier sagt — , welche jenen beiden, erkennender Seele und moralisch-metaphysischer Tradition, widerstreitet: Es giebt Zeitalter, in denen der vernünftige Mensch und der intuitive Mensch neben einander stehen, der eine in Angst vor der Intuition, der andere mit H o h n über die Abstraction; der letztere eben so unvernünftig, als der erstere unkünstlerisch ist. Beide begehren über das Leben zu herrschen: dieser, indem er durch V o r s o r g e , Klugheit, Regelmässigkeit den hauptsächlichsten Nöthen zu begegnen weiss, jener indem er als ein „überfroher H e l d " jene N ö t h e nicht sieht und nur das zum Schein und zur Schönheit verstellte Leben als real nimmt. W o einmal der intuitive Mensch, etwa wie im älteren Griechenland seine W a f f e n gewaltiger und siegreicher führt, als sein Widerspiel, kann sich günstigen Falls eine Kultur gestalten, und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen; jene Verstellung, jenes Verläugnen der Bedürftigkeit, jener G l a n z der metaphorischen Anschauungen und überhaupt jene Unmittelbarkeit der T ä u s c h u n g begleitet alle Aeusserungen eines solchen Lebens. Weder das H a u s , noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der thönerne K r u g verrathen, dass die N o t h d u r f t sie erfand; es scheint so als ob in ihnen allen ein erhabenes G l ü c k und eine olympische Wolkenlosigkeit und gleichsam ein Spielen mit dem Ernste ausgesprochen werden sollte. 1044 K u l t u r als v e r b e s s e r t e P h y s i s läßt sich allein a u f d i e K u n s t d e s K ü n s t l e r s g r ü n d e n — d o c h nicht allein d a r u m e r s c h e i n t er N i e t z s c h e als d e r h ö h e r e T y p u s g e g e n ü b e r d e m W i s s e n s c h a f t l e r : E r ist a u c h d e r l e b e n s k r ä f t i g e r e v o n beiden. Während der von Begriffen und Abstractionen geleitete Mensch durch diese das U n g l ü c k nur abwehrt, ohne selbst aus den Abstraktionen sich Glück zu erzwingen, während er nach möglichster Freiheit von Schmerzen trachtet, erntet der intuitive Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intuitionen, ausser der Abwehr des Uebels eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung. Freilich leidet er heftiger, w e n n er leidet; ja er leidet auch öfter, weil er aus der Erfahrung nicht zu lernen versteht und immer wieder in dieselbe Grube fällt, in die er
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einmal gefallen. Im Leide ist er dann ebenso unvernünftig wie im Glück, er schreit laut und hat keinen Trost. Denn er will nicht sehen, daß der Welt-Schein seiner Kunst nichts als eine Schein-Welt ist. Anders der Wissenschaftler und Logiker, der stoische, an der Erfahrung belehrte, durch Begriffe sich beherrschende Mensch [ . . . ] Er, der sonst nur Aufrichtigkeit, Wahrheit, Freiheit von Täuschungen und Schutz vor berückenden Ueberfällen sucht, legt jetzt, im Unglück, das Meisterstück der Verstellung ab, wie jener im Glück; er trägt kein zuckendes und bewegliches Menschengesicht, sondern gleichsam eine Maske mit würdigem Gleichmaasse der Züge, er schreit nicht und verändert nicht einmal seine Stimme.1045 Der erkennende Mensch ist der eigentlich moralische Mensch — und dies nicht allein deswegen, weil er sich auf das von Demokrit aufgebrachte, von den Epikuräern, den Skeptikern und der späteren Stoa gleichermaßen gepflegte Ideal der ά τ α ρ α ξ ί α verpflichtet hat, sondern vor allem aus dem Grund, daß er die gesellschaftlichen Konventionen und Tugenden zu wahren bestrebt ist, zu denen nicht zuletzt, so wissen wir, „eine moralische auf Wahrheit sich beziehende Regung" 1 0 4 6 zählt. Mag sein daraus erwachsendes Streben nach Wahrheit auch nicht so weit gehen, daß er den Begriff der Wahrheit selber und mit ihm das ganze gesellschaftliche Begriffssystem als Lüge durchschaut, so reicht es doch aus, um jenes gute Gewissen für sich beanspruchen zu können, das den Künstlern Nietzsche zufolge abgeht: sie können über den Charakter des Daseins nur auf kurze Zeit sich und andre täuschen — diese Täuschung ist ja das Wesen der Kunst —, aber dafür rächt sich an ihnen auch fortwährend das böse Gewissen und Wissen aller Künstler, wie sie den Dingen eine Larve mit reineren, freieren Zügen aufsetzen wollen, die immer wieder herabfallen muss. 1047 Indes — woher soll dieses schlechte Gewissen der Künstler rühren, wenn sie, wie Nietzsche doch selber ausführt, den Schein der von ihnen geschaffenen Kunstwerke für wahr halten, nämlich als Wahr-Schein ansehen und ausgeben? Mehr noch, so fragen wir weiter, widerspricht Nietzsche hier nicht seinem eigenen kunstphilosophischen Ansatz, der das Leben im Schein als Ziel erklärt und das von der metaphysischen Tradition oktroyierte schlechte Kunst-Gewissen zu überwinden sucht? In der Tat: Nietzsche fällt hier auf die Position der moralisch-metaphysischen Weltverhaltung zurück. So ist das schlechte Gewissen, von dem er oben spricht, nicht dasjenige der Künstler, sondern sein eigenes, das ihn, der er Künstler und Erkennender zugleich ist, immer dann überkommt, wenn er dem amoralischen Künstlerwillen zum Aufgehen im Schein nachgibt und das moralische Streben nach Unterscheidung von Wahrheit und Schein hinter sich läßt; wie dies vor allem gegen Ende der frühen Epoche der Artisten-Metaphysik der Fall gewesen ist: die oben zitierte Passage stammt aus einer im Frühjahr oder
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Voraussetzungen
S o m m e r 1875, k u r z n a c h d e r V e r ö f f e n t l i c h u n g v o n „ S c h o p e n h a u e r als E r z i e h e r " , e n t s t a n d e n e n A u f z e i c h n u n g , in d e r N i e t z s c h e , wie w i r s p ä t e r z e i g e n w e r d e n , die G ü l t i g k e i t v o n z e n t r a l e n G e d a n k e n d e r „ G e b u r t d e r T r a g ö d i e " e i n s c h r ä n k t (wobei sich diese E i n s c h r ä n k u n g e n v o n e i n e m g e n a u e n Leser aber s c h o n in d e r „ G e b u r t d e r T r a g ö d i e " selber f i n d e n lassen). N i e t z s c h e s G r u n d e i n s i c h t , d a ß sich P h i l o s o p h i e u n d L e b e n n u r im einigen W i d e r s t r e i t v o n K u n s t u n d E r k e n n t n i s vollziehen, ist mithin a u c h als Selbstauslegung zu v e r s t e h e n . W e n n es a u c h richtig ist, d a ß es — w a s so ebenfalls schon in N i e t z s c h e s p h i l o s o p h i s c h e r Erstlingsschrift z u f i n d e n ist — K u n s t n u r gibt, weil „alles D a s e i n ein unästhetisches böses u n d ernstes P h ä n o m e n ist" 1 0 4 8 — w o r a n d e r K ü n s t l e r so tief leidet, d a ß er als G e g e n f a r b e das S c h ö n e zu s c h a f f e n g e n ö t i g t ist — , so f o l g t d a r a u s d o c h keineswegs — was N i e t z s c h e im W i d e r s p r u c h zu a n d e r e n A u s f ü h r u n g e n ebenfalls i m m e r w i e d e r b e h a u p t e t — , d a ß er d e s w e g e n a u c h schon den Schein d e r K u n s t als Schein w e i ß : Dieses W i s s e n k o m m t u n t e r den K ü n s t l e r n allein d e m j e n i g e n z u , d e r zugleich a u c h E r k e n n e n d e r ist, beispielsweise d e m K u n s t - u n d K ü n s t l e r P h i l o s o p h e n Friedrich N i e t z s c h e . Allein ein w i s s e n d e r P o e t wie er k a n n das verzweifelnde und zugleich triumphierende W o r t ausrufen: „ N u r N a r r ! N u r Dichter T r i u m p h i e r e n d ist dieses W o r t nicht z u l e t z t d e s w e g e n , weil die K u n s t , wie N i e t z s c h e s c h o n im W i n t e r 1 8 6 9 / 7 0 — F r ü h j a h r 1870 schreibt 1 0 5 0 , als „ d i e stärkste V e r f ü h r e r i n z u m L e b e n " a n g e s e h e n w e r d e n m u ß — i h r e r S c h ö n h e i t w e g e n , als w e l c h e die F o r m ist, in der ein Ding unter einer Wahnvorstellung erscheint ζ. B. die Geliebte etc.1051 D a r a u s f o l g t aber, d a ß die K u n s t die F o r m ist, in der die Welt unter der Wahnvorstellung ihrer Nothwendigkeit erscheint. 1052 E b e n d e s w e g e n erscheint sie N i e t z s c h e in h ö c h s t e m M a ß e als v e r d ä c h t i g , o b w o h l er andererseits a u c h weiß, d a ß das Leben e b e n s o s e h r wie v o n d e m Willen zur Erkenntnis vom W u n s c h nach Unbewußtheit und Vergessen g e t r i e b e n w i r d — p o l a r g e s p a n n t , m a n k a n n a u c h s a g e n : in sich zerissen, wie es seiner Ansicht n a c h ist, liegen f ü r das Leben in allen D i n g e n u n d H a n d l u n g e n g l e i c h e r m a ß e n N u t z e n wie N a c h t e i l beschlossen. Die Wahnvorstellungen: wer sie durchschaut, hat nur die Kunst zum Trost. Das Durchdringen ist jetzt für die Freigeister Nothwendigkeit: wie sich dazu die Menge verhält, ist nicht zu errathen. Genug, daß w i r die Kunst brauchen: wir wollen sie durch alle Mittel, nöthigenfalls im Kampfe. 1053 N i e t z s c h e b r a u c h t die K u n s t , g e n a u e r : die tragische K u n s t , z u d e r er j e t z t n o c h v o r allem die W a g n e r s c h e n W e r k e z ä h l t , z u m einen als „ H e i l m i t t e l d e r E r k e n n t n i ß " 1 0 5 4 , z u m a n d e r e n aber als Hilfsmittel f ü r eine kulturelle
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Erneuerung. In dem Maße aber, als er erkennt, daß er die Parole seiner Philosophie des umgedrehten Piatonismus: „ D a s Leben im Schein als Ziel" zu früh, nämlich vor dem Zerstören der überkommenen Strukturen, zu verwirklichen gesucht hat, in dem Maße also, als er sich entschließt, nunmehr kompromißlos g e g e n sich und andere die Frage zu stellen, wie weit die Dinge eine unabänderliche Artung und Gestaltung haben: um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die V e r b e s s e r u n g der als veränderlich e r k a n n t e n S e i t e d e r W e l t loszugehen. 1055 , in dem Maße mahnt er schließlich nicht nur „Richard W a g n e r in Bayreuth": die Kunst ist nicht für den Kampf selber da, sondern für die Ruhepausen vorher und inmitten desselben 1056 . Denn: Die Kämpfe, welche sie zeigt, sind Vereinfachungen der wirklichen Kämpfe des Lebens; ihre Probleme sind Abkürzungen der unendlich verwickelten Rechnung des menschlichen Handelns und Wollens. Aber gerade darin liegt die Grösse und Unentbehrlichkeit der Kunst, dass sie den S c h e i n einer einfacheren Welt, einer kürzeren Lösung der Lebens-Räthsel erregt. Niemand, der am Leben leidet, kann diesen Schein entbehren, wie Niemand des Schlafes entbehren kann. Je schwieriger die Erkenntniss von den Gesetzen des Lebens wird, um so inbrünstiger begehren wir nach dem Scheine jener Vereinfachung, wenn auch nur für Augenblicke, um so grösser wird die Spannung zwischen der allgemeinen Erkenntniss der Dinge und dem geistig-sittlichen Vermögen des Einzelnen. D a m i t d e r B o g e n n i c h t b r e c h e , ist die Kunst da.1057 Auf deutsch: zur Entspannung . . . — Mit der Prägnanz späterer Zeiten — die nachfolgende A u f z e i c h n u n g stammt aus dem Frühjahr 1884 — nicht nur dieses Kapitel, sondern unsere gesamten bisherigen Ausführungen zusammengefaßt, die man umgekehrt auch ihre Auslegung nennen könnte: Diese perspektivische Welt, diese Welt für das Auge, Getast und Ohr ist sehr falsch, verglichen schon für einen sehr viel feineren Sinnen-Apparat. Aber ihre Verständlichkeit Übersichtlichkeit, ihre Praktikabilität, ihre Schönheit beginnt a u f z u h ö r e n , wenn wir unsere Sinne v e r f e i n e r n : ebenso hört die Schönheit auf, beim Durchdenken von Vorgängen der Geschichte; die Ordnung des Z w e c k s ist schon eine Illusion. Genug, je oberflächlicher und gröber zusammenfassend, um so w e r t h v o l l e r , bestimmter, schöner, bedeutungsvoller e r s c h e i n t die Welt. Je tiefer man hineinsieht, um so mehr verschwindet unsere Werthschätzung — die B e d e u t u n g s l o s i g k e i t n a h t s i c h ! W i r haben die Welt, welche Werth hat, geschaffen! Dies erkennend erkennen wir auch, daß die Verehrung der Wahrheit schon die F o l g e einer Illusion ist — und daß man mehr als sie die bildende, vereinfachende, gestaltende, erdichtende Kraft zu schätzen hat — was Gott war
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Voraussetzungen „AHes ist f a l s c h ! Alles ist e r l a u b t ! " E r s t bei einer gewissen S t u m p f h e i t des Blicks, einem Willen z u r Einfachheit stellt sich das „ S c h ö n e " , das „ W e r t h v o l l e " ein: an sich ist es, ich weiß nicht was.1058
V o n dieser Erkenntnis bereits bewegt, zeichnet Nietzsche im Sommer 1872—Anfang 1873 die verzweiflungsvollen Sätze auf: Gegenmittel gegen die Wissenschaft? Wo? D i e Kultur als Gegenmittel. U m f ü r sie empfänglich zu sein, muß m a n das U n g e n ü g e n d e der W i s s e n s c h a f t erkannt haben. T r a g i s c h e R e s i g n a t i o n . G o t t weiß, w a s d a s f ü r eine K u l t u r wird! Sie f ä n g t von hinten an! 1 0 5 9
V o n hinten — das heißt von dort aus, wohin die am Beginn der abendländischen Tradition stehende griechische Kultur entartet ist, vom Sokratismus, der rein wissenschaftlichen „ K u l t u r " , aus. Diese geschichtliche Verfallsbewegung umzukehren, das abendländische Denken in eine Richtung „ u m z u d r e h e n " , in die es allenfalls in jenen Anfängen — und wenn, dann auch da nur kurzfristig, bei Heraklit nämlich 1 0 6 0 — geblickt hat, das ist die Aufgabe, vor die sich der Philosoph unserer Epoche gestellt sieht. Auch für ihn gilt aber: E s sind die Zeiten g r o ß e r G e f a h r , in denen die Philosophen erscheinen — dann wenn das R a d immer schneller rollt — sie und die K u n s t treten an Stelle des verschwindenden Mythus. Sie werden aber weit v o r a u s g e w o r f e n , weil die A u f m e r k s a m k e i t der Z e i t g e n o s s e n erst l a n g s a m ihnen sich zuwendet.
Ein Volk, das sich seiner Gefahr bewußt wird, erzeugt den Genius.1061 S o schreibt Nietzsche im Sommer 1872—Anfang 1873, zu einer Zeit also, da er sich seine Lebensaufgabe, jener letzte Philosoph zu sein, unter Schmerzen zugedacht hat. Daß dieser Prozeß für ihn gleichzeitig aber auch höchstes Glück in sich birgt, weil er in ihm wird, was er ist, davon kündet ein Brief, den er am 29.3. 1871 an seinen Freund Erwin Rohde schreibt. Unter Anspielung auf jene Studien, Aufzeichnungen und Aufsätze, die schließlich zur „ G e b u r t der T r a g ö d i e " und den Vorträgen „ U e b e r die Zukunft unserer Bildungsanstalten" führen werden, bemerkt Nietzsche: V o n der Philologie lebe ich in einer übermüthigen E n t f r e m d u n g , die sich schlimmer g a r nicht denken läßt. [ . . . ] S o lebe ich mich allmählich in mein Philosophenthum hinein und g l a u b e bereits an mich; ja wenn ich noch z u m Dichter werden sollte, so bin ich selbst hierauf gefaßt. Einen K o m p a ß der Erkenntniß, w o z u ich bestimmt sei, besitze ich g a n z und g a r nicht [ . . . ] W e l c h e E m p f i n d u n g , seine eigne Welt, einen hübschen Ball, v o r sich rund und voll werden z u sehn! Bald sehe ich ein S t ü c k neuer M e t a p h y s i k , bald eine neue Aesthetik w a c h s e n : d a n n wieder beschäftigt mich ein neues Erziehungsprincip mit völliger V e r w e r f u n g unserer G y m n a s i e n und Universitäten. Ich lerne bereits nichts mehr, w a s nicht s o f o r t in irgend einem Winkel des V o r h a n d e n e n einen guten P l a t z vorfindet. 1 0 6 2
Nietzsches Kunst-Philosophie
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Nietzsche ist somit im Begriff einzulösen, was er in seiner Baseler Antrittsvorlesung „ H o m e r und die klassische Philologie" 1063 am 28. 5. 1869 als sein ,Glaubensbekenntniss' bezeichnet hat: „ p h i l o s o p h i a f a c t a est q u a e philologia f u i t . "
Die Not unserer Zeit ist groß — doch sollte sich das Volk seiner Gefahren tatsächlich bewußt geworden sein?
Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
1. „ Vielleicht finde ich aber einmal einen philologischen Stoff, der sich musikalisch behandeln läßt": Das methodische Gepräge der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" Nietzsches philosophische Erstlingsschrift zeigt, wie Eugen Fink bemerkt, „ein seltsames und schwer durchschaubares methodisches Gepräge" 1 : Im Gewände psychologisierender Ästhetik bietet sie einen philosophischen Grundgedanken dar — und will doch auch als eine die Grenze zur Dichtung überschreitende philologische Schrift verstanden werden, so daß dieses W e r k dem entspricht, was Nietzsche als das Wesen der Philosophie bestimmt hat, nämlich in sich den Kampf zwischen Kunst und Erkenntnis auszutragen. Gesprochen mit einem Bild dieser Schrift: Sie ist das Werk eines musiktreibenden Sokrates. So schreibt Nietzsche in einem Brief an seinen Lehrer Friedrich Ritsehl am 12. 8. 1872 über das Pamphlet „Zukunftsphilologie", in dem Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf den „Tragödiengeburtsphilologen" und WagnerFreund scharf angegriffen hat, sowie über die geplante Zurückweisung desselben durch seinen Freund, den außerordentlichen Professor der Philologie, Erwin Rohde: ich, als Philologe, wehre mich meiner Haut: m i c h will man nicht als P h i l o l o g e n gelten lassen; und deshalb vertritt Rohde mich, den Philologen.— 2
Rohde sollte geben, was die Schrift selber nicht lieferte, Angaben der Quellen und der Sekundärliteratur. Doch schon dieses Fehlen des philologischen Apparates, ein grober Verstoß gegen die Diskursregeln der Disziplin, offenbart, daß sie keineswegs in der Philologie ihren tiefsten Ursprung hat: „philosophia facta est quae philologia fuit" — von der Ebene der philologischen Fabrikarbeiter, welche „Staub [ . . . ] berufsmäßig also mit Würde schlucken" 3 ist er auf jene der „Gesetzgeber für Maass, Münze und Gewicht der Dinge" 4 gewechselt. Doch obwohl er sich bereits im Frühjahr 1871 mit einer Vorstufe dieser Schrift um den an seiner Universität frei gewordenen Lehrstuhl für Philosophie bewerben wollte 5 , gesteht er sich
Das methodische Gepräge der „Geburt der Tragödie"
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jenen Schritt erst im November 1872 ein. (Dieser Widerstreit zwischen zurückhaltendem Zaudern und lautem Bekennen sollte sich sein lebelang wiederholen.) Unter dem deprimierenden Eindruck, „der anstößigste Philologe des Tages zu sein", schreibt er am Siebten jenes Monats an Malwida von Meysenbug: Im Grunde ist es ja eine Verwechslung; ich habe nicht für Philologen geschrieben, obwohl diese — wenn sie nur k ö n n t e n — mancherlei selbst Rein-Philologisches aus meiner Schrift zu lernen vermöchten.6 Vierzehn Jahre nach dem Erscheinen der Schrift bedauert er gar, daß er das, was er zu sagen wußte, nicht als Philologe gesagt hat: bleibt doch auch heute noch für den Philologen auf diesem Gebiete beinahe Alles zu entdecken und auszugraben! Vor allem das Problem, d a s s hier ein Problem vorliegt, — und dass die Griechen, solange wir keine Antwort auf die Frage „was ist dionysisch?" haben, nach wie vor gänzlich unerkannt und unvorstellbar sind . . . Aber er bedauert dabei nur, daß er nicht „mindestens als Philologe" problematisierte, was er nicht als Dichter zu singen wagte — ebenweil er damals doch noch zu sehr Philologe war: Sie hätte s i n g e n sollen, diese „neue Seele" — und nicht reden!7 V o n ihrem neuen Gott Dionysos nämlich, wie im „Versuch einer Selbstkritik" der „Geburt der Tragödie" der inzwischen zum Dichter-Philosophen Gereifte beklagt. Als solchen hatte sich Nietzsche bereits ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung der Schrift entworfen, wenn er als „ N a t u r b e s c h r e i b u n g d e s P h i l o s o p h e n " , wie erinnerlich, aufzeichnete: „ E r erkennt, indem er dichtet, und dichtet, indem er erkennt." 8 „Sie hätte s i n g e n sollen, diese ,neue Seele' — und nicht reden!": das meint, wie Nietzsche selber sagt, daß sie „mit Mühsal und willkürlich, fast unschlüssig darüber, ob sie sich mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in einer fremden Zunge stammelt[e]". 9 Stammelte, weil sie in die Zunge des Gelehrten, des Wagnerianers und Schopenhauerianers verfälschend übersetzte, was sie zunächst als „eine m u s i k a l i s c h e S t i m m u n g " 1 0 empfand. Denn die „Geburt der Tragödie" ist, was sie beschreibt: eine Geburt aus dem Geiste der Musik. Das behauptet auch der Verfasser, wenn er sich in der rückblickenden Selbstkritik des Jahres 1886 der Entstehung des Buches erinnert: Wohl habe er den Kern desselben in den Alpen unter dem „ D o n n e r der Schlacht von Wörth" 1 1 niedergeschrieben — weiland war bereits ein anderer Philosoph unter dem Donner von Kanonen, denen von Jena, zum absoluten Wissen gekommen —, doch erst „in jenem Monat tiefster Spannung, als man in Versailles über den Frieden berieth", da er, nach kurzem Sanitätsdienst, „unter den Mauern von Metz", „auch mit sich zum Frieden k a m " und „von einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit" genas, erst da habe er „die
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
,Geburt der Tragödie aus dem Geiste der M u s i k ' letztgültig bei sich festgestellt.. ,]" 12 . Das Buch habe so „ ,Musik' f ü r Solche [sein wollen], die auf Musik getauft [sind]" 13 — der Text selbst nennt entsprechend als seine Adressaten diejenigen [...], die, unmittelbar verwandt mit der Musik, in ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit den Dingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in Verbindung stehen14 —: so daß es seine H e r k u n f t nicht nur bedacht, sondern auch übertragen und somit den eigenen Gedanken von der Prävalenz des Klanges der Sprache vor deren Bedeutung entsprochen hätte. Wie dieses schließlich in höchster Vollendung die in ihrer Mehrzahl zwei Jahre nach jenem Vorwort entstandenen „Dionysos-Dithyramben" tun sollten, in denen das Druckbild — wie in allen nachwagnerschen Schriften fällt bereits „dem ersten Blick die Häufigkeit und Vielfalt der phrasierenden Interpunktionen, Frage- und Ausrufezeichen, Gedankenstriche, Doppelpunkte und auslaufenden Punkte, Sperrungen" ins Auge — als „eine Art Partitur" angesehen werden muß, „die auf akustische Realisierung angewiesen ist" 15 . Aber entgegen jenem Vorhaben hat die Schrift nicht gesungen, sondern geredet — „schwerfällig, peinlich, bilderwüthig und bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo" 1 6 —, nämlich geredet nach dem Vorbild der „poetisierenden" Musikhermeneutik der Romantik, wie der Vergleich mit Ε. T. A. H o f f m a n n s berühmter Rezension von Beethovens Fünfter Symphonie und mit den „Phantasien über die Kunst" von Wackenroder und Tieck lehren könnte. Daß aber diese Art des musikalischen Sprechens, eines Sprechens mehr über als mit Musik, seinem damaligen Stil-Ideal nicht fern gelegen hat, kann die nachfolgende Passage eines Briefes lehren, den Nietzsche am 2. 7. 1868 an Sophie Ritsehl, die Frau seines Lehrers, aus Anlaß seiner Lektüre von Louis Ehlerts „Briefen über Musik an eine Freundin" 1 7 geschrieben hat. Er kann als weiteres Zeugnis dafür dienen, mit welcher Klarheit Nietzsche seine Zukunft immer wieder voraussehen konnte, weil er — gemäß seinem Leitspruch γένοι' οίος έσσί — der Stimme seines Selbst, seiner denkerischen Bestimmung hörig war: Böse Menschen könnten sagen, daß das Buch aufgeregt und schlecht geschrieben sei. Aber das Buch eines Musikers ist eben nicht das Buch eines Augenmenschen; im Grunde ist es Musik, die zufällig nicht mit N o t e n , sondern mit Worten geschrieben ist. Ein Maler muß die peinlichste Empfindung bei diesem Bildertrödel haben, der ohne jede Methode zusammengeschleppt ist. Aber ich habe leider N e i g u n g für das pariser Feuilleton, für Heines Reisebilder usw. und esse ein Ragout lieber als einen Rinderbraten. Was hat es mich für Mühe gekostet, ein wissenschaftliches Gesicht zu machen um nüchterne Gedankenfolgen mit der nöthigen D e z e n z und alia breve niederzuschreiben. [ . . . ] Vielleicht finde ich aber
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Das methodische Gepräge der „Geburt der Tragödie"
einmal einen philologischen S t o f f , der sich musikalisch behänden [sie] läßt, und dann werde ich stammeln w i e ein Säugling und Bilder häufen, w i e ein Barbar, der v o r einem antiken V e n u s k o p f e einschläft, und trotz der „blühenden Eile" der Darstellung — Recht haben. 1 8
Es wäre fatal, wollte man diese stilistische Nähe zur Romantik als beiherspielend abtun, ist sie doch Ausfluß der — von Nietzsche selber später erkannten und beklagten — Übersetzung seines Denkens ins Romantische, 19 der Uberführung seines denkerischen Ortes in den von der traditionellen Metaphysik aufbereiteten Bereich, für den „Romantik" als Bezeichnung einer im Wesen christlichen Lebensverhaltung 20 nur ein anderes W o r t ist. Eine „ I d e e " — der G e g e n s a t z Metaphysische übersetzt 2 1 ,
dionysisch
und
apollinisch
—
ins
das ist laut „Ecce h o m o " der Inhalt der Schrift. Woraus erhellt, daß die Gewinnung des stilistischen Selbst mit der Erstreitung des denkerischen Selbst einherzugehen hatte: Nicht nur gab die sprachliche Fassung des „Geistes der Musik", des Dionysischen, keine Übertragung 2 2 desselben, auch ihre Übersetzung war diesem nicht adäquat — und dies vor allem darum, weil er jenen Geist fälschlicherweise mit dem Geist der Wagnerschen Musik gleichsetzte. So schreibt Nietzsche am 21. 12. 1871 — er korrigiert noch an den Fahnen der „Geburt der Tragödie" — an Rohde über ein Konzert vom Vortage in Mannheim, in dem Wagner vor allem Eigenkompositionen dirigiert hat: Mir g i e n g (es) w i e einem, d e m eine A h n u n g sich endlich erfüllt. D e n n genau das ist Musik und nichts sonst! U n d genau das meine ich mit dem W o r t „Musik", w e n n ich das D i o n y s i s c h e schildere, und nichts sonst! 2 3
In „Ecce h o m o " erläutert Nietzsche diese Gleichsetzung „psychologisch" dann dahingehend, dass was ich in jungen Jahren bei Wagnerischer Musik gehört habe, N i c h t s überhaupt mit W a g n e r zu thun hat; dass w e n n ich die dionysische Musik beschrieb, ich das beschrieb, w a s i c h gehört hatte, — dass ich instinktiv Alles in den neuen Geist übersetzen und transfiguriren musste, den ich in mir trug. 24
Formelhaft gesprochen: Nietzsche konnte das Dionysische in das Romantische übersetzen — den Geist der Musik romantisch poetisierend zur Sprache bringen —, weil er vorab das Romantische in das Dionysische, den Pessimismus der Schwäche in den Pessimismus der Stärke übersetzte. D a ß letzteres mehr oder minder unbewußt geschah, zeigt, daß Nietzsche sich selbst noch nicht begriffen hatte, zum Teil auch nicht begreifen wollte — um der Freundschaft mit Wagner willen, die nur noch einseitige Sternenfreundschaft sein konnte, als Nietzsche das in der „Geburt der Tragödie" Geborene ergriff: ineipit tragoedia . . .
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Indes — wenn „Ecce homo" den Lesern der dritten und vierten Unzeitgemässen Betrachtung als Regel für die richtige Übersetzung der Texte die einfache Formel an die Hand geben konnte: „lisez: Nietzsche", wo von Wagner und Schopenhauer die Rede ist25, so stellt der Versuch, jenes Neugeborene bereits aus dem Wortlaut der „Geburt der Tragödie" herauszulesen und das heißt, die ins Metaphysische übersetzten philosophischen Grundgedanken gemäß ihrer Herkunft aus dem schon früher angesprochenen „Geist der Musik", dem Geist des — nach Nietzsches Verständnis — unmetaphysischen reinen Werdens, auszulegen, sie gewissermaßen in diesen zurückzuübersetzen, schon eine schwierigere Aufgabe dar. Es muß dabei bedacht werden, daß dieser „Geist" Nietzsche zufolge an sich vorbegrifflich ist, weswegen es hier, wo nicht gedichtet und somit dieser Geist nicht unmittelbar übertragen werden kann, nur darum gehen wird, eine Begriffssprache zu finden, die sich dieser Sphäre als angemessener erweist, was meint, daß die Begriffe von ihrer ganz anderen Sphäre her deutlicher auf die Sphäre dieses „Geistes" verweisen. Erst recht betrifft dieses Problem den sich anschließenden Versuch einer Er-läuterung der Schrift, in dem wir die „Geburt der Tragödie" auch noch von jenen metaphysischen Begriffsverstellungen ihrer rein physischen Herkunft befreien wollen, die in der durch Nietzsche angeleiteten „dionysischen" Ubersetzung stehen geblieben sind. Indem wir so die „Geburt der Tragödie" im Sinne unseres Begriffes von Metaphysik zu läutern versuchen, vollziehen wir einen noch weiter zurückführenden Ubersetzungsschritt hin zu dem, was wir die „dichterische" Welterfahrung genannt haben. Für sie gibt es bei Nietzsche, wie wir sehen werden, nur einige wenige, jedoch höchst bedeutsame denkerische Ansätze.
2. Die Artisten-Metaphysik:
Der Weltstreit
von Dionysos und Apoll
Der 1886 erstellte „Versuch einer Selbstkritik" der „Geburt der Tragödie" bezeichnet den Grundgedanken der Schrift als „Artisten-Metaphysik" 26 : Das Seiende im Ganzen wird im Hinblick auf das Phänomen der tragischen Kunst bestimmt. Dies ist möglich zum einen, weil der „Urgrund" des Seienden verstanden wird als Urkünstler, der im Spiel Welt hervorbringt, zum anderen, weil Nietzsches Grunderfahrung der Welt, wie erinnerlich, das Tragische ist, so daß er auf es auch das Wesen der Kunst zurückführt. Die tragische Kunst „erkennt" das tragische Wesen der Welt. Sie gestaltet das Wissen, daß alles aus dem Urgrund Herausgetretene dereinst wieder in diesen einzugehen hat.
Die Artisten-Metaphysik: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll
213
Wirklichkeit ist für Nietzsche dieses Widerspiel von Gestalt und Lebensflut, das er in den Metaphern von „Apoll" und „Dionysos" zu fassen sucht. Eingeführt werden Apoll und Dionysos als von den Griechen entlehnte „Namen", will eben sagen: als mit der „unmittelbaren Sicherheit der Anschauung" (1, 21) zu verbindende Metaphern, für die einander in ihrem Wesen, nämlich „nach Ursprung und Zielen" entgegengesetzten Kunsttriebe des Bildners und des Musikers. Nietzsche liest an den Griechen ab, „dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität" dieser beiden Kunsttriebe „des A p o l l i n i s c h e n und des D i o n y s i s c h e n gebunden ist" (1, 21). Bei ihnen, so führt er aus, gehen beide so verschiedne Triebe [ . . . ] neben einander her, zumeist im offnen Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren, den das gemeinsame Wort „Kunst" nur scheinbar überbrückt (1,21).
Das Verhältnis von Apollo und Dionysos wird von Nietzsche somit im Sinne des Heraklitischen πόλεμος in Fragment 53 (Diels/Kranz) gedacht: „πόλεμος πάντων μέν πατήρ έστι, πάντων δε βασιλεύς, και τούς μέν θεούς εδειξε τούς δέ άνθρώπους, τούς μέν δούλους έποίησε τούς δέ έλευθέρους." In der Übersetzung Martin Heideggers: „Die Auseinandersetzung ist zwar von allem die Aussaat, von allem aber auch (und vor allem) das Höchste — Wahrende —, und zwar deshalb, weil sie die einen sich zeigen läßt als Götter, die anderen aber als Menschen, weil sie die einen hervorgehen läßt ins Offene als Knechte, die anderen aber als Freie." 27 Gleich Nietzsche 28 versteht Heidegger πόλεμος im Sinne des von Heraklit ebenfalls gebrauchten Wortes έρις. Dieses bedeutet „Streit" — „aber Streit nicht als Hader und Gezänk und bloßer Zwist, erst recht nicht Gewaltanwendung und Niederschlagen des Gegners — sondern Aus-einander-setzung dergestalt, daß in dieser das Wesen derer, die sich aus-einander-setzen, sich aussetzt dem anderen und so sich zeigt und zum Vorschein kommt und d.h. griechisch: ins Unverborgene und Wahre [άλήθεια]." 29 Bezogen auf die Streitpartner Apollo und Dionysos können wir darum vorläufig sagen: Sie stehen im gegenwendigen Bezug des eigentlichen Streites, in welchem die Streitenden „im wechselweise sich anerkennenden Sichaussetzen" 30 einander in ihre jeweils höchste Möglichkeit steigern — die sie mithin nur dort erreichen können, wo sie gleichwertig bleiben: Sie sind, was sie sind, nur durch einander. Die Zwietracht ist ihre Eintracht, oder, wie Nietzsche sagt31, der Widerstreit ist ihre Harmonie.
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Derweise setzt dieser Streit eine „Grenze des Maaßes" 3 2 voraus, als welche überschritten ist, wo einer der Streitenden endgültig obsiegt hat. Nicht mehr bestritten, entartet nämlich schließlich auch der Sieger, wie Nietzsche zum einen an der tragischen Kultur, in der Dionysos einen solchen furchtbaren Pyrrhus-Sieg errungen hat, 33 zum anderen an unserer sokratischen Kultur aufzeigt, in der Apollo im Gefolge seines Sieges über Dionysos derart von seinen eigensten Wesensmöglichkeiten abgefallen ist, daß man letztlich von seinem Verschwinden sprechen muß: U n d weil du D i o n y s u s verlassen, so verliess dich auch A p o l l o ( 1 2 , 7 1 ) ,
bemerkt Nietzsche über die sokratische Kultur. Der eigentliche Streit ist unaufhebbar — zu seinem Wesen gehört es, „jeder Aufhebung und jedem Versuch zu einer solchen zu widerstreiten" 3 4 : es giebt keinen dionysischen Schein o h n e einen apollinischen Wiederschein [sie],
schreibt Nietzsche in diesem Sinne im „Fragment einer erweiterten Form der ,Geburt der Tragödie'" 3 5 . Nietzsche zufolge weste dieser Streit in seiner höchsten Form allein bei den Griechen, im „ebenso dionysische[n] als apollinische[n] Kunstwerk der attischen Tragödie" (1, 22): In ihm erscheinen jene beiden Kunsttriebe „endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen ,Willens', mit einander gepaart" (1, 21), d. h. gleichwertig — die früheren griechischen Kulturstufen sind jeweils durch ein relatives Ubergewicht eines der beiden Streitenden gezeichnet. Ohne daß indes der Überhang jemals so groß gewesen wäre, daß man ein Entschwinden des anderen hätte konstatieren müssen. 36 Die H o f f n u n g auf eine „Fortentwickelung der Kunst" in unseren Tagen, und dies meint die „Wiedergeburt" einer „ w a h r e n " Kunst und Kultur, ist somit H o f f n u n g auf erneute Entfachung der Art des Streites, wie er die griechische Kultur zur Zeit der attischen Tragödie bestimmte. Was in den Augen Nietzsches nur so geschehen kann, daß in den herrschenden Sokratismus als Entartungsform einer mehr apollinischen Kultur der dionysische Geist der Musik eindringt. Zur Verdeutlichung dieser beiden Kunsttriebe zieht Nietzsche das physiologische Gegensatzpaar von Traum und Rausch heran — doch nicht erst in dem Terminus „Kunstine^e", sondern bereits im Titel „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" hat eine Koppelung von Ästhetik und Physiologie statt: „Eine Literaturgattung heißt entstanden wie ein Körper", bemerkt Friedrich A. Kittler zu Recht. 37 Dieser physiologische Ansatz von Nietzsches Ästhetik ist von uns schon angesprochen worden, als wir nämlich darauf hingewiesen haben, daß nach Nietzsches Ansicht die Aufgabe der Kunst darin besteht, den kunstschaffenden Zustand des Leibes zu vermitteln.
Die Artisten-Metaphysik: D e r Weltstreit von Dionysos und Apoll
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„Ästhetik ist ja nichts als eine angewandte Physiologie.", wird Nietzsche diesen Ansatz in „Nietzsche contra Wagner" 3 8 formelhaft fassen. Was indes zureichend nur im Hinblick darauf verstanden werden kann, daß Nietzsche überhaupt in Anknüpfung an Schopenhauer die Welt am Leitfaden des Leibes auslegt, in jener späten Phase als Wille zur Macht, vorher als Wille zum Leben. Der Traum nun ist Äußerung der bildschöpferischen Kraft des Menschen, welcher die Griechen, wie Nietzsche meint, als Gott Apollo zugeordnet hätten: Er, der seiner Wurzel nach der „Scheinende", die Lichtgottheit ist, beherrscht auch den schönen Schein der inneren Phantasie-Welt. (1, 23) Nietzsche spielt hier mit der Polysemie von „scheinen" — was Wilamowitz-Moellendorf in seinem Pamphlet „Zukunftsphilologie" 3 9 zu der Bemerkung hinreißt, daß Nietzsche „auf dem Wege des Kalauers" aus dem Lichtgott Phoibus Apollon den Gott des Scheins zu machen suche. Aber diese philologische Wertung ist für uns, die wir um eine Auslegung der philosophischen Gedanken bemüht sind, ohne Belang; anders als die Tatsache, daß das „symbolische Analogon" dieser inneren Phantasie-Tätigkeit, die Kunst, deren Gottheit Apollon war, von Nietzsche als schöner, aber auch täuschender Schein interpretiert wird, dem Wahrheit in einem anderen, „höheren" Sinne als dem rein mimetischen zuzusprechen ist: Die höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit, sodann das tiefe Bewusstsein von der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur ist zugleich das symbolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit und überhaupt der Künste, durch die das Leben möglich und lebenswerth gemacht wird. Aber auch jene zarte Linie, die das Traumbild nicht überschreiten darf, um nicht pathologisch zu wirken, widrigenfalls der Schein als plumpe Wirklichkeit uns betrügen würde — darf nicht im Bilde des Apollo fehlen: jene maassvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes. (1, 23 f.) Kunst, die nichts als ein Mittel sein soll, den Rezipienten zum Nach-schaffen des Vor-schaffens und d. h. im Falle der bildenden Kunst ihn zur Phantasie-Tätigkeit anzuregen, ist f ü r Nietzsche hier in dem Maße wahr, in dem sie die Wirklichkeit in der Weise überhöht, daß sie ihre aufgesplitterten Aspekte zusammenfaßt und deutet — und dabei doch zugleich ihre Scheinhaftigkeit durchscheinen, ihre Unterschiedenheit vom Leben aufscheinen läßt: Sie macht das Leben möglich und lebenswert, indem sich der Betrachter an ihren Bildern das Leben deuten, an ihren Vorgängen sich f ü r das Leben üben (1, 23) und sich ineins damit — Nietzsche spricht von der „heilenden und helfenden N a t u r " — von dessen Anspannungen entspannen kann, was indes seitens der Kunst die Wahrung einer ,,maassvolle[n] Begrenzung" verlangt. In Nietzsches Philosophie des umgedrehten
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Platonismus, welche den Willen des Lebens zum Schein anerkennt, ist Kunst wahr nach Maßgabe solcher Fruchtbarkeit für das Leben. Doch laut Nietzsche haben die Griechen nicht allein diejenige Kraft, welche die Bilderwelt des menschlichen Traumes schafft, in Apollo versinnbildlicht, vielmehr auch diejenige, welche die „Bilderwelt" dessen gestaltet, was der Mensch als das Wirkliche auffaßt. Jäh eröffnet Nietzsche damit einen neuen Horizont der Problemstellung — nicht mehr ist nämlich von einer „Kunstanschauung" die Rede, welche von den Griechen in Apollo gefaßt wurde, sondern von einer „Weltanschauung" 4 0 , wenn er ausführt, man möchte selbst A p o l l o als das herrliche Götterbild
des
principii
individuationis bezeichnen, aus dessen G e b ä r d e n und Blicken die g a n z e Lust und Weisheit des „ S c h e i n e s " , s a m m t seiner Schönheit, zu uns spräche.
(1, 24) Vorbereitet ist dieser gedankliche Sprung, mit dem die Ästhetik zum Organon der Metaphysik, zur „Artisten-Metaphysik" wird, in der Überlegung, dass unser innerstes W e s e n , der g e m e i n s a m e U n t e r g r u n d von uns allen, mit tiefer Lust und f r e u d i g e r N o t w e n d i g k e i t den T r a u m an sich erfährt.
(1,23) In der Überlegung mithin, daß durch den Menschen ein anderes, sein „Untergrund" nämlich, träumt.
Wie Nietzsche selber anzeigt (1, 24), gibt zu diesen Gedanken Schopenhauers ontologische Unterscheidung von „Wille" und „Vorstellung", bzw. „Ding an sich" und „Erscheinung" den Flucht-Punkt ab. Für Schopenhauer bewirken die reinen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, als das „principium individuationis" die Zerteilung alles für uns Seienden in die Vereinzelung: die Dinge sind in Raum und Zeit beisammen, aber gerade insofern sie voneinander getrennt sind. Doch diese Getrenntheit des Seienden ist bloßer, von unserem Erkenntnisvermögen erzeugter Schein. An sich ist die Welt ungeteilter Wille. Auch für Nietzsche ist hier die Welt, wie sie eigentlich ist, keineswegs in eine Vielfalt zerstückelt, auch für ihn ist sie hier eine einzige ununterschiedene Flut — Flut des „Ur-Einen" (z.B. 1, 26; 4, 34), des „Willens" (z.B. 16, 100; 16, 102), des „Lebens" (z.B. 7, 52; 16, 104), um nur die wichtigsten der „Metaphern" anzuführen, mit denen Nietzsche den Urgrund der Erscheinungen zu bezeichnen pflegt. Aber in Nietzsches Sicht ruft der Urgrund selbst den Schein der Erscheinung hervor — dies augenscheinlich die Konsequenz seines Einwandes gegen Schopenhauer, daß der Wille, wenn denn der ihn als Welt vorstellende Intellekt seine μηχανή sein soll, selber bereits in das principium individuationis und die Gesetze der Kausalität verwickelt sein muß. So schreibt Nietzsche in einer
Die Artisten-Metaphysik: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll A u f z e i c h n u n g zur „ G e b u r t der T r a g ö d i e " im September
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1870—Januar
1871: Die Vorstellung ist von allen Mächten die geringste: sie ist a l s A g e n s nur T r u g , denn es h a n d e l t nur der Wille. N u n aber beruht die individuatio auf der Vorstellung: wenn diese nun T r u g ist, wenn sie nur scheinbar ist, um dem Willen zum T h u n zu verhelfen — der Wille handelt — in unerhörter Vielheit für die Einheit. Sein Erkenntnißorgan und das menschliche fallen keineswegs zusammen: dieser Glaube ist ein naiver Anthropomorphismus. Erkenntnißorgane bei Thieren Pflanzen und Menschen sind nur die Organe des b e w u ß t e n Erkennens. Die ungeheure Weisheit seiner Bildung ist bereits die Thätigkeit eines Intellekts. Die individuatio ist nun jedenfalls nicht das W e r k des bewußten Erkennens, sondern jenes Urintellekts. Dies haben die kantisch-schopenhauerischen Idealisten nicht erkannt. Unser Intellekt führt uns η i e weiter als bis zum bewußten Erkennen: insofern wir aber noch intellektueller Instinkt sind, können wir noch etwas über den Urintellekt zu sagen wagen. Uber diesen trägt kein Pfeil hinaus. [...] Vom Standpunkte des bewußten Denkens erscheint die Welt wie eine Unsumme ineinander geschachtelter Individuen: womit eigentlich der Begriff des Individuums aufgehoben ist. Die Welt ein ungeheurer sich selbst gebärender Organismus: die Vielheit liegt in den Dingen, weil der Intellekt in ihnen ist. Vielheit und Einheit dasselbe — ein undenkbarer Gedanke. 41 Ein paradoxer G e d a n k e . . . S o e r z e u g t nach N i e t z s c h e der „ W i l l e " selbst die Gestalten der W e l t — und dies, w i e er sagt, in seiner apollinischen „Erscheinungsform" 4 2 . In seiner dionysischen Erscheinungsform h i n g e g e n zerstört er diese Gestalten wieder, n i m m t sie in sich zurück. A u c h diese Seinsmacht g e w i n n t N i e t z s c h e im aufsteigernden A u s g a n g v o n der P s y c h o l o g i e des natürlichen menschlichen Kunsttriebs: w i e d e m bildschaffenden
Traum
des
Menschen
das
Gestalten
und
hervorbringende Weltprinzip, d e m N i e t z s c h e den N a m e n Apolls
Bilder gibt,
analog ist, so entspricht d e m Rausch des M e n s c h e n als jenem ekstatischen Zustand, in d e m wir das G e f ü h l des Einswerdens mit allem haben — schopenhauerisch g e s p r o c h e n : das principium individuationis nichtig g e s e t z t wird — , ein gleichsam kosmischer „ R a u s c h " : die Zurücknahme
alles
S e i e n d e n in die e w i g e Flut des Lebens. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze N a t u r lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet. (1, 24 f.)
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Und mit dem Subjektiven auch sein Widerspiel, das Objektive: Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. (1, 25) Die Grenzen von Raum und Zeit zergehen, aus der Gemessenheit und Vermessenheit der gewöhnlichen Existenz steht der Mensch hinaus in das Übermaß des Offenen des ewig werdenden, von Nietzsche als „Wille" bezeichneten Weltgrundes. Alles was bis jetzt als Grenze, als Maaßbestimmung galt, erwies sich hier als ein künstlicher Schein: das „Ubermaß" enthüllte sich als Wahrheit.43, schreibt Nietzsche über den ek-statischen T o n der Dionysosfeier, den T o n „des ,Außer sich seins'" 44 . Der solchermaßen Ausgesetzte ist aus dem apollinischen Maß in das dionysische Übermaß entsetzt: Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. (1, 26) Er ist nicht mehr H e r r seiner selbst, die Natur — der „Wille" — spielt mit ihm«: Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. (1, 26) Der Berauschte schwebt in der Gefahr, sich in den Flutungen des ekstatischen Offenstehens im Offenen des Weltgrundes zu verströmen. Aber: Es soll sich l e b e n lassen: also ist der reine Dionysismus unmöglich.46 Die Natur — der „Wille" — selbst reißt ihn in die Abständigkeit und Festigkeit des apollinischen, des sichtigen Vernunft-Maßes 4 7 der gewöhnlichen Daseinsverhaltung zurück, um ihn schließlich erneut in die ungefügte, als solche unbegreifbare Unmittelbarkeit des Offenen der Welt hinauszutreiben. Der Wille west im Menschen als dieser fortwährende zwiefältige Um-riß in Aussetzung und Einsetzung in Unmaß 4 8 und Maß, als Streit von Dionysos und Apoll. Und solches auch auf kosmologischer Ebene. Als Seinsmacht betrachtet, ist das Apollinische diejenige Kraft, die das Chaotische, Flutende, nämlich die andere „Seins"macht das Dionysischen zum Stehen bringt und ihr so lange Maß und Form gibt, bis daß das Un-maß des Werdens übermächtig wird, um endlich erneut in das Maß des Apollinischen gestellt zu werden. Das Dionysische selber sucht dabei dieses Maß, weil es nur von ihm her sein kann, was es ist: Un-maß — wie umgekehrt das Apollinische zu diesem strebt, um sich gegen dasselbe als Maß zu setzen. Apollo und Dionysus stehen derweise in einem gegenwendigen Bezug, sie sind, wie wir schon
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sagten, durch einander („Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus", heißt es über den Bruderbund beider Gottheiten in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " [21, 136]). Sie stehen in der Innigkeit der Aus-einander-setzung des eigentlichen Streites, der sich zeigt in der Fuge des in sich zwiefachen Um-risses der Gestalten: Diese haben ihre Umgrenztheit nur im Gegenhalt, im U m - r i ß des Unmaßes („Jede griechische Statue kann belehren, daß das Schöne nur Negation ist.", zeichnet Nietzsche in diesem Sinne Ende 1870—April 1871 auf 4 9 ). Aber auch das U n m a ß ist nur im U m - r i ß des Maßes — ohne dieses wäre es bloßes „ U n " , d. h. weniger als nichts, denn als Nichtung von Sein ist dieses immer ein „ U n - " : „ d e r reine Dionysismus [ist] unmöglich". D e r Streit von Dionysos und Apoll west als dieser in sich zwiefältige U m r i ß , welcher in der Grenze der Gestalt, ihrer Fuge, M a ß und U n m a ß so innig fügt, daß sie in ihr einander in die jeweils höchste Möglichkeit hinaustreiben und so zu sich selbst bringen. Allein in der Fuge ist das Maß als M a ß und das U n m a ß als U n m a ß erfahrbar. Sie selbst ist aus der höchsten Bewegtheit des zwiefältigen Um-risses hervorgehende höchste Ruhe, in ihr erstreitet sich dieser seine Einheit. D a ß er dennoch in sich zwiefältig ist, zeigt sich vor allem darin, daß er in der apollinischen Setzung, dem U m - r i ß der dionysischen Maßlosigkeit, h e r a u f k o m m t und mit dem U m - r i ß ebendieser Setzung, deren dionysischer Z u r ü c k n a h m e , entschwindet, um schließlich durch Apoll erneut zu entstehen. Derweise ist der beständige Um-riß der Fuge, das Gegeneinander von Dionysos und Apoll in ein zeitliches Nacheinander, ein W e r d e n aufgefaltet: Das Leben wird als dieser f o r t w ä h r e n d e Streit von Dionysos und Apoll, die Welt ist durch diesen an jedem Seienden aufscheinenden in sich zwiefältigen Um-riß, der als solcher f ü r Nietzsche mithin deren G r u n d d i f f e r e n z ausmacht. Im Gegeneinander seiner apollinischen und seiner dionysischen Erscheinungsweise, im Nacheinander von Setzung und Z u r ü c k n a h m e der Gestalten erspielt sich der U r g r u n d die Welt. U n d weil dieser U r g r u n d , der Wille, als ewig bewegt, als flutend und als formlos gedacht wird, ihm somit die Charaktere des Dionysischen zugesprochen werden — wie könnte er sich sonst im Rausch, der dionysischen Ek-stasis, offenbaren? 5 0 —, muß die häufig, so auch von Eugen Fink, vorgetragene These, daß in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " , anders als in den Spätschriften Nietzsches, das Verhältnis von Apoll und Dionysos als ein solcher Gegensatz angesehen wird, daß „das Apollinische auf der einen, das Dionysische auf der anderen Seite" 51 steht, als vordergründige Auslegung zurückgewiesen werden. Am Ende der Schrift wird deutlich ausgesprochen, daß das Apollinische aus dem Dionysischen hervorgeht: In den dionysischen P h ä n o m e n e n von Musik und tragischem Mythus „zeigt sich", heißt es da,
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die e w i g e und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die g a n z e W e l t der Erscheinung in's Dasein ruft (25, 150 f.).
Der dionysische Wille braucht Apoll, seinen Schein und sein Maß, um als flutendes Un-maß, als un-endliches Leben erscheinen zu können — „Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus" (21, 136) —, nur im Streit von Dionysos und Apoll vermag sich das dionysisch flutende Leben, kurz: vermag sich Dionysos uns zu zeigen, nur im Widerspiel von Dionysos und Apoll, im in sich zwiefältigen Um-riß der endlichen Erscheinungen, ist das Unendliche, ist Dionysos für uns endliche Wesen faßbar. Auf eine Formel gebracht: D = D χ A — Dionysos als das unendliche Werden west für uns als Streit von Dionysos und Apoll, von Werden und Sein. Und diesen Streit, in dem die Vielheit des vereinzelten Seienden hervorgebracht, d. h. die Welt erstritten wird, versteht Nietzsche als ein künstlerisches Spiel [ . . . ] , w e l c h e s der Wille, in der e w i g e n Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt. (1, 148)
Er weist darauf hin, daß diese Deutung seine Parallele hat bei „Heraklit dem Dunklen", von dem die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft. (24, 149)
Er bezieht sich dabei auf das Fragment 52 (Diels/Kranz): ,,αίών παις 6στι παίζων, πεσσεόων. παιδός ή βασιληίη." In der Übersetzung Eugen Finks52: die W e l t z e i t ist ein spielendes Kind, die Brettsteine hin und her setzend, — das Königreich des Kindes.
Dieses Fragment steht auch im Mittelpunkt der Heraklit-Interpretation, die sich in Nietzsches Abhandlung „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" aus dem Frühjahr 1873 findet. Nietzsche führt hier aus, Heraklit habe nicht nur „nicht mehr eine physische Welt von einer metaphysischen" 53 geschieden, sondern darüber hinaus auch das Sein geleugnet: D e n n diese eine Welt, die er übrig behielt — umschirmt v o n e w i g e n ungeschriebenen G e s e t z e n , auf- und niederfluthend im ehernen Schlage des Rhythmus — zeigt nirgends ein Verharren, eine Unzerstörbarkeit, ein Bollwerk im Strome. 5 4
Und an anderer Stelle heißt es, daß Heraklit dieses „ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist"55, „unter der Form der Polarität begriffen" habe,
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als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Thätigkeiten. Fortwährend entzweit sich eine Qualität mit sich selbst und scheidet sich in ihre Gegensätze: fortwährend streben diese Gegensätze wieder zu einander hin.56
Es ist wohl kaum zu übersehen, daß Nietzsche den von ihm ausdrücklich als nicht-metaphysisch bezeichneten Gegensatz, aus dem das Heraklitische Werden hervorgeht, im Sinne des Streites von Dionysos und Apoll deutet. So daß wir hier einen ersten Wink erhalten, die Frage aufzuwerfen, ob Nietzsches aus dem Jahre 1886 stammende Selbstinterpretation der „Geburt der Tragödie" als „Artisten-Metaphysik", welche einen „Künstler-Sinn und -Hintersinn hinter allem Geschehen, — einen ,Gott', wenn man will"57, angenommen haben soll, der Schrift aufs Ganze gesehen gerecht wird. Eine Interpretation, die er, wie wir wissen, zwei Jahre später in „Ecce homo" wiederaufnimmt, wenn er als Inhalt des Buches angibt: „Eine ,Idee' — der Gegensatz dionysisch und apollinisch — ins Metaphysische übersetzt". Quer zu diesen beiden Selbstinterpretationen steht indes eine andere, die hinwiederum mit der Heraklit-Interpretation übereinstimmt. Nietzsche hat sie im Zeitraum November 1887—März 1888 aufgezeichnet: Die Conception der Welt, auf welche man in dem Hintergrunde dieses Buches stößt, ist absonderlich düster und unangenehm: unter den bisher bekannt gewordenen Typen des Pessimismus scheint keiner diesen Grad von Bösartigkeit erreicht zu haben. Hier fehlt der Gegensatz einer wahren und scheinbaren Welt: es giebt nur Eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn . . . Eine so beschaffene Welt ist die wahre W e l t . . ,58 —
Auch in der nachfolgenden Passage aus seiner Schrift über die Vorplatoniker versteht Nietzsche den Heraklitischen Streit im Sinne des Widerspiels von Dionysos und Apoll. Er kompiliert hier Übersetzungen der Fragmente 53 und 80 (Diels/Kranz) 59 : Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden: die bestimmten, als andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das momentane Ubergewicht des einen Kämpfers aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort. Alles geschieht gemäß diesem Streite, und gerade dieser Streit offenbart die ewige Gerechtigkeit.60
In der Perspektive Nietzsches heißt das: Aus dem Krieg, dem πόλεμος von Dionysos und Apoll geht alles Werden hervor. Stellt die Erscheinung als Erscheinung betrachtet ein Ubergewicht Apolls dar, so gewinnt Dionysos in dessen Vergehen, das — von uns meist unbemerkt — bereits mit dem Aufgehen der Erscheinung anhebt, mehr und mehr die Oberhand, um selber erst wieder im Moment des Ubermachtetwerdens durch Apollo in der Fuge der Gestalten zur Erscheinung zu kommen: das Emporringen Apolls aus der
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Unterlegenheit vermögen wir, die wir als apollinische Erscheinungen auf den Bereich ebensolcher Erscheinungen angewiesen sind, nicht zu fassen. Der Kampf selbst setzt eine „Grenze des Maaßes", so haben wir schon vernommen — und wir erkennen jetzt, was das heißt: Er ist als dionysischer in seinem Wesen — paradoxerweise — apollinisch. (Es zeigt sich erneut, daß „apollinisch" und „dionysisch" relationale Begriffe sind, derweise, daß man in jedem Seienden, welches ihren Streit austrägt, aber auch in diesem Streit selber, gemäß dem in ihm waltenden Kräfteverhältnis, gemäß der Hinblicknahme, die das „ P h ä n o m e n " vorwiegend oder auch nur momenthaft gewährt, dieses entweder als [mehr] apollinisch oder [mehr] dionysisch ansprechen kann.) Der Streit selber ist aber in der Hinsicht als apollinisch zu bezeichnen, daß er den Streitenden das Maß der Fuge setzt, welche mit der vollkommenen Ubermacht eines der beiden Streitpartner entschwindet. Im Falle des Apollo bedeutete das, daß alles starr, in einem unvergänglichen Sein fixiert wäre — wie dies Nietzsche zufolge das Weltbild der Metaphysik zeigt —, im Falle des Dionysos hingegegen, daß alle Gestalten im flutenden Werden untergingen 61 — aus dem heraus Nietzsche wohl zu denken sucht, das als solches aber unsichtbar, f ü r das Auge und mit ihm für die sichtige Vernunft unfaßbar ist: Mit „Apoll" bezeichnet Nietzsche, wie erinnerlich (siehe Seite 52) den Standpunkt des Auges. In ein Bild gebracht: Vom Ring des Ringens zwischen Dionysos und Apoll, von der „heilen und vollen Sphäre und Kugel des Seins" — mit Rilke, der Nietzsches Metaphysik in hohem Maße verpflichtet ist, zu sprechen —, 62 ist uns nur die eine Hälfte, das Sichtsame, begreiflich. Daß es eine andere Hälfte, ein unfaßbares „Außen" des „ I n n e n " gibt, das könnte man danach auch als einen Analogieschluß bezeichnen „im Hinblick auf das Seiende im Sinne der Vollzähligkeit aller seiner Seiten" 63 , ein Analogieschluß, der sich indes darauf stützen kann, daß die tiefste uns zugängliche Schicht der Welt der Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit ist, eine Schicht, die wir indes nur im Gegenhalt zu uns als in sich gefügten Gestalten zu erreichen vermögen. „Bild", „ N a m e " — als welcher ja auch „Dionysos" ist —, „Gestalt", „ G r e n z e " : Es ist dem Menschen nicht gegeben, über den Bereich des Apollinischen hinauszugelangen, auch in dessen Bestreitung bzw. Negation bleibt er an ihn gebunden. Der mit „Dionysos" bezeichnete Bereich ist für uns nur als ein Bereich des „ U n - " des Maßes oder, wie wir früher sagten, das Werden ist für uns nur im Widerstreit zum Sein, denn auch das Paradoxon, in dem das Denken seine eigenen, die Erscheinungen feststellenden Gesetze bestreitet, gelangt über die Abbildung jenes in seinem maßsetzenden Wesen apollinischen Streites nicht hinaus, es bleibt eine Figur des Denkens. Dionysos als das reine Werden ist für uns gedanklich nur als Widerstreit von
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Dionysos und Apoll faßbar — D = D χ Α: das meint demnach, daß wir von Dionysos gedanklich immer nur ein apollinisches Scheinbild gewinnen können. Ein noch höherer Scheinbildcharakter muß Nietzsche zufolge dann den — das W o r t in seinem Sinne verstanden — metaphysischen Bestimmungen zugesprochen werden: genau in diesem Sinne führt die „Geburt der Tragödie" zu Beginn des Abschnittes 18 folgendes aus — was man augenscheinlich bis heute überlesen hat: Es ist ein ewiges Phänomen: immer findet der gierige Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen.
Und dazu rechnet neben der ,,sokratische[n] Lust des Erkennens", neben dem „Schönheitsschleier der Kunst" auch der metaphysische Trost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst (18, 111).
Damit aber wird der metaphysische Entwurf dieser Schrift von ihr selber als Illusion bezeichnet, denn das unter dem Wirbel der Erscheinungen fließende Leben ist eben jener „Wille", von dem Nietzsche eingangs spricht. So sagt die Schrift versteckt, was jene auf S. 132 wiedergegebene verworfene Aufzeichnung offen sagen sollte: daß die metaphysischen Grundbegriffe, mit denen Nietzsches philosophische Erstlingsschrift operiert, gemessen an ihrem Anspruch, „metaphysische Realität" und das heißt Wahrheit zu sein, Illusion sind. In der Nachfolge Schopenhauers geben sie sich als Bestimmungen des Dinges an sich, des absoluten Ur-Einen — und sind doch nur menschliche Vorstellungen: nach dem Maß des überkommenen metaphysischen Wahrheitsbegriffes — an dem Nietzsche auch dort festhält, wo er eingestandenermaßen keine metaphysischen Bestimmungsversuche unternimmt — heißt das, daß sie Illusionen sind.
3. „Die Geburt der Tragödie"gelesen am physiologischen Leitfaden der Fragmente: Wahr-Schein, Kunst, Sprache und Wissenschaft So zeigt die „Geburt der Tragödie", obzwar versteckt, daß solche metaphysischen Bestimmungen nicht möglich sind. Sie zeigt, daß die an Leibniz anknüpfende metaphysische Auslegung der Welt als scheinhafte Vorstellungsbewegung eines allein seienden und somit allein wahren Ur-Einen, das sich in „prästabilierter H a r m o n i e " seine Anschauungen als anschauend denkt, 64 nichts anderes als „Begriffsdichtung" ist. Damit aber steht die tiefere Schicht der Schrift in Ubereinstimmung mit jenen sie begleitenden Aufzeichnungen, die den Willen, das Ur-Eine der „Geburt der Tragödie", bestimmen als die „ursprünglichste" 6 5 , als die „allgemeinste
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Erscheinungsform, aus der und unter der wir alles Werden und alles Wollen einzig verstehen" 66 . Alle diese Ansätze und Überlegungen wurden unterdrückt aus Gründen, die wir schon früher angesprochen und von denen wir gezeigt haben, daß sie in Wagner ihren Verbindungspunkt haben. Doch niemals konnte sich Nietzsche an der geistigen Redlichkeit vergehen, darum der versteckte Hinweis, daß hier eine Ubersetzung der eigenen Gedanken in die Sprache und das Denken der Metaphysik stattgehabt hat, ein Hinweis, der die Richtung der Rückübersetzung weist, den Weg, der in den Hintergrund des Buches führt, wo sich das scheinbare Absolutum des Willens als „Relativum" erweist, als anthropomorphische Bestimmung der einen Welt der Erscheinung, die von der tiefsten uns zugänglichen Schicht des reinen Werdens ausgeht. Und diese eine Welt ist von ihr her gesehen „falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn". Was Nietzsche im metaphysischen Entwurf dadurch zum Ausdruck bringt, daß er — worauf wir noch einläßlich eingehen werden — die Hervorbringung der Welt als Versuch des Ur-Einen deutet, den von einem ihm innewohnenden Gegensatz bewirkten Schmerz durch Projektion, d. h. durch Selbstanschauung zu mindern: Was in dieser entsetzlichen Constellation der Dinge leben will das heißt leben muß, ist im Grunde seines Wesens Abbild des Urschmerzes und Urwiderspruches, muß also in unsrer Augen „weit- und erdgemäß Organ" fallen als unersättliche Gier zum Dasein und ewiges Sichwidersprechen in der Form der Zeit, also als W e r d e n . Jeder Augenblick frißt den vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger Wesen, Zeugen Leben und Morden ist eins.67 Was übereinstimmt mit der schon früher zitierten Aufzeichnung von Ende 1870—April 1871: Produktiv ist also der Schmerz, der als verwandte Gegenfarbe das Schöne erzeugt [...]. Die damit angesprochene Ubereinstimmung zwischen den Fragmenten und den zurückgehaltenen Schriften auf der einen und der „Geburt der Tragödie" auf der anderen Seite reicht aber noch sehr viel weiter. Wenn Dionysos, wie gehört, im Sprachgebrauch der „Artisten-Metaphysik" den Bereich der Wahrheit (als tiefster Scheinbarkeit) bedeutet, wir aber Nietzsche zufolge in der Weise leben, daß wir im Schein „völlig [ . . . ] befangen und aus ihm bestehend" (4, 34 f.) sind — wie alles Seiende tragen wird in und an uns den Weltstreit von Dionysos und Apoll aus und sind darum gleich jenem in seinem maßsetzenden Wesen in unserer Gestalthaftigkeit als apollinisch zu bezeichnen —, dann heißt das, daß uns mehr als ein Aufschein der Wahrheit (als tiefster Scheinbarkeit) nicht zugänglich ist. „Es soll sich l e b e n lassen: also ist der reine Dionysismus
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unmöglich" — das meint in bezug auf das Wahrheitsproblem: der reine Dionysismus des reinen Werdens wäre wie die absolute Wahrheit das Ende jedweden Lebens-Fort-schrittes, kennt er doch wie sie keine Perspektive und keinen Horizont, nämlich keinen Gesichtspunkt mehr, von dem her und auf den hin das Endliche seit Descartes und Leibniz zu denken ist — eben darum kann uns von Dionysos nicht mehr als ein apollinisch gefügtes Bild, ein Schein-Bild mithin, gegeben sein: daß unsere Wahrheit nicht mehr als Wahr-Schein sein kann, haben wir schon früher zu bedenken gegeben. 68 Dieser Wahr-Schein kann allenfalls momenthaft Aufschein der tiefsten uns zugänglichen Schicht, der Schicht des Werdens, sein, weil er sich, festgehalten und ergriffen, sofort zum Anschein verdüstert. Der Wahr-Schein ist somit Aufschein der Wahrheit als tiefster Scheinbarkeit nur im Moment des Schaffens des Scheins. Genau das aber hat die „Geburt der Tragödie" im Auge, wenn sie die Erkenntnis des Scheins — der Welt, der Kunst — als Schein dem schöpferischen Genius zuspricht, der — Vorbedingung wahrhafter Kunst (5, 39) — im Schaffensprozeß seiner Subjektivität verlustig gegangen und in „die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit" (5, 41) eingerückt ist, als welche der Urgrund darstellt: Nur soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Mährchens gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer. (5, 43 f.)
Der Urkünstler ist der „Wille", der in der Sprache der Fragmente auch als „ W e r d e n " oder „Leben" bezeichnet wird. In dieses Werden eingehen zu können — was ja auch dem Rezipienten der Kunst abverlangt wird, dessen Kunsterlebnis bekanntlich darin besteht, in den Zustand versetzt zu werden, in dem das Kunstwerk geschaffen worden ist —, dieses Eingehen in das Werden setzt die Aufgabe des für unsere alltäglichen Verrichtungen unabdingbaren Standpunktes, des Standpunktes der Vernunft, voraus, als welches — es soll sich leben lassen — nur kurzfristig geschehen kann. So vermögen wir das dabei Erfahrene immer nur gleichnis-, will sagen: scheinhaft, nämlich in ein metaphorisches, d. h. apollinisches Bild gefügt, zu verstehen, muß doch, wie wir schon auf Seite 57 gezeigt haben, unser lumen naturale zum Begreifen einen festen Blickpunkt voraussetzen — unser Vorstellungsapparat ist als ÄiWiiapparat ein ScÄemapparat und als solcher — als lumen naturale — apollinischen Wesens.
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Seine Subjectivität hat der Künstler bereits in dem dionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm jetzt seine Einheit mit dem H e r z e n der Welt zeigt, ist eine Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust des Scheines, versinnlicht. Das „Ich" des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine „Subjectivität" im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. (5, 40)
Warum aber spricht Nietzsche dann im Abschnitt 3 der „Geburt der Tragödie" die Kunst zur Gänze Apollo zu, 69 wenn doch der dionysische Rausch als Einrücken in das Werden die Vorbedingung f ü r jede wahre Kunst abgeben soll? Und steht darüber hinaus letzteres nicht in Widerspruch zu Nietzsches Annahme zweier Kunsttriebe, dem bildnerischen und dem musikalisch-rauschhaften, die sich in Apollo und Dionysos versinnlichen lassen sollen? Ist die bildnerische Kunst demnach für Nietzsche keine wahre Kunst? Und wie verhält sich wiederum die Unterscheidung zweier Kunsttriebe zur Inanspruchnahme Apollos für den ganzen Bereich der Kunst? Die erste und die letzte Frage lassen sich durch den Hinweis beantworten, daß „dionysisch" und „apollinisch" ja relationale Begriffe sind und man an jedem Phänomen je nachdem die eine oder die andere Sphäre hervorheben kann. Kunst aber besitzt wie alles Seiende eine Gestalt, eine Form, im Hinblick auf welche es Apollo zugerechnet werden kann. (Auch der Umkehrschluß ist möglich: Alles, was im Hinblick auf seine Formhaftigkeit, seine „Gesetztheit", Apollo zugesprochen werden muß, kann im weitesten Sinne als Kunst bezeichnet werden, so beispielsweise der Staat. 70 ) Als Gestalt trägt das Kunstwerk aber auch das Wogegen derselben an sich, das „ U n - " der Gestalt, das Ungestaltete, Ungesetzte, das Chaotische, mithin das Dionysische. Unterschieden werden die Künste dann danach, welchen Bereich von beiden sie jeweils thematisieren und das heißt: welchen schöpferischen Zustand sie stimulieren, den apollinischen, in dem man in das reine Anschauen von Bildern versunken ist (ζ. B. 22, 136), oder den dionysischen, in dem man „ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben" wird (3/1, 40). Beide Male aber handelt es sich, gemessen am alltäglichen Lebensvollzug, um rauschhafte Zustände 7 1 : Wenn Nietzsche in einer Aufzeichnung vom Frühjahr 188872 einen dionysischen von einem apollinischen Rausch unterscheidet, dann beseitigt er damit jene Unsauberkeit im Gedankengang der „Geburt der Tragödie", welche die zweite und die dritte der oben angesprochenen Fragen veranlaßt hat. Die Unsauberkeit nämlich, daß auf der einen Seite der ganze Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer die Künste eintheilt, der des Subjectiven und des Objectiven, überhaupt in der Aesthetik ungehörig ist, da das Subject, das
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wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann. (5, 43)
(Ein Gedanke, der mindestens so sehr aus seiner eigenen Inspirationserfahrung — „ich habe nie eine Wahl gehabt" 73 — gespeist ist, wie er, so Nietzsches eigenes Bekunden, an Richard Wagner abgelesen ist.74 Uberhaupt soll ja die neue Ästhetik der „Geburt der Tragödie" der Erkenntnis Rechnung tragen: „An Wagner ist unsre Aesthetik zu Schanden geworden." 74 ) Auf der anderen Seite aber spricht er jenes Ereignis, in dem die Befreiung von der Subjektivität statthat, den Rausch, allein den dionysischen Künsten zu, was zur Folge hätte, daß die apollinischen Künste nicht als vollwertig anzusehen wären. Das späte Fragment sucht diese gedankliche Unsauberkeit wie gesagt dadurch zu lösen, daß es zwei Arten von Rausch unterscheidet. Das Differenzierungsmerkmal soll dabei in einer „tempo-Verschiedenheit" beschlossen liegen. Nietzsche führt dies jedoch nur in bezug auf den apollinischen Rausch aus: D i e e x t r e m e R u h e g e w i s s e r R a u s c h e m p f i n d u n g e n (strenger: die Verlangsamung des Zeit- und Raumgefühls) spiegelt sich gern in der Vision der ruhigsten Gebärden und Seelen-Arten. 76
Ebendieses Unterscheidungsmerkmal nennt Nietzsche aber schon in der „Geburt der Tragödie": Der lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande eine Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen, die eine ganz andere Färbung, Causalität und Schnelligkeit hat als jene Welt des Plastikers und Epikers. (5, 40)
Wenn somit auch die begriffliche Klärung fehlt, so werden doch der Sache nach schon in dieser Schrift die Künste nach der Art des Rausches unterschieden, den sie erzeugen. Denn die Erregung des kunstschaffenden Zustandes ist, wie erinnerlich, das τέλος des Kunstwerkes: Der Dichter nur möglich unter einem Publikum von Dichtern. [ . . . ] Ein phantasiereiches Publikum. Dies ist gleichsam sein Stoff, den er formt. Das Dichten selbst nur eine Reizung und Leitung der Phantasie. Der eigentliche Genuß das Produziren von Bildern, an der Hand des Dichters. Also Dichter und Kritiker ein unsinniger Gegensatz — sondern Bildhauer und Marmor, D i c h t e r und S t o f f . Die Entscheidung im ά γ ώ ν ist nur das Geständniß: der und der macht uns mehr zum Dichter: dem folgen wir, da schaffen wir die Bilder schneller. Also ein künstlerisches Urtheil, aus einer Erregung der künstlerischen Fähigkeit gewonnen. Nicht aus B e g r i f f e n . [ . . . ] . Alle Kunstgesetze beziehn sich auf das Ubertragen. Aesthetik hat nur Sinn als Naturwissenschaft: wie das Apollinische und das Dionysische. 77
Zufolge dieser Aufzeichnung vom Sommer 1871—Frühjahr 1872 ahmt das Kunstwerk nur vordergründig eine Handlung nach; genauer, nämlich auf sein Wesen hin betrachtet, ist es selber eine: es ist Suggestion von Muskeln
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und Sinnen. Kunst verstehen heißt dann nicht, sie bewußtseinsmäßig zu begreifen — für Nietzsche eine mit Sokrates zur Herrschaft gelangende Entartungsform nicht nur des Kunst-Verstehens —, sondern „eine sympathische Innervation" 7 8 zu fühlen, d. h. letztlich selber zum Kunstwerk zu werden. Genau in diesem Sinne bemerkt die „Geburt der T r a g ö d i e " — indes wieder allein im Hinblick auf den dionysischen Zustand: „ D e r Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk g e w o r d e n " (1, 25). In dieser Hinsicht ergibt sich die Rangfolge der Künste daraus, wie stark sie den Leib, das Affekt-System, zu stimulieren vermögen. Den optisch-gestischen Künsten, bei denen der Rezipient nach dem Schwinden der Subjekt-Objekt-Spaltung diese aus sich selbst heraus neu zu erzeugen hat — er wird dazu angehalten, sich eine Bilderflucht vorzustellen, die er dann, wie alles Sichtige, mit H e i d e g g e r zu sprechen, „in einem betonten Sinne ,gegenüber'" 7 9 hat —, diesen apollinischen Künsten gelingt das nicht so stark wie der dionysischen Kunst der Musik, als welche den Menschen in einem Zustand der Auflösung seines Standpunktes, d. h. der Entrückung hält, weswegen der junge Nietzsche ihre „ W i r k u n g ,eine dämonische'" 8 0 nennt. Im September—Oktober 1862 zeichnet er „Ueber das Wesen der M u s i k " auf: Der ursprüngl(iche) Eindruck dämonischer Natur, weder Gefühl noch Intellekt. Unbewußtes Fortgerissenwerden81. U n d im Frühjahr 1863 findet sich folgende Aufzeichnung über das Verhältnis von optischen und akustischen Reizen (— im übrigen ein weiterer Beleg dafür, daß Nietzsche auch die optische Sphäre von der Musik her, nämlich als unsichtbare Schwingung denkt): Die den optischen Reizen zu Grunde liegende Bewegung eine aus überirdisch(en) Sphaer(en) stammende, unendlich viel raschere und subtilere kaum wahrgenommen, sondern als ruhiger bewegungsloser Körper erscheinend; die optische uns fernerliegend äußerlicher objektiver die akust(ische) mehr innerlicher näherliegender. 82 Im Rahmen seiner philologischen Studien über antike Rhythmik, aus denen im Jahre 1871 eine „Theorie der quantitirenden R h y t h m i k " , sein einziges einigermaßen bedeutsames Philologicum, hervorgegangen ist, bedenkt Nietzsche im Zeitraum Sommer 1872—Anfang 1873 jene Fähigkeit der Musik, den Leib zu stimulieren, im Hinblick auf die „Kraft des R h y t h m u s " : Ich vermuthe, dass die sinnliche Kraft des Rhythmus darin liegt, dass zwei aufeinander wirkende Rhythmen sich in der Weise bestimmen, dass der umfassende den engeren eintheilt. Die rhythmischen Bewegungen des Pulses usw. (des Ganges) werden durch eine M a r s c h m u s i k wahrscheinlich neu gegliedert, wie dem Schritt sich der Pulsschlag akkommodirt. Wenn ζ. B. der Pulsschlag dieser ist: 1 _ 2 3 4 5 6 7 8, so mag bei 1 4 7 ein Schlag gehört werden: und dies immer so fort. Ich glaube, dass die Blutwelle von 14 7 allmählich höher geworden ist als 2 3 5 6 8. Und da der
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ganze Leib eine Unzahl von Rhythmen enthält, so wird durch jeden Rhythmus wirklich ein direkter Angriff auf den Leib gemacht. Alles bewegt sich plötzlich nach einem neuen Gesetz: nicht zwar so, dass die alten nicht mehr herrschen, sondern dass sie bestimmt werden. Die physiologische Begründung und Erklärung des Rhythmus (und seiner Macht). 83
Den Rhythmus selber aber rechnet er wie den Takt 8 4 und die Dynamik (vgl. Seite 230) zur apollinischen Sphäre der am meisten dionysischen Kunst, als welche die Zeitkunst der Musik darstellt. Harmonie und Melodie zählt er hingegen zur dionysischen Seite der Musik. Die „erschütternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des Melos und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie", die allesamt in der homerisch-griechischen Welt ferngehalten wurden (2, 29), sie machen mithin das Wesen der Musik aus, will sagen: sie tonisieren den Leib nach Nietzsches Erfahrung am gewaltigsten. In der „Geburt der Tragödie" und ihren Vorstufen verunklärt Nietzsche diesen physiologischen Ansatz dadurch, daß er die neue Sichtweise, wie er selber im „Versuch einer Selbstkritik" beklagt, „in Schopenhauerischen und Kantischen Formeln" 8 5 zur Sprache bringt; womit Nietzsche meint, daß die physiologische Ästhetik zur Metaphysik hin — das W o r t in seinem Sinne verstanden — überstiegen wird. So bemerkt er im Rahmen seiner rhythmischen Untersuchungen: Der Rhythmus ist ein V e r s u c h z u r I n d i v i d u a t i o n . Damit Rhythmus da sein könne, muss Vielheit und Werden da sein. Hier zeigt sich die Sucht zum Schönen als Motiv der Individuation. Rhythmus ist die Form des Werdens, überhaupt die F o r m d e r E r s c h e i n u n g s w e l t . 8 6
Es ist dies die kosmologische Fassung einer kurze Zeit früher entstandenen Aufzeichnung, in der Nietzsche seine Überlegungen zur „ K r a f t des Rhythmus" resümiert: Physiologisch ist ja das Leben eine fortwährende rhythmische Bewegung der Zellen. Der Einfluss des Rhythmus scheint mit eine unendlich kleine Modification jener rhythmischen Bewegung zu sein. 87
Am deutlichsten zeigt sich jener — schon bei Schopenhauer statthabende — Überstieg von der Physiologie zur Metaphysik in der nachfolgenden Passage aus „Die dionysische Weltanschauung". Nietzsche geht dort, wie auch in einem bereits angesprochenen, etwas später entstandenen nachgelassenen Fragment (siehe Seite 171 ff.) von dem Gedanken aus, daß der T o n „die verschiedenen Weisen der Lust und der Unlust — ohne jede begleitende Vorstellung" — d. h. ohne jede bewußte oder gedankliche Vorstellung, die begrifflich erfaßbar wäre — „symbolisirt" 88 . Neben der T o n - und der Gedankensprache nimmt Nietzsche noch eine „Geberdensprache" als gegeben an:
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Alles, was wir zur Charakteristik der verschiedenen Unlustempfindungen aussagen können, sind Bilder von den durch die Symbolik der Geberde deutlich gewordenen Vorstellungen: z.B. wenn wir vom plötzlichen Schreck, vom „Klopfen, Ziehen, Zucken, Stechen Schneiden Beißen Kitzeln" des Schmerzes reden. Damit scheinen gewisse „Intermittenzform e n " des Willens ausgedrückt zu sein, kurz — in der Symbolik der Tonsprache — die R h y t h m i k . Die Fülle der Steigerungen des Willens, die wechselnde Quantität von Lust und Unlust erkennen wir wieder in der D y n a m i k des Tons. Aber das eigentliche Wesen desselben birgt sich, ohne sich gleichnißweise ausdrücken zu lassen, in der H a r m o n i e . Der Wille und sein Symbol — die Harmonie — beide im letzten Grunde die r e i n e L o g i k ! Während die Rhythmik und die Dynamik gewissermaßen noch Außenseiten des in Symbolen kundgegebenen Willens sind, fast noch den Typus der Erscheinung an sich tragen, ist die Harmonie Symbol der reinen Essenz des Willens. In Rhythmik und Dynamik ist demnach die Einzelerscheinung als Erscheinung noch zu charakterisiren, v o n d i e s e r Seite kann die Musik zur K u n s t des Scheins a u s g e b i l d e t w e r d e n . Der unauflösliche Rest, die Harmonie spricht vom Willen außerhalb und innerhalb aller Erscheinungsformen, ist also nicht bloß Gefühls- sondern W e l t s y m b o l i k . Der Begriff ist in s e i n e r Sphäre ganz unmächtig. 89
„Ohne sich gleichnißweise ausdrücken zu lassen": das erinnert uns an jene gleichnishafte Frage, die Nietzsche am Ende der Vorstufe von „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" als Ausdruck der Erkenntnis formuliert hatte, daß man über jene tiefste Schicht der Erscheinungswelt, den Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit, sprachlich nur in hohem Maße gleichnishaft reden kann, weitaus weniger gleichnishaft, am wenigsten scheinhaft, mit der Musik. Von ihr hat sich jedoch jetzt gezeigt, daß sie in manchen Aspekten scheinhafter, will sagen: der Individuation, der Gestalthaftigkeit zugekehrter ist als in anderen. Es sind dies ihre zähl- und meßbaren Parameter: Takt, Rhythmik und Dynamik. Bezogen auf Schopenhauer und seine „Hypothese", wonach „die Welt der Zahl [ . . . ] die Erscheinungsform des Willens [ist]"90, heißt das aber, daß in der Musik nicht nur das Abbild — in Nietzsches Sprache: das Gleichnis — des Willens als der metaphysischen Seite der Welt gesehen werden muß, sondern daß sie, wie Nietzsche im Winter 1869/70—Frühjahr 187091 bemerkt, die [s]trenge Scheidung beider
Welten
— der physischen und der metaphysischen Welt — gleichnishaft zur Erscheinung bringt: Gleichniß an der Musik: auf der einen Seite reine Z a h l auf der andern reiner W i l l e .
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Bedenkt man zudem, daß in Nietzsches eigentlicher Sichtweise die von Schopenhauer als metaphysisch bezeichnete Seite der Welt „physisch" bleibt — im oben zitierten Text kündet die Formulierung: „die Harmonie spricht vom Willen außerhalb und innerhalb aller Erscheinungsformen" 9 2 von dem in der „Geburt der Tragödie" vollzogenen Ubergang von der einen zur anderen Sichtweise —, dann wird deutlich, daß Nietzsche in diesen Aufzeichnungen kurz davor steht, den Gedanken des Weltstreites von Dionysos und Apoll zu denken: Dieses Gegensatzpaar wurde dann im Sommer 1870 in der Abhandlung „Die dionysische Weltanschauung" als Schlüssel zur Deutung der griechischen Tragödie eingeführt. Daß sich in der „Geburt der Tragödie" beide Ansätze, derjenige der Schopenhauerschen Willensmetaphysik und der eigene des Weltstreites, überlagern, verursacht im Text zahlreiche Brüche. Der vielleicht bedeutsamste findet sich in dem Entwurf einer Hierarchie der Künste, auf den wir im folgenden kurz eingehen wollen. Die Rangfolge akustische-gestische-optische Künste wird entgegen Nietzsches eigener Grunderfahrung nicht „physiologisch" — will sagen: mit der Art des Rausches, den sie jeweils erzeugen —, sondern metaphysisch mit Schopenhauerschen Termini begründet: Die Musik stehe deshalb am höchsten, weil sie nicht, wie alle anderen Künste Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst sei und also z u a l l e m P h y s i s c h e n d e r W e l t d a s M e t a p h y s i s c h e , zu aller Erscheinung das D i n g an sich darstelle. (16, 100)
Und er zitiert Schopenhauer 9 3 : Man könnte demnach die Welt ebensowohl verkörperte Musik, als verkörperten Willen nennen (16, 102).
Daraus soll nun aber erklärlich sein zum einen, warum Musik jedes Gemälde, ja jede Scene des wirklichen Lebens und der Welt, sogleich in erhöhter Bedeutsamkeit hervortreten lässt (16, 102)94, zum anderen aber, warum unsere Phantasie sich angeregt fühlt, die Musik „in einem analogen Beispiel uns zu verkörpern" (16, 103): Wie Schopenhauer in der Sprache der Scholastik sagt 95 , gibt die Musik gegenüber der Wirklichkeit als den „universalia in r e " die „universalia ante rem". Muß somit im Hinblick auf die Schopenhauersche Willensmetaphysik der Tonkunst — will sagen: der „absoluten", „von Funktionen, Worten, Handlungen und schließlich sogar von irdisch greifbaren Gefühlen und Affekten" 9 6 losgelösten Musik — der höchste Rang zugesprochen werden, so scheint im Hinblick auf den Weltstreit von Dionysos und Apoll die Tragödie bzw., als deren Wiedergeburt in neuerer Zeit, das Musikdrama — konkret: Wagners „Tristan und Isolde" — den ersten Platz für sich zu beanspruchen. Doch hat die Tatsache, daß die „Geburt der Tragödie" das
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Musikdrama an die Spitze der neuzeitlichen Kunsthierarchie stellt, nur mittelbar etwas mit ihrem Grundgedanken des Weltstreits zu tun. Unmittelbar ist dies vielmehr in der von Carl Dahlhaus als „verwirrend paradox" bezeichneten 97 ideengeschichtlichen Situation der Schrift begründet. In Wagners „Tristan" stellt ihren Ausführungen zufolge die sichtbare Handlung in Ausprägung vor allem der mehr scheinhaften Seiten der Musik gleichnishaft dar, was diese in höchster Allgemeinheit zum Ausdruck bringt, das Urleiden der Welt, das rastlose Streben des Willens zum Leben und damit auch zur Vernichtung, kurz: das fortwährende Werden der Welt — den „Geist" der Musik, den auch die Tragödie gleichnishaft zur Erscheinung bringt: Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Uebersetzung der instinctiv unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt wird. (16, 104)
Im Ausgang von der Schopenhauerschen Musikmetaphysik kehrt Nietzsche mithin den ästhetischen Fundamentalsatz, von dem Wagner in „ O p e r und D r a m a " in polemischer Absetzung von der Operntradition ausgegangen war, um und erklärt das Drama zur Funktion der Musik, ohne daß er dabei jedoch — wie er später meinte behaupten zu dürfen 9 8 — den geltenden Ansichten seines Freundes widerspricht. Denn dieser selbst hat bei seiner Bekehrung vom Feuerbach-Adepten, „der die leibhafte Existenz des Menschen — also im Drama die sichtbare Aktion — akzentuierte" 9 9 , zum Schopenhauer-Jünger die tragenden Thesen seiner Reformschriften zwangsläufig revidiert. Auch er hört jetzt aus der „Orchestermelodie" des musikalischen Dramas das „innerste Wesen" der Vorgänge heraus. Belegt ist dies durch die 1870 entstandene, von Nietzsche emphatisch aufgenommene 1 0 0 Beethoven-Abhandlung, in der es in Bezugnahme auf die szenisch-mimische Aktion von der Musik heißt: Sie spricht das innerste Wesen der Gebärde mit solch unmittelbarer Verständlichkeit aus, daß sie, sobald wir ganz von der Musik erfüllt sind, sogar unser Gesicht f ü r die intensive Wahrnehmung der Gebärde depotenziert, so daß wir sie endlich verstehen, ohne sie selbst zu sehen. 101
Wenngleich er sich damit, wie auch Carl Dahlhaus bemerkt, 102 die mit dem Terminus absolute Musik bezeichnete Idee zu eigen gemacht hat, mithin auch für ihn als „Opern"komponisten die Instrumentalmusik — in seinem Falle: die symphonische Orchestermelodie — nunmehr das Wesen der Welt ausspricht, so konnte er doch den Terminus selber nicht verwenden: die Erinnerung an den polemischen Sinn des von ihm aufgebrachten, einen
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defizienten Modus der Musik bezeichnenden Wortes 103 vermochte er nicht auszulöschen. Anders Nietzsche, der in einem nicht veröffentlichten Fragment aus dem Umkreis der „Geburt der Tragödie" 1 0 4 explizit nur in Widerspruch zu Franz Brendels Theorie der Programmusik, implizit aber auch in Entgegensetzung zu Wagners früherer und in Ubereinstimmung mit dessen gegenwärtiger Ästhetik des musikalischen Dramas folgendes bemerkt: Was sollen wir also von jenem ungeheuerlichen aesthetischen Aberglauben halten, daß Beethoven, mit jenem vierten Satz der Neunten selbst ein feierliches Bekenntniß über die Grenzen der absoluten Musik abgegeben, ja mit ihm die Pforten einer neuen Kunst gewissermaßen entriegelt habe, in der die Musik sogar das Bild und den Begriff darzustellen befähigt und damit dem „bewußten Geiste" erschlossen worden sei?105 Auch die Oper — wie schließlich, das belegt die „Geburt der Tragödie", das Wagnersche Musikdrama — kann er nur als absolute Musik wahrnehmen: so wird der Werth der Oper um so höher sein, je freier, unbedingter, dionysischer die Musik sich entfaltet und je mehr sie alle sogenannten dramatischen Anforderungen verachtet. Die Oper in diesem Sinn ist dann freilich im besten Falle gute Musik und nur Musik: während die abgespielte Gaukelei gleichsam nur eine phantastische Verkleidung des Orchesters, vor allem seiner wichtigsten Instrumente, der Sänger, ist, von der der Einsichtige sich lachend abwendet.106 Doch geht er in dieser Ablehnung der Oper nur vordergründig gesehen mit den Thesen der Wagnerschen Ästhetik konform, hintergründig betrachtet, spricht sich darin seine in der Zeit der Freundschaft mit Wagner zurückgedrängte Abneigung gegen das Theaterwesen überhaupt 107 aus — eine Abneigung, die nicht bloß in manchem frühen Brief 108 nur anklingt, sondern auch den zum ersten Male Anfang 1874—Frühjahr 1874 in privaten Aufzeichnungen erhobenen, im Zentrum der späteren Wagner-Kritik stehenden Vorwurf trägt, daß dieser „ein versetzter Schauspieler" 109 sei. Daß Nietzsche trotz dieser Abneigung gegen das Theater in seiner philosophischen Erstlingsschrift die Tragödie bzw. das Musikdrama Wagners zur höchsten Kunstgattung erhebt, hat — einmal abgesehen von den apologetischen Absichten — seinen ersten wichtigen Grund in den via Wagner durch Feuerbach mitgeprägten, Nietzsches gesamten Denkweg leitenden Vorstellungen von einer ganzheitlichen leibhaften — dionysisch bestimmten — Existenz des Menschen, 110 die er der griechischen Frühzeit der abendländischen Geschichte zuspricht. Diese Epoche, auf deren Wiedergeburt er hofft, betrachtete aber die Tragödie als höchste Kunstgattung. Weil er auf diese jedoch die ästhetische Erfahrung überträgt, die er mit den Wagnerschen Musikdramen gemacht hat, 111 scheint uns der wichtigste Grund für die Bevorzugung von Tragödie und Wagnerschem Musikdrama — als deren vermeintliche Neugeburt — in der Tatsache
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beschlossen zu sein, daß Nietzsche mit „Musik" allein die von ihm als absolut gehörte symphonische Orchestermelodie Wagners versteht („Denn genau das ist Musik und nichts sonst!"), als welche die apollinischen Elemente im dionysischen Geiste traktiert und so eine Bändigung außerhalb ihrer eigenen Sphäre suchen muß — in der aus ihrem Geiste geborenen mythischen Handlung: Darum nämlich kann Nietzsche jetzt noch nicht der Musik selber zusprechen — auch später muß er es bei Worten der Hoffnung belassen (siehe Anmerkung 259 zum vorigen Abschnitt) —, was er vorderhand im Musikdrama erblickt, die strittigste Form des Streites von Dionysos und Apoll. So bemerkt Nietzsche in den zurückgehaltenen Notizen seiner ersten Wagner-Kritik von Anfang 1874—Frühjahr 1874: Das Aufhören der grossen rhythmischen Perioden, das Übrigbleiben der Taktphrasen, macht allerdings den Eindruck der Unendlichkeit, des Meers: aber es ist ein Kunstmittel, nicht das reguläre Gesetz, zu dem es Wagner stempeln möchte. Wir haschen zuerst darnach, suchen uns Perioden, werden immer wieder getäuscht, und endlich wirft man sich in die Wellen. 112
Eingedenk dieser Erfahrung stellt Nietzsche an die Adressaten der „Geburt der Tragödie" die Frage, ob sie sich einen Menschen denken können, der den dritten Act von „Tristan und Isolde" ohne alle Beihülfe von W o r t und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu percipiren im Stande wäre, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflügel zu verathmen? (21,131)
So hat der tragische Mythus nicht nur die Aufgabe, „als Gleichniss der alleruniversalsten Thatsachen" zu fungieren, „von denen allein die Musik auf directem Wege reden kann" (21, 132), vielmehr soll uns die Handlung der Tragödie oder des Musikdramas auch vor der Gewalt der Musik schützen, die umgekehrt gerade dadurch — und das stimmt mit unseren Ausführungen über das Wesen des Streites überein — „erst die höchste Freiheit" zuteil wird: Die Tragödie stellt zwischen die universale Geltung ihrer Musik und den dionysisch empfänglichen Zuhörer ein erhabenes Gleichniss, den Mythus, und erweckt bei jenem den Schein, als ob die Musik nur ein höchstes Darstellungsmittel zur Belebung der plastischen Welt des Mythus sei. Dieser edlen Täuschung vertrauend darf sie jetzt ihre Glieder zum dithyrambischen T a n z e bewegen und sich unbedenklich einem orgiastischen Gefühle der Freiheit hingeben, in welchem sie als Musik an sich, ohne jene Täuschung, nicht zu schwelgen wagen dürfte. [ . . . ] . D a f ü r verleiht die Musik, als Gegengeschenk, dem tragischen Mythus eine so eindringliche und überzeugende metaphysische Bedeutsamkeit, wie sie W o r t und Bild, ohne jene einzige Hülfe, nie zu erreichen vermögen; und insbesondere überkommt durch sie den tragischen Zuschauer gerade jenes
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sichere V o r g e f ü h l einer höchsten Lust, zu der der W e g durch U n t e r g a n g und V e r n e i n u n g führt, so dass er zu hören meint, als ob der innerste A b g r u n d der D i n g e zu ihm spräche. (21, 130 f.)
Entscheidend ist bei diesem Zitat das „Als ob", wird damit doch auf den metaphysischen Trost angespielt, mit dem die Tragödie das Entsetzende der tragischen Erkenntnis zu bändigen sucht, daß alles Lebende dem Tode anheimgegeben ist, 113 daß alles Sein im Strudel des Werdens unterzugehen ist. Metaphysisch ist dieser Trost aber insofern, als die Tragödie dem haltlosen Werden den Charakter des Seins aufprägt — „dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhaftiger Deutlichkeit als Satyrchor" (7, 52) — und so dem Menschen die Möglichkeit der Sinnsetzung gewährt. Ähnlich ist es auch mit den anderen Künsten. Sie alle erwachsen aus jener tragischen Erkenntnis — schöpferisch macht für Nietzsche allein das Leiden —, sind indes nach der Art und Weise unterschieden, in der sie auf diese und auf die in ihr aufscheinende Schicht des Werdens bezogen bleiben, ob sie nämlich, wie die apollinischen Künste Malerei und Plastik, auf die Erscheinungs-, d. h. auf die Seinswelt, oder, wie die für Nietzsche höher stehenden dionysischen Künste Tragödie und Musikdrama, auf die Musikwelt, d. h. auf das Werden, hindeuten. Niemals aber kann der andere der beiden Streitpartner fehlen — andernfalls die Fuge des in sich zwiefältigen Um-risses und mit ihr die künstlerische Gestalt überhaupt zum Verschwinden gebracht würde. Die Fuge kann allenfalls dem Betrachter aus dem Blick geraten. Was für die Künste gilt, gilt auch für die Sprache, in der Nietzsche, wie wir wissen, die Verschmelzung von Ton, als Symbol des Willens, und Gebärde, als Symbol der begleitenden Vorstellung, erkennt. Als, wie es in der „Geburt der Tragödie" heißt (6, 47), „Organ und Symbol der Erscheinungen" gleich der Kunst an sich apollinischen Wesens, steht sie damit für ihn, wie schon für Hegel, zwischen Musik und Plastik, so daß sie von daher — entsprechend dem höchsten Kunstwerk der attischen Tragödie — wesensmäßig als der strittigste Widerstreit von Dionysos und Apoll zu begreifen ist. Das aber bedeutet, daß Bild und bedeutungsvoller Sprachlaut für Nietzsche wie bereits für Humboldt und später auch für Saussure durch einander sind. Bild und bedeutungsvoller Sprachlaut sind durch einander — gesprochen im Hinblick auf das zeichentheoretische Modell des Genfer Linguisten heißt das (— bei welchem Vergleich man natürlich im Auge haben muß, daß Nietzsche dessen Grundgedanken des Oppositionssystems nicht kannte): signifiant und signifie konstituieren einander wechselseitig im
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einigen Streite, wobei la barre, der sie trennend-verbindende Balken des Algorithmus der Fuge der Dinge entspricht, mit denen die Sprache als ebenfalls Seiendes notwendig übereinkommt. Das aber bedeutet, daß die Sprache nur dort wesensgemäß spricht, wo dieser Streit aufrechterhalten wird; was besagt, daß sich der sprechende Mensch um bildliche, die Erscheinungen der Welt vorstellende Sprachdarstellungen bemühen soll, im Bewußtsein indes, daß sie Erscheinungen, vergängliche Gleichnisse, Metaphern des im Lautkontinuum symbolisierten Willens sind, der als Grund der Welt sich für uns nur in solchen Erscheinungen fortzeugt. Und nur wenn der Mensch in dieser Weise, dem Wesen der Sprache entsprechend, spricht, entspricht er, das sprechende Wesen, dem Wesen der Welt, das für uns als Widerstreit von Dionysos und Apoll west, nur dann zeugt er aber auch sprechend den Weltstreit fort, als welcher sich das Leben vollzieht — unsere früheren Ausführungen über die Sprache werden mithin bestätigt. Solchem wesentlichen Sprechen, als das Nietzsche, wie wir wissen, in Ubereinstimmung mit der Tradition seit Herder das dichterische Sprechen begreift, bieten sich nun aber drei Möglichkeiten des Sprechens an: J e nachdem [ . . . ] das Wort vorwiegend als Symbol der begleitenden Vorstellung oder als Symbol der ursprünglichen Willensregung wirken soll, je nachdem also Bilder oder Gefühle symbolisirt werden sollen, scheiden sich zwei W e g e der Poesie ab, das E p o s und die Lyrik. D e r erste führt zu der bildenden Kunst, der andre zur Musik: die Lust an der Erscheinung beherrscht das Epos, der Wille offenbart sich in der Lyrik. Jenes löst sich von der Musik los, diese bleibt mit ihr im Bunde.' 1 4
Das eine Mal ist das Sprechen, das als solches im Verhältnis zur Musik apollinisch genannt werden muß, darum mehr als dionysisch, das andere Mal mehr als apollinisch zu bewerten. Höchste Form des Sprechens ist aber der dionysische Dithyrambus, in dem „der dionysische Schwärmer zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Vermögen gereizt" 1 1 5 wird, Apollinisches und Dionysisches in ihre höchsten Sprach-Möglichkeiten gelangen. Von der Musik und der durch sie symbolisierten Sphäre reden somit nur die Lyrik und der Dithyrambus, und dies, wie es in der Natur der Sprache liegt, zumindest, was die Inhaltsseite, die Seite der begleitenden Vorstellung angeht, notwendigerweise metaphorisch — während das Epos über ihre Sphäre hinausgeht, jedoch insofern auf sie bezogen bleibt, als es die von ihm ins Auge gefaßten Erscheinungen als Erscheinungen des Urgrundes der Welt auffaßt. Mit der Musik aber reden alle drei Sprecharten — und sind so als apollinisch-gefügte Erscheinungen auf das innigste dem Um-riß des dionysischen Werdens und Vergehens, als Bleibendes dem Flüchtigen in der Zeit ausgesetzt: zumindest solange sie geredet werden. Denn die
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Verschriftlichung entzieht die Sprache der Einwirkung der Zeit — und leistet so der Entartung der Sprache zur reinen Begriffssprache Vorschub, die — wie schon angesprochen — die Weltverhaltung des Sokratismus — von Nietzsche bisweilen auch als „Alexandrinismus" bezeichnet — prägt. Dieser Sokratismus bestimmt, seitdem er die tragische Weltverhaltung als herrschende Lebens- und Kulturform ablöste, ohne Unterbrechung die abendländische Geschichte: Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden t h e o r e t i s c h e n M e n s c h e n , dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist. (18, 112) Diese „Kultur"form ist, wie wir schon ausgeführt haben, dadurch ausgezeichnet, daß sie sich vor der Unergründlichkeit der Welt, vor dem Rätsel von Werden und Vergehen fürchtet und sich darum an die begrifflich festgestellten und damit von ihrer Lebenswurzel abgeschnittenen historischen Erscheinungen klammert, ohne zu bemerken, daß ihr dabei das Leben zu bloßen Worthülsen verkommt: Im sprachlichen Begriff hat keine eigentliche, nämlich unmittelbare Aus-einander-setzung des dionysischen Lebensvollzuges mehr statt, so daß der schöpferische Fort-schritt des Lebens im Sokratismus nahezu zum Stillstand kommt. „ U n d weil du Dionysus verlassen, so verliess dich auch Apollo", sagt Nietzsche formelhaft über diese Kultur und meint damit, daß in ihrer von der Wissenschaft geprägten Weltverhaltung der Blick vom dionysischen Weltgrund ab- und zu den Erscheinungen hingewendet wurde, so zwar, daß man bei ihrer Erforschung den Um-riß ins Ungeheure des maßlosen Werdens und damit die Endlichkeit alles Seienden ausgeblendet hat; „und deshalb ist", schreibt Nietzsche, das Bild des s t e r b e n d e n S o k r a t e s als des durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen das Wappenschild, das über dem Eingangsthor der Wissenschaft einen Jeden an deren Bestimmung erinnert, nämlich das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen [...]. (15, 95) „ D a s Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen": das ist das Gegenwort zur tragischen Kultur, für die, wie wir noch zeigen werden, das Dasein nur ästhetisch zu rechtfertigen ist, weil sie es als unbegreiflich erkennt. Mit Sokrates ist dieses von der Erfahrung der Endlichkeit des Menschen bestimmte Zeitalter darum gestorben, weil in ihm und durch ihn eine tiefsinnige W a h n v o r s t e l l u n g [ . · · ] zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu c o r r i g i r e n im Stande sei. (15, 95)
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Daß Nietzsche hierbei den historischen Sokrates im Sinne seines Entwurfs einer monumentalischen Historie zu einer mythischen Gestalt stilisiert, wird vor allem an seinen Ausführungen über Euripides deutlich, der die vernunftgeprägte Weltverhaltung in der Tragödiendichtung und damit in der Kunst überhaupt — wesenswidrig — zur Herrschaft gebracht haben soll: Aus ihm habe, laut Nietzsche, „nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt S o k r a t e s " (12, 79) geredet. So erblickt Nietzsche im historischen Sokrates das Urbild des theoretischen Optimisten, der in d e m bezeichneten G l a u b e n an die Ergründlichkeit der N a t u r der D i n g e dem Wissen und der Erkenntniss die K r a f t einer Universalmedizin beilegt und im Irrthum das U e b e l an sich begreift. In jene G r ü n d e einzudringen und die w a h r e Erkenntniss v o m Schein und v o m Irrthum zu sondern, dünkte d e m sokratischen M e n s c h e n der edelste, selbst der einzige w a h r h a f t menschliche Beruf zu sein [ . . . ] (15, 96).
Alles, selbst
die erhabensten sittlichen T h a t e n , die R e g u n g e n des Mitleids, der A u f o p f e r u n g , des H e r o i s m u s und jene schwer zu erringende Meeresstille der Seele, die der apollinische Grieche S o p h r o s y n e nannte, w u r d e [ . . . ] von S o k r a t e s und seinen gleichgesinnten N a c h f o l g e r n bis auf die G e g e n w a r t hin aus der D i a l e k t i k des Wissens abgeleitet und d e m g e m ä s s als lehrbar bezeichnet. (15, 97)
Allein diese „sokratische Lust des Erkennens" mit Hilfe des „Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse" — „von Sokrates ab als höchste Bethätigung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur über alle anderen Fähigkeiten geschätzt" (15, 96 f.) — hält den Menschen des Alexandrinismus im Leben fest und zwingt ihn zum Weiterleben. Wir haben schon ausführlich dargelegt, warum Nietzsche zufolge durch diese Weltverhaltung die Gefahr der Weltvernichtung droht. Doch weiß er gleich dem Lieblingsdichter seiner Jugendjahre, dem damals noch weithin unbekannten Friedrich Hölderlin: Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Nietzsche meint damit, wie wir wissen, daß jener der Wissenschaft „als Instinct" beigegebene „erhabene metaphysische Wahn", „dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu c o r r i g i r e n im Stande sei", „sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen [führt], an denen sie in K u n s t " — nämlich in den Mythus — „umschlagen muss: a u f w e l c h e es e i g e n t l i c h , b e i d i e s e m M e c h a n i s m u s , a b g e s e h n i s t . " (15, 95) Ihm zufolge eilt die W i s s e n s c h a f t , von ihrem kräftigen W a h n e angespornt, u n a u f h a l t s a m bis zu ihren G r e n z e n , an denen ihr im W e s e n der L o g i k v e r b o r g e n e r O p t i m i s m u s scheitert. (15, 97)
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Die Logik, die den Leitfaden der Wissenschaft abgibt, reflektiert sich selbst und muß erkennen, daß sie auf unlogischen Voraussetzungen basiert — die „Wahnvorstellung als solche" wird erkannt, „welche, an der H a n d der Causalität, sich anmaasst, das innerste Wesen der Dinge ergründen zu können." (18, 114) Der „edle und begabte" sokratische Mensch, der sich furchtvoll die Frage stellt, wie er jemals den Kreis seiner Wissenschaft völlig ausmessen soll, trifft, wie Nietzsche glaubt, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, w o er in das Unaufhellbare starrt. W e n n er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst — da bricht die neue Form der Erkenntnis durch, d i e t r a g i s c h e E r k e n n t n i s s , die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht. (15, 97)
Diese tragische Erkenntnis beruht darin, daß der Mensch erkennen muß, das innerste Wesen der Welt nicht erkennen zu können — eine Erkenntnis, die f ü r den sokratischen Menschen gerade deshalb so grausam ist, weil er sich damit radikal auf dasjenige zurückgeworfen sieht, was er fliehen wollte: auf seine Endlichkeit. Mithin erschließt sich ihm in der tragischen Erkenntnis von der Begrenztheit seines Erkenntnisvermögens dasjenige, was für die Griechen die tragische Erkenntnis gewesen ist: das Wissen um das ewige Leiden der Welt. Damit aus diesem Wissen aber nicht ein lebensverneinender oder, wie Nietzsche sagt, ein „praktischer Pessimismus" (15, 96), ein Pessimismus der Schwäche, erwächst, der Optimismus der wissenschaftlichen Weltverhaltung vielmehr in einen lebensbejahenden Pessimismus, einen Pessimismus der Stärke, überführt wird, bedarf es jedoch der Tröstungen der Kunst: Das zeigen dem sokratischen Menschen nicht nur die Griechen des tragischen Zeitalters, vielmehr geht dies auch aus seiner eigenen Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens hervor, die den Erkenntnisapparat als Kunstapparat ausweist. Die Natur selber hat somit schon Vorkehrungen „ z u r Abwehr jenes Pesthauchs" (15, 97) der Verzweiflung über die Furchtbarkeit des Lebens getroffen. Als Folge dieser Erkenntnis kann aber auch jene Verzweiflung des sokratischen Menschen über die Begrenztheit seiner Erkenntniskraft umschlagen in eine Dankbarkeit dem Leben gegenüber — eine Verwandlung, die überdies um so eher eintreten sollte, als in dieser Erkenntnis auch ein Ausweg aus den quälenden Labyrinthen der Wissenschaft gewiesen ist.116 Letzteres darf indes nicht so verstanden werden, als habe man nun die Wissenschaft ganz aufzugeben. Im Gegenteil: auch sie ist, wie Nietzsche dankbar vermerkt (15, 96), gleich der Religion ein movens des Lebens. Sie soll nur fortan anders betrieben werden, nämlich im Bewußtsein ihrer Grenzen, genauer: im Bewußtsein der einen Grenze, der Fuge des in sich
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zwiefältigen Um-risses. Sie soll mithin als Kunst im weitesten Sinne aufgefaßt werden — dort wie hier wird ja gleich gedacht —, ohne daß sie man sie dabei doch wie die Kunst im engeren Sinne traktieren dürfte. Hielte die Wissenschaft nämlich nicht mehr am — wie sie nun weiß: unerreichbaren — Begriff der Wahrheit als adaequatio fest, so müßte das lebensnotwendige, weil den schöpferischen Fort-schritt ermöglichende Wissen um die Scheinhaftigkeit nicht nur der Kunst, sondern des Lebens selber verlorengehen. Wissenschaft und Kunst treten mithin in einen in sich einigen, nämlich das Leben forttreibenden Wettstreit ein. Dieser kann insofern selber der Kunst im weitesten Sinne zugerechnet werden, zum einen, als dort wie hier, in Wissenschaft wie Kunst, gleich gedacht wird, zum anderen, als er maßsetzend ist. Er gibt sich mithin als eine Abart des Weltstreites von Dionysos und Apoll zu erkennen — was noch deutlicher wird, wenn man bedenkt, daß der Wissenschaft in diesem Streit vor allem das Geschäft der Zersetzung und Zerstörung, der Kunst hingegen vor allem die Aufgabe des Bauens obliegt. Nietzsches Symbol dafür, daß „die Kunst [ . . . ] ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft" (14, 92) darstellt, ist der musiktreibende Sokrates: Im „ P h a i d o n " (60 e) läßt Piaton den inhaftierten Sokrates berichten, daß er nach seiner Verurteilung zum Tode endlich jener inneren Stimme gefolgt sei, die ihm schon lange befohlen habe, Musik zu treiben. Nietzsche erkennt darin des ,,despotische[n] Logikers" einziges „Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur: vielleicht — so musste er sich fragen — ist das mir Nichtverständliche", die von ihm bekämpfte Kunst, „doch nicht auch sofort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist?" (14, 92) Diese Weisheit ist die dionysische Weisheit, für die in unserer Zeit Kant und Schopenhauer die Augen geöffnet und der Wagner in seinen Musikdramen Ausdruck verliehen haben soll. Sie kann auch als künstlerische Weisheit bezeichnet werden, nicht nur, weil sie der Kunst aus dem Wissen um die Grenzen der Wissenschaft den höchsten Rang zuspricht, sondern mehr noch, weil sie nur in der künstlerischen Gestaltung des Mythos ergriffen werden kann: Das wichtigste Merkmal der tragischen Kultur, die nach Nietzsches H o f f n u n g nunmehr eingeleitet ist, muß ihm zufolge darin gesehen werden, dass an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich, ungetäuscht durch die verführerischen A b l e n k u n g e n der Wissenschaften, mit u n b e w e g t e m Blicke dem Gesammtbilde der W e l t z u w e n d e t und in diesem das e w i g e Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden z u ergreifen sucht. (18, 114)
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Wie dies in der „Geburt der Tragödie" selber schon geschieht, die über die dionysische Weisheit nicht nur redet, sondern sie auch — folgt man den obigen Ausführungen: zwangsläufig — gestaltet. Sie selber trägt so den künstlerischen Streit von Wissenschaft und Kunst in sich aus. Wie wir gesehen haben, entfaltet Nietzsche dasjenige, was er in seinen zurückgehaltenen erkenntnistheoretischen Aufzeichnungen und Reflexionen in Kenntnis „der einschlägigen Untersuchungen, vornehmlich der physiologischen seit Kant" (siehe Seite 4) in wissenschaftlichen Termini bedenkt, in seiner philosophischen Erstlingsschrift auf begriffsdichterische Weise, wodurch er das zum Austrag bringt, was er reflexiv, nämlich sprachphilosophisch, erst später, in der Abhandlung „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne", eingeholt hat. Eine Stufenfolge seiner Texte wird erkennbar: Entfaltet er in seinen erkenntnistheoretischen Fragmenten in wissenschaftlicher Sprache den Gedanken, daß unser Erkenntnisapparat als Vorstellungsapparat ein Kunstapparat ist, der die tiefste uns zugängliche Schicht des Werdens, d. h. des Flusses der Empfindungen in der Zeit, zu Gestalten fügt, und zieht er in der besagten sprachphilosophischen Abhandlung daraus die Folgerung, daß der Mensch sein damit aufgewiesenes Wesen als animal creans vor allem dadurch bezeugt, daß er sprachschöpferisch tätig ist, dergestalt, daß er mit seinen Metaphern f ü r sich immer neue Welten schafft, so überholt er diese Entwürfe in der „Geburt der Tragödie" in der Weise, daß er im Ausgang von einer Ästhetik, welche nicht nur Lehre von der Kunst und dem Schönen, sondern auch Lehre von der Wahrnehmung, d. h. Erkenntniskritik ist — Nietzsche hört mithin aus „Ästhetik" das griechische αϊσθησις „Wahrnehmung; Erkenntnis, Bewußtsein" heraus —, eine neue, metaphorisch gefaßte „Weltanschauung", einen die tragische Weisheit gestaltenden Mythos, gewinnt: den des spielerischen Weltstreites von Dionysos und Apoll. Wobei er dadurch, daß er diese Metaphern als Metaphern, damit die Scheinhaftigkeit seiner Ausführungen zu erkennen gibt, seiner eigenen Bestimmung der Kunst genügt, wonach diese den „ S c h e i n a l s S c h e i n " behandeln soll: Die „Geburt der Tragödie" ist, wie wir sagten, das Kunstwerk, von dem sie spricht. Wenn die Schrift somit in sich den Kampf von Kunst und Erkenntnis austrägt, in dem Nietzsche das Wesen der Philosophie erblickt, dann heißt das aber, daß das von ihr für diesen Streit gefundene Bild des musiktreibenden Sokrates letztlich ein Selbstbildnis ihres Verfassers ist, der seine wissenschaftlichen Einsichten in ein künstlerisches Bild vom „ G a n z e n " der Welt, nicht zuletzt vom Gang ihrer Geschichte einfügt, um so — im Sinne seines Entwurfes einer monumentalischen Historie — den Menschen
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einen neuen Mythos zu geben, an dem sie sich, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft deuten können. Dichten und Denken werden mithin in der Kunst-Philosophie
der
„ G e b u r t der T r a g ö d i e " eines. Das aber zeigt sich vor allem an ihrer zentralen Metapher des spielerischen Welt-Streites von Dionysos und Apoll, der wir im folgenden weiter nachdenken wollen.
4. „denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig g e rechtfe rtigt: — "Noch einmal: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll Mit dieser Metapher des spielerischen Welt-Streites von Dionysos und Apoll sucht Nietzsche das Entsetzen der tragischen oder dionysischen Erkenntnis
apollinisch
zu
bändigen,
um
so
den
Pesthauch
der
Lebensverneinung abzuwehren. In der unveröffentlichten Abhandlung „ D i e Philosophie im tragischen Zeitalter der G r i e c h e n " führt er dies in der persona Heraklits wie folgt aus: Das ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist, wie dies Heraklit lehrt, ist eine furchtbare und betäubende Vorstellung und in ihrem Einflüsse am nächsten der Empfindung verwandt, mit der Jemand, bei einem Erdbeben, das Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert. Es gehörte eine erstaunliche Kraft dazu, diese Wirkung in das Entgegengesetzte, in das Erhabne und das beglückte Erstaunen zu übertragen. Dies erreichte Heraklit durch eine Beobachtung über den eigentlichen Hergang jedes Werdens und Vergehens, welchen er unter der Form der Polarität begriff, als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Thätigkeiten. Fortwährend entzweit sich eine Qualität mit sich selbst und scheidet sich in ihre Gegensätze: fortwährend streben diese Gegensätze wieder zu einander hin. [ . . . ] Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden: die bestimmten, als andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das momentane Übergewicht des einen Kämpfers aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort. Alles geschieht gemäß diesem Streite, und gerade dieser Streit offenbart die ewige Gerechtigkeit. 117 Nietzsche fährt fort: Nur ein Grieche war im Stande, diese Vorstellung als Fundament einer Kosmodicee zu finden; es ist die gute Eris Hesiods, zum Weltprincip verklärt, es ist der Wettkampfgedanke des einzelnen Griechen und des griechischen Staates, aus den Gymnasien und Palästren, aus den künstlerischen Agonen, aus dem Ringen der politischen Parteien und der Städte mit einander, in's Allgemeine übertragen, so daß jetzt das Räderwerk des Kosmos in ihm sich dreht.118
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Bereits der Leipziger Student hat in einem Vortrag vor Kommilitonen 119 den ά γ ω ν , den Wettkampf, als einen prägenden Wesenszug der Griechen herausgestellt („der ά γ ω ν [ . . . ] [ist] von den ältest(en) Zeite(n} griechische(r) Geschichtsschreibung an ein wirkendes Element". 120 ) und in ihm, dem Willen eines jeden Griechen, den andern zu übertreffen, das movens der griechischen Kultur gesehen — eine Erkenntnis, welche die spätere Auslegung des „Lebens" als Wille zur Macht entscheidend bestimmt hat: Der Argumente wären genug, um einen Exkurs über Nietzsches Gedanken zum ά γ ώ ν zu rechtfertigen. Um der Straffung der Darstellung willen muß er hier indes unterbleiben (vgl. auch Seite 156). Alles, was geschieht, geschieht nach Maßgabe eines Streites, welcher zutiefst unmoralisch, nämlich „jenseits von Gut und Böse", und darum als solcher ewig gerechtfertigt ist. Diese von Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" übernommene Deutung der Welt — Dionysos und Apoll seien „ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit, zu entfalten genöthigt", heißt es dort (25, 151) —, diese unmoralische Deutung sei, so führt Nietzsche in seiner Schrift über die Vorplatoniker aus, Heraklits Antwort auf Anaximanders moralisch-metaphysische Weltauslegung: „Wie kann etwa vergehen", so habe dieser gefragt, was ein Recht hat zu sein! Woher jenes rastlose Werden und Gebären, woher jener Ausdruck von schmerzhafter Verzerrung auf dem Angesichte der Natur, woher die nie endende Todtenklage in allen Reichen des Daseins? [ . . . ] Was ist euer Dasein werth? Und wenn es nichts werth ist, wozu seid ihr da? Durch eure Schuld merke ich, weilt ihr in dieser Existenz. Mit dem Tode werdet ihr sie büßen müssen.121
Nietzsche verweist auf eine ähnliche Betrachtung Schopenhauers 122 und bemerkt dazu: wer, wie Schopenhauer, auf den „Höhen der indischen Lüfte" das heilige Wort von dem moralischen Werthe des Daseins gehört hat, der wird schwer davon abzuhalten sein, eine höchst anthropomorphische Metapher zu machen und jene schwermüthige Lehre aus der Beschränkung auf das Menschenleben herauszuziehen und sie auf den allgemeinen Charakter alles Daseins, durch Übertragung, anzuwenden. Es mag nicht logisch sein, ist aber jedenfalls recht menschlich, und überdieß recht im Stile des früher geschilderten Springens 123 , jetzt mit Anaximander alles Werden wie eine strafwürdige Emancipation vom ewigen Sein anzusehn, als ein Unrecht, das mit dem Untergange zu büßen ist.124
Die hier auf Taubenfüßen daherkommende Kritik an den metaphysischen Entwürfen Schopenhauers und Anaximanders kann erst dann recht gewürdigt werden, wenn die Formulierung „das heilige W o r t von dem moralischen Werthe" im Hinblick auf Heraklits Ansatz seine Bewertung, und das heißt: eine Umwertung erfährt: Aus dieser Welt des Schmerzes
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„den höchsten superlunarischen Aufschwung zu nehmen", nämlich „in eine metaphysische Burg" 125 zu flüchten, um dann von ihr aus jene physische Welt moralisch als „Welt des Unrechtes, des frechen Abfalls von der Ureinheit" 1 2 6 auszulegen, heißt, „die empirischen Stricke" 127 zu zerreißen, sich vom Wirklichen ins Unwirkliche abzukehren und in dessen Namen dasselbe, die werdende Physis, nichtig zu setzen — wobei es gleichgültig sein soll, ob jene über das Werden erhabene Ureinheit als ά π ε ι ρ ο ν (von Nietzsche nicht, wie üblich, als „Unendlichkeit" und „Unausschöpfbarkeit", sondern als „Unbestimmtes" übersetzt 128 ) oder als „Wille" bestimmt wird: Seiner Ansicht nach sollen beide darin übereinkommen, daß sie „dem Kantischen ,Ding an sich' als ebenbürtig gelten" dürfen, welches „freilich von dem Menschen nur negativ bezeichnet werden [kann], als etwas, dem aus der vorhandenen Welt des Werdens kein Prädikat gegeben werden kann" 1 2 9 . (Ebenwas Nietzsches Übersetzung von ά π ε ι ρ ο ν erklärt, welche ebensowenig haltbar ist, wie jene Parallelsetzung dieses Begriffes mit demjenigen des Dinges an sich, dient doch letzteres zur Bestimmung der neuzeitlichen Subjektivität.) Dementgegen bleibt Heraklit in seiner Deutung des Werdens Nietzsche zufolge der Erde treu. Mit ,,beschauliche[m] Wohlgefallen" beschreibe er „ n u r die vorhandene Welt" 1 3 0 . Anaximanders einen metaphysischen O r t zum Blickpunkt erwählender Auslegung stelle er diejenige vom in sich strittigen unmoralischen Spiel der Physis entgegen (— welche indes nach Heideggers und auch nach unseren Begriffen insofern metaphysisch genannt werden muß, als sie das Viele der Welt auf ein seiendes Eines, das Feuer, den Logos, hin übersteigt). In der „Geburt der Tragödie" übernimmt Nietzsche darum diese Auslegung Heraklits als eine erste Formel f ü r das, was er später die „Unschuld des Werdens" nennen wird, 131 für eine Weltbetrachtung mithin, die sich gegen jede moralisch-metaphysische, und d. h. vor allem christliche, „Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre" 1 3 2 setzt: alle Ethik beginnt damit, daß wir das einzelne Individuum u n e n d l i c h w i c h t i g nehmen — anders als die Natur, die grausam und spielend verfährt.,
notiert Nietzsche im Sommer 1872—Anfang 18 7 3133. Einige Monate später führt er dann in seiner den Vorplatonikern gewidmeten Schrift über Heraklits Weltdeutung mit Bezugnahme auf das Fragment 52 (Diels/Kranz) folgendes aus: Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. U n d so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer 134 , baut auf und zerstört, in Unschuld — und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich. Sich verwandelnd in Wasser
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und Erde thürmt er, wie ein Kind Sandhaufen am Meere, thiirmt auf und zertrümmert; v o n Zeit z u Zeit fängt er das Spiel v o n N e u e m an. Ein Augenblick der Sättigung: dann ergreift ihn v o n N e u e m das Bedürfniß, wie den Künstler z u m S c h a f f e n das Bedürfniß zwingt. N i c h t Frevelmuth, sondern der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andre W e l t e n ins Leben. D a s Kind wirft einmal das Spielzeug w e g : bald aber fängt es wieder an, in unschuldiger Laune. Sobald es aber baut, knüpft und f ü g t und formt es gesetzmäßig und nach inneren Ordnungen. 1 3 5
Die Welt, die Heraklit beschreibt, kennt keinen Stillstand. In der Perspektive Nietzsches heißt das, daß das Leben den Fort-schritt will, den es nur vollziehen kann, indem es das Alte als Abgelebtes hinter sich läßt: Zum Werden gehört das Vergehen, das keinesfalls moralisch-metaphysisch als Abtragung einer Schuld, einer Erbsünde, mißdeutet werden darf. Diese für Nietzsche „selbstverständlich" immer noch anthropomorphische, aber seiner Ansicht nach der Natur gemäßere — genauer: seinem Verständnis der Natur gemäßere — Deutung der Welt als „ S p i e l des Zeus, oder physikalischer ausgedrückt, des Feuers mit sich selbst" 136 , welche — wie Nietzsche selber in „Ecce h o m o " ausführt 1 3 7 — an seine spätere Lehre von der ewigen Wiederkunft gemahnt, wird von ihm nun als „aesthetische Grundperception" 1 3 8 bezeichnet: S o schaut nur der ästhetische M e n s c h die W e l t an, der an dem Künstler und an d e m Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit d o c h in sich G e s e t z und Recht tragen kann, w i e der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk steht, w i e N o t h w e n d i g k e i t und Spiel, Widerstreit und H a r m o n i e sich zur Z e u g u n g des Kunstwerkes paaren müssen. 1 3 9
Das künstlerische T u n ist demnach ein in sich höchste Gesetzmäßigkeit beschließendes Spiel, das in Freiheit gleichsam zwanghaft geschieht — wir haben dieser Paradoxien anläßlich unserer Ausführungen über die ewige Wiederkunft gedacht —, wobei „Kontemplation" und „Aktion", dionysische Inständigkeit in der und apollinische Abständigkeit zu der unmittelbaren Wirk-lichkeit des ästhetischen Zustandes zusammengespannt sind. Genau in diesem Sinne führt Nietzsche in „Die dionysische Weltanschauung" über das Verhältnis von Rausch, dionysischem Künstler und dionysischem Kunstwerk folgende Gedanken aus — durch die sich im übrigen unsere Überlegungen zur Streithaftigkeit von Dionysos und Apoll erneut bestätigt sehen: W e n n nun der Rausch das Spiel der N a t u r mit d e m Menschen ist, s o ist das S c h a f f e n des dionysischen Künstlers das Spiel mit d e m Rausche. Dieser Zustand läßt sich nur gleichnißweise begreifen, w e n n man ihn nicht selbst erfahren hat: es ist etwas Ahnliches, w e n n man träumt und zugleich den T r a u m als T r a u m spürt. S o m u ß der D i o n y s o s d i e n e r im Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter auf der Lauer liegen. N i c h t im W e c h s e l
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Ü b e r s e t z u n g e n : D i e Geburt der T r a g ö d i e aus dem Geiste der Musik
von Besonnenheit und Rausch, sondern im Nebeneinander zeigt sich das dionysische Künstlerthum. 1 4 0
Und dieses künstlerische Spiel fügt Auseinanderstrebendes zu einer Harmonie zusammen — ζ. B. die Malerei „die Bestandteile der weißen und schwarzen der gelben und der roten Farbe", die Musik „hohe und tiefe, lange und kurze Töne in verschiedenen Stimmen": In dieser Weise wird jedenfalls in der pseudoaristotelischen Schrift „ D e mundo" (5. 396 b 20 f.) der von Diels/Kranz als Fragment Nr. 10 in ihre Sammlung aufgenommene Heraklitische Satz ausgelegt: „συνάψιες ολα και ούχ ολα, συμφερόμενον
διαφερόμενον, συναιδον διαιδον, και εκ πάντων εν και εξ ένός πάντα —
Verbindungen: Ganzes und Nichtganzes, Einträchtiges Zwieträchtiges, Einklang Zwieklang, und aus Allem Eins und aus Einem Alles." 141 In ähnlicher Weise interpretiert Nietzsche die Wagnersche Musik. So kann man in „Richard Wagner in Bayreuth" lesen: Ueber allen den tönenden Individuen und dem K a m p f e ihrer Leidenschaften, über dem ganzen Strudel von Gegensätzen, schwebt, mit höchster Besonnenheit, ein übermächtiger symphonischer Verstand, welcher aus dem Kriege fortwährend die Eintracht gebiert: Wagner's Musik als Ganzes ist ein Abbild der Welt, sowie diese von dem grossen ephesischen Philosophen verstanden wurde, als eine Harmonie, welche der Streit aus sich zeugt, als die Einheit von Gerechtigkeit und Feindschaft. 1 4 2
Zugleich aber interpretiert er in der „Geburt der Tragödie" die Musik — Wagners Musik — im Anschluß an die Schopenhauersche Metaphysik als Abbild des sich in der Welt inkarnierenden Willens. Von daher muß es konsequent genannt werden, daß er in „ D i e Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen", im 5. Abschnitt 143 , die Brücke von Heraklit zu Schopenhauer schlägt, welcher „in der Natur überall Streit, Kampf und Wechsel des Sieges" erkennt und ebendann „die dem Willen wesentliche Entzweiung mit sich selbst" zu erblicken wähnt: J e d e Stufe der Objektivation des Willens macht der andern die Materie, den R a u m , die Zeit streitig. Beständig muß die beharrende Materie die Form wechseln, indem am Leitfaden der Kausalität mechanische, physische, chemische, organische Erscheinungen, sich gierig zum Hervortreten drängend, einander die Materie entreißen, da jede ihre Idee offenbaren will. 144
Auf der anderen Seite aber muß diese Herstellung einer Verwandtschaftsbeziehung in höchstem Maße gedankenlos genannt werden, vergißt Nietzsche dabei doch seine Einsicht, daß Heraklit die von Anaximander(-Schopenhauer) vorgenommene Abtrennung einer metaphysischen von unserer physischen Welt bestritten hat: Bei Heraklit ist der πόλεμος das welterspielende Prinzip eines dieser Welt immanenten λόγος, während bei Schopenhauer der „Kampf ums Dasein" als Folge der Weltinkarnation eines absoluten Willens begriffen wird. (Ein Unterschied, der bei Nietzsche
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wenigstens anklingt in der Bemerkung, daß der „ G r u n d t o n " der Schilderungen, die Schopenhauer von diesem Streit in der Welt gibt, „immer ein andrer bleibt als bei Heraklit, sofern der Kampf für Schopenhauer ein Beweis von der Selbst-Entzweiung des Willens zum Leben, ein An-sich-selber-Zehren dieses finstren dumpfen Triebes ist, als ein durchweg entsetzliches, keineswegs beglückendes Phänomen" 1 4 5 , als welches der Streit im Spielbegriff aufgefaßt wird: Pessimismus der Stärke versus Pessimismus der Schwäche.) Damit deutet sich an der Oberfläche von Nietzsches Ausführungen ein Tiefenriß an zwischen einem — nach seinem Sprachgebrauch — metaphysischen und einem physischen Ansatz. Dieser Riß erfaßt indes nicht nur seine Philosophie der Musik — als unmittelbare Darstellung des Heraklitischen Weltspiels soll sie zugleich auch unmittelbare Darstellung des Schopenhauerischen Willens sein —, sondern, noch grundsätzlicher, den Zentralsatz seiner „Artisten-Metaphysik", welchen er aus Heraklits „aesthetischer Grundperception" der Welt als eines unmoralischen, gleichwohl Gesetz und Recht in sich bergenden Spiels gefolgert hat: nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt146. Den Begriff der Rechtfertigung kennen wir aus der christlichen Theologie — vor allem derjenigen der evangelischen Kirchen: Obwohl es dem mittelalterlichen Katholizismus — abzulesen an Thomas von Aquin — zunächst weniger auf den Menschen und sein Heilsverlangen als darauf ankam, daß jegliches Leben seine Stellung in der O r d n u n g des Geschaffenen erkannte und mit ihr übereinstimmend der Schöpfungsursache entsprach (analogia entis), so bezeichneten doch auch seine Theologen schon die iustificatio als primus motus fidei, als Grundbewegung der Glaubenshaltung (Sancti T h o m a e Aquinatis Opera Omnia, VI, Commentum in Quatuor Libros Sententiarum, Volumen Primum, Distinct. II, Quaest. I, Art. V, Expositio Textus). Im Sinne des ordo-Denkens wurde jedoch die iustitia als rectitudo rationis et voluntatis, als Richtigkeit der Vernunft und des Willens, und die iustificatio in der Weise einer insgeheim materiell geprägten Rechtsordnung gedacht, so zwar, daß der vom sündigen Menschen Genugtuung fordernde Gott sowohl die stofflichen Gnadenmittel in Form der vom ordo der Kirche verwalteten Sakramente bereitstellt, als auch die Weisungen gibt, „durch deren Benutzung und Befolgung er sich bestimmen läßt, den Menschen aus seinem Elend herauszuziehen und in die himmlische Herrlichkeit einzuführen" 1 4 7 , ohne daß dabei dem Gläubigen doch mehr als eine H o f f n u n g auf das Heil zuteil werden konnte. Anders zufolge dem Lutherischen Protestantismus, der den Verkehr mit Gott nahezu ausschließlich in die Sphäre des rein Geistigen verlegt. Nach seines
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Begründers Neuinterpretation von Römer 1, 17 ist die rechtfertigende Gnade Gottes, die sich im Christusgeschehen ereignet hat, allen denen gewiß, die sie als Glaubende (sola fide) ergreifen — der Glaube „macht gerecht und wahrhaftig, dieweil es wahr ist und gerecht, daß Gott die Wahrheit zuerkannt wird." So Martin Luther in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" 148 . Diese Reformation des iustificatio-Begriffes ist philosophisch gesehen deshalb von Bedeutung, weil sich in ihr der den Beginn der Neuzeit bezeichnende Wandel des Wesens der Wahrheit von der adaequatio zur certitudo, nach Heideggers Worten, „einleitet und vorbereitet" 149 . Indem Luther die Frage stellt, „ob und wie der Mensch des ewigen Heils, d. h. ,der Wahrheit', gewiß und versichert sei, ob und wie er ein ,wahrer' Christenmensch sein könne, d. h. ein rechter, ein zum Rechten gefertigter, ein Gerechtfertigter" 1 5 0 , wird die Frage nach der christlichen Veritas „im betonten Sinne" 151 zur Frage nach der iustitia und iustificatio. Doch nicht allein darin, daß die Frage nach der Heilsgewißheit zur Mitte der evangelischen Theologie wird, kündigt sich das von „der Gewißheit, der Rechtheit, des Gerechtseins und der Gerechtigkeit her" 152 bestimmte neuzeitliche Wesen der Wahrheit an — bedeutsamer noch ist unserer Meinung nach die „strukturelle" Nähe, die Luthers Antwort auf diese Frage zum Subjekt-Denken Descartes erkennen läßt. Sie besteht darin, daß der Gläubige die von Gott in der Opferung seines Sohnes als Gnadenakt vollzogene Rechtfertigung des Menschen — vorneuzeitlicher Teil der Lehre — selber wiederum durch seinen Glauben rechtfertigen muß. Aus dem neuzeitlichen Blickwinkel betrachtet heißt das: Indem der Mensch — der schon durch die Befreiung des Verkehres mit Gott aus den fest institutionalisierten religiösen Vermittlungen und dessen Gründung in der Verbindung von H e r z zu H e r z zu einer Art von „unpersönlichem" Subjekt wird — die Wahrheit der prima causa zuspricht, wird er selbst in sie gesetzt (iustitia dei passiva), wodurch er — und das ist das Entscheidende — in einem zumal sich selbst, seinen Bezug zum Seienden und dessen erster Ursache sichert. 153 Im Hinblick auf diese Strukturparallele kann man sagen, daß der Luthersche Begriff der iustificatio und der von der „Artisten-Metaphysik" verwendete Begriff der Rechtfertigung das Selbe sind. In jenem Satz: „nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig g e r e c h t f e r t i g t " bringt Nietzsche das Wesen der Lutherschen iustificatio in rein neuzeitlicher Form zum Austrag — auch das muß man im Auge haben, wenn man Nietzsches Bekenntnis über seine „innigste Abhängigkeit von dem Geiste Luthers" 154 zu bedenken sucht, mag damit zunächst auch nur in psychologischer Sicht die eigene Neigung zum Protest gemeint sein,
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die sich nicht zuletzt in leidenschaftlichen Anwürfen gegen den Erneuerer des Christentums im Moment seines möglichen Absterbens bekunden sollte. Ästhetik, αισθητική έπιστήμη — Lehre vom sinnlichen, empfindungsmäßigen Verhalten des Menschen und von demjenigen, welches dieses bestimmt, wird die von Piaton und Aristoteles überkommene Frage nach dem Wesen der Kunst und dem Schönen erst seit dem 18. Jahrhundert, seit Alexander Baumgarten, genannt — worin ein Wandel in der Hinsichtnahme dieser Frage zum Ausdruck kommt. Auch er entspricht dem Geschehnis, daß seit dem Beginn der Neuzeit das Subjekt dasjenige Seiende ist, dem als dem auf sich selbst gestellten Grund und Maß der Wahrheit als certitudo die Rechtfertigung des Seienden als eines solchen obliegt: Weswegen die Frage nach dem Schönen nicht mehr, wie bei Piaton und Aristoteles, im Hinblick auf die ιδέα dem Aussehen des Seienden nachfragen kann, sondern zu einer Frage werden muß nach der Art, wie der Mensch die Dinge empfindet. Sie wandelt sich darum zu einer Frage nach dem „Geschmack" als dem menschlichen Urteilsvermögen über das Schöne in Kunst und Natur. Eingedenk dessen hat der zitierte Zentralsatz der „Geburt der Tragödie" eine zwiefache Deutung zu erfahren, die sich doch im Grunde als einfach erweist. Dasein und Welt sind danach ewig gerechtfertigt: 1. Nur dann, wenn der Mensch Dasein und Welt wie ein Kunstwerk, wie ein künstlerisches Spiel betrachtet, das als solches außerhalb der moralischen Kategorien, jenseits von Gut und Böse, steht und damit in sich immer schon gerechtfertigt ist. 2. Nur dann, wenn der Mensch Dasein und Welt in der Gestaltung eines Kunstwerkes betrachtet. Ist doch dessen Absicht die Verklärung, sprich: die metaphysische Überhöhung der Wirklichkeit: In dem Richard Wagner gewidmeten Vorwort seiner Schrift spricht Nietzsche als weiteren Zentralsatz derselben aus, daß er „von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens [ . . . ] überzeugt [ist]"155. Uber die Physis, d. h. über die empirische Welt und das empirische Dasein, hinausgehend, rechtfertigt sie diese, indem sie — so in der dionysischen Kunst — dieselbe auf einen Urgrund als ihren Hervorbringer durchsichtig macht oder — so in der apollinischen Kunst — dessen Willen zum potenzierten Scheine, zu einem den Schein der Welt verklärenden Schein entspricht. Der Einigungsgrund beider Deutungen ist ebenfalls in sich gedoppelt: In einer oberen Schicht liegt er beschlossen in der Überlegung Nietzsches, daß das Kunstwerk den Rezipienten in den kunstschaffenden Zustand versetzen soll, in welchem der Künstler „künstlerisch" mit der Welt spielend („So lange [ . . . ] die Statue als Phantasiebild vor den Augen des Künstlers
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schwebt, spielt er [ . . . ] mit dem Wirklichen" 156 ), dieselbe als ein Spiel ansieht, als das Welt-Spiel des Lebens erfährt: soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst-[Welt] 157 ,
heißt es in der „Geburt der Tragödie" kurz nach dem hier in Rede stehenden Satz. Dieser Gedanke führt uns aber zu der tiefergehenden Überlegung, daß, wie erinnerlich, für Nietzsche die Welt bereits auf der gemeinhin als physisch bezeichneten Ebene metaphysisch, nämlich künstlerisch zum Schein — das W o r t in seiner zwiefachen Bedeutung verstanden — festgestelltes Werden ist. Weil somit das Seiende als Seiendes in seinem Wesen Kunst ist, darum muß einerseits das Seiende im Ganzen als Kunstwerk begriffen werden — „Die Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk", notiert sich Nietzsche rückblickend auf die „Geburt der Tragödie" im Zeitraum Herbst 1885—Herbst 1886158 —, und darum kann andererseits die Kunst das im Erkenntnisvermögen des Subjekts statthabende spielerische Geschehnis der die Welt erzeugenden Selbst-Auslegung des Weltgrundes auslegen, will sagen: metaphysisch bestimmen und ineins damit verklären und rechtfertigen. Sofern aber Nietzsche nun den von der Kunst offenbarten Weltgrund in Anknüpfung an Schopenhauer — für den Dasein und Welt gleichfalls nur als ästhetisch, d . h . für ihn: als interesselos betrachtete Phänomene gerechtfertigt sind — als ein ewiges Sein, d. h. als ein Absolutum hinter den Erscheinungen und nicht als ein „Relativum" in den Erscheinungen versteht, leistet die Kunst in dieser ihrer metaphysischen Bestimmung der Welt im Hinblick auf ein „metaphysischen Trost" 1 5 9 spendendes Jenseits — wie er selber später erkennt 160 — letztlich keine Rechtfertigung, sondern eine Nichtung der Welt, die, wie wir wissen, aus der moralischen Verurteilung von Schmerz und Leid, von Werden und Vergehen erwächst. So daß diese Anschauung die Welt gerade nicht in jener Auslegungsmöglichkeit ergreift, die im Geschehnis der ästhetischen Perzeption beschlossen liegt, in der Möglichkeit des sinnfreien Spieles. Der Anschauende ist nicht fähig, den Schmerz der Welt in seiner Sinnlosigkeit zu bejahen, zum einen, weil er nicht erkennt, daß dieser Folge der Lust der Welt ist, zum anderen — und diesem vorgängig —, weil er nicht aus der Fülle, aus der Gesundheit, sondern aus dem Mangel, der Krankheit, heraus erlebt: darin gründet, wie schon mehrfach erwähnt, Nietzsches spätere Unterscheidung zwischen einem Pessimismus der Stärke und einem solchen der Schwäche. Derweise aber wirkt der „ W a h n einer überirdischen Welt", der „die Menschengeister in eine falsche Stellung zu der irdischen Welt gebracht [hat]", auch beim frühen Nietzsche noch fort. In einer Stärke
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Die Menschenkunst als kosmisches Ereignis
indes, die insofern vergleichsweise gering zu nennen ist, als dieser jenseitige O r t bei ihm als bloßes Apotropäum des Leidens und nicht als O r t einer Sehnsucht erscheint — wie solches der Fall ist in jenen Deutungen der Welt, welche deren Unmoralität im Hinblick auf eine moralische Transzendenz zu rechtfertigen suchen und sie dabei allererst ins helle Licht stellen. S o Nietzsche zufolge im Christentum — obwohl allenfalls die Urchristen freudig gestorben sind — , in der Auslegung Piatons, der es als höchstes Ziel der π α ι δ ε ί α bezeichnet hat, den Kreislauf der Palingenesien durchbrechen und in der Sphäre der Götter verbleiben zu können, aber auch in der Deutung Schopenhauers, der, weil sich ihm der Schöpfergott in einen blind wirkenden Willen verwandelt hat, auch noch dieses metaphysische Jenseits, insofern es ein Sein verheißt, übersteigen muß — und damit nach Nietzsches Auffassung offenbart, was dieses Jenseits immer schon gewesen ist: Nichts. Womit zwischen
wir den dem
die
„Geburt
traditionellen
der T r a g ö d i e "
metaphysischen
durchziehenden
Ansatz
und
Riß
Nietzsches
Versuch einer Uberwindung desselben auch in den Zentralsätzen dieser Schrift nachgewiesen haben. Im folgenden werden wir uns noch einmal dem metaphysischen Ansatz zuwenden müssen, haben wir doch bisher noch nicht aufgezeigt, in welcher Weise er Nietzsches V o r h a b e n , dem Kultur-Leben einen metaphysischen Sinn zu unterlegen, zu fördern geeignet ist.
5. Die Menschenkunst
als kosmisches
Ereignis
Die W e l t ein Spiel: „ D a s scheint immer die den Griechen auf der Lippe schwebende letzte Lösung oder Auskunft gewesen zu sein.", meint Nietzsche 1 6 1 und verweist darauf, daß auch der νοϋς des Anaxagoras „ein K ü n s t l e r " ist: Es
ist als ob Anaxagoras
auf
Phidias
deutete
und Angesichts
des
ungeheuren Künstlerwerks, des Kosmos, ebenso wie vor dem Parthenon uns
zuriefe:
das
Werden
ist
kein
moralisches,
sondern
nur
ein
künstlerisches Phänomen. 1 6 2
Weil sie als Wiederholung der π ο ί η σ ι ς oder des Spieles der W e l t betrachtet wird, darum deuten die Vorsokratiker, denen sich Nietzsche offenkundig anschließt, dieselbe im Hinblick auf die Kunst — im Hinblick auf die tragische Kunst, wie man zu präzisieren hat, ist es doch deren ausgezeichneter Modus, in der Negation der Erscheinung dieselbe auf ein in ihr bzw. hinter ihr Liegendes durchsichtig zu machen: auf das ewige Leben oder, wie Nietzsche auch sagt, auf den dionysischen Grund der W e l t als „der Einheit alles V o r h a n d e n e n " 1 6 3 :
252
Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Die großen Denker des tragischen Zeitalters denken über keine andern Phänomene nach als die, welche ebenfalls die Kunst erfaßt. 164 ,
zeichnet Nietzsche bereits im Winter 1869/70—Frühjahr 1870 auf. Um zweieinhalb Jahre später, kurz vor der Abfassung der Abhandlung über die Yorplatoniker, heißt es 165 : Die Philosophen des tragischen Zeitalters enthüllen, wie die Tragödie, die Welt. wie Nietzsche denken die Vorplatoniker dem nach, was die attische Tragödie lehrt: der tragischen Erkenntnis, der Erkenntnis, daß alles aus dem Urgrund Herausgetretene dereinst wieder in diesen einzugehen hat. 166 Doch nicht nur in dem Sinne, daß Nietzsche im Ausgang von den menschlichen Kunsttrieben die beiden Weltprinzipien von Dionysos und Apoll gewinnt, kann man die tragische Kunst als ontologisches Symbol Nietzsches bezeichnen, vielmehr auch in jenem, gegenüber dem ersten umgekehrten Sinne, daß er in der „Geburt der Tragödie" — wie auch in den anderen von ihm selber veröffentlichten Schriften seiner Frühzeit, in den Unzeitgemässen Betrachtungen nämlich — die Menschenkunst als kosmisches Ereignis versteht, ihr metaphyische Bedeutsamkeit zuspricht. Wenn der Mensch im künstlerischen Schaffen, der Nachahmung der „unmittelbaren K u n s t z u s t ä n d e f . . . ] der Natur" 1 6 7 , das sind Traum und Rausch, seine „Erlösung" vom Ekel über die Absurdität seiner Existenz in der Weise erfährt, daß er im schönen Schein des Kunstwerkes das Leiden und das Häßliche entweder hinweglügt, so in der apollinischen Kunst 168 , oder aber in solche Vorstellungen umbiegt, „mit denen sich leben lässt" 169 , so in der dionysischen Kunst, dann gewinnt auf der anderen Seite der Weltgrund durch seine apollinische Schöpfung des schönen Scheins der Welt nicht nur vorübergehend Ruhe des Verweilens, vielmehr eröffnet sich ihm in ihr auch die Möglichkeit der Selbstanschauung: In den Griechen wollte der „Wille" sich selbst, in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen; 170
und an anderer Stelle der „Geburt der Tragödie" heißt es, wir dürfen von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsre höchste Würde haben — denn nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig g e r e c h t f e r tigt171.
Der Wille in „uns" stellt sich als Dasein und als Welt vor; in und durch uns, durch die er eine Traum-Welt anschaut, räumt er sich zu Formen ein: Dieser in den Fragmenten 172 , aber auch in der 3. Unzeitgemässen Betrachtung 173 breit entfaltete Gedanke „riecht", wie Nietzsche selber in „Ecce h o m o " bemerkt, „anstössig Hegelisch", stammt er doch von Schopenhauer 1 7 4 ...
Die Menschenkunst als kosmisches Ereignis
253
Im glanzvollen Schein der Selbsterscheinung sucht sich das Ur-Eine vom Schmerz und vom Leiden, das es ist, zu erlösen. Erlösung — dies der zweite Begriff, den Nietzsche aus der Theologie in die Sprache seiner Metaphysik übersetzt, wobei er ihn, wie schon den Begriff der Rechtfertigung, im Sinne seines die neuzeitliche Subjektivität zum Austrag bringenden Ansatzes verwandelt. So bemerkt er in der „Geburt der Tragödie": Je mehr ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht. 175
Das Ur-Eine ist reiner Schmerz, reine, nämlich gleichsam bewußtlose Schmerzens-Empfindung, die erst in der Projektion auf ein Selbst zur Selbst-Empfindung wird. Denn Empfindung des Selbst ist Anschauung des Selbst, die umgekehrt — Nietzsche zufolge — gleich aller Anschauung ohne Empfindung nicht möglich wäre. Bedeutet somit die Projektion der Empfindung auf ein Selbst zum einen das Entschwinden ihrer sehrenden Unmittelbarkeit, ihre Entäußerung in ein Objekt — welches das eigene, nämlich angeschaute Selbst ist —, mithin Milderung des Schmerzes, so doch zum anderen auch, daß er erst in einer solchen Projektion in der Weise wahrhaft wirk-lich wird, daß er als schmerzendes Selbst begriffen werden kann. Beides scheint Nietzsche im Auge zu haben, wenn er Ende 1870—April 1871 den nachfolgenden, von der menschlichen Empfindung und ihrem Verhältnis zur Materie ausgehenden Gedanken aufzeichnet (für dessen Verständnis es vonnöten ist, seine auf Seite 19 angesprochene Ausführung zu vergegenwärtigen, wonach die Empfindung „die einzige kardinale Thatsache [ist], die wir kennen, die einzige wahre Qualität"): Die Empfindung ist nicht Resultat der Zelle, sondern die Zelle ist Resultat der Empfindung d. h. eine künstlerische Projektion, ein Bild. Das Substantielle ist die Empfindung, das Scheinbare der Leib, die Materie. Anschauung wurzelt auf Empfindung. N o t h w e n d i g e s V e r h ä l t n i ß z w i s c h e n S c h m e r z u n d A n s c h a u u n g : das Fühlen ist nicht ohne Objekt möglich, das Objekt-Sein ist Anschauung-Sein. Dies der Urprozeß: der eine Weltwille ist zugleich Selbstanschauung: und er schaut sich als Welt: als Erscheinung. 176
Hier hat noch eine andere Aufzeichnung aus dem Zeitraum 1870—April 1871 ihren Platz zu finden:
Ende
Vorstellung — Gegensatz zur Selbstzerfleischung — Selbstgenuß — nur möglich durch Selbstzerspaltung. 177
254
Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Im Willen z u r genußvollen E m p f i n d u n g des Selbst muß sich das Ur-Eine zerspalten, in ein Subjekt und ein Objekt, welches jenes als sein Selbst anschaut. Diese unaufhebbare Spaltung verursacht Schmerz, der durch Ganzheitsimaginationen überwunden werden soll. W e n n Nietzsche mithin in der oben zitierten Passage der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " den Schmerz dem Ur-Einen unmittelbar inhärieren läßt, so zwar, daß es sich von ihm in der Anschauung, der Vision seiner selbst als Welt von ihm zu befreien sucht, so ergibt sich nunmehr der umgekehrte Ansatz, daß das Leiden des Ur-Einen allererst die Folge dieser Welt-Anschauung ist. Auch diese Sichtweise hat ihren Niederschlag in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " gefunden. Im Abschnitt 10 gibt Nietzsche im Hinblick auf den Mythos des von Titanen zerstückelten und als Zagreus verehrten Dionysos zu bedenken, dass wir also den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten. 178
Dieser Ansatz ist demjenigen Schopenhauers sehr nahe, der das von ihm als das entscheidende Wesensmerkmal des Lebens herausgestellte Leiden 179 durch die Individuation vermittelt sieht. Z w a r w o h n t seiner Ansicht nach der metaphysischen Einheit des Willens zum Leben der Widerstreit mit sich selbst immer schon inne, offenbar wird er aber erst „ d u r c h das Medium der Individuation" 1 8 0 . Dieser Ansatz aber konnte f ü r Nietzsche darum nicht bestimmend werden, weil er seiner G r u n d h a l t u n g des Pessimismus der Stärke widerspricht: Ihm zufolge m u ß es das Bestreben des Menschen sein, die Schmerzen verursachende Individuation als dasjenige, was besser nicht wäre, zu negieren. Für Nietzsche hingegen, der den reinen Dionysismus — die Auslöschung des principium individuationis — als lebensfeindlich, d. h. als der „ I n t e n t i o n " des Lebens widersprechend ablehnt, kann es hingegen n u r darum gehen, den Schmerz und das Leid schaffend zu überwinden, sie somit als H e r a u s f o r d e r u n g zur Selbstüberwindung und -Steigerung zu begreifen. Die Auslegung der Welt als Versuch des Ur-Einen, durch Projektionen seinen Schmerz zu mildern, trägt darum auch das Gedankengebäude der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " . Ihr metaphysisch ausgestalteter G r u n d g e d a n k e ist mithin, gesprochen mit den W o r t e n jenes schon mehrfach zitierten Fragmentes von Ende 1870—April 1871: Produktiv ist also der Schmerz, der als verwandte Gegenfarbe das Schöne erzeugt 181
— das Schöne des schönen Scheins; des schönen Scheins der Kunst oder des T r a u m s in bezug auf den Menschen, des schönen Scheins der Welt als träumerische Selbstanschauung in bezug auf das Ur-Eine. In diesem Sinne heißt es in dem gleichen Fragment:
Die Menschenkunst als kosmisches Ereignis
255
Die Subjektivität der Welt ist nicht eine anthropomorphische Subjektivität, sondern eine mundane: wir sind die Figuren im Traum des Gottes, die errathen wie er träumt.
Und doch ist diese mundane Subjektivität auch eine anthropomorphische, insofern nämlich das Ur-Eine Zugang zu sich nur durch den die Erscheinung durchschauenden Menschen hat: Es schaut sich selber mit den geträumten Augen seiner Traumfiguren an, die einander zumeist als „wirkliche" Gestalten betrachten und nur bisweilen sich selbst als Erscheinungen, nämlich solche des Ur-Einen, wahrnehmen können: Im Menschen schaut das Ureine durch die Erscheinung auf sich selbst zurück: die Erscheinung offenbart das Wesen. D. h. das Ureine schaut den Menschen und zwar den die Erscheinung schauenden Menschen, den durch die Erscheinung hindurch schauenden Menschen. 182
Der Traum aber ist demzufolge eine „Umsetzung von Schmerzen in Anschauungen, in denen die Schmerzen gebrochen werden: feindliche Empfindung ihrer Nichtrealität.", wie ein ebenfalls aus dieser Zeit stammendes Fragment 183 verrät. Wenn sich aber das Ur-Eine in der träumerischen Anschauung der Welt von seinem Schmerz zu befreien sucht, dann heißt das auch, daß seine Selbstanschauung Illusion ist, verkennt doch sein Selbstbewußtsein das wahre Selbst (wie jedes Selbstbewußtsein: wir erinnern hier an die oben besprochene unaufhebbare Selbst-Spaltung in Subjekt und Objekt, als welche schon für den frühen Nietzsche nicht „real", sondern illusionär ist). Das Ur-Eine projiziert seinen Schmerz auf Visionsgestalten der Welt und nimmt ihn vermittelt und d. h. gebrochen durch jene wahr. 184 Gesprochen im Hinblick auf die Artisten-Metaphysik heißt das: Apollo lindert den Schmerz des Dionysos. Aber auch in der Anschauung muß der Wille noch Schmerz empfinden, „denn hörte er auf, so hörte die Anschauung auf. Aber das Lustgefühl ist im Überschuß." 1 8 5 Ist demnach die Schöpfung der Welt für Nietzsche die Folge eines Mangels — am deutlichsten führen dies aus zum einen der Vergleich des Ur-Einen mit einem „gemarterten Heiligen", der visionär „eine schmerzlose, ja wonnereiche Verzückung fühlt" 1 8 6 , zum anderen die Überlegung, daß der Wille „die Welt als Kunstwerk [ . . . ] gleichsam aus der Leere, der Π ε ν ί α [ = Armut, Mangel, N o t ] " produziert, indem er „die Kunst als Πόρος" 1 8 7 , als Hilfsmittel, benutzt, um dieser Abhilfe zu schaffen (die griechischen Begriffe hat Nietzsche aus Piatons „Symposion" [203, b-c] übernommen: Sokrates berichtet dort, wie aus der Verbindung beider der Eros hervorgegangen ist) —, so konkurriert mit dieser Erklärung eine andere, eine entgegengesetzte: Danach ist der Schmerz des Ur-Einen nicht der eines Mangels, sondern der einer Überfülle, wie dies vom „Versuch einer Selbstkritik" hervorgehoben wird:
256
Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik In der That, das ganze
Buch kennt n u r einen
Künstler-Sinn
und
-Hintersinn hinter allem Geschehen, — einen ,Gott', wenn man will, aber gewiss n u r einen gänzlich unbedenklichen und unmoralischen KünstlerGott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit inne werden will, der sich, Welten schaffend, von der N o t h der Fülle und U e b e r f ü l l e , vom L e i d e n der in ihm gedrängten Gegensätze löst. 188
Diese Selbstinterpretation nimmt Bezug auf die Deutung der Welt als Spiel, „welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt." 189 Ist erstere Deutung, mit Nietzsches eigenen Worten zu sprechen, „das ächte rechte Romantiker-Bekenntniss von 1830, unter der Maske des Pessimismus von 1850" 190 — die Romantiker sind nach seiner späteren Einsicht die „an der V e r a r m u n g d e s L e b e n s Leidenden" 191 —, so kann letztere Deutung gegenüber jener aus dem Pessimismus der Schwäche erwachsenden als eine solche des Pessimismus der Stärke bezeichnet werden. Diese die decadence überwindende „dionysische" oder tragische Weltverhaltung charakterisiert Nietzsche in dem „Versuch einer Selbstkritik" als eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus F ü l l e des Daseins 1 9 2 .
Beide Male macht der Schmerz schöpferisch — das eine Mal der Schmerz eines Mangels, das andere Mal der Schmerz einer Überfülle, was indes voraussetzt, daß Nietzsche Lust und Schmerz nur als „quantitative Verschiedenheit" 1 9 3 denkt. So bemerkt er auch in einer Notiz in Absetzung von den Gedanken, die Eugen Dühring in seinem Buch „ D e r Werth des Lebens. Eine philosophische Betrachtung" (Breslau 1865) zu diesem Thema angestellt hat: jede Lust ist eine Reizung welche bei einer Steigerung des Reizes in Schmerz übergeht; jeder Schmerz ist nur quantitativ von einer Lust verschieden und es giebt einen Grad des Übergangs von Lust in Schmerz." 4
Indes — vermerkt Nietzsche nicht im Winter 1869/70—Frühjahr 1870: „Mitgetheilte Lust ist Kunst" 195 ? Ist dann die Kunst, die nicht aus dem Schmerz der Lust, sondern aus dem Schmerz des Mangels hervorgeht, keine Kunst? Wir werden noch zu zeigen haben, daß sich Nietzsche in der T a t im Frühjahr 1888 zu der Annahme gedrängt sieht, daß eine Kunst im Sinne des Pessimismus der Schwäche „eine contradictio" darstellt. Auch dort, wo Kunstwerke — etwa die christlichen — in ihren Inhalten die Welt zu verneinen scheinen, sind sie doch als Kunstwerke „ B e j a h u n g , S e g n u n g , V e r g ö t t l i c h u n g d e s D a s e i n s " 1 9 6 . Damit aber kommt Nietzsches Unterscheidung zwischen einer pessimistischen und einer tragischen Kunst Gültigkeit nur noch in bezug auf die vordergründigen Inhalte zu.
Die Menschenkunst als kosmisches Ereignis
257
Nach diesem Ansatz wäre alle Kunst aus dem Schmerz der Überfülle hervorgegangen: Der Künstler sucht die Uberfülle seiner Lust dadurch zu verringern, daß er sie in ein Kunstwerk entlädt und mittels seiner auf den Rezipienten überträgt, der hinwiederum hierdurch seine Lebenslust und seinen Lebenswillen vermehrt sieht: Wenn jede L u s t , Befriedigung des Willens und Förderung desselben ist, was ist die Lust an der Farbe? was die Lust am T o n ? Die Farbe und der T o n müssen den Willen gefördert haben. 197 , so k a n n m a n in e i n e m N o t a t aus d e m Z e i t r a u m W i n t e r 1 8 6 9 / 7 0 — F r ü h j a h r 1870 lesen.
Dasein aber ist Lust und Schmerz in einem zumal, muß es doch in der Sichtweite der Artisten-Metaphysik als Auswurf des weltspielenden Urgrundes und damit, wie Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" sagt, als eine „Dissonanz" 1 9 8 begriffen werden: Es west als in sich einiger Streit von Dionysos und Apoll und somit als auseinanderklingender Zusammenklang. V o m Urgrund her gesehen heißt das: Wir sind einerseits r e i n e A n s c h a u u n g (d.h. projicirte Bilder eines rein entzückten Wesens, das in diesem Anschaun höchste Ruhe hat), andernseits sind wir das eine Wesen selbst. 199
Und als derartige Abbilder des Urschmerzes und Urwiderspruches — den Schmerz des Ur-Einen deutet Nietzsche auch als Sich-selbst-Zerreißen desselben —, welcher in der Welt der Erscheinung wirklich wird als Widerspruch von Schmerz und diesen überwindensollender Lust an der Erscheinung 200 , — als derartige Abbilder haben wir das Leid des Willens zu leiden, allerdings „nur unter der Vorstellung und der Vereinzelung in der Vorstellung" 2 0 1 und d. h. unter der Vorstellung der lustvollen Vorstellung, die wir sein mögen. Jene „entsetzliche[...] Constellation" im Grunde der Dinge fällt darum in unsrer Augen „weit- und erdgemäß O r g a n " [ . . . ] als unersättliche Gier zum Dasein und ewiges Sichwidersprechen in der Form der Zeit, also als W e r d e n . Jeder Augenblick frißt den vorhergehenden, jede Geburt ist der T o d unzähliger Wesen, Zeugen Leben und Morden ist eins.
So Nietzsche in der Vorrede „ D e r griechische Staat" 202 . Die uns Schmerzen und Lust zumal bereitende Trias von Geburt, Leben und T o d aber ist letztlich nichts anderes als der eine, in sich zwiefältige Um-riß des Streites von Dionysos und Apoll. Für uns ist der vorgeblich metaphysische „Urwiderspruch" nur als der „physische" (das W o r t in Nietzsches Sinne verstanden) des Werdens: D = D x A haben wir formelhaft gesagt. Die Rückführung desselben auf besagten Urwiderspruch hinter den Dingen muß deshalb, wie schon gezeigt, als Sprach-Erbe der Schopenhauerschen Willensmetaphysik angesehen werden.
258
Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
D i e Rückübersetzung in die N i e t z s c h e eigentümliche Sprache lautet aber: Als Auswurf des Streites der W e l t müssen wir beständig den in sich zwiefältigen Um-riß, v o n Schmerz in Lust und v o n Lust in Schmerz, erleiden: Die Lust der Erscheinung, der Schmerz der Erscheinung — das A p o l l i n i s c h e und das D i o n y s i s c h e , die sich immer gegenseitig zur Existenz reizen. 203 Jedes Geschehnis dieses Streites ist im Hinblick auf die Streitenden in sich zwiespältig, immer sind Schmerz und Lust ineinander gemischt, Schmerz auf
der Seite
des momentan
Unterlegenen,
Lust auf
der Seite
des
augenblicklich Überlegenen. So steigt mit dem Schwinden der Individuation, dem U m - r i ß von Apoll zu D i o n y s o s hin, sowohl „Grausen" als auch „ w o n n e v o l l e V e r z ü c k u n g " „aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur e m p o r [ . . ,]" 204 , und v o m dionysischen Zustande her erscheint „das
principium
individuationis",
das
Aufgehen
und
Wachsen
der
Individuation, „gleichsam als andauernder Schwächezustand des Willens", weil dieser darin in eine U n z a h l v o n Vorstellungen zerbröckelt und damit seiner Einheit entäußert ist: aus der höchsten Lust heraus tönt der Schrei des Entsetzens, die sehnenden Klagelaute eines unersetzlichen Verlustes. 205 D a r u m künden „die eigentlichen dionysischen Mythen" davon, wie der zukünftige Weltherrscher als Kind (D(ionysos) Z(agreus)) von den Titanen zerstückelt wird und wie er jetzt in diesem Zustande als Zagreus zu verehren ist. Dabei wird ausgesprochen, daß diese Zerreißung, das eigentliche dionysische L e i d e n , gleich einer Umwandlung in Luft Wasser Erde und Gestein Pflanze und Thier sei; wonach also der Zustand der Individuation als der Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches betrachtet worden ist.206 Aber
anders
als
Schopenhauer
bejaht
Nietzsche
—
gemäß
seiner
U m d r e h u n g des Piatonismus — die apollinische Individuation: Es giebt nur ein L e b e n : wo dieses erscheint, erscheint es als Schmerz und Widerspruch. Die Lust allein in der Erscheinung und Anschauung möglich. Die reine Versenkung in den Schein — das höchste Daseinsziel: dorthin, wo der Schmerz und der Widerspruch nicht vorhanden erscheint. 207 D a s meint, wie Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" zur Ausführung bringt 208 , daß der Mensch, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauch[t], die ih[m] einen Schönheitsschleier über [sein] eignes Wesen deck[t]. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen.
Die Menschenkunst als kosmisches Ereignis
259
Was indes nicht heißen soll, daß Nietzsche den Menschen dazu anhielte, die dionysische Sphäre zu verdrängen. Aber es soll sich leben lassen, und so ist der reine Dionysismus, die beständige Ausgesetztheit in die dionysische Sphäre für den Menschen nicht möglich. Gleichwohl meint Nietzsche ihm als Wesensforderung abverlangen zu können, dieser Sphäre in der apollinischen Abständigkeit eingedenk zu bleiben. Diesem Ansinnen vermag der Mensch jedoch nur dann zu genügen, wenn er der Tröstungen der an den Traum gemahnenden Kunst teilhaftig wird. Mögen nämlich auch zu den oben angesprochenen Illusionen eigentlich alle Vorstellungen des Menschen von der Welt zählen, so rechnet Nietzsche doch zum schönen Schein im engeren Sinne nur den Traum und das vom Genius erzeugte Kunstwerk, der ,,[d]ie W a n d der Erscheinungen, rein als Erscheinungen", und nicht wie „der Nicht-Genius [ . . . ] die Erscheinung als Realität anfschaut]" 209 . Doch anders als Schopenhauer, an den auch diese Ausführungen gemahnen 210 , betrachtet Nietzsche diese Versenkung in den schönen Schein nicht als Vorstufe zu einer Erlösung von den Strebungen des Willens oder Lebens, sondern, antithetisch formuliert, als eine noch tiefere Verstrickung in sie: Das Leben selbst erzeugt den Schein, um sich von seinem Schmerz — gleichgültig, ob von dem des Mangels oder der Uberfülle — zu befreien, um seine Lust, die Lebenslust, zu erhöhen — im gewöhnlichen Menschen durch die bloße Vorstellung der Welt, im Künstler durch den Schein der Kunst —, ohne daß indes der Schmerz jemals völlig aussetzen dürfte, bedeutete dies doch nicht nur das Ende der Lust — allein derjenige, der den Schmerz kennt, weiß, was Lust ist —, sondern auch, nach dem Ansatz der Artisten-Metaphysik, das Ende überhaupt jeglicher Erscheinung: „ P r o d u k tiv ist [ . . · ] der Schmerz, der als verwandte Gegenfarbe das Schöne erzeugt" 2 1 1 . (Ein Satz, der für den Fall, daß mit dem Schmerz die Empfindung der Uberfülle gemeint ist, zu modifizieren wäre, hätte man doch dann das Schöne nicht mehr als Gegenfarbe, sondern als Farbe des Schmerzes anzusehen.) Immer aber ist es die „Richtung der Kunst, die Dissonanz", als welche das Dasein darstellt, „zu überwinden", nämlich sie „als das an sich Störende mit in das Kunstwerk hinüberzuziehn" 2 1 2 und derweise sie als „Realität" in die „Idealität der Konsonanz" 2 1 3 aufzulösen. Wenn sich Nietzsche hier — in Hindeutung auf die H e r k u n f t seines Denkens aus dem Geiste der Musik — musikalischer Termini bedient, dann deutet sich damit erneut die Widersprüchlichkeit seines Entwurfes einer Hierarchie der Künste an. Denn was die Tragödie nur gedanklich vermitteln kann, daß nämlich
260
Ü b e r s e t z u n g e n : D i e Geburt der T r a g ö d i e aus dem Geiste der Musik
selbst das Hässliche und Disharmonische ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt.214, — dieses „schwer zu fassende Urphänomen der dionysischen K u n s t " vermag die Musik dagegen „ a u f directem W e g e " , d. h. ohne gedankliche Übersetzung, „verständlich und unmittelbar" mitzuteilen: eben „in der wunderbaren Bedeutung der m u s i k a l i s c h e n D i s s o n a n z " 2 1 5 . Auf der einen Seite spricht Nietzsche darum der Musik als „ihre wahre W ü r d e " zu, „dionysischer Weltspiegel zu sein" — wovon sie in der O p e r völlig entfremdet ist, weil ihr dort „ n u r übrig bleibt, als Sclavin der Erscheinung, das Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen" 2 1 6 —, auf der anderen Seite aber rückt er sie in eine dienende Stellung gegenüber der T r a g ö d i e , wenn er ihre H a u p t a u f g a b e darin erblickt, deren Wiedergeburt in der Gestalt des Musikdramas einzuleiten. D a s Dasein eine Dissonanz, die nach Auflösung strebt in der Idealität der Konsonanzen von T r a u m und Kunstwerk: bezogen auf den kosmologischen Ansatz der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " heißt das nun, daß sie als Versuche der Linderung des menschlichen Schmerzes in einem zumal auch Versuche der Überwindung des Urschmerzes darstellen, von dem das Ur-Eine sich bereits in seinem Weltentraum zu befreien sucht. Im Hinblick auf diesen T r a u m des Ur-Einen müssen die T r ä u m e und die Kunstwerke des Menschen als „ S c h e i n d e s S c h e i n s , somit als eine noch höhere Befriedigung der Urbegierde nach dem Schein hin" 2 1 7 gelten. J a , ein Teil der Kunst muß gar als Schein des Scheins des Scheins aufgefaßt werden. S o gibt Nietzsche in seiner Abhandlung über „ D i e dionysische Weltanschauung" 2 1 8 zu bedenken: Während also der Traum das Spiel des einzelnen Menschen mit dem Wirklichen ist, ist die Kunst des Bildners (im weiteren Sinne) das S p i e l mit d e m T r a u m . Die Statue als Marmorblock ist ein sehr Wirkliches, das Wirkliche aber der Statue a l s T r a u m g e s t a l t ist die lebendige Person des Gottes. So lange noch die Statue als Phantasiebild vor den Augen des Künstlers schwebt, spielt er noch mit dem Wirklichen: wenn er dies Bild in den Marmor übersetzt, spielt er mit dem Traum. Bezogen auf das sich des Künstlers bedienende Ur-Eine heißt dies aber: „jetzt giebt es ein Bild des Bildes des Bildes" 2 1 9 , streng genommen sogar ein Bild des Bildes des Bildes des Bildes: Bereits auf der Stufe der einfachen Weltbetrachtung des Menschen stellt sich das Ur-Eine seine Visionsgestalt vorstellend vor, bereits hier ist somit ein Bild des einen Weltbildes vorhanden, das zu diesem, wie wir wissen, in prästabilierter Harmonie steht. Auf solche Momente des potenzierten Scheines ist es nun nach der kosmologischen Fassung von Nietzsches früher Philosophie des umgedrehten Piatonismus, welche das Leben im Schein als Ziel ansieht, „bei der Weltschöpfung abgesehn" 2 2 0 . Erst auf dieser Scheinstufe
Versuch einer Er-läuterung
261
[i]m Künstler kommt der Wille zur Entzückung der Anschauung. Hier ist erst der Urschmerz völlig von der Lust des Anschauens überwogen. 221
(Wohlgemerkt: im Künstler und nicht im Kunstwerk, das als solches „ein sehr Wirkliches", nämlich einfache Erscheinung ist und nur im ästhetischen Zustand seines Schöpfers oder eines nachschaffenden Rezipienten in sein Wesen, auf die Stufe eines potenzierten Scheines gehoben wird.) Das U r e i n e schaut den Genius an, der die Erscheinung rein als Erscheinung sieht: dies ist die Verzückungsspitze der Welt. [ . . . ] D i e s e S p i e g e l u n g e n im G e n i u s s i n d S p i e g e l u n g e n d e r E r s c h e i n u n g , nicht mehr des Ureinen: als A b b i l d e r d e s A b b i l d e s sind es die reinsten Ruhemomente des Seins. Das wahrhaft Nichtseiende — das Kunstwerk. Die anderen Spiegelungen sind nur die A u ß e n s e i t e des U r e i n e n . Das S e i n b e f r i e d i g t s i c h im vollkommenen
Schein. 2 2 2 Im Künstler-Genius ist damit das Medium zu sehen, „durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seine Erlösung im Scheine feiert", wie Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" 2 2 3 bemerkt: Indem er ihm so — wider besseres Wissen — kosmologische, d. h. metaphysische Bedeutung zuspricht, hofft er seine Zeitgenossen dazu bewegen zu können, an der „Perpetuierung" des Genius, als des in Nietzsches Augen einzigen Sinnes der Kultur und damit auch des „Lebens", mitzuarbeiten.
6. Versuch einer Er-läuterung des philosophischen Ansatzes der „ Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik"
Erinnern wir uns: Nicht erst dadurch, daß er sich — wider besseres Wissen — der metaphysischen Terminologie Schopenhauers bedient, bringt sich Nietzsche um die Möglichkeit, seiner in der späteren Forderung „Bleibt der Erde treu!" ausgesprochenen, dem traditionellen metaphysischen Denken widersprechende Grunderfahrung in höchster Reinheit denkend zu entsprechen, vielmehr liegt sein metaphysischer Sündenfall schon darin beschlossen, daß er diese Forderung im Sinne eines Umdrehens des Piatonismus aufgefaßt wissen will (vgl. dazu die Anmerkungen 28 und 280 des Abschnitts „Voraussetzungen"). Eine Umdrehung der Metaphysik ist aber, wie wir im Anschluß an Heidegger ausgeführt haben, keine Herausdrehung aus ihr. So wendet sich Nietzsche zwar im Zuge der Entgöttlichung der Welt jenen von der Philosophie seit ihren Anfängen als χ ά ο ς , als μή öv oder auch als „Gewühle" abgetanen Bereichen zu, aber er übernimmt dabei, wie schon erwähnt, die bisherige Auslegung derselben, etwa wenn er im 109. Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft" bemerkt:
262
Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik D e r G e s a m m t - C h a r a k t e r der Welt ist [ . . . ] in alle E w i g k e i t C h a o s , nicht im Sinne der fehlenden N o t h w e n d i g k e i t , sondern der fehlenden O r d n u n g , G l i e d e r u n g , F o r m , Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen.
Damit erschöpft sich Nietzsches Umdrehung der Metaphysik, grob gesagt, in einer bloßen Umwertung der bisherigen Welt-Auslegungen, in einer Aufwertung des scheinhaften, chaotischen — des reinen — Werdens und in einer Abwertung des wahren Seins. Gleich der Tradition vor ihm reißt auch er mithin — seine eigene Kritik an diesem, in seinen Augen von Parmenides inaugurierten Vorgehen vergessend — „die Sinne und die Befähigung Abstraktionen zu denken, also die Vernunft jäh auseinander" und spricht, in Umkehrung der überkommenen Wertung, allein jenen die Fähigkeit zu „wahrer" Welterkenntnis, dieser hingegen den Trieb zur Lüge zu: Leugneten die Philosophen bisher den Augenschein des Werdens, der allein durch die trügerischen Sinne vermittelt werde, so verwirft Nietzsche nunmehr umgekehrt denjenigen des Seins, den uns allein die Vernunft vorspiegeln soll. Allein, dieser Unterschied darf unwesentlich genannt werden, spricht sich doch in beiden Haltungen das gleiche Mißtrauen gegen den Augenschein der Welt aus: Beide Male soll der von der Physis gewährte Anblick auf einen wahren oder auch nur „wahreren" Grund, den Grund ihres Erscheinens zurückgeführt werden, beide Male wird nur das als Wesen der Physis zugelassen, wodurch sie im Sein bzw. im Erscheinen ermöglicht wird. Genau dies macht aber nach unserer Meinung den Grund-Satz der metaphysischen Weltverhaltung aus, deren Grundoperation sich mithin vor allem in dem Sinne als Reduktion erweist, daß sie — im Widerspruch zu Nietzsches Treue-Forderung — den Reichtum der Physis veruntreut, nämlich für den „einen" Grund, die „eine" causa, oder das „eine" Quale eintauscht. In Ubereinstimmung mit der von Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" als sokratisch bezeichneten Weltverhaltung und in Widerspruch zu Nietzsches Formel von der „Unschuld des Werdens" trägt sie damit den Gerichts-Ton an das Seiende heran, wird es doch auf diese Weise der Rechtfertigungs-Forderung der „Dialektik" unterstellt. Physisch — oder mit Nietzsches Bezeichnung in der „Geburt der Tragödie": tragisch — wäre demnach nur ein solches Denken zu nennen, das sich rückhaltlos der Flüchtigkeit und Unbegreiflichkeit der Phänomene anvertraut, somit ihre Endlichkeit in die Obhut nimmt und derweise auf die Zustellung von Gründen Verzicht leistet — dies in der bisher allein von manchen Dichtern gehüteten Einsicht, daß die Fähigkeit der Phänomene, den Menschen belangend zu bestimmen, wesentlich von ihrer Ab-gründigkeit (was etwas anderes als Grundlosigkeit ist) abhängig ist, werden sie doch durch die Verfolgung ihrer Gründe solcherweise in eine andere Ordnung
Versuch einer Er-läuterung
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überführt, daß man — wir haben dies an einer Gegenüberstellung der Goetheschen und der Descartesschen Weltverhaltung aufzuzeigen versucht — nur von ihrer Vernichtung sprechen kann: Verfolgung, Überführung und Veränderung sind die drei Grundbedeutungen des griechischen μέτα, die indes nur dann aus dem W o r t „Metaphysik" sprechen, wenn man φύσις nicht mehr nur im Sinne der intransitiven Bedeutung von φ ύ ω „aufgehen, zum Vorschein kommen" als Aufgehen in die Unverborgenheit, sondern im Sinne der transitiven Bedeutung dieses Wortes, nämlich „wachsenlassen, schaffen" als wachsenlassende Umfängnis versteht. Indes: haben wir nicht immer wieder — vor allem gegenüber Heidegger (siehe im vorherigen Abschnitt die Anmerkungen 259 und 819) — darauf insistiert, daß Nietzsche aus dem Geist der Musik und damit aus der Unbeständigkeit heraus denkt? Spricht er selber nicht wiederholt von der Unfaßbarkeit der Schicht der Welt, die er für die „wahrste" hält? In der Tat, uns scheint, daß Nietzsche hier Erfahrungen der dichterischen Welterfahrung metaphysisch mißdeutet, indem er sie — in bloßer Umdrehung des Piatonismus — auf das von der Metaphysik abgewertete chaotische Werden bezieht, weil er meint, dieses den Phänomenen als Grund zugrundelegen zu müssen. Daß sich ihm selber aus inneren Zwängen seines Denkens die Erkenntnis aufdrängte, bei diesem T u n von der von ihm bekämpften Metaphysik abhängig zu bleiben, dies aufzuzeigen ist das Anliegen des brillanten Aufsatzes „Uber die Tragweite der Artisten-Metaphysik" 224 von Holger Schmid, der mir während der Ausarbeitung dieses vorletzten Kapitels unserer Abhandlung zur Kenntnis gelangt ist. Zufolge dieses Aufsatzes erblickt Nietzsche schließlich allein in der künstlerischen Weltverhaltung die Möglichkeit, den weltvernichtenden Begründungswillen überwinden zu können. Schmid bezieht sich dabei vor allem auf Notate, die Nietzsche im Herbst 1885—Herbst 1886 und im Frühjahr 1888 2 " anläßlich erneuter Lektüren seiner philosophischen Erstlingsschrift aufgezeichnet hat. Die „Geburt der Tragödie" ist Nietzsche danach in einem solch neuen Licht erschienen, daß man schon auf diese Lektüre beziehen darf, was Nietzsche ein dreiviertel Jahr später, am 9. 12. 1888, an Heinrich Köselitz schreibt: Ich blättere seit einigen Tagen in meiner Litteratur, d e r i c h j e t z t z u m e r s t e n M a l e m i c h g e w a c h s e n f ü h l e . Verstehen Sie das? Ich habe Alles sehr gut gemacht, aber nie einen Begriff davon gehabt, — im Gegentheil!...
Angesichts dieser Notizen darf auch f ü r die hier in Rede stehende Schrift in Anspruch genommen werden, was Nietzsche in jenem Brief kurz darauf über die 3. und 4. Unzeitgemässe Betrachtung bemerkt:
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Ich habe beide Schriften erst seit 14 Tagen v e r s t a n d e n . —226 Dieses aus den Aufzeichnungen sprechende neue Selbst-Verständnis seiner Schrift bringt Nietzsche — und mit ihm Schmid — in die Nähe dessen, was wir aus der „Geburt der Tragödie" meinen herauslesen zu müssen, ohne daß dies doch beiden Anlaß gegeben hätte, die Begrifflichkeit der Schrift im Sinne des nun erreichten Blickpunktes zu er-läutern, will sagen: sie von den metaphysischen Implikationen zu befreien, sie somit aus dem Metaphysischen ins „Physische" übersetzend überzusetzen. Wir wollen darum von der bisherigen Gepflogenheit, Auseinandersetzungen mit anderen Auslegungen Nietzsches nur in den Anmerkungen zu führen, abweichen und im folgenden ausführlich auf Schmids Ausführungen eingehen, um mit ihrer Hilfe unseren Versuch einer Er-läuterung des philosophischen Ansatzes der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" abzusichern: Unseres Wissens ist Schmid der einzige aus der großen Schar der Nietzsche-Interpreten, der diesen Haupt-Aspekt des Nietzscheschen Denkens in den Blick bekommen hat: mangelnde Vertrautheit mit Dichtung und Fixiertheit auf metaphysische Ansätze scheinen die Gründe dafür zu sein, daß die meisten Nach-Denker nicht einmal eine Ahnung davon haben, „ d a s s hier ein Problem vorliegt". Es deutet sich mithin schon an, daß wir aus sachlichen Gründen im folgenden gezwungen sind, noch mehr als bisher Texte aus späteren Schaffenszeiten heranzuziehen. Doch nötigt uns nicht nur die Auseinandersetzung mit Schmid dazu, sondern auch die Tatsache, daß die wenigen Zeugnisse, die in denkerischer Form von Nietzsches dichterischer Welterfahrung künden, über seinen gesamten Denk-Weg verstreut sind. — „Die Auslegung allen Geschehens als Wille zur Macht — oder, anders gesagt, der Welt als Kraft — beginnt geläufigerweise mit der Abwendung von einer traditionellen Vorstellung ,seiender' Dinge", bemerkt Schmid und denkt dabei mit, daß diese Abwendung die Verwerfung der traditionellen metaphysischen Annahmen von „Substanz, Ding, Körper, Seele usw." impliziert, damit aber auch die Verwerfung der „Trennung des,Thuns' vom ,Thuenden', des Geschehens von einem (Etwas), das geschehen m a c h t , des Prozesses von einem Etwas, das nicht Prozeß, sondern dauernd [ . . . ] ist" (Herbst 1885—Herbst 18 8 6 227 ), d . h . die Verwerfung des „Causalismus", des Schemas von Ursache und Wirkung, an das alle jene Annahmen Nietzsche zufolge gebunden sind. (So heißt es in einer Aufzeichnung vom Frühjahr 18 8 8 22«: „Das Ding, das Subjekt, der Wille, die Absicht — alles inhärirt der Conception ,Ursache'.") An die Stelle besagter Vorstellungen setzt Nietzsche nach Schmid „das Interpretieren als Grundgeschehen des ,Lebens'" (438), das sich ohne seiende Subjekte in der formalen Struktur
Versuch einer Er-Iäuterung
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von Affekten vollzieht, als die Nietzsche die interpretierenden Kraftzentren oder Machtquanten aufgefaßt wissen will. Schmidt weist nun darauf hin, daß „diese Auslegung des Daseins oder Interpretierens, wie es der dichtgedrängte Aphorismus 36 in Jenseits von Gut und Böse' deutlich genug ausspricht, von einer Voraussetzung getragen [wird], der nämlich, daß wir ,den Willen wirklich als w i r k e n d anerkennen'", wobei Nietzsche hinzufüge, „dies sei im Grunde ,der Glaube an Kausalität selbst'". Auch seine Konzeption der Welt als Kraft komme mithin, so Schmid weiter, um die Annahme einer Art von Kausalität nicht herum: „— der stärkere Wille dirigirt den schwächeren. Es giebt gar keine andere Causalität als die von Wille zu Wille.", zitiert er (438) eine Aufzeichnung Nietzsches vom Mai—Juli 18 8 5229. Auf dieser Kausalität beruhe das Werden, und von ihr her erfasse es der Gedankenkreis von Nietzsches Physiologie, die damit das fortsetze, „was Nietzsche vordergründig-spöttisch die ,älteste Mythologie' oder in anderem Zusammenhang die ,Psychologie der religiösen Menschen' nennt: nämlich die Vermenschlichung des Geschehens als eines Wirkens, als Willens-Kausalität. Indem sie das Geschehen, und vor allem den Leib, als Zeichensprache kämpfender Affekte versteht, zementiert sie eben damit den ,Glauben an Kraft und deren Wirkung', oder präziser: an die — uns verborgene — ,wahre Welt der Ursachen'." (439) 230 Derweise stehe aber diese Physiologie mit ihrer „Grund-Überzeugung von der wahren Welt der Kraft [ . . . ] in Nietzsches eigenem Sinne [ . . . ] auf dem Boden der Wissenschaff' und ihres Glaubens „an die Grammatik des Urteils (oder an den Logos als Aussage)" (439). Ebendiesen Glauben ob seiner groben, dem Augenschein verpflichteten Täuschungen zu überwinden, ist aber Nietzsches erklärte Absicht. Schmid glaubt den sich hier abzeichnenden Widerspruch dadurch auflösen zu können, daß er den Glauben, alles sei Wille gegen Willen, und damit Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht insgesamt, als „exoterisch" bezeichnet. Er denkt dabei zunächst wohl an den 30. Aphorismus von „Jenseits von Gut und Böse", in dem Nietzsche auf den Unterschied zwischen exoterischen und esoterischen philosophischen Lehren verweist, den man überall dort antreffe, „ w o man eine Rangordnung und n i c h t an Gleichheit und gleiche Rechte glaubte" 231 , d . h . — so darf man wohl mit Recht, vor allem eingedenk des Anfangssatzes von jenem Aphorismus („Unsre höchsten Einsichten müssen — und sollen! — wie Thorheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind."), interpretieren — auch in Nietzsches eigener
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Philosophie. W o b e i sich das Exoterische und das Esoterische N i e t z s c h e zufolge nicht sowohl dadurch von einnander ab [heben], dass der Exoteriker draussen steht und von aussen her, nicht von innen her, sieht, schätzt, misst, urtheilt: das Wesentlichere ist, dass er von Unten hinauf die Dinge sieht, — der Esoteriker aber v o n O b e n h e r a b ! 2 3 2 Bei
seiner Einstufung des Willens
zur M a c h t
als einer
exoterischen
K o n z e p t i o n dürfte Schmid v o r allem drei A u f z e i c h n u n g e n N i e t z s c h e s im A u g e gehabt haben. D i e erste stammt v o m S o m m e r — H e r b s t 18 8 7 233 : Exoterisch — esoterisch 1. — alles ist Wille gegen Willen 2 Es giebt gar keinen Willen 1 Causalismus 2 Es giebt nichts wie Ursache-Wirkung. Exoterisch wäre d e m n a c h eine solche Philosophie z u nennen, die die W e l t am Leitfaden der Kausalität als Folge v o n W i l l e n s w i r k u n g e n
auslegt,
esoterisch h i n g e g e n eine solche, die die Existenz s o w o h l eines Willens als auch eines U r s a c h e - W i r k u n g s - K o m p l e x e s
leugnet; beide V e r w e r f u n g e n
g e h e n letztlich z u s a m m e n , w i e der Schluß des berühmten Aphorismus 36 in „Jenseits v o n Gut und Böse" 2 3 4 lehrt: Die Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als w i r k e n d anerkennen, ob wir an die Causalität des Willens glauben: thun wir das — und im Grunde ist der Glaube d a r a n eben unser Glaube an Causalität selbst —, so m ü s s e n wir den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen. „Wille" kann natürlich nur auf „Wille" wirken — und nicht auf „ S t o f f e " (nicht auf „ N e r v e n " zum Beispiel —): genug, man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, w o „ W i r k u n g e n " anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt — und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft, Willens-Wirkung ist. — Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer G r u n d f o r m des Willens zu erklären — nämlich des Willens zur Macht, wie es m e i n Satz ist —; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung — es ist Ein Problem — fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, a l l e wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: W i l l e z u r M a c h t . Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren „intelligiblen Charakter" hin bestimmt und bezeichnet — sie wäre eben „Wille zur Macht" und nichts ausserdem. — Schmids Einschätzung des Willens zur M a c h t als exoterische K o n z e p t i o n stützt sich vermutlich n o c h auf eine weitere A u f z e i c h n u n g , auf jenes v o n uns bereits zitierte N o t a t v o m Herbst 1 8 8 5 — H e r b s t 1886, in d e m N i e t z s c h e „ Z u m ,Causalismus'" f o l g e n d e s z u bedenken gibt:
Versuch einer Er-läuterung
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Thatsächlich stammt der Begriff ,Ursache und Wirkung', psychologisch nachgerechnet, nur aus einer Denkweise, die immer und überall Wille auf Wille wirkend glaubt, — die nur an Lebendiges glaubt und im Grunde nur an ,Seelen' (und n i c h t an Dinge) Innerhalb der mechanistischen Weltbetrachtung (welche Logik ist und deren Anwendung auf Raum und Zeit) reduzirt sich jener Begriff auf die mathematische Formel — mit der, wie man immer wieder unterstreichen muß, niemals Etwas begriffen, wohl aber etwas bezeichnet, v e r z e i c h n e t wird.235
Schmid dürfte aus dieser Bemerkung schließen, daß auch Nietzsche mit seiner physiologischen Ausdeutung des Weltgeschehens als Affektgeschehen des Willens zur Macht — wobei, wie Schmid hervorhebt, „die Affekt-Natur [ . . . ] Nietzsches Ergänzung am mechanischen Kraftbegriff" ist (438) —, daß auch Nietzsche mit dieser Deutung „nur gethan hat, was Philosophen eben zu thun pflegen: dass er ein V o l k s - V o r u r t h e i l übernommen und übertrieben hat" — ein Vorwurf, den Nietzsche im 19. Aphorismus von „Jenseits von Gut und Böse" gegen Schopenhauer und dessen Willens-Konzeption erhebt, von der sich Nietzsche im folgenden auf das entschiedenste absetzt. Woraus geschlossen werden kann, daß Nietzsches exoterisches Denken von seiner eigenen Absicht her keineswegs ein solches sein will: Die „Exoterik" widerfährt ihm — wir werden darauf zurückkommen. Das exoterische Denken Nietzsches findet Schmid dagegen in dessen „Artisten-Metaphysik", die die Erscheinungen nicht mehr wie die exoterische Physiologie nach ihrer H e r k u n f t befrage, sie mithin als Symptome eines sinkenden oder steigenden,Lebens' oder Willens zur Macht in der Weise abschätze, daß etwa — ζ. B. in dem Aphorismus 370 der „Fröhlichen Wissenschaft" ( „ W a s i s t R o m a n t i k ? " aus dem fünften Buch von 1887) — „vom Werk auf den Urheber, von der T h a t auf den T h ä t e r " zurückgeschlossen wird, wobei hingeschlossen wird „auf ein .dahinter kommandirende(s) B e d ü r f n i s s ' , das als schaffend angesetzt, das heißt im Urteil fingiert wird."(440) Weil die Artisten-Metaphysik nicht mehr an eine solche Kausalität des wirkenden Willens glaube, darum lehne sie demgegenüber jene Frage nach der H e r k u n f t ab. Als Beleg für seine Behauptung führt Schmid eine Passage an aus dem vierten Stück von „Was bedeuten asketische Ideale", der dritten Abhandlung der Schrift „ Z u r Genealogie der Moral": Die Einsicht in die H e r k u n f t eines Werks geht die Physiologen und Vivisektoren des Geistes an: nie und nimmermehr die ästhetischen Menschen, die Artisten!236
Als Anfang der Artisten-Metaphysik müssen daher, so Schmid (440), der Satz gelten: „ e i n Geschehen ist w e d e r b e w i r k t , noch 237 bewirkend" .
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
„ ,Es gibt gar keinen Willen.'" zitiert Schmid und betont, daß die Ablehnung der Geschehens-Auslegung als Wirken im Bereich des Esoterischen zugleich die Ablehnung des Urteils — „nach Nietzsche als der für-wahr-haltenden und daraus begründenden ,Denkweise'" — als Grammatik der höchsten Einsicht bedeute, damit aber zugleich auch die Verwerfung der Wissenschaft überhaupt, insofern deren Leitfaden eben diese Grammatik sei. „ D e r geschichtliche O r t des Artisten-Gedankens ist der Weltzustand, welcher bei Nietzsche der T o d des moralischen Gottes heißt 238 und dessen Entdeckung gleichsam den Aon des Glaubens beschließt. An diesem ,Wendepunkt der Geschichte' denkt die Esoterik an einen ,Zustand', den man zum Unterschied vom Fürwahrhalten als Erscheinen bezeichnen könnte. Statt der Grammatik der Aussage (oder der gleichfalls urteilenden ,Wertschätzung') ist die ,höchste' Sprache dieses Zustandes das Bejahen als interpretierendes Dasein des Leibes, dem hier keine wahre Affekt-Welt des Bedürfnisses ,dahinter' entspricht." (441) In dieser Konzeption, in der Nietzsche „radikaler, ,besser als Descartes' zweifelt" (440) — Schmid spielt hier auf ein Notat von August—September 1885 an 239 —, weil sie das von ihr selbst als wirklich vorhanden Gedachte, die Kausalität des wirkenden Willens, bezweifle, finde Nietzsches Philosophie „zum Gedanken der Bejahung oder des tragischen Pathos" (440), wie es im ersten Zarathustra-Stück des „Ecce h o m o " heißt: „ D a es keinen Willen gibt, kann das Erkennen des Artisten allein ein Bejahen des Ganzen der Welt sein. Davon spricht Nietzsche als ,amor fati', das bedeute: dionysisch zum Dasein stehen. Das urteilende Wertschätzen, das Wollen des schaffenden Bedürfnisses, reicht nicht dorthin; Leitfaden des Bejahens ist vielmehr der vornehme Gedanke einer Dankbarkeit, welche zu groß ist, als daß sie Menschen abgestattet werden kann. [ . . . ] Der Artist ist Erkennender als Schauspieler: in der Transfiguration des interpretierenden Leibes" (442), in der er, wie Schmid an anderer Stelle ausführt, „die Vollkommenheit der Welt [ . . . ] ausspricht" (441). Dies alles sei, so Schmid weiter, gedacht „in dem berühmten W o r t vom ,Olymp des Scheins'" (ebd.) aus der 1887 geschriebenen Vorrede zur 2. Ausgabe der „Fröhlichen Wissenschaft" (5/2, 13—20), auf die wir daher — zumindest kurz — eingehen müssen, wenn wir in eine Auseinandersetzung mit Schmids Ausführungen eintreten wollen. Zunächst stellt Nietzsche in dieser Vorrede ganz im Sinne der, mit Schmid zu sprechen, exoterischen Physiologie die Frage, ob nicht, im G r o s s e n gerechnet, Philosophie bisher ü b e r h a u p t n u r eine Auslegung des Leibes und ein M i s s v e r s t ä n d n i s s d e s Leibes gewesen ist. (16)
Versuch einer Er-läuterung
269
W o r a u f er sich selbst die Antwort gibt: Man darf alle jene kühnen Tollheiten der Metaphysik, sonderlich deren Antworten auf die Frage nach dem W e r t h des Daseins, zunächst immer als Symptome bestimmter Leiber ansehn; [ . . . ] bei allem Philosophiren handelte es sich bisher gar nicht um „Wahrheit", sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, L e b e n . . . (16 f.) Spricht
Nietzsche
in
diesen
Sätzen
eindeutig
im
Hinblick
auf
die
Philosophie des Willens zur Macht, so kann man in der Fortführung dieses Gedankenganges in der T a t eine zunehmende Abkehr v o n dem darin waltenden metaphysischen Begründungswillen erkennen. Aus der Erfahrung seines eigenen D e n k e n s bemerkt er: Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebensoviele Philosophien hindurchgegangen: er k a n n eben nicht anders als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzusetzen, — diese Kunst der Transfiguration i s t eben Philosophie. Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen. (17) W o r a n er die Bemerkung knüpft: Leben — das heisst für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln, auch Alles, was uns trifft, wir k ö n n e n gar nicht anders. (17 f.) Er rühmt in diesem Zusammenhang sogar die Krankheit — seine Krankheit, die er bereits eingangs der Vorrede angesprochen und thematisiert hat, um dem
Leser
die
Gestimmtheit
näherzubringen,
in der die
„Fröhliche
Wissenschaft" entstanden ist, „die Dankbarkeit eines Genesenden" (13). N i e t z s c h e schreibt: Erst der grosse Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, als der Lehrmeister des g r o s s e n V e r d a c h t e s [ . . . ] Erst der grosse Schmerz [ . . . ] zwingt uns Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Gutmüthige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu thun. Ich zweifle, ob ein solcher Schmerz „verbessert" —; aber ich weiss, dass er uns v e r t i e f t . [ . . . ] Das Vertrauen zum Leben ist dahin: das Leben selbst wurde zum P r o b l e m . (18) Gleichwohl ist diese H a l t u n g z u m „Leben" ein Zustand der Krankheit, aus dem es sich zu befreien gilt, weil er erst im Zustand der Gesundheit seine eigentliche Fruchtbarkeit entfalten kann: man kommt aus solchen Abgründen, aus solchem schweren Siechthum, auch aus dem Siechthum des schweren Verdachts, n e u g e b o r e n zurück, gehäutet, kitzlicher, boshafter, mit einem feineren Geschmacke für die Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren Sinnen, mit einer zweiten gefährlicheren Unschuld in der Freude,
270
Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
kindlicher zugleich und hundert Mal raffinirter als man jemals vorher gewesen war. (19) D i e s e U n s c h u l d erzwingt vor allem eine Abkehr v o n der Wissenschaft und eine Z u w e n d u n g zur Kunst: Wir wissen Einiges jetzt zu gut, wir Wissenden: oh wie wir nunmehr lernen, gut zu vergessen, gut η i c h t - z u - w i s s e n , als Künstler! Und was unsere Z u k u n f t betrifft: man wird uns schwerlich wieder auf den Pfaden jener ägyptischen Jünglinge finden, welche Nachts Tempel unsicher machen, Bildsäulen umarmen und durchaus Alles, was mit guten Gründen verdeckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken, in helles Licht stellen wollen. Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur „Wahrheit um jeden Preis", dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit — ist uns verleidet: dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu t i e f . . . Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben. Heute gilt es uns als eine Sache der Schicklichkeit, dass man nicht Alles nackt sehn, nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles verstehn und „wissen" wolle. [ . . . ] Man sollte die S c h a m besser in Ehren halten, mit der sich die N a t u r hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen? (19 f.) U n d er rühmt in dieser Hinsicht die Weltverhaltung der Griechen: Sie verstanden sich darauf, zu l e b e n : dazu thut N o t h , tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der H a u t stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an T ö n e , an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich — a u s T i e f e ! U n d kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus umgesehn haben, die wir von da aus h i n a b g e s e h n haben? Sind wir nicht eben darin — Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum — Künstler? (20) Die
zuletzt
zitierte
Behauptung,
daß
Passage
Nietzsche
widerspricht seine
in
die
unseres Tiefen
Erachtens der
Schmids
Erscheinungen
hinab- und ihren G r ü n d e n nachfragende Philosophie des Willens zur Macht als exoterisch eingeschätzt hat, meinen wir d o c h die R e d e v o n der „ h ö c h s t e n u n d gefährlichsten Spitze des g e g e n w ä r t i g e n G e d a n k e n s " , v o n der aus „wir"
„hinabgesehn
„Hinabsehen"
aber
ist,
haben", wie
auf
sie
erinnerlich,
beziehen ein
müssen:
das
Charakteristikum
zu
des
Esoterischen. A u c h die Philosophie des Willens zur Macht dürfte somit in N i e t z s c h e s A u g e n esoterisch sein, zumindest an ihrer Spitze, dort nämlich, w o sie die — v o n Schmid als „ e x o t e r i s c h " bezeichnete — Frage nach den „ U r s a c h e n " und „ U r - S a c h e n " z u hintergehen versucht, damit aber zur Uberwindung
des eigenen
Ansatzes
und
d. h. zur
hinaustreibt. D i e s e n V e r s u c h übergeht Schmid. 2 4 0
Selbstüberwindung
Versuch einer Er-läuterung Er
findet
sich
in
einer
der
„Kritik
271 des
Mechanismus"
g e w i d m e t e n A u f z e i c h n u n g v o m Frühjahr 18 8 8 241 . N i e t z s c h e b e m ä n g e l t d o r t z u n ä c h s t die m o r a l i s c h e n I m p l i k a t i o n e n in der m e c h a n i s t i s c h e n W e l t a u s d e u t u n g a m Beispiel der B e g r i f f e „ N o t h w e n d i g k e i t " u n d „ G e s e t z " : das erste legt einen falschen Z w a n g , das zweite eine falsche Freiheit in die Welt. „ D i e D i n g e " betragen sich nicht regelmäßig, nicht nach einer R e g e l : es giebt keine Dinge (— das ist unsere Fiktion) sie betragen sich ebensowenig unter einem Z w a n g von Nothwendigkeit. H i e r wird nicht gehorcht: denn d a ß e t w a s s o i s t , w i e e s i s t , so stark, so schwach, das ist nicht die Folge eines Gehorchens oder einer Regel oder eines Z w a n g e s . . .242 Es ist v i e l m e h r , so N i e t z s c h e , die F o l g e d e s s e n , d a ß „ j e d e M a c h t [ . . . ] in j e d e m A u g e n b l i c k ihre l e t z t e C o n s e q u e n z [zieht]". 2 4 3 N i e t z s c h e erläutert diese K o n z e p t i o n : Ein M a c h t q u a n t u m ist durch die W i r k u n g , die es übt und der es widersteht, bezeichnet. [ . . . ] Es ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigungen zu wehren. [ . . . ] . Deshalb nenne ich es ein Q u a n t u m „ W i l l e z u r M a c h t " : damit ist der C h a r a k t e r ausgedrückt, der aus der mechanischen O r d n u n g nicht weggedacht w e r d e n kann, ohne sie selbst w e g z u d e n k e n . Eine Übersetzung dieser W e l t von W i r k u n g in eine s i c h t b a r e Welt — eine Welt f ü r ' s Auge — ist der Begriff „ B e w e g u n g " . H i e r ist immer subintelligirt, daß e t w a s bewegt wird [ . . . ] d . h . wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten. Subjekt, Objekt, ein T h ä t e r z u m T h u n , das T h u n und das, was es thut, gesondert: vergessen wir nicht, daß das eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet. 2 4 4 U n d er fährt f o r t : Eliminiren wir diese Z u t h a t e n : so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Q u a n t a , in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Q u a n t e n : deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Q u a n t e n besteht, in ihrem „ W i r k e n " auf dieselben — der Wille zur M a c h t nicht ein Sein, nicht ein W e r d e n , sondern ein P a t h o s ist die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein W e r d e n , ein Wirken e r g i e b t . . .245 V o n e i n e m „ W i r k e n " des W i l l e n s z u r M a c h t darf m a n , s o ist daraus z u s c h l i e ß e n , nur d a n n s p r e c h e n , w e n n m a n des u n e i g e n t l i c h e n
Charakters
dieser R e d e w e i s e e i n g e d e n k bleibt: D e n W i l l e n z u r M a c h t k a n n u n s e r e S p r a c h e nur m e t a p h o r i s c h b e z e i c h n e n , w e i l sie d e m g r o b e n A u g e n s c h e i n v e r p f l i c h t e t ist, d e n j e n e K o n z e p t i o n z u h i n t e r g e h e n sucht. S o gilt in seiner Sphäre: Es g i e b t w e d e r U r s a c h e n , n o c h
Wirkungen.
Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts. W e n n ich den M u s k e l von seinen „ W i r k u n g e n " getrennt denke, so habe ich ihn n e g i r t . . .
272
Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik In
summa:
ein
Geschehen
ist
weder
bewirkt,
noch
bewirkend246. Sprachlich wissen wir darum nicht vom Ursache-Wirkungs-Schema loszukommen, weil der in der Sprache gefaßte Augenschein, wie Nietzsche, den Ansatz seines philosophischen Lehrmeisters Schopenhauer weiter denkend, ausführt, von der Kategorie der Kausalität erzeugt wird: die mithin auch das dem Augenschein vorausliegende „ W e r d e n " erfaßt, sobald es mit Hilfe der Sprache begriffen wird. Der Versuch, dieses Schema zu transzendieren, zeitigt derweise die Konsequenz, daß die Sprache augenscheinlich nichts mehr sagt: den Willen zur Macht als „ P a t h o s " zu bezeichnen, heißt im Sinne des Augenscheins, sich einer Leerformel zu bedienen: Die „ ,höchsten Begriffe', das heisst die allgemeinsten, die leersten Begriffe", so bemerkt Nietzsche selber in der „Götzen-Dämmerung" 2 4 7 , bilden „den letzten Rauch der verdunstenden Realität". Dort aber, wo sich diese Leerformel füllt, wird sie sogleich durch das geprägt, von dem sie sich zu befreien sucht: als „elementarste Thatsache" soll dieses „ P a t h o s " Ursache dafür sein, daß sich „ein Werden, ein Wirken ergiebt". (Dazu bemerkt Bernhard Lypp in seinem Aufsatz „Dionysisch-apollinisch: ein unhaltbarer Gegensatz, Nietzsches ,Physiologie' der Kunst als Version ,dionysischen Philosophierens" 248 : „Dieses Pathos, wie immer man es genauer kennzeichnen mag, ist von Beginn an Äußerung, es verbirgt sich nicht in vorstellenden Mechanismen, sondern es stellt sich in ihnen dar. [ . . . ] Im Lebensprozeß als ganzem kommt dieses elementare Pathos eben darin zur Geltung, daß er nur als ein fortgehendes Assimilationsgeschehen verstanden werden kann. Dieses ist grund- und ziellos und kann darum nicht am Leitfaden der Kausalität ausgelegt werden. Das Ungenügen, das Schopenhauer am Satz vom Grunde als eines Mittels empfindet, den metaphysischen Grund der Welt zu begreifen, hält Nietzsche fest, er zieht aber daraus nicht die Konsequenz, man müsse deshalb zu dualistischen Begriffsbildungen greifen. Leben als ganzes kann nur als ein Assimilationsgeschehen von Unbestimmtheit gedeutet werden." Und anderer Stelle 249 gibt Lypp zu bedenken: „Was in metaphysischer Begriffsbildung als das Pathos eines organischen Systems bezeichnet werden kann, ist in physiologischer seine ,Spannung'. Der Rauschzustand ist die Bedingung ihrer Entladung. Er muß als Zustand psychophysischer Enthemmung verstanden werden. In ihm brechen die Sprachfiguren zusammen, in denen die Welt als Inbegriff repräsentierender Mechanismen vorgestellt werden kann.") ,,[W]ir haben leider keine Worte, um das wirklich Vorhandene [ . . . ] zu bezeichnen.", bemerkt Nietzsche im August—September 18 8 5250. Kurze Zeit vorher hat er darum seine Philosophie als „Philosophie der ,Gänsefüßchen'" charakterisiert 251 : Er verwirft damit, wie wir mit
Versuch einer Er-läuterung
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Müller-Lauter 252 im Rückgriff auf frühere Ausführungen sagen können, „alle Worte, sofern mit ihnen der Anspruch des Begriffes erhoben wird, und gebraucht sie lediglich als , Zeichen1. Sie sollen auf Sachverhalte nur hinweisen. Man muß diesem ihren Hinweisungscharakter folgen, man darf sich nicht auf sie versteifen, man muß das,Begriffliche' hinter sich lassen, um zu dem zu gelangen, was ,wirklich vorhanden' ist." Versteift sich aber Schmid — trotz der Mahnungen der Gänsefüßchen — nicht auf den Wortlaut des Aphorismus 36 aus „Jenseits von Gut und Böse", wenn er Nietzsches Konzeption des Willens zur Macht in der Hinsicht an der Frage der Kausalität scheitern sieht, daß in ihr „Wille" auf „Wille" „wirke"? Verkennt er nicht, daß Nietzsches Verwerfung eines Willens in jener auf S. 266 zitierten Aufzeichnung vom Sommer—Herbst 1887 („Es giebt gar keinen Willen") eindeutig auf die gewöhnliche Willensvorstellung bezogen ist? Und sieht Nietzsche diese nicht von der Philosophie des Willens zur Macht als überholt an? So heißt es etwa im „Antichrist": Ehedem gab man dem Menschen als seine Mitgift aus einer höheren O r d n u n g den „ f r e i e n W i l l e n " : heute haben wir ihm selbst den Willen g e n o m m e n , in dem Sinne, dass d a r u n t e r kein V e r m ö g e n mehr verstanden w e r d e n darf. Das alte W o r t „ W i l l e " dient nur dazu, eine Resultante zu bezeichnen, eine Art individueller Reaktion, die nothwendig auf eine Menge theils widersprechender, theils zusammenstimmender Reize folgt: — der Wille „ w i r k t " nicht mehr, „ b e w e g t " nicht m e h r . . . 253
Ist damit nicht belegt, daß für Nietzsche die Lehre vom Willen zur Macht in ihren höchsten Spitzen das exoterische Niveau überschreitet? Gleichwohl scheint uns Schmids Unterscheidung zwischen einer exoterischen und einer esoterischen Philosophie Nietzsches weiterhin wesentlich zu sein — in einer nur um ein geringes verschobenen Hinsicht. Wenn Schmid nämlich alle die Bereiche von Nietzsches Denken als exoterisch bezeichnet wissen will, in denen Erscheinungen auf ihre Gründe hin befragt werden, dann schließt das, wie Schmid zu Recht meint, sämtliche physiologischen Frageansätze ein, ζ. B. solche, in denen Erscheinungen daraufhin befragt werden, ob sich in ihnen ein steigender oder ein sinkender Wille zur Macht ausspricht. Von der Philosophie des Willens zur Macht selber bleibt indes jener schmale Bereich ausgeschlossen, in dem Nietzsche über die vordergründige Annahme eines „Wirkens", gleich welcher Art, nicht nur hinauswill, sondern tatsächlich hinauskommt: Dort, wo er den Willen zur Macht als „ P a t h o s " bezeichnet, gelangt Nietzsche auf dem Wege des in die Tiefenschichten der Erscheinungen hinabfragenden Frageansatzes — im Hinblick auf die Klassifizierung als „Exoterik" gesprochen: auf dem Wege der hinauffragenden Fragestellung — bis zu jenem Punkt, von dem die Artisten-Metaphysik hinabschaut, ohne daß beide Fragehinsichten doch ineinsfielen (bildlich und im Sinne einer Grundfigur des Nietzscheschen
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Denkens gesprochen, ist es so, daß zwei Halbkreise hart aneinanderstoßen, ohne ineinander überzugehen). An diesem Punkt spricht, wie erinnerlich, auch die Artisten-Metaphysik von einem „Pathos", vom tragischen Pathos nämlich. Als dessen Leitgedanken sieht Schmid aber den Anfangssatz der „Genealogie der Moral" an: Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst254, den es als unübersteigbar erkenne und in seiner Dunkelheit als fatum verehre. Wie dies schon in der „Geburt der Tragödie" in der Weise zum Ausdruck gebracht wird, daß sie ihren eigenen metaphysischen Ansatz — in Übereinstimmung mit ihrer Verwerfung der sokratischen Weltverhaltung, die sich „durch Wissen und Gründe der Todesfurcht" 2 5 5 zu entheben, die Ab-gründigkeit der Welt zu verdrängen sucht — als Illusion bezeichnet, so versteckt indes, daß auch Schmid dies nicht aufgefallen ist — wie ja auch Nietzsche selber sich diesen Gedanken erst auf dem langen Umweg über die Philosophie des Willens zur Macht zudenken konnte. Denn zusammen mit der aus ihm hervorgehenden Weltverhaltung des „amor fati" ist dieser Satz — was Schmid ebenfalls übersieht — auch ein „Ziel"gedanke der Philosophie des Willens zur Macht. Ihr wird der Mensch, wie Wolfgang Müller-Lauter ausführt, „eine so komplexe Machtorganisation, daß er nicht mehr erfahren kann, was ihn ,im Grunde' treibt. Er ist Interpretation, aber er wird interpretiert. Er ist Wille zur Macht, aber — als ,Wille des Menschen' — ohnmächtiger Wille zur Macht hinsichtlich seiner Selbstkonstitution. Dies einzusehen, heißt das Eingesehene als das letztlich Wahre uneingeschränkt bejahen. ,Amor fati' ist das letzte Wort der Philosophie des Willens zur Macht. Aber auch dieses Wort konnte ihr selbst nur aus ihrer eigenen Abgründigkeit heraus ,zugesprochen' werden." 256 Eine Abgründigkeit, die ihr ob der Radikalisierung der überlieferten Frage nach dem Grund zuwächst und die deshalb von der abgründigen Verhaltung der Artisten-Metaphysik bei aller Nähe zutiefst geschieden ist. Anders als Schmid meint, ist diese nämlich nicht Ergebnis dessen, daß Nietzsche „radikaler,,besser als Descartes' zweifelt", vielmehr erwächst sie aus der Erkenntnis des oben zitierten Vorwortes zur „Fröhlichen Wissenschaft", daß Wahrheit nicht mehr „Wahrheit bleibt, wenn man ihr den Schleier abzieht". Woraus Nietzsche, wie gesehen, die Forderung ableitet: M a n sollte die S c h a m besser in Ehren halten, mit der sich die N a t u r hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat.
Eine Erkenntnis, die schon Nietzsches Deutung des Odipus-Mythos in der „Geburt der Tragödie" 2 5 7 nahelegt,
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dass dort, wo durch weissagende und magische Kräfte der Bann von Gegenwart und Zukunft, das starre Gesetz der Individuation, und überhaupt der eigentliche Zauber der N a t u r gebrochen ist, eine ungeheure Naturwidrigkeit — wie dort der Incest — als Ursache vorausgegangen sein muss; denn wie könnte man die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch, dass man ihr siegreich widerstrebt, d. h. durch das Unnatürliche? [ . . . ] . Ja, der Mythus scheint uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade die dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der, welcher durch sein Wissen die N a t u r in den Abgrund der Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der N a t u r zu erfahren habe.
„ M a n sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat": Ebendiesen Satz könnte man aber auch als Grundformel bezeichnen f ü r diejenige Weltverhaltung, die wir als un- oder vormetaphysisch, kurz: als physisch bezeichnen. Sie weiß darum, daß Begründung die Phänomene um ihren atmosphärischen Reichtum und damit um ihre ursprüngliche Wahrheit bringt, als welche die Fruchtbarkeit ist, die Fähigkeit, den Menschen mit immer neuen Weltbezügen zu begaben: schone, was solch zarte Haut hat! Was willst du Flaum von solchen Dingen schaben?, heißt es beispielsweise in einer Aufzeichnung vom Sommer 18 8 8 258. In ähnlicher Weise wie die Philosophie des Willens zur Macht ist auch die vormetaphysische Weltverhaltung der Ansicht, daß die Dinge negiert, d. h. nichtig gesetzt werden, wenn sie von ihrer „ W i r k u n g " im Hinblick auf ein „dahinter" stehendes „Wesen" getrennt werden. Wie Goethe im Vorwort zu seiner „Farbenlehre" sagt: „Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges." 259 Doch während die Philosophie des Willens zur Macht dieser Erkenntnis, daß das „ W e s e n " der Dinge ihre „ W i r k u n g " „ist" — so daß „Wesen" verbal im Sinne eines „Wesens-" nämlich eines Bezugsgeschehens zu verstehen ist —, dadurch zu entsprechen sucht, daß sie alles, was augenscheinlich ist, in ein Geschehen mit „absoluter Homogenität" und d. h. vollständiger Wesensgleichheit auflöst, in dem somit — trotz aller darin waltenden Abgründigkeit — die Dinge in ihrer Dinghaftigkeit, in ihrer Fähigkeit, den Menschen zu sich zu versammeln und in dieser Versammlung zu be-stimmen, erst recht vernichtigt werden. Statt von „Ab-gründigkeit", die den Dingen ihre Dinghaftigkeit zu bewahren sucht, indem sie auf jedwede Beistellung von hinter oder in den Phänomenen angesiedelten „ G r ü n d e n " verzichtet und damit „tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen[bleibt]" — von jedwedem Begründungswillen absteht —, sollte man im Falle des Willens zur Macht besser von
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„Grundlosigkeit" sprechen, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß mit ihm ein Grund erfragt ist, der sich indes selbst als grundlos, als in sich ungegründet erweist. Mit anderen Worten: Weil ein faßbarer, rationaler, „berechenbarer" Grund der Erscheinungen nicht aufgewiesen werden kann, deshalb muß der traditionelle metaphysische Begründungsansatz verwandelt werden, so zwar, daß er zu dem Satz hinausfragt: „Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst!", aber der Begründungswille als solcher wird damit nicht aufgegeben. Anders hingegen im Falle des gleichlautenden Satzes der Artisten-Metaphysik, die es damit ablehnt, den für sie zentralen Erfahrungssatz: Leben — das heisst für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme zu verwandeln, auch Alles, was uns trifft, wir k ö n n e n gar nicht anders.
auf das Subjekt, das Objekt und die Gründe dieses Treffens zu befragen. Es wird einfach konstatiert, daß „es" so ist, daß das Leben in leibender Weltauslegung geschieht und daß das Ganze, das das leibende Leben als ästhetisches oder apollinisches (Apollo ist der Gott des Maßes, d. h. der Grenze) Phänomen bedeutet, vollkommen ist — gibt es doch für Nietzsche kein „Jenseits" mehr, von dem her auf es herabgesehen werden könnte. Dennoch ist auch die Artisten-Metaphysik nicht ab-gründig in dem Sinne, in dem es eine vormetaphysische Denk- und Weltverhaltung zu sein hat: Zwar bleibt sie bei der Oberfläche stehen, aber sie bezeichnet diese als „Schein" und versteht dieses Wort dabei nicht nur im Sinne des lateinischen „lucere", d. h. als Glanz, als Leuchten, sondern auch im Sinne des lateinischen „videri": sie deutet somit die Oberfläche als täuschenden Augenschein, was besagt, daß sie diesen unter Bezugnahme auf das überlieferte metaphysische Wahrheitsgefüge auslegt — wovon ja bereits der Titel „Artisten-Metaphysik" kündet. Zwar sucht sie sich von diesem Gefüge abzustoßen, doch ist es ihr noch nicht gelungen, sich in einen eigenen Wahrheitsbegriff und damit zu sich selbst zu befreien. Den Beginn dieser Befreiung dürfen wir vielleicht in jenem nicht mehr ausgearbeiteten Denkversuch des Fabelwerdens von wahrer und scheinbarer Welt erblicken, der die Welt in das pure Daß mittäglichen, nämlich schattenlosen Glanzes rückt (vgl. Seite 99). „So läßt sich sagen", faßt Schmid zusammen (442), „daß die .Denkweisen' von Exoterisch und Esoterisch — also hier die Physiologie (die Lehre vom Willen) und die Artisten-Metaphysik — nicht einfach verschiedene Perspektiven unter noch anderen möglichen Perspektiven sind. Sie heben sich voneinander ab zunächst durch geringere und größere Radikalität im Hinblick auf das Problem der Wissenschaft — dann aber, mit Nietzsches eigenen Worten, als Stufen der Höhe. Höher als ,ich will' steht das Interpretieren des ,ich bin'. Erst darin gibt sich der tiefere Sinn des ,Es
Versuch einer Er-läuterung
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gibt keinen Willen' zu erkennen". Schmid denkt bei diesen Ausführungen an die nachfolgende Aufzeichnung vom Frühjahr 1884: Die Lehre μηδέν ά γ α ν wendet sich an Menschen mit überströmender Kraft — nicht an die Mittelmäßigen. Die έγκράτεια und άσκεσις ist nur eine Stufe der H ö h e : höher steht die „goldene N a t u r " . „ D u sollst" — unbedingter Gehorsam bei den Stoikern, in den Orden des Christenthums und der Araber, in der Philosophie Kant's (es ist gleichgültig, ob einem Oberen oder einem Begriff). H ö h e r als „du sollst" steht „ich will" (die Heroen); höher als „ich will" steht „ich bin" (die Götter der Griechen) Die barbarischen Götter drücken nichts von der Lust am Μ a a ß e aus — sind weder einfach, noch leicht, noch maaßvoll. 260
Schmid bemerkt dazu: „Wenn das Dasein des Leibes die Vollkommenheit des Ganzen ausspricht, ist er,goldene Natur', spricht er aus dem Herzen der Erde" (442) — und folgt damit einem Hinweis der sich unmittelbar anschließenden Aufzeichnung, die da lautet: Zu Zarathustra: „die Goldenen" als höchste Stufe.26· Im 2. Teil des Zarathustra, im Kapitel „Von grossen Ereignissen"262 heißt es nämlich: das H e r z d e r E r d e ist v o n
Gold.
Gleichzeitig wendet sich Nietzsche mit dieser Aufzeichnung aber auch zur „Geburt der Tragödie" zurück, die mehreren seiner späteren Notate ein Gegenstand des Nachdenkens geworden ist. Schmid zieht daraus den richtigen Schluß, „die Struktur der Rück-Erinnerung an die ,Geburt der Tragödie' sei der Artisten-Metaphysik wesentlich und biete einen Schlüssel zu deren ,esoterischer' Konzeption des Tragisch-Dionysischen." (441) In Nietzsches philosophischer Erstlings-Schrift heißt es nämlich über die griechischen Götter: Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier herantritt und nun nach sittlicher H ö h e , ja Heiligkeit, nach unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird unmuthig und enttäuscht ihnen bald den Rücken kehren müssen. Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein üppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist.263
Ganz anders als bei Feuerbach ist hier das Schaffen der Götter durch die Griechen nicht als Selbstentäußerung des Menschen verstanden, die ihm sein Eigenstes entfremdet, sondern als Verklärung, als Vergöttlichung des menschlichen Daseins und der Welt, so zwar, daß in ihnen „die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins" verhüllt wurden: „um überhaupt leben zu können", heißt es in der „Geburt der Tragödie" 264 , „musste er [der Grieche] vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen."
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Ähnliches gibt auch eine Notiz vom Winter 1869/70—Frühjahr 1870 zu bedenken: D i e griechische Götterwelt ist ein w e h e n d e r Schleier, der das Furchtbarste verhüllte. Es sind die Künstler des L e b e n s ; sie haben ihre Götter, um leben zu können, nicht um sich dem Leben zu entfremden. 2 6 5
Ebensowenig wie die Scheinhaftigkeit der Kunst hätten die Griechen dabei jemals die Scheinhaftigkeit dieser Götterwelt vergessen, sie vielmehr — Nietzsche weicht hier von seiner Auslegung der griechischen Götterwelt in „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" ab — immer vor dem düsteren Hintergrund des Lebens gesehen, als eine — künstlerische — Verheißung, ein Glücksversprechen desselben, das in diesem Widerstreit nur um so heller erglänzte. Es ist dies der Widerstreit von Wille zur Erkenntnis und Wille zum Schein, der, wie wir gesehen haben, auch das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst, von Philosophie des Willens zur Macht und Artisten-Metaphysik prägt. Da sich durch ihn und in ihm, Nietzsche zufolge, das „Leben" vollzieht, ist er in seinem Wesen unaufhebbar, wofür Nietzsche in der „Geburt der Tragödie", wie erinnerlich, das Bild vom „ m u s i k t r e i b e n d e n S o k r a t e s " findet: Weder darf die Wissenschaft zugunsten der Kunst, noch umgekehrt die Kunst zugunsten der Wissenschaft aufgegeben werden. Beide gewinnen ihre Daseinsberechtigung nur durch einander — auch hier kehrt die für Nietzsche zentrale Denkfigur des Streites, des πόλεμος, wieder. Für die Kunst bedeutet das, daß man, um ein Anrecht auf sie zu haben — Nietzsche spricht es nur ganz wenigen „ A u s n a h m e M e n s c h e n " 266 zu —, durch die Nöte der Erkenntnis gegangen sein muß. Das Leben im Schein als Ziel heißt demnach, daß der höchste Schein — derjenige der Kunst — erst nach dem Durchgang durch den geringsten Schein — denjenigen der Wissenschaft — angestrebt werden darf; will sagen: erst nach dem Zerstören darf und kann gebaut werden. Denn nur derjenige, dem im „Siechthum des Verdachts" „das Leben selbst [ . . . ] zum P r o b l e m " geworden ist, weiß — so die Lehre des Vorworts zur „Fröhlichen Wissenschaft" — in der Kunst anderes als Unterhaltung zu sehen, anderes auch als jenen „metaphysischen Trost", von dem — zum Leidwesen der späteren Selbstkritik — die „Geburt der Tragödie" spricht; in ihm allein kann der Wunsch wachsen nach einer anderen als der herrschenden Dekadenz-Kunst mit ihrem ,,romantische[n] Aufruhr und Sinnen-Wirrwarr, den der gebildete Pöbel liebt, sammt seinen Apirationen nach dem Erhabenen, Gehobenen, Verschrobenen". Mit diesen Ausführungen setzt sich Nietzsche ab zum einen von Schopenhauers Ästhetik, derzufolge die Kunst, wie Lypp bemerkt, „Einübung in die Nichtung der
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wirklichen Welt [ist], indem sie visionäre" — und, wie wir hervorheben möchten: willenlose — „Anschauung einer ganz anderen zu sein beansprucht" 2 6 7 — eine Auffassung, die Schopenhauer vor allem am „Erhabenen" der Tragödie exemplifiziert —, zum anderen aber setzt sich Nietzsche damit von seiner eigenen frühen Tragödienkonzeption ab, soweit er in ihr den Begriff des „Erhabenen" in Anknüpfung an Schopenhauer verwendet. (Bereits im 2. Teil des „Zarathustra" ironisiert Nietzsche die „Erhabenen" ob der metaphysischen Implikationen ihres Verhaltens. 268 ) Diese von Nietzsche ersehnte, „andere" Kunst soll indes sein eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine helle Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert! V o r Allem: eine Kunst für Künstler, nur für Künstler!
D. h. eine „unmetaphysische" Kunst, die dem Wesen der Kunst entspricht, B e j a h u n g , S e g n u n g , V e r g ö t t l i c h u n g des
Daseins
zu sein — so Nietzsche im Frühjahr 18 8 8 269 —, und nicht mehr, wie die gesamte christlich-romantische Kunst den äußeren „ A n s c h e i n " erweckt, „eine Folge des U n g e n ü g e n s a m W i r k l i c h e n " , mithin eine Folge des zur Metaphysik treibenden Ressentiments zu sein, so Nietzsche in einer Notiz vom Herbst 1885—Herbst 18 8 6 270 , in der er diese „Falschheit" am Beispiel Raffaels aufweist. Indes geht er hier noch von der Möglichkeit einer pessimistischen Kunst aus, die er in jener späteren Notiz in Konsequenz seiner Auslegung des Rausches als des kunstschaffenden Zustandes negiert: Sie sei „eine contradictio". Selbst in der Leidensgeschichte des Hiob sei das Leben bejaht: — Die furchtbaren und fragwürdigen D i n g e darstellen ist selbst schon ein Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie n i c h t . . . ,
bemerkt Nietzsche unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Tragödie und gegen Schopenhauers Ästhetik, die Kants Lehre vom Schönen als dem interesselos Gefallenden fortzuführen meint. Gegen sie stellt Nietzsche Stendhals Formel, das Schöne sei „une promesse de bonheur" 2 7 1 . Erst dort, wo die Kunst als Bejahung des Daseins dieses Glücksversprechen abgibt, kann sie dem genügen, was Nietzsche ihr als Wesensaufgabe zuspricht, nämlich „Stimulans des Lebens" zu sein. Das Schöne aber ist das Oberflächliche 272 , das die Wissenschaft mit ihrer Frage nach den Gründen durchstößt. „ D e r Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung.", zeichnet Nietzsche darum schon im Winter 1869/70—Frühjahr 18 7 0 273 auf. Ganz im Sinne des zentralen Satzes der „Geburt der Tragödie": „denn nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig g e r e c h t f e r t i g t " wendet er im Sommer 1872—Anfang 1873 gegen dieses T u n der Wissenschaft ein:
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik D i e menschliche S i n n e n e r k e n n t n i ß ist sicherlich auf S c h ö n h e i t aus, sie verklärt die Welt. W a s haschen wir nach einer anderen? W a s w o l l e n wir über unsere Sinne hinaus? D i e rastlose Erkenntniß geht in's O e d e und Häßliche. — Z u f r i e d e n s e i n mit der künstlerisch angeschauten Welt! 2 7 4
Worin aber die Weltvernichtung der Wissenschaft besteht, das kann allein von der dichterischen Welterfahrung her deutlich werden, von der auch Nietzsche ausgeht, ohne sie als solche rein gedacht zu haben. Diese unsere These wollen wir im folgenden weiter verfolgen. Wir gehen dabei aus von einer Bemerkung, die sich in der 3. Unzeitgemässen Betrachtung „Schopenhauer als Erzieher" findet. In Konsequenz seiner Bestimmung des Wesens der Wissenschaften gibt Nietzsche dort zu bedenken, dass der Gelehrte seinem W e s e n nach u n f r u c h t b a r ist — eine Folge seiner Entstehung! — und dass er einen gewissen natürlichen H a s s g e g e n den fruchtbaren M e n s c h e n hat; weshalb sich zu allen Zeiten die Genie's und die Gelehrten befehdet haben. D i e letzteren w o l l e n nämlich die N a t u r tödten, zerlegen und verstehen, die ersteren w o l l e n die N a t u r durch neue lebendige N a t u r vermehren; [ . . .]. 2 7 5
Wir haben in diesem Zusammenhang an unsere auf Seite 81—87 abgedruckten Ausführungen zum Goetheschen Wahrheitsbegriff zu erinnern, wonach wahr nur eine solche Betrachtungsweise der Phänomene genannt werden kann, welche deren Fruchtbarkeit entspricht, sie nämlich als das Unausdenkbare und Unergründliche in die Sorge zu nehmen sucht: „Alles Lebendige bildet eine Atmosphäre um sich her.", weiß Goethe 276 und fordert, daß Wissenschaft und Philosophie ihm diese bewahren sollen, was bedeutet, daß sie nicht fest- und sicherstellend, sondern „atmosphärisch" zu sein haben. „Alles Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnissvollen Dunstkreis", weiß aber auch Nietzsche, der in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung daraus folgert: w e n n man ihm diese H ü l l e nimmt, w e n n man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurtheilt, als Gestirn o h n e Atmosphäre z u kreisen: s o soll man sich über das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbar-werden nicht mehr wundern. 2 2 7
Unfruchtbar ist nach physischer Lesart der Gelehrte mithin darum, weil er dem „Lebendigen" diese Hülle nimmt, indem er es auf seine Gründe hin festzustellen sucht — er behandelt es als bloßes Erkenntnisphänomen, mit dem es sich umwillen des alltäglichen Besorgens rechnen lassen und das deswegen um seine unbestimmbare Hülle des Atmosphärischen gebracht werden muß. So daß vom Gelehrten dasjenige abgewehrt und nichtig gesetzt wird, was das Genie als höchste „Bestimmung" des Phänomens erfährt. Unter Absehung von all demjenigen, womit es sein Bewenden haben könnte, läßt es sich vom Phänomen zum Stiften bestimmen, will es doch, wie Nietzsche sagt, „die Natur durch neue lebendige Natur vermehren". Anders
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als der Gelehrte ist das Genie mithin darum fruchtbar, weil es sich in der Weise vom Zuspruch der Welt befruchten läßt, daß es ein Werk schafft, das als Welt-Frucht seinerseits wiederum in der beschriebenen Weise Frucht bringen kann. Was eben bedeutet, daß es im physischen Sinne wahr ist — im Gegensatz zum „ W e r k " des „Gelehrten", das nur immer neu und anders berechnet und zerlegt werden kann. Ihm eignet somit keine — oder bestenfalls geringe — Wahrheit im Sinne der Fruchtbarkeit des abgründigen Welt-Bezuges, sein Anspruch auf Wahrheit kann sich allein auf eine mögliche Ubereinstimmung mit den Maß- und Vorgaben der alltäglichen Existenz berufen, als welche aus der eigentlichen Offenheit des abgründigen Welt-Bezuges hinaussteht („ex-"), weil sie ob ihres Strebens nach Seinsmächtigkeit den im Dingen des Dings geschehenen Belang der Welt zum Stehen („sisto") bringen und sich in der metaphysisch verfaßten Gegen-Ständigkeit gegen sie einrichten muß; anders als die Dinge sind nämlich die Gegenstände nur das, was ihnen der Mensch zuspricht. In der Existenz ist mithin der Mensch nur offen für das, was er sich selbst wesensmäßig öffnet, d. h. letztlich nur für sich selbst. Er ist hier die Welt, insofern er ihr sub-iectum, das ihr als Grund Zugrundeliegende ist. In der Frage nach dem Grund fragt darum der Mensch letztlich nur nach sich selbst, was in der Gleichsetzung von Denken und Sein begründet liegt. Dieses aber ist die Grundgleichung der Metaphysik, von der sich somit sagen läßt, daß sie in ihrem Wesen Existenzphilosophie ist, denkt sie doch dem nach, wovon sich die Existenz immer schon leiten läßt, der ratio nämlich. Gleich dem Gelehrten ist mithin auch der Metaphysiker unfruchtbar — als Frage nach den Gründen des Seins ist Metaphysik im Wesen das Selbe wie die nach den Gründen einer einzelnen Erscheinung fragende Wissenschaft: Im Verfolg ihrer Fragen vernichten beide das AnschaulichGegebene, indem sie es auf ein anderes hin übersteigen. Von dieser Selbigkeit legen nicht zuletzt auch weiteste Bereiche der Nietzscheschen Philosophie Zeugnis ab, etwa jene, in denen der Denker in Fortführung zeitgenössischer physikalischer und physiologischer Forschungen die Welt auf Nervenreize oder später auf ein Ensemble von Kräften gleicher Qualität reduziert. Indes, wird ein kritischer Leser hier vielleicht einwenden, schreiben wir Nietzsche damit nicht einen Ansatz zu, den er ausdrücklich hinter sich gelassen hat, nämlich den metaphysischen Grundansatz einer Gleichsetzung von Denken und Sein? H a t sein Denken nicht immer wieder um die Einsicht gekreist, daß wir nach dem Verlust „einer religiösen Sanktion und Verbürgung unsrer Sinne und Vernünftigkeit", nach dem Entschwinden ,,ein[es] essentielle[n] Wahrheits-Principfs] im Grund der Dinge", „gerade gar nichts denken [können], in wiefern es i s t . . . " , um die Formulierung
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
eines Nachlaßfragments 2 7 8 vom Herbst 1885—Herbst 1886 zu zitieren? Bedenkt er dies nicht gerade in der Philosophie des Willens zur Macht, so daß diese auch in unserem Sinne fruchtbar wäre? In der Tat, Nietzsche stellt die traditionelle metaphysische Gleichsetzung von Denken und Sein in Frage. Doch bedeutet das zunächst „ n u r " , daß er die Grundlosigkeit offenbart, in der diese Gleichsetzung schwebt, meint doch das mit dem Titel „Gottes T o d " bezeichnete Ereignis den Verlust eines in sich gegründeten Grundes, der diese Gleichsetzung verbürgen, nämlich begründen könnte. Keineswegs aber verzichtet Nietzsche damit auf den metaphysischen Willen, das Erscheinen der Physis auf seine Gründe zurückzuführen. Allein, der endlich aufgewiesene Grund kann — gemäß der mit jenem Ereignis einhergehenden Umdrehung des Piatonismus — nurmehr ein scheinhafter sein, ist doch das Quale des Willens zur Macht in der Weise relativ zu sich selbst, daß es in der Auslegung des scheinhaften Auslegungsgeschehens der Welt sich selbst auslegt. Indem Nietzsche aber so der Unverbürgtheit jener besagten Identität Rechnung zu tragen und ihre Scheinhaftigkeit zu begründen sucht, besteht — obzwar in umgekehrter Form — bei ihm fort. Darum kann seine Philosophie — abgesehen von jenem wohl nur schmalen, dafür aber um so wesentlicheren Bereich der Artisten-Metaphysik — Fruchtbarkeit nur im Sinne der neuzeitlichen Metaphysik beanspruchen — und sie will es auch so, denkt sie selber doch die Schöpferischen, das Genie bzw. den Ubermenschen, wie schon Heidegger angemerkt hat, 279 weitgehend — indes nicht durchgängig — neuzeitlich-technisch vom Leistungshaften her. So auch im Kontext der oben zitierten Stelle, demzufolge fruchtbar und genial derjenige zu nennen ist, der durch seine Schöpfungen das Leben über den bisherigen Stand hinaustreibt und so für die Zukunft das Fortleben der verbesserten Physis, der Kultur, sichert, unfruchtbar und gelehrtenhaft hingegen derjenige, der bloß den gegenwärtigen Kulturbetrieb betreibt. Für ein physisches Denken aber kann „Fruchtbarkeit" nichts anderes als den Zuspruch des Ursprünglichen bedeuten, in dem und als das die Welt west, so zwar, daß „sie" dem immer schon in sie einbezogenen Menschen die Überfülle ihrer Sinn- und Maß-Gabe zuspricht. Meint „ W e l t " damit zunächst nichts anderes als das, was auch gemeinhin „Welt" genannt wird, nämlich den „Lebensbereich", der den Menschen umgibt, so ist dieser bloße Sammelbegriff dann jedoch genauer als Bezeichnung des Bezuges zu verstehen, in dem sich der Mensch wohl immer schon vorfindet — das gilt auch für die alltägliche Existenz, obwohl sie selber nur ein „Unwesen" von „ W e l t " anerkennt —, den er eigentlich, nämlich in seinem vollen Wesen (verbal), jedoch nur höchst selten erfährt: Welt ist für ihn nur als Bezug, während er selber umgekehrt hinwiederum nur im Einbezug der Welt ist.
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Daß der Mensch sich mithin immer schon von der Welt umfangen sieht, bedeutet zum ersten, daß weder die Welt noch der Mensch in einem eigenen Sein, einem Sein „an sich", außerhalb des Bezuges betrachtet werden können, und zum zweiten, daß die Welt nicht als bloßer Entwurfsbereich der Menschen verstanden werden kann, den sich dieser, sei es auch als Vermittlungsinstanz eines Absolutum oder als Statthalter des Nichts bzw. des Seins, selber erschließt. Immer schon sieht sich der Mensch unhintergehbar auf die Welt verwiesen, wie die Zirkelhaftigkeit solcher Versuche belegt, Gründungszusammenhänge seines Im-Welt-Bezug-Stehens aufzuweisen; Indem sie — in einer Art „Dynamisierung" des Kantischen Ansatzes — dem Weltentwurf eine Welteingenommenheit vorangehen lassen müssen, haben sie immer schon das vorauszusetzen, was sie doch erst erklären wollen, die Weltoffenheit und -bezogenheit des Menschen. Wir nennen diese unhintergehbare Eingenommenheit die Welt-Hörigkeit des Menschen, als welche sein Wesen in der Weise ausmacht, daß er be-stimmt wird von den Stimmen der Welt: ein Verhältnis, daß er weder begründen kann — weil das eben hieße, hinter es zurückgehen zu können —, noch überhaupt begründen darf, nicht nur, weil das bedeutete, die Ganzheit des Weltbezuges zu zerschneiden, ihn damit — man denke an Goethes Libelle — überhaupt zu zerstören, sondern auch, weil eine Begründung der Welt den Charakter des Ursprünglichen nähme. Ursprüngliches kann nämlich nur solches sein, was nicht auf etwas anderes zurückgeführt wird, was eben selber Ursprung und als solcher ab-gründig (und nicht grundlos) ist. N u r als Ab-gründiges vermag Welt zu weiten, d. h. den Menschen bezugsmäßig anzugehen, ihn zu be-dingen: Welt west vor allem als dingendes Ding. Dabei ist mit „ D i n g " nicht das Gebrauchs-, auch nicht das Sinnending, kurz: das insichstehende Seiende der alltäglichen Existenz, der Gegen-stand, sondern das „ P h ä n o m e n " gemeint, das den Menschen dingt, indem es, wie das auf die indogermanische Wurzel 'ten- „dehnen, ziehen, spannen" zurückgehende W o r t „ D i n g " selber sagt, sich dem Menschen entgegendehnt und ihn so zu sich versammelt — die jüngere Wortschicht von „ D i n g " ist althochdeutsch thing, ding „das Gericht, die Versammlung der freien Männer", wovon „dingen", „in Dienst, in Anspruch nehmen" abgeleitet ist, das in seiner althochdeutschen Form dingon „vor Gericht stellen" bedeutete. Ein solches Ding ist beispielsweise das von Goethe bedichtete Lichtphänomen „Libelle" — wie wir schon früher sagten, ist damit nicht etwa bloß das Tier, sondern das Ganze gemeint, das dem lyrischen Ich als Freude aufgeht. Unter „ D i n g " verstehen wir mithin dasjenige Phänomen, das in die Bemessenheit und Vermessenheit unserer
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Alltagsexistenz einbricht, sie aufbricht und uns in die Überfülle des wesenden Welt-Bezuges hineinzieht, was bedeutet, daß wir ent-setzt, nämlich unseres rationalen und rationellen Standpunktes entrückt und ins Freie gesetzt sind. Derartig überwältigt und selbstvergessen können wir dann nur noch mit Nietzsche — welch Wort! — ausrufen: Ich bin z u voll: so vergesse ich mich selber, und alle D i n g e sind in mir, und nichts giebt es mehr als alle D i n g e . W o bin i c h h i n ? 280
Es zeigt sich damit, daß wir — anders als etwa Heidegger in „Sein und Zeit" — Mensch und Welt nicht von unseren gewöhnlichen, alltäglichen, sondern von unseren höchsten Erfahrungen her zu denken suchen, die den Alltag als defizitär erscheinen lassen. Bezogen auf die Frage nach dem „ D i n g " heißt das, daß wir mit diesem Titel nur solches dem Menschen Begegnende belegen wollen, das mit der oben beschriebenen Spann- oder Langekraft begabt ist. Daß es dabei gleichgültig ist, ob es sich um Natur- oder Kultur-Dinge handelt, belegt etwa die aus der Ebene aufragende Kathedrale, deren den Menschen ins Staunen versetzende Größe ebensosehr die des Himmels und des Umlandes wie die des Bauwerkes ist. Zugleich zeigt sich an diesem Beispiel, daß ein Ding durch das Über-Maß charakterisiert ist, in das es den Menschen versetzt. Das meint, daß es über jedes Maß hinaus ist, das die Ratio der Existenz hervorbringt, um die Welt begreif- und handhabbar zu machen: dieser Vermessenheit seiner Existenz wird der Mensch durch das Ding entsetzt, in dessen Sphäre es ihm darum un-heimlich wird. Übermaß meint somit nicht Höchstmaß, an technischer Bauleistung etwa. Ein Höchstmaß kann allein dem Gegenstand zukommen, der in seiner Belang-Losigkeit von der Ratio um des alltäglichen Besorgens willen auf seine Gründe hin gestellt und der Messung unterworfen werden kann — das Beispiel des Descartesschen Wachsfleckes lehrt es, dem als pure res extensa jene unmittelbare Kraft des Anganges abgeht, die dem Goetheschen Lichtphänomen „Libelle" eignet. Allein denjenigen, der sich wie Goethe und anders als Descartes beim Anblick eines solchen Flecks seiner früheren Lange-Kraft erinnert fühlt, vermag dieser Fleck noch zu bestimmen: zum Gefühl der Trauer. Dieses Verlustgefühl wird mithin aus der Erfahrung genährt, die sich dem Menschen im Dingen des Dings jäh eröffnet, jäh ihm zugefallen ist. Zeigt sich somit erneut, daß die Bestimmungskraft des Dinges von der Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen, sich bestimmen zu lassen, nicht unabhängig ist — worauf wir noch genauer einzugehen haben —, so darf gleichwohl nicht verkannt werden, daß das Dingen des Dings für den Menschen in zwiefacher Weise ein Zufall ist:
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Zum einen wird dem Menschen in der dem Ding eigentümlichen Belang-Spanne zwischen Belang-Losigkeit und Ubermaß die Spanne zwischen zwei Grundweisen seines Wesens aufgeschlossen: Das Im-WeltBezug-Stehen des Menschen bewegt sich zwischen der die Existenz charakterisierenden rationalen Gegenständigkeit gegen den Ding-Bezug und dem ir-rationalem Verströmen im Fortriss desselben, wobei diese beiden Extrempunkte der Ausschlagsspanne, wie wir noch zeigen werden, Entartungen zweier Grundweisen des Welt-Bezuges darstellen, nämlich des Abstehens von und des Innestehens im Ding-Bezug. Zum anderen aber kann das Ereignis innigsten Welt-Bezuges vom Menschen nicht herbeigeführt werden, er kann sich für dieses Geschehnis nur vor- oder zubereiten, sich für es offenhalten: Daß und Wie des Wesens der Welt sind nicht erklärbar — weswegen wir es als abgründig bezeichnen. W a r u m ein Ding mich heute so und morgen ganz anders, übermorgen aber vielleicht gar nicht bestimmt, daß läßt sich nicht sagen. Von woher, warum, wozu die Welt den Menschen auf diese Weise angeht — diese Fragen kann man nicht beantworten. Mehr noch: man darf sie, wie Nietzsches Artisten-Metaphysik weiß, noch nicht einmal stellen, hieße das doch, die Scham zu verletzen, welche allein der Welt und dem Menschen das Wesen wahrt. Im Wissen um diese Zufälligkeit singt Zarathustra „ V o r Sonnenaufgang": Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: „über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth". „ V o n Ohngefähr" — das ist der älteste Adel der Welt, den gab ich allen Dingen zurück, ich erlöste sie von der Knechtschaft unter dem Zwecke. Diese Freiheit und Himmels-Heiterkeit stellte ich gleich azurner Glocke über alle Dinge, als ich lehrte, dass über ihnen und durch sie kein „ewiger Wille" — will. Dieser Übermuth und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes Willens, als ich lehrte: „bei Allem ist Eins unmöglich — Vernünftigkeit!" Ein W e n i g Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von Stern zu Stern, — dieser Sauerteig ist allen Dingen eingemischt: um der Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt! Ein Wenig Weisheit ist schon möglich; aber diese selige Sicherheit fand ich an allen Dingen: dass sie lieber noch auf den Füssen des Zufalls — tanzen. O h Himmel über mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir nun deine Reinheit, dass es keine ewige Vernunft-Spinne und -Spinnennetze giebt: —
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik — dass du mir ein T a n z b o d e n bist für göttliche Zufälle, dass du mir ein Göttertisch bist für göttliche W ü r f e l und Würfelspieler!
—
D o c h du erröthest? Sprach ich Unaussprechbares? Lästerte ich, indem ich dich segnen wollte? O d e r ist es die S c h a m zu Zweien, welche dich erröthen m a c h t e ? Heissest du mich gehn und schweigen, weil nun — der T a g
—
kommt?
Die W e l t ist tief — : und tiefer als je der T a g g e d a c h t hat. N i c h t Alles darf v o r dem T a g e W o r t e haben. 2 8 1
Geht Nietzsches Gefühl für die Schamhaftigkeit der Natur hier noch so weit, daß die von ihm gedichtete Figur des Verkündigers des Ubermenschen ihre Reden über die Zufälligkeit, über die Zweck-, Sinn- und damit Vernunftlosigkeit der Dinge, als welche deren Reinheit und Unschuld ausmachen, in der Weise als schamverletzend empfindet, daß sie der Helle des alltäglichen Bewußtseins, will sagen: der Helle der den Menschen des Marktplatzes eignenden Rationalität und Sprache nahebringt, was diesem verrechnenden Logos der Existenz zutiefst wesensfremd ist — nicht umsonst nennt Nietzsche den „ Z a r a t h u s t r a " „Ein Buch für Alle und K e i n e n " : für alle, weil sich seine Lehre: „ D e r Ubermensch sei der Sinn der E r d e ! " im Grunde an alle richtet, für keinen, weil noch keine Ohren gewachsen sind, welche — Voraussetzung des Verständnisses — die Befremdlichkeit dieser Lehre zu hören vermöchten — , so belegt andererseits die folgende, aus der Entstehungszeit jener Rede stammende Aufzeichnung 2 8 2 , daß er sich über die tiefere Bedeutung dieser Einsicht nicht im klaren gewesen ist, daß er sie sich mithin nicht wahrhaft zugedacht hat. V o r dem Hintergrund seiner auch den „ Z a r a t h u s t r a " tragenden Lehre des Willens zur Macht mit ihrer Auslegung des Menschen als „ a u s l e s e n d e s
und
sich
nährendes
W e s e n " , kurz: als schaffendes T i e r , entwirft er in diesem N o t a t nämlich eine „ T h e o r i e des Z u f a l l s " , welche da lautet: — Zufall ist selber n u r d a s A u f e i n a n d e r s t o s s e n den Impulse.
der
schaffen-
Erst in seinen späteren Ausführungen zur Artisten-Metaphysik gewinnt Nietzsche Einblick in die Tatsache, daß der Gedanke von der „Unschuld des W e r d e n s " so lange dem Zu-Denkenden
— dem Wesen der W e l t
—
unangemessen bleibt, als er noch mit der Lehre des Willens zur Macht zusammengedacht werden kann; d. h. so lange, wie dieser Gedanke im Sinne einer Freistellung der W e l t nur von einem moralischen Grund und nicht von einem Grund überhaupt verstanden wird. D o c h führt dies nicht dazu, daß er seine Philosophie im Sinne des darin erblickten „Physischen" umdächte, sie von den darin umgehenden, nach unserem Sprachgebrauch metaphysisch zu nennenden Mißdeutungen läuterte; was eben darin begründet liegt, daß Nietzsche diese in die Gründe und damit in die Tiefenschichten der W e l t hinabdenkende Philosophie, wie gesehen, als unabdingbare Voraussetzung
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f ü r jene oberflächliche Weltverhaltung betrachtet, von der die Artisten-Metaphysik geprägt ist. So bleibt sein letztes W o r t zum Phänomen des „Rausches" leider ein physiologisches, was hinwiederum insofern nicht verwunderlich ist, als die Bezeichnung „Rausch" einen anderen Interpretationsansatz fast verbietet. D a ß sich Nietzsche dadurch aber um die Möglichkeit gebracht hat, als erster Denker demjenigen nachzudenken, was bisher allein von den Dichtern zur Sprache gebracht worden ist, das offenbart die „Geburt der Tragödie", wenn sie bemerkt: bei dem gewaltigen, die ganze N a t u r lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet.
So zwar, daß die „entfremdete, feindliche oder unterjochte" — neuzeitlich gesprochen: die vom Subjekt objektivierte, das meint: die durch Vergegenständlichung um ihre Lange-Kraft gebrachte Natur, als welche die Metaphysik allein (aner)kennt — „wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen [feiert]" 283 . Ebenweiche Rede nur bildlich in dem Sinne gemeint sein kann, daß die Welt wieder als unmittelbare, den Menschen zu sich ein-, ihn sich so um- und bestimmende Umfängnis erfahren wird, die derart umfänglich ist, daß sie niemals — wie dies dagegen der Mensch als Subjekt nicht nur in den alltäglichen Verrichtungen, sondern auch im Denken der Existenz vermeint — seitens der rechnenden Vernunft von den Bedingungen ihres Erscheinens her begriffen und damit als Erscheinung des Willens, des unendlichen oder auch des endlichen Seins ausgelegt werden kann. Wohl bezeichnet Nietzsche solche Bestimmngen, einschließlich der eigenen, als Illusion, nämlich als apollinisch und damit scheinhaft gefügte Vorstellungen des Dionysischen, aber er zieht daraus eben nicht die Konsequenz, die Welt in ihrer Unbestimmbarkeit zu belassen. Statt dessen legt er die Welt in Fortführung und Zuspitzung des neuzeitlichen Ansatzes im Ausgang vom Menschen und d. h. im Ausgang vom Subjekt (der Mensch wird als Grund dem Seienden im Ganzen zugrundegelegt) aus — zunächst, in Anknüpfung an Schopenhauer, als Wille zum Leben, dann als Wille zur Macht, von dem her gesehen sich zeigt, daß der erste Ansatz doch mehr als bloße Begriffsdichtung, nämlich Ausdruck eines Begründungswillens gewesen ist, mag Nietzsche diesen auch — anders als später im Falle des Willens zur Macht — durch den Entwurf des Willens zum Leben von Anfang an f ü r nicht erfüllbar gehalten haben. So ist diese Resignation auch keineswegs als Ausdruck dafür zu deuten, daß Nietzsche die Phänomenwidrigkeit einer solchen im Subjekt gründenden Begründung erkannt hätte, obwohl er nur seiner eigenen phänomenalen Beschreibung der dionysischen Regungen — in denen sich vorgeblich der
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Ü b e r s e t z u n g e n : D i e Geburt der T r a g ö d i e aus dem Geiste der Musik
Weltgrund offenbaren soll — hätte nachdenken müssen: D a s „Subjective", heißt es da, schwinde in ihnen „ z u völliger Selbstvergessenheit h i n [ . . . ] " . Anders als er vermeint, geht er somit nicht von der umfänglicheren, neutral gesprochen: „Weise des Menschseins" aus, welche er das Dionysische nennt und wir als das Innestehen im Welt-Bezug bezeichnen, sondern von dem „ e n g e r e n " , dem privativen Modus, den er das Sokratische nennt und wir als Gegen-Ständigkeit gegen das Dingen des Dings, kurz: als Existenz bezeichnet haben. Allein von der Existenz her kann es nämlich berechtigt erscheinen, der Welt einen Willen zu unterstellen. Aber wie das Geschehnis des Dionysischen, der Fortriß durch das Übermaß des Welt-Bezuges lehrt, kommt der Welt weder ein Wille, noch ein „von sich a u s " zu — das gilt es, nicht zuletzt im Hinblick auf die anthropomorphischen Implikationen der Sprache, immer im Auge zu behalten: „ S i e " ereignet „ s i c h " für uns frei und zufällig als „blinder", dem auf Sinnfindung angewiesenen Menschen allein sinngewährender, „ f ü r s i e " aber, so müssen wir in Zurückweisung jedweden teleologisch-metaphysischen Denkens annehmen, wohl sinnfreier B e z u g : Die Ros ist ohn w a r u m ; sie blühet, weil sie blühet, Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet. —,
gibt Angelus Silesius zu bedenken, was in physischer Lesart meint, daß sie des Menschen nicht bedarf. Zwar „ g i b t " es den Welt-Bezug, als der allein für uns die Welt immer schon und nur ist, nicht ohne den Menschen, doch kann dieser in Befriedigung seines metaphysischen Bedürfnisses daraus keineswegs ableiten, daß er von den ihn angehenden Phänomenen — erst recht nicht von etwas anderem hinter, in oder mit ihnen: als welches die Phänomene um ihren Charakter der Ursprünglichkeit brächte — gebraucht würde, vielleicht weil sie allein in ihm — als dem Bewahrer vorgegebener Sinnhaftigkeit etwa — einen Sinn zu finden vermöchten. Anders als Heidegger etwa sehen wir uns an das zu halten genötigt, was Nietzsche eingangs seiner Schrift „ U e b e r Wahrheit und L ü g e im aussermoralischen S i n n e " zu bedenken gibt, Ausführungen, die im Zeitalter der Atombombe wohl kaum etwas an Wahrscheinlichkeit eingebüßt haben: In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der „Weltgeschichte": aber doch nur eine Minute. N a c h wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. — S o könnte J e m a n d eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht w a r ; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das
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Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und E r z e u g e r nimmt ihn s o pathetisch, als ob die A n g e l n der W e l t sich in ihm drehten. 2 8 4
Dieses Wissens um den Anthropomorphismus jedweden Sinnes hat der Mensch eingedenk zu bleiben, wenn er, mit dem — wie wir schon auf Seite 159 bemerkt haben — der Sinn überhaupt erst möglich, damit aber, was seinen eigenen Lebensvollzug angeht, zugleich auch unumgänglich wird — Sinnlosigkeit ist nur eine Negation von Sinn —, darum bemüht ist, der Erde einen Sinn zu verleihen: D a s s mein Leben keinen Z w e c k hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines Entstehens klar; dass ich einen Z w e c k mir setzen kann, ist etwas anderes. 2 8 5 ,
bemerkt Nietzsche im Zeitraum Sommer—Herbst 1873. Aber, so müssen wir uns hier besinnen, ist dann nicht auch gegen unseren Ansatz jener Einwand vorzubringen, den wir gegen Nietzsches Konzeptionen des Willens zum Leben und des Willens zur Macht in der Frage erhoben haben, wie etwas „an sich selber" sinnlos sein kann, wenn es doch unentwegt Sinn produziert, weil es zu seinem Vollzug auf Sinnfindung angewiesen ist? Keineswegs: Denn anders als Nietzsche unternehmen wir keine metaphysische Gesamtdeutung des „Lebens", als welche — ebenweil sie, wie Nietzsche selber klarer als jeder andere gesehen hat, immer vom Menschen und seinen Vermögen ausgehen muß — diesem notgedrungen den Charakter der Sinnhaftigkeit zuzusprechen hat — und sei es auch in der Form der Sinnlosigkeit —, anders als Nietzsche gehen wir über den Satz: „Euer Wille sage: der Ubermensch sei der Sinn der Erde !"286 nicht hinaus, so zwar, daß wir allem, was ist, im wissentlichen und willentlichen Ausgang von der Leiblichkeit des Menschen ein Streben nach Sinn in der Form des — Nietzsche zufolge letztlich sinnlosen — Strebens nach immer mehr Macht unterstellen würden, von wo aus wir zu der Behauptung gelangen könnten: „ D e r Ubermensch ist der Sinn der Erde." 2 8 7 ; anders als Nietzsche meinen wir, daß der Satz von der Unschuld des Werdens so lange unzureichend bleibt, als er nur das Jenseits von Gut und Böse, d. h. eine Moralfreiheit und nicht auch eine Sinnfreiheit aussagen soll. Genau das aber bedeutet, dem Welt-Bezug die Abgründigkeit zu erhalten. Denn nur darin, daß sie der ratio als dem metaphysischen Vermögen des Menschen an sich zu halten gebietet, nämlich die Sinnhaftigkeit der Welt-Zusprüche hinzunehmen, ohne sie auf das Wie, das W a n n , das W o , kurz: das Warum hin zu befragen — erinnert sei an einen auf Nietzsches Entwurf einer Artisten-Metaphysik vorausweisenden Spruch Goethes 286 :
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik W i e ? W a n n ? u n d W o ? — D i e G ö t t e r bleiben s t u m m ! D u halte dich ans W e i l u n d f r a g e nicht W a r u m ?
— nur darin kann die dichterische Weltverhaltung eine Verwindung der Metaphysik und ihrer Fragestellungen beanspruchen, obzwar nicht in der Weise, daß sie über diese hinausginge, vielmehr nur so, daß sie vor ihr stehenbleibt, der Welt — mit Heidegger zu sprechen — verfällt. Daß im Welt-Bezug weder dem Menschen noch der Welt ein „Von-sich-Aus" zugesprochen werden kann, das weiß auch Nietzsche, der dieser Erkenntnis, wie wir gesehen haben, dadurch Rechnung zu tragen sucht, daß er in seiner Philosophie des Willens zur Macht Welt und Mensch in ein vollkommen homogenes Geschehen auflöst: Ein der Sache in zwiefacher Weise unangemesserer Versuch, denn er beschreitet — dies zum ersten — den von der Frage nach dem Grund gewiesenen W e g und er basiert — dies zum zweiten — auf einem anthropozentrischen Ansatz. Beide Verfehlungen haben aber die eine Ursache, daß die Frage nach dem Grund immer von der Gegen-Ständigkeit der alltäglichen Existenz auszugehen hat, in der der Mensch nur für das offen ist, was er sich selbst wesensmäßig öffnet — anders als im dionysischen Geschehnis, dem Wesen des Welt-Bezuges, von dem als dem umfänglicheren „ P h ä n o m e n " her Mensch und Welt in Wahrheit zu denken sind. Was das bedeutet, daß der Mensch in der Existenz nur für das offen ist, was er sich selbst wesensmäßig öffnet, das kann auf das deutlichste der auf Seite 9 ff. angesprochene Kantische Ansatz lehren, den wir somit als Beispiel für das Wesen der metaphysischen Grundhaltung überhaupt in Anspruch nehmen, insofern er am diffizilsten jene Frage zur Ausarbeitung bringt, die wir, ohne dies hier weiter ausführen zu können, als Grundfrage der Metaphysik bezeichnen möchten, nämlich die Frage nach dem Apriori. Für Kant bedeutet das, daß er die sekundären sinnlichen „Qualitäten" einer Erscheinung — beispielsweise Geschmack, Geruch und Farbe eines Weins (siehe Anmerkung 37 des Abschnittes „Voraussetzungen") — als beiherspielend, als unwesentlich f ü r den Gegenstand abtun muß, weil ihnen die Ständigkeit des Standes, in der seit den Griechen eine Grundbedingung des metaphysischen Seins erblickt wird, und mit ihr die — von der Neuzeit wörtlich genommene — Berechenbarkeit abgeht. 289 Daß Nietzsche aber von einer ganz anderen Welterfahrung her kommt, belegt schon die Tatsache, daß nicht erst seine Spätphilosophie des Willens zur Macht, sondern schon frühe denkerische Versuche dem Unbeständigen und, wenn schon nicht dem Abgründigen, so doch zumindest dem Grundlosen nachdenken: Wir sagten, daß sein Denken aus dem Geiste der Musik, der atmosphärischsten und flüchtigsten aller Künste, geboren sei. Aber anders als er in den von den Philosophen gemeinhin als allein
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wesentlich bezeichneten Teilen seines Denkens vermeint, ist es nicht ein reines Werden, was im „Gegenstand" zum Stehen gebracht wird — in physischer Betrachtungsweise „gibt" es das Sein ebensosehr wie das Werden —, sondern der atmosphärische Belang des Dinges, kurz: das „Atmosphärische", wie Nietzsche an einigen Stellen der 2. Unzeitgemässen Betrachtung sagt, die von uns zu den bedeutsamsten Abschnitten seines Denkweges gerechnet werden. Zu dieser Mißdeutung aber kommt es, weil sein Denken als erklärtermaßen antimetaphysisches sich nicht zum Gedanken des Physischen befreien kann, als anti-metaphysisches Denken von dem Begriff geprägt bleibt, den es sich von der Metaphysik macht — und dieser schreibt ihm vor, Beständigkeit mit Sein und Unbeständigkeit mit Werden, mit Chaos gleichzusetzen. Mit anderen Worten: Dadurch, daß sein Denken im Banne des von ihm als Tod Gottes bezeichneten Ereignisses verbleibt, vermag es nicht in dieser seiner ureigensten Weise radikal zu werden, daß es die Frage nach der Grundlosigkeit hinter sich ließe und sich jene nach der Abgründigkeit zudächte, als welche mit der Frage nach dem Grund auch die metaphysischen Oppositionsschemata von Werden und Sein sowie, darauf aufbauend, von Wahrheit und Schein überwindet: Erst ganz am Ende seines Weges findet Nietzsches Denken den Zugang zu jenem gelobten Land, in dem es — als dem Land seiner physischen Grunderfahrung — seine tiefsten, nämlich ureigensten Wurzeln hat. Auf jenen langen Umweg wird es gezwungen, weil es seinen Ausgang von einer vulgären Fassung des Kantischen Ansatzes nimmt, wodurch es nicht nur genötigt ist, besagte metaphysische Schemata zu übernehmen, vielmehr auch gedrängt wird, eine ausgearbeitete Begrifflichkeit zu verwenden, die seiner Grunderfahrung so ferne steht, daß die denkerische Besinnung auf sie nicht anders kann, als sie zu verkehren: Zufolge des Kantischen Ansatzes ist es der Mensch selber, der die ihm erscheinende Welt des Seins mit Hilfe der apriorischen Vermögen seines Vorstellungsapparates aus einem Gewühle von Empfindungen herstellt, indem er es gewissermaßen ordnet. Wie erinnerlich, spricht für Max Scheler aus diesem Ansatz nur der die Denkweise der modernen Welt so stark durchziehende Weltbaß\ die Weltfeindschaft, das prinzipielle Mißtrauen in sie, und deren Folge, das grenzenlose Aktionsbedürfnis, daß sie „organisiert", „beherrscht" werde.
Denn — so fragen wir — ist der Kantische Ansatz nicht insofern „verkehrt" zu nennen, als das apriorische Vermögen des Menschen nur dann etwas vermag, wenn es affiziert, sprich: von der Welt angegangen wird? Muß nicht auch Kant zugestehen, daß der Mensch — anders als ein denkbarer intuitus originarius — auf Gebung angewiesen ist, wobei er, umwillen einer
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Begründung seiner Weltoffenheit von dieser Gebung wieder absehen muß? Kann man angesichts der Welteingenommenheit, die auch er mithin voraussetzen muß, wirklich von apriorischen Vermögen sprechen? Sind diese bezüglich der uns angehenden Welt darum nicht aposteriorisch zu nennen? Zeigt sich das nicht gerade darin, daß Kant jenen Bereich als unwesentlich von seiner Fragestellung ausschließen muß, der nicht nur den Dichtern der wesentliche ist, den Bereich der sinnlichen Qualitäten nämlich — und dies, weil jene sich dem berechnenden Zugriff der ratio entziehen? Denn ist es wirklich plausibel, daß wir im Falle eines uns erscheinenden Wachsstückes Farbe und Geruch vom Gegenstand empfangen, seine Ausgedehntheit oder Räumlichkeit hingegen ihm vorschreiben? Legt die Tatsache, daß wir dem Gegenstand die Räumlichkeit apriori zusprechen können, diesen Schluß unbedingt nahe? Wäre es nicht denkbar, daß wir auch die Ausgedehntheit des Wachsstückes von der Welt empfangen, mit dieser aber darum rechnen können, weil sie sich — wir erinnern hier an frühere Ausführungen (Seite 53 ff.), vor allem an den in diesem Zusammenhang zitierten Einwand Goethes gegen Kant (Anmerkung 219 des vorigen Abschnittes) sowie an unsere diesbezügliche Auseinandersetzung mit Martin Heidegger (Anmerkung 259 des gleichen Abschnittes) — dem Zugriff der ratio fügt, als welche vom optischen und von dem auf diesen bezogenen haptischen Sinn dominiert wird, so zwar, daß „Sein" seit den Griechen Anwesenheit und Beständigkeit besagt — was eben zur Folge hat, daß dem von den anderen Sinnen Wahrgenommenen kein „Sein" zugesprochen werden kann, weil ihm diese Beständigkeit, sprich: Berechenbarkeit abgeht? Keineswegs wollen wir mit diesen Fragen der Erkenntnis widerstreiten, daß uns nur darum „in der Welt" etwas begegnen kann, weil wir mit solchen „apriorischen" „Strukturen" oder „Vermögen" ausgestattet sind — mit Goethe zu sprechen: „ W ä r nicht das Auge sonnenhaft,/Wie könnten wir das Licht erblicken?" —, vielmehr wollen wir nur darauf hinweisen, daß die Philosophie im Verfolg ihrer Fragen nach dem Beständigen und Apriorischen vergißt — oder zumindest vergessen will —, daß das Begegnende darin nicht aufgeht, daß die uns angehende Welt wesentlich „ m e h r " ist, als das, was wir von ihr entwerfen können — unseres Erachtens war es das, was Nietzsche in „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" bei seinem verunglückten erkenntnistheoretischen Streit mit der Metaphysik im Auge gehabt hat —: V o r allem durch seine von Kant als sekundär bezeichneten sinnlichen Qualitäten unterscheidet sich der wahrgenommene Baum etwa von seiner apriorisch entwerfbaren Idee. Wenn besagte sinnliche Qualitäten aber dessen Reichtum, seine Mannigfaltigkeit, ausmachen — darf man sie dann
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gegenüber dem „Apriorischen" als sekundär oder beiherspielend, als unwesentlich bezeichnen, zumal dieses doch, vereinfacht gesagt, bloß „im D i e n s t e " des Begegnenden steht? Allein eine v o n der Existenz ausgehende Fragestellung, in deren berechnenden V o l l z ü g e n der Mensch nur für das o f f e n ist, was er sich notfalls auch allein zu ö f f n e n vermag, dürfte darin nichts Verfängliches und Bedenkliches erblicken — und gilt nicht die Ausgangsfrage der Kantischen Erkenntniskritik („wie sind synthetische Urteile a priori möglich?") einer Disziplin, der sich die Fülle der Welt von vornherein auf einige w e n i g e Strukturen reduziert, nämlich der Geometrie? W i r fragen so im Wissen um die unvergleichliche Größe des Kantischen Gedankengebäudes und in Kenntnis unserer kleinen Geisteskräfte — aber wir müssen so fragen umwillen des v o n Nietzsche beschriebenen dionysischen Geschehens, von dem auszugehen wäre, wollte man den W e l t - B e z u g zu denken versuchen, weil sich v o n ihm her gesehen die Kantische Fragestellung als verengt, nämlich als ungeeignet erweist, den — im weitesten Sinne — „Lebensbereich" zu erfassen. U m Martin H e i d e g g e r zu zitieren: W o [ . . . ] — wie in der neuzeitlichen mathematischen Physik — das Ding und der Körper als ausgedehntes und widerständiges Ding vorgestellt werden, da sinkt die anschauliche Mannigfaltigkeit zu einer solchen von Empfindungsgegebenheiten herab. Heute ist das Gegebene für die experimentelle Atomphysik nur eine Mannigfaltigkeit von Lichtflecken und Strichen auf der photographischen Platte, f . . . ] Zum Glück gibt es aber vorerst noch — außer den Lichtwellen und außer den Nervenströmen — die Farbigkeit und das Leuchten der Dinge selbst, das Grün des Blattes und das Gelb des Kornfeldes, das Schwarz der Krähe und das Grau des Himmels. Der Bezug zu all dem ist nicht nur auch da, er muß ständig als das vorausgesetzt werden, was durch die physiologisch-physikalische Fragestellung sogleich zerschlagen und umgedeutet wird. Die Frage erhebt sich: Was ist seiender, jener grobe Stuhl mit der Tabakpfeife, den das Gemälde van Goghs zeigt, oder die Lichtwellen, die den dabei verwendeten Farben entsprechen, oder die Empfindungszustände, die wir bei der Betrachtung des Bildes ,,in uns" haben? Jedesmal spielen Empfindungen eine Rolle, aber jedesmal in einem verschiedenen Sinne. Die Dingfarbe ζ. B. ist etwas anderes als der im Auge gegebene Reiz, den wir als solchen nie unmittelbar erfassen. Die Dingfarbe gehört zum Ding. Sie gibt sich uns auch nicht als Ursache eines Zustandes in uns. Die Dingfarbe selbst, ζ. B. das Gelb, ist nur dieses Gelb als zugehörig zum Kornfeld. Die Farbe und ihre leuchtende Farbigkeit bestimmen sich jeweils aus der ursprünglichen Einheit und Art des farbigen Dinges selbst. Dies setzt sich nicht erst aus Empfindungen zusammen. [ . . . ] Der mathematische Ansatz des Dinges als des ausgedehnten Beweglichen in Raum und Zeit hat zur Folge, daß das umgänglich alltäglich Gegebene als bloßes Material aufgefaßt und in die Mannigfaltig-
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keit der Empfindungen aufgesplittert wird. [ . . . ] . In der Ebene dieses Ansatzes hält sich auch Kant; er hat, wie die Überlieferung vor ihm und nach ihm, jenen Bereich der Dinge von vornherein übersprungen, in dem wir uns unmittelbar heimisch wissen, der Dinge, wie sie uns auch der Maler zeigt: der einfache Stuhl mit der eben hingelegten oder liegengelassenen Tabakpfeife bei van Gogh. 290
Die ganz anders geartete Erfahrung des dionysischen Geschehens hat Nietzsche nicht davor schützen können, der Uberlieferung zu verfallen und den Kantischen Ansatz zu übernehmen. Sein gesamter Denkweg ist von diesem Ansatz gezeichnet, den er überdies dahingehend verschärft, daß die Welt jegliche „Qualität" und damit jeglichen „ W e r t " zu Lehen des Subjekts hat. 291 Mit am deutlichsten geht dies aus der frühesten Aufzeichnung hervor, in der sich Nietzsche dezidiert erkenntnistheoretisch äußert. Diese Aufzeichnung ist schon mehrfach zitiert worden, ohne daß wir auf ihre innere Widersprüchlichkeit hingewiesen hätten, eine Widersprüchlichkeit, die aus dem Gegensatz von metaphysischem Denken und physischer Erfahrung hervorgeht. Nietzsche schreibt: Die Quellen des N a t u r g e n u s s e s sind theils in uns, theils in der Natur zu suchen. Alles, was in die geistigen Augen der Seele fällt, durchgeistigt sie und giebt ihm einen individuellen Anstrich. Wir kennen die Dinge nicht an und für sich, sondern nur ihre Abbilder auf dem Spiegel unsrer Seele. Unsre Seele ist nichts als das vergeistigte Auge Ohr usw. Farbe und Klang ist nicht den Dingen, sondern Auge und Ohr eigen. Alle Abstrakta, Eigenschaften, die wir einem Dinge beilegen, bilden sich in unserm Geiste zusammen. Nichts zieht uns an als das Lebendige. Alles was uns anzieht, hat vorher Leben in unsrem Geiste empfangen. Alle(s) Todte ist des Geistes unwürdig. In die Natur legen wir also unsre Seele oder einen Theil derselben, eine Stimmung.
Ubermächtigt von der metaphysischen Tradition, die qua Gleichsetzung von Denken und Sein allein den von der menschlichen ratio und ihren sogenannten apriorischen Strukturen konstituierten oder erfaßten Gegenstand anerkennt, weiß er dem ihn angehenden — von einem bloßen Gegenstand durch sein Atmosphärisches zutiefst geschiedenen — Phänomen, dem Ding, nur Ohnmacht zuzusprechen: so wird nicht er vom Ding ge- und bestimmt, sondern er bestimmt den Gegenstand. Dabei kündet sein unreflektierter Sprachgebrauch von einer ganz anderen Erfahrung; unmittelbar im Anschluß an die gerade zitierte Stelle heißt es ganz im Sinne seiner späteren Ausführungen in der „Geburt der Tragödie": In der Natur [a]m häufigsten das Gefühl der stolzen Seelenunabhängigkeit, das uns bei dem Anblick einer Weite überkömmt292. Dies die E m p f i n d u n g d e s F r e i e ( n ) i m Gegensatz zur Enge.
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An einem Kunstwerk nie etwas schön außer die Empfindung von Seelenweite, die es erregt.293 D i e Empfindung des Freien, die den Menschen in einer Landschaft oder vor einem Kunstwerk überkommt, meint das Wesen (verbal) des Welt-Bezuges, das Freien des Dinges, das im Dingen die Gemessenheit und Vermessenheit der alltäglichen Existenz aufbricht und den Menschen in das Übermaß des Offenen des Welt-Bezuges versetzt. Ebendies ist das Wesen des Atmosphärischen, von dem Nietzsche in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung spricht, ohne es in angemessener, d. h. rein physischer Weise zu bedenken. Schon umgangssprachlich bedeutet „ A t m o s p h ä r e " im übertragenen Sinne ein Fluidum, das von etwas ausgeht — sei es etwa eine Landschaft, ein Kultgegenstand, ein Kunstwerk, ein schön gearbeiteter Gebrauchsgegenstand, aber auch ein Mensch — vor allem ein geliebter —, bisweilen auch ein Gedanke, oder der Ruf eines Vogels, der Wind —, dann auch die Stimmung, in die sich ein Mensch durch den Eintritt in das „ K r a f t f e l d " eines solchen Fluidums versetzt sieht. An dieses Wortverständnis knüpfen wir an, wenn wir den Ausdruck „ a t m o s p h ä r i s c h " zur Titelbezeichnung des Wesens der Welt wählen: Bereits aus der Etymologie dieses Wortes spricht, wie wir in Anmerkung 256 des vorigen Abschnitts erwähnt haben, die den Menschen angehende, ihn gleichsam anwehende, für ihn unfaßbare und nicht begründbare Umfängnis, als welche sich Welt dem Menschen zuspricht. Zugleich hebt sie das darin eingeschlossene Moment des Fruchtbaren hervor, nämlich das Moment des Hervorrufens neuer Möglichkeiten der Weltbeziehung, worin wir im Anschluß an Goethes „ W a s fruchtbar ist, allein ist w a h r " das Wesen ursprünglicher Wahrheit erkennen wollen: άτμός, feuchter Dunst, kommt von ά η μ ι , wehen, und σφαίρα, (Luft-)Kegel, hängt vielleicht mit σπαίρω, schnellen, sowie mit σπείρω, erzeugen, zusammen. V o n diesem Wesen der Welt künden bisher am reinsten manche Dichtungen. S o diejenigen Paveses, wenn etwa der Ich-Erzähler der Kurzgeschichte „ E n d e A u g u s t " (Fine d'agosto) 2 9 4 über gewisse Sommermonate seiner Kindheit — „sie haben nur in der Erinnerung eine einzige F a r b e " — zu berichten weiß, daß in ihnen Augenblicke schlummern, „ d i e von einer E m p f i n d u n g " — in der Geschichte ist es diejenige des nächtlichen Wirbelwindes — „ o d e r einem Wort plötzlich wieder entzündet werden können; und sogleich setzt die Verwirrung ein, die eine solche Distanz mit sich bringt" 2 9 5 . S o aber auch Proust, wenn er in seiner „Recherche du temps p e r d u " deren Erzähler berichten läßt, wie es ihm plötzlich und unerwartet eines T a g e s beim Eintauchen einer Madeleine in eine T a s s e T e e geschah, daß aus dem D u f t der Lindenblüten das ganze Panorama seiner Kindheitstage im D o r f e Combray auftauchte — wodurch der Prozeß der
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Roman-Erzählung insofern erst in Gang gebracht wird, als der Erzähler vordem von seinem Ich und von seiner Vergangenheit abgeschnitten war: jetzt hingegen er-innert er sich ihrer. „Erinnerung" soll hier mithin — wie auch in der oben zitierten Passage aus einer Erzählung Paveses — besagen, daß der Abstand zwischen vergegenwärtigendem Subjekt und vergegenwärtigtem Objekt fehlt — im Unterschied zum Gedächtnis, das das Vergangene in einer solchen Weise präsentiert, daß es in einem betonten Sinne „gegenüber" bleibt. Wir verstehen „Erinnerung" somit in dem gleichen Sinne, in dem Emil Staiger dieses W o r t im Rahmen seiner Ausführungen über den lyrischen Stil verwendet: „Erinnerung" bedeutet nicht den „Eingang der Welt in das Subjekt", sondern stets das Ineinander, so daß man ebenso sagen könnte: der Dichter erinnert die Natur, wie: die Natur erinnert den Dichter. Das zweite würde vielleicht sogar der Erfahrung vieler lyrischer Dichter mehr entsprechen als das erste. Die Gnade oder der Fluch der Stimmung zum mindesten wäre besser gewürdigt.296 Schon vorher hat er in diesem Sinne zu bedenken gegeben: Der lyrische Dichter leistet nichts. Er überläßt sich — das will buchstäblich verstanden sein — der Ein-gebung. Stimmung und in eins damit Sprache wird ihm eingegeben. Er ist nicht imstande, der einen oder der anderen gegenüberzutreten.297 Wir können diesen Ausführungen indes nur bedingt zustimmen, nur so weit nämlich, als sie die Stimmung betreffen. Daß dem Dichter in eins mit dem Geschehnis der Be-stimmung auch die Sprache eingegeben wird, daß sich sein Dichten, mit Staiger zu sprechen, 2 9 8 „unwillkürlich" vollzieht — was bedeuten würde, daß der Dichter in der Unmittelbarkeit des dionysischen Fort-risses dichtet —, diese Annahme können wir nur als sachwidrig bezeichnen — wir werden darauf zurückkommen. Bezüglich des Geschehnisses der Be-stimmung erscheint uns Staigers Folgerung dagegen korrekt: Der lyrisch Gestimmte bezieht nicht Stellung. Er gleitet mit im Strom des Daseins. Das Momentane gewinnt für ihn eine ausschließliche Mächtigkeit299. Nähert sich Staiger in diesen Ausführungen nicht auf eine erstaunliche Weise demjenigen, was wir den atmosphärischen Bezug genannt haben — und dies, obwohl er von metaphyischen Deutungen ausgeht 300 und auch wieder in sie zurückfällt (ζ. B. dort, wo er von den oben zitierten Auslegungen des Phänomens der „Erinnerung" die zweite und entscheidende im Ausgang von einem — in diesem Kapitel weiter unten abgedruckten — Hofmannsthal-Zitat als dem Mystischen verwandt bezeichnet 301 ): ganz einfach deswegen, weil er dem dichterischen W o r t vertraut und ihm nachzudenken sucht? In der Tat: manches von demjenigen, was Staiger zur Charakterisierung des lyrischen Stils anzuführen weiß — eine Charakteri-
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sierung, die im Grunde eine solche „des lyrischen Daseins" 302 ist, betrachtet Staiger die Begriffe lyrisch, episch, dramatisch doch als „literaturwissenschaftliche Namen für fundamentale Möglichkeiten des menschlichen Daseins überhaupt" 3 0 3 , deren Unterschiede er im Anschluß an Heideggers Daseinsanalyse auf den Primat jeweils einer der drei Zeitekstasen zurückführen will —, manches der Staigerschen Charakterisierung des lyrischen Daseins können wir als Bestätigung unserer Gedanken über die dichterische Weltverhaltung zitieren. So etwa seine Bemerkungen zum Unterschied zwischen Düften und optischen Eindrücken, die sich als Kommentar zu den oben zitierten Stellen von Pavese und Proust lesen lassen: D ü f t e gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung an. Es kann geschehen, daß wir einen D u f t nicht im Gedächtnis behalten, w o h l aber in der Erinnerung. W e n n er wieder aufsteigt, ist plötzlich ein längst vergangenes Ereignis fühlbar; das H e r z klopft, und schließlich zieht die Erinnerung das Gedächtnis nach; wir k ö n n e n sagen, w o dieser D u f t uns früher einmal die Sinne betäubte. D a ß D ü f t e s o sehr der Erinnerung und so w e n i g dem Gedächtnis gehören, hängt z w e i f e l l o s damit zusammen, daß wir sie nicht gestalten, ja oft g e n u g sogar kaum benennen können. Ungestaltet, unbenannt, w e r d e n sie nicht zu Gegenständen. U n d nur v o n d e m , was A n s c h a u u n g oder Begriff z u m Gegenstand macht, sind wir frei. N u r dazu haben wir „Stellung bezogen". 3 0 4
Wenn sich auch nicht sagen läßt, was das Atmosphärische „an sich" ist — mit Goethe zu sprechen: „Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges." —, soviel ist doch gewiß: daß es vor allem von jenem „ausgeht", was in der Sichtweise der Philosophie f ü r die Gegenstandskonstitution unerheblich und damit unwesentlich ist: von Geruch, Geschmack, von Klang und Farbe, kurz: vom Sinnlichen. Daß es Nietzsche im Grunde um die Freisprechung dieses Sinnlichen von den Vor-Stellungen des bisherigen Denkens geht, haben wir schon früher (Seite 61 ff.) im Ausgang von folgendem Satz zu zeigen versucht: U n s e r D e n k e n soll kräftig duften wie ein Kornfeld an S o m m e r - A b e n d e n .
Damit begibt er sich denkerisch auf das Feld des Unbeständigen, des Nicht-Gegenständigen, will sagen: des Physischen, das er aber — aus schon angesprochenen Gründen — metaphysisch mißdeutet, so zwar, daß er die Sinne einem neuen Diktat — demjenigen des reinen Werdens — unterwirft. Auf das deutlichste kann dieses Fehlschlagen seiner Revolution der Sinnlichkeit an schon mehrfach zitierten Passagen des Kapitels „Die ,Vernunft' in der Philosophie" aus der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " abgelesen werden. Eingangs des 3. Abschnitts singt Nietzsche dort das Hohelied der Sinne:
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik — Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren Sinnen! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht 305
— dies aber nicht, weil es uns dem von lauen Sommer-Abend-Lüften zugewehten kräftigen Duft des Kornfeldes öffnet, sondern weil es genauer als alle wissenschaftlichen Instrumente das Werden, hier: die Bewegung der Luft, wahrzunehmen vermag: Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne a n z u n e h m e n , — als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. 306
D. h. nicht jedes Zeugnis der Sinne, sondern nur das eine: gemäß Nietzsches metaphysischer Voraussetzung ist das Zeugnis der Sinne dann brauchbar, wenn es „das Werden, das Vergehn, den Wechsel" zeigt. Auch hier ist mithin nicht der Duft selber wesentlich, sondern ein darin sich zeigendes anderes, um dessentwillen er nach dem Diktat der Ratio veruntreut, nämlich überstiegen, wenn man will: gefälscht wird — so daß auf Nietzsche selber — mutatis mutandis — zurückfällt, was er der bisherigen Philosophie vorhält: Die „ V e r n u n f t " ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen. 307
Diese Mißdeutung mag sich überdies durch die phänomenale Beobachtung aufgedrängt haben, daß dem Menschen im atmosphärischen Bezug die Gegenständigkeit entglitten ist, daß er — wie auch Staiger für den lyrisch Gestimmten zu bemerken weiß (siehe Seite 296) — darin ins Gleiten kommt, die Opposition von Innen und Außen — wir erinnern daran, daß Nietzsches Werden ein Geschehen von absoluter Homogenität bedeuten soll — hinfällig wird: Stimmendes und Gestimmtes, Dingendes und Gedingtes sind eines. Staiger bemerkt: Im lyrischen Dasein [ . . . ] gibt es noch keine Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände, noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein Subjekt. [ . . . ] W e n n lyrische Dichtung nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern „innen" und „außen", „subjektiv" und „objektiv" sind in lyrischer Poesie überhaupt nicht geschieden. 308
Auch demjenigen, was Staiger über das Wesen der Stimmung zu bedenken gibt, können wir beipflichten: „Stimmung" bedeutet nicht das Vorfinden einer seelischen Situation. Als seelische Situation ist eine Stimmung bereits begriffen, künstlicher Gegenstand der Beobachtung. Ursprünglich aber ist eine Stimmung gerade nichts, was „ i n " uns besteht. Sondern in der Stimmung sind wir in ausgezeichneter Weise „draußen", nicht den Dingen gegenüber, sondern in ihnen und sie in uns. Die Stimmung erschließt das Dasein unmittelbarer als jede Anschauung oder jedes Begreifen. Wir sind gestimmt, das heißt
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durchwaltet vom Entzücken des Frühlings oder verloren an die Angst des Dunkels, liebestrunken oder beklommen, immer aber „eingenommen" von dem, was uns als körperliches Wesen — in Raum oder Zeit — gegenübersteht. Es ist darum sinnvoll, daß die Sprache ebenso von der Stimmung des Abends wie von der Stimmung der Seele redet. Beide sind ununterscheidbar eins. [ . . . ] Alles Seiende [ . . . ] ist in der Stimmung nicht Gegenstand, sondern Zustand. Zuständlichkeit ist die Seinsart von Mensch und Natur in der lyrischen Poesie. 309 Als Beleg seiner A u s f ü h r u n g e n über das Lyrische führt Staiger — o h n e weitere Interpretation — einen Abschnitt aus H o f m a n n s t h a l s 1903 verfaßtem „ G e s p r ä c h über G e d i c h t e " an, weil er in der T a t eine der g a n z w e n i g e n Passagen ist, in denen das I m - W e l t - B e z u g - S t e h e n nicht nur gestaltet, sondern auch bedacht wird: Sind nicht die Gefühle, die Halbgefühle, alle die geheimsten und tiefsten Zustände unseres Inneren in der seltsamsten Weise mit einer Landschaft verflochten, mit einer Jahreszeit, mit einer Beschaffenheit der Luft, mit einem Hauch? Eine gewisse Bewegung, mit der du von einem hohen Wagen abspringst; eine schwüle sternlose Sommernacht; der Geruch feuchter Steine in einer Hausflur; das Gefühl eisigen Wassers, das aus einem Laufbrunnen über deine H ä n d e sprüht: an ein paar tausend solcher Erdendinge ist dein ganzer innerer Besitz geknüpft, alle deine Aufschwünge, alle deine Sehnsucht, alle deine Trunkenheiten. Mehr als geknüpft: mit den Wurzeln ihres Lebens festgewachsen daran, daß — schnittest du sie mit dem Messer von diesem Grunde ab, sie in sich zusammenschrumpften und dir zwischen den H ä n d e n zu nichts vergingen. Wollen wir uns finden, so dürfen wir nicht in unser Inneres hinabsteigen: draußen sind wir zu finden, draußen. Wie der wesenlose Regenbogen spannt sich unsere Seele über den unaufhaltsamen Sturz des Daseins. Wir besitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an, es flieht uns für lange und kehrt uns in einem H a u c h zurück. Zwar — unser „Selbst"! Das W o r t ist solch eine Metapher. Regungen kehren zurück, die schon einmal früher hier genistet haben. Und sind sies auch wirklich selber wieder? Ist es nicht vielmehr nur ihre Brut, die von einem dunklen Heimatgefühl hierher zurückgetrieben wird? Genug, etwas kehrt wieder. Und etwas begegnet sich in uns mit anderem. Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlag. 3 ' 0 „ W i r sind nicht mehr als ein T a u b e n s c h l a g " ist ein poetischer Ausdruck dafür, daß der M e n s c h kein sich selbst besitzendes Für-Sich ist — später merkt H o f m a n n s t h a l n o c h ausdrücklich an, „ d a ß wir und die W e l t nichts V e r s c h i e d e n e s sind" 311 — , sondern als abgründige W e l t - D u r c h s t i m m t h e i t , w i e wir sagen: als I m - W e l t - B e z u g - S t e h e n aufgefaßt w e r d e n muß, so zwar, daß ihm dieses sein wahres Selbst gestimmter W e l t o f f e n h e i t zunächst und zumeist abhanden g e k o m m e n ist. N u r in seltenen Augenblicken wird er seiner inne: Es wird ihm, w i e H o f m a n n s t h a l sagt, v o n außen z u g e w e h t , w a s meint, daß er im atmosphärischen Belang des ihn dingenden D i n g e s aus der m o n a d e n h a f t e n Verschlossenheit der sich eigen-, w e n n nicht gar allmächtig d ü n k e n d e n Existenz des Alltags a u f g e b r o c h e n und zu diesem eingestimmt
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wird: An diese seligen Momente des Innestehens im vollen Welt-Bezug, des Welt-Uberschwangs von „ein paar tausend solcher Erdendinge" sind Hofmannsthal zufolge alle unsere Aufschwünge, alle unsere Sehnsüchte und alle unsere Trunkenheit geknüpft. Der Mensch „fühlt sich eins mit dieser Landschaft, mit diesem Lächeln, mit diesem T o n , nicht also mit dem Ewigen, sondern gerade mit dem Vergänglichsten" 312 , bemerkt Staiger und gewinnt daraus die Erkenntnis, „daß die lyrische Stimmung selbst grundlos ist und daß sie auch keiner" — metaphysischen — „Begründung bedarf" 3 1 3 : Was dahingehend zu präzisieren wäre, daß sie eine solche auch nicht duldet, wäre doch dadurch das Vergängliche um seinen Vergänglichkeitscharakter gebracht. Daß auch Nietzsche von dieser Erfahrung des Im-Welt-Bezug-Stehens und mit ihr von einem physischen Verständnis der Wahrheit im Sinne der Fruchtbarkeit ausgeht, das kann aus den teilweise schon zitierten Ausführungen der 2. Unzeitgemässen Betrachtung zum „Unhistorischen" oder „Atmosphärischen" herausgelesen werden, soweit zumindest, als sie das Phänomen nur zu beschreiben und nicht zu denken suchen: Entschiedener noch als Goethe übersetzt nämlich Nietzsche den physischen Befund in die metaphysische Sprache Leibnizens. Um diese Ausführungen recht verstehen zu können, muß vorab erkannt werden, daß Nietzsche in dieser Abhandlung die Historie als Paradigma der wissenschaftlichen oder sokratischen Weltverhaltung bedenkt — eingeschlossen die philosophische, soweit sie unter der Forderung des rationem reddere steht, will Nietzsche doch, wie erinnerlich, in der „Geburt der Tragödie" den Sokratismus vor allem durch „das Bild des s t e r b e n d e n S o k r a t e s als des durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen" 3 1 4 charakterisiert sehen. Die unhistorische Weltverhaltung ist demnach diejenige, die sich von jener Forderung des reddendum freistellt, die vorrationale mithin — wir sagen: die physische. Beide Weltverhaltungen vergleichend, bemerkt Nietzsche in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung: wir werden also die Fähigkeit, in einem bestimmten Grade unhistorisch empfinden zu können, für die wichtigere und ursprünglichere halten müssen, insofern in ihr das Fundament liegt, auf dem überhaupt erst etwas Rechtes, Gesundes und Grosses, etwas wahrhaft Menschliches wachsen kann. Das Unhistorische ist einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt, um mit der Vernichtung dieser Atmosphäre wieder zu verschwinden. Es ist wahr: erst dadurch, dass der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch dass innerhalb jener umschliessenden Dunstwolke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht, also erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch
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z u m Menschen: aber in einem Uebermaasse v o n Historie hört der Mensch wieder auf, und o h n e jene H ü l l e des Unhistorischen w ü r d e er nie a n g e f a n g e n haben und a n z u f a n g e n wagen. 3 1 5
Das Unhistorische ist das Wesen (verbal) des abgründigen Bezuges, in dem die Physis den Menschen zu sich ein-, ihn umstimmt, sich ihm so als Bestimmung zuspricht: allein auf diesem „Fundament" kann, so Nietzsche, „etwas Rechtes, Gesundes und Grosses, etwas wahrhaft Menschliches wachsen": φύσις ist, wie schon mehrfach erwähnt, zunächst im Sinne der transitiven Bedeutung von φύω „wachsenlassen, schaffen" zu verstehen. Das heißt aber, daß der Mensch ihre Gabe der Bestimmung als Aufgabe zu übernehmen hat. Sie ist Aufruf zum Stiften eines Werks, das dem Empfangenen mit dem darin eröffneten Welt-Bezug eine Stätte des An-denkens eröffnet. Ineins damit spricht der Mensch in einem solchen Denk-Mal seinen Dank aus für diesen Zuspruch der Welt — denken und danken sind in unserer Sprache Worte ein und desselben Ursprungs. Zugleich aber ist ein solches Werk den oben zitierten Worten zufolge das Rechte: weil es sich nach den Stimmen der Welt richtet, der in dieser ihrer Fruchtbarkeit Wahrheit im ursprünglichen Sinne zukommt: Als derweise Richtiges aber ist das W e r k selber wahr, was bedeutet, daß es seinerseits wieder fruchtbar werden kann. Doch vermag es den Menschen nur zu be-dingen, wenn dieser sich ihm öffnet. 316 Als Ding-Stätte empfangenen Welt-Zuspruches sprechen sich somit auch die Werke dem Menschen als Bestimmung, als Auf-Gabe zu. Wie dies etwa Rilke vor dem „Archaischen Torso Apollos" erfährt: Wir kannten nicht sein unerhörtes H a u p t , darin die A u g e n ä p f e l reiften. Aber sein T o r s o glüht n o c h w i e ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen D r e h e n der Lenden könnte nicht ein Lächeln g e h e n z u jener Mitte, die die Z e u g u n g trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. D u mußt dein Leben ändern. 3 1 7
Werke in diesem Sinne können indes nicht nur Kunstwerke sein — Nietzsche selber nennt neben dem Bild des Künstlers den Sieg des Feldherrn und die Freiheit eines Volkes, d. h. die staatsgründende Tat. Zu denken wäre weiterhin an das Denken selber — nicht jedoch an die Wissenschaft, die das
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A t m o s p h ä r i s c h e d e r D i n g e z e r s t ö r t — , v o r a l l e m a b e r a u c h an d e n B e z i r k des
Heiligen,
des
templum,
für
den
der
Zaun
das
schlichteste,
g e g e n s t ä n d l i c h s t e Z e i c h e n darstellt. A u c h er ist ein D e n k - M a l e m p f a n g e n e n Welt-Zuspruches, wie aus den nachfolgenden S ä t z e n Goethes hervorgeht, in d e n e n er im A l t e r s r ü c k b l i c k j e n e E m p f i n d u n g e n z u r S p r a c h e b r i n g t , d i e ihn als j u n g e n M e n s c h e n in e i n e m „ s c h ö n e n b e l a u b t e n H a i n e " im G e f o l g e d e r M i t t e i l u n g e n eines F r e u n d e s e r g r i f f e n h a b e n : Umständlich erzählte er mir aus dem Tacitus, wie sich unsere Urväter an den Gefühlen begnügt, welche uns die N a t u r in solchen Einsamkeiten mit ungekünstelter Bauart so herrlich vorbereitet. Er hatte mir nicht lange davon erzählt, als ich ausrief: „ O ! warum liegt dieser köstliche Platz nicht in tiefer Wildnis, w a r u m dürfen wir nicht einen Zaun umher führen, ihn und uns zu heiligen und von der Welt abzusondern! Gewiß, es ist keine schönere Gottesverehrung als die, zu der man kein Bild bedarf, die bloß aus dem Wechselgespräch mit der N a t u r in unserem Busen entspringt!" — W a s ich damals fühlte, ist mir noch gegenwärtig; was ich sagte, wüßte ich nicht wieder zu finden. S o viel ist aber gewiß, daß die unbestimmten, sich weit ausdehnenden Gefühle der J u g e n d und ungebildeter Völker allein zum Erhabenen geeignet sind, das, wenn es durch äußere Dinge in uns erregt werden soll, formlos, oder zu unfaßlichen Formen gebildet, uns mit einer Größe umgeben muß, der wir nicht gewachsen sind. Eine solche Stimmung der Seele empfinden mehr oder weniger alle Menschen, sowie sie dieses edle Bedürfnis auf mancherlei Weise zu befriedigen suchen. Aber wie das Erhabene von D ä m m e r u n g und Nacht, w o sich die Gestalten vereinigen, gar leicht erzeugt wird, so wird es dagegen vom T a g e verscheucht, der alles sondert und trennt, und so muß es auch durch jede wachsende Bildung vernichtet werden, wenn es nicht glücklich genug ist, sich zu dem Schönen zu flüchten und sich innig mit ihm zu vereinigen, wodurch denn beide gleich unsterblich und unverwüstlich sind. 318 Einmal abgesehen von G o e t h e s — auch aus diesem T e x t sprechender m e t a p h y s i s c h e r D e u t u n g d e s j e n i g e n , w a s er d a s „ E r h a b e n e " n e n n t
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—
: die
p h ä n o m e n a l e B e s c h r e i b u n g d e s s e l b e n w e i s t U b e r e i n s t i m m u n g e n mit j e n e n P a s s a g e n a u f , in d e n e n N i e t z s c h e v o m a t m o s p h ä r i s c h e n B e z u g spricht. S o hat G o e t h e s R e d e von der uns u m g e b e n d e n G r ö ß e , der wir nicht g e w a c h s e n s i n d , ihre P a r a l l e l e in N i e t z s c h e s H i n w e i s a u f d a s U b e r m a ß , in d a s u n s d e r d i o n y s i s c h e F o r t r i ß e n t s e t z t , w i e sich a u c h bei b e i d e n d e r H i n w e i s a u f die G e f ä h r d u n g dieses G e s c h e h e n s durch „ j e d e w a c h s e n d e B i l d u n g " bzw. durch ein „ U e b e r m a a s s v o n H i s t o r i e " f i n d e t . Es ist wahr: erst dadurch, dass der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch dass innerhalb jener umschliessenden Dunstwolke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht, also erst durch die K r a f t , das V e r g a n g e n e zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen,
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bemerkt Nietzsche und bringt damit zum Ausdruck, daß sich der Mensch das, was ihm in der Weise der Stimmung als Bestimmung seines Im-Welt-Bezug-Stehens zugesprochen worden ist, erkenntnismäßig — rational — erschließen muß, weil er nur so dieser seiner empfangenen Auf-Gabe in der alltäglichen Lebenswelt nachzukommen, sie in den rational geprägten Lebensvollzügen, kurz und mit Nietzsche gesprochen: in der geschichtlichen Welt durchzusetzen vermag. Wie nämlich der Titel „Im-Welt-Bezug-Stehen" zum Ausdruck bringen soll, ist es — anders als dies Rilke etwa vermeint 320 — dem Wesen des Menschen keineswegs gemäß, wie scheinbar das Tier, im stimmungsmäßigen Gezüge des reinen Bezuges aufzugehen. So gehört zu seiner Belang-Spanne als Gegenpol die apollinische Abständigkeit gegen den dionysischen Fortriß, nicht allein um des bloßen Lebensvollzuges, sondern vor allem um des Stiftens willen, das dem Lebensvollzug auch nach Nietzsche allererst Sinn gibt. Im Stiften setzt sich die apollinische Bändigung und Fügung des dionysischen Fortrisses ins Werk. Wie Nietzsche sagt, sind Apollo und Dionysos nur durch einander, wo der eine von beiden fehlt, geht auch der andere zugrunde; womit als Entartungsformen des „Im-Welt-Bezug-Stehens" — als Hypertrophie des Dionysischen — der reine Dionysismus, von Nietzsche auch als das Tragische oder Buddhaistische bezeichnet, und — als Hypertrophie des Apollinischen — das Sokratische oder Alexandrinische, in unserer Terminologie: die Existenz, genannt wären. Dionysos und Apoll sind durch einander, das meint, daß sich der Mensch die empfangene Bestimmung erkenntnismäßig zu erschließen hat, wobei mit Martin Heidegger — an den auch Emil Staiger anknüpft — darauf hinzuweisen ist,321 daß die Stimmung nicht nur allem Erkennen und Wollen immer schon vorausliegt, sondern auch über deren Erschließungstragweite allemal hinausgeht. Erkenntnismäßige Erschließung: das meint vor allem, sich umwillen des zu schaffenden Werkes eine Bewandtnisganzheit aufzuschließen: Vorhandenes wird auf seine Tauglichkeit für die Ins-Werk-Setzung des Welt-Zuspruches geprüft, verworfen oder als Zuhandenes demjenigen eingereiht, mit dem es in Hinblick auf die Vorhabe sein Bewenden haben kann. Es zeigt sich damit, daß die metaphysischen Fragestellungen nach den apriorischen, den Entwurfs-Vermögen des Menschen im Hinblick auf die geschichtliche Welt ihre Berechtigung haben. Sie verlieren diese Berechtigung indes sofort dadurch, daß sie die geschichtliche Welt für das ganze Wesen des Im-Welt-Bezug-Stehens des Menschen und nicht nur f ü r einen Teilbereich desselben nehmen. Indem die Metaphysik so nämlich die Frage nach dem Grund aus in sich gegründetem Sein von einer Frage im Bereich der Mittel zu einer Frage im Bereich der Ziele aufspreizt, dadurch aber die einzig rechtmäßige Zielfrage, die nach
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
dem Grund aus abgründigem Wesen von Welt, aus den Augen verliert, gerät ihr nur noch ein „Unwesen" von Welt in den Blick — weswegen man die Metaphysik als bodenlos bezeichnen muß. Welt wird dann nur noch im Sinne eines vorausgesetzten Äußerlichen erfahren, das der Mensch durch Re-flexion auf sich als den Quellgrund seines Erscheinens in Innerliches verwandeln soll. Ebendas meint die metaphysische und zugleich alltägliche Gleichsetzung von Denken und Sein, die es dem Menschen verwehrt, der Welt die rätselhafte und undurchsichtige Andersheit ihres abgründigen Zuspruches zu erhalten. Statt dessen hält sie den Menschen dazu an, auf dem Wege eines Durchdenkens seiner absoluten Identität mit allem sich der Welt als eines durch ihn Gesetzten zu versichern: Metaphysisch gesehen ist der Mensch die Welt — was in physischer Sichtweise nur bedeuten kann, daß Mensch und Welt ihres Wesens verlustig gegangen sind: Alles physisch Wesende und Waltende wird auf diese Weise um seinen Belang gebracht und zum insichstehenden Gegenstand fest- und d. h. sichergestellt, während auf der anderen Seite der Mensch vom Im-Welt-Bezug-Stehen zum Subjekt verkümmert, das sich um die Frage mühen muß, wie es zu seinen Objekten gelangen kann — wir erinnern uns, daß Goethe, von dieser Erfahrung des Im-Welt-Bezug-Stehens herkommend, diesem Bemühen nur Vergeblichkeit zu attestieren weiß (siehe Seite 15): Man reißt Welt und Mensch nicht ungestraft auseinander, da beide in abgründiger Weise zusammengehören. Das gilt sogar für den von der Metaphysik ins Auge gefaßten Alltag. Physisch betrachtet sind es nicht Gegenstände, die dem Menschen in der apollinischen Abständigkeit begegnen, sondern belang-freie Dinge, die indes den Menschen jederzeit belangen oder dingen können: den metaphysisch verfaßten Gegenständen jedoch geht die Belang-Fähigkeit wesensmäßig ab, sie sind belang-los. Das aber heißt, daß im Gegensatz zum metaphysischen Gegenstand das belangfreie Ding ebensowenig bestimmbar ist wie das dingende Ding — wie solches in physischer Sicht auch für den Alltag als einen Modus des Im-Welt-Bezug-Stehens in der Hinsicht gilt, daß selbst in der belangfreien apollinischen Welt das Physische unumgängliche Umfängnis bleibt, so daß sich nach den Gründen der apollinischen Weltoffenheit ebensowenig fragen läßt wie nach den denjenigen der dionysischen: beide sind letztlich das Selbe. Die Frage nach dem Grund als in sich gegründetem Sein hat ihre Berechtigung, wir wiederholen es, allein im Bereich der Mittel des dem Stiften dienenden Lebensvollzuges. W o sie hingegen, wie in der metaphysisch verfaßten, der sokratischen Existenz, zu einer solchen im Bereich der Ziele erhoben wird, so zwar, daß nach dem Grund des Wesens der Welt, des Stiftens und des Gestifteten gefragt wird, dort werden, mit Nietzsche zu sprechen, Welt und Mensch hart und
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Versuch einer Er-läuterung
unfruchtbar: Ebendiese Gefahr hat er nämlich im Auge, wenn er in dem oben zitierten T e x t bemerkt, daß der Mensch in einem ,Uebermaasse von Historie aufhört, Mensch zu sein': D e r Mensch muß um der Sicherung des Stiftens willen wohl begründen und berechnen, aber er darf dabei niemals vergessen, daß diese ganze Lebenswelt im Abgründigen und Unsicheren schwebt, weil sonst die Welt um die Möglichkeit ihres Zuspruches, er selbst um diejenige der Bestimmbarkeit gebracht wird — eine Gefahr, die, das weiß auch Goethe, mit wachsender Bildung immer größer wird, weil das Geflecht begründender Kenntnisse immer dichter und damit die Fähigkeit zum Ent-setzen, zum θ α υ μ ά ζ ε ι ν , immer geringer wird: gerade weil die W e l t für das Kind, das in-fans, noch so abgründig ist, erweist es sich so ungleich offener als der Erwachsene für den Angang der Welt, was so weit geht, daß es ihrem Gezüge mehr oder minder hilflos ausgesetzt ist, sie als bedrohlich und unheimlich erlebt: Die Kindheit ist das Lebensalter der höchsten Welt-Innigkeit. Diese Weltoffenheit des Kindes erklärt nun aber auch, warum sich viele —
nicht nur Dichter
—
bei späteren
Erfahrungen
des
dionysischen
Fortrisses an Momente ihrer Kindheit erinnert fühlen: nicht nur weil sie die ersten,
sondern
mehr
noch
weil
sie
die
„intensivsten"
Augenblicke
atmosphärischen Belanges — des freude- wie des angstvollen — darstellen: S o eröffnet sich in solchen Momenten die Kindheit selbst. Pavese, bei dem wir die reinsten Beschreibungen des Wesens der W e l t gefunden haben, berichtet von einer solchen Erfahrung in seiner Erzählung „ D a s Maisfeld", die so dicht geschrieben ist, daß wir trotz ihrer Kürze nur weniges bedenken können. Sie beginnt mit dem S a t z : An dem T a g , als ich unten an einem Maisfeld stehenblieb und
dem
Rauschen
Luft
der langen, dürren
Stengel
zuhörte,
die sich in der
bewegten, erinnerte ich mich an etwas, was ich schon lange vergessen hatte. H i n t e r dem Feld — es stieg nach oben an — w a r der leere Himmel. 3 2 2
Solche Gestalten wie das Maisfeld, in denen sich bisweilen lange zurückliegende Gespräche konkretisieren, so bemerkt der Erzähler, wähle ich nicht aus: sie verstehen sich darauf, sich v o r mir zu erheben, sich auf meinem W e g
einzufinden
im rechten Augenblick,
wenn
ich
am
wenigsten d a r a n denke.
D a s Geschehnis des dionysischen Fortrisses ist mithin nicht in das Belieben des Erzählers gestellt, es überkommt ihn, mit Nietzsche zu sprechen. Was mir das Maisfeld sagt in den kurzen Momenten, wo ich wage, es zu betrachten, ist das gleiche, was einer sagt, der auf sich hat warten lassen, während man selbst ohne ihn nichts tun konnte. D e r Erzähler nennt das Maisfeld darum etwas, das „ H e r r über uns ist". Das meint zum einen, daß der „ G e g e n s t a n d " „sich von sich aus enthüllt", so daß man „sich nichts von ihm erhoffen [kann], als was der Gegenstand schon
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
enthält", und z u m zweiten, daß das Verhältnis z u m Maisfeld das eines Ü b e r k o m m e n - L a s s e n s , mithin passivischer Art ist, wie dies schon in der F o r t f ü h r u n g des eben zitierten Satzes zum A u s d r u c k k o m m t : „ u n d eine zu heftige B e w e g u n g könnte alles böse aus dem Gleichgewicht bringen." Weil es nicht in ihm g e g r ü n d e t ist, v e r m a g der Mensch das Geschehnis des atmosphärischen Belanges nicht herbeizuzwingen, jeder derartige Versuch muß in einer V e r k r a m p f u n g und damit in einer Verschließung Weltoffenheit enden. S o
kann der Mensch die Zeiten
Belang-Freiheit und gleichgültiger
Belang-Losigkeit
seiner
trauererfüllter
nur in der
Weise
ausstehen, daß er sie durchsteht, will s a g e n : daß er sich der Wiederkehr jenes Geschehnisses zubereitet, seine innere U n r u h e stillt und so hörig wird — dem G e s c h e n k des lautlosen Zuspruches der Welt: Dieses Feld schuldet mir nichts, so daß ich nichts anderes tun kann als schweigen und es in mich eindringen lassen. Und das Feld und die dürren Stengel rauschen ganz allmählich in mir und bleiben mir still im Herzen. Zwischen uns bedarf es keiner Worte. Die Worte hat es schon vor vielen Jahren gegeben., bemerkt der Erzähler unserer Geschichte. W a n n das „ i n Wirklichkeit" 3 2 3 gewesen ist, weiß er nicht mehr. „ U n d ich weiß nicht e i n m a l " , fährt er fort, was sie einander zu sagen haben konnten, ein Maisfeld und ein Junge. Aber eines Tages war ich gewiß vor einem solchen Feld stehengeblieben — als bliebe mit mir die Zeit stehen —, und ebenso den T a g danach und wieder einen, eine ganze Jahreszeit, ein ganzes Leben hindurch; und das war eine Grenze gewesen, ein vertrauter Horizont, durch den die Hügel — niedrig, so weit entfernt waren sie — hindurchschienen wie Gesichter an einem Fenster. Immer, wenn ich einen Schritt in den gelben Wald hinein gewagt hatte, muß mich das Feld mit seinem knisternden, von der Sonne erwärmten Laut in sich aufgenommen haben; und meine Antworten waren die vorsichtigen, manchmal auch heftigen Bewegungen gewesen, mit denen ich die scharfen Blätter beiseite schob, mich zu den Kornwinden bückte und den Blick über die hohen Stengel hinaus auf die Leere des Himmels richtete. In jenem Knistern war eine tödliche Stille. Es war die Stille eines abgeschlossenen, einsamen Ortes, die in dem fernen Himmel das Versprechen eines unbekannten Lebens erschloß, unbegehbar und verführerisch wie die Hügel. Daß die Zeit damals stillstand, weiß ich, weil ich sie noch heute vor dem Feld unversehrt wiederfinde. Es ist ein Rauschen, das sich nicht bewegt. Ich begreife, daß ich eine Gewißheit vor mir habe, daß ich den Grund eines ewig gleichen Sees, der mich erwartete, sozusagen berührt habe. Der einzige Unterschied ist der, daß ich damals heftige Bewegungen wagte, ins Feld eindrang und dabei zu den vertrauten Hügeln einen Schrei hinaufschickte: mir schien, sie erwarteten mich. Damals war ich ein Kind, und alles von diesem Kind ist gestorben — außer jenem Schrei. 324
Versuch einer Er-läuterung
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Daß Mensch und Welt im atmosphärischen Bezug so rein ineinanderschwingen können, daß sie eines werden — in dieser Geschichte wird es sogar „physisch" sinnfällig, nämlich im Eindringen des Knaben in das Maisfeld, womit dieser eine erste Antwort auf die Verheißung sucht, als die sich ihm im Durchblick durch das Feld jene fernen Hügel zugerufen haben. Wenn ihn dann das Maisfeld mit seinem knisternden, von der Sonne erwärmten Laut in sich aufgenommen hat, so antwortet er erneut, diesmal, indem er mit vorsichtigen, bisweilen auch heftigen Bewegungen die scharfen Blätter beiseiteschiebt und sich zu den Kornwinden bückt, um dann seinen Blick über die hohen Maisstengel hinaus auf die Leere des Himmels zu richten: In den Lauten des Nahen und Vertrauten hat der Knabe die Rufe des Fernen und Unbekannten gehört. So ist das Maisfeld — gleich dem Weinberg, der in einer anderen, sehr verwandten Geschichte Paveses 3 2 5 ein immer offenstehendes „Fenster nach dem H i m m e l " genannt wird — ein Tempel des Himmels, nämlich ein abgeschlossener und einsamer Ort, dessen „tödliche Stille [ . . . ] in dem fernen Himmel das Versprechen eines unbekannten Lebens erschloß, unbegehbar und verführerisch wie die Hügel." Halten wir fest: Es ist die nahe Fülle, die dem Knaben die an ihrem Horizont aufscheinende ferne Leere als jenes besagte Versprechen eines unbekannten Lebens erschließt. Ubersetzt in die Sprache Heideggers — und damit in Absetzung von ihm — meint das, daß nicht das Nichts die Welt, sondern umgekehrt die Welt das Nichts erschließt, so zwar, daß dieses den Menschen nur dann auf die Welt stoßen kann, wenn diese vorab den Menschen zu sich eingenommen hat: andernfalls das Nichts nicht als Drohung, sondern — siehe den Selbstmörder — als Verlockung der Nichtung erfahren würde. Statt von Nichts sprechen wir aber von einem Abgrund, der das Im-Welt-Bezug-Stehen des Menschen trägt: In Paveses Geschichte ist es der „ G r u n d eines ewig gleichen S e e s " , der den Knaben erwartete und den später auch der Erwachsene in jenen kurzen Momenten im bzw. am Maisfeld berührt hat. Dieser Abgrund ist der Welt-Bezug selber, als welcher die Fülle des menschlichen Lebens aus sich entläßt und in jedem Dingen des Dings, in jedem dionysischen Fortriß, den Menschen unmittelbar ergreift. In jener anderen Geschichte nennt Pavese dasjenige, was sich dem Knaben beim Gang in den Weinberg („Ein Pfad durchläuft ihn bis oben hin, teilt die Rebstockreihen und schneidet in den nahen Himmel eine Pforte.") erschließt, von unserer Sichtwarte aus gesehen glücklich etwas Ursprunghaftes, das ein heftiges Bestreben, es zu packen und von Grund auf zu kennen, über die Zeit hinaus bis in die Zukunft lebendig halten würde. Vielleicht bestand dieser Augenblick aus nichts, aber gerade auf ihm beruhte seine Zukunft. Ein einfaches, tiefes Nichts — nicht in der
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Erinnerung haftend, weil es das nicht lohnte, in die Tage ausgebreitet und dann verloren — taucht wieder auf angesichts des Pfades, des Weinbergs, und enthüllt sich als an die Kindheit gebunden, jenseits von Dingen und Zeit, wie es damals war, als es die Zeit für den Knaben noch nicht gab.326
Aber dieses Ursprunghafte ist als Ursprunghaftes unbegehbar, will sagen: es läßt sich nicht packen — der jubelnde Ruf des Kindes als Ausdruck seiner Be-geisterung durch jenes Ursprunghafte ist die einzige diesem gemäße Antwort: Die dem Knaben durch die Stimmen der Ferne verheißene Welt ist für den Menschen das Unumgängliche in jener zwiefachen Bedeutung, daß er sich, von ihr immer schon umfangen und durch sie immer neu be-stimmt, auf sie verwiesen sieht, ohne daß sie ihm doch je faßbar werden könnte, ohne daß er sie — wie es der Knabe noch glaubt: auch das bedeuten seine Antworten — je auszuschöpfen vermöchte — ebendas hält das Leben, mit Pavese zu sprechen, bis in die Zukunft hinein lebendig. Und genau das meint in physischer Lesart Nietzsches auf Seite 90 f. interpretierte metaphysische Aufzeichnung von Ende 1870—April 1871, wonach es für den menschlichen Intellekt als „ O r g a n des Willens" „kein Nichts als Ziel [giebt], somit auch keine absolute Erkenntniß, weil diese dem Sein gegenüber ein Nichtsein wäre." Reiner und „intensiver" haben die Erzähler der beiden genannten Erzählungen Paveses den physischen Bezug in ihrem Leben niemals mehr erfahren, niemals mehr sind ihre gewöhnlichen rationalen Lebensvollzüge so sehr zum Stillstand gekommen, sind ihnen zählbare Zeit und meßbarer Raum so gänzlich zergangen wie in jenen Augenblicken der Kindheit: Kein metaphysisches nunc stans 327 , sondern das physische Entrücktsein, das Innestehen im dionysischen Fortriß, ermöglicht die Wiederbegegnung des Erwachsenen mit dem Knaben, 328 die Erinnerung jener — im chronometrischen Sinne — zeitlosen Augenblicke der Verheißung seines Lebens, der Andacht des Welt-Bezuges selbst: „ U n d alles, was er inzwischen aufgehäuft hat", bemerkt der Erzähler der Geschichte „ D e r Weinberg" über jenen dem Knaben begegnenden Mann, der langsam angewachsene Reichtum von Erinnerungen aller Art, ist nichts vor der Gewißheit dieser Verzückung, die er nicht mehr im Gedächtnis hatte. Es gibt Himmel und Bäume, Jahreszeiten und ihre Wiederkehr, ein Wiederfinden und süße Empfindungen — aber das ist nur Vergangenheit, das Leben bildet es neu wie Wolkenspiele. Der Weinberg besteht auch aus solchen Dingen, ein Honig der Seele, und etwas in seinem Horizont öffnet glaubwürdige Fernsichten voll Heimweh und Hoffnung. Ungewöhnliche Ereignisse können dort geschehen, die allein die Phantasie aufweckt, aber nicht das Ereignis, das ihnen allen zugrunde liegt und alle wieder aufhebt: das Entschwinden der Zeit. Das geschieht nicht, es ist, ja es ist der Weinberg selbst.
Versuch einer Er-läuterung
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Angesichts des Pfades, der zum H o r i z o n t aufsteigt, wird der Mann nicht erst zum Knaben — er ist Knabe. Für einen Augenblick, w o er dahin gelangt, jede Erinnerung zum Schweigen zu bringen, findet sich in den Augen der unbewegliche, im Instinkt lebende, unveränderliche Weinberg: daß er ihn im H e r z e n hatte, hat er immer gewußt. U n d es geschieht nichts, weil nichts geschehen kann, was umfassender wäre als diese Gegenwart. 3 2 9
Allein solche Augenblicke der Erinnerung, des Wiedereinrückens in das Offene des Welt-Bezuges, geben, wie der Erzähler einer weiteren Geschichte Paveses, betitelt „Die Zeit" 3 3 0 , weiß, so etwas wie einen Zuwachs an Leben, etwas wie ein Gefühl, daß sich unter dem weggleitenden Augenblick ein schon mir angehörender Schatz aufhäufe, den ich nur wiederzuerkennen brauche.
Anders hingegen, wo der Mensch sich vollkommen in der Welt der Gründe einrichtet, sei es auf Bequemlichkeit — das fortwährende Sichoffenhalten für die Zusprüche der Welt erfordert ein Höchstmaß an Anstrengung —, sei es aus Furcht vor der Abgründigkeit, die das dionysische Geschehnis offenbart: Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang gleichsinnig von Todesfurcht, was an die tödliche Stille erinnert, die in Paveses Erzählung aus dem Maisfeld aufgestiegen ist, Hölderlin im umgekehrten Falle der Sehnsucht nach dem „ R a u s c h " von „Todeslust". Dort also, wo der Mensch sich vollkommen in der Welt der Gründe einrichtet, vermag er nach Nietzsches Einsicht nichts „Rechtes, Gesundes und Grosses" mehr zu vollbringen, dort halten alle die Verfallsphänomene ihren Einzug, die Nietzsche dem Sokratismus zuspricht, so etwa abstrakte Empfindung, Uberforderung des plastischen Sinnes, Ruhelosigkeit, zunehmende Verbreitung des egoistisch Kleinen und Elenden, Zerstörung der Natur. Alles dies als Folge einer ,,tiefsinnige[n] W a h n v o r s t e l l u n g " , wie es in der „Geburt der Tragödie" heißt, jene[s] unerschütterliche[n] Glaube[ns], dass das Denken an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu c o r r i g i r e n im Stande sei. 331
In welchem Glauben an die Machbarkeit von allem und jedem „die Heiterkeit des t h e o r e t i s c h e n M e n s c h e n " begründet ist, als welche Nietzsche dahingehend charakterisiert, dass sie die dionysische Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzulösen trachtet, dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eine irdische C o n s o n a n z , ja einen eigenen deus ex machina setzt, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h. die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwendeten K r ä f t e der Naturgeister, dass sie an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft geleitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zu bannen,
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Ü b e r s e t z u n g e n : D i e Geburt der T r a g ö d i e aus dem Geiste der Musik
innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: „ I c h will dich: du bist werth erkannt zu werden". 3 3 2
Alles das meint jener Satz, mit dem Nietzsche hellsichtig seinen eigenen Denkweg bis hin zur Artisten-Metaphysik 333 beschrieben hat: D e r Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es allerdings, daß die nächste Wirkung die von kleinen D o s e n Opium ist: Steigerung der Weltbejahung.
In der Wissenschaft wie auch in der Metaphysik kommt das Bestreben des Menschen zu seiner höchsten Ausformung, nichts dem ab-gründigen Zu-fall zu überlassen, vielmehr alles durch Zustellung auf seine Gründe berechenbar und damit beherrschbar zu machen, wodurch eben das Wesen des Welt-Bezuges, als welches man auch mit Nietzsches glücklichem Wort als Weltspiel bezeichnen könnte, nichtig gesetzt wird: D o c h Forschung strebt und ringt, ermüdend nie, N a c h dem Gesetz, dem Grund, W a r u m und W i e . ,
gibt Goethe in den „Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten X " zu bedenken und mahnt darum, wie gehört: Wie? Wann? und W o ? Die Götter bleiben stumm! D u halte dich ans W e i l und f r a g e nicht W a r u m ?
Was bedeutet, daß der Mensch an die Geheimnishaftigkeit der Welt nicht rühren dürfe — „Wir wandeln alle in Geheimnissen", bemerkt Goethe zu Eckermann 334 — nur dann nämlich könne das für den Lebensvollzug unumgängliche Begründen fruchtbar sein: Die Forschung hat sich in den Dienst des Geheimnisses zu stellen — was in physischer Lesart meint, daß das Begründen niemals das Geschehnis des Welt-Bezuges, seine abgründige Freiheit aus den Augen verlieren darf. So hat sich der Begründungswille in den Dienst des Welt-Bezuges und des Stiftens zu stellen, weil er von ihnen allein seine Rechtfertigung empfangen kann. Zunächst und zumeist jedoch sucht sich der Mensch die Phänomene restlos zu unterwerfen — was bedeutet, daß Nietzsches Auslegung des Menschen als „Wille zur Macht" eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden kann — im Hinblick auf das „Un-Wesen" der Existenz indes, als welches die Folge davon ist, daß der Mensch zunächst und zumeist dem Welt-Bezug zu entfliehen sucht — weil er sich vor dessen Abgründigkeit fürchtet, aus Bequemlichkeit, nicht zuletzt aber, weil ihn unsere metaphysische Tradition zu einer solchen Flucht anhält. Im Hinblick darauf hat eine physische Lektüre die metaphysische Aussage der „Geburt der Tragödie" zu deuten, daß der Mensch als „Dissonanz" 3 3 5 verstanden werden müsse: „ K o n s o n a n z " zur Welt ist er nur in jenen seltenen Momenten höchster Welt-Durchstimmtheit. In ihnen allein wird dem Menschen Wesentliches zuteil, so zwar, daß ihm in dem dort erfahrenen Über-Maß jenes „ M a ß " an die Hand gegeben ist, an dem er die
Versuch einer Er-läuterung
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Yermessenheit der Existenz zu „messen" hat: N u r demjenigen, der den Welt-Zuspruch als Auf-Gabe übernommen hat, ihn im Stiften geschichtlich werden zu lassen, fällt das Schwergewicht zu, das ihn an die Erde bindet — ihm allein erschließt sich die Lebenszeit als Zugeteiltes, als je eigene mögliche Zukunft, die es in der Auseinandersetzung mit Gegenwart und Gewesenheit zu erstreiten gilt umwillen der rettenden Uberlieferung des Ureigensten an die Nachwelt. (So daß sich hier der Ansatzpunkt für eine Er-läuterung des „Willens zur Macht" abzeichnet: Ubermächtigt durch den Zuspruch der Welt, sieht sich der Mensch dazu bestimmt, als Frucht dieses Zuspruches ein Werk zu schaffen, dem es in Auseinandersetzung mit Vorund Mitwelt zur „Macht", nämlich zu einer Stätte bestimmender Wirkung zu verhelfen gilt.) In dem Maße nämlich, in dem die Existenz eine solche Sorge nicht kennt, in dem Maße ist ihr auch der T o d weniger bedeutsam, was bedeutet, daß sie jene eigentliche Zeit nicht zu erfahren vermag; sie kennt, wie auch Nietzsche beobachtet hat, nur die gegenständliche, für ihre kurzsichtigen, egoistischen Ziele berechnete Zeit. Der reine Dionysismus hinwiederum kennt darum keine Zeit, weil er so gänzlich in der Umfängnis aufgeht, daß er erst recht um keine Sorge des Stiftens weiß. Zu dieser Sorge rechnet zunächst einmal die Sammlung auf jenes Geschehnis des Welt-Zuspruches. Zwar erfüllt sich das Im-Welt-Bezug-Stehen im „passiven" Uberkommen-Werden von der Welt, doch kann sich dieses zumeist nur dann ereignen, wenn sich der Mensch ihm in schamhafter Erduldung seiner abgründigen Freiheit zubereitet hat. Denn der Mensch bringt, wie schon die gemeine Rede von der Empfänglichkeit besagt, eine Befähigung zur Bestimmbarkeit mit — die unterschiedliche Gestimmtheit verschiedener Menschen durch das „gleiche" Phänomen bezeugt dies —; wobei diese „Subjektivität" bildlich gesprochen indes nicht mehr — aber auch nicht weniger — bedeutet, als daß die Menschen als Resonanzkörper mit unterschiedlichen Formanten jene Bestimmung durch das Phänomen unterschiedlich verstärken, keineswegs aber, wie der junge Nietzsche meint, von sich aus eine unterschiedliche Stimmung in die Natur hineinlegen. V o n ganz anderem, nämlich von der Erfahrung des Im-Welt-Bezug-Stehens, kündet er selber aber beispielsweise im Aphorismus 552 „Die idealische Selbstsucht" aus dem 5. Buch der „Morgenröthe" 3 3 6 , in dem er von der Vor-Sorge des Stiftenden berichtet. Doch nicht allein deswegen sei dieser Aphorismus hier vollständig zitiert, sondern auch, weil er ein großartiges Beispiel für Nietzsches unerhörte Fähigkeit darstellt, die Macht des Atmosphärischen nicht nur zu bedenken, sondern sie darüber hinaus in der — musikalischen — Art seines Sprechens auf den Leser unmittelbar zu übertragen:
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Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik D i e i d e a l i s c h e S e l b s t s u c h t . — G i e b t es einen weihevolleren Z u s t a n d , als den der S c h w a n g e r s c h a f t ? Alles, w a s m a n thut, in dem stillen G l a u b e n thun, es m ü s s e irgendwie d e m W e r d e n d e n in uns zu G u t e k o m m e n ! E s m ü s s e seinen geheimnissvollen W e r t h , an den wir mit E n t z ü c k e n denken, e r h ö h e n ! D a geht m a n V i e l e m aus d e m W e g e , o h n e hart sich zwingen z u m ü s s e n ! D a unterdrückt m a n ein heftiges W o r t , m a n giebt versöhnlich die H a n d : aus dem Mildesten und Besten soll das K i n d hervorwachsen. E s schaudert uns v o r unsrer S c h ä r f e und Plötzlichkeit: wie wenn sie d e m geliebtesten U n b e k a n n t e n einen T r o p f e n Unheil in den Becher seines Lebens g ö s s e ! Alles ist verschleiert, ahnungsvoll, m a n weiss von Nichts, wie es z u g e h t , m a n wartet ab und sucht b e r e i t z u sein. D a b e i waltet ein reines und reinigendes G e f ü h l tiefer Unverantwortlichkeit in uns, fast wie es ein Z u s c h a u e r v o r dem geschlossenen V o r h a n g hat, — e s w ä c h s t , e s tritt an den T a g : w i r haben N i c h t s in der H a n d , z u bestimmen, w e d e r seinen W e r t h , noch seine Stunde. E i n z i g auf jeden mittelbaren s e g n e n d e n und wehrenden Einfluss sind wir angewiesen. „ E s ist etwas G r ö s s e r e s , das hier wächst, als wir s i n d " ist unsere geheimste H o f f n u n g : ihm legen wir Alles zurecht, dass es gedeihlich z u r W e l t k o m m e : nicht nur alles N ü t z l i c h e , sondern auch die Herzlichkeiten und K r ä n z e unserer Seele. — I n d i e s e r W e i h e soll m a n leben! K a n n m a n leben! U n d sei das E r w a r t e t e ein G e d a n k e , eine T h a t , — wir haben zu allem wesentlichen Vollbringen kein anderes Verhältniss, als das der S c h w a n g e r s c h a f t und sollten d a s anmaassliche R e d e n v o n „ W o l l e n " und „ S c h a f f e n " in den W i n d blasen! D i e s s ist die rechte idealische S e l b s t s u c h t : immer zu s o r g e n und z u w a c h e n und die Seele still z u halten, dass unsere Fruchtbarkeit s c h ö n z u E n d e g e h e ! S o , in dieser mittelbaren Art s o r g e n und w a c h e n wir f ü r den N u t z e n A l l e r ; und die S t i m m u n g , in der wir leben, diese stolze und milde S t i m m u n g , ist ein Ö l , welches sich weit u m uns her auch auf die unruhigen Seelen ausbreitet. — Aber w u n d e r l i c h sind die S c h w a n g e r e n ! Seien wir also auch wunderlich und v e r a r g e n wir es den A n d e r e n nicht, wenn sie es sein m ü s s e n ! U n d selbst, w o dies in's S c h l i m m e und G e f ä h r l i c h e sich verläuft: bleiben wir in der E h r f u r c h t v o r dem W e r d e n d e n nicht hinter der weltlichen Gerechtigkeit z u r ü c k , welche dem Richter und d e m H e n k e r nicht erlaubt, eine S c h w a n g e r e zu b e r ü h r e n !
„ D i e s s ist d i e r e c h t e i d e a l i s c h e
S e l b s t s u c h t : immer zu sorgen und zu
w a c h e n u n d d i e S e e l e still z u h a l t e n , d a s s u n s e r e F r u c h t b a r k e i t s c h ö n Ende
gehe!":
Von
dieser an die zitierten P a s s a g e n
aus
zu
Geschichten
P a v e s e s e r i n n e r n d e N o t w e n d i g k e i t , i n n e r l i c h still u n d d e s Z u s p r u c h e s
der
W e l t h ö r i g z u w e r d e n , v o n dieser N o t w e n d i g k e i t , sich z u s a m m e l n , u m im Sinne des Im-Welt-Bezug-Stehens können,
spricht
Nietzsche
auch
f r u c h t b a r u n d d . h. w a h r w e r d e n in
einem
unvergleichlich
zu
schönen
A p h o r i s m u s , d e n er sich im H e r b s t 1881 auf der R ü c k s e i t e seines E x e m p l a r s von Ralph W a l d o Emersons „ V e r s u c h e (Essays)"337 eingetragen hat:
Versuch einer Er-läuterung
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Sei eine Platte von Gold — so werden sich die Dinge auf dir in goldner Schrift einzeichnen.,338 — und du kannst von der Vollkommenheit und dem S e g e n der E r d e k ü n d e n ; schon auf Seite 277 haben wir Nietzsches A u f z e i c h n u n g zitiert: Zu Zarathustra: „die Goldenen" als höchste Stufe. Sind sie doch diejenigen, die zu sagen wissen: das H e r z der E r d e ist von G o l d . „ W i r haben zu allem wesentlichen Vollbringen kein anderes Verhältniss, als das der S c h w a n g e r s c h a f t und sollten das anmaassliche R e d e n von ,Wollen' und , S c h a f f e n ' in den Wind b l a s e n ! " : V o n dieser E r f a h r u n g der Ein-gebung in Momenten dionysischer Entrücktheit berichtet Nietzsche auch in jener berühmten Stelle des „ E c c e h o m o " 3 3 9 über die Inspiration, in der er z u d e m die Abgründigkeit dieser Augenblicke hervorhebt: — Hat Jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter I n s p i r a t i o n nannten? Im andren Falle will ich's beschreiben. — Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der That die Vorstellung, bloss Incarnation, bloss Mundstück, bloss medium übermächtiger Gewalten zu sein, kaum abzuweisen wissen. Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas s i c h t b a r , hörbar wird, Etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Thatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, — ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommnes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Uberrieselungen bis in die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, sondern als eine n o t h w e n d i g e Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt — die Länge, das Bedürfniss nach einem w e i t g e s p a n n t e n Rhythmus ist beinahe das Maass für die Gewalt der Inspiration, eine Art Ausgleich gegen deren Druck und Spannung... Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit... Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichniss ist, Alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. Es scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustra's zu erinnern, als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnisse anböten (— „hier kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmeicheln dir: denn sie wollen auf deinem Rücken reiten. Auf jedem Gleichniss reitest du hier zu jeder Wahrheit. Hier springen dir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf; alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will von dir reden lernen —") 3 4 0 . Dies ist m e i n e Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, dass man
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Jahrtausende zurückgehn muss, um Jemanden zu finden, der mir sagen darf ,,es ist auch die meine". — Dabei sind A r t und Grad der Inspiration nicht unabhängig von der Umgebung, in der man sich aufhält: Daß den Gegenden der Erde eine je andere K r a f t der Eingebung eignet, wußten schon die Griechen — zu erinnern wäre dabei an Heraklits ή θ ο ς ά ν θ ρ ώ π ω ι δ α ί μ ω ν 3 4 1 (sein Aufenthalt ist dem Menschen Zuteiler des Wesenhaften) oder auch an Piatons Unterscheidung der Gegenden nach ihrem schicksalfügenden Wesen, nach ihrem göttlichen Atem, θ ε ί α τ ι ς έ π ί π ν ο ι α 3 4 2 . W i e kaum ein anderer Mensch der Neuzeit weiß auch Nietzsche von diesen Unterschieden — doch meint er sie wiederum einer metaphysischen, nämlich physiologischen Erklärung zuführen zu müssen, wobei er „die Begrifflichkeit und die Einzelheiten" 343 aus Hippolyte Taines „Historie de la litterature anglaise" übernommen hat: Mit der Frage nach der Ernährung ist nächstverwandt die Frage nach O r t und K l i m a . Es steht Niemandem frei, überall zu leben; und wer grosse Aufgaben zu lösen hat, die seine ganze Kraft herausfordern, hat hier sogar eine sehr enge Wahl. Der klimatische Einfluss auf den S t o f f w e c h s e l , seine Hemmung, seine Beschleunigung, geht so weit, dass ein Fehlgriff in Ort und Klima Jemanden nicht nur seiner Aufgabe entfremden, sondern ihm dieselbe überhaupt vorenthalten kann. 344 Um zu sehen, was Nietzsche meint, ziehe man die schon früher zitierten, von jeglicher positivistischen Deutung frei gehaltenen W o r t e Goethes hinzu, die er am 2. 4. 1 8 2 9 zu Eckermann gesagt hat: Und gewiß! wer sein Lebenlang von hohen ernsten Eichen umgeben wäre, müßte ein anderer Mensch werden, als wer täglich unter luftigen Birken sich erginge. Nur muß man bedenken, daß die Menschen im allgemeinen nicht so sensibler Natur sind als wir andern und daß sie im ganzen kräftig vor sich hinleben, ohne den äußeren Eindrücken so viele Gewalt einzuräumen. Will sagen: den meisten Menschen geht die Empfänglichkeit f ü r die atmosphärische Bestimmung durch die W e l t ab, sie kennen allein den Gegen-Stand der alltäglichen Existenz. Goethe fährt f o r t : Aber so viel ist gewiß, daß außer dem Angeborenen der Rasse sowohl Boden und Klima als Nahrung und Beschäftigung einwirkt, um den Charakter eines Volkes zu vollenden. Auch ist zu bedenken, daß die frühesten Stämme meistenteils von einem Boden Besitz nahmen, wo es ihnen gefiel und wo also die Gegend mit dem angeborenen Charakter der Menschen bereits in Harmonie stand. 345 Fassen w i r unsere bisherigen Ü b e r l e g u n g e n zu einer E r - l ä u t e r u n g des philosophischen A n s a t z e s d e r „ G e b u r t der T r a g ö d i e " z u s a m m e n : W i r verstehen das Dionysische als das Geschehnis des Fortrisses des Menschen aus der seine alltägliche Existenz (von „sisto") charakterisierenden Gegen-Ständigkeit; mit welchem W o r t zum einen das durch den
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Entwurf seiner Seinscharaktere seiner Abgründigkeit und damit seiner Bezugskraft beraubte, zum „Stehen" gebrachte Ding (zu hören ist „dingen") bezeichnet wird, als auch der Zustand dieser Gegenständigkeit des Menschen gegen den unmittelbaren Angang der Dinge, dessen er im alltäglichen Lebensvollzug bedarf, weil er nur mit Gegenständen rechnen kann. Sie sind nämlich nur das, was der Mensch ihnen zuspricht. Damit aber erweist sich die alltägliche Weltoffenheit als Verschlossenheit, als Hinausstehen aus der eigentlichen Offenheit: Der Mensch ist hier offen nur für das, was er sich selbst wesensmäßig öffnet, d. h. letztlich nur für sich selbst. Der Mensch ist hier die Welt, insofern er ihr sub-iectum, das ihr als Grund Zugrundeliegende ist. In der „Geburt der Tragödie" aber lesen wir: Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet.
Und mit dem Subjektiven auch sein Widerspiel, das Objektive: „die entfremdete, feindliche oder unterjochte" — vergegenständlichte — „ N a t u r feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne" 346 . Die alltäglichen Grenzen von Raum und Zeit sind zergangen, aus der Gemessenheit und Vermessenheit der Existenz steht der Mensch im „Rausch" hinaus in das Uber-Maß des Offenen der seine Gegenständigkeit aufbrechenden Welt. Alles was bis jetzt als Grenze, als Maaßbestimmung galt, erwies sich hier als ein künstlicher Schein; das „ U b e r m a ß " enthüllte sich als Wahrheit. 347
schreibt Nietzsche über den „ek-statischen" T o n der Dionysosfeier, den T o n „des ,Außer sich seins'" 348 . Der solchermaßen Ausgesetzte, seiner Ständigkeit Entsetzte, wird vom Übermaß fortgerissen: Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. 349
Er ist nicht mehr H e r r seiner selbst, die Natur spielt mit ihm: Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden 350 .
Er hat jetzt weder Sein noch Sinn — er ist seiner Vernunft und d. h. seiner metaphysischen Fähigkeit verlustig gegangen, ohne daß er deswegen zum bloßen „animal" hinabsinkt: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah.351 Doch nicht darin ist dieser Mensch Über-mensch, daß er über das bisherige, nämlich das metaphysisch als animal rationale begriffene Wesen des Menschen etwa in der Weise hinausginge, daß er das Vernunftdenken, eben „das vernehmende Vorstellen dessen, worin das Seiende je das Seiende
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ist" 3 5 2 , in nihilistischer Verneinung „in den Dienst der [zum leibenden Leben positiv umgewerteten] Tierheit (animalitas) zurück[nimmt]" 3 5 3 , vielmehr darin, daß er als sein „ W e s e n " nunmehr das Geschehnis, das Wesen des atmosphärischen Bezuges begreift, in dem die Physis den Menschen zu sich ein-, d. h. ihn umstimmt. Er erfährt die Welt nicht mehr als bloßen, im Menschen gegründeten Entwurfsbereich, sondern als unmittelbare, den Menschen be-stimmende Umfängnis, die derart umfänglich ist, daß sie von der rechnenden Vernunft niemals von den Bedingungen ihres Erscheinens her begriffen und vergegenständlicht werden kann, sei es als Wille, sei es als unendliches oder endliches Sein (φύσις im Sinne der transitiven Bedeutung von φύω „wachsenlassen, schaffen"). Niemals besteht die Möglichkeit, hinter sie zurückgehen, sie begründen zu können, begründbar ist allein die Gegen-Ständigkeit. Die umfängliche Welt ist somit für den Menschen das Unumgängliche in der zwiefachen Bedeutung, daß er sich, von ihr umfangen und be-stimmt, auf sie verwiesen sieht, ohne daß sie ihm doch je faßbar werden könnte; ist sie doch nicht in irgendwelche Konstituenten, hie Mensch, hie Welt etwa, zerlegbar: Beide sind in abgründiger Weise eines. Indes ist der dionysisch Berauschte in der Gefahr, sich in den Flutungen des ekstatischen Offenstehens im Offenen des abgründigen Weltanganges zu verströmen. Aber: Es soll sich l e b e n lassen: also ist der reine Dionysismus unmöglich.354 D e r Mensch muß um seines Lebensvollzuges willen ein gewisses Maß an Abständigkeit und Festigkeit gegenüber dem Fortriß des Uber-Maßes zurückgewinnen. Bleibt er dessen eingedenk und auf ihn bezogen, sprechen wir vom Apollinischen, verliert er ihn — wie die Menschen unserer Gegenwartskultur — aus dem Blick, vom Sokratischen. (Der reine Dionysismus — die Todeslust — ist das Tragische, siehe Hölderlins Empedokles, Büchners Lenz.) Die apollinische „Gegenständigkeit", die Abständigkeit, unterscheidet sich von der sokratischen, der metaphysischen Gegen-Ständigkeit dadurch, daß sie sich als transitorischen und defizitären Zustand erlebt und erleidet, sich neuem Ent-setzen in schamvoller Duldung ( „ M a n sollte die S c h a m besser in Ehren halten, mit der sich die N a t u r hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat.") zubereitet, ohne seines Eintrittes doch gewiß sein zu können; denn als unbegründbares ist es nicht voraus- und absehbar. Derweise aber hält sich die apollinische Daseinsverhaltung überhaupt im Angesicht des Ab-gründigen, wohingegen die sokratische, der Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale eingedenk, sich der Verpflichtung zur Zustellung der Gründe überläßt: Die Metaphysik läßt das Ent-setzen nicht zu, scheint doch andernfalls die Möglichkeit der Unterscheidung von Mensch und Tier nicht mehr gegeben zu sein.
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Sie beruht indes im Stiften, in der Fähigkeit, den dionysischen Weltzuspruch apollinisch zu gestalten: Für Nietzsche ist der Mensch nicht mehr Erkennender, sondern Schaffender, was bedeutet, daß allein das Stiften seinen Lebensvollzug zu „rechtfertigen", nämlich ihm Sinn zu gewähren vermag. Das Stiften läßt den Welt-Zuspruch geschichtlich werden; so erfahren die Mensch die Physis zu allen Zeiten anders, nämlich gemäß eines ihnen überlieferten Vor-Bildes derselben (man denke etwa an Werther und Lotte, die sich das Gewitter an Klopstocks „Frühlingsfeier" deuten). Insofern das Stiften als Gestalten aber apollinischen Wesens ist, kann es sich nur in abständiger Inständigkeit zum dionysischen Fortriß vollziehen — so daß für den Stiftenden gilt, was Nietzsche über den Dionysosdiener sagt: Er muß im Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter auf der Lauer liegen. Nicht im Wechsel von Besonnenheit und Rausch, sondern im Nebeneinander zeigt sich das [ . . .] 355 Künstlerthum. 356
Schon vor Nietzsche hat Hölderlin diese Grundspannung gesehen: In seinem an Böhlendorff gerichteten Brief vom 4.12. 1801357 spricht er in Besinnung auf das Wesen der Griechen und die geschichtliche Bestimmung der Deutschen davon, daß das Apollonische, das den Dichter entflammende „Feuer vom Himmel", das „heilige Pathos", die „schöne Leidenschaft", durch die „abendländische J u n o n i s c h e N ü c h t e r n h e i t " , durch „Klarheit" und „Geistesgegenwart" der Darstellung gebändigt werden müsse. Diese Grundspannung hat Nietzsche im Auge, wenn er in der 4. Unzeitgemässen Betrachtung die Zeugungsmomente des dithyrambischen Dramatikers wie folgt charakterisiert: H e l l s i c h t i g - b e s o n n e n u n d l i e b e n d - s e l b s t l o s z u g l e i c h fällt sein Blick hernieder 358 .
D a ß diese abständige Inständigkeit zum dionysischen Fortriß, zum, mit Hölderlin zu sprechen, ,heiligen Pathos', nach Nietzsche das Wesen jedes Stiftungsgeschehens ausmacht, das geht aus einem Notat vom Herbst 1887359 hervor: — Künstler sind n i c h t die Menschen der g r o ß e n Leidenschaft, was sie uns und sich auch vorreden mögen. [ . . . ] Man wird nicht dadurch mit seinen Leidenschaften fertig, daß man sie darstellt: vielmehr man ist mit ihnen fertig, w e n n man sie darstellt.
Das übersieht Staiger, wenn er aus der richtigen Einsicht: „ D e r lyrische Dichter leistet nichts. Er überläßt sich — das will buchstäblich verstanden sein — der Ein-gebung." 360 , folgert, daß ihm „in eins" mit der Stimmung auch die Sprache eingegeben werde: „ E r ist nicht imstande, der einen oder der anderen gegenüberzutreten. Sein Dichten ist unwillkürlich." 361 Wäre es so, vermöchte sich der Dichter nur, gleich dem reinen Dionysaken, in
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sinnlosen und vor allem wirren, nämlich formlosen Lautdelirien zu ergehen — Staiger übersieht, daß der schöpferische Akt als Akt der Formgebung einen apollinischen Abstand zu dem Geformten, der im dionysischen Fortriß empfangenen Bestimmung, setzt, als welche hinwiederum durch diesen Akt allererst in der Hinsicht wahrhaft Be-stimmung wird, daß sie damit als Auf-Gabe des Welt-Zuspruches ergriffen wird: Dionysos und Apoll sind durch einander, haben wir gesagt — was jetzt bedeutet, daß der dionysische Fortriß nur ein Moment des Welt-Bezuges und damit der von uns als „dichterisch" bezeichneten Weltverhaltung ausmacht, ein Moment, das nicht verabsolutiert werden darf, wenn der Welt-Bezug als ganzer nicht zerstört werden soll. Gleiches gilt aber auch für den Akt der Formgebung — für sich allein vermag das gestalterische Vermögen nichts: Hätte Nietzsche sein Leben nur in Bibliotheken und Hörsälen verbracht, wäre es ihm nicht möglich gewesen, „Die Sonne sinkt" zu schreiben — ein Gedicht, in dem die Frucht der Landschaften seines Lebens erblickt werden muß, Nietzsches andenkender D a n k an Sorrent, Venedig, Genua, Messina, Rapallo, Nizza, Turin und Sils-Maria. N u r in apollinischer Abständigkeit zum dionysischen Fortriß vermag sich der Dichter der Sprache so zu bedienen, daß sie in der Weise des von Staiger als „lyrisch" bezeichneten Stiles spricht: In ihm wird, laut Staiger, „nicht ein Vorgang sprachlich ,wieder'-gegeben. [ . . . ] Es gibt hier noch kein Gegenüber. Die Sprache geht in der Abendstimmung auf, der Abend in der Sprache." 362 Auch Staiger verkennt nicht, daß sich dieser Stil einer großen Gestaltungsleistung verdankt, so weist er etwa darauf hin, daß sich die Sprache in ihrem apophantischen Wesen, in ihrer gegenständlichen Intentionalität der „Wieder"gabe der lyrischen Gestimmtheit mit ihrem Ineinander von Welt und Mensch nicht ohne weiteres fügt 3 6 3 : Der von einem Lied erweckte Eindruck, den atmosphärischen Belang unmittelbar darzubieten, muß der Sprache abgerungen werden, insofern sie dazu neigt, diesen Belang zum Stehen zu bringen. Von Staigers Fragestellung her gelesen, bringt der Satz „Gleichniß der Musik. Wie kann man von ihr reden?" zum Ausdruck — und diese Übersetzung stimmt mit unserer Er-läuterung des Nietzscheschen Ansatzes überein —, daß man das Atmosphärische „unmittelbar" nur singend wiederzugeben vermag: Auch f ü r Staiger ist die Musik die atmosphärischste aller Künste, die Stimmungskunst par excellence, vermag sie doch, weil sie im Gegensatz zu den anderen Künsten kein Gegenüber voraussetzt, den H ö r e r so in sich einzubeziehen, daß er, mit Paul Valery zu sprechen, zum „esclave de la presence generale de la musique" wird 364 — nicht umsonst ist der Begriff „Stimmung" ursprünglich ein Terminus der Musiksprache (das von
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„stimmen", mittelhochdeutsch „seine Stimme hören lassen, rufen", abgeleitete Wort wird seit dem 16. Jahrhundert auf Musikinstrumente, seit dem 18. Jahrhundert auf Menschen bezogen). Daß schließlich Nietzsche selber in der „Geburt der Tragödie" unter Anführung einer Passage aus jenem Brief, den Schiller am 18. 3. 1796 an Goethe geschrieben hat 365 , den der lyrischen Schöpfung vorhergehenden dionysischen Fortriß als „eine m u s i k a l i s c h e S t i m m u n g " bezeichnet — ähnlich bemerkt auch Staiger, daß sich dem Lyriker die Welt an „irgendeiner Stelle im Lauf eines gleichgültigen Tages [ . . . ] in Musik [verwandelt]" 366 —, das bestärkt uns vollends in der Annahme, daß der „Geist der Musik", von dem Nietzsche in seiner philosophischen Erstlingsschrift spricht, weniger das metaphysische Werden, als das Wesen des Physischen, den atmosphärischen Bezug meint. Doch anders als es die Frage „Gleichniß der Musik. Wie kann man von ihr reden?" zum Ausdruck bringt, ist uns die Frage nach dem dichterischen Weltverhalten zunächst weniger ein Problem der unmittelbaren Wiedergabe des Atmosphärischen, kurz: ein Problem der Unmittelbarkeit — die Konzeption der „Geburt der Tragödie" sieht da weiter, weiter auch als Staiger etwa: Danach ist die wesentliche Frage allein die, ob jemand im Angesicht des abgründigen Welt-Bezuges zu leben, sich in die apollinisch-dionysische Widerwendigkeit des Welt-Spieles einzulassen vermag — ebendas heißt nämlich nach Nietzsche dionysisch zum Dasein stehen. Wobei das apollinische Zuhalten auf den dionysischen Fortriß dann wiederum viele Spielarten kennt, je nach dem Grad der Nähe zum Fortriß mehr dionysisch-inständige oder mehr apollinisch-abständige; dabei kann „ N ä h e " auch „ N ä h e in der Ferne", d. h. Sehnsucht, meinen: Gerade in der Moderne, man denke an Rilke, wird der Welt-Bezug bisweilen nur noch als Entzug erfahren. Gesprochen im Hinblick auf die künstlerischen Stiftungs-Zeugnisse solcher Weltverhaltungen: Wenn in der Musik die dionysischste aller Künste gesehen werden muß, so ergibt sich die weitere Abfolge nach der Nähe, in der die anderen Künste oder deren Gattungen zur Musik stehen, mithin die in der „Geburt der Tragödie" aufgestellte Reihe Dichtung, Malerei, plastische Künste. Innerhalb der Dichtung wiederum folgt auf die Lyrik die Epik — wobei man sehen muß, was auch schon Staiger angemerkt hat, daß die poetischen Formen niemals rein verwirklicht werden, schon gar nicht in der Moderne. Das Drama hinwiederum gehört nicht in diese Reihe — insofern nämlich sein movens, wie Staiger aufgewiesen hat, 367 die Frage nach dem „Worumwillen?", nach dem ideellen Vorwurf des Menschen ist, muß es nämlich als Dichtung der sokratischen Existenz betrachtet werden. So bemerkt Staiger: „ D e r pathetische Held ist unbedingt. Die Dinge, die
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Umwelt, das Millieu, das Atmosphärische geht ihn nichts an. Es existiert überhaupt nicht für ihn, und also auch für den Dichter nicht." 368 Ähnlich spricht ja auch Nietzsche von dem ,,metaphysische[n] Trost, — mit welchem [ . . . ] uns jede wahre Tragödie entlässt" 369 . Allenfalls dort, wo solch ein Trost nicht mehr verfängt, wo „die Frage ,Worumwillen?' zuletzt ins Leere stößt" 370 , wo, nach Staigers Einteilung, das Dramatische ins Tragische übergeht, 371 wo — wie in den Dramen Kleists — die Verschlossenheit der Existenz von innen heraus aufgesprengt wird und der Mensch deren Boden-, nämlich Grundlosigkeit erkennt, dort gelangt das Drama in die Nähe der Erfahrung des Im-Welt-Bezug-Stehens: wenn man so will auf dem Wege jenes Herauffragens, auf dem sich auch Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht in die Nähe der Ausgangsposition der Artisten-Metaphysik gebracht hat. Damit aber bestätigt sich erneut, daß die Frage nach der atmosphärischen Unmittelbarkeit einer Dichtung im Hinblick auf das Im-Welt-Bezug-Stehen von sekundärer Bedeutung ist — wie sich dies ja schon daran gezeigt hat, daß die Texte, die unseres Erachtens am reinsten von diesem Wesen der Welt künden, Paveses Erzählungen, epische Texte sind. Doch ist Staigers Bemerkung, „Denken und Singen vertragen sich nicht" 372 in dieser Hinsicht nicht etwa nur unerheblich, sondern geradezu gefährlich — verpflichtet sie den Lyriker doch allein auf das Singen. Aber Dichtung ist, um einen Satz Heideggers aufzunehmen, um so dichterischer, je denkerischer sie ist, wie auch umgekehrt das Denken um so denkerischer wird, je dichterischer es ist: Das meint in bezug auf unseren Ansatz, daß es darauf ankommt, daß die Dichtung ihre H e r k u n f t nicht mehr nur „atmosphärisch" an sich selbst bezeugt, sondern diese auch bedenkt, um so dem Denken den W e g aus der Irrnis weisen zu können, in die es sich verlaufen hat. Dieser H e r k u n f t aber ist der Lyriker näher als jeder andere Dichter, das weiß auch Staiger: „Das Lyrische [ . . . ] ist der letzte erreichbare Grund alles Dichterischen [ . . . ] , das ,sunder warumbe', die Fülle der Tiefe, aus der es entspringt" 373 — weswegen alles darauf ankäme, daß die Lyrik diese ihre H e r k u n f t zu bedenken suchte. Von Bedeutung wäre das nicht zuletzt f ü r ihre Ausleger, würden diese doch dann unweigerlich darauf gestoßen, daß sich Dichtung, sofern sie Denk-Mal des Welt-Zuspruches ist, und begründendes Denken letztlich nicht vertragen. Letztlich, das meint solange, wie dieses nicht erkennt, daß Fragestellungen nach empfangenen und ausgeübten Einflüssen, nach Entstehungsbedingungen in dieser ihrer — in bestimmter Hinsicht nicht nur berechtigten, sondern auch notwendigen — metaphysischen Betrachtungsweise das Wesentliche der Dichtung ausblenden müssen; wäre doch im Falle einer solchen Selbstbeschränkung
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die Freigabe der Dichtung als ursprünglich Wesendes möglich, das den Menschen in das wahrhaft fragwürdige Geheimnis des Welt-Bezuges zu entsetzen vermag: D i e Einsicht in die H e r k u n f t eines W e r k s geht die P h y s i o l o g e n und Vivisektoren des Geistes an: nie und nimmermehr die ästhetischen Menschen, die Artisten!
Absetzungen: Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick
Daß Nietzsche schon vor seiner Reise zu den ersten Bayreuther Festspielen kein Parteigänger Wagners mehr war, das wußte allein sein Freund Franz Overbeck, dem Nietzsche einiges von jenen Gedanken mitgeteilt hatte, die er sich Anfang 1874—Frühjahr 1874 in seinem — so Nietzsche in einem Brief — „Leiden um Bayreuth" 1 schon unter dem Titel „Richard "Wagner in Bayreuth" 2 aufgezeichnet hatte und die nicht etwa nur manche Ausführungen der 4. Unzeitgemässen Betrachtung, sondern auch wesentliche Anwürfe der 1888 erschienenen Schrift „ D e r Fall Wagner" 3 vorwegnehmen. Keineswegs nämlich erwuchsen ihm diese „Leiden um Bayreuth", wie die Briefempfängerin, die Wagner-Freundin Malwida von Meysenbug, wähnen mußte, allein aus der Sorge, daß Wagners ehrgeiziges Projekt in jenen Tagen wegen mangelnder finanzieller Unterstützung zu scheitern drohte, vielmehr quälte ihn vor allem die wachsende Einsicht, daß er sich in seinen H o f f n u n g e n auf eine Erneuerung der Kultur durch das Wagnersche Kunstwerk selbst betrogen hatte — daß er in seinem Glauben an Wagner seinem eigenen Wesen untreu geworden war. Das wichtigste Notat dieser Aufzeichnungen lautet: Wagner's Kunst ist überfliegend und transscendental, was soll unsre arme deutsche Niedrigkeit damit anfangen! Sie hat etwas wie Flucht aus dieser Welt, sie negirt dieselbe, sie verklärt diese Welt nicht. Deshalb wirkt sie nicht direkt moralisch, indirekt quietistisch. Nur um seiner Kunst eine Stätte in dieser Welt zu bereiten, sehen wir ihn beschäftigt und activ: aber was geht uns ein Tannhäuser Lohengrin Tristan Siegfried an! Das scheint aber das Loos der Kunst zu sein, in einer solchen Gegenwart, sie nimmt der absterbenden Religion ein Theil ihrer Kraft ab. Daher das Bündniss Wagner's und Schopenhauer's. Es verräth, dass vielleicht bald einmal die Kultur nur noch in der Form klosterhaft abgeschiedener Sekten existirt: die sich zu der umgebenden Welt ablehnend verhalten. Der Schopenhauerische „Wille zum Leben" bekommt hier seinen Kunstausdruck: dieses dumpfe Treiben ohne Zweck, diese Ekstase, diese Verzweiflung, dieser Ton des Leidens und Begehrens, dieser Accent der Liebe und der Inbrunst. Selten ein heitrer Sonnenstrahl, aber viel magische Zaubereien der Beleuchtung.
Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick
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In einer solchen Stellung der Kunst liegt ihre Stärke und Schwäche: es ist so schwer, von dort her zu dem einfachen Leben zurückzukehren. Die Verbesserung des Wirklichen ist nicht mehr das Ziel, sondern das Vernichten oder das Hinwegtäuschen des Wirklichen. Die Stärke liegt in dem sektirerischen Character: sie ist extrem und verlangt von dem Menschen eine unbedingte Entscheidung. — O b wohl ein Mensch besser zu werden vermag, durch diese Kunst und durch Schopenhauerische Philosophie? Gewiss in Betreff der Wahrhaftigkeit. Wenn nur in einer Zeit, in der die Lüge und Convention so langweilig und uninteressant ist, die Wahrhaftigkeit nicht so interessant wäre! So unterhaltend! Aestetisch reizvoll Η Sämtliche V o r w ü r f e — daß W a g n e r s Kunst die W e l t negiert, aber nicht verklärt, daß sie unmoralisch und vor allem quietistisch wirkt, weil sie die M e n s c h e n nicht zur Verbesserung der W e l t anhält — wie auch das Lob — daß
diese
Umständen
Kunst
die
Menschen
in
Betreff
der Wahrhaftigkeit
unter
z u bessern vermag — erwachsen aus der einen Einsicht, daß das
K u n s t w e r k der Z u k u n f t metaphysischen W e s e n s ist, erkennbar schon an d e m Bündnis, das W a g n e r mit S c h o p e n h a u e r e i n g e g a n g e n ist. D o c h diese Erkenntnis ist für N i e t z s c h e , w i e wir wissen, k e i n e s w e g s neu, war es d o c h gerade der kunstreligiöse Charakter der W a g n e r s c h e n W e r k e g e w e s e n , w o r a u f er seine H o f f n u n g e n für eine Erneuerung der Kultur g e g r ü n d e t hatte. Auf das deutlichste g e h t dies aus einer A u f z e i c h n u n g v o m S o m m e r 1878 5 hervor, in der N i e t z s c h e — die erste „ n a c h w a g n e r s c h e " Schrift „ M e n s c h l i c h e s , Allzumenschliches" ist im April erschienen — die Etappen des zurückliegenden Abschnittes seines D e n k w e g e s reflektiert: Plan. Einsicht in die G e f ä h r d u n g der C u l t u r . Krieg. Tiefster Schmerz, B r a n d d e s L o u v r e . Schwächung des C u l t u r b e g r i f f s (das Nationale), Bildungsphilister. Historische Krankheit. Wie bekommt der Einzelne gegen die Epidemie Halt? 1) Schopenhauer's Metaphysik, überhistorisch; heldenhafter Denker. Standpunct fast religiös. 2) Wagner's Vertheidigung seiner Kunst gegen den Zeitgeschmack. Daraus n e u e G e f a h r e n : das Metaphysische treibt zur-Verachtung des W i r k l i c h e n : insofern zuletzt c u l t u r f e i n d l i c h und fast gefährlicher. Uberschätzung des Genius. Die Cultur der Musik lehnt die Wissenschaft, die Kritik ab; vieles Beschränkte aus Wagner's Wesen kommt hinzu. Rohheit neben überreizter Sensibilität. Das Deuteln und Symbolisiren nimmt überhand bei den Wagnerianern. Ich entfremdete mich der Kunst, Dichtung (lernte das Alterthum mißverstehen) und der Natur, verlor fast mein gutes Temperament. Dabei das schlechte Gewissen des Metaphysikers.
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Absetzungen
Bedeutung von Bayreuth für mich. Flucht. Kaltwasser-Bad. Die Kunst, die Natur, die Milde kommt wieder. Zweck der Mittheilung Freunde. Z u f o l g e dieses Planes — vielleicht einer, nach dem Vorbild Wagners, „Mittheilung an seine Freunde" — war es die Einsicht in die Gefährdung der Kultur gewesen, was N i e t z s c h e in die Arme der Metaphysik zurückgetrieben hatte, denen er doch schon im Herbst 1867—Frühjahr 1868 entkommen schien. W o b e i ihm diese Einsicht zunächst aus der Erfahrung des Krieges 1 8 7 0 / 7 1 — man erinnere sich seiner Ausführungen im Abschnitt 1 des „Versuches einer Selbstkritik" der „Geburt der Tragödie" — und dann im G e f o l g e des Gerüchtes erwachsen sei, daß bei der Inbrandsetzung der Tuilerien durch die Kommunarden in Paris am 24. 5. 1871 auch der Louvre mit seinen unermeßlichen Kunstschätzen verbrannt wäre. D a ß diese Nachricht N i e t z s c h e in der T a t zutiefst erschüttert hat, das bezeugt ein Brief, den er am 2 1 . 6 . 1871 an Carl v o n Gersdorff geschrieben hat: Über den Kampf der Nationen hinaus hat uns jener internationale Hydrakopf erschreckt, der plötzlich so furchtbar zum Vorschein kam, als Anzeiger ganz anderer Zukunftskämpfe. Wenn wir uns einmal persönlich aussprechen könnten, wo würden wir übereinkommen, wie gerade in jener Erscheinung unser modernes Leben, ja eigentlich das ganze alte christliche Europa und sein Staat, vor allem aber die jetzt überall herrschende romanische „Civilisation" den ungeheuren Schaden verräth, der unserer Welt anhaftet: wie wir Alle, mit aller unserer Vergangenheit, s c h u l d s i n d an solchen zu Tage tretenden Schrecken: so daß wir ferne davon sein müssen, mit hohem Selbstgefühl das Verbrechen eines Kampfes gegen die Cultur nur jenen Unglücklichen zu imputiren. Ich weiß, was es sagen will: der Kampf gegen die Cultur. Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich für einige Tage völlig vernichtet und aufgelöst in Thränen und Zweifeln: die ganze wissenschaftliche und philosophisch-künstlerische Existenz erschien mir als eine Absurdität, wenn ein einzelner Tag die herrlichsten Kunstwerke, ja ganze Perioden der Kunst austilgen konnte; ich klammerte mich mit ernster Überzeugung an den metaphysischen Werth der Kunst, die der armen Menschen wegen nicht da sein kann, sondern höhere Missionen zu erfüllen hat. Aber auch bei meinem höchsten Schmerz war ich nicht im Stande, einen Stein auf jene Frevler zu werfen, die mir nur Träger einer allgemeinen Schuld waren, über die viel zu denken ist! —* N i e t z s c h e beschreibt hier seine erste tiefgreifende Erfahrung dessen, was er später den „passiven Nihilismus" nennt: daß die Menschen nach dem Verlust metaphysischer Sinnsetzungen nur noch das eine Ziel des
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Erdenglückes aller kennen, um dessentwillen sie alles aufs Spiel zu setzen bereit sind — selbst das von den Vätern ererbte Kulturgut, die großen Kunstwerke, die der Masse ohnehin bestenfalls zum Sonntagsvergnügen dienen, die Menschen wie Nietzsche aber als das einzige ansehen, was dem Leben Sinn zu geben vermag. Dabei deutet Nietzsche jetzt schon an, daß die sozialen Revolutionen in Gegenwart und Zukunft ihre Ursache in schweren Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit haben — im Hinblick auf die spätere Umwertung aller Werte gesprochen: in jenem Sieg Judäas über Rom, mit dem Nietzsche zufolge der Piatonismus in der Gestalt des Christentums und d. h. die Sklavenmoral zur herrschenden Geschichtsmacht erhoben wurde. Wenngleich Nietzsche in der Frühzeit auch noch nicht so klar sieht, was das Wesen des Christentums ausmacht, daß es dem deutschen — dem abendländischen — Wesen zutiefst fremd ist und als ein seine fernere Entwicklung hinderndes Joch abgeschüttelt werden muß, das erkennt er schon jetzt: Monotheismus als ein Minimum von poetischer Welterklärung. Bei den Juden ein Nationalgott, ein kämpfendes V o l k mit e i n e r Fahne: eine Sittlichkeitsrigorisität verkörpert, Strenge gegen sich selbst, imperativischer Gott (charakteristisch, daß er das O p f e r des einzigen Sohns verlangt). Unsre Nationalgötter und unsre Gefühle d a f ü r haben einen Wechselbalg d a f ü r bekommen: wir widmen diesem alle jene Empfindungen. D a s E n d e der R e l i g i o n ist da, nachdem man die Nationalgötter eskamotirt hat. Schreckliche Q u ä l e r e i hat dies in in der Kunst angerichtet. Ungeheure Arbeit des deutschen Wesens, jenes fremde unnationale J o c h abzuschütteln; und es gelingt ihm.
Der indische Hauch bleibt zurück; weil er uns verwandt ist.7 „ U n d es gelingt ihm" — das bezieht sich auf die Wiedergeburt der tragischen Kultur, die Nietzsche durch das Wagnersche Kunstwerk eingeleitet sieht. In ihm, so glaubt er, ist dem „deutschen Genius" jenes Mittel zugewachsen, mit dem er das fremde Joch abschütteln kann: das ist — auch nach Nietzsches späterer Selbstdeutung in „Ecce homo": „Einmal wird auf die christlichen Priester wie auf eine ,tückische Art von Zwergen', von ,Unterirdischen' angespielt .. ," 8 — die Bedeutung jener zunächst rätselhaft erscheinenden Passage, mit der Nietzsche den Abschnitt 24 der „Geburt der Tragödie" beschließt: Meine Freunde, ihr, die ihr an die dionysische Musik glaubt, ihr wisst auch, was für uns die T r a g ö d i e bedeutet. In ihr haben wir, wiedergeboren aus der Musik, den tragischen Mythus — und in ihm dürft ihr Alles hoffen und das Schmerzlichste vergessen! D a s Schmerzlichste aber ist für uns alle — die lange Entwürdigung, unter der der deutsche Genius, entfremdet von H a u s
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und Heimat, im Dienst tückischer Zwerge lebte. Ihr versteht das Wort — wie ihr auch, zum Schluss, meine Hoffnungen verstehen werdet. 9
Eine „künstlich eingeimpfte[... ] Religion" nennt Nietzsche in seinen Aufzeichnungen vom September 1870—Januar 1871 das Christentum, und er bemerkt: Entweder sterben wir an dieser Religion oder die Religion an uns. Ich glaube an das urgermanische Wort: alle Götter müssen sterben.10
Indes: Mag Nietzsche auch das metaphysische Prinzip des Christentums ablehnen — die Kraft, die im Ereignis des vermeintlichen Louvre-Brandes offenbar gewordene Sinnlosigkeit des Daseins fest ins Auge zu fassen und damit alle metaphysischen Tröstungen als lügnerisch hinter sich zu lassen, sie geht ihm noch ab: Nietzsche sucht sich — und zwar nicht nur vorübergehend, wie der Brief an Gersdorff nahelegen könnte, sondern all die Jahre der Freundschaft mit Wagner hindurch — wider besseres Wissen „an den metaphysischen W e r t h " der Kunst zu klammern, „die der armen Menschen wegen nicht da sein k a n n " : Er will nicht sehen, daß die Heillosigkeit der Gegenwart nicht durch den Verlust des metaphysischen Glaubens in unseren Tagen, sondern schon durch das Aufkommen desselben in der Vergangenheit verschuldet ist, insofern dieser der Erde das Gold genommen und es dem „ H i m m e l " zugesprochen hat: „Augenschließen" lautet knapp der Vorwurf, den Nietzsche im Rückblick gegen sich selbst erhebt. 11 Eine andere Gefährdung, die Nietzsche in der Frühzeit erblickt hat, lag, so der Plan vom Sommer 1878, in der „Schwächung des C u l t u r b e g r i f f s " infolge des Uberbordens des nationalen Bewegung nach der Reichsgründung beschlossen, will sagen: in der „ E x s t i r p a t i o n d e s d e u t s c h e n Geistes zu G u n s t e n des , d e u t s c h e n Reiches"'12, die Nietzsche in seiner 1. Unzeitgemässen Betrachtung, „David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller", am Typus des herrschenden „Kult u r m e n s c h e n , des Bildungsphilisters, aufgewiesen hat. Noch bedeutsamer ist für Nietzsche die nächste auf dem Plan angesprochene Gefährdung, die „historische Krankheit", gewesen, weil sie nicht nationalen, sondern epochalen Charakters ist. Wie der Mensch gegen diese Epidemie Halt gewinnen könne, diese Frage hat sich Nietzsche zunächst in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung gestellt. Schon hier hat er jenen Ausweg in den Blick genommen — ohne ihn dabei uneingeschränkt zu bejahen —, den er dann in der 3. Unzeitgemässen Betrachtung seinen Lesern vorbehaltlos anrät, nämlich die Welt in jener überhistorischen Sichtweise zu betrachten, in der sie die Schopenhauersche Metaphysik ansieht:
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„überhistorisch" nenne ich die Mächte, die den Blick vom Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt, zu K u n s t und R e l i g i o n . 1 3 ,
heißt es in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung, und in „Schopenhauer als Erzieher" mahnt er den Leser: Im Werden ist Alles hohl, betrügerisch, flach und unserer Verachtung würdig; das Räthsel, welches der Mensch lösen soll, kann er nur aus dem Sein lösen, im So- und nicht Anderssein, im Unvergänglichen. Jetzt fängt er an, zu prüfen, wie tief er mit dem Werden, wie tief mit dem Sein verwachsen ist — eine ungeheure Aufgabe steigt vor seiner Seele auf: alles Werdende zu zerstören, alles Falsche an den Dingen an's Licht zu bringen.14
Darunter versteht Nietzsche dasjenige, „was zwar an ihm selbst, was aber nicht eigentlich er selbst ist" — was bedeutet, daß der Mensch einen lebenslänglichen Kampf „gegen die falsche Anlöthung des Zeitgemässen an sein Unzeitgemässes" 15 führen muß, sofern er der Genius werden will, der er ist; was besagt, daß nur das Genie zu einem solchen Kampf in der Lage ist. Allein in dieser Hinsicht hätte Schopenhauer — wie ja auch der Titel „Schopenhauer als Erzieher" verrät — Nietzsche noch Vorbild sein können, nachdem er dessen System frühzeitig verworfen hatte. Im Sommer 1878 zeichnet Nietzsche auf: Mein Mißtrauen gegen das System v o n A n f a n g a n . Die P e r s o n trat hervor, er t y p i s c h als Philosoph und Förderer der Kultur. Am V e r g ä n g l i c h e n seiner Lehre, an dem, was sein Leben n i c h t ausprägte, knüpfte aber die a l l g e m e i n e V e r e h r u n g an — im Gegensatz zu mir. Die Erzeugung des Philosophen galt m i r als einzige Nachwirkung — aber m i c h selbst hemmte der Aberglaube vom G e n i u s . Augenschließen. 16
Diese — auch im „ P l a n " angesprochene — Hemmung durch den Aberglauben vom Genius bestand in einem Rückfall in die Denkweise des Schopenhauerschen Systems, als welcher ihm durch diesen Glauben gleich in doppelter Weise nahegelegt wurde: Zum einen hegte er nämlich die Auffassung, daß die Menschen nur dann an seiner Hervorbringung arbeiten würden, wenn dieser von der Aura metaphysischer Bedeutsamkeit umgeben ist. Zum anderen war das einzige lebende Genie, das er kannte, ein Anhänger der Schopenhauerschen Philosophie: Wagner erschien Nietzsche als Inkarnation des Schopenhauerschen Menschen, den er in seiner 3. Unzeitgemässen Betrachtung gezeichnet hatte, und als solche nicht nur als ein Vorbild, sondern auch als Mitstreiter in seinem Kampf gegen die Gefährdungen der Kultur. Doch im Unterschied zu der vorhergehenden Unzeitgemässen Betrachtung ist die im Plan angesprochene Schrift „Richard Wagner in Bayreuth" im Grunde nicht apologetisch gemeint; nur kurzsichtige Augen
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können übersehen, daß diese Abhandlung als Mahnung an Wagner verstanden werden will, den eigenen unzeitgemäßen Idealen treu zu bleiben. Freund! Ihr Buch ist ungeheuer! —
Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her? —17, schreibt Wagner am 13. 7. 1876 Nietzsche als Antwort auf die Zusendung der Schrift. Nietzsches Replik hätte lauten können: aus seinen eigenen Werken — stellt doch die 4. Unzeitgemässe Betrachtung nichts anderes als eine geschickte Kompilation von Wagnerschen Texten dar, an deren Versprechung, mit dem Kunstwerk der Zukunft auf die Schaffung einer neuen Gesellschaft, der Gesellschaft der „ M e n s c h e n d e r Z u k u n f t " 1 8 , abzuzielen, sich Richard Wagner in Bayreuth messen lassen muß. ( N u r wenn man das im Auge behält, wird einsichtig, warum Nietzsche die Schrift zunächst für unpublizierbar hielt: Er fürchtete sich — wie auch die überlieferten Entwürfe zu einem Begleitschreiben zeigen 19 — vor der Reaktion des Meisters und der Meisterin.) Daß diese Messung zuungunsten des Bayreuther Unternehmens ausfallen würde, das ahnte Nietzsche schon zwei Jahre vor dem ersten Festspielsommer; daß er sich selbst betrogen hatte, als er darauf vertraute, Wagner würde es um die Erneuerung der verrotteten Gesellschaft, um die Wiedergeburt der tragischen Kultur gehen 20 , zu dieser Einsicht bedurfte er des Anblickes biertrinkender Wagnerianer nicht: N u r um seiner Kunst eine Stätte in dieser W e l t zu bereiten, sehen wir ihn beschäftigt und activ: aber was geht uns ein Tannhäuser Lohengrin Tristan Siegfried an!,
haben wir bereits gelesen und gesehen, daß Nietzsche Wagners Friedensschluß mit dem Deutschen Reich letztlich darauf zurückführt, daß dieser Metaphysiker geblieben ist: D i e Verbesserung des Wirklichen ist nicht mehr das Ziel, sondern das Vernichten oder das H i n w e g t ä u s c h e n des Wirklichen.
Insofern gereicht seiner Kunst schließlich zur Schwäche, worin Nietzsche an sich eine ihrer Stärken zu erblicken geneigt ist: ihr sektiererischer Charakter, der „von dem Menschen eine unbedingte Entscheidung [verlangt]", insofern es „so schwer" ist, „von dort her zu dem einfachen Leben zurückzukehren". Ganz richtig hat Wagner nach Nietzsche gesehen, daß die Kultur in der Gegenwart „nur noch in der Form klosterhaft abgeschiedener Sekten" existieren kann — aber diese Abgeschiedenheit gestaltet sich in seinem Falle zum reinen Selbstzweck aus, insofern es nicht die Absicht seiner Kunst ist, die Menschen für den Kampf um eine geistige Erneuerung der Kultur zu konzentrieren, sie vielmehr die Menschen — entsprechend dem
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Schopenhauerschen Willen, dessen Kunstausdruck ja Wagners Musik sein soll — in ein dumpfes Treiben ohne Zweck zu stürzen sucht: nicht Steigerung, sondern Betäubung ist ihr Ziel: die Kunst ist nicht für den Kampf selber da, sondern für die Ruhepausen vorher und inmitten desselben,
mahnt Nietzsche darum in der 4. Unzeitgemässen Betrachtung. Doch diejenigen, an die sich dieses W o r t richtete, die Festspielbesucher von Bayreuth, bestätigten ihm, was er schon befürchtet hatte — mit den Worten des Sommers 1878 gesprochen: Wagnerianer wollen nichts an sich ändern, leben im Verdruss über Fades Conventionelles Brutales — die Kunst soll
zeitweilig
magisch sie
darüber hinausheben. Willensschwäche. 2 1
Genau das hat er schon Anfang 1874—Frühjahr 1874 im Auge, in der Antwort auf die Frage: Ob wohl ein Mensch besser zu werden vermag, durch diese Kunst und durch Schopenhauerische Philosophie? Gewiss in Betreff der Wahrhaftigkeit. Wenn nur in einer Zeit, in der die Lüge und Convention so langweilig und uninteressant ist, die Wahrhaftigkeit nicht so interessant wäre! So unterhaltend! Aesthetisch reizvoll!
Will sagen: Nietzsche erkennt, daß der Wagnerianer der alte Bildungsphilister in einem neuen Gewände ist — ein Bildungsphilister, der um den Kulturverfall unter Umständen weiß, dessen Einsatz für eine Umkehr dieser Entwicklung sich aber auf den Erwerb eines Bayreuther Patronatsscheines beschränkt; dessen Wahrhaftigkeit mithin nur so weit geht, als man jetzt eben wahrhaftig zu sein hat — auf eine Formel gebracht: für den es zeitgemäß ist, unzeitgemäß zu sein. Darin folgt er seinem Meister, den Nietzsche in seinen Aufzeichnungen von Anfang 1874—Frühjahr 1874 auch darum einen „versetzten Schauspieler" nennt 22 , weil sein Streben nach Wahrhaftigkeit nur so weit geht, als diese ihm nützen kann. Damit unterscheidet er sich von jenem Idealbild eines Menschen, dem Nietzsche nachzuleben trachtet. Von ihm — dem schopenhauerischen Menschen — spricht er in der 3. Unzeitgemässen Betrachtung: D e r S c h o p e n h a u e r i s c h e M e n s c h n i m m t das f r e i w i l l i g e L e i d e n d e r W a h r h a f t i g k e i t a u f s i c h , und dieses Leiden dient ihm, seinen Eigenwillen zu ertödten und jene völlige U m w ä l z u n g und Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu führen der eigentliche Sinn des Lebens ist. [ . . . ] also für sich und sein persönliches W o h l rein und von wundersamer Gelassenheit, in seinem Erkennen voll starken verzehrenden Feuers und weit entfernt von der kalten und verächtlichen Neutralität des sogenannten wissenschaftlichen Menschen, hoch emporgehoben über griesgrämige und verdriessliche Betrachtung, sich selbst immer als erstes Opfer der erkannten Wahrheit preisgebend, und im tiefsten von dem Bewusstsein durchdrungen, welche Leiden aus seiner
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Wahrhaftigkeit entspringen müssen. Gewiss, er vernichtet sein Erdenglück durch seine Tapferkeit, er muss selbst den Menschen, die er liebt, den Institutionen, aus deren Schoosse er hervorgegangen ist, feindlich sein, er darf weder Menschen, noch Dinge schonen, ob er gleich an ihrer Verletzung mit leidet, er wird verkannt werden und lange als Bundesgenosse von Mächten gelten, die er verabscheut, er wird, bei dem menschlichen Maasse seiner Einsicht, ungerecht sein müssen, bei allem Streben nach Gerechtigkeit: aber er darf sich mit den Worten zureden und trösten, welche Schopenhauer, sein grosser Erzieher, einmal gebraucht: „Ein glückliches Leben ist unmöglich: das Höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein h e r o i s c h e r L e b e n s l a u f , " 2 3 Doch
auch
Schopenhauer
entspricht
nur
bedingt
diesem
nach
ihm
benannten Menschenbild, treibt ihn doch seine überhistorische Sicht in eine V e r a c h t u n g des Wirklichen hinein, in der er sich ebenfalls enthoben glaubt, an einer V e r b e s s e r u n g desselben arbeiten zu müssen. S o schreibt Nietzsche in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung in A n k n ü p f u n g an eine P a s s a g e des ersten Teils von Schopenhauers H a u p t w e r k 2 4 : Ueberhistorisch wäre ein solcher Standpunkt zu nennen, weil Einer, der auf ihm steht, gar keine Verführung mehr zum Weiterleben und zur Mitarbeit an der Geschichte verspüren könnte, dadurch dass er die Eine Bedingung alles Geschehens, jene Blindheit und Ungerechtigkeit in der Seele des Handelnden, erkannt hätte; er wäre selbst davon geheilt, die Historie von nun an noch übermässig ernst zu nehmen.25 S c h o n hier verwirft Nietzsche jenen Standpunkt — anders als S c h o p e n h a u e r bejaht er das Leben trotz seiner G r a u s a m k e i t und Ungerechtigkeit: Doch lassen wir den überhistorischen Menschen ihren Ekel und ihre Weisheit: heute wollen wir vielmehr einmal unserer Unweisheit von Herzen froh werden und uns als den Thätigen und Fortschreitenden, als den Verehrern des Prozesses, einen guten T a g machen. Mag unsere Schätzung des Historischen nur ein occidentalisches Vorurtheil sein; wenn wir nur wenigstens innerhalb dieser Vorurtheile fortschreiten und nicht stillestehen! Wenn wir nur dies gerade immer besser lernen, Historie zum Zwecke des L e b e n s zu treiben! 26 W e n n er dann am Schluß seiner Betrachtung den Lesern als Gegenmittel g e g e n das Historische neben dem Unhistorischen, dem V e r g e s s e n , erneut das Überhistorische empfiehlt, so ist dieses W o r t nunmehr im Sinne der von ihm entworfenen monumentalischen Betrachtungsweise der Geschichte zu verstehen, einer Betrachtungsweise, die im G e g e n s a t z zur Schopenhauerischen sich nicht in der Kontemplation erschöpft, sondern zum Ergreifen und Gestalten der Geschichte drängt: in ihr gehen vita contemplativa und vita activa zusammen. S o kann Nietzsche im S o m m e r 1878 rückblickend s a g e n :
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Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick
Der S c h o p e n h a u e r s c h e M e n s c h trieb mich zur Skepsis gegen alles Verehrte Hochgehaltene, bisher Vertheidigte (auch gegen Griechen Schopenhauer Wagner) Genie Heilige — Pessimismus der Erkenntniss. Bei diesem U m w e g kam ich auf die H ö h e , mit den frischesten Winden. — Die Schrift über Bayreuth war nur eine Pause, ein Zurücksinken, A u s r u h e n . D o r t ging mir die U n n ö t h i g k e i t von Bayreuth für mich auf. 27 W a r u m er vorher der Ansicht gewesen war, Bayreuths bedürftig zu sein, das bedenkt er k u r z z u v o r : Das grösste Pathos erreichte ich, als ich den Schopenhauerischen Menschen entwarf: den z e r s t ö r e n d e n Genius, gegen alles Werdende. Als Gegenbedürfniss brauchte ich den aufbauenden metaphysischen Künstler, der einen schön träumen macht in solchem unheimlichen Tagewerk. Unzufriedenheit am t r a g i s c h e n D e n k e n gesteigert. 28 Aber der metaphysische Künstler, dem Nietzsche sich anvertraute, duldete nicht, daß man seine K u n s t nur als „ G e g e n b e d ü r f n i s s " ,
nämlich
als
Widerhalt der Wissenschaften betrachtete: Unter B e r u f u n g auf die tragische Erkenntnis der V o r l ä u f i g k e i t und Illusionshaftigkeit alles Endlichen lehnt die „ C u l t u r der Musik [ . . . ] die Wissenschaft, die Kritik a b " . Indem sie sich so „ a u s V e r a c h t u n g des W i r k l i c h e n " in ein Faulbett des Denkens legt, g e f ä h r d e t sie den Fort-schritt des Lebens: insofern ist sie in Nietzsches Augen
„zuletzt
culturfeindlich
und
fast
gefährlicher"
als
der
Sokratismus, den sie zu b e k ä m p f e n sucht. Jenes schlechte Gewissen, das z u f o l g e einer A u f z e i c h n u n g Nietzsches aus dem J a h r e 1875 (siehe Seite 203) die Künstler im Hinblick auf ihr lügnerisches Verhältnis zur „ W i r k l i c h k e i t " plagen muß, scheint W a g n e r abzugehen: sie können über den Charakter des Daseins nur auf kurze Zeit sich und andre täuschen — diese Täuschung ist ja das Wesen der Kunst —, aber dafür rächt sich an ihnen auch fortwährend das böse Gewissen und Wissen aller Künstler, wie sie den Dingen eine Larve mit reineren, freieren Zügen aufsetzen wollen, die immer wieder herabfallen muss. J a wenn Plato Recht hätte! Wenn der Mensch ein schönes Spielzeug in der Hand der Götter wäre! Wenn das Leben als eine Kette edler Spiele und Feste angeordnet werden könnte! Wenn das Dasein nichts als ein ästhetisches Phänomen wäre! Dann würde der Künstler nicht nur der vernünftigste, weiseste Mann sein, er fiele nicht nur mit dem Philosophen in Eins zusammen, er würde auch das leichteste Leben haben und dürfte mit gutem Gewissen wie Plato sagen: die menschlichen Dinge sind grossen Ernstes nicht werth. — Ob wir freilich dann eine Kunst haben würden? Ob der Künstler entstanden sein würde, wenn der Mensch selber ein Kunstwerk wäre? Ob nicht gerade das Dasein der Kunst beweist, dass alles Dasein ein unästhetisches böses und ernstes Phänomen ist? Man erwäge doch einmal, was ein wirklicher
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Absetzungen Denker, Leopardi, sagt. — Es wäre doch wahrlich zu wünschen, dass die Menschen keine Kunst nöthig hätten. 29
Daß Wagner dieses schlechte Gewissen abgeht, spricht Nietzsche wiederum seinem metaphysischen Ansatz zu. Im Sommer 1878 zeichnet er auf: N a c h t h e i l d e r M e t a p h y s i k : sie macht gegen die richtige O r d n u n g dieses Lebens gleichgültig — insofern gegen Moralität. 30
Was ihn zu Beginn seines Denkens an der Kunst angezogen hat und was ihn nach dem Durchgang durch die große moralische Verdächtigung des Lebens zu ihr wieder hinziehen wird, ihre Gleichgültigkeit gegenüber moralischen Kategorien, ihn Jenseits von Gut und Böse, das wird ihm, wie gesehen, schon im Jahre 1875 zum Anlaß, sich von seiner Artisten-Metaphysik und ihrem Grund-Satz, „daß nur als ästhetisches Phänomen die Welt sich rechtfertigen lasse" 31 , zu distanzieren: Ich war verliebt in die Kunst mit wahrer Leidenschaft und sah zuletzt in allem Seienden nichts als Kunst — im Alter, wo sonst vernünftigermaassen andere Leidenschaften die Seele ausfüllen. 32 ,
erkennt Nietzsche im Rückblick des Jahres 1878. Daß er mit diesem Ansatz aber noch anderes bezweckt hat, nämlich die Deutschen dazu anzuhalten, sich vom fremden Joch des Christentums zu befreien, wobei er, wie sich uns schon angedeutet hat, auf die Mithilfe Wagners glaubte zählen zu dürfen, das geht aus einer anderen Aufzeichnung aus dem Sommer 1878 hervor: Wie wurmstichig und durchlöchert das Menschenleben sei, wie ganz und gar auf Betrug und Verstellung aufgebaut, wie alles Erhebende, wie die Illusionen, alle Lust am Leben dem Irrthum verdankt werden — und wie in so fern der Ursprung einer solchen Welt nicht in einem moralischen Wesen, vielleicht aber in einem Künstler-Schöpfer zu suchen sei, wobei ich meinte daß einem solchen Wesen durchaus keine Verehrung im Sinne der christlichen (welche den Gott der Güte und Liebe aufstellt) gebühre, und sogar die Andeutung nicht scheute, ob dem deutschen Wesen diese Vorstellung, wie sie gewaltsam inokulirt, auch gewaltsam wieder entrissen werden konnte. Dabei meinte ich in Wagner's Kunst den W e g zu einem deutschen Heidenthum entdeckt zu haben, mindestens eine Brücke zu einer spezifisch unchristlichen Welt- und Menschenbetrachtung. „Die Götter sind schlecht und wissend: sie verdienen den Untergang, der Mensch ist gut und dumm — er hat eine schönere Zukunft und erreicht sie, wenn jene erst in ihre endliche Dämmerung eingegangen sind", — so werde ich damals mein Glaubensbekenntniß formulirt haben. 33
Statt von einem lastenden Joch spricht Nietzsche auch von einer blutenden Wunde, die dem germanischen Volksleib durch die Christianisierung beigebracht worden sei, eine Wunde, die — so Nietzsche wiederum im Sommer 1875 bis Ende September 1875 — die Deutschen
Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick
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fast zum Verbluten gebracht [hätte], man nahm (ihnen) Sitte Religion Sprache Freiheit. Sie sind nicht zu Grunde gegangen: aber daß sie eine tief
l e i d e n d e Nation sind, haben sie bewiesen, dadurch daß sie die M u s i k erfanden; sie haben den Segen der Krankheit erfahren. — 3 4
Anders als die Rede vom Joch ist das W o r t von der Erkrankung im Zusammenhang von Nietzsches „Lebensphilosophie" nicht als Metapher, sondern als verbum proprium aufzufassen. Damit reiht sich Nietzsche, wie das letzte Zitat deutlich macht, in die mit Novalis anhebende Reihe derer ein, welche die Krankheit als ein geiststeigerndes Mittel auffassen. Doch entfaltet sie in seinen Augen diese segensreiche Wirkung nur dort, wo ein im Kern gesundes Leben infiziert wird — nur ein gesundes Leben ist zur selbstheilenden Reaktionsbildung fähig, als welche die Schwächung in eine Stärkung, den Mangel in eine Fülle umwandelt: Gleich Goethe sieht Nietzsche in der Gesundheit nicht „das zufällige Fehlen einer Infektion, sondern die Fähigkeit zur Uberwindung von Krankheiten." 3 5 So erkennt Nietzsche an, daß das Christentum wie auch die Metaphysik, aufs Ganze gesehen den Menschen vertieft haben — die besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit verdanken sich ihnen —, doch dränge das Leben nun dazu, über den Glauben an ein dem Menschen fordernd gegenübertretendes Jenseits hinauszuschreiten, so zwar, daß sich die Metaphysik selbst abschafft: Indem sie nämlich den Menschen auf unbedingte Wahrhaftigkeit verpflichtet habe, müsse sich dieser im Zuge seines Strebens nach ihr eingestehen, daß die Wahrheit und mit ihr die ganze Metaphysik eine Fiktion ist: eine Erkenntnis, die den Menschen — Fluch und Segen zugleich — zu sich selbst befreie. O b wohl ein Mensch besser zu werden vermag, durch diese Kunst und durch Schopenhauerische Philosophie? Gewiss in Betreff der Wahrhaftigkeit.,
hatte sich Nietzsche Anfang 1874—Frühjahr 1874 in seinen Notizen zu Wagner angemerkt, wobei dessen Charakterisierung „als versetzter Schauspieler" zum Ausdruck bringt, daß Wagners eigene Wahrhaftigkeit in bezug auf die metaphysische Grundfrage nach der Wahrheit ihre Grenzen hat: Seit den Weihnachtstagen 1869 kannte Nietzsche Wagners Parzifal-Entwurf; bei seinem Besuch in Tribschen war dieser, wie aus Cosimas Tagebuch hervorgeht, mit ihm gelesen worden 3 6 : „schönste und erhebendste Erinnerung!", vermeldete 37 Nietzsche über diesen Besuch seinem Freund Rohde. Schon damals — und nicht erst, wie „Ecce h o m o " nahelegt 38 , bei der Ubersendung des fertigen Parsifal-Textes am 3. 1. 1878 —, wußte Nietzsche also, daß „Wagner fromm geworden [war] .. ," 39 . Doch mußte er selbst sich erst von seinem metaphysischen Bedürfnis befreien, ehe er die Gefahr dieser „Wandlung" Wagners begreifen konnte. Erst nachdem ihm „die U n n ö t h i g k e i t von Bayreuth für [s]ich"
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Absetzungen
aufgegangen war — äußerliches Zeichen war seine „Flucht" von den Generalproben für die ersten Festspiele ins „Kaltwasser-Bad" nach Klingenbrunn im Bayrischen Wald am 4. August 1876, von wo aus er indes schon am 12. August, dem Tage vor der ersten öffentlichen Aufführung des „Rheingold", auf Drängen der Schwester nach Bayreuth zurückkehrte, um dann endgültig am 27. August abzureisen —, erst nachdem er erkannt hatte, daß die Erkrankung des Lebens nicht durch eine Wiederbelebung metaphysischer Empfindungen, sondern allein durch deren radikale Destruktion zu überwinden ist, daß mithin der Nihilismus nicht aufgehalten werden, sondern in seine Krisis getrieben werden muß, erst dann konnte ihm Wagners letztes Werk zum Gegenstand schärfster Kritik werden. Am 1. Oktober 1876 begibt sich Nietzsche mit seinem neuen Freund Paul Ree nach Italien, um dort — der Baseler Erziehungsrat hat ihm ein Jahr Urlaub bewilligt — Heilung von seiner Krankheit zu suchen. Wohl bleibt ihm auch dort die leibliche Genesung versagt, aber die geistige Gesundung findet er: Im Sorrenter Heim Malwida von Meysenbugs gelingt es ihm, sich vom romantischen Pessimismus zu lösen, und, wie er ein Jahr später, im Frühling—Sommer 1878 aufzeichnet, 4 0 „die Moosschicht von 9 J a h r e n " zu heben: N u n wagt er es, auch öffentlich an seine im Oktober 1867—April 1868 entstandene, von uns eingangs unserer Arbeit besprochene umfangreiche Auseinandersetzung mit der Philosophie Schopenhauers anzuknüpfen. Vorsichtig sucht er in seinem Brief vom 19. 12. 1876, geschrieben in Sorrent aus Anlaß von Cosimas 39. Geburtstag, Meisterin und Meister, mit denen er 2 Monate vorher in eben jener Stadt zum letzten Male Umgang gepflogen hat, auf diese Wandlung vorzubereiten: w e r d e n Sie sich w u n d e r n , w e n n ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir fast plötzlich in's Bewußtsein getretene D i f f e r e n z mit Schopenhauer's Lehre eingestehe? Ich stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite; schon als ich über Sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles D o g m a t i s c h e daran h i n w e g sei; mir lag alles am M e n s c h e n . In der Z w i s c h e n z e i t ist meine „ V e r n u n f t " sehr thätig g e w e s e n — damit ist d e n n das Leben wieder um einen Grad schwieriger, die Last größer g e w o r d e n ! W i e wird man's nur am Ende aushalten? 4 1
Indes wäre es auch jetzt noch nicht zum Bruch gekommen, hätte Wagner Nietzsches Kritik gelten lassen: Mit der Ubersendung von „Menschliches, Allzumenschliches" stellte Nietzsche — anders als in seinen früheren Schriften — Wagner auf die Probe, ob er zu einer Auseinandersetzung im Sinne des Heraklitischen πόλεμος fähig war: Wirkung meiner Schriften: d a g e g e n sehr s k e p t i s c h . Ich sah P a r t e i e n . „Ich will warten, bis W a g n e r eine Schrift anerkennt, die g e g e n ihn gerichtet ist" sagte ich. 42 ,
Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick
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schreibt Nietzsche rückblickend im Frühling—Sommer 1878. Da wußte er, daß Wagner nur Jünger duldete. Allein — ohne einen unmittelbaren Ansprechpartner mußte Nietzsche fortan seinen Denkweg gehen, den er im Winter 1883—1884 als einen solchen fortgesetzter, im Zeichen der Wissenschaft stehender Zerstörung charakterisiert: Meine
Neuerungen.
[••·]
1.) Mein A n s t r e b e n gegen den Verfall und die zunehmende Schwäche der Persönlichkeit. Ich suchte ein neues C e n t r u m . 2.) Unmöglichkeit dieses Strebens e r k a n n t ! 3.) D a r a u f g i n g i c h w e i t e r i n d e r B a h n d e r A u f l ö s u n g ,
— darin f a n d ich für E i n z e l n e n e u e K r a f t q u e l l e n . Wir müssen Zerstörer sein!
43
Eine Aufzeichnung, welche die Behauptung des Planes vom Sommer 1878: „Die Kunst, die Natur, die Milde kommt wieder." berichtigt: Weil Nietzsche früh die Kunst und den Künstler mit dem Bayreuther Meister und seinem Werk gleichgesetzt hatte, konnte er sich von seinem Mißtrauen gegenüber ihrem metaphysischen Wesen lange nicht freimachen. Doch am Ende sollte Malwida von Meysenbug mit jenen Worten recht behalten haben, die sie Nietzsche Mitte Juni 1878 Nietzsche als Eindruck ihrer Lektüre von „Menschliches, Allzumenschliches" geschrieben hat44 — einmal abgesehen davon, daß der von ihr im folgenden angesprochene „Streifzug ins Gebiet der Analyse" den größten Teil von Nietzsches Denkweg ausmachen sollte: Sie werden ihn trinken den Kelch der Einsamen, muthig, unverzagt, des bin ich gewiss. Aber Sie werden noch in Ihrer Philosophie manche Phase durchmachen, des bin ich auch gewiss. Sie sind nicht zur Analyse geboren wie Ree; Sie müssen künstlerisch schaffen und trotzdem Sie sich gegen die Einheit sträuben, so wird Ihr Genius Sie doch wieder zu derselben führen wie in der Geburt der Tragödie, nur keine metaphysische mehr. Sie sollen bald hören wie ich das meine. Sie können nicht wie Ree mit dem anatomischen Messer Beine und Arme hinlegen und sagen so ist der Mensch zusammengesetzt. Bei Ihnen tritt die Minerva in vollem Strahlenglanze ihrer jungfräulichen Göttlichkeit, als vollkommne Gestalt hervor und wohl Ihnen dass das die Eigenart Ihres Genius ist und wohl uns dass Sie, nach einem Streifzug ins Gebiet der Analyse, zu derselben zurückkehren werden. Ich kann heute nichts weiter sagen denn ich bin todmüde.
Anhang
Zur Zitierweise Wenn nicht anders vermerkt, werden Nietzsches Texte zitiert nach der Kritischen Gesamtausgabe (KGW), hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin und New York, 1967 ff. U n d zwar Werke und nachgelassene Schriften in der Weise, daß eine Sigle den Titel anzeigt, die folgende Zahl den Abschnitt oder Aphorismus bezeichnet, worauf Angaben des Bandes und der Seite folgen. G T 4, 3/1, 34 bedeutet also: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Abschnitt 4, 1. Band der 3. Abteilung, Seite 34. Nachgelassene Aufzeichnungen werden so zitiert, daß zunächst der Zeitraum angegeben wird, aus dem die Aufzeichnung stammt, danach, durch ein Komma getrennt, der Fundort in der K G W , wobei die römische Zahl die Abteilung, die folgende arabische Zahl die N u m m e r des Manuskripts innerhalb dieser Abteilung und die arabische Zahl in der eckigen Klammer die N u m m e r des Fragments innerhalb des Manuskripts bezeichnet; danach folgen ebenfalls Angaben über den Band und die Seite. Frühjahr 1888, V I I I 1 4 [131], 8 / 3 , 105 f. besagt also, daß die Aufzeichnung aus dem Frühjahr 1888 stammt, daß man sie in der Abteilung VIII der K G W als Fragment Nr. 131 des Manuskripts Nr. 14 findet und dies in Band 8 / 3 auf Seite 105 f. Damit sind die zitierten Aufzeichnungen auch in der Kritischen Studienausgabe (KSA), hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 15 Bde., München, Berlin, N e w York 1980, ohne Schwierigkeiten aufzufinden. Als Siglen werden verwendet:
a) Von Nietzsche selbst herausgegebene Werke (mit Angabe des Erscheinungsjahres) DS FW GD GM GT HL JGB Μ MA NW SE SGT VM WA WB WS Za
Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, 1873. Die fröhliche Wissenschaft, 1882. Götzen-Dämmerung, oder: Wie man mit dem H a m m e r philosophirt, 1889. Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, 1887. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872. Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: V o m Nutzen und Nachtheil der Historie f ü r das Leben, 1874. Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, 1886. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, 1881. Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch f ü r freie Geister, 1878. Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen, 1889 (nicht ausgegeben, da Nietzsche auf die Veröffentlichung dieser Schrift zuletzt verzichtet hatte). Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, 1874. Sokrates und die griechische Tragoedie, 1871. Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch f ü r freie Geister, Anhang: Vermischte Meinungen und Sprüche, 1879. Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, 1888. Unzeitgemässe Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth, 1876. D e r Wanderer und sein Schatten, 1880. Also sprach Zarathustra. Ein Buch f ü r Alle und Keinen, 1883—85.
340
Zur Zitierweise
b) Von Nietzsche für den Druck fertig hinterlassene Schriften (mit Angabe des Entstehungsjahres) AC DD EH
Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum, 1888. Dionysos-Dithyramben, 1888/89. Ecce homo. Wie man wird, was man ist, 1888/89.
c) Die Manuskripte der Basler nachgelassenen Schriften (mit Angabe der Entstehungszeit) BA CV CV 1 CV 2 CV 3 CV 4 CV 5 DW GG GMD PHG ST WL
Ueber die Z u k u n f t unserer Bildungsanstalten, 5 Vorträge vom 16. 1., 6. und 27.2., 5. und 23.3. 1872. Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, Weihnachtstage 1872; darin: Ueber das Pathos der Wahrheit, Gedanken über die Z u k u n f t unserer Bildungsanstalten, Der griechische Staat, Das Verhältniss der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur, H o m e r ' s Wettkampf. Die dionysische Weltanschauung, Juni—Juli 1870. Die Geburt des tragischen Gedankens, Weihnachten 1870. Das griechische Musikdrama, Vortrag vom 18. 1. 1870. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Frühjahr 1873. Socrates und die Tragoedie, Vortrag vom 1. 3. 1870. Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, Sommer 1873.
Briefe werden zitiert nach ihrer Kritischen Gesamtausgabe (KGB), hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, N e w York 1975 ff. Zunächst wird dabei das Datum ausgewiesen, worauf entsprechende Angaben des Bandes und der Seite folgen, ζ. B. 26.1. 1887, III/5, 13 f. Dabei macht die römische Zahl deutlich, daß es sich um eine Abteilung der Briefausgabe handelt. Der Brief ist also im 5. Band der 3. Abteilung der K G B auf Seite 13 f. abgedruckt.
Weiter werden Texte aus folgenden Ausgaben der Werke Nietzsches zitiert: BAW
GA MusA SA
Die (insgesamt 5) Werkbände (1854—1869) der unvollständig gebliebenen Ausgabe: Friedrich Nietzsche, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, München 1933 ff. Großoktav-Ausgabe ( = Friedrich Nietzsche, Werke, 19 Bände und 1 Register-Band, Leipzig 1894 ff.). Musarionausgabe ( = Friedrich Nietzsche, Gesammelte Werke, 23 Bände, München 1920—1929). Schlechta-Ausgabe ( = Friedrich Nietzsche, Werke in 3 Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, München 7 1973).
Als Biographie wird herangezogen: Janz
Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, Biographie, 3 Bde., München 1981 (zitiert werden Band und Seite).
Zur Zitierweise
341
Andere zitierte Gesamtausgaben und Einzelwerke mit ihren Siglen: Ludwig Feuerbach, Sämtliche Werke, neu hrsg. v. Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl, 2. um 3 Ergänzungsbände (hrsg. v. Hans-Martin Sass) erweiterte Auflage, Stuttgart-Bad Cannstatt 1959—1964 (zitiert werden Band und Seite). Johann Wolfgang Goethe, Werke, H a m b u r g e r Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. v. Erich T r u n z , München 10 1974 (Sigle: H A ; bei den Nachweisen folgen Angaben des Bandes und der Seite). Johann Wolfgang Goethe, Briefe, Hamburger Ausgabe in 4 Bänden, hrsg. v. Robert Mandelkow, H a m b u r g 2 1968 (Sigle: HA-Briefe; bei den Nachweisen folgen Angaben des Bandes und der Seite). Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, hrsg. v. H e r m a n n Glockner, Stuttgart 1927 ff. (besondere Kurztitel: Ästhetik = Vorlesungen über die Ästhetik; Logik = Wissenschaft der Logik; Phänomenologie = Phänomenologie des Geistes; nachgewiesen werden Band und Seite). Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, 4., erneut überprüfter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Darmstadt 1960 (zitiert als „ W e r k e " ; es folgen Angaben des Bandes und der Seite). Gottfried Wilhelm Leibniz, Die philosophischen Schriften, hrsg. v. C. J. Gerhardt, 7 Bände, Berlin 1875—1890 (zitiert als „Schriften"; es folgen Angaben des Bandes und der Seite). Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, 5 Bände, o.O. und o.J.; darin: W a W I Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. I, Band 1; W a W II Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. II, Band 2; SG Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, Band 3, Seite 1 — 189; WN Über den Willen in der Natur, Band 3, Seite 300—479. Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hrsg. v. Dieter Borchmeyer, Frankfurt am Main 1983; darin: Beethoven, Band 9, Seite 38—147; Einleitung zum dritten und vierten Band [der „Gesammelten Schriften und Dichtungen"], Band 6, Seite 192—198; Das Kunstwerk der Zukunft, Band 6, Seite 9—157; O p e r und Drama, Band 7; Über die Benennung „Musikdrama", Band 9, Seite 271—277; Über die Bestimmung der Oper, Band 9, Seite 151 —182.
Anmerkungen Anmerkungen 1 2 3
Vorwort
Lou Andreas-Salome, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894. Karl Schlechta und Anni Anders, Friedrich Nietzsche, a. a. O., S. 7. E H , Die Geburt der Tragödie 1, 6 / 3 , 308.
Anmerkungen
1
zum
zum Abschnitt „Voraussetzungen — Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne"
Vgl. dazu Nietzsches Darstellung jener Lektüre im „Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre, 17 Oktober 1865 — 10 August 1867" (SA 3, 1 3 3 f . ) . N a c h Karl Schlechta, Der junge Nietzsche und Schopenhauer, in: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 26, 1939, S. 289—300, hat Nietzsche, auf der Suche nach einem „Schlüssel zu der seltsamen Chiffrenschrift der W e l t " (289), durch diese Lektüre seine damalige „innere N o t und Q u a l " (290) überwunden, die dadurch hervorgerufen wurde, „ d a ß ihm die Erscheinungen der praktischen Welt nicht zusammenliefen, daß er keinen Organisationspunkt der gegebenen, insbesondere der gesellschaftlichen Mannigfaltigkeit sah" (289). 2 Martin Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961, hier: Bd. 2, S. 239. 5 Ebd. 4 Zur Problematik der Schopenhauerschen Ideenlehre siehe: Friedhelm Decher, Wille zum Leben — Wille zur Macht, Eine Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche, W ü r z b u r g und Amsterdam 1984, S. 35—37. 5 W a W II, 212. 6 Vgl. dazu: Karl Schlechta, Der junge Nietzsche und Schopenhauer, a. a. O.; des weiteren: Fritz Sprengel, Nietzsche und das Ding an sich, Königsberg 1933, S. 7 f. und Charles Andler, Nietzsche. Sa vie et sa pensee, 6 Bde., Paris 1920—31, hier: Bd. 1, S. 121 f. und 142. 7 Gemeint ist der Philosoph Friedrich Ueberweg (1826—1871). Dieser Passus und die W e n d u n g von der „versteckten Kategorie" findet sich in: Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn Ί 8 6 6 , S. 267 f. (Siehe zu diesem Buch die folgenden Ausführungen.) 8 Nietzsche bezeichnet diese Art des Denkens in seinen späteren Schriften als „Redlichkeit". 9 Vgl. dazu Schopenhauers nachfolgende Ausführungen im Kapitel „ Ü b e r das metaphysische Bedürfnis des Menschen", das sich im 2. Bande seines Hauptwerkes findet: „ D a s Ganze der Erfahrung gleicht einer Geheimschrift und die Philosophie der Entzifferung derselben, deren Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden Zusammenhang bewährt." ( W a W II, 236) In seiner Philosophie ist es der Grundgedanke des Willens, „ d e r an alle Erscheinungen der Welt als ihr Schlüssel gelegt w i r d " (ebd., S. 239) und sie, so Schopenhauer, aufschließt. D a ß f ü r Nietzsche alle diese „Wege zur Metaphysik" (ebd., S.236) grundsätzlich versperrt sind, wollen wir hier bereits andeuten, indem wir eine Passage zitieren aus C V 1, in der Nietzsche die Metapher vom Schlüssel
Anmerkungen 9 bis 10 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
343
aufgreift: „Verschweigt ihm [dem Menschen] die N a t u r nicht das Allermeiste, ja gerade das Allernächste ζ. B. seinen eignen Leib, von dem er nur ein gauklerisches ,Bewußtsein' hat? In dieses Bewußtsein ist er eingeschlossen, und die Natur warf den Schlüssel weg." (3/2, 254) Vgl. auch die nachfolgende Notiz von Ende 1876—Sommer 1877, IV 21 [13], 4 / 2 , 465: „Schopenhauer zur Welt wie Blinder zur Schrift." 10
Schopenhauer denkt sich, wie Nietzsche erkannt hat, „eine Stufenfolge von Willenserscheinungen mit fortwährend sich steigernden Existenzbedürfnissen: um diese zu befriedigen, bediene sich die Natur einer entsprechenden Stufenfolge von Hülfsmitteln, unter denen auch der Intellekt vom kaum dämmernden Empfinden an bis zu seiner äußersten Klarheit seine Stelle habe. Bei einer derartigen Anschauung wird eine Erscheinungswelt vor die Erscheinungswelt gesetzt: wenn wir nämlich die Schopenhauerschen termini über das Ding an sich festhalten wollen. Auch schon vor der Erscheinung des Intellekts sehen wir das principium individ., das Gesetz der Causalität in voller Wirksamkeit. Der Wille ergreift das Leben in voller Hast und sucht auf alle Weise in die Erscheinung zu treten; er beginnt bescheidener Weise mit den untersten Stufen und dient gewissermaßen von der Pike auf. In dieser Gegend des Schopenhauersch(en) System(s) ist schon alles in W o r t e und Bilder aufgelöst: von den uranfänglichen Bestimmungen des Dings an sich ist alles, fast bis auf die Erinnerung verloren gegangen." (BAW 3, 359) In die gleiche Richtung geht aber auch die Kritik, die Schopenhauer an den ihm verhaßten zeitgenössischen Philosophien des Absoluten, an den Philosophien Hegels und Schellings, im 2. Bande seines Hauptwerkes übt: „Welche Fackel wir auch anzünden und welchen Raum sie auch erleuchten mag; stets wird unser H o r i z o n t von tiefer Nacht umgrenzt bleiben. Denn die letzte Lösung des Rätsels der Welt müßte notwendig bloß von den Dingen an sich, nicht mehr von den Erscheinungen reden. Aber gerade auf diese allein sind alle unsere Erkenntnisformen angelegt: daher müssen wir uns alles durch ein Nebeneinander, Nacheinander und Kausalitätsverhältnisse faßlich machen. Aber diese Formen haben bloß in Beziehung auf die Erscheinung Sinn und Bedeutung: die Dinge an sich selbst und ihre möglichen Verhältnisse lassen sich durch jene Formen nicht erfassen. Daher muß die wirkliche, positive Lösung des Rätsels der Welt etwas sein, das der menschliche Intellekt zu fassen und zu denken völlig unfähig ist; [ . . . ] . Diejenigen sonach, welche vorgeben, die letzten, d. i. die ersten Gründe der Dinge, also ein Urwesen, absolutum oder wie sonst man es nennen will, nebst dem Prozeß, den Gründen, Motiven oder sonst was, infolge welcher die Welt daraus hervorgeht oder quillt oder fällt oder produziert, ins Dasein gesetzt, ,entlassen' und hinauskomplimentiert wird, zu erkennen — treiben Possen, sind Windbeutel, wo nicht gar Scharlatane." ( W a W II, 240) W a s Schopenhauer, blind vor H a ß , in dieser Kritik, mit der er nichts anderes vorbringt, als was bereits Kant in Bezug auf die menschliche Erkenntnis behauptet hatte, übersieht, ist, daß sie auch seinen eigenen Entwurf trifft, insofern der Wille als das — wie es im ersten Band von „Welt als Wille und Vorstellung" heißt (544) — „allein Metaphysische oder das Ding an sich" Züge eines Absolutum trägt (ζ. B. geht die Welt, was an Hegels Ansatz gemahnt, aus des Willens Willen zur Selbsterkenntnis hervor, vgl. W a W I, 371). Zwar schränkt Schopenhauer im zweiten Band von „Die Welt als Wille und Vorstellung" seinen ursprünglichen Ansatz, der wie selbstverständlich von der Erkennbarkeit des Dinges an sich und der Ineinssetzung von Ding an sich und Wille ausgeht, dahingehend ein, daß der Wille nun nicht mehr als „das Ding an sich schlechthin und absolut" ( W a W II, 256) zu verstehen ist — plötzlich widerspricht, wie gehört, „das Erkanntwerden selbst schon dem An-sich-Sein" (ebd.) —, sondern nurmehr „die bei weitem unmittelbarste seiner Erscheinungen" (255) sein soll. Anders als im ersten Band, wo er den Willen als Ding an sich, als „ursprünglichen Willensakt", aus den empirischen, wohl nicht räum-, aber zeitgebundenen Willensakten durch „Abstraktion von dieser zeitlichen Form der Erscheinung" ( W a W I, 229) gewinnt, soll diese Abstraktion jetzt nicht mehr möglich sein: der Wille bleibt „noch insofern Erscheinung [ · . · ] , als mein Intellekt, der allein das der Erkenntnis Fähige ist, von mir als dem Wollenden noch immer unterschieden bleibt und auch die Erkenntnisform der Zeit selbst bei der innern Perzeption nicht ablegt"
Anmerkungen 10 bis 16 zum Abschnitt „Voraussetzungen" ( W a W II, 256). Dementsprechend bestimmt Schopenhauer in einer „nachgereichten" Definition die Metaphysik nunmehr dahingehend, daß sie wohl „über die Erscheinung, d. i. die N a t u r hinaus[geht] zu dem in oder hinter ihr Verborgenen (τό μ ε τ ά t ö φ υ σ ι κ ό ν ) , es jedoch immer nur als das in ihr Erscheinende, nicht aber unabhängig von aller Erscheinung betrachtend: sie bleibt daher immanent und wird nicht transendent" ( W a W II, 237). Insofern er aber seine Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung ebensowenig aufgibt wie sein methodisches Vorgehen, im Ausgang von der inneren Erkenntnis des Willens als dem Apriori des menschlichen Leibes zu der Deutung des An-sich der Erscheinungswelt überzugehen, tut Nietzsche recht daran, Schopenhauer im Hinblick auf den ursprünglichen, nämlich transzendenten Anspruch seiner Philosophie zu messen. — Im übrigen verdient herausgehoben zu werden, was bereits Margot Fleischer, Philosophische Aspekte von Wagners „Tristan und Isolde", in: Perspektiven der Philosophie 8, 1982, S. 135—161, hier: S. 155, Anm. 45 bemerkt hat: Wenn Schopenhauer es im 2. Band seines Hauptwerkes f ü r denkbar hält, daß „das Ding an sich [ . . . ] ganz außerhalb aller möglichen Erscheinung Bestimmungen, Eigenschaften, Daseinsweisen haben mag, welche f ü r uns schlechthin unerkennbar und unfaßlich sind und welche eben dann als das Wesen des Dinges an sich übrigbleiben, wann sich dieses, [ . . . ] , als Wille frei aufgehoben hat, daher ganz aus der Erscheinung herausgetreten und f ü r unsere Erkenntnis, d. h. hinsichtlich der Welt der Erscheinungen ins leere Nichts übergegangen ist" ( W a W II, 256) — dann heißt dies, daß relativ, nämlich in Bezug auf uns gesehen, das Wesen dieses „Dinges an sich" das Nichts ist ( „ W ä r e der Wille das Ding an sich schlechthin und absolut; so wäre auch dieses Nichts ein absolutes; statt daß es sich ebendort uns ausdrücklich nur als ein relatives ergibt", ebd.). 1/2, 159 f. In einem Brief an H e r m a n n Mushacke vom November 1866 bemerkt Nietzsche (1/2, 184): „ D a s bedeutendste philosophische Werk, was in den letzten Jahrzehnten erschienen ist, ist unzweifelhaft Lange, Geschichte des Materialismus, über das ich eine bogenlange Lobrede schreiben könnte. Kant, Schopenhauer und dies Buch von Lange — mehr brauche ich nicht." Zitat aus Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. Ο., S. 493. Ebd., S. 268. Ebd., S. 269. Wir werden sehen, daß Nietzsche später das menschliche Erkenntnisvermögen selber „als eine F o l g e eines zunächst künstlerischen Apparates" beurteilt (Sommer 1871—Frühjahr 1872, III 16 [13], 3 / 3 , 423). Gemeint ist der Literarhistoriker Rudolf H a y m (1821 —1901), der in seinem 1864 erschienenen Buch „Arthur Schopenhauer" (abgedruckt aus dem 14. Bande der Preußischen Jahrbücher, 1864, S. 45—91, 179—243; danach unsere Zitate) das Schopenhauersche System logisch zu widerlegen sucht: „Ein ganzes Nest von Irrthümern, von Erschleichungen und Uebereilungen.", heißt es auf S. 62. Die Abhandlung schließt mit den W o r t e n : „Ein Gemisch großer Schwächen und ungewöhnlicher Trefflichkeiten steht nach Allem der Mann, mit dem wir uns beschäftigt haben, in seltener Durchsichtigkeit vor uns. Es hält nichts desto weniger, so wie er ist, schwer, ihn unterzubringen. Er ist kein Philosoph, an dem Maßstab gemessen, den uns Kant oder Aristoteles an die H a n d geben. Die Intensität der Einbildungskraft, der Reichthum poetischer Anschauungen reicht weit nicht aus, ihn zum Dichter zu machen. Mit wie geistvollen Blitzen er einzelne wissenschaftliche Regionen beleuchtet hat, — in dem Bereiche strenger Wissenschaft ist kein Platz f ü r ihn. So genial er ist: diese Genialität hat sich zu keiner besonderen Virtuosität, zu keiner bestimmten wissenschaftlichen oder künstlerischen Leistung von dauerndem Werthe zusammengenommen. Wir sind versucht, ihn einen Dilettanten im eminenten Sinne des Wortes zu nennen. Einen Schriftsteller haben wir ihn genannt, und den Menschen müssen wir überdies als eine ,Merkwürdigkeit der Naturgeschichte' bezeichnen. So gehört er, wenn es doch eine Kategorie sein soll, in die Geschichte der deutschen Literatur und steht hier als eine einzige Erscheinung, als eine Rarität da. Man
Anmerkungen 16 bis 25 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
345
wird ihn von dort am Ende doch wieder für die Philosophie reclamiren, aber die Wahrheit ist: nicht was er gelehrt hat, sondern daß es einmal eine Zeit gegeben hat, in der, nach der Zersetzung großer wissenschaftlicher Systeme, ein lebhaft geträumter und geistreich ausgeführter Traum für Philosophie gegolten hat, das ist die Thatsache, welche in Zukunft die Geschichte der Philosophie zu erzählen haben wird." (S. 242 f.) — Nietzsche hat sich das Buch im J a h r 1865 zu Weihnachten gewünscht, s. den Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche vom 9 . 1 2 . 1865, 1/2, 99 ff. 17
1/2, 267 ff., hier S. 269.
18
Neben dem erwähnten Buch von Lange dürfte sich Nietzsche vor allem auf Kuno Fischers Kant-Buch (K.F., Geschichte der neueren Philosophen, Band 3 und 4 : Immanuel Kant. Entwicklungsgeschichte und System der kritischen Philosophie, Mannheim 1860) beziehen, das Nietzsche Ende 1867 gelesen hat (s. J a n z I, 199). Vorgreifend ist hier zu bemerken: Wenn Nietzsche in dem Richard Wagner gewidmeten Vorwort der „Geburt der Tragödie" ausführt ( 3 / 1 , 20), Kunst sei die „eigentlich metaphysische [ . . . ] Thätigkeit des Menschen", so ist dabei der gegen Schopenhauer gerichtete Hinter-Sinn „Metaphysik ist Kunst", d. h. Illusion mitzuhören, soll — was wir in dieser Arbeit versuchen wollen — der äußere Anschein blinder Wagner-Verehrung überwunden und hinter den Verfremdungen der „Schopenhauerischen und Kantischen Formeln" — so Nietzsche im „Versuch einer Selbstkritik" aus dem Jahre 1886 ( 3 / 1 , 13) — Nietzsches Eigenes aufgezeigt werden, nämlich „fremde und neue Werthschätzungen [ . . . ] , welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen giengen!" (Ebd.)
19
20
1/2 , 22 8 — 2 2 9, hier: S. 229.
21
In seiner Schopenhauer-Kritik notiert Nietzsche ( B A W 3, 3 5 3 f . ) : „Wenn wir also gegenwärtig darangehen jenen vorhin aufgestellten Satz, den Inbegriff des Schopenhauer(s)ch. Systems prüfend zu zerlegen, so steht kein Gedanke uns ferner als mit einer solchen Kritik Schopenhauer selbst auf den Leib zu rücken, ihm triumphirend die einzelnen Stücke seiner Beweise vorzuhalten und am Schluß mit hochgezognen Augenbrauen die Frage aufzuwerfen, wie in aller Welt ein Mensch mit einem so durchlöcherten System zu solchen Prätensionen komm(e)."
22
In die gleiche Richtung deutet auch Nietzsches aus der zweiten Hälfte des Oktober 1868 (1/2, 3 2 7 — 3 3 0 , hier: S. 328) stammende Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Deussens. Dieser scheint an ihn das Ansinnen gestellt zu haben, eine Kritik des Schopenhauerischen Systems zu schreiben — eine Aufgabe, der sich Nietzsche, wie wir wissen, bereits ein J a h r zuvor unterzogen hat. Und doch erwidert er Deussen: „Indem ich so an den Schluß Deines Briefes anknüpfe, erledige ich zugleich den dort mir zugemutheten Vorschlag. Lieber Freund, ,gut schreiben' (wenn anders ich dies Lob verdiene: nego ac pernego) berechtigt doch wahrhaftig nicht, eine Kritik des Schopenhauerschen Systems zu schreiben: im Übrigen kannst Du Dir von dem Respekt, den ich vor diesem ,Genius ersten Ranges' habe, gar keine Vorstellung machen, wenn Du m i r (i. e. homini pusillullullo!) die Fähigkeiten zutraust, jenen besagten Riesen über den Haufen zu werfen: denn hoffentlich verstehst Du unter einer Kritik seines Systems nicht nur die Hervorhebung irgend welcher schadhaften Stellen, mißlungner Beweisführungen, taktischer Ungeschicktheiten: womit allerdings gewisse überverwegne Uberwege und in der Philosophie nicht heimische Hayme alles gethan zu haben glauben. Man schreibt überhaupt nicht die Kritik einer Weltanschauung: sondern man begreift sie oder begreift sie eben nicht, ein dritter Standpunkt ist mir unergründlich. Jemand, der den Duft einer Rose nicht riecht, wird doch wahrhaftig nicht darüber kritisieren dürfen: und riecht er ihn: a la bonheur! Dann wird ihm die Lust vergehn, zu kritisieren."
23
B A W 3, 354.
24
G T 18, 3 / 1 , 114.
25
Siehe dazu den Abschnitt „Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena" in der „Kritik der reinen Vernunft".
Anmerkungen 26 bis 28 zum Abschnitt „Voraussetzungen" IV 28 [7], 4 / 3 , 363. Im folgenden kündet die Aufzeichnung im übrigen — neben der bei vielen Dichtern angesprochenen besonderen Atmosphäre protestantischer Sonntage — von der metaphysischen Aura, die Nietzsche der Musik zeitlebens angelastet hat: „Schwermüth(iger) Nachmittag — Gottesdienst in der Capelle zu Pforta, ferne Orgeltöne." Vgl. dazu: Mazzino Montinari, Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1875 bis 1879, in: Μ. M., Nietzsche lesen, Berlin, N e w York 1982, S. 22—37. 1/1, 201 f., hier: S. 202. Bei Feuerbach (VI, 222) heißt es: „ D e r Mensch ist der Anfang der Religion, der Mensch der Mittelpunkt der Religion, der Mensch das Ende der Religion." Auch in der dem oben abgedruckten Abschnitt unmittelbar vorhergehenden Passage gibt Nietzsche Feuerbachsche Gedanken wieder: „ D a s Christentum ist wesentlich Herzenssache; erst wenn es sich in uns verkörpert hat, wenn es Gemüth selbst in uns geworden ist, ist der Mensch wahrer Christ. Die Hauptlehren des Christentums sprechen nur die Grundwahrheiten des menschlichen Herzens aus; sie sind Symbole, wie das Höchste immer nur ein Symbol des noch H ö h e r n sein muß. Durch den Glauben selig werden heißt nicht(s) als die alte Wahrheit, daß nur das H e r z , nicht das Wissen, glücklich machen kann." Bei Feuerbach heißt es entsprechend (VI, 168): „Die Grunddogmen des Christenthums sind erfüllte Herzenswünsche — das Wesen des Christenthums ist das Wesen des Gemüths." Das Gefühl ist ihm zufolge (VI, 13): „Deine innigste und doch zugleich eine von Dir unterschiedene, unabhängige Macht, es ist i η Dir ü b e r Dir: es ist Dein eigenstes Wesen, das Dich aber a l s und w i e e i n a n d e r e s W e s e n ergreift, kurz Dein G o t t " (zu Feuerbachs Unterscheidung zwischen „ H e r z " und „ G e m ü t " in der dem Kognitiven ( „ V e r n u n f t " ) entgegengesetzten Sphäre des Emotionalen ( „ H e r z " ) siehe: Simon Rawidowicz, Ludwig Feuerbachs Philosophie, Ursprung und Schicksal, Berlin 1931, S. 90 f., Anm. 4). Und an anderer Stelle (VI, 169) bedenkt Feuerbach das Wesen der Religion als Flucht des menschlichen Gemütes vor der Vernunft: Es ist „gemüthlicher überhaupt, als sich selbst durch die V e r n u n f t zu bestimmen, sich von s e i n e m e i g e n e n G e m ü t h e b e s t i m m e n zu lassen, als wäre es ein anderes, wennschon im Grunde dasselbige Wesen." An einer anderen Stelle (MusA 1, S. 281) reduziert Nietzsche ganz im Sinne Feuerbachs Gott auf das Bedürfnis. In späteren Texten begegnen wir an zahlreichen Stellen dem mit Feuerbachs Absichten übereinstimmenden Bestreben Nietzsches, das Übermenschliche im Gottesbegriff auf das Menschliche zurückzuführen. Feuerbachs Gedanke: „ U m Gott zu bereichern, muss der Mensch arm werden; damit Gott Alles sei, der Mensch Nichts sein." (VI, 32) ist einer der Hauptgedanken in Nietzsches Metaphysik-Kritik. Zwar hat der Einfluß, den Feuerbach auf den jungen Nietzsche ausgeübt hat, in der Literatur über die beiden Denker gelegentlich Erwähnung gefunden, doch ist eine eingehende Untersuchung ihrer beider Beziehung bis heute ein desideratum. Simon Rawidowicz spricht von einer „Reihe von Stellen, die von einem tiefgehenden Einfluß Feuerbachs auf die Entwicklung Nietzsches zeugen" (a. a. O., S. 336), wobei er die Passagen im Auge hat, die wir bereits angeführt haben. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, H a m b u r g 7 1978, geht es um den Aufweis der Beziehung, die Nietzsche zum Linkshegelianismus der 40er Jahre gehabt hat, zu David Friedrich Strauß, Bruno Bauer, Max Stirner, Heinrich Heine und Karl Marx sowie zu Ludwig Feuerbach. Doch abgesehen davon, daß auch er es bei globalen Hinweisen beläßt — im Falle von Nietzsches Feuerbach-Kenntnissen befindet er sich zudem im Irrtum, wenn er sie allein durch Wagners Zürcher Schriften vermittelt sieht. Heiner Craemer, Religionskritik und tragische Erkenntnis, Studien zur Entwicklung des Willensbegriffes in Nietzsches Jugendschriften, Phil.-Diss. Köln 1969, hält es hingegen immerhin f ü r „wahrscheinlich", daß Nietzsche „auch aus anderen Quellen Kenntnis wenigstens von Teilen des ,Wesen des Christentums' hatte — manche Wendungen Feuerbachs gibt Nietzsche wortgetreuer wieder, als es nur von den Zürcher Schriften aus möglich gewesen wäre — " , doch belegbar scheint ihm „vorerst nur die Übermittlung durch Wagner zu sein" (S. 56, Anm. 1). Inzwischen weiß man: „1861 war er mit Ludwig
Anmerkung 28 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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Feuerbachs Schriften bekannt geworden; ,Wesen des Christentums' und ,Gedanken über T o d und Unsterblichkeit' erscheinen sogar auf dem Wunschzettel zum Geburtstag." So Curt Paul Janz im ersten Band seiner dreiteiligen Biographie (Janz I, 23; vgl. dazu BAW 1, 251.). Daß Nietzsche zumindest das erste W e r k tatsächlich gelesen hat, bezeugt aber eben jene oben zitierte Aufzeichnung f ü r seine Freunde Krug und Pinder. Ein solcher Beleg wäre jedoch gerade f ü r Craemers — in der Darstellung bisweilen allzu umständliche und häufig unklare — Arbeit vonnöten gewesen, weil sie als „treibende K r a f t " im Denken des frühen Nietzsche „den geschichtlich vom Linkshegelianismus bestimmten Entwurf einer nicht-stoizistischen ,Neuen R e l i g i o n ' " (8) ansieht. Er meint damit, „ d a ß Nietzsche mit Hilfe der religionskritischen Argumentation" — vor allem Feuerbachs, aber auch Strauß' — „ s e i n e n Ansatz der Wissenschaftskritik zur Durchführung bringt, damit aber zur Kritik d e r " — neuzeitlichen — „Erkenntnisgewißheit vorstößt" (11), die die Wahrheit als clara distincta et perceptio bestimmt: Sie verwerfe Nietzsche zufolge (Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3[51], 3 / 3 , 74) das Unlogische als Scheinbares und damit nicht Wesentliches und bekämpfe derweise wie die christliche Religion zugunsten einer „ I d e e " die diesseitige, sinnliche und in in ihrem Wesen unlogische Welt. D e r „ U m r i ß " des Nietzscheschen „Gegenzuges" zur stoizistischen Methode der Wissenschaft bestehe in einer „Neueinschätzung des Sinnlichen und der Kunst, gefaßt in die Formel ,Neue R e l i g i o n ' " (11). In U m k e h r u n g des überkommenen Begründungsverhältnisses führe Nietzsche das Logische auf das „ e r d i c h t e n d e [ . . . ] V e r m ö g e n [ . . . ] des Menschen" zurück (36) — ein „eigenständiger, neue Perspektiven eröffnender Nachvollzug der Feuerbachschen W e n d u n g zur ,Anthropologie'" (ebd.) mit ihrer Zurückstellung des (vermittelnden) Denkens hinter die jenem als Ursprüngliches vorausliegende Unmittelbarkeit, gehe doch dem Nietzscheschen Umkehren „die durch Feuerbach geprägte Formel der Vertauschung von Subjekt und Prädikat voraus — ,Was nämlich in der Religion P r ä d i c a t ist, das dürfen wir nur immer [ . . . ] zum Subject, was in ihr Subject, zum Prädicat machen, also die Orakelsprüche der Religion u m k e h r e n , gleichsam als contre-v0rites auffassen, — so haben wir das Wahre.' [VI, 74]" (37) Das aber bedeute, daß bei beiden, bei Nietzsche wie bei Feuerbach, die überlieferte Unterscheidung zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem — bei ersterem meint das auch: zwischen Unlogischem und Logischem — als solche keineswegs aufgegeben, sondern nur umgekehrt werde, was im Falle des Jüngeren zur Folge habe, daß seine umkehrende Neubegründung genötigt sei, „ihre Begründungsleistung mit Hilfe der vorgegebenen Begrifflichkeit (obzwar diese umdeutend) durchzuführen, ja überhaupt in den vorgeprägten Begriffen (sie umdeutend) zu reden" (40 f.) — Nietzsche müsse darum etwa in positivem Sinne „vom absolut U n l o g i s c h e n der Weltordnung" (III 3 [51], a . a . O . ; Hervorh. von mir, T h . B.) sprechen —, anstatt Begriffe zu verwenden, die aus der .eigensten T e n d e n z ' (41) der Neubegründung geprägt sind. Daraus erwachse eine wesentliche Zweideutigkeit der Sprache. Wichtiger aber ist noch eine andere von Craemer angedeutete (33) Konsequenz dieser Vorgehensweise, das Verhältnis von Sinnlich-„Un"logischem und Übersinnlich-Logischem — von, wie wir sagen wollen, Physischem und Metaphysischem — in seiner Rangfolge bloß umzukehren, anstatt den „ W e g zu einer neuen Auslegung des Sinnlichen" zu beschreiten (Heidegger, Nietzsche, a . a . O . , Bd. 1, S. 242), so zwar, daß das alte Ordnungsschema verwandelt werden würde: Indem die überkommene Unterscheidung beibehalten werde, wirke auch der Zwang zur Begründung fort, zur, wie wir sagen wollen: Rückführung der physischen Erscheinungen auf einen „metaphysischen" Grund ihres Erscheinens (siehe dazu im folgenden). In dem Fortwirken dieses Zwanges sieht Craemer anscheinend eine wesentliche Ursache dafür, daß Nietzsche schließlich an Schopenhauers Willensmetaphysik und -terminologie anknüpft, wobei sein eigenes Ansinnen einer Rehabilitierung der Sinnlichkeit eine Verbiegung (73), der Schopenhauersche Ansatz hingegen eine Verkehrung (110 ff.) erfahre. Schließlich sei als weitere Konsequenz dieser bloßen U m k e h r u n g des traditionellen Rangverhältnisses das Sinnliche wie bei Feuerbach nur das dem Denken gegenüber Ursprünglichere und nicht das Ursprüngliche schlechthin: „ D a s von der Neubegründung aufgenommene Ursprünglichere ist nicht eine gleichsam
Anmerkungen 28 bis 32 zum Abschnitt „Voraussetzungen" geschichtslose, neu eingreifende Möglichkeit, sondern ist das von der Vernunft Abgewiesene, vom Sichtvermögen des Daseins und der Allgemeinheit der Sprache ausgelassene, somit nur in einer wesenhaften Verkürzung noch bestehende b l o ß e Sinnliche." (41) Übernehme Nietzsche von Feuerbach auch die Rehabilitierung der Sinnlichkeit, so fasse er doch das Sinnliche anders als dieser, nämlich „vornehmlich als H ö r e n , ,musikalisches Empfinden' ([GA]I, 64), Musik, und als,unmittelbares Verständnis' des Tons [ . . . ] [ D W 2, 3 / 2 , 57 f.] — das freilich mit unter dem Einfluß der von Wagner ausgehenden Musik-Deutung." (39) Für den frühen Nietzsche bedeutsam seien die Linkshegelianer — außer Feuerbach nennt Craemer noch Strauß und Marx als Anknüpfungspunkte — auch noch im Falle seiner Kritik an der herrschenden, von der Wissenschaft geprägten Bildung, an der er bemängelt, daß sie dem Menschen keine Allseitigkeit oder Totalität — „seine ursprüngliche Seinsweise" (64) — zu vermitteln vermag: „Die Allseitigkeit versteht Nietzsche — dem Linkshegelianismus folgend — als Allseitigkeit der Bedürfnisse, — ihre Verwirklichung findet er in der griechischen Polis. Das Zwingende dieser geschichtlichen Beziehung liegt zweifellos darin, daß Nietzsche die Neueinschätzung der Sinnlichkeit, Leiblichkeit, Religiosität, die ihm als die Grundtendenz des Linkshegelianismus vorgegeben ist, auszusprechen und zu behaupten sucht durch die Wiederholung der griechischen Einschätzung von Sinnlichkeit und Leiblichkeit." (68 f.) Craemer erkennt darin einen wesentlichen „ G r u n d f ü r die Ausfaltung der linkshegelianischen ,Neuen Religion' zur Griechen-Deutung" (69). Von besonderer Bedeutung sei dabei, daß Nietzsche in U m k e h r u n g des religionskritischen Ansatzes von Feuerbach die Schöpfung der griechischen Götter ausdrücklich versteht „als n i c h t sich selbst Entäußern des Menschen, welche Entäußerung das Eigenste des Menschen, ihm entfremdet, vergegenständlicht zu den f ü r sich bestehenden Gestalten der Religion ihm gegenüberstellt", sondern begreift „als Verklärung, als die Göttlichkeit des menschlichen Daseins" (90 f.). — So bedenkenswert auch Craemers Ausführungen über Nietzsches Verhältnis zum Linkshegelianismus sein mögen, in unseren Augen bleiben sie doch in vielen Punkten fragwürdig. Abgesehen davon, daß eine Lektüre der linkshegelianischen Schriften f ü r Nietzsche — worauf Craemer selber wiederholt aufmerksam macht — nicht nachgewiesen werden konnte: es muß an der Arbeit moniert werden, daß sie zentrale Begriffe ihrer Argumentation nicht klärt; das gilt vor allem f ü r den Begriff „Bedürfnis", den Nietzsche aus der linkshegelianischen Diskussion übernommen und verwandelt haben soll, das trifft aber auch bereits f ü r den scheinbar selbstverständlichen Terminus „Linkshegelianismus" zu. Einer eingehenderen Erläuterung wäre auch der Ausdruck „stoizistische Methode der Wissenschaft" bedürftig gewesen. Wären diese Klärungen geschehen, so hätte die f ü r uns sehr wichtige (siehe das 6. Kapitel des 2. Teils unserer Abhandlung) Arbeit einiges an Präzision und damit an Uberzeugungskraft gewonnen. G D , Die „ V e r n u n f t " in der Philosophie 6, 6 / 3 , 73: „Die Welt scheiden in eine ,wahre' und eine ,scheinbare', sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant's (eines h i n t e r l i s t i g e n Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der decadence, — ein Symptom n i e d e r g e h e n d e n Lebens". Aus dieser Erkenntnis heraus schafft Nietzsche im folgenden Abschnitt „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel w u r d e " (6/3, 74 f.) den Gegensatz „wahre Welt — scheinbare W e l t " ab. So in dem Aufsatz „Willensfreiheit und F a t u m " vom April 1862, BAW 2, 60—62, hier: S. 60. BAW 2, 23—28, hier: S. 23. So Nietzsche auch noch 1878 in W S 1 , 4 / 3 , 178: „ V o m B a u m d e r E r k e n n t n i s s . — Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit: Freischeinlichkeit, aber keine Freiheit, — diese beiden Früchte sind es, derentwegen der Baum der Erkenntniss nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden kann." Anders als bei der frühen Aufzeichnung muß hier jedoch — das W o r t „Freischeinlichkeit" ist Anlaß d a f ü r : in den Augen Nietzsches hält sich der Mensch irrtümlicherweise f ü r frei — „ W a h r - S c h e i n " eher als „Anschein der Wahrheit" gehört werden, und doch bleibt auch hier, gerade weil die menschlichen Wahrheiten nur Wahrscheinlichkeiten, d. h. relative Wahrheiten sind, ein Rest von
Anmerkungen 32 bis 37 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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Ungewißheit: Es besteht auch die Möglichkeit, daß diese Wahrheiten Aufschein der (absoluten) Wahrheit sind. Anders gesagt: O b der Erkenntnis der Relativität menschlichen Wissens muß Nietzsche jeden Dogmatismus abweisen. — Wir haben hier einen kleinen Beleg dafür, wie grundlegend f ü r Nietzsches späteres Philosophieren die immer wieder übergangenen Reflexionen des Pfortaer Alumnus und des Bonner und Leipziger Studenten sind. Ausdrücklich wird diese Haltung Langes von Nietzsche erst spät, im Frühjahr 1884 (VII 25 [318], 7 / 2 , 90) kritisiert. Nietzsche zitiert zunächst aus dem Schlußkapitel der seit der 2. Auflage stark erweiterten und umgearbeiteten „Geschichte des Materialismus" — ihm lag die von H . Cohen besorgte 4. Auflage, eine einbändige Ausgabe aus dem Jahre 1882 vor: „Lange ρ 822 ,eine W i r k l i c h k e i t , wie der Mensch sie sich einbildet, und wie er sie e r s e h n t , wenn diese Einbildung e r s c h ü t t e r t wird: e i n a b s o l u t f e s t e s , v o n u n s u n a b h ä n g i g e s und doch von uns erkanntes Dasein — eine solche Wirklichkeit giebt es nicht.' ", um daran die Bemerkung anzuschließen: „ W i r sind thätig darin: aber d a s giebt dem Lange keinen Stolz!" Will sagen: Es erhebt Lange nicht, daß der Mensch die Welt des Seienden schafft, die er erkennt — er stellt, so werden wir unten ausführen, das Werden zum Seienden vor, um dann dieses als solches in die Unverborgenheit herzustellen —, daß der Mensch in seinem Wesen somit ein schöpferisches und nicht, wie die abendländische Uberlieferung vermeinte, ein erkennendes Lebewesen ist. Gemäß seiner späten Einsicht, daß alles, „was gemeinhin ,Philosophie' genannt wird; und dies bis hinab in deren letzte erkenntnißtheoretische Voraussetzungen", als ein moralisches Problem aufzufassen ist (Nietzsche an seinen Verleger N a u m a n n am 5. 10. 1887, III/5, 163), folgert Nietzsche, daß Lange eine Position der Sklavenmoral, d. h. eine Position des niedergehenden Lebens vertritt: „nichts trügerisches, wandelndes, abhängiges, unerkennbares also wünscht er sich — d a s sind Instinkte g e ä n g s t i g t e r Wesen und solcher, die noch moralisch beherrscht sind: sie ersehnen einen a b s o l u t e n H e r r n , etwas Liebevolles Wahrheit-Redendes — kurz diese Sehnsucht der Idealisten ist moralisch-religiös vom Sklavengesichtspunkte aus./Umgekehrt könnte unser Künstler-Hoheits-Recht darin schwelgen, diese Welt g e s c h a f f e n z u h a b e η/.subjektiv n u r ' , aber ich empfinde umgekehrt: w i r haben's geschaffen!" Den der Sache nach auf Kant und seine Lehre von der transzendentalen Einbildungskraft zurückgehenden Ausdruck „die dichtende V e r n u n f t " gebraucht Nietzsche beispielsweise in Μ 119, 5 / 1 , 111. BAW 2, 255—257, hier: S. 255 f. Es wird sich im weiteren Verlauf unserer Ausführungen zeigen, daß Nietzsche das W o r t „verkörpern" in diesem Zusammenhang in strengem Sinne gebraucht: Der Mensch begreift die Welt der Erscheinungen unter dem Bilde seines Körpers, er entwirft sie nach dessen Vorbild, weswegen alles Verstehen körperbildlich ist. In diesem Sinne heißt es in der „Kritik der reinen V e r n u n f t " , Anmerkung A 28 f. im Zusammenhang der transzendentalen Erörterung des Begriffs vom Räume: „ D e r Wohlgeschmack eines Weines gehört nicht zu den objektiven Bestimmungen des Weines, mithin eines Objekts so gar als Erscheinung betrachtet, sondern zu der besondern Beschaffenheit des Sinnes an dem Subjekte, was ihn genießt. Die Farben sind nicht Beschaffenheiten der Körper, deren Anschauung sie anhängen, sondern auch nur Modifikationen des Sinnes des Gesichts, welches vom Lichte auf gewisse Weise affiziert wird. Dagegen gehört der Raum, als Bedingung äußerer Objekte, notwendiger Weise zur Erscheinung oder Anschauung derselben. Geschmack und Farben sind gar nicht notwendige Bedingungen, unter welchen die Gegenstände allein vor uns Objekte der Sinne werden können. Sie sind nur als zufällig beigefügte Wirkungen der besondern Organisation mit der Erscheinung verbunden. Daher sind sie auch keine Vorstellungen a priori, sondern auf Empfindung, der Wohlgeschmack aber so gar auf Gefühl (der Lust und Unlust) als einer W ü r k u n g der Empfindung gegründet." In der philosophischen Hinsicht Kants ist der Wein objektiv und d. h. wesentlich nichts anderes als berechenbare res extensa, sein f ü r jeden Weintrinker wesentlicher Geschmack hingegen ist danach subjektiv
Anmerkungen 37 bis 43 zum Abschnitt „Voraussetzungen" und beiherspielend, unwesentlich. Wir versagen es uns, an dieser Stelle zu verfolgen, wie diese berechtigte, gleichwohl höchst gefährliche, von den modernen Naturwissenschaften geprägte Fragehinsicht, die „metaphysisch" insofern zu nennen ist, als sie vom unmittelbar gegebenen Phänomen auf seinen in ihm verborgenen, feststellbaren Grund zurückzugehen sucht, wie sehr diese reductio der Erscheinungen auf ein berechenbares „ W e s e n " unser gegenwärtiges Weltverhalten prägt. Der Blick auf unsere Umwelt lehrt es. Max Scheler, D e r Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Gesammelte Werke Band 2, Bern 595.
Vgl. Janz I, 404. 1Q 8 SG, 69. 109 W a W I, 38. 110 So zeichnet Nietzsche etwa im Sommer 1872—Anfang 1873 auf (III 19 [210], 3 / 4 , 72): „Zeit Raum und Kausalität sind nur E r k e n n t n i ß m e t a p h e r n , mit denen wir die Dinge uns deuten." Wenn Nietzsche dem Terminus „ M e t a p h e r " zunächst auch nur den Sinn „bildliche Ausdeutung" oder „anthropomorphisierende Übertragung" zueignet, so ist damit letztendlich doch ein sprachliches Phänomen gemeint, insofern zumindest der usuelle Charakter der Kategorie(n) aus einer sprachlichen Versteinerung erklärt werden muß. Bereits der frühe Nietzsche denkt dabei so wie der späte, der sich in der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " , in dem bereits zitierten 2. Abschnitt von „ D i e ,Vernunft' in der Philosophie" (6/3, 69), wie folgt hören läßt: Die Sinne „lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugniss m a c h e n , das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer ... Die ,Vernunft' ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen." Die V e r n u n f t aber ist „Sprach-Metaphysik" (ebd., S. 71).
362 111
Anmerkungen 111 bis 124 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
Winter 1872/73, III 23 [154], 3/4, 154. W L 1, 3/2, 372. 113 III 19 [125], 3 / 4 , 47. 114 N u r beiläufig sei bemerkt, daß darin jene „archäologische" Auffassung von „ W a h r h e i t " beschlossen liegt, die auch den Ansatz von Sigmund Freud kennzeichnet: „ W a h r " ist danach nicht jene uns zunächst und zumeist zugängliche Schicht sekundärer Bearbeitungen, sondern eine dahinter verborgen liegende, „ursprüngliche" Schicht. Wenn Freud selbst sein T u n wiederholt mit dem des Archäologen vergleicht — ζ. B. in der Abhandlung „ Z u r Ätiologie der Hysterie" aus dem Jahre 1896 (in: S. F., Studienausgabe Band VI, Hysterie und Angst, F r a n k f u r t / M . 1976, S. 51—81, hier: S. 54 und S. 60), in dem „Bruchstück einer Hysterie-Analyse" von 1905 (ebd., S. 83 bis 186, hier: S. 92) und in dem 1937 veröffentlichten Text „Konstruktionen in der Analyse" (in: ders., Studienausgabe Ergänzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik, F r a n k f u r t / M . 1975, S. 393 bis 406, hier: S. 396—398) —, dann ist das nicht etwa nur der Spleen eines Sammlers von Archäologica, vielmehr wird damit die Wissenschaft genannt, in der — man vergleiche etwa den Fall Schliemann — eine Grundüberzeugung des 19. Jahrhunderts am reinsten zum Ausdruck kommt: der Glaube, daß die Wahrheit (sprachlicher Zeichen) hinter einer imaginären Schicht in der Tiefe des realen Zeitraumes verborgen sei. Abgesehen von anderen geistesgeschichtlichen Beziehungen, zum Historismus etwa oder zum Sturm und Drang — scheint sie uns nicht zuletzt aus jenem Ereignis hervorzugehen, das auch, wie wir zeigen werden, Nietzsches denkerische Grundstellung prägt: der T o d Gottes. Seit diesem Ereignis nämlich ist der Sinn der göttlichen Zeichen, der sprachlichen Grund-Zeichen (cf. „ G o t t war das W o r t " , Joh. 1,1; „Die sprachen sind die scheyden, darynn dis messer des geysts stickt.", Martin Luther, An die Ratherren aller Städte deutschen Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen [1524], in: Weimarer Ausgabe, Bd. X V , Weimar 1899, S. 9—53, hier: S. 38), ein abwesender, können sie nicht mehr als reale Präsentation eines Imaginären, sondern nur noch — siehe Schliemann — als imaginäre Vergegenwärtigung eines längst vergangenen Realen gelesen werden. Letztlich aber heißt das, daß die sprachlichen Zeichen überhaupt die Kraft unmittelbarer Präsentation verloren haben, siehe Kleist und Hölderlin, siehe aber auch, wenngleich auf niederem Niveau, Freud, f ü r den das Ereignis des Todes Gottes bedeutet, daß Gott nunmehr unbewußt ist. (Laut Jacques Lacans Auslegung von Freuds Mythos der Vatertötung, womit die Kultur begründet wird [in: J. L., Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Buch X I des Seminars von J. L., übers, v. Norbert Haas, Ölten und Freiburg im Breisgau 1978, S. 65], „wäre die einzige zutreffende Formel f ü r den Atheismus nicht: Gott ist tot — indem er den Ursprung der Funktion des Vaters auf seine T ö t u n g gründet, schützt Freud den Vater — die einzige zutreffende Formel f ü r den Atheismus wäre: daß Gott unbewußt ist") Bzw. daß nunmehr das Unbewußte, der Un-Sinn, Gott ist. Vgl. dazu Nietzsches Aphorismus „Historia in nuce" in V M 22, 4 / 3 , 24: ,, ,im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn w a r , bei Gott! und Gott (göttlich) war der U n s i n n . ' " Bei Mallarme schließlich radikalisiert sich diese Absenz des Sinnes dahingehend, daß sprachliche Zeichen Nichts — nur sich selbst bezeichnen. 115 W a W I, 40: „Im bloßen Raum wäre die Welt starr und unbeweglich: kein Nacheinander, keine Veränderung, kein Wirken". 116 Ebd., S. 41. 117 Ebd., S. 40 f. 118 GT, Versuch einer Selbstkritik 3, 3/1, 9. 119 P H G 5, 3/2, 317. >20 P H G 12, 3/2, 343. 121 Frühjahr 1873, III 26 [11], 3 / 4 , 176 f. 122 Ein Einwand gegen Schopenhauer, der sich schon in Nietzsches früher Auseinandersetzung mit dessen H a u p t w e r k findet, s. Anm. 10. 123 Schlechta/Anders, a . a . O . , S. 148. 124 Ebd., S. 119. 112
Anmerkungen 125 bis 127 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
363
Vgl. ζ. B. Mai—Juli 1885, VII 35 [56] und [61], 7 / 3 , 259 f. Der Satz der Identität hat f ü r Spir nicht nur einen logischen, sondern auch einen ontologischen Status: „An sich in seinem eigenen Wesen ist ein jedes reale Objekt mit sich selbst identisch und unbedingt." (African Spir, Denken und Wirklichkeit, Bd. 1, Leipzig 1873, S. 257) Was insofern eine apriorische Aussage sein soll, als kein Gegenstand der Erfahrung weder mit sich vollkommen identisch noch unbedingt sei. Die weiteren Hauptfolgerungen sind: 2. Das allgemeine Gesetz der Veränderungen ist der Satz der Kausalität, ein aus dem Satz der Identität und den Daten der Erfahrung gewonnener synthetischer Satz. 3. Es sind zu unterscheiden die „ w a h r e " , mit dem eigentlichen, unbedingten Wesen der Dinge zusammenfallende Substanz und die „empirisch erkennbaren" Substanzen unserer „Körper"-Welt. 4. Das Verhältnis der Welt unserer Erfahrung zu dem wahren Wesen der Dinge ist weder erkennbar, noch kann die gegebene Wirklichkeit aus dem Unbedingten abgeleitet werden, weil dieses als ein Unbedingtes auch als ein Unbedingendes gedacht werden muß. Zwar distanziert sich Spir mit dieser letzten Hauptfolgerung, die von Nietzsche mehrfach, z.B. in der Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge" (3/2, 378: „ D a s W o r t Erscheinung enthält viele Verführungen, weshalb ich es möglichst vermeide: denn es ist nicht wahr, dass das Wesen der Dinge in der empirischen Welt erscheint.") und in MA 16, 4 / 2 , 34 ff. aufgegriffen worden ist, von allen metaphysischen Bestimmungsversuchen, doch ist er in dieser Zurückweisung weniger radikal als Nietzsche: Hebt sie auf der einen Seite dessen Kritik an Schopenhauer, daß dieser die Welt aus dem vom Gesetz der Kausalität entbundenen Willen eben nach diesem Gesetz hervorgehen läßt, ins Grundsätzliche, so bleibt sie doch auf der anderen Seite hinter Nietzsches, von Lange überkommenem Gedanken zurück, daß bereits der Begriff eines „wahren Wesens der Dinge", d. h. f ü r Nietzsche: eines unserer Welt der Erscheinung und des Werdens entgegengesetzten (absoluten) Seins, nichts ist „als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat." Indes führt diese Erkenntnis erst spät, im August-September 1885, zu einer expliziten Kritik an Spir (VII 40 [12], 7 / 3 , 365). Im Anschluß an ein Spir-Zitat („ .Logische Gesetze' bei Spir I p. 76 definirt als allgemeine Principien von Affirmationen über Gegenstände d. h. eine innere N o t w e n d i g k e i t , etwas von Gegenständen zu glauben'.") bemerkt Nietzsche: „Meine Grundvorstellungen: ,das Unbedingte' ist eine regulative Fiction, der keine Existenz zugeschrieben werden darf, die Existenz gehört nicht zu den nothwendigen Eigenschaften des Unbedingten. Ebenso ,das Sein', die .Substanz' — alles Dinge, die nicht aus der Erfahrung geschöpft sein s o l l t e n , aber thatsächlich durch eine i r r t h ü m l i c h e A u s l e g u n g d e r E r f a h r u n g a u s i h r g e w o n n e n s i n d . " W e n n er dann des weiteren gegen Spir bemerkt (VII 40 [41], 7 / 3 , 382): „Es giebt keine unmittelbaren Empfindungen", so ist auch diese Kritik schon älteren Datums. Im Frühling—Sommer 1877 schreibt Nietzsche (IV 22 [113], 4 / 2 , 496): „Bewusstes Empfinden ist Empfindung der Empfindung, ebenso bewusstes Urtheilen enthält das Urtheil dass geurtheilt wird. D e r Intellect ohne diese Verdoppelung ist uns unbekannt, natürlich. Aber wir können seine Thätigkeit, als die viel reichere, aufzeigen. (Es ergiebt sich, dass ,Empfindung' in dem ersten Stadium empfindungslos ist. Erst der Verdoppelung kommt der N a m e zu. Bei der Verdoppelung ist das Gedächtniss wirksam.) Fühlen ohne dass es durch das Gehirn gegangen ist: was ist das? — Lust und Schmerz reichen nur so weit als es Gehirn giebt." Und etwa zur gleichen Zeit, Ende 1876—Sommer 1877, da Nietzsche sich entschieden einer antimetaphysisch-genealogischen Betrachtungsweise der Phänomene verschreibt, spricht er in einer gegen Schopenhauer gerichteten Aufzeichnung (IV 23 [80], 4 / 2 , 527) den ζ. B. als Lust, Schmerz oder Begehren bestimmten Empfindungen eine vom historischen Wandel unberührt gebliebene Ursprünglichkeit ab, seien sie doch geprägt von der Geschichte des Intellektes oder Geistes: „was einer ζ. B. bei der Liebe empfindet, ist das Ergebniß alles Nachdenkens darüber, aller je damit verbundenen Metaphysik, aller verwandten m i t e r k l i n g e n d e n N a c h b a r s t i m m u n -
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Anmerkungen 127 bis 142 zum Abschnitt „Voraussetzungen" g e n . " (Zur Frage unmittelbarer Gewißheiten vgl. des weiteren Anm. 190.) — Während sich Spir mit der Annahme eines solchen wahren Wesens der Dinge in Nietzsches Augen gleich Kant als Metaphysiker erweist, sieht sich Nietzsche selbst, wie erwähnt, genötigt, von der Verwerfung des Dinges an sich zu derjenigen des überlieferten Begriffes der Wahrheit fortzuschreiten, insofern dieser, nach seinem auf absolute Wahrheit bezogenen Verständnis, ein solches wahres Wesen der Dinge voraussetzt — das W o r t auch im transitiven Sinne verstanden: Uberwindung der Metaphysik bedeutet f ü r Nietzsche nicht zuletzt die Anerkennung, daß jedwede „absolute" Wahrheit von uns als eine solche vorausgesetzt wird, daß sie somit von uns entworfene Wahrheit f ü r uns und derweise, was der phänomenale Blick bestätigt, der historischen Dimension, dem Werden unterworfen ist (s. dazu beispielsweise MA 16, 4 / 2 , 32 ff. sowie die eben zitierte Aufzeichnung IV 23 [80], 4 / 2 , 527). Das gilt indes, wie Nietzsche erkennt, nicht zuletzt auch f ü r das, was unter „ W a h r h e i t " selbst zu verstehen ist — weswegen sich die „Bestimmung" dessen, was „ W a h r h e i t " ist, daran ausrichten muß, daß sie selbst wird, daß sie ein Geschehen, ein Prozeß ist. Das eben belegt, wie Anni Anders (Schlechta/Anders, a. a. O., S. 121) zu Recht bemerkt hat, u. a. die Tatsache, daß Nietzsche „in der ,Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen' ein ausführliches Zitat aus Spirs ,Denken und Wirklichkeit' (S. 264) [bringt], das die Realität der Sukzession der Vorstellungen und damit die Realität der Zeit, gegen Parmenides (Spir führt den Beweis gegen Kant) zu beweisen sucht" (vgl. P H G 15, 3 / 2 , 351). W a W I, 166. Vgl. auch ebd., S. 229 f.: „Was durch die notwendige Entwickelung in der Zeit und das dadurch bedingte Zerfallen in einzelne Handlungen als empirischer Charakter erkannt wird, ist, mit Abstraktion von dieser zeitlichen Form der Erscheinung, der intelligible Charakter nach dem Ausdrucke Kants, der in der Nachweisung dieser Unterscheidung und Darstellung des Verhältnisses zwischen Freiheit und Notwendigkeit, d. h. eigentlich zwischen dem Willen als Ding an sich und seiner Erscheinung in der Zeit, sein unsterbliches Verdienst besonders herrlich zeigt." Wie wir in Anm. 10 bereits dargelegt haben, revidiert Schopenhauer im zweiten Teil seines Hauptwerkes schließlich die in diesem Zitat sich aussprechende Ansicht, daß es möglich sei, von der Erkenntnisform der Zeit zu abstrahieren und so zum Ding an sich in seiner Absolutheit vorzustoßen. Siehe das Zitat in Anm. 129. SG, 171. Nicht zu diesen Empfindungen rechnet Schopenhauer „die Affektionen der rein objektiven Sinne, des Gesichts, Gehörs und Getastes, wiewohl auch nur, sofern diese O r g a n e auf die ihnen besonders eigentümliche, spezifische, naturgemäße Weise affiziert werden, welche eine so äußerst schwache Anregung der gesteigerten und spezifisch modifizierten Sensibilität dieser Teile ist, daß sie nicht den Willen affiziert; sondern, durch keine Anregung desselben gestört, nur dem Verstände die Data liefert, aus denen die Anschauung w i r d " ( W a W I, 159). Sie sind darum ,,[u]nmittelbar als bloße Vorstellungen zu betrachten" (ebd.). D W 4, 3/2, 64. Vgl. den Brief an Rohde vom 11.11. 1869, I I / l , 72—74. Sommer—Herbst 1873, III 29 [52], 3/4, 256—258, hier: S. 258: „Ekelhaftes Buch, eine Schande f ü r die Zeit! Wie unendlich reiner, höher und sittlicher wirkt Schopenhauers Pessimismus! Diese Hartmannsche Philosophie ist die F r a t z e d e s C h r i s t e n t h u m s , mit ihrer absoluten Weisheit, ihrem jüngsten T a g , ihrer Erlösung usw." ΠΙ 7 [164], 3 / 3 , 210. III 7 [165], 3 / 3 , 210. III 12 [1], 3 / 3 , 375—387, hier: S. 378 f. Ebd., S. 379. Anfang 1871, III 10 [1], 3/3, 345—363, hier: S. 349. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [132], 3 / 4 , 49. W a W I, 240. P H G 5, 3/2, 317.
Anmerkungen 143 bis 175 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 143
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3 / 4 , 179, Hervorhebung von mir, T h . B. 1 44 Ebd. Ebd. i4 Ebd. >47 Ebd. 1 48 Ebd., S. 179 f. 149 Vgl. dazu, was Nietzsche im Frühjahr-Herbst 1881 aufzeichnet (V 11 [281], 5/2, 447): „Erst das Nacheinander bringt die Ζ e i t Vorstellung hervor. Gesetzt, wir empfänden nicht Ursachen und Wirkungen, sondern ein continuum, so glaubten wir nicht an die Zeit. Denn die Bewegung des Werdens besteht n i c h t aus r u h e n d e n Punkten, aus gleichen Ruhestrecken. ® Die äußere Peripherie eines Rades ist ebenso wie die innere Peripherie, immer bewegt und, obschon langsamer, doch im Vergleich zur schneller bewegten inneren, n i c h t r u h e n d . Z w i s c h e n langsamer und schneller Bewegung ist mit der ,Zeit' nicht zu entscheiden. Im absoluten Werden kann die K r a f t nie ruhen, n i e U n k r a f t sein:,langsame und schnelle Bewegung derselben' mißt sich n i c h t an einer Einheit, welche da fehlt. Ein continuum von Kraft ist o h n e N a c h e i n a n d e r und o h n e N e b e n e i n a n d e r (auch dies setzte wieder menschlichen Intellekt voraus und Lücken zwischen den Dingen). O h n e Nacheinander und Nebeneinander giebt es f ü r u n s kein Werden, keine Vielheit — wir k ö n n t e n nur behaupten, jenes continuum sei eins, ruhig, unwandelbar, kein Werden, ohne Zeit und Raum. Aber das ist eben nur der menschliche G e g e n s a t z . " 150 P H G 5, 3 / 2 , 318, Hervorhebung von mir, T h . B. 'S' Ebd. 152 III 26 [12], 3 / 4 , 177—181, hier: S. 179. '53 III 26 [11], 3 / 4 , 176 f., hier: S. 177. 154 Ebd., S. 176. '55 Ebd. Kr. d. r. V., A 42, Β 59. 157 P H G 11, 3/2, 340. 158 W L 1, 3 / 2 , 377. 159 III 19 [156], 3 / 4 , 56. 160 III 19 [146], 3 / 4 , 53. 161 III 19 [159], 3 / 4 , 57. 162 4 / 2 , 153 f., hier: S. 154. 163 III 19 [75], 3 / 4 , 31 f. P H G 3, 3 / 2 , 307. 165 III 19 [76], 3 / 4 , 32. 166 P H G 3, 3 / 2 , 308. 167 Bereits der erste Satz der „Geburt der T r a g ö d i e " spricht implizit von der Intuition: „Wir werden viel f ü r die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des A p o l l i n i s c h e n und des D i o n y s i s c h e n gebunden ist" (3/1, 21; kursivierte Hervorhebung durch mich, Th. B.), woraus zu schließen ist, daß diese philosophische Konzeption auf ebendiesem Wege gewonnen worden ist. Unsere Auslegung dieser Schrift wird zeigen, daß sie selbst in bestimmter Hinsicht nichts anderes versucht, als das Wesen dieses Denkens zu beschreiben. 168 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [80], 3 / 4 , 34 f., hier: S. 34. ι*9 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [78], 3 / 4 , 33. 170 W a W II, 488. 171 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [62], 3 / 4 , 28. 172 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [78], 3 / 4 , 33. 1 7 3 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [79], 3 / 4 , 33 f., hier: S. 33. 174 Wie Anm. 172. 175 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [217], 3 / 4 , 75: „Ähnliches mit Ähnlichem identificiren
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Anmerkungen 175 bis 184 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
— irgend welche Ähnlichkeit an einem und einem andern Ding ausfindig machen ist der Urprozeß." 1 7 6 W e r fühlte sich hier nicht entfernt an manche Ausführungen Heideggers erinnert? — sowohl an solche wie die in Anm. 100 zitierten über das Verhältnis von Metaphysik und Wissenschaft als auch an solche wie diese, die, eingedenk der ontologischen Differenz, das Denken — in Anknüpfung zunächst an Kierkegaard — auf einen „ S p r u n g " (Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 5 1978, S. 95) verweisen, um das Geschick des Seins anzudenken: „ D e r Sprung bringt das Denken ohne Brücke, d. h. ohne die Stetigkeit eines Fortschreitens, in einen anderen Bereich und in eine andere Weise des Sagens." (Ebd., S. 95) Das meint: Dieser Bereich des Seins ist aus demjenigen des Seienden nicht ableit- oder beweisbar, wenn anders „beweisen heißt: Sätze über einen Sachverhalt aus geeigneten Voraussetzungen durch Schlußketten herleiten" (Μ. H., Was heißt Denken?, in: Vorträge und Aufsätze, Teil 2, Pfullingen 3 1967, S. 3 — 1 7 , hier: S. 8). Für den Bereich des Seins aber gibt es keine derartigen ihm vorangehenden Voraussetzungen. So ist er allein erfahrbar („Alles Denken muß [ . . . ] im Hinblick darauf, was es zu denken gibt, in einer Erfahrung bewandert bleiben", Der Satz vom Grund, S. 119). D o c h anders als Heidegger beharrt Nietzsche, wie gesehen, darauf, daß zwischen dem philosophischen und dem wissenschaftlichen Denken kein wesensmäßiger, sprich: kein qualitativer, sondern nur ein quantitativer Unterschied gemäß dem jeweiligen Grad an Schöpferkraft besteht: das philosophische Denken ist, so werden wir sehen, in der Regel schöpferischer und d. h. künstlerischer als das wissenschaftliche. 1 7 7 Man darf nicht sagen: Aus der Abstraktion in Konkretion überzuführen sucht, weil dies bedeutete, daß der Satz ein empirischer, ein aus der Empirie abstrahierter Satz wäre. 1 7 8 So Schopenhauer in der Vorrede zu seiner Schrift „Uber den Willen in der N a t u r " (a. a. O., S. 301): „ausgehend vom rein Empirischen, von den Bemerkungen unbefangener den Faden ihrer Spezialwissenschaft verfolgender Naturforscher gelange ich hier unmittelbar zum eigentlichen Kern meiner Metaphysik, weise die Berührungspunkte dieser mit den Naturwissenschaften nach und liefere so gewissermaßen die Rechnungsprobe zu meinem Fundamentaldogma, welches eben dadurch sowohl seine nähere und speziellere Begründung erhält als auch deutlicher, faßlicher und genauer als irgendwo in das Verständnis tritt." > 79 W a W I, 63. 1 8 0 1/2 , 3 5 8 — 360, hier: S. 359 f.: „ W i r sind doch recht die Narren des Schicksals: noch vorige W o c h e wollte ich Dir einmal schreiben und vorschlagen, gemeinsam Chemie zu studieren und die Philologie dorthin zu werfen, wohin sie gehört, zum Urväter-hausrath. Jetzt lockt der Teufel ,Schicksal' mit einer philologischen Professur." •si B A W 2, 5 4 — 5 9 . 1 8 2 Ebd., S. 55. — In Anm. 57 haben wir bereits auf die Meinung von J ö r g Salaquarda hingewiesen, wonach diese Wandlung Nietzsches durch einen Brief Rohdes vom 4. 11. 1868 veranlaßt worden sein dürfte. 1 8 3 G T , Versuch einer Selbstkritik 3, 3 / 1 , 8. — Am 4. 8. 1871 antwortete Nietzsche Erwin Rohde auf eine den Privatdruck „Sokrates und die griechische T r a g o e d i e " — eine Vorstufe der „Geburt der Tragödie" — betreffende Bitte des Kieler Ordinarius für klassische Philologie, O t t o Ribbeck: „Dein Ribbeck mit dem Wunsche nach Zeugniß und Beweis hat mir Freude eigner Art gemacht, wie sollte denn wohl das Zeugniß ungefähr lauten? Man bemüht sich der Entstehung der räthselhaftesten Dinge nahe zu kommen — und jetzt verlangt der geehrte Leser, daß das ganze Problem durch ein Zeugniß abgethan werde, wahrscheinlich aus dem Munde des Apollo selbst: oder würde eine Stelle bei Athenaeus dieselben Dienste thun? Für gewisse Leute sogar noch bessere. Denn dem wahrsagenden Apollo würde man jetzt, wie dem Ochsen der da drischet, das Maul verbinden.—" ( I I / l , S . 2 1 5 . ) 184 Nietzsche berichtet dort eingangs ( 4 / 3 , 3) von seinem Grundsatz, daß man nur von dem reden solle, „was man ü b e r w u n d e n hat", demzufolge seine Schriften nur von seinen Überwindungen reden würden. Für die 2. Unzeitgemäße Betrachtung „ V o m Nutzen und
Anmerkungen 184 bis 190 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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Nachtheil wissenschaftlichen Weltbetrachtung und -verhaltung bedacht wird, bedeute dies aber (S. 4): „was ich gegen die ,historische Krankheit' gesagt habe, das sagte ich als Einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar nicht Willens war, fürderhin auf ,Historie' zu verzichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte." Jörg Salaquarda, Nietzsche und Lange, a. a. O., S. 239. Die Kontinuität betont auch Karl Schlechta in: Schlechta/Anders, a. a. Ο., S. 7: „Der Bruch, der zwischen der ,ersten' und ,zweiten Periode' Nietzsches — d. h. zwischen der ,Geburt der Tragödie' und den vier ,Unzeitgemäßen Betrachtungen' einerseits und ,Menschliches, Allzumenschliches' andererseits — liegt, erscheint [ . . . ] nur vom veröffentlichten Werk her als ein solcher." Weil er anscheinend nur dieses kennt, gerät Fink diese Kontinuität nicht in den Blick, siehe a. a. O., S. 42 ff. Nur darum kann er (S. 44) von einem zunächst unbegreiflichen „Wandel in der Grundstellung Nietzsches" sprechen und fragen: „kann Nietzsche gleichsam vergessen, was er in seiner Artisten = Metaphysik gedacht hat, und auf eine naive Stufe zurücksinken? Keineswegs. Seine Aufklärung ist ja Kampf gegen seinen eigenen, vom tragischen Griechentum, von Schopenhauer und Wagner bestimmten Ansatz eines hinter den erscheinenden Dingen liegenden ,An sich', einer ,intelligiblen Welt'; er leugnet jetzt die Unterscheidung zwischen dem Ur = Einen, dem Ding an sich, und der Erscheinung" (S. 44 f.); aber er leugnet sie explizit bereits in jenem wiederholt zitierten Brief an Gersdorff von Ende August 1866, und in der „Geburt der Tragödie" ist Nietzsches Grundstellung in der Weise zwieschlächtig, daß der Text jene Position verdeckt in sich birgt, die Fink erst den Texten der zweiten Phase zusprechen will — was man jedoch erst dann erkennt, wenn man das Erstlingswerk im Kontext der Briefe und Fragmente liest. MusA 1, 429. Es zeigt sich damit, daß der Philosoph Nietzsche auch im Falle seiner grund-sätzlichen Überlegungen in hohem Maße aus den Erfahrungen des Philologen Nietzsche geschöpft hat. Besonders deutlich macht dies jener hoch bedeutsame Aphorismus 22 aus „Jenseits von Gut und Böse", der bereits in Anm. 87 zitiert worden ist. Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [87], 8/1, 102. Vgl. dazu die Literaturangaben in Anm. 71. Statt von einem reinen Werden spricht Nietzsche jetzt auch vom Chaos, das die Welt „in Wahrheit" sei. Heidegger bemerkt dazu (Nietzsche, Bd. 1, a . a . O . , S. 349): „Diese Grundvorstellung vom Seienden im Ganzen als Chaos [ . . . ] hat eine zweifache Bedeutung: einmal soll damit die Leitvorstellung des ständig Werdenden festgehalten werden im Sinne der gewöhnlichen Vorstellung vom πάντα (bei, dem ewigen Fortfließen der Dinge, eine Vorstellung, die auch Nietzsche mit der geläufigen Überlieferung fälschlicherweise für eine solche Heraklits hielt; wir nennen sie richtigei pseudo-heraklitisch. Zum andern soll aber mit der Leitvorstellung ,Chaos' das ständig Werdende bei sich selbst belassen und nicht als ein Vieles aus dem ,Einen' erst noch abgeleitet werden, mag dieses Eine nun als Schöpfer oder Baumeister, als Geist oder als ein Grundstoff vorgestellt sein. ,Chaos' ist darnach der Name für diejenige Vorstellung vom Seienden im Ganzen, dergemäß dieses als notwendiges Werden mit einer Mannigfaltigkeit angesetzt wird, so zwar, daß .Einheit' und ,Form' ursprünglich ausgeschlossen bleiben. Das Ausschließen scheint zunächst die Hauptbestimmung der Chaos-Vorstellung zu sein, sofern es sich auf alles erstrecken soll, was irgendwie ein Hineintragen menschlicher Art in das Weltganze bei sich führt." Zugleich verrät dieser Begriff aber auch Nietzsches Herkommen vom Kantischen Ansatz, der, worauf Heidegger ebenfalls hinweist (ebd., S. 564), vom „,Gewühle der Empfindungen'" gesprochen hat, das der kategorischen Formung vorausliegt: weiterer Beleg für unsere These, daß Nietzsche das reine Werden empirisch im Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit erfährt. Fink, Nietzsche, a . a . O . , S. 168. 6 / 2 , 48 — 50. Die hier zu bedenkende Passage lautet im Zusammenhang: „Auf welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen mag: von jeder Stelle aus gesehn ist die I r r t h ü m l i c h k e i t der Welt, in der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann: — wir finden Gründe dafür, die uns zu Muthmaassungen über ein betrügerisches Princip im ,Wesen der Dinge' verlocken
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Anmerkung 190 zum Abschnitt „Voraussetzungen" möchten. [ . . . ] wollte man, mit der tugendhaften Begeisterung und Tölpelei mancher Philosophen, die ,scheinbare Welt' ganz abschaffen, nun, gesetzt, i h r könntet das, — so bliebe mindestens dabei auch von eurer ,Wahrheit' nichts mehr übrig! Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von ,wahr' und ,falsch' giebt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesammttöne des Scheins, — verschiedene valeurs, um die Sprache der Maler zu reden? W a r u m dürfte die Welt, d i e u n s e t w a s a n g e h t —, nicht eine Fiktion sein?" Daß er das in dieser Konzeption eine Lösung erheischende zentrale Problem Nietzsches, keine von ihm allein als Wahrheit und Gewißheit angesehene unumstößliche Wahrheit an sich erreichen zu können, nicht gesehen hat, zeigt Eugen Fink, wenn er schreibt: „Seine [Nietzsches] Kritik trifft nicht überhaupt alle Erkenntnis, sondern nur die Erkenntnis des Seienden, die empirische, vor allem aber die apriorische Erkenntnis, d. h. die kategoriale Auslegung der Dingheit als solcher. Seine Intuition, der philosophische Blick auf das Werden ist von dieser Kritik der Erkenntnis nicht betroffen; er ist vielmehr die Voraussetzung, die diese Kritik erst möglich und auch gültig macht. M. a. W. erst unter der Voraussetzung der Wahrheit seiner Intuition hat die Kritik der ontischen und kategorialen Erkenntnis Sinn und Recht." (A. a. O., S. 165) Dieses Wahrheitsproblem verkennt Eugen Fink zum einen darum, weil er augenscheinlich die Texte aus der Zeit der Schopenhauer-Kritik nicht kennt, zum anderen aber darum, weil er — was vielleicht noch wesentlicher ist — das Wahrheitsproblem im Hinblick auf seine eigene „Weltphilosophie" interpretiert, wie die folgende Auslassung (ebd.) beweist: „Nietzsche selbst unterscheidet nicht scharf genug zwischen der Wahrheit vom Werden und der Wahrheit vom Seienden. Die erstere ist intuitiv, die zweite begrifflich; aber mit solcher Antithese ist das Wesentliche noch nicht begriffen: die Wahrheit vom Werden ist eine Unverborgenheit der waltenden Welt, die ihre seinlassende Bewegung als den Willen z u r Macht ausspielt, — und die Wahrheit vom Seienden, das heißt: der Glaube an Fiktionen wie Substanz und Ich, ist ein Offenstehen f ü r das Binnenweltliche, das das ,Werden' verstellt. D e r eigentliche Unterschied ist also nicht der zwischen irgendeiner Anschauung und irgendwelchem Begriff, sondern zwischen der Welt = Anschauung und dem kategorialen Begriff." (Später werden wir auch aufzeigen — wenngleich nur am Rande, es ist dies kein Gegenstand unserer Arbeit —, daß der Wille zur Macht, als den Nietzsche schließlich das Werden interpretiert, eine Fiktionen begründende Fiktion ist, wie dies schon Karl-Heinz Dickopp [a. a. O., S. 119], hellsichtiger als Fink, bemerkt hat: „ D e r Wille zur Macht darf kein Sein haben im Sinne eines An-sich-seins. Er darf nicht unmittelbar Gewisses sein, was in einer ,Art I n t u i t i o n ' [ . · · ] gegeben ist. Er darf nur etwas notwendig Geglaubtes sein, dessen Sein selbst ungewiß, mittelbar, funktional ist." D e r Ausdruck „eine Art Intuition" ist dabei Zitat aus dem 16. Aphorismus von „Jenseits von Gut und Böse" [6/2, 23 f.], in dem sich Nietzsche gegen „harmlose Selbst-Beobachter" wehrt, „welche glauben, dass es .unmittelbare Gewissheiten' gebe, zum Beispiel ,ich denke', oder, wie es der Aberglaube Schopenhauer's war, ,ich will': gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als ,Ding an sich', und weder von Seiten des Subjekts, noch von Seiten des Objekts, eine Fälschung stattfände." [6/2, 23; vgl. zu dieser Frage der unmittelbaren Gewißheiten auch die Anmerkungen 77 und 127, s. auch und vor allem die Aufzeichnung von August-September 1885, VII 40 [25], 7 / 3 , 373], Die „Berufung auf eine Art I n t u i t i o n der Erkenntniss" (6/2, 24) als Ermöglichungsgrund solcher „unmittelbarer Gewissheiten" rechnet Nietzsche zu den „Vorurtheilen der Philosophen" — so die Überschrift des Hauptstückes, zu dem jener Aphorismus gehört.) Ähnliches wie f ü r Eugen Fink gilt auch f ü r Martin Heidegger, wenn er zwar mit Recht darauf hinweist, daß bei Nietzsche die alten metaphysischen Bestimmungen des Wesens der Wahrheit, „Anmessung und Entbergung, adaequatio und Αλήθεια" unerkannt fortleben (Nietzsche, Bd. 2, a. a. O., S. 318), dabei aber nicht ausdenkt, daß sie — gemäß Nietzsches noch zu besprechendem Willen zur Umdrehung des Piatonismus — in ein in sich gestaffeltes Schein-Gefüge eingeordnet werden: Der Mensch stellt die amorphe Flut
Anmerkung 190 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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des Werdens seiner Empfindung in der Zeit — das (sinnliche) Chaos, von dem die späteren Nietzsche-Texte in A n k n ü p f u n g an Kants Rede vom „Gewühle der Empfindungen" sprechen (siehe unten; vgl. dazu auch: Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, S. 562 ff.) — in Formen vor, die er dann in die Unverborgenheit (άλήθεια) herstellt, um sich so an das dergestalt hergestellte Vorgestellte anmessen, nach ihm richten (adaequatio) und sich seiner versichern zu können. (Auch Heidegger hebt hervor, daß Wahrheit f ü r Nietzsche das Wahre, d.i. „das in Wahrheit E r k a n n t e " [Bd. 1., S. 176], „was dem Wesen der Wahrheit g e n ü g t " [ebd., S. 175], und nicht das Wesen des W a h r e n selbst ist: Wesenheiten sind f ü r Nietzsche grobe Fiktionen.) Der menschliche Logos ent-deckt somit nichts als seine eigenen Voraus-setzungen, schafft selber das, was er dann als vermeintliche Wahrheit an sich erkennt, weswegen Nietzsche diese Wahrheiten als Illusionen bezeichnet: Der Logos ist f ü r Nietzsche wesensmäßig nicht entdeckend, sondern verdeckend und die Unverborgenheit darum Verborgenheit. Ebendas aber ist f ü r Heidegger von seinen — im Hinblick auf Nietzsche, nicht aus Heideggers Selbstverständnis heraus gesprochen — Voraus-setzungen her undenkbar. Metaphysik läßt sich einer seiner Nietzsche-Vorlesungen zufolge bestimmen „als die in das W o r t des Denkens sich fügende Wahrheit über das Seiende als solches im G a n z e n " (Bd. 2, S. 75), so daß Nietzsche als der in seinen Augen letzte Metaphysiker mit seinen Konzeptionen des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen — in denen er, wie Heidegger einmal sagt (Bd. 2, S. 13), zum einen neuzeitlich, zum anderen endgeschichtlich die Seiendheit des Seienden, bzw., wie Heidegger ein andermal ausführt (Bd. 1, S. 425 und S. 464), zum einen existentia, zum anderen essentia des Seins als Werden denkt — der Epoche der sich vollendenden Metaphysik die Wahrheit über das Seiende im Ganzen sagen soll. Aber f ü r Nietzsche sind weder der Wille zur Macht — er ist seinen Aussagen zufolge nichts als ein „bestimmter N a m e f ü r diese Realität [ . . . ] , nämlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus" (August—September 1885, VII 40 [53], 7 / 3 , 386), „das letzte Factum, zu dem wir hinunterkommen" (August—September 1885, VII 40 [61], 7 / 3 , 393), nämlich factum unseres Erkenntnisapparates und d. h. letztlich des Willens zur Macht selber —, noch die Lehre der ewigen Wiederkunft — sie ist ein Mythos, dessen ,,[m]uthmaaßliche Folgen" Nietzsche zu bedenken sucht f ü r den Fall, daß er „ g e g l a u b t w i r d " (Winter 1883—1884, VII 24 [4], 7 / 1 , 687) —, noch schließlich das Werden Wahrheit: „ d e r Gegensatz dieser [vom Verstände aus dem undeutlichen und chaotischen Material der Sinne zurechtgemachten] Phänomenal-Weit ist n i c h t ,die wahre Welt', sondern die formlos-unformulirbare Welt des Sensationen-Chaos, — also e i n e a n d e r e A r t Phänomenal-Weit, eine f ü r uns .unerkennbare'." (Herbst 1887, VIII 9 [106], 8/2, 60) Der Unterschied zwischen beiden Deutungen liegt aber darin beschlossen, daß Nietzsche mit dem Begriff „ W a h r h e i t " dem Werden in der Zeit entrückte Wahrheit „an sich" verbindet, die dem Menschen entgegen seiner traditionellen Annahme nicht zugänglich ist, so daß der Philosoph Wahrheiten als Illusionen bezeichnen müsse, „von denen man vergessen hat, dass sie welche sind" (WL 1, 3 / 2 , 374 f.), wohingegen Heidegger Wahrheit als Wahrheit des Seins versteht, die der Mensch existierend zu übernehmen hat. Einerseits verabschiedet er damit das f ü r Nietzsche im Gefolge Kants zentrale Problem der Anthropomorphic aller Erkenntnisse („Die Vermenschung wird als Gefährdung der Wahrheit um so wesenloser, je ursprünglicher der Mensch [ . . . ] das Da-sein als solches erkennt und gründet.", Bd. 1, S. 381) — Heidegger deutet dieses Problem im Hinblick auf die Geschichte des Seins als spezifisch neuzeitlich und rechnet es demzufolge „ z u m Wesen der Endgeschichte der Metaphysik" (Bd. 1, S. 654) —, andererseits nimmt er damit ausdrücklich die geschichtliche Dimension in den Begriff der Wahrheit auf, die Nietzsche aus ihm verbannt hat („Die Metaphysik ist die Wahrheit des Seienden als eines solchen im Ganzen. Die Wahrheit bringt das, was das Seiende ist (essentia, die Seiendheit), daß es und wie es im Ganzen ist, in das Unverborgene der Ιδέα, der perceptio, des Vor-stellens, des Bewußt-seins. Das Unverborgene aber wandelt sich selbst gemäß dem Sein des Seienden. Die Wahrheit bestimmt sich als solche Unverborgenheit in ihrem Wesen, dem Entbergen, aus dem von ihr zugelassenen Seienden selbst und prägt nach dem also bestimmten Sein die
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Anmerkung 190 zum Abschnitt „Voraussetzungen" jeweilige Gestalt ihres Wesens. Die Wahrheit ist deshalb in ihrem eigenen Sein geschichtlich.", Bd. 2, S. 257). Letzteres aber ist darauf zurückzuführen, daß das von Heidegger gedachte Sein in keiner anderen Weise ist als in der seiner Geschichte („Die Seinsgeschichte ist das Sein selbst und nur dieses.", Bd. 2, S. 489), wohingegen Nietzsche das wahrheitsmäßig auszusagende Sein „als etwas Stehendes, Unbewegtes, Starres, Unlebendiges — als Gegensatz zum Werden [gilt]; Nietzsche hat überhaupt nie auch nur einen Anlauf gemacht, die vulgäre Dichotomie zu überwinden und die Entgegensetzung von Sein und Werden aus dem Seinsproblem selbst heraus zu denken", wie Eugen Fink bemerkt (a. a. O., S. 41). Das bedeutet aber, das Sein im H o r i z o n t bzw. im Widerstreit zum Nichts und nicht mehr, wie noch bei Nietzsche, im Gegensatz zum Werden zu denken: „wir sind seit langem gewohnt, dem Werden das Sein entgegenzusetzen, gleich als ob Werden ein Nichts sei und nicht auch in das Sein gehöre, das man seit langem nur als das bloße Beharren versteht", bemerkt Heidegger in dem 1946 geschriebenen Aufsatz „ D e r Spruch des Anaximander" (in: Μ. H., Holzwege, a. a. O., S. 317—368, hier: S. 338). Das Nichts hält Nietzsche aber f ü r undenkbar (siehe Seite 32). Die Crux der Heideggerschen Interpretation ist somit vor allem darin zu sehen, daß das auslegende Denken die Nietzscheschen Grundbegriffe mit einem anderen Inhalt erfüllt, ohne diese Differenz auszuweisen — Heidegger begnügt sich mit dem pauschalen Hinweis, daß in seinem Text „Darstellung und Auslegung ineinandergearbeitet [sind], so daß nicht überall und sogleich deutlich wird, was den Worten Nietzsches entnommen und was dazugetan ist. Jede Auslegung muß freilich nicht nur dem Text die Sache entnehmen können, sie muß, ohne darauf zu pochen, unvermerkt Eigenes aus ihrer Sache dazugeben können. Die Beigabe ist dasjenige, was der Laie, gemessen an dem, was er ohne Auslegung f ü r den Inhalt des Textes hält, notwendig als Hineindeuten und Willkür bemängelt." (Bd. 2, S. 262 f.) (Hinter welcher Aussage offensichtlich ein bestimmtes Verständnis von Hermeneutik steht, das Heidegger — wohl in A n k n ü p f u n g an seine Auslegung des Heraklitischen πόλεμος-Begriffes (s. dazu: Μ. H., Die Selbstbehauptung der deutschen Universität/Das Rektorat 1933/34, F r a n k f u r t / M a i n 1983, S. 29) — mit dem Terminus „Aus-einander-setzung" zu fassen sucht und auf das wir in diesem Zusammenhang nicht eingehen können; statt dessen verweisen wir f ü r erste Hinweise zu dieser Fragestellung auf den Aufsatz von W o l f g a n g Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Ubermensch, a. a. O.) Die Beigabe aber besteht darin, daß Heidegger Nietzsches Philosophie „im Bezirk der einen E r f a h r u n g " auslegt, „aus der ,Sein und Zeit' gedacht ist" (Μ. H., Nietzsches W o r t „ G o t t ist tot", in: ders., Holzwege, a . a . O . , S. 205—263, hier: S. 208), im Lichte von Heideggers eigener, ,,vorausleuchtende[r] Idee" (Μ. H., Kant und das Problem der Metaphysik, F r a n k f u r t / M a i n 2 1951, S. 193) mithin. Die daraus hervorgehende Deutung Nietzsches als des letzten Metaphysikers muß zum einen in manchen Teilen schlichtweg „unrichtig" genannt werden — so etwa, wenn sie Nietzsche einen Metaphysik-Begriff unterstellt, dem dieser längst abgeschworen hatte: der Wille zur Macht ist kein metaphysisches Prinzip (vgl. dazu: Müller-Lauter, Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensätze, a. a. O., besonders: S. 10—33, sowie: ders., Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, a. a. O . ; auf andere „Unrichtigkeiten" werden wir im folgenden eingehen) —, zum anderen ist sie als einseitig zu betrachten — sie läßt der Deutung entgegenstehende Texte unbeachtet und zwingt andere, sich der Auslegung nicht fügende, in ihr Schema —: In letzterer Hinsicht ist Heideggers Auslegung unfruchtbar, dies nicht zuletzt auch im Sinne seines eigenen Gedankens der Aus-einander-setzung, läßt er doch seine Position von derjenigen Nietzsches nicht wahrhaft in Frage stellen. (Das von Heidegger selber vorgebrachte, selbstzweiflerische W o r t von der „Verrechnung", das indes f ü r seine Auslegung keine Konsequenz gezeitigt hat, scheint uns in diesem Zusammenhang nicht unberechtigt zu sein; statt von „historischer" sollte man aber besser von „seinsgeschichtlicher V e r r e c h n u n g " sprechen: „ W e n n nun aber der hier versuchte Hinweis auf die verborgene Einheit der Metaphysik Nietzsches ihr gleichwohl den N a m e n der Metaphysik der unbedingten und vollendeten Subjektivität des Willens zur Macht gibt, ist dann nicht
Anmerkung 190 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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erzwungen, was Nietzsche vermieden hat: die von außen kommende, nur rückwärtsblikkende geschichtliche Einordnung, wenn nicht gar die stets verfängliche und leicht bösartige historische Verrechnung? Und dies alles noch auf dem Grunde eines Begriffes der Metaphysik, den Nietzsches Denken zwar erfüllt und bestätigt, aber nicht begründet und nirgends entwirft!", Bd. 2, S. 329.) D a ß eine solche Infragestellung der Heideggerschen Deutung gerade in dem einzigen Punkt, den er selber f ü r wesentlich hält, in der Bestimmung der Metaphysik nämlich (s. das folgende Zitat), möglich ist, hat bereits Eugen Fink in seinem Nietzsche-Buch deutlich gemacht (a. a. O., S. 186—189; Heidegger selber scheint das anders empfunden zu haben, schreibt er doch am 10.7. 1973 in einem Brief an Heinz Wenzel: „Die Kritik [an Heideggers Nietzsche-Deutung] mag vieles in meinen Auslegungen als unrichtig und ,gewaltsam' feststellen; solange keine grundsätzliche und zugleich positive Auseinandersetzung mit meinen Schriften zur Bestimmung der Metaphysik vorliegt, von w o aus meine Darstellung Nietzsches geleitet wird, bewegt sich die ,Kritik' auf einer unzureichenden Ebene. Für den Historiker sind vermutlich die Aussagen des Aristoteles über Piaton und die vorplatonischen Denker durchgängig falsch und gewaltsam." [Aus dem Archiv des Verlages Walter de Gruyter. Briefe U r k u n d e n Dokumente, Berlin 1980, S. 101 f.; hier zitiert nach: Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Ubermensch, a . a . O . , S. 137, Anm. 14]. Wir meinen jedoch, daß Fink in dieser Frage noch nicht tief genug gedacht hat. Zunächst aber ist in Heideggers Deutung die Verwischung der Unterschiede zwischen seiner Position und derjenigen Nietzsches problematisch, kann es doch dem Leser, wie Karl Löwith bemerkt hat (K. L., Heideggers Auslegung des Ungesagten in Nietzsches W o r t ,Gott ist tot', in: ders., Heidegger. Denker in dürftiger Zeit, Frankfurt a. M. 2 1960, S. 72—105), einmal so ergehen, daß er Heideggers Gedanken „im Gewände von Nietzsche" entdeckt, und ein andermal so, daß ihm Heidegger „zu einem verspäteten Jünger Nietzsches" wird (ebd., S. 121, 119). Auf fallen besagte Differenzen vor allem an Stellen wie den folgenden, bei denen sich aus dem unvermittelten Gebrauch der gleichlautenden, aber mit verschiedenem Inhalt erfüllten Grundbegriffe zunächst einmal ein Widersinn ergibt. So bemerkt Heidegger etwa über das Ende des II. Teils von „Also sprach Zarathustra" gesichtete Rätsel der ewigen Wiederkunft im Hinblick auf seinen Wahrheits-Begriff: „ D a s Erraten dieses Rätsels muß sich hinauswagen ins O f f e n e des Verborgenen überhaupt, in das Unbetretene und Unbefahrene, in die Unverborgenheit (άλήθεια) dieses Verborgensten, in die Wahrheit. Dieses Raten ist ein Wagen der Wahrheit des Seienden im Ganzen." (Bd. 1, S. 290), um daran anknüpfend eine Nietzsche-Stelle aus dem Umkreis der „ M o r g e n r ö t h e " (siehe: Frühjahr 1880, V 3 [19], 5 / 1 , 382) zu zitieren, ohne daß er sich durch den Widerspruch beunruhigt zeigte: „ D a s N e u e an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie ist eine Überzeugung, die noch kein Zeitalter hatte: daß wir die Wahrheit nicht haben. Alle früheren Menschen .hatten die Wahrheit': selbst die Skeptiker." Es ergibt sich der Eindruck, daß bei Heidegger die Nietzsche treibende quälende U n r u h e des Fragens nach der Wahrheit darum nicht aufkommt, weil er die Wahrheit des Seins „ h a t " — und dies auch noch in ihrem Entzug, insofern er doch diesen dem Wesen der Wahrheit selbst zugehörig denken kann. Seine Beunruhigung ist anderer Art, sie äußert sich als — allen Holzwegen zum T r o t z (vielleicht noch nicht einmal „ z u m T r o t z " : laut Heidegger führen auch sie letztlich noch zu den Quellen, siehe dazu: C. F. v. Weizsäcker, Erinnerungen an Martin Heidegger, a. a. O., S. 303) — beständiges Fortschreiten auf seinem einen W e g des Fragens, der als solcher bereits die Findung dessen ist, was er sucht: die Entbergung des Seins (nicht zuletzt darum kann er sagen: „das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens."; Μ. H., Die Frage nach der Technik, in: Vorträge und Aufsätze, Teil 1, Pfullingen 3 1967, S. 5—36, hier: S. 36; vgl. dazu auch die spätere Selbstdeutung in: Μ. H., Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 5 1975, S. 157—216, hier: S. 175). Darum bleibt ihm letztendlich auch das Nietzschesche Wahrheits-Problem, das doch im Zentrum von dessen denkerischer Existenz steht, verschlossen. Dies möge die nachfolgende Stelle erneut verdeutlichen. Mit ihr schlagen wir
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Anmerkung 190 zum Abschnitt „Voraussetzungen" zugleich den Bogen zurück zu den Erörterungen über Nietzsches Konzeption der Wahrheit als eines in sich gestaffelten Schein-Gefüges. Im Hinblick auf eine späte Nietzsche-Aufzeichnung (April—Juni 1885, VII 34 [253], 7 / 3 , 226: „ W a h r h e i t i s t d i e A r t v o n I r r t h u m , ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Werth f ü r das Leben entscheidet zuletzt.") bemerkt Heidegger mit Recht (Bd. 1, S. 247): „ D i e menschliche Logik dient dem Gleichmachen und Beständig- und Ubersehbarmachen des Begegnenden. Das Sein, das Wahre, was sie ,fest-stellt' (befestigt), ist nur Schein; aber ein Schein, eine Scheinbarkeit, die wesensnotwendig zum Lebewesen als solchem, d. h. zum Sich-durch- und Fest-setzen im ständigen Wechsel gehören." Im Hinblick auf sein eigenes Denken der Wahrheit als ά λ ή θ ε ΐ α knüpft er daran jedoch die Bemerkung: „Aus tieferer Besinnung wird aber klar, daß aller Anschein und alle Scheinbarkeit nur möglich ist, wenn überhaupt sich etwas zeigt und zum Vorschein kommt. Was ein solches Erscheinen im voraus ermöglicht, ist das Perspektivische selbst. Dieses ist das eigentliche Scheinen, zum sich Zeigen-Bringen." Aber unmittelbar darauf, in A n k n ü p f u n g an Nietzsches Satz: „ D e r Wahrhaftige endet damit, zu begreifen, daß er immer lügt." (Sommer—Herbst 1882, VII 3 [1], 7 / 1 , 74), muß er bemerken: „Nietzsche bestimmt sogar jenes Scheinen, das Perspektivische, zuweilen als Schein im Sinne der Illusion und der Täuschung und setzt diese der Wahrheit, die im Grunde auch Irrtum ist, als dem ,Sein' gegenüber." (Ebd., S. 248; Hervorhebung von mir, T h . B.) Heidegger scheint aus seinem Ansatz heraus nicht verstehen zu können, daß f ü r Nietzsche das Perspektivische, als welches sich das Werden vollzieht, die Vorbedingung dafür ist, daß alles, was ist, Schein ist, eingeschlossen es selbst, wenngleich dieses in einem weniger hohen Maße als das von ihm und in ihm Gesetzte: Die Entbergung ist f ü r Nietzsche, noch einmal sei es gesagt, eine in keiner Weise aufzuhebende Verbergung. Heidegger muß damit eine wesentliche Dimension des Ereignisses übergehen, dem auch er eine zentrale Bedeutung f ü r Nietzsches Denken zuspricht, des Todes Gottes nämlich (vgl. dazu: Μ. H., Nietzsches W o r t „ G o t t ist tot", a . a . O . , w o diese Folge jenes Ereignisses keine Beachtung findet). An einigen wenigen Stellen jedoch deutet Heidegger diese Dimension zumindest an. Etwa dort, wo er, eine Aufzeichnung von Juni—Juli 1885 (VII 38 [4], 7 / 3 , 326: „ , W a h r h e i t ' : das bezeichnet innerhalb meiner Denkweise nicht nothwendig einen Gegensatz zum Irrthum, sondern in den grundsätzlichsten Fällen nur eine Stellung verschiedener Irrthümer zu einander [ . . . ]") paraphrasierend, bemerkt: „Alle Wahrheiten und Arten von Wahrheiten sind nur verschiedene Arten und Stufen von ,Irrtümern' [ . . . ] . Dann gibt es in der T a t keine Wahrheiten und keine Wahrheit. Alles ist nur Schein und ein verschiedenartiges und verschiedenstufiges Scheinen." (Bd. 1, S. 622) Und er nennt den „hier sich ankündigendefn] ,Nihilismus'" „das Beziehen einer äußersten Stellung, in der die metaphysisch begriffene ,Wahrheit' ihr letztmögliches Wesen erreicht". Schon früher (ebd., S. 538) hat er gleichsinnig zu Nietzsches Satz: „Also daß etwas f ü r wahr gehalten werden m u ß , ist nothwendig; n i c h t , daß etwas w a h r i s t . " (Herbst 1887, VIII 9 [38], 8/2, 16) ausgeführt: „darin spricht eine Tiefe des Abgrundes des neuzeitlichen Wesens des Seins" und sogleich, darüber hinausgehend, angefügt: „es muß auf Verborgenes hinausgedacht werden: darauf, daß nicht nur irgendeine Wahrheit, sondern daß das Wesen der Wahrheit erschüttert ist und eine ursprünglichere Gründung ihres Wesens vom Menschen übernommen und geleistet werden muß". Heidegger hat diese Gründung geleistet und so die Erschütterung überwunden. Damit aber geht ihm der Zugang zum vollen Verständnis von Nietzsches wichtigsten Konzeptionen verloren. So kann er beispielsweise nicht mehr sehen, daß der „Wille zur Macht" ein N a m e f ü r das sich selbst auslegende Verbergungsgeschehen ist, als das Nietzsche das Auslegungsgeschehen der Welt denkt, und in dieser Relativität zu sich selbst bloße Interpretation (siehe dazu im folgenden) — darin von allen vorgängigen metaphysischen Prinzipien geschieden, denen Heidegger sie fälschlicherweise zuordnet. V o r allem aber vermag Heidegger in der aus Nietzsches paradoxaler Auflösung des überlieferten Wahrheitsgefüges („Wahrheiten sind Illusionen") erwachsenden „ C h a o t i k " des Denkens nichts Positives zu erkennen: „Wird
Anmerkungen 190 bis 192 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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dann nicht Nietzsches eigene Auslegung der Wahrheit als Schein zu einem Schein? Sie wird noch nicht einmal zu einem Schein: Nietzsches Auslegung der ,Wahrheit' als Irrtum unter Berufung auf das Wesen der Wahrheit als Ubereinstimmung mit dem Wirklichen wird zur Verkehrung des eigenen Denkens und dadurch zu dessen Auflösung." (Bd. 2, S. 185) Er kommt nicht auf den Gedanken, daß Nietzsche vielleicht gerade dadurch dem fest-stellenden Charakter des Denkens — auch Heidegger spricht davon, daß das „Denken als Vorstellung von Beziehung und Zusammengehörigkeit immer ein Beständiges hinstellt und meint" (Bd. 1, S. 391) — zu entgehen suchen könnte, um sich so dem anzumessen, von dem er eine Intuition hat, dem Werden nämlich (siehe Seite 117 f. unserer Ausführungen). D a ß Heidegger dieser Gedanke nicht kommt, ist um so verwunderlicher, als er selber als Folge dieses Denkens „den Einsturz von Sein und W a h r h e i t " (Bd. 2, S. 186) konstatiert. Sollte einem solchen Verständnis vielleicht die von Nietzsche als scheinhafte Denknotwendigkeit durchschaute Aufprägung des Seinscharakters der Beständigkeit auf das Werden, d. h. die Einbeziehung des Werdens in das Sein, von der auch Fink gesprochen hat, im Wege gestanden haben (Ende 1886—Frühjahr 1887, VIII 7 [54], 8 / 1 , 320: „ D e m Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n — das ist der höchste W i l l e z u r M a c h t . / / Z w i e f a c h e F ä l s c h u n g , von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwerthigen usw.")? — jedenfalls behauptet Heidegger mehrfach, daß Nietzsche das Sein als Werden gedacht habe. — Wir werden auf diese und auf andere Fragen von Heideggers Nietzsche-Interpretationen zurückkommen. (Die Wandlungen von Heideggers Nietzsche-Auslegungen behandelt: Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Ubermensch, a . a . O . ; siehe auch: ders., Der Geist der Rache und die ewige Wiederkehr. Zu Heideggers später Nietzsche-Interpretation, in: Philosophie der intellektuellen Redlichkeit, Festschrift f ü r Gerd-Günther Grau, hrsg. v. Friedrich Wilhelm Korff, Stuttgart 1981, S. 92-113.) Der Terminus „notwendig Geglaubtes" ist von Karl-Heinz Dickopp übernommen (siehe das Zitat in Anm. 190). — Daß diese Auffassung von Wahrheit auch im Spätwerk noch Gültigkeit hat, belegt schlagend beispielsweise die nachfolgende Aufzeichnung zur Lehre der ewigen Wiederkunft, Nietzsches letzter Deutung des Werdens der Welt (Winter 1883—1884, VII 24 [4], 7 / 1 , 687): „ D i e e w i g e W i e d e r k u n f t . / / E i n B u c h d e r P r o p h e z e i u n g . / / I . Darstellung der Lehre und ihrer t h e o r e t i s c h e n Voraussetzungen und Folgen./2. Beweis der Lehre./3. Muthmaaßliche Folgen davon, daß sie g e g l a u b t wird (sie bringt Alles zum A u f b r e c h e n ) " . — Salaquarda (Nietzsche und Lange, a. a. O., S. 249) meint dazu: „Die Interpretation', die Nietzsche in der ,Wiederkunftslehre' anbietet, ist zweifellos nicht nur eine wissenschaftliche Theorie im engeren Sinn von exakter Wissenschaft, aber sie will sich doch vor dieser ausweisen können. Im Sinne Nietzsches kann sie nur aufrecht erhalten werden, wenn sie gesicherten Ergebnissen der Forschung nicht widerspricht." Wir haben dem hinzuzufügen, daß ein zureichendes Verständnis dieser Auffassung Nietzsches erst dann vorliegt, wenn Philosophie als Widerstreit — das W o r t verstanden im Sinne des Heraklitischen π ό λ ε μ ο ς — von Kunst und Wissenschaft gedacht wird. — Heidegger sieht den Glaubenscharakter des Gedankens der ewigen Wiederkunft entspringen „aus seinem Charakter als Denken, sofern Denken als Vorstellen von Beziehung und Zusammengehörigkeit immer ein Beständiges hinstellt und meint." (Nietzsche, a. a. O., Bd. 1, S. 391) „ D e r Gedanke dtr ewigen Wiederkunft des Gleichen macht fest, wie das Weltwesen als Chaos der Notwendigkeit ständigen Werdens ist." (Ebd., S. 392) Aber nicht erst deswegen, weil dieser Gedanke als Gedanke das Zu-Denkende, das Werden, verfehlt, ist er nur ein zu glaubender, sondern bereits darum, weil das Zu-Denkende selbst nur den Charakter tiefster Scheinbarkeit trägt, mithin darum, weil das W e r d e n anthropomorph ist. September 1870—Januar 1871, III 5 [79], 3 / 3 , 115 f., hier: S. 115; eine Aufzeichnung, in der sich Nietzsche eng an Schopenhauer anzulehnen sucht: „ [ • · . ] der Wille handelt — in unerhörter Vielheit f ü r die Einheit. Sein Erkenntnißorgan und das menschliche fallen keineswegs zusammen: dieser Glaube ist ein naiver Anthropomorphismus. [ . . . ] Unser Intellekt führt uns n i e weiter als bis zum bewußten Erkennen: insofern wir aber noch
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Anmerkungen 192 bis 203 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
intellektueller Instinkt sind, können wir noch etwas über den Urintellekt zu sagen wagen. Über diesen trägt kein Pfeil hinaus." 193 So Nietzsche über den Willen zur Macht, als den er später das Werden denkt (siehe Anm. 190). 194 Ein besonders anschauliches, wenngleich spätes Beispiel ist der in Anm. 87 angeführte Aph. 22 aus „Jenseits von Gut und Böse". 195 Die Vorlage dieses im Sommer-Semester 1872 zum ersten Male gehaltenen, dann im nächsten Sommer-Semester und noch einmal im Sommer-Semester 1876 wiederholten Kollegs ist in Auswahl in GA 19, 125—234, sowie in MusA 4, 247—363, enthalten. Vgl. dazu die Ausführungen bei Schlechta/Anders, a. a. Ο., S. 60 ff. 196 GA 19, 173 f. 197 Schlechta/Anders, a. a. O., S. 64. D a ß diese „Übersetzung" nicht falsch ist, belegen im übrigen die Aufzeichnungen, mit denen Nietzsche später, terminologisch immer noch zwischen „ K r a f t " und „Energie" schwankend, die Wiederkunftslehre in A n k n ü p f u n g an Robert Mayers Satz von der Erhaltung der Energie wissenschaftlich zu beweisen versucht: „ D e r Satz vom Bestehen der Energie fordert die e w i g e W i e d e r k e h r . " , heißt es im Sommer 1886—Herbst 1887 ( V I I I 5 [54], 8 / 1 , 2 0 9 ) . Und bereits in der Zeit Mai—Juli 1885 zeichnet er auf: „ D a ß eine Gleichgewichts-Lage nie erreicht ist, beweist, daß sie nicht möglich ist. [ . . . ] / / D a ß ,Kraft' und ,Ruhe' ,Sich-gleich-bleiben' sich widerstreiten. Das Maaß der Kraft als Größe als fest, ihr Wesen aber flüssig, spannend, zwingend, " Unmittelbar darauf bemerkt er: „ .Zeitlos' abzuweisen. In einem bestimmten Augenblick der Kraft ist die absolute Bedingtheit einer neuen Vertheilung aller ihrer Kräfte gegeben: sie kann nicht still stehn. .Veränderung' gehört ins Wesen hinein, also auch die Zeitlichkeit [ . . . ] " (VII 35 [54], 7 / 3 , 258 f.) Zu diesen Ausführungen ist zudem anzumerken, daß letztere unsere Überlegungen zur Temporalität, die wir anläßlich der Interpretation der Zeitatomenlehre angestellt haben, stützt, beide aber als als Vorstufen jenes Aphorismus Nietzsches zu sehen sind, der, so Eugen Fink ( a . a . O . , S. 178), „auf eine erstaunliche Weise alle Gedankenelemente seiner Weltvision versammelt", und der mit den W o r t e n anhebt: „ U n d wißt ihr auch, was mir ,die Welt' ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen" (Juni—Juli 1885, VII 38 [12], 7 / 3 , 338 f.; hier: S. 338). — Außer Mayer haben noch, wie schon früher erwähnt, Schopenhauer, Boscovich und Zöllner sowie Lange und Johannes Gustav Vogt auf Nietzsches Kraftbegriff Einfluß genommen. Siehe hierzu u. a.: Oskar Becker, Nietzsches Beweise f ü r seine Lehre von der ewigen Wiederkunft, a. a. O . ; Alwin Mittasch, Friedrich Nietzsches Verhältnis zu Robert Mayer, in: Blätter f ü r deutsche Philosophie 16, 1942, S. 139—161; ders., Der Kraftbegriff bei Leibniz, Robert Mayer, Nietzsche, in: Proteus 3, 1942, S. 69—76; Alfred Fouillee, Note Sur Nietzsche et Lange. „Le Retour Eternel", in: Revue de philosophie 67, 1909, S. 519—525; Friedhelm Decher, Wille zum Leben, a. a. O., S. 144—153; Martin Bauer, Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff, Nietzsches Auseinandersetzung mit J. G. Vogt, in: Nietzsche-Studien 13/1984, S. 211—227. 198 Die Passage erinnert an die Worte, die Nietzsche in seiner Schrift über die Vorplatoniker Heraklit in den Mund legt: „ ,Ich sehe nichts als Werden. Laßt euch nicht täuschen! In eurem kurzen Blick liegt es, nicht im Wesen der Dinge, wenn ihr irgendwo festes Land im Meere des Werdens und Vergehens zu sehen glaubt. Ihr gebraucht N a m e n der Dinge als ob sie eine starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zweiten Male steigt, ist nicht derselbe als bei dem ersten M a l e . ' " ( P H G 5, 3/2, 317). 199 GA 19, 174. 20° Ebd., S. 175 f. 201 P H G 10, 3 / 2 , 337. 202 A . a . O . , S. 168. 203 Vgl Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., §63.
Anmerkungen 204 bis 219 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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GA 19, 176. 205 Ebd. 206 Vg] a u c h die folgende Aufzeichnung vom Sommer 1872 — Anfang 1873: „Alles Erkennen ist ein Wiederspiegeln in ganz bestimmten Formen, die von vornherein nicht existiren. Die Natur kennt keine G e s t a l t , keine G r ö ß e , sondern nur f ü r ein Erkennendes treten die Dinge so groß und so klein auf. Das U n e n d l i c h e in der N a t u r : sie hat keine Grenze, nirgends. N u r f ü r uns giebt es Endliches. Die Zeit in's U n e n d l i c h e theilbar." (III 19 [133], 3 / 4 , 50). Aus dem gleichen Zeitraum stammt auch dieses N o t a t : „Die U n e n d l i c h k e i t ist die uranfängliche Thatsache: es wäre nur zu erklären, woher das Endliche stamme. Aber der Gesichtspunkt des Endlichen ist rein sinnlich d. h. eine T ä u s c h u n g . / / W i e kann man von einer Bestimmung der Erde zu reden wagen ! / / I n der unendlichen Zeit und dem unendlichen Räume giebt es keine Ziele: w a s d a i s t , i s t e w i g d a in irgend welchen Formen. Was f ü r eine metaphysische Welt es geben soll, ist gar nicht abzusehn." (III 19 [139], 3 / 4 , 52) Der Gedanke: „In der unendlichen Zeit und dem unendlichen Räume giebt es keine Ziele: w a s d a i s t , i s t e w i g d a " bildet den Ausgangspunkt f ü r die Lehre von der ewigen Wiederkunft. 207
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Das Zitat dort auf S. 40. Anni Anders meint (Schlechta/Anders, a. a. O., S. 67), daß Nietzsche das Zitat „wohl F. A. Langes .Geschichte des Materialismus' (S. 388) entnommen [hat]. Wir wissen zwar, daß Nietzsche 1868 vorgehabt hat, die Helmholtzsche Arbeit selbst zu studieren" — sie verweist auf eine in BAW 3, 394 abgedruckte Notiz —, „doch ist es sehr unwahrscheinlich, daß er damals dazu gekommen ist." A . a . O . , §29, S. 134. H L 6, 3 / 1 , 282. Ende 1870—April 1871, III 7 [185], 3 / 3 , 219. P H G 5, 3 / 2 , 318 f. Das lehrt jener Passus der „Geburt der Tragödie ( G T 7, 3 / 1 , 53), der die Heilkraft der Kunst bedenkt: „sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt: diese sind das E r h a b e n e als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das K o m i s c h e als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden.", womit, wie aus dem Zusammenhang eindeutig hervorgeht, die griechische Tragödie und die griechische Komödie gemeint sind. Fink, a . a . O . , S. 17. G T 18, 3 / 1 , 111. Wenn Fink dagegen davon spricht, „das tragische Pathos lebt aus dem Wissen, ,alles ist eins' " (a. a. O., S. 17; Hervorhebung durch mich, T h . B.), und darum jene oben erwähnte „Ansicht" als „Grunderkenntnis" qualifiziert, dann belegt er damit nicht nur erneut, daß sein Verständnis der Nietzscheschen Grundfrage, der Frage nach der Wahrheit, unzureichend ist, vielmehr hat er zudem die „ G e b u r t der T r a g ö d i e " schlichtweg nicht genau genug gelesen. In diesen Zusammenhang gehört auch die folgende Charakterisierung des Heraklitischen Denkens in „ D i e Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" ( P H G 7, 3/2, 325): „So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an, der an dem Künstler und an dem Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit doch in sich Gesetz und Recht tragen kann, wie der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk steht, wie Nothwendigkeit und Spiel, Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des Kunstwerkes paaren müssen." BAW 2, 100: „ H u n d s t a g e 1861 beendigt .Schmerz ist der Grundton der Natur', vierhändig." D e r Titel nach Justinus Kerner. Siehe dazu: Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Der musikalische Nachlaß, hrsg. im Auftrag der Schweiz. Musikforschenden Gesellschaft, Basel und Kassel 1976, S. 288—297, sowie S. 350. Fink, a . a . O . , S. 165. Solches ist beispielsweise Goethe an Kant aufgegangen. Kant führt im Abschnitt IV der Einleitung der „Kritik der reinen V e r n u n f t " , „ V o n dem Unterschiede analytischer und
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Anmerkungen 219 bis 228 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
synthetischer Urteile", aus — was sich bereits bei Descartes findet —, daß der Begriff des Körpers nicht ohne den Begriff der Ausdehnung gedacht werden könne, wohingegen das Merkmal der Schwere in ihm nicht mitgesetzt sei. Der Satz, daß ein Körper ausgedehnt ist, stehe a priori fest und sei kein Erfahrungsurteil, anders als der Satz, daß ein Körper schwer ist. Dieser sei darum ein synthetisches Urteil (und zwar a posteriori), jener hingegen ein analytisches, weil im Subjekt „ K ö r p e r " das Prädikat „Ausdehnung" enthalten sei. Dagegen wendet Goethe in einer Marginalie seines Handexemplars der „Kritik der reinen V e r n u n f t " ein: „Die Ausdehnung eines Körpers wird eigentlich nur früher erkannt, weil das Auge früher ist, als das Gefühl. Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Schwere, Schall sind doch alles Prädikate, die zum Subjekt notwendig gehören und nur daraus entwickelt werden, die Erfahrung findet sie ja nicht damit v e r b u n d e n , sondern sie wird sie nur am Subjekt g e w a h r . Und zusammen machts den Begriff von Körper." (Zitiert nach: Felix Weinhandl, Goethes Metaphysik, a. a. O., S. 145.) Da wir diese Anmerkung hier nicht in allen Einzelheiten auslegen können, bemerken wir nur so viel: Für Goethe spricht sich in der Abspaltung der Prädikate „Schwere", „Schall" ins Nichtapriorische des logischen Subjekts „ K ö r p e r " lediglich der physiologische Vorrang des Gesichtssinnes beim erkennenden Subjekt aus. 220 Diels/Kranz Β 3; Übersetzung nach: Martin Heidegger, Sein und Zeit, a . a . O . , S. 171. 221 Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [36], 3 / 3 , 70. 222 Übersetzung nach: Martin Heidegger, Sein und Zeit, a . a . O . , S. 171. 223 III/5, 172. 224 G T 21, 3 / 1 , 131. 225 1871, III 9 [125], 3/3, 332 f., hier: S. 332. 226 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [66], 3 / 4 , 28. Vgl. dazu auch: Richard Wagner, Beethoven, 46, wo der Verfasser im Gefolge der Darstellung der Schopenhauerschen Traumtheorie bemerkt: „Eine nicht minder bestimmte Erfahrung ist nun aber diese, daß neben der, im Wachen wie im Traume als sichtbar sich darstellenden Welt, eine zweite, nur durch das Gehör wahrnehmbare, durch den Schall sich kundgebende Welt, also recht eigentlich eine Schallwelt neben der Lichtwelt, f ü r unser Bewußtsein vorhanden ist, von welcher wir sagen können, sie verhalte sich zu dieser wie der T r a u m zum W a c h e n : sie ist uns nämlich ganz so deutlich wie jene, wenngleich wir sie als gänzlich verschieden von ihr erkennen müssen." Er faßt damit die spezifische Welterfahrung des Musikers, die in dem Sinne genuin zu nennen ist, daß sie unmittelbar gehört wird. Carl Adolf Martienssen f ü h r t in seinem Buch „Schöpferischer Klavierunterricht" (Wiesbaden 1983) aus tiefem Wissen darum über die „malenden und abbildenden Elemente in den Werken Bachs" aus: „Sind das nun Übertragungen der Eindrücke des Gesichtsinnes auf das O h r , sind das Nachahmungen visueller Vorstellungen in der Hörsphäre? Nein! Für die Seele Bachs war das Auge nur ein Zwischenglied zwischen der Außenwelt und seinem O h r . Auch die sichtbareWeh erlebte er, apperzipierte er in seinem Ohre." (Ebd., S. 18; ich verdanke den Hinweis auf dieses Buch, in dem sich noch weitere Beispiele finden, Frau Dorothee Thomas, Detmold.) 227 Im letzten Zitat fährt Schopenhauer fort: „denn in den Empfindungen dieser Sinne liegt so wenig die Anschauung, daß dieselben vielmehr noch gar keine Ähnlichkeit haben mit den Eigenschaften der Dinge, die mittelst ihrer sich uns darstellen [ . . . ] . N u r muß man hiebei das, was wirklich der Empfindung angehört, deutlich aussondern von dem, was in der Anschauung der Intellekt hinzugetan hat." Dies aber sind laut Schopenhauer Zeit, Raum und Kausalität. 228 Wenn Schopenhauer in seiner Dissertation bemerkt: „Getast und Gesicht nun also haben zuvörderst jedes seine eigenen Vorteile; daher sie sich wechselseitig unterstützen. Das Gesicht bedarf keiner Berührung, ja keiner N ä h e : sein Feld ist unermeßlich, geht bis zu den Sternen. Sodann empfindet es die feinsten Nuancen des Lichts, des Schattens, der Farbe, der Durchsichtigkeit: es liefert also dem Verstände eine Menge fein bestimmter Data, aus welchen er nach erlangter Übung die Gestalt, Größe, Entfernung und Beschaffenheit der Körper konstruiert und sogleich anschaulich darstellt. Hingegen ist das Getast zwar an den
Anmerkungen 228 bis 247 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
377
Kontakt gebunden, gibt aber so untrügliche und vielseitige Data, daß es der gründlichste Sinn ist. Die Wahrnehmungen des Gesichts beziehn sich zuletzt doch auf das Getast" (SG, 71) — dann bedarf es, um letztere Behauptung zu widerlegen, nur des einfachen Hinweises, daß der Blinde den von ihm sukzessive ertasteten Raum auf Distanz und simultan, d. h. als augen-blicklichen vorstellt. Zu seiner phänomenwidrigen Behauptung aber wird Schopenhauer durch ein seit Descartes Dioptrik übliches physikalisches Modell des Sehens verleitet, das die Tätigkeit der Augen als aufeinander abgestimmte Tätigkeit zweier Taststangen darstellt: „ja das Sehn ist als ein unvollkommenes, aber in die Ferne gehendes Tasten zu betrachten, welches sich der Lichtstrahlen als langer Taststangen bedient", fährt Schopenhauer in jenem Zitat fort. — Ein spekulativer Versuch Nietzsches, eine der optischen W a h r n e h m u n g phylogenetisch vorausliegende rein haptische W a h r n e h m u n g zu konstruieren, wobei er das W o r t „begreifen" konkret nimmt, findet sich in einer Aufzeichnung vom August—September 1885 (VII 40 [28], 7 / 3 , 375 f.). 229 Vgl j n diesem Zusammenhang die nachfolgende Aufzeichnung Nietzsches vom Winter 1883—1884 (VII 24 [17], 7 / 1 , 698): „Bei der Entstehung der Organismen denkt er sich z u g e g e n : was ist bei diesem Vorgange mit Augen und Getast wahrzunehmen gewesen? Was ist in Zahlen zu bringen? Welche Regeln zeigen sich in den Bewegungen? Also: der Mensch will alles Geschehen sich als ein G e s c h e h e n f ü r A u g e u n d G e t a s t zurechtlegen, folglich als Bewegungen: und will F o r m e l n finden die ungeheure Masse dieser Erfahrungen zu v e r e i n f a c h e n . R e d u k t i o n a l l e s G e s c h e h e n s auf den Sinnenmenschen und Mathematiker." 230
III 19 [217], 3 / 4 , 75. Phänomenologie, S. 172: „Sein Denken als solche[s] bleibt das gestaltlose Sausen des Glockengeläutes oder eine warme Nebelerfüllung, ein musikalisches Denken, das nicht zum Begriffe, der die einzige immanente gegenständliche Weise wäre, kommt." 232 Ästhetik III, 148. 233 KSA 14 (Kommentarband), 114. 234 Ästhetik III, 130. 235 Frühjahr 1871, III 12 [1], 3 / 3 , 375—387, hier: S. 382. 236 G T 5, 3 / 1 , 40. 237 KSA 14 (Kommentarband), 114. 23 « Wie Anm. 235, hier: S. 382. 239 Ebd., S. 379. 240 Ästhetik III, 140. 241 Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [37], 3 / 3 , 70 f., hier: S. 70. 242 September 1870—Januar 1871, III 5 [79], 3 / 3 , 115 f., hier: S. 115. 243 Ästhetik III, 149. 244 I I / l , 255—258, hier: S. 257. 245 September 1870—Januar 1871, III 5 [79], 3 / 3 , 115 f., hier: S. 115. Das heißt, daß die Einheit nur als Vielheit ist — in diesem Gedanken liegen bereits Nietzsches spätere Überlegungen zur Illusion der Einheit präformiert, auf die wir bereits in Anm. 71 hingewiesen haben: „Alle Einheit ist n u r als O r g a n i s a t i o n u n d Z u s a m m e n s p i e l Einheit". Getragen werden diese späteren Ausführungen von seiner Konzeption des Willens zur Macht, welche — und darin ist sie von allen vorgängigen metaphysischen Konzeptionen unterschieden: Nietzsche hebt die Vielheit und Buntheit der physischen Welt nicht in einer metaphysischen Einheit auf — eine solche der Vielheit von Willen zur Macht ist (vgl. dazu vor allem die in Anm. 71 angeführten Arbeiten von Müller-Lauter), sowie den darin beschlossenen Überlegungen, weshalb das vielheitliche Werden der „ h ö h e r e n " Illusion einheitlichen Seins bedarf: U m sich jeweils übersteigen und so fortschreitend aufsteigern zu können, muß sich das Werden allererst beständigen, d. h. im und gegen den eigenen Fortriß Stand gewinnen. 246 Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 2 [10], 3 / 3 , 45 f., hier: S. 46. 247 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [217], 3/4, 75. 231
378
Anmerkungen 248 bis 253 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
248
Siehe P H G 10, 3 / 2 , 338: „ N u r in den verblaßtesten, abgezogensten Allgemeinheiten, in den leeren Hülsen der unbestimmtesten W o r t e soll jetzt die Wahrheit wie in einem Gehäuse aus Spinnefäden, wohnen: und neben einer solchen ,Wahrheit' sitzt nun der Philosoph, ebenfalls blutlos wie eine Abstraktion und rings in Formeln eingesponnen. Die Spinne will doch das Blut ihrer O p f e r ; aber der parmenideische Philosoph haßt gerade das Blut seiner Opfer, das Blut der von ihm geopferten Empirie." 249 Vgl dazu: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 33 Bde., Nachdruck München 1984, hier: Bd. 5, Sp. 3403 ff. 250
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252
Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel, Basel, Tours, London und München 1984, S. 66. Ebd., S. 38: „ D e n Terminus .absolute Musik' bezog Nietzsche, indem er ihn beim W o r t nahm, zunächst auf die Emanzipation, die Loslösung der Musik von der Sprache." Später werden wir zeigen, daß Nietzsche auch das Wagnersche Musikdrama als absolute Musik, nämlich als Symphonie hört. „Tristan und Isolde", „das eigentliche opus metaphysicum aller Kunst" (WB 8, 4 / 1 , 51), bedarf nur darum einer H a n d l u n g und eines dichterischen Textes, „weil kein H ö r e r dem W e r k seelisch standhalten könnte, wenn es sich als die Symphonie zeigte, die es eigentlich ist." (Dahlhaus, a. a. O., S. 38) So ging Nietzsche die Idee der absoluten Musik, „die Ε. T . A. H o f f m a n n durch Beethovens Fünfte Symphonie — bezogen auf Wackenroders und Tiecks Metaphysik der Instrumentalmusik — zur Erfahrung geworden war, [ . . . ] an Wagners ,Tristan' auf: die Idee, daß Musik gerade dadurch, daß sie sich von empirischen Bedingtheiten — von Funktionen, Worten, Handlungen und schließlich sogar von irdisch greifbaren Gefühlen und Affekten — immer weiter entferne, ihre metaphysische Bestimmung erreiche." (Ebd.) Nietzsche polemisiert darum gegen die von Wagner in „ O p e r und D r a m a " aufgestellte, selbstapologetische Behauptung, mit dem 4. Satz seiner 9. Sinfonie habe Beethoven „ein feierliches Bekenntniß über die Grenzen der absoluten Musik abgegeben", und nennt sie einen „ungeheuerlichen aesthetischen Aberglauben" (Frühjahr 1871, III 12 [1], 3 / 3 , 375—387, hier: S. 385), eine Auffassung, über die mit dem Kritisierten indes bereits Einverständnis bestand. Es wurde nur darum nicht vollends offenkundig, „weil Wagner davor zurückscheute, die tragenden Thesen aus ,Oper und D r a m a ' unmißverständlich zu widerrufen. D a ß die Musik eine Funktion des Dramas sei oder sein müsse, glaubte er zwei Jahrzehnte nach ,Oper und D r a m a ' längst nicht mehr. [ . . . ] Aus dem Feuerbach-Enthusiasten, der die leibhafte Existenz des Menschen — also im Drama die sichtbare Aktion — akzentuierte, ist der Schopenhauer-Adept geworden, der aus der ,Orchestermelodie' des musikalischen Dramas das ,innerste Wesen' der Vorgänge heraushörte." Dahlhaus verweist in diesem Zusammenhang auf einen Satz von Wagners Beethoven-Abhandlung von 1870, „dem zentralen D o k u m e n t der Schopenhauer-Rezeption" (ebd., S. 39), wonach „die Musik das innerste Wesen der G e b ä r d e " — damit ist die szenisch-mimische Aktion insgesamt gemeint — „mit solch unmittelbarer Verständlichkeit aus[spricht], daß sie, sobald wir ganz von der Musik erfüllt sind, sogar unser Gesicht f ü r die intensive W a h r n e h m u n g der Gebärde depotenziert, so daß wir sie endlich verstehen, ohne sie selbst zu sehen." (Beethoven, 55) Noch deutlicher ist der von Dahlhaus angeführte Satz aus Wagners 1872 verfaßtem Aufsatz „Uber die Benennung , M u s i k d r a m a ' " , in dem der Verfasser seine Dramen „als ersichtlich gewordene Taten der Musik" bezeichnet (Musikdrama, 276). Und 1878 spreche Wagner, „in einem Ausbruch von Ekel über das ,Kostüm- und Schminkewesen', sogar von einem unsichtbaren Theater', das man — in Analogie zum .unsichtbaren Orchester' — erfinden müsse." (Dahlhaus, a. a. O., S. 40, der nach Carl Friedrich Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Band IV, Leipzig 1911, S. 137 f. zitiert) Was Dahlhaus zu dem Resümee veranlaßt: „ D e r Theatromane zog sich angesichts der Realität des Theaters, die ihn enttäuschte, in ein Traumbild zurück, wie es Nietzsche in der ,Geburt der Tragödie' skizziert hatte." (Ebd., S. 40).
Ebd., S. 66. 253 Vgl Sören Kierkegaard, E n t w e d e r / O d e r , Erster Teil Band 1, übersetzt von Emanuel
Anmerkungen 253 bis 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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255 256 257 258 259
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Hirsch, Gütersloh 1979, S. 72: „was eigentlich gehört werden soll, macht sich fort und fort vom Sinnlichen frei." Im Falle des auf S. 59 f. angeführten Zitates scheint es auf den ersten Blick auch möglich zu sein, daß Nietzsche in dem Satz: „dadurch daß er [Parmenides] die Sinne und die Befähigung Abstraktionen zu denken, also die Vernunft jäh auseinander riß", im Widerspruch zu unseren Ausführungen die Vernunft als Einheit von Sinnen und Begriffsvermögen auffaßt. Gegen diese Annahme spricht aber nicht nur der auf S. 381 zitierte, aus der Spätzeit des Nietzscheschen Denkens stammende Text, nicht nur die Vermutung, daß Nietzsche auch hier an den Sprachgebrauch Schopenhauers anknüpft, sondern vor allem eine Parallelstelle derselben Schrift. Im Abschnitt 13 von „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" kritisiert Nietzsche dort, wo er „die Unwahrheit jener absoluten Trennung von Sinnenwelt und Begriffswelt und der Identität von Sein und D e n k e n " (3/2, 344) zu erweisen sucht, „das Denken der V e r n u n f t in Begriffen". Dementgegen spricht f ü r die Lesart, die V e r n u n f t sei die Einheit von Sinnen und begrifflichem Denken, im ersten Zitat nur ein fehlendes Komma. Der Terminus nach Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 233. III 19 [179], 3 / 4 , 62 f. W L 1, 3 / 2 , 374 f. III 7 [156], 3 / 3 , 207. In vergleichbarem Sinne führt Martin Heidegger, auf dessen Überlegungen zum hermeneutischen Zirkel wir anläßlich unserer ersten Ausführungen zu den Voraussetzungen einer Grunderfahrung schon verwiesen haben (siehe S. 48), von seinem Ansatz her im Hinblick auf die griechische Seinserfahrung aus: „ D i e Auslegung des Seins als ι δ έ α drängt sofort den Vergleich der Erfassung des Seienden mit dem Sehen auf. Die Griechen haben denn auch, zumal seit Piatons Zeit, das Erkennen als eine Art Sehen und Schauen begriffen, was sich in dem heute noch üblichen Ausdruck des ,Theoretischen' anzeigt, worin θέα, der Blick, und ό ρ ά ν , sehen (Theater — Schauspiel) sprechen. Man glaubt diesem Sachverhalt eine tiefere Erklärung mitzugeben, wenn man versichert, die Griechen seien im besonderen Maße optisch veranlagt und ,Augenmenschen' gewesen. D a ß diese beliebte Erklärung keine Erklärung sein kann, ergibt sich leicht. Erklärt soll werden, weshalb die Griechen den Bezug zum Seienden durch das Sehen verdeutlichen. Dies kann jedoch nur den zureichenden Grund in der f ü r die Griechen maßgebenden Auslegung des Seins haben. Weil Sein besagt: Anwesenheit und Beständigkeit, deshalb ist das ,Sehen' vornehmlich geeignet, als Erläuterung f ü r die Erfassung des Anwesenden und Beständigen zu dienen. Denn im Sehen haben wir das Erfaßte in einem betonten Sinne ,gegenüber', vorausgesetzt, daß nicht schon unserem Sehen eine Auslegung des Seienden zugrunde liegt. Die Griechen haben das Verhältnis zum Seienden nicht durch das Sehen erläutert, weil sie ,Augenmenschen' waren, sondern sie waren, wenn man so will,,Augenmenschen', weil sie das Sein des Seienden als Anwesenheit und Beständigkeit erfuhren." (Nietzsche, Bd. 2, a . a . O . , S. 223 f.) Diese Gedanken Heideggers geben uns Winke f ü r mehrere bisher unbedacht gebliebene Fragen, die uns ein tieferes Verständnis der Nietzscheschen Grunderfahrung ermöglichen können. Exkurs Ausgangspunkt und Ziel des sich hier eröffnenden, in mehreren Etappen abzuschreitenden Weges soll Heideggers Behauptung sein, daß „beständige Anwesenheit" der unausgesprochene Sinn des Seins f ü r den Anfang des abendländischen Denkens, die griechische Philosophie, und damit f ü r die Geschichte der Metaphysik überhaupt ist (vgl. Μ. H., Hegels Begriff der Erfahrung, in: ders., Holzwege, a . a . O . , S. 111—204, hier: S. 151: „Die Seiendheit des Seienden, die seit dem Beginn des griechischen Denkens bis zu Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen sich als die Wahrheit des Seienden ereignete, ist f ü r uns nur eine, wenngleich entscheidende Weise des Seins, das keineswegs nur als Anwesenheit des Anwesenden erscheint."); eine Behauptung, die Heideggers eigener Auffassung, wonach der Sinn von Sein aus der Zeit zu verstehen ist,
380
Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" einerseits zur Abhebung, andererseits zur Bestätigung dient, „indem sie zeigt, daß auch schon in der Tradition der Sinn von Sein unausdrücklich aus der Zeit, wenngleich unter einem Primat der Gegenwart verstanden worden war." (Ernst Tugendhat, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Darmstadt 1971 ff., Bd. 1, Sp. 428, Artikel „Anwesenheit"; vgl. dazu: Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 25 f.; ders., Kant und das Problem der Metaphysik, a. a. O., 5 44; ders., Der Spruch des Anaximander, in: ders., Holzwege, a. a. Ο., S. 317—368, hier: S. 340 ff.) Die letzte Auslegung des Seins in diesem Sinne meint Heidegger aber im Gedanken der ewigen Wiederkunft entdecken zu können, einem Grundgedanken der Nietzscheschen Philosophie, die Heidegger darum auch — dies die zentrale, indes inhaltlich jeweils anders ausgefüllte These aller seiner Nietzsche-Auslegungen (siehe dazu: Wolfgang Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Ubermensch, a. a. O.) — als das Ende der Metaphysik bezeichnet: Er glaubt in jenem Gedanken die auf seine Weise erfolgende Wiederaufnahme der „wesentlichen Grundstellungen des Anfangs [der Metaphysik], und zwar in ihrem Zusammenschluß" (Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 465 f.) erkennen zu können, so daß sich der Ring schließe, „den der Gang des Fragens nach dem Seienden als solchem im Ganzen bildet" (ebd., S. 464), sind doch Grundstellungen f ü r Heidegger Antworten „auf die noch nicht entfaltete Leitfrage, was das Seiende sei" (ebd., S. 456). (Die Ausfaltung dieser Leitfrage zur Grund-frage der Philosophie, in welchem Geschehnis f ü r Heidegger die Überwindung der Metaphysik eingefaltet ist, liegt Heidegger zufolge in der Seinsfrage beschlossen: „Diese allererst zu entfaltende und zu begründende Frage nennen wir die Grund-frage der Philosophie, weil in ihr die Philosophie erst den Grund des Seienden als Grund und zugleich ihren eigenen Grund erfragt und sich begründet.", ebd., S. 80.) Als die wesentlichen Grundstellungen des Anfangs sieht Heidegger aber die Leitfragenantworten von Parmenides und Heraklit an. Dabei laute die Antwort des ersteren grob gesagt: das Seiende ist, wozu Heidegger bemerkt: „eine merkwürdige Antwort; allerdings, doch eine sehr tiefe, denn damit ist zugleich und erstmalig f ü r alles K o m m e n d e " — er hebt hervor: „auch f ü r Nietzsche" — „festgelegt, was ,ist' und ,Sein' heißt: Beständigkeit und Anwesenheit, ewige Gegenwart." (Ebd., S. 465) Ebenso grob gesagt laute hingegen die Antwort des letzteren: das Seiende wird, was Heidegger so interpretiert: „seiend ist das Seiende im beständigen Werden, im sich Entfalten und gegenwendigen Zerfallen." (Ebd.) Gesetzt, Heideggers Auslegung, das Denken habe anfänglich das Sein als Anwesenheit und Beständigkeit gedacht, ist zutreffend, dann könnte man seine Behauptung, auch Nietzsche sei durch diese Antwort auf die Leitfrage in der Weise festgelegt worden, daß er am Ende seines Denkweges im Gedanken der ewigen Wiederkehr das W e r d e n selbst als Sein wollen mußte, vielleicht dadurch zu erschüttern versuchen, daß man auf die Bindung dieser Antwort an die Sphäre des optischen Sinnes hin- und auf Nietzsches Selbstcharakterisierung als „Ohrenmenschen" mit den Folgerungen verwiese, daß diese Charakterisierung zum ersten gegen eine vollkommene Prägekraft jener anfänglichen Antwort im Falle Nietzsches spreche, weswegen, dies zum zweiten, auch dessen eigene Berufung auf Heraklit nicht Rechtens sein könne, müßten mithin doch das Heraklitische und das Nietzschesche Werden im Wesen unterschieden sein. Mag die letztere Folgerung, wenngleich mit anderer Begründung, auch Heideggers Zustimmung finden — er selber spricht von einem „Abgrund", der „zwischen der Vollendung der abendländischen Metaphysik durch Nietzsche und dem in den Anfang gestellten Spruch des Heraklit klafft" (Μ. H., Heraklit, 1. Der Anfang des abendländischen Denkens, 2. Logik. Heraklits Lehre vom Logos, Gesamtausgabe Bd. 55, hrsg. v. Manfred S. Frings, Frankfurt a. M. 1979, S. 68), und bezeichnet demzufolge Nietzsches Auslegung der Lehre des Ephesers als „die fürchterlichste Mißdeutung dessen [ . . . ] , was Heraklit denkt" (ebd., S. 5) —, so tritt der solcherweise Argumentierende hingegen mit der ersten Folgerung nicht nur in einen Streit um Heideggers Nietzsche-Interpretation ein, vielmehr sieht er sich unversehens in eine Auseinandersetzung mit Heideggers eigenem philosophischem Ansatz verstrickt — eine Auseinandersetzung, die im Rahmen dieser Arbeit indes nicht ausgetragen werden kann.
A n m e r k u n g 259 z u m Abschnitt „ V o r a u s s e t z u n g e n "
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S o m ü ß t e nämlich in aller A u s f ü h r l i c h k e i t die F r a g e e r ö r t e r t w e r d e n , w a r u m H e i d e g g e r b e h a u p t e n k a n n u n d m u ß , d a ß „ k e i n S i n n e s w e r k z e u g , f ü r sich g e n o m m e n , v o r d e m a n d e r e n einen V o r r a n g h a b e n k a n n , w e n n es sich u m die E r f a h r u n g v o n S e i e n d e m h a n d e l t . " W o m i t er meint, „ d a ß keine Sinnlichkeit jemals Seiendes als Seiendes z u v e r n e h m e n v e r m a g . " ( N i e t z s c h e , Bd. 2, a. a. O . , S. 224) D a s aus der u n d in die U n v e r b o r g e n h e i t a n w e s e n d e Seiende v e r m a g u n s e r e r T r a d i t i o n z u f o l g e nämlich allein die V e r n u n f t , die r a t i o , in seiner Seiendheit z u v e r n e h m e n . Sie allein k a n n d a r u m a u c h A n t w o r t g e b e n auf die eine d e r beiden G r u n d f r a g e n d e r π ρ ώ τ η φ ι λ ο σ ο φ ί α , der ersten P h i l o s o p h i e — in H e i d e g g e r s A u s l e g u n g : d e r M e t a p h y s i k — , nämlich auf die Frage n a c h d e m ö v f| ö v , d. h. n a c h d e m Seienden als solchem. (Vgl. d a z u : Μ. H . , Die G r u n d b e g r i f f e d e r M e t a p h y s i k , W e l t — Endlichkeit — E i n s a m k e i t , G e s a m t a u s g a b e Bd. 2 9 / 3 0 , hrsg. v. F r i e d r i c h - W i l h e l m v. H e r r m a n n , F r a n k f u r t a. M. 1983, S. 4 6 — 6 9 ; siehe auch das n a c h f o l g e n d e Z i t a t aus H e i d e g g e r s A b h a n d l u n g „ D e r S a t z des A n a x i m a n d e r " , a. a. O . , S. 344: „ G e s e h e n h a b e n ist das W e s e n des Wissens. Im G e s e h e n h a b e n ist stets schon A n d e r e s ins Spiel g e t r e t e n als der V o l l z u g eines optischen V o r g a n g e s . Im G e s e h e n h a b e n ist das V e r h ä l t n i s z u m A n w e s e n d e n hinter jede A r t v o n sinnlichem u n d unsinnlichem E r f a s s e n z u r ü c k g e g a n g e n . V o n da h e r ist das G e s e h e n h a b e n auf das sich lichtende A n w e s e n b e z o g e n . D a s S e h e n b e s t i m m t sich nicht aus d e m A u g e , s o n d e r n aus d e r L i c h t u n g des Seins. D i e I n s t ä n d i g k e i t in ihr ist das G e f ü g e aller menschlichen Sinne. D a s W e s e n des Sehens als G e s e h e n h a b e n ist das Wissen. Dieses behält die Sicht. Es bleibt e i n g e d e n k des Anwesens. D a s Wissen ist das G e d ä c h t n i s des Seins.") W i e aber, w e n n N i e t z s c h e diese F r a g e nach d e m Seienden als solchem f ü r v o r d e r g r ü n d i g hielte, weil sie einer g r o b e n Fiktion n a c h f r a g t ? W e n n sein D e n k e n in einen Bereich v o r z u d r i n g e n s u c h t e , w o diese F r a g e ihren Sinn verliert? K ö n n t e d a n n vielleicht ein S i n n e s w e r k z e u g den V o r r a n g v o r d e n a n d e r e n h a b e n ? In d e r T a t hält N i e t z s c h e die Seiendheit f ü r eine Fiktion, die v o n d e r V e r n u n f t e r z e u g t w i r d , i n d e m sie das Z e u g n i s „ d e r " Sinne v o m reinen W e r d e n kategorial z u m Begriff des Seienden u m f ä l s c h t . D e r w e i s e gesteht a u c h e r w o h l z u , d a ß die Sinnlichkeit als solche niemals Seiendes als Seiendes v e r n e h m e n k a n n — dies aber d a r u m , weil es Seiendes in „ W a h r h e i t " , auf d e r E b e n e tiefster S c h e i n b a r k e i t , nicht „ g i b t " : D i e Sinne lügen nämlich nicht, sagt N i e t z s c h e in d e r „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " , im Abschnitt „ D i e , V e r n u n f t ' in d e r P h i l o s o p h i e " ( 6 / 3 , 69), in einer Passage, in d e r er die H a l t u n g H e r a k l i t s kritisiert: „ W e n n das a n d r e P h i l o s o p h e n - V o l k das Zeugniss d e r Sinne v e r w a r f , weil dieselben Vielheit u n d V e r ä n d e r u n g zeigten, verwarf er d e r e n Zeugniss, weil sie die D i n g e z e i g t e n , als ob sie D a u e r u n d Einheit hätten. A u c h H e r a k l i t t h a t d e n S i n n e n U n r e c h t . Dieselben lügen w e d e r in d e r A r t , wie die E l e a t e n es g l a u b e n , n o c h wie er es g l a u b t e , — sie lügen ü b e r h a u p t nicht. W a s w i r aus ihrem Z e u g n i s s m a c h e n , das legt erst die L ü g e hinein, z u m Beispiel die L ü g e d e r Einheit, die L ü g e d e r Dinglichkeit, d e r S u b s t a n z , d e r D a u e r . . . D i e . V e r n u n f t ' ist die U r s a c h e , dass w i r das Zeugniss d e r Sinne fälschen. S o f e r n die Sinne das W e r d e n , das V e r g e h n , d e n W e c h s e l zeigen, lügen sie n i c h t . . . A b e r d a m i t wird H e r a k l i t ewig R e c h t b e h a l t e n , dass das Sein eine leere Fiktion ist. D i e ,scheinbare' W e l t ist die einzige: die , w a h r e W e l t ' ist n u r h i n z u g e l o g e n . . . " Eine U b e r w i n d u n g der M e t a p h y s i k k a n n es f ü r N i e t z s c h e n u r d a n n g e b e n , w e n n es d e m D e n k e n gelingt, d e m Z e u g n i s der Sinne n a c h z u d e n k e n . V o n d a h e r gesehen d ü r f t e H e i d e g g e r mit seiner Z u r ü c k s e t z u n g d e r Sinnlichkeit f ü r N i e t z s c h e in d e r T r a d i t i o n d e r M e t a p h y s i k b e f a n g e n bleiben. A u c h ein allfälliger H i n w e i s , d a ß N i e t z s c h e die V o r g ä n g i g k e i t u n d V o r r a n g i g k e i t des D e n k e n s g e g e n ü b e r d e r Flüchtigkeit u n d U n f a ß l i c h k e i t , d e r U n b e g r e i f b a r k e i t d e r Z e u g n i s s e d e r Sinnlichkeit g e r a d e b e w ä h r t , indem er sie zu u n t e r l a u f e n sucht, v e r f ä n g t in diesem Z u s a m m e n h a n g nicht, h a t d o c h N i e t z s c h e das D e n k e n allererst auf seinem eigenen Felde a n z u g r e i f e n , w e n n er d e n n d e m Z e u g n i s d e r Sinne g e g e n ü b e r d e r U b e r m a c h t d e r T r a d i t i o n zu W o r t e n z u v e r h e l f e n bestrebt ist. U n d d o c h darf dabei nicht ü b e r s e h e n w e r d e n , d a ß die Z u w e n d u n g zu d e n S i n n e n auf eine Selbstkritik d e r V e r n u n f t z u r ü c k g e h t , auf ein V o r - U r t e i l des D e n k e n s mithin, seinen K a t e g o r i e n als das Z e u g n i s der Sinne
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Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" verfälschenden Vorurteilen zu mißtrauen. (Ein Vor-Urteil, dessen H e r k u n f t wir immer noch nachfragen.) Heidegger aber hält am Vorrang des Denkens vor der Sinnlichkeit fest, woraus sich seine Geringschätzung der von Nietzsche — trotz einiger kritischer Bemerkungen — am meisten, wenn auch philosophisch nicht immer — etwa in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " — am höchsten geschätzten Kunst, der Musik, mit Notwendigkeit ergibt, ist sie doch als die sinnlichste aller Künste auch die am wenigsten denkerische: Weil sie in ihrem Wesen kein Erkennen ist, darum könne sie niemals, so Heidegger, „die W e r k w e r d u n g des eigentlichen Wissens, des wesentlichen Bezuges des Geistes zum Sein selbst" sein (Μ. H., Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, Gesamtausgabe Bd. 43, hrsg. v. Bernd Heimbüchel, Frankfurt a. M. 1985, S. 159); weswegen sie auch in seiner „Ästhetik", als welche wir vor allem seine Schrift „ V o m Ursprung des Kunstwerkes" ansehen, keine Rolle spielt. Weil er mithin kein solch tiefes Verhältnis zur Musik wie Nietzsche besitzt, weil er, mit Friedrich Kaulbach zu sprechen, „überhaupt nichts Musikalisches an sich hat", darum müssen ihm, wie wir jetzt zeigen wollen, auch Nietzsches Gedanken über die in der Musik eröffnete Sphäre des Werdens, des — wie Nietzsche in der „Geburt der T r a g ö d i e " sagt — Dionysischen einigermaßen fremd und suspekt bleiben. (Wie auch Kaulbach in einem Diskussionsbeitrag zu Müller-Lauters Vortrag „ D a s Willenswesen und der Ubermensch, Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen" [ a . a . O . , S. 185] meint: „Heidegger hat f ü r das Dionysische überhaupt keinen Sinn, vielleicht, weil er überhaupt nichts Musikalisches an sich hat.") Wie allen großen Philosophen mit Ausnahme Schopenhauers und Nietzsches ist auch Heidegger die Musik ob ihrer Begriffslosigkeit in höchstem Maße verdächtig. So bemerkt er über das von der Musik in Gestalt der O p e r dominierte Wagnersche Gesamtkunstwerk, an dem er zu Recht sowohl die bloß „zahlen- und mengenmäßige Vereinigung" der Künste (Nietzsche, Bd. 1, a . a . O . , S. 102) wie die Erhebung des Kunstwerkes zur Religion der Volksgemeinschaft kritisiert: „Dichtung und Sprache bleiben ohne die wesentliche und entscheidende gestalterische K r a f t des eigentlichen Wissens. Die Herrschaft der Kunst als Musik ist gewollt und damit die Herrschaft des reinen Gefühlszustandes: die Raserei und Brunst der Sinne, der große Krampf, das selige Grauen des Hinschmelzens im Genuß, das Aufgehen im ,bodenlosen Meer der Harmonien', das Untertauchen im Rausch, die Auflösung im reinen Gefühl als Erlösung; ,das Erlebnis' als solches wird entscheidend. Das W e r k ist nur noch Erlebniserreger. Alles Darzustellende soll nur wirken als Vordergrund und Vorderfläche, abzielend auf den Eindruck, den Effekt, das Wirken- und Aufwühlenwollen: .Theater'. Theater und Orchester bestimmen die Kunst." (Ebd., S. 102 f.) Können sich diese Ausführungen, soweit sie eine Analyse der Wagnerschen Musik geben, auch auf Nietzsche berufen, so geraten sie doch dort in einen Widerspruch zu dessen Denken, wo sie diese Kritik auf die Musik als solche, auf ihre „Wesensmöglichkeiten", ausdehnen — etwa wenn sie aus der Herrschaft der Kunst als Musik mit Notwendigkeit die Herrschaft des von ihnen beschriebenen reinen Gefühlszustandes erwachsen sehen. Sie lassen außer acht, daß Nietzsche im Hinblick auf das zugrundeliegende schöpferische Bedürfnis wie zwischen zwei Arten des Werdens so auch zwischen zwei Arten der Musik unterschieden hat: das romantische Verlangen nach dem Werden — wie auch nach dem Sein, d. h. den romantischen Pessimismus — sieht er gleich der romantischen Musik aus einem Leiden an Verarmung des Lebens erwachsen, das dionysische Verlangen nach dem Werden — oder auch nach dem Sein, den dionysischen Pessimismus mithin — aus einem Leiden an Überfülle des Lebens. Für die dionysische Musik weiß Nietzsche indes noch keinen empirischen Beleg beizubringen — die Einschätzung der Wagnerschen Musik als eine solche muß er ebenso bald widerrufen wie die Klassifizierung der Schopenhauerschen Philosophie als dionysischen Pessimismus, wobei beide Irrtümer zum Anlaß werden, den Unterschied des Romantischen und des Dionysischen in A n k n ü p f u n g an Goethes Formel: „ D a s Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das K r a n k e " (zu Eckermann am 2. 4.1829) zu bedenken (FW 370, 5 / 2 , 301—304).
Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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Die gleichen Einwände gelten auch f ü r die nachfolgenden Bemerkungen Heideggers, die sich auf eine Aufzeichnung Nietzsches vom Herbst 1887 (VIII 10 [155], 8/2, 209) beziehen. In ihr charakterisiert Nietzsche Wagners musikalische Mittel dahingehend, daß sie „in einer befremdlichen Weise den Mitteln [ähneln], mit denen der Hypnotiseur es zur Wirkung bringt", wobei er sie als gleichsam unmusikalische Musik abwertet. (Der Anfang dieses Fragments lautet: „Es giebt heute auch einen Musiker-Pessimismus selbst noch unter Nicht-Musikern. W e r hat ihn nicht erlebt, wer hat ihm nicht geflucht — dem unseligen Jüngling, der sein Ciavier bis zum Verzweiflungsschrei martert, der eigenhändig den Schlamm der düstersten graubraunsten Harmonien vor sich herwälzt? Damit ist man e r k a η η t , als Pessimist. — O b man aber damit auch als musikalisch erkannt ist? Ich würde es nicht zu glauben wissen. Der Wagnerianer pur sang ist unmusikalisch; er unterliegt den Elementarkräften der Musik ungefähr wie das Weib dem Willen seines Hypnotiseurs unterliegt — und um dies zu k ö n n e n , darf er durch kein strenges und feines Gewissen in rebus musicis et musicantibus mißtrauisch gemacht sein." Heidegger läßt diesen Passus über die Unmusikalität des Wagnerianers und damit auch über das musikalische Unwesen der Wagnerschen Werke außer Betracht, wenn er, wie wir gleich sehen werden, Nietzsches Analyse zu einer Kritik am Wesen der Musik ausmünzt.) Heidegger gibt über diese Aufzeichnung zu bedenken: „ H i e r kommt das Wesentliche der Auffassung des Gesamtkunstwerkes unzweideutig zum Ausdruck: die Auflösung alles Festen in das flüssig Nachgiebige, Eindrucksempfängliche, Schwimmende und Verschwimmende; das Ungemessene, ohne Gesetz, ohne Grenze, ohne Helligkeit und Bestimmtheit, die maßlose Nacht des reinen Versinkens. Mit anderen W o r t e n : die Kunst soll wieder und noch einmal ein absolutes Bedürfnis werden. Aber das Absolute wird jetzt nur noch als das reine Bestimmungslose, als die völlige Auflösung in das reine Gefühl, das sinkende Verschweben in das Nichts erfahren." (Nietzsche, Bd. 1, S. 104) H a t es hier zunächst noch den Anschein, als unterwerfe Heidegger wie Nietzsche allein die Wagnersche Musik seinem — in dieser Hinsichtnahme zutreffenden — Verdikt, so wird man durch den sich anschließenden Gedankengang jedoch eines anderen belehrt: „ D a ß Richard Wagners Versuch scheitern mußte, liegt nicht nur an der Vorherrschaft der Musik vor den anderen Künsten. Vielmehr: daß die Musik überhaupt diesen Vorrang übernehmen konnte, hat bereits seinen Grund in der zunehmend ästhetischen Grundstellung zur Kunst im Ganzen; es ist die Auffassung und Schätzung derselben aus dem bloßen Gefühlszustand und die zunehmende Barbarisierung des Gefühlszustandes selbst zum Brodeln und Wallen des sich selbst überlassenen Gefühls. [ . . . ] Die Aufsteigerung in das W o g e n der Gefühle mußte den fehlenden Raum f ü r eine gegründete und gefügte Stellung inmitten des Seienden bieten, wie sie nur das große Dichten und Denken zu schaffen vermag." (Ebd., S. 105) Wenn Heidegger solche Zeiten, in denen die Musik zur Vorherrschaft vor den anderen Künsten gelangt, nur als Zeiten höchsten Verfalles begreifen kann, dann erhofft sich Nietzsche umgekehrt gerade aus dem Geist der eigentlichen, der dionysischen Musik eine Wiedergeburt der tragischen Weltverhaltung der vorsokratischen Griechen, als welche in seinen Augen die höchste, weil im Wesen antimetaphysische Weltverhaltung ist. (Nur darum kann er in der Frühzeit seines Philosophierens f ü r den Gedanken werben, „den Staat auf Musik zu gründen, — Etwas, das die älteren Hellenen nicht nur begriffen hatten, sondern auch von sich selbst forderten: während die selben Verständnisvollen über dem jetzigen Staat ebenso unbedingt den Stab brechen werden, wie es die meisten Menschen jetzt schon über der Kirche thun.", W B 5, 4 / 1 , 30) Nietzsches Satz von der „Geburt des G e d a n k e n s a u s M u s i k " (Frühjahr 1871, III 9 [125], 3 / 3 , 332), in dem er den Ursprung seines eigenen dionysischen Gedankens beschreibt, ist f ü r Heidegger unannehmbar. In seinen Augen denkt das Denken der Musik wesensmäßig niemals nach, sondern immer voraus. Darauf spielt er an, wenn er in seiner Nietzsche-Vorlesung „ D e r Wille zur Macht als Kunst" über eine Postkarte, die Nietzsche in den Stunden des ausbrechenden Wahns an seinen Freund Peter Gast geschrieben hat („Singe mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich.", 4.1. 1889, I I I / 5 , 575), bemerkt: „Die Welt ist verklärt, ein neues, höheres und ursprünglicheres Sein des Seienden ist
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Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" gestiftet." (Gesamtausgabe, Bd. 43, S. 159) Erst muß ein neues Sein gestiftet und d. h. ins W o r t gefügt sein, ehe ein neues Lied gesungen werden kann. Aber bei Nietzsche erweist sich dieses Verhältnis als umgekehrt — wie könnte er sonst davon sprechen, daß sein Hymnus an das Leben „ergänzend eintreten möge, wo das W o r t des Philosophen nach der Art des Wortes nothwendig undeutlich bleiben muß. Der A f f e k t meiner Philosophie drückt sich in diesem Hymnus aus." (An Felix Mottl am 20. 10. 1887, I I I / 5 , 172 f.) Und in „Ecce h o m o " bemerkt er über die „Geschichte des Zarathustra" ( E H , Also sprach Zarathustra 1, 6 / 3 , 333), daß er „als Vorzeichen" der „Grundconception des W e r k s " , des Gedankens der ewigen Wiederkunft, „eine plötzliche und im Tiefsten entscheidende Veränderung meines Geschmacks, vor Allem in der Musik" findet: „Man darf vielleicht den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen; — sicherlich war eine Wiedergeburt in der Kunst zu h ö r e n , eine Vorausbedingung dazu."?: Das Denken erwächst, so lautet Nietzsches von seiner Philosophie schon in der „Geburt der Tragödie" bedachte Erfahrung, aus einer affektiven Spannung, welche sich als musikalische Gestimmtheit äußert, die das W o r t nur unzureichend zu übertragen vermag (eine affektive Spannung, die Nietzsche später als Wille zur Macht zu denken versucht). In dieser Hinsicht betrachtet er auch die Werke anderer Denker: „so lese ich die Denker und ihre Melodien singe ich nach", heißt es in einem Notat von Ende 1880 (V 7 [18], 5 / 1 , 650), „ich weiß, hinter allen den kalten Worten bewegt sich eine begehrende Seele, ich höre sie singen, denn meine eigene Seele singt, wenn sie bewegt ist." „Sie hätte s i n g e n sollen, diese ,neue Seele' — und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: Ich hätte es vielleicht gekonnt! Oder mindestens als Philologe", bemerkt Nietzsche in einem noch anderwärts zu bedenkenden Satz seines Versuches einer Selbstkritik, den er 1886 seiner philosophischen Erstlingsschrift gewidmet hat. Unfähig, die Musik aufzuzeichnen, die er in sich trägt — auch der Hymnus an das Leben läßt nichts von dem hören, was er ihm zuspricht (er selbst bringt diese seine Unfähigkeit, die musikalische Empfindung in Noten zu fixieren, zum Ausdruck, wenn er am 31. 12. 1871 über seine Komposition „Nachklang einer Sylvesternacht" an seinen Freund Gustav Krug schreibt: „Es ist sonderbar, daß die eigne Empfindung sich so schwer übertragen läßt, und was man dann noch an einer solchen Musik percipirt, o h n e diese meine Empfindung, das weiß Gott. Es muß was Seltsames sein, und ich kann mich schlechterdings nicht hineindenken.", I I / l , 269) — , unfähig, die Musik aufzuzeichnen, die er in sich trägt, sucht er sie in einer Art Klangrede mitzuteilen, eindringlicher noch als in seinen „rein philosophischen" Texten in seinen mehr dichterischen Werken, dem Zarathustra und, nach dem Abreißen des philosophischen Denkens und dem darauf folgenden Verlust der Identität, in den Dionysos-Dithyramben, auf die nur noch, mit dem erschütternden Intermezzo der Rezitation eines, vielleicht seines venezianischen Gondelliedes während der nächtlichen Heimfahrt über den Gotthard (Janz 3, S. 43, Anm.), die Klavierrasereien des tobsüchtig Gewordenen folgen, ehe denn die völlige Apathie eintritt... Unfähig, die Musik aufzuzeichnen, die er in sich trägt, muß er den Widerklang seiner inneren Empfindung in den Werken anderer Komponisten suchen. Zunächst glaubt er ihn in den Werken Richard Wagners finden zu können. So bemerkt er in jenem schon zitierten Brief, den er am 21. 12. 1871, am T a g e nach einem Wagner-Konzert in Mannheim, geschrieben hat, im Hinblick auf die Gedanken der „Geburt der Tragödie" über die Musik des Tribschener Meisters: „Mir gieng(es) wie einem, dem eine Ahnung sich endlich erfüllt. Denn genau das ist Musik und nichts sonst! Und genau das meine ich mit dem W o r t ,Musik', wenn ich das Dionysische schildere, und nichts sonst!" ( I I / l , 2 5 5 — 2 5 8 , hier: S. 256) Später, in dem der „Geburt der T r a g ö d i e " gewidmeten Abschnitt des „Ecce h o m o " , analysiert er diese Fehleinschätzung: „Ein Psychologe dürfte noch hinzufügen, dass was ich in jungen Jahren bei Wagnerischer Musik gehört habe, Nichts überhaupt mit Wagner zu thun hat; dass wenn ich die dionysische Musik beschrieb, ich das beschrieb, was i c h gehört hatte, — dass ich instinktiv Alles in den neuen Geist übersetzen und transfiguriren musste, den ich in mir trug." ( E H , Die Geburt der Tragödie 4, 6 / 3 , 311 f-)
Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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Heidegger hat diese unwillkürliche „Übersetzung" im Auge, wenn er über den geistigen und menschlichen Irrtum des erwachenden Denkers bemerkt: Der „aus dem Rausch kommende Fortriß ins Ganze war es, wodurch der Mensch Richard Wagner und sein W e r k den jungen Nietzsche in den Bann zogen; doch dieses war nur möglich, weil dem in Nietzsche selbst etwas entgegen kam, jenes, was Nietzsche dann das Dionysische nannte. Aber weil Wagner die bloße Aufsteigerung des Dionysischen und die Verströmung in ihm suchte, Nietzsche aber seine Bändigung und Gestaltung, deshalb war auch der Riß zwischen beiden schon vorbestimmt." (Nietzsche, Bd. 1, S. 105) Diese Ausführungen präzisierend kann — im Vorgriff auf unsere Ausführungen über die „Geburt der Tragödie" — gesagt werden, daß der Nietzschesche Begriff des Dionysischen ein relationaler Begriff ist, der auf denjenigen des Apollinischen in der Weise bezogen ist, daß das Dionysische nur im Widerhalt des Apollinischen wie auch umgekehrt das Apollinische nur im Widerstreit des Dionysischen gedacht werden kann. Das dieses Haltes entschlagene „rein Dionysische", das Heidegger im Anschluß an Nietzsche Wagner zuspricht, nennt die „Geburt der Tragödie" — terminologisch widersprüchlich, dazu später — das Tragische oder auch Buddhaistische, das „rein Apollinische" hingegen das Sokratische oder Alexandrinische, auch das Römische. W o das Tragische oder auch das Sokratische zu herrschenden Lebensformen werden, ist nach Nietzsche das Leben erkrankt. Mithin auch im Falle der von Wagner als Rettung aus der sokratischen Erstarrung unserer Kultur gepriesenen „Auflösung alles Festen in das flüssige Nachgiebige, Eindrucksempfängliche, Schwimmende und Verschwimmende", muß doch das Ubermaß der Erfahrung der dionysischen Ek-stasis Nietzsche zufolge in die Bemessenheit der apollinischen Existenz gerettet, in ihre Gemessenheit gefügt werden. Umgekehrt hat sich aber auch diese Existenz dem dionysischen Fortriß offenzuhalten, will sie nicht der sokratischen Erstarrung und Vermessenheit anheimfallen. Von dieser ist aber die rationale und rationelle, die wissenschaftsorientierte Lebensweise der Gegenwartskultur gezeichnet, deren Anfänge Nietzsche auf Sokrates zurückführt. Angesichts dieser Entartungsform des Apollinischen war es möglich, daß Nietzsche einen Augenblick lang im Wagnerschen Gesamtkunstwerk das aus dieser Gefährdung des Lebens und der Kultur Rettende erblickte, konnte es doch so scheinen, als solle hier erneut die für den Vollzug des Werdens unabdingbare Gegenspannung aufgebaut werden. Indes mußte Nietzsche alsbald erkennen, daß Wagner der Spannung in der entgegengesetzten Richtung zu entkommen suchte. In bestimmter Hinsicht kann diese Spannung auch als Widerstreit von Gesetz und Chaos, d. h. von Sein und Werden bestimmt werden. Wir haben bereits gesehen, daß Nietzsche als die tiefste uns erreichbare Scheinbarkeit das Werden ansieht, als welches sich uns als Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit darstellt. Auf der anderen Seite muß jedoch die Frage gestellt werden, warum unser Erkenntnisapparat dieses Werden zum Sein feststellt und uns damit ein täuschendes Bild der Wirklichkeit vermittelt. Die Antwort glaubt Nietzsche in dem Gedanken finden zu können, daß sich das Werden selber Halt geben, daß es sich beständigen muß, um fortschreiten zu können. Das meint jedoch nicht, daß allererst das Werden irgendwo vorhanden wäre, ehe es das Sein aus sich heraussetzte — was bei Nietzsche zudem immer heißt: viele „ S e i n e " — , vielmehr ist es nur in der Form des dem Werden widerstreitenden Seins: das Werden vollzieht sich in der Form des Widerspiels von Werden und Sein. Mit Nietzsches mythologischen Termini gesprochen: Dionysos erscheint als Streit von Dionysos und Apoll — für uns zumindest, die wir uns selber nur unter der Hinsichtnahme des principium individuationis begreifen können und als derweise apollinisch Gefügte das Werden, wie oben gesagt (s. S. 36), nur im Gegenhalt zum Sein verstehen können. Dieser Gedanke eines Widerspiels von Dionysos und Apoll trägt letztlich auch Nietzsches Begriff des „großen Stils", den Heidegger als zentral für Nietzsches Kunstphilosophie ansieht und der ihm Anlaß für eine — vorgeblich mit Nietzsches letztgültigen Ansichten übereinstimmende — Abqualifizierung des Wesens der Musik wird.
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Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Als großen Stil bestimmt Heidegger dasjenige, worin für Nietzsche „die Kunst wirklich in ihr Wesen kommt" (Μ. H., Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, a. a. O., S. 145). Gleichwohl suche man bei ihm vergeblich „nach einer Wesensbestimmung und Wesensbegründung dessen, was Stil heißt" (ebd.). Auch über das, was „großer Stil" meint, spreche er nur in knappen Hinweisen. „Was Nietzsche den großen Stil nennt, dem kommt am nächsten der strenge Stil, der klassische." (Ebd., S. 146) Grundbedingung des Klassischen sei aber für Nietzsche die „gleichursprüngliche Freiheit zu den äußersten Gegensätzen, Chaos und Gesetz." (In der von Heidegger selber an anderer Stelle, S. 157, gebrauchten Terminologie Nietzsches: zum Dionysischen und Apollinischen.) „Also, wohlgemerkt, nicht die einfache Bezwingung des Chaos in einer Form, sondern jene Herrschaft, die die Urwüchsigkeit des Chaos und die Ursprünglichkeit des Gesetzes widerwendig zueinander und gleich notwendig unter einem Joch gehen läßt: die freie Verfügung über dieses J o c h , die gleich weit entfernt ist von einer Erstarrung der Form im Lehrhaften und Formalen wie von einem reinen Vertaumeln im Rausch als dem vermeintlich eigentlich Lebendigen. W o die freie Verfügung über dieses Joch das sich bildende Gesetz des Geschehens ist, da ist der große Stil; wo der große Stil, da ist die Kunst eigentlich in der Reinheit ihrer Wesensfülle wirklich." (Ebd., S. 150) Heidegger fährt fort: „Wenn Nietzsche von der Kunst im wesentlichen und maßstäblichen Sinne handelt, meint er immer die Kunst des großen Stils. Und von hier aus kommt sein innerster Gegensatz zu Wagner am schärfsten ans Licht, vor allem deshalb, weil die Auffassung des großen Stils zugleich eine grundsätzliche Entscheidung nicht nur über Wagners Musik, sondern über das Wesen der Musik überhaupt als Kunst in sich schließt." (Ebd., S. 150 f.) Für Heidegger werden in diesem Zusammenhang drei Aufzeichnungen aus der Spätzeit von Nietzsches Philosophieren wichtig, die er in seiner im Wintersemester 1 9 3 6 / 3 7 gehaltenen Vorlesungen „Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst" zitiert (ebd., S. 151 f.). Die erste Aufzeichnung aus der Zeit der „Morgenröthe" lautet im Zusammenhang (von Heidegger wird nur der erste Halbsatz angeführt): „ D i e Musik hat keinen Klang für die Entzückungen des Geistes; will sie den Zustand von Faust und Hamlet und Manfred wiedergeben, so läßt sie den Geist weg und malt Gemüthszustände, die höchst unangenehm sind ohne Geist und gar nicht zum Ansehen taugen; sie vergröbert und malt die Mißvergnügtheit und den Jammer, vielleicht mit m u s i k a l i s c h e m Geiste; aber wie schrecklich ist diese Kunst, wenn sie ohne Auswahl das Häßliche malt: welche Martern sind den Tönen zu eigen, den aufdringlichen T ö n e n ! — Liegt es daran, daß unter den Musikern ein feiner und wohlgestalteter Geist überhaupt selten ist? D a ß sie das Fühlen in sich nie isoliren und seine Strahlenbrechung und Farbigkeit im Blitz des Gedankens nicht kennen? Sie müssen alle Zustände vergröbern, gleichsam ins Unmenschliche zurückübersetzen: wie als ob die Gedanken und die Worte noch nicht erfunden seien. Dies ist übrigens ein großer Reiz: es ist Urnatur in der Musik: sie gehört in die Zeit, wo man die wilde Natur der Landschaft verehrt und die Hochgebirge entdeckt hat. Einer Gesellschaft, welche den geistigen Genüssen nicht gewachsen ist, welche selbst zu gedankenarm für Gemälde ist, und überhaupt ihre Kopf-Kraft schon verthan hat, wenn sie sich anschickt, sich zu e r g ö t z e n , bleibt der Appell an die Gefühle und Sinne: und in diesen bietet der Musiker die anständigste Ergötzung. Schon gemeiner ist der Theatergenuß, mit dem Conterfei menschlicher Vorgänge und dem groben Reize der indirekten Nachahmung aufregender Scenen. Ein Schritt weiter: und wir haben, zur Erholung, die Erregung der Triebe durch Getränke, usw. — Der Dichter steht höher als der Musiker, er macht höhere Ansprüche, nämlich an den ganzen Menschen: und der Denker macht noch höhere Ansprüche: er will die ganze ges(ammelte) frische Kraft und fordert nicht zum Genießen sondern zum Ringkampf und zur tiefsten Entsagung aller persönlichen Triebe auf." (Herbst 1880, V 6 [39], 5 / 1 , 533 f.) Das zweite Zitat stammt aus dem gleichen Zeitraum (auch hier zitiert Heidegger nur den ersten Halbsatz): „187. D e r Dichter läßt den erkennenwollenden Trieb s p i e l e n , der Musiker läßt ihn a u s r u h e n , — sollte wirklich Beides neben einander möglich sein? Sind
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wir ganz der Musik hingegeben, so giebt es keine W o r t e in unserem Kopfe, — eine große Erleichterung; sobald wir wieder W o r t e hören und Schlüsse machen, das heißt sobald wir den Text verstehen, ist unsere Empfindung f ü r die Musik oberflächlich geworden: wir verbinden sie jetzt mit Begriffen, wir vergleichen sie mit Gefühlen und üben uns im symbolischen Verstehen, — sehr unterhaltend! Aber mit dem tiefen seltsamen Zauber, der unsern Gedanken einmal Ruhe gab, mit jener farbigen Dämmerung, welche den geistigen T a g einmal auslöschte, ist es vorbei. — Sobald man freilich die W o r t e nicht mehr versteht, ist Alles wieder in O r d n u n g : [ . . . ] . — Die O p e r will die Augen zugleich beschäftigen, und weil bei der großen Menge die Augen größer sind, als die Ohren, was viel sagen will, so richtet sich die Musik der O p e r nach den Augen und begnügt sich, charakteristische Fanfaren zu blasen, sobald etwas Neues zu sehen ist, — Anfang der Barbarei." (Frühjahr 1880, V 3 [118], 5/1, 411 f.) Die dritte, aus dem Frühjahr 1888 stammende Aufzeichnung zitiert Heidegger ausführlicher. Wir geben hier im wesentlichen die von ihm angeführten Passagen wieder, halten uns aber auch in diesem Falle an die K G W : „Wille zur Macht als K u n s t / / , M u s i k ' — u n d d e r g r o ß e S t y l / / Die Größe eines Künstlers bemißt sich nicht nach den ,schönen Gefühlen' die er erregt: das mögen die Weiblein glauben. Sondern nach dem Grade, in dem er sich dem großen Stile nähert, in dem er fähig ist des großen Stils. Dieser Stil hat das mit der großen Leidenschaft gemein, daß er es verschmäht zu gefallen; daß er es vergißt zu überreden; daß er befiehlt; daß er w i l l . . . Uber das Chaos H e r r werden das man ist; sein Chaos zwingen, Form zu werden: Nothwendigkeit werden in Form: logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik werden; G e s e t z werden —: das ist hier die große Ambition. Mit ihr stößt man zurück; nichts reizt mehr die Liebe zu solchen Gewaltmenschen — eine Einöde legt sich um sie, ein Schweigen, eine Furcht wie vor einem großen Frevel.. .//Alle Künste kennen solche Ambitiöse des großen Stils: warum fehlen sie in der Musik? Noch niemals hat ein Musiker gebaut, wie jener Baumeister, der den Palazzo Pitti schuf?.. Hier liegt ein Problem. Gehört die Musik vielleich in jene Cultur, w o das Reich aller Art Gewaltmenschen schon zu Ende gieng? Widerspräche zuletzt der Begriff großer Stil schon der Seele der Musik, — dem ,Weibe' in unserer Musik?.. . / / I c h berühre hier eine Cardinal-Frage: wohin gehört unsere ganze Musik? Die Zeitalter des klassischen Geschmacks kennen nichts ihr Vergleichbares: sie ist aufgeblüht, als die Renaissance-Welt ihren Abend erreichte, als die .Freiheit' aus den Sitten und selbst aus den Wünschen davon war: gehört es zu ihrem Charakter, Gegenrenaissance zu sein? Und anders ausgedrückt eine Decadence-Kunst zu sein? etwa wie der Barockstil eine Decadence-Kunst ist? Ist sie die Schwester des Barockstils, da sie jedenfalls seine Zeitgenossin ist? Ist Musik, moderne Musik nicht schon d e c a d e n c e ? . . . / / [ . . . ] / / I c h habe schon früher einmal den Finger auf diese Frage gelegt: ob unsere Musik nicht ein Stück Gegenrenaissance in der Kunst ist? ob sie nicht die Nächstverwandte des Barockstils ist? ob sie nicht im Widerspruch zu allem klassischen Geschmack gewachsen ist, so daß sich in ihr jede Ambition der Classicität von selbst verböte?.. . / / A u f diese Werthfrage ersten Ranges würde die Antwort nicht zweifelhaft sein dürfen, wenn die Thatsache richtig abgeschätzt worden wäre, daß die Musik als Romantik ihre höchste Reife und Fülle erlangt — noch einmal als Reaktions-Bewegung gegen die Classicität.. . / / M o z a r t — eine zärtliche und verliebte Seele, aber ganz achtzehntes Jahrhundert, auch noch in seinem E r n s t e . . . Beethoven der erste große Romantiker, wie im Sinne des f r a n z ö s i s c h e n Begriffs Romantik, wie Wagner der letzte große Romantiker ist... beides instinktive Widersacher des klassischen Geschmacks, des strengen Stils, — um vom .großen' hier nicht zu r e d e n . . . [ . . . ] " (VIII 14 [61], 8 / 3 , 38—40). Wir haben diese Ausführungen Nietzsches in aller Ausführlichkeit zitiert, um die Frage aufwerfen zu können, ob sich Heidegger mit Recht auf sie berufen kann, wenn er im Rahmen seiner Erörterungen zu Nietzsches Begriff des großen Stils im Hinblick auf diesen zu einer Abqualifizierung des Wesens der Musik gelangt. Vorab muß dabei angemerkt werden, daß der Begriff „ W e s e n " im Falle des Genealogen Nietzsche nur in historischer Hinsichtnahme verwendet werden darf,
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Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" dergestalt, daß mit ihm die bei einem Phänomen oder Phänomenbereich bisher zutage getretenen Möglichkeiten seines Erscheinens bezeichnet werden: „Alles aber ist geworden; e s g i e b t k e i n e e w i g e n T h a t s a c h e n : sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. — Demnach ist das h i s t o r i s c h e P h i l o s o p h i r e n von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung.", heißt es im 2. Aphorismus von „Menschliches, Allzumenschliches I " (4/2, 20 f., hier: S. 21). Und gleichsinnig damit schreibt Nietzsche im 2. Teil jener Schrift, in dessen 171. Aphorismus (4/3, 86—88, hier: S. 86): „ D i e Musik ist eben n i c h t eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaass, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt: die Musik Palestrina's würde f ü r einen Griechen völlig unzugänglich sein, und wiederum — was würde Palestrina bei der Musik Rossini's hören? — Vielleicht, dass auch unsere neueste deutsche Musik, so sehr sie herrscht und herrschlustig ist, in kurzer Zeitspanne nicht mehr verstanden wird: denn sie entsprang aus einer Cultur, die im raschen Absinken begriffen ist; ihr Boden ist jene Reactions- und Restaurations-Periode, in welcher ebenso ein gewisser K a t h o l i c i s m u s d e s G e f ü h l s wie die Lust an allem h e i m i s c h - n a t i o n a l e n W e s e n u n d U r w e s e n zur Blüthe kam und über Europa einen gemischten D u f t ausgoss: welche beide Richtungen des Empfindens, in grösster Stärke erfasst und bis in die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerischen Kunst zuletzt zum Erklingen gekommen sind." (Von diesem Wesensbegriff her gesehen erscheint uns Heideggers Behauptung, daß Nietzsches Aufzeichnung über Musik und „großen Stil" keiner historischen Berichtigung zugänglich sei, als unrichtig. Er geht von einem anderen Wesensbegriff aus, wenn er die Bemerkung eines Studenten, Nietzsches Behauptungen in jener Notiz seien „historisch einfach irrig", erfülle doch „Bachs Musik ζ. B., als ,die Kunst der Fuge', [ . . . ] gerade alle die Bedingungen, die Nietzsche aufzählt, wenn er den großen Stil verdeutlicht: logisch, einfach, mathematisch, Gesetz, Ruhe, Durchsichtigkeit, keine schönen Gefühle", mit den Bemerkungen zurückweist, es handele es sich in der Frage „Musik und großer Stil" „nicht um die Frage, ob in der Musik bisher der große Stil vorkam oder nicht, sondern um die grundsätzliche Frage, ob in der Musik als Musik der große Stil überhaupt möglich ist", d. h. „um eine erst zu vollziehende Entscheidung über das Wesen der Musik als solcher und ihre Stellung in der Rangordnung der Künste" (Μ. H., Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, a. a. O., S. 157 f.). Nicht zuletzt steht dieser Behauptung aber die Tatsache entgegen, daß Nietzsche den Satz: „ N o c h niemals hat ein Musiker gebaut, wie jener Baumeister, der den Palazzo Pitti schuf" mit einem Fragezeichen schließt, was Heidegger indes nicht wissen konnte, da dieser Satz in der von ihm benutzten Großoktav-Ausgabe mit drei Punkten beendet wird: Dem eine historische Behauptung aussprechenden Satz wird so der Zweifelscharakter genommen, in dem sich die von Heidegger apodiktisch bestrittene Möglichkeit bekundet, daß die Musik den großen Stil ausprägen könnte. Im Sinne jenes Wesensbegriffes sind mithin auch die zitierten Notate zu verstehen. Sie bedenken, wie vor allem an der 3. Aufzeichnung deutlich wird („Widerspräche zuletzt der Begriff großer Stil schon der Seele der Musik, — dem ,Weibe' in unserer Musik?", „wohin gehört unsere ganze Musik?", „Ist Musik, moderne Musik nicht schon decadence?", „ o b unsere Musik nicht ein Stück Gegenrenaissance in der Kunst ist?"), das Wesen u n s e r e r Musik, d. h. der abendländischen Musik, wie sie sich etwa vom Mittelalter bis zur Romantik gezeigt hat — und nicht das Wesen der Musik als solcher. (Unmittelbar im Anschluß an jene Notiz engt Nietzsche seinen Fragebereich sogar noch weiter ein: „ M o d e r n i t ä t / / d i e deutsche r o m a n t i s c h e Musik, ihre U n g e i s t i g k e i t , ihr H a ß g e g e n die , A u f k l ä r u n g ' u n d . V e r n u n f t ' " , kann man dort lesen (VIII14 [62], 8/3, 40). Schon im November 1887—März 1888 hat er in verwandter Weise gefragt (VIII 11 [315], 8/2, 375): „ W a r u m kulminirt die deutsche Musik zur Zeit der deutschen Romantik? W a r u m fehlt Goethe in der deutschen Musik? Wie viel Schiller, genauer wie viel ,Thekla' ist dagegen in B e e t h o v e n ! [ . . . ] C u l t u s d e r M u s i k " . ) Dieser Musik hält Nietzsche vor, wie überhaupt die gesamte (nach)sokratische Kultur — mit Ausnahme der
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Renaissancekultur — der decadence verfallen zu sein. So bemerkt Nietzsche in „ E c c e h o m o " zu seiner Schrift „ D e r Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem" (Abschnitt 1 , 6 / 3 , 3 5 5 ) : „ W o r a n ich leide, wenn ich am Schicksal der Musik leide? Daran, dass die Musik um ihren weltverklärenden, jasagenden Charakter gebracht worden ist, — dass sie decadence-Musik und nicht mehr die Flöte des Dionysos i s t . . . " Und im „Versuch einer Selbstkritik" seiner philosophischen Erstlingsschrift (6. Abschnitt, 3 / 1 , 14) teilt er mit: „In der That, inzwischen lernte ich hoffnungslos und schonungslos genug von diesem ,deutschen Wesen' denken, insgleichen von der jetzigen d e u t s c h e n M u s i k , als welche Romantik durch und durch ist und die ungriechischeste aller möglichen Kunstformen: überdies aber eine Nervenverderberin ersten Ranges, doppelt gefährlich bei einem Volke, das den T r u n k liebt und die Unklarheit als Tugend ehrt, nämlich in ihrer doppelten Eigenschaft als berauschendes und zugleich b e n e b e l n d e s Narkotikum. [ . . . ] wie müsste eine Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre, gleich der deutschen, — sondern d i o n y s i s c h e n ? . . . " In ihrem von Nietzsche gedachten Idealzustand ist die Musik im Verhältnis zu den anderen Künsten darum aber am meisten dionysisch zu nennen, weil sie den dionysischen Rauschzustand am leichtesten und intensivsten auszulösen vermag. In ihm ist „das gesammte Affekt-System erregt und gesteigert: so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens, Verwandeins, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt." ( G D , Streifzüge eines Unzeitgemässen 10, 6 / 3 , 111). Der Mensch wird, wie es in der „Geburt der Tragödie" heißt (Abschnitt 2, 3 / 1 , 29), „zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt". Zwar sei die Musik, „wie wir sie heute verstehn", wohl „gleichfalls eine Gesammt-Erregung und -Entladung der Affekte, aber dennoch nur das Überbleibsel von einer viel volleren Ausdrucks-Welt des Affekts, ein blosses r e s i d u u m des dionysischen Histrionismus. Man hat, zur Ermöglichung der Musik als Sonderkunst, eine Anzahl Sinne, vor Allem den Muskelsinn still gestellt (relativ wenigstens: denn in einem gewissen Grade redet noch aller Rhythmus zu unsern Muskeln): so dass der Mensch nicht mehr Alles, was er fühlt, sofort leibhaft nachahmt und darstellt. Trotzdem ist D a s der eigentlich dionysische Normalzustand, jedenfalls der Urzustand; die Musik ist die langsam erreichte Spezifikation desselben auf Unkosten der nächstverwandten Vermögen." ( G D , 6 / 3 , 1 1 2 ) Gleichwohl ist in dieser Spezifikation als solcher noch nicht der „Sündenfall" der Musikgeschichte, die Ursache des Verfalls der Musik, zu sehen. E r muß vielmehr in einer Folge dieser Spezifikation erblickt werden, daß nämlich die Musik endlich zur „Sprache unerlöster Innerlichkeit" (Bernhard Lypp, Dionysisch-apollinisch: Ein unhaltbarer Gegensatz, Nietzsches,Physiologie' der Kunst als Version ,dionysischen' Philosophierens, in: Nietzsche-Studien 1 3 / 1 9 8 4 , S. 3 5 6 — 3 7 3 , hier: S. 369), zur Sprache formlosen Gefühls wurde. Nietzsche illustriert dies in der 3. Aufzeichnung am Beispiel der technischen unter den Künsten, der Architektur, die ganz im Gegensatz dazu „hingestellte [ . . . ] Notwendigkeit" ist (ebd.), sind doch Bauten „in versichtbarter Form, was sie bedeuten" (ebd.). Sie prägen das aus, was sie sind, fügen sich in eine deutliche Gestalt, so daß in ihnen „jede monologische Kunst der Innerlichkeit zu einem E n d e " (ebd.) kommt. Indem sie so das J o c h des Widerstreits von Dionysos und Apoll frei übernehmen, entsprechen sie demjenigen, was Nietzsche als „großer Stil" vorschwebt. Insofern aber die Musik die Sprache unerlöster Innerlichkeit und bloßer Leidenschaft ist, wird durch sie zudem „die Welt a l l e g o r i s i e r t " (ebd.), dies der zentrale Vorwurf Nietzsches, der sich auch in jener Bemerkung ausspricht, „dass die Musik um ihren weltverklärenden, jasagenden Charakter gebracht worden ist". Gegen die „religiöse Herkunft der neueren Musik" erhebt Nietzsche mit Beginn der sogenannten zweiten Phase seines Denkens schon Einwendungen, mit ihrem Bedenken in „Menschliches, Allzumenschliches I " , Aphorismus 219 — auf ihn verweist Nietzsche in der dritten Aufzeichnung mit seiner Bemerkung „Ich habe schon früher einmal den Finger auf diese Frage gelegt" — , wendet sich Nietzsche auch öffentlich von Wagner ab, ein Bedenken, das er dann in jenem bereits zitierten Aphorismus 171 aus dem zweiten Teil dieser Schrift
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Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" wiederholt. In Übereinstimmung damit zeichnet er noch im Frühjahr 1888 auf (VIII 14 [42], 8 / 3 , 31): „Wie viel uneingeständliche und selbst unverstandene Befriedigung aller religiösen Bedürfnisse ist noch in der Wagnerschen Musik!" Die Allegorisierung der Welt durch Transzendierung, die Nietzsche als Vernichtigung derselben begreift, ist in seinen Augen auch der letzte Grund d a f ü r , daß in den fortgeschrittensten Formen sowohl der Literatur wie auch der Musik sich untergeordnete Teile gegenüber dem Ganzen verselbständigen — so bestimmt Nietzsche im Anschluß an Paul Bourgets Charakterisierung der literarischen decadence in dessen Baudelaire-Aufsatz aus den „Essais de psychologie contemporaine" die musikalische und literarische decadence. (Vgl. zu dieser Fragestellung: Carl Pestalozzi, Nietzsches Baudelaire-Rezeption, in: Nietzsche-Studien 7/1978, S. 158—178, und Wolfgang Müller-Lauter, Artistische decadence als physiologische decadence. Zu Friedrich Nietzsches später Kritik am späten Richard Wagner, in: Communicatio fidei, Festschrift f ü r Eugen Biser, Regensburg 1983, S. 285—294.) Schon bei seiner ersten Lektüre dieses Buches in dessen Erscheinungsjahr 1883 bezieht Nietzsche im übrigen Bourgets Analyse auf Wagner (vgl. Winter 1883—1884, VII 24 [6], 687 f., hier: S. 688). Wenn auch das Wort „decadence" erst 1888, in seinem letzten Schaffensjahr „zu einem der zentralen Begriffe seines Philosophierens" wurde (Müller-Lauter, Artistische decadence, a. a. Ο., S. 285), so hat er doch „den Sachverbalt von früh an bedacht" (ebd.). (Bereits in einer Aufzeichnung von 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [51], 3 / 3 , 74, bedenkt er — wenngleich hier noch unter einer metaphysischen Hinsichtnahme — den Verlust der Fähigkeit zum organischen Gestalten, als welchen er später der decadence vorhält und auf physiologische Gegebenheiten z u r ü c k f ü h r t — eine Reduktion, die der frühen Willenskonzeption nicht fernsteht: „ D e r absterbende Wille (der s t e r b e n d e G o t t [gemeint ist Dionysos]) zerbröckelt in die Individualitäten. Sein Bestreben ist immer die verlorene Einheit, sein τέλος immer weiteres Zerfallen. Jede errungene Einheit sein Triumph, vornehmlich die Kunst, die Religion.") Schon in der „ M o r g e n r ö t h e " fordert Nietzsche eine neue, eine — wie er später in Wiederaufnahme eines Terminus der frühen „Wagnerschen" Epoche sagen wird — „dionysische" Musik. Im „ H i c Rhodus, hic salta" überschriebenen Aphorismus Nr. 461 gibt er zu bedenken: „Unsere Musik, die sich in Alles verwandeln kann und verwandeln muss, weil sie, wie der D ä m o n des Meeres, an sich keinen Charakter hat: diese Musik ist ehemals dem c h r i s t l i c h e n G e l e h r t e n nachgegangen und hat dessen Ideal in Klänge zu übersetzen vermocht: warum sollte sie nicht endlich auch jenen helleren, freudigeren und allgemeinen Klang finden, der d e m i d e a l e n D e n k e r entspricht? — eine Musik, die erst in den weiten schwebenden Wölbungen s e i n e r Seele sich h e i m i s c h auf und nieder zu wiegen vermöchte?" (5/1, 281 f., hier: S. 281) Wie sich Nietzsche diese Musik schließlich denkt, das geht aus jener Vorrede zum 2. Teil von „Menschliches, Allzumenschliches" hervor, die er im Jahre 1886 geschrieben hat: „ G e g e n die romantische Musik wendete sich damals mein erster Argwohn, meine nächste Vorsicht; und wenn ich überhaupt noch etwas von der Musik hoffte, so war es in der Erwartung, es möchte ein Musiker kommen, kühn, fein, boshaft, südlich, übergesund genug, um an jener Musik auf eine unsterbliche Weise R a c h e z u n e h m e n . " (4/3, 7) Und in einem Brief an Heinrich Köselitz, alias Peter Gast, schreibt Nietzsche am 10.11.1887: „Es scheint mit nöthig, den ganzen Gegensatz ,italiänische und französische Musik' erst wieder zu entdecken und den hybriden Begriff ,deutsche Musik' einmal bei Seite zu thun. Es handelt sich um einen S t i l g e g e n s a t z : die H e r k u n f t der Componisten ist dafür ganz gleichgültig. [ . . . ] Man muß dem bornirten ,deutschen Ernst' in der Musik das G e n i e d e r H e i t e r k e i t entgegenstellen." (III/5, 190-192, hier: S. 191) Die Tatsache, daß der späte Nietzsche dieses Ideal in den Musiken Gasts und Bizets verkörpert gesehen hat — so heißt es etwa in einer Aufzeichnung vom Frühjahr 1888 (VIII 15 [96], 8/3, 257) die beste moderne O p e r stamme von Köselitz, „die einzige, die von W(agner)-Deutschland frei ist: eine Neucomposition des ,matrimonio s e g r e t o ' " , dann folge Bizets Carmen, „die beinahe davon frei ist", an dritter Stelle stünden Wagners Meistersinger, „ein Meisterstück des Dilettantismus in der Musik", worauf er mit der Bemerkung schließt: „Versuch einer Umwerthung der W e r t h e " —, diese Tatsache
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wollen wir, soweit damit Geschmacksfragen angesprochen sind, auf sich beruhen lassen und nur hervorheben, was Nietzsche an der Musik Bizets f ü r bemerkenswert hält: „Sie baut, organisirt, wird fertig: damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur .unendlichen Melodie'." (WA 1, 6 / 3 , 7 f.) Sie betont mithin wieder die apollinischen Elemente der Musik, den T a k t und den Rhythmus, die Elemente, die Wagner zudiensten der reinen Gefühlsübersteigerung ins Rauschhafte „dionysisch" umgeprägt hat. Schon 1871 bemerkt Nietzsche: „Die Bedeutung des T a k t e s als Schranke der Musik, gegen ihre größte Wirkung. Bei Wagner empfindet man mitunter, wie Musik ohne ihn wirkt: auch hierin ist er i d y l l i s c h . " (III 9 [116], 3 / 3 , 329) Ist diese Aufzeichnung, die ergänzt wird durch die vorhergehende: „Im Tristan ist W o r t Gedanke und Bild G e g e n g e w i c h t gegen den völlig verzehrenden Idealismus der Musik." (III 9 [113] 3 / 3 , 329), in ihrer Ambivalenz doch eher positiv gemeint, so wird Wagners Bestreben, „alle mathematischen Zeit- und Kraft-Ebenmässigkeit zu brechen" — „ E r fürchtet die Versteinerung, die Krystallisation, den Uebergang der Musik in das Architektonische" (VM 134, 4/3, 70 f., hier: S. 71; Hervorhebung durch mich, T h . B.) —, Nietzsche bald darauf zu einem beständig wiederholten Einwand gegen die „Zukunftsmusik": „Die künstlerische Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlich, als ,unendliche Melodie' bezeichnet wird, kann man sich dadurch klar machen, dass man in's Meer geht, allmählich den sichern Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergiebt: man soll s c h w i m m e n . In der bisherigen älteren Musik musste man, im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wieder, Schneller und Langsamer, t a n z e n : wobei das hierzu nöthige Maass, das Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende B e s o n n e n h e i t e r z w a n g " (ebd., S. 70). Wagners Musik ist, wie Nietzsche in „ D e r Fall W a g n e r " sagt, „eine Recrudescenz des Chaos [ . . . ] / / I n der Sprache des Meisters geredet: Unendlichkeit, aber ohne Melodie" (6/3, 18): Gewissermaßen als Ersatz dafür, daß seine Musik trotz ihrer bedeutend auftretenden Gebärden kein lebendiges Ganzes ergebe, habe W a g n e r die ,Idee der Unendlichkeit' offeriert, die seine Musik ,bedeute' (ebd., S. 30), auf die sie das Ahnen verwiese (ebd., S. 18): „er wurde der E r b e H e g e l ' s " . Die Einwände gegen die überkommene Oper und gegen die Programmusik — das W o r t im weitesten Sinne verstanden — zielen hingegen in die entgegengesetzte Richtung: von ihnen wird das apollinische Element in der Weise überbetont, daß sie sich zu sehr an die optischen Erscheinungen anlehnen. Während sich die O p e r in ihrer Musik nach der den Augen dargebotenen szenischen Handlung richtet und so zur Szenenmusik verkommt, sucht die in dem ersten Zitat in bedeutenden zeitgenössischen Werken angesprochene Programmusik (der Faust-Stoff ist 1857 von Franz Liszt in einer „Faust-Sinfonie" verarbeitet worden, während es von Richard Wagner eine 1840 entstandene, 1855 umgearbeitete „Faust-Ouvertüre" gibt, Hamlet hinwiederum hat Liszt eine Symphonische Dichtung gewidmet, die er 1848 komponiert hat, und eine Musik zu Byrons dramatischem Gedicht „ M a n f r e d " hat Robert Schumann in den Jahren 1848/49 geschrieben) der Musik ob ihrer Begriffslosigkeit an sich unzugängliche Charaktere und Gemütszustände abzubilden und sich so der Malerei und der Poesie anzunähern — eine Verfahrensweise, die Nietzsche bereits in der „Geburt der T r a g ö d i e " angeprangert hat: „jetzt ist die Musik zum dürftigen Abbilde der Erscheinung geworden und darum unendlich ärmer als die Erscheinung selbst: durch welche Armuth sie f ü r unsere Empfindung die Erscheinung selbst noch herabzieht [ . . . ] Es war ein mächtiger Sieg des undionysischen Geistes, als er, [ . . . ] , die Musik sich selbst entfremdet und sie zur Sclavin der Erscheinung herabgedrückt hatte." ( G T 17, 3 / 1 , 108 f.) Gesetzt, Heideggers Bestimmung ist richtig, daß demjenigen, was Nietzsche den „großen Stil" nennt, der klassische Stil am nächsten kommt, dessen Grundbedingung aber die „gleichursprüngliche Freiheit zu den äußersten Gegensätzen, Chaos und Gesetz", d. h. zum Dionysischen und zum Apollinischen ist, dann folgt daraus keineswegs, wie Heidegger meint, daß der Musik als solcher die Fähigkeit zum großen Stil abgeht — weil
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Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" sie, so Heideggers Denken, dem Dionysischen weitaus stärker verpflichtet ist (s. u.). Dagegen spricht schon die folgende Aufzeichnung vom Frühjahr—Sommer 1888, die in enger Beziehung zu der dritten der von Heidegger zitierten Aufzeichnungen steht und die er gleichfalls der von ihm benutzten Großoktav-Ausgabe hätte entnehmen können (GA 14, 145, Nr. 229; wir zitieren im folgenden jedoch nach der K G W ) : „Die Größe eines Musikers mißt sich nicht nach den schönen Gefühlen, die (er) erregt: das glauben die Weiber — sie mißt sich nach der Spannkraft seines Willens, nach der Sicherheit, mit der das Chaos seinem künstl(erischen) Befehl gehorcht und Form wird, nach (der) Nothwendigkeit, welche seine H a n d in eine Abfolge von Formen legt. Die Größe eines Musikers — mit Einem W o r t e wird gemessen an seiner Fähigkeit zum großen Stil." (VIII 16 [49], 8/3, 298). Vielmehr spricht Nietzsche, wie gesagt, nur unserer g e s c h i c h t l i c h m a n i f e s t i e r t e n Musik den großen Stil ab, insofern nämlich in ihr der Streit zwischen Dionysos und Apoll nicht bis ins Äußerste entfaltet worden ist, setzte dieses doch ein Gleichgewicht der Streitenden voraus (siehe dazu unsere Auslegung der „Geburt der Tragödie"), das unsere decadence-Kultur nicht mehr zu wagen vermag: „wovon ein Decadenz-Geschmack am entferntesten ist, das ist der g r o ß e S t i l : zu dem zum Beispiel der Palazzo Pitti gehört, aber n i c h t die neunte Symphonie. Der große Stil als die höchste Steigerung der Kunst der Melodie." Diese Bemerkung aus einem Brief Nietzsches an den Musiker Carl Fuchs von vermutlich Mitte April 1886 (III/3, 176—179, hier: S. 177) macht deutlich, daß der Begriff „großer Stil" vor allem aus der Gegnerschaft gegen Wagner — Beethovens IX. Sinfonie ist das Werk, auf das sich dieser theoretisch immer wieder berufen hat — und seine „unendliche Melodie" heraus gedacht ist: Ihrer decadencehaften Kleingliedrigkeit, ihrem „espressivo um jeden Preis" (WA 1 1 , 6 / 3 , 32), das, wie wir bereits angemerkt haben, den Mangel an Organisation überspielen soll, setzt Nietzsche auch in diesem Brief die wohlgebaute „schöne Melodie" (WA 6, 6 / 3 , 19), die südliche Melodie entgegen, die er Bizet zuspricht. (In ,ironischer Antithese gegen Wagner', wie er am 27.12.1888 in einem anderen Brief an Carl Fuchs offenbart: „Das, was ich über Bizet sage, dürfen Sie nicht ernst nehmen; so wie ich bin, kommt (B)izet Tausend Mal f ü r mich nicht in Betracht. Aber als ironische A n t i t h e s e gegen (W)agner wirkt es sehr stark", und er nennt den Tristan „das c a p i t a l e W e r k und von einer Fascination, die nicht nur in der Musik, sondern in allen Künsten ohne Gleichen ist", III/5, 553—555, hier: S. 554.) Zufolge einer Aufzeichnung vom Frühjahr 1884 besteht der große Stil nämlich „in der Verachtung der kleinen und kurzen Schönheit, ist ein Sinn f ü r Weniges und Langes." (VIII 25 [321], 7 / 2 , 91) Und in „Ecce homo", im Abschnitt „ W a r u m ich so gute Bücher schreibe" (4), bemerkt Nietzsche: „Die Kunst des g r o s s e n Rhythmus, der g r o s s e S t i l der Periodik zum Ausdruck eines ungeheuren Auf und Nieder von sublimer, von übermenschlicher, Leidenschaft ist erst von mir entdeckt" (6/3, 302 f.). Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Nietzsche die Musik als solche in keiner Weise, wie Heidegger vermeint, rangmäßig den anderen Künsten nachgeordnet hat, im Gegenteil. Gerade in ihrer „Ungeistigkeit", positiv gesprochen: in ihrer reinen Sinnlichkeit (siehe dazu die zweite der von Heidegger zitierten Aufzeichnungen; vgl. auch: W S 167, „ W o die Musik heimisch ist", 4 / 3 , 259) erkennt Nietzsche ihre überragende Bedeutung. (Ebendaraus resultiert seine Kritik an der in der Moderne zunehmend zu beobachtenden „Entsinnlichung der höheren Kunst": „Unsere O h r e n sind, vermöge der ausserordentlichen Uebung des Intellects durch die Kunstentwickelung der neuen Musik, immer intellectualer geworden. [ . •. ] Was ist von alledem die Consequenz? Je gedankenfähiger Auge und O h r werden, um so mehr kommen sie an die Gränze, w o sie unsinnlich werden: die Freude wird in's Gehirn verlegt, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach, das Symbolische tritt immer mehr an Stelle des Seienden, — und so gelangen wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgend einem anderen." MA 217, 4 / 2 , 179 f.) D a n k ihrer Sinnlichkeit vermag die Musik stärker als die übrigen Künste den Menschen der Ständigkeit seines vernunftgeprägten und -beherrschten Alltagsstandpunktes zu entsetzen und ihn in das Ubermaß und die Überfülle des Lebens — oder, wie Nietzsche auch sagt, des Werdens — zu versetzen, die ihn in ihr auf unfaßbare und unbestimmbare Weise angehen:
Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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In der dionysischen Ek-stasis „hat" der Mensch keinen Gegen-Stand mehr, kein Seiendes und auch kein Sein, nichts mehr, von der Musik je nach dem Grad seiner Empfänglichkeit auf ihre je eigene Weise be-stimmt, „ist" „ e r " „alles". Doch erst nach der lebensnotwendigen Rückgewinnung eines „vernünftigen" Standpunktes — die indes mit dem Verlust des unmittelbaren Anganges der Uberfülle bezahlt wird — vermag er das „Sein" der dionysischen Ek-stasis zu erschließen, wenngleich nur näherungsweise, ist doch das Wort, dessen sich die sprachlich verfaßte Vernunft zu bedienen hat, jener Sphäre der Sprachlosigkeit unangemessen: „Im V e r h ä l t n i ß z u r M u s i k ist alle Mittheilung durch W o r t e von schamloser Art; das Wort verdünnt und verdummt; das Wort entpersönlicht: das Wort macht das Ungemeine gemein.", notiert sich Nietzsche im Herbst 1887 (VIII 10 [60], 8/2, 159). Im Lichte des in der dionysischen Ek-stasis Erfahrenen erscheint dem Menschen dann auch seine alltägliche, die apollinische Existenz in anderer Weise, nämlich als defizitär gegenüber dem Ubermaß der Ek-stasis — eine Spannung, die es, wie Nietzsche nicht müde wird zu betonen, jedoch auszuhalten gilt. Von einer solchen Verrückung der Maßstäbe durch Musik kündet Nietzsche in einer Passage des ersten Abschnitts der kleinen Decadence-Studie „Der Fall Wagner", an der er im Frühjahr und im Sommer 1888 gearbeitet hat und die im September des gleichen Jahres erschienen ist (während die Aufzeichnung, aus der Heidegger eine Abqualifizierung der Musik herausliest, im Frühjahr 1888 verfaßt wurde): „Hat man bemerkt, dass die Musik den Geist f r e i m a c h t ? dem Gedanken Flügel giebt? dass man um so mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird? — Der graue Himmel der Abstraktion wie von Blitzen durchzuckt; das Licht stark genug für alles Filigran der Dinge; die grossen Probleme nahe zum Greifen; die Welt wie von einem Berge aus überblickt. — Ich definirte eben das philosophische Pathos. — Und unversehens fallen mir A n t w o r t e n in den Schooss, ein kleiner Hagel von Eis und Weisheit, von g e l ö s t e n Problemen... W o bin ich? — Bizet macht mich fruchtbar. Alles Gute macht mich fruchtbar. Ich habe keine andre Dankbarkeit, ich habe auch keinen andern B e w e i s dafür, was gut ist. —" (6/3, 8) Nach der Art, wie ihn eine Musik fruchtbar macht — das meint zunächst und vor allem, ob sie ihm die dionysische Ver-rückung (Programm- und Gedankenmusik etwa fesseln ihn an die apollinischen Erscheinungen), schließlich aber auch die Rückgewinnung eines apollinisch gefügten Standpunktes ermöglicht (was ζ. B. die Musik Wagners zu verhindern sucht) —, unterscheidet er gute von schlechter, decadencehafte von dionysischer Musik, die in sich den Widerstreit von Apoll und Dionysos ins Äußerste treibt. Daß Heidegger hingegen die Musik den anderen Künsten nachordnet, scheint im wesentlichen zwei Gründe zu haben: zum einen, weil sie ob ihrer „Erkenntnislosigkeit" niemals die „Werkwerdung des eigentlichen Wissens, des wesentlichen Bezuges des Geistes zum Sein selbst" (Μ. H., Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, a . a . O . , S. 159) sein kann, zum anderen, weil in ihr, wie er wohl erkennen muß, das Sein in das Werden aufgehoben ist — und nicht umgekehrt. Hörend haben wir das Erfaßte nicht wie beim Sehen „in einem betonten Sinne gegenüber' ", sondern sind in ihm, so zwar, daß wir von ihm fortgerissen, der Ständigkeit unseres vernunftgeprägten Standpunktes entsetzt werden und derweise in einem reinen Vollzugsgeschehen aufgehen. Zumindest scheint dies der letzte Grund dafür zu sein, daß er der Musik als solcher — entgegen Nietzsches Intention — die Fähigkeit zum großen Stil abspricht, bestimmt er diesen doch in einer erst jetzt, im Gefolge der Gesamtausgabe bekannt gewordenen Passage seiner Nietzsche-Vorlesung „Der Wille zur Macht als Kunst" — sie fehlt in der von Heidegger selber veranstalteten Publikation seiner sämtlichen Nietzsche-Vorlesungen — als ,,aktive[n] Wille[n] zum Sein, so zwar, daß dieser das Werden in sich aufhebt." (Ebd., S. 166) Diese Bestimmung aber steht in engem Zusammenhang mit seiner Behauptung, daß „beständige Anwesenheit" der unausgesprochene Sinn des Seins für die gesamte abendländische Metaphysikgeschichte sei. Insofern dasjenige, was Nietzsche, dem beim Hören von Musik „in" „sich" erfahrenen Vollzugsgeschehen nachdenkend, als das Dionysische, als das reine Werden denkt, dieser Behauptung entgegensteht — in seiner Anwesenheit fehlt ihm an sich selbst die Beständigkeit, die ihm erst die in der Abständigkeit des apollinischen
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Anmerkungen 259 bis 270 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
Standpunktes befangene Vernunft, das lumen naturale, aufzuprägen genötigt ist —, scheint für Heidegger ein fruchtbarer Zugang sowohl zum Dionysischen als auch zu der von diesem kündenden Musik versperrt. Das zeigt sich unseres Erachtens nicht zuletzt an der Bedeutung, die seine Auslegung Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkunft zuspricht, einem Gedanken, in dem in der T a t dem Werden der Charakter des Seins aufgeprägt wird, so daß es in seiner Anwesenheit beständigt wird — dies jedoch, wie wir an anderer Stelle glauben zeigen zu können, im wesentlichen aus ganz anderen Gründen und mit ganz anderen Konsequenzen als Heidegger meint annehmen zu müssen. Vgl. dazu Anm. 819. 2 6 0 IV 30 [126], 4 / 3 , 403. 2 6 1 6/3, 69 f. 2 6 2 Z a I , Zarathustras Vorrede 3, 6 / 1 , 9: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, b l e i b t der E r d e t r e u und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht." Sowie: Z a I , Von der schenkenden Tugend 2, 6 / 1 , 95: „Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer Tugend! Eure schenkende Liebe und eure Erkenntniss diene dem Sinne der E r d e ! " 2 6 3 Juni—Juli 1885, VII 36 [22], 7/3, 284 f., hier: S. 284. Das Zitat genau so. 2 6 4 III 19 [66], 3/4, 28. 2 6 5 Frühjahr 1873, III 26 [11], 3/4, 176 f., hier: S. 177. 266 Vgl etwa: Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege, a. a. O., S. 1-72, hier: S. 69 f.: „ D a s Ge-stell als Wesen der modernen Technik kommt vom griechisch erfahrenen Vorliegenlassen, λόγος, her, von der griechischen ποίησις und θέσις. Im Stellen des Ge-stells, d. h. jetzt: im Herausfordern in die Sicherstellung von allem, spricht der Anspruch der ratio reddenda, d. h. des λόγον διδόναι, so freilich, daß jetzt dieser Anspruch im Ge-stell die Herrschaft des Unbedingten übernimmt und das Vor-stellen aus dem griechischen Vernehmen zum Sicher- und Fest-steilen sich versammelt." 267 Vgl. dazu e twa Goethes Kontroverse mit Newton über das Phänomen der Farbe. 2 6 8 Siehe beispielsweise die nachfolgende Aussage Werner Heisenbergs: „ D i e Naturwissenschaft handelt nicht mehr von der Welt, die sich uns unmittelbar darbietet, sondern von einem dunklen Hintergrund dieser Welt, den wir durch unsere Experimente ans Licht bringen. Diese objektive Welt wird also doch gewissermaßen erst durch unseren tätigen Eingriff, durch die verfeinerte Technik des Beobachtens hervorgebracht". (Werner Heisenberg, Die Goethesche und die Newtonsche Farbenlehre im Lichte der modernen Physik, in: ders., Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, Sieben Vorträge, Leipzig, Stuttgart, Zürich 7 1947, S. 54-70, hier: S. 64. 2 6 9 Insofern wir unter „ G r u n d " überhaupt das Konstitutive einer Erscheinung und nicht etwa nur das principium der vornietzscheschen Tradition verstehen, insofern ist nicht nur Nietzsches frühe Philosophie des Willens zum Leben, sondern auch seine spätere Philosophie des Willens zur Macht, die sich — was Heidegger übersieht — in Absicht und Ausführung von der überkommenen, von ihr als „metaphysisch" bezeichneten Prinzipienphilosophie absetzt (vgl. dazu: Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensätze, a . a . O . ; ders., Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, a. a. O.; ders., Das Willenswesen und der Übermensch, a. a. O), ihrer Selbstklassifizierung entgegen als Metaphysik einzuordnen: Wir bezeichnen im folgenden alle Fragestellungen, die auf Gewinnung des Konstitutiven der Erscheinungen, der Bedingungen ihres Erscheinens, gerichtet sind und so über das physische „ W e s e n " des Dinges, seinen atmosphärischen Bezug, hinausgehen (μετά) und ihn vernichtigen, als meta-physische Fragestellungen. 270 Vgl., was Martin Heidegger in: Wer ist Nietzsches Zarathustra? (in: ders., Vorträge und Aufsätze, Teil I, a. a. O., S. 93 bis 118, hier: S. 104) in ganz anderer und doch verwandter Hinsicht zu bedenken gibt: „Wie immer auch der Mensch das Seiende als solches vorstellen mag, er stellt es im Hinblick auf dessen Sein vor. Durch diesen Hinblick geht er über das Seiende immer schon hinaus und hinüber zum Sein. Hinüber heißt griechisch μετά. Darum
Anmerkungen 270 bis 278 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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ist jedes Verhältnis des Menschen zum Seienden als solchen in sich metaphysisch." (Wir schränken ein: jedes vernunftgeprägte Verhältnis.) Und an anderer Stelle, in seiner Vorlesung über „Die Grundbegriffe der Metaphysik, Welt—Endlichkeit —Einsamkeit" bemerkt Heidegger über das metaphysische Fragen (a. a. O., S. 59): Wenn griechisch μετά „von etwas weg zu etwas anderem" bedeutet, dann handelt τα μετά τά φυσικά von demjenigen, was sich „von den φυσικά wegwendet und sich zu anderem Seienden, zum Seienden überhaupt und eigentlichen Seienden hinwendet." Das aber bedeute, daß dieser Ansatz zwei verschiedene Grundrichtungen des metaphysischen Fragens in sich berge, zum einen die Frage nach dem Seienden im Ganzen, indem nämlich zurückgefragt wird nach dem Höchsten und Letzten, dem ursprünglichen Seienden — zunächst nach dem θείον, später nach dem Gott —, zum anderen aber die Frage nach dem Seienden als solchem, d. h. nach dem „was jedem Seienden als Seiendem zukommt, jedem öv sofern es öv ist" (ebd., S. 65). Beide Fragen fragen über das Sinnliche hinaus, jedoch — was in der Metaphysik unbedacht bleibe — in grundverschiedener Weise: „Im ersten Fall, bei der theologischen Erkenntnis, handelt es sich um die Erkenntnis des Nichtsinnlichen im Sinne dessen, was über den Sinnen als eigenes Seiendes liegt, im zweiten Fall, wenn ich so etwas herausstelle wie Einheit, Vielheit, Andersheit, was ich nicht schmecken und wiegen kann, handelt es sich um ein Nichtsinnliches, aber nicht um ein f/iminnliches, sondern um ein ί/nsinnliches, das nicht durch die Sinne zugänglich ist." (Ebd., S. 68). 271 Hier zitiert nach: HA 1, S. 19. 272 Das Wort „atmosphärisch" ist darum als Titelbezeichnung des „Wesens" (verbal) der Welt gewählt, weil es bereits in seiner Etymologie die den Menschen angehende, ihn gleichsam anwehende, unfaßbare und nicht begründbare Umfängnis nennt, als welche sich Welt dem Menschen zuspricht, und dabei zugleich das darin liegende Moment des Fruchtbaren hervorhebt, nämlich das Moment des Hervorrufens neuer Möglichkeiten der Weltbeziehung, worin wir, wie wir später im Anschluß an Goethes „Was fruchtbar ist, allein ist wahr" kurz aufzeigen werden, das Wesen ursprünglicher Wahrheit erkennen: άτμός, feuchter Dunst, kommt von άημι, wehen, und σφαίρα (Luft-)Kegel, hängt vielleicht mit σπαίρω, schnellen, sowie mit σπείρω, erzeugen (daraus ist das Wort σπέρμα, Same, Saat, Stamm, Sproß, hervorgegangen), zusammen. Eben dieses Moment meint im Grunde auch Nietzsche, wenn er in seiner 2. Unzeitgemässen Betrachtung bemerkt: „Alles Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnissvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurtheilt, als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbar-werden nicht mehr wundern." (HL 7, 3/1, 294) Wir werden darauf zurückkommen. 273 Siehe Seite 81 ff. 274 Hier zitiert nach: Rene Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, auf Grund d. Ausg. von Artur Buchenau neu hrsg. von Lüder Gäbe, durchgesehen von Hans Günter Zekl, Hamburg 2 1977, S. 53. 27 5 Vgl. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [230], 3/4, 80: „Der Philosoph [ . . . ] will Wahrheit, die b l e i b t . " 276 In der sechsten Meditation führt Descartes im Anschluß an den Nachweis, daß die körperlichen Dinge existieren, aus: „Indessen existieren sie vielleicht nicht alle genau so, wie ich sie mit den Sinnen wahrnehme, da ja diese sinnliche Wahrnehmung vielfach recht dunkel und verworren ist; aber wenigstens all das ist in ihnen wirklich vorhanden, was ich klar und deutlich denke, d. h. alles das, ganz allgemein betrachtet, was zum Inbegriffe der reinen Mathematik gehört." (Ebd., S. 143 ff.) 277 Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 178; vgl. Anm. 197. 278 Wozu noch anzumerken ist, daß Nietzsche jener „Kraft" in Analogie zum menschlichen Organismus und d. h. in letzter Konsequenz der anthropomorphischen Auslegung „eine innere Welt" meint zusprechen zu müssen, die er bezeichnet „als,Willen zur Macht', d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw." (Juni—Juli 1885, VII 36 [31], 7/3, 287).
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Anmerkungen 279 bis 280 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
In seinem Aufsatz „Über die Tragweite der Artisten-Metaphysik" (in: Nietzsche-Studien 1 3 / 1 9 8 4 , S. 4 3 7 — 4 4 2 ) hat dies Holger Schmid in äußerster Verknappung brillant, wenngleich in einigen Punkten nicht ganz unanfechtbar, herausgearbeitet. W i r werden diese den späten Aufzeichnungen Nietzsches gewidmete Arbeit auf den Seiten 263 ff. eingehend besprechen. 280 finden hier Berührungspunkte mit der Grundthese der in Anm. 28 angesprochenen Arbeit von Heiner Craemer, Religionskritik und tragische Erkenntnis. W i r haben bereits Craemers Ansicht referiert, daß Nietzsche es verabsäumt, sich eine eigene Begrifflichkeit zu erarbeiten, die seinem Ansinnen, die Welt aus dem Sinnlichen als dem Ursprünglichen und der mit ihm verbundenen Kunst heraus zu entwerfen, hätte entsprechen und dieses hätte durchsetzen können. Statt dessen übernehme er die überkommenen metaphysischen Begrifflichkeiten und Unterscheidungen, wodurch sein Ansatz wesentliche Verdeckungen und Verbiegungen erleide, ohne daß Nietzsche das merke. So wandele sich das Sinnliche vom schlechthin Ursprünglichen zum nur noch Ursprünglicheren gegenüber der Logik und der Wissenschaft, als welche in der Tradition der Sinnlichkeit und der Kunst präponiert wurden. Derweise kehre Nietzsche das metaphysische Gefüge nur um, anstatt dieses, wie es seine Grunderfahrung eigentlich erfordere, zu zerstören. Nicht zuletzt bestehe damit der metaphysische Begründungszwang fort, der jener Grunderfahrung widerspricht — wie auch Craemer zu sehen scheint, ohne daß er sich indes bemüßigt zeigt, auf diese in unseren Augen entscheidende Frage einzugehen. Er konstatiert lediglich zu den mit einer Abwendung von der Sprache des „abstrakten Begriffs" (Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [51], 3 / 3 , 74) einhergehenden Versuchen Nietzsches, die Sprache von dem gegenüber dem Erkennen Ursprünglicheren her zu bestimmen: „Dieser Ubergang überwindet jedoch nicht den ,Grund' der vorgegebenen Sprache: das Begründen, das Beziehen auf den Einheit gebenden Grund. Gerade daß nur das gegenüber dem Erkennen Ursprünglichere erfaßt wird, bei Hinterlassung der ersten Position als des nicht Ursprünglichen, besiegelt das Fortbestehn der Voraussetzung des Begründens. Dem gemäß aber wird das gegenüber dem Erkennen Urprünglichere verstanden als die Möglichkeit zu einer erneuten, gegenüber der Wissenschaftskultur neuen und ursprünglicheren Kulturbegründung. Begründung aber heißt, der vorgegebenen Prägung entsprechend: abweisendes Unterscheiden." (33) D. h. das Sinnliche wird — sachwidrig — als das Ursprünglichere gegenüber der Wissenschaft metaphysisch ge- und begründet. Craemer unterscheidet in diesem Begründungsprozeß verschiedene Stadien, von der bloßen Übernahme metaphysischer Termini und Unterscheidungen bis hin zur Aufnahme der Schopenhauerschen Willenssystematik. Dabei äußere sich Nietzsches eigenste Sache in eben jenen Verbiegungen, die diese Entlehnungen in seinem Philosophieren erführen. Es ist nun Craemers Anliegen, aus diesen Verformungen Nietzsches Grunderfahrung zu eruieren, um dann im Gegenzug — Craemer ist sich wohl der Zirkelhaftigkeit dieses Vorgehens bewußt — aufzuzeigen, wie und warum es bei den terminologischen Entlehnungen zu besagten Umformungen kommt. Den Fluchtpunkt seines Fragens bildet die Umdeutung der Schopenhauerschen Willensverneinung in eine Willensbejahung. Craemer bemerkt dazu: „Nietzsches Wendung von der Verneinung zur Bejahung geht über die Metaphysik hinaus. Aus bestimmten Zusammenhängen und Ansätzen der Kritik wird es möglich, Wahrheit und Schein, Dasein, Mythus, Daseinsbejahung ursprünglich aufzufassen und diesen Entwurf der Wissenschaft, der ,Gelehrtenreligion', der ,idea', entgegenzusetzen. Erst durch die Rückbeziehung dieses Entwurfs auf den Willensbegriff wird die ,Bejahung' zur Bejahung des Wollens, erst mit der Einfügung des Daseinsentwurfs in die Grundstellung des Prinzips kommt es zur Umkehrung der vorgegebenen Systematik, erst nach diesen Vollzugsschritten und durch sie folgt Nietzsche dem (umgedeuteten) Grundgefüge der Metaphysik." (9) Weil er aber nicht der Frage nachgeht, warum Nietzsches Grunderfahrung jedweden Begründungswillen abweist, bleibt Craemers in vielen Punkten bedenkenswerte „Rekonstruktion" dieses Prozesses letztlich unzureichend: Es hätte des Versuches bedurft, jene Grunderfahrung ins Vor-metaphysische und damit in ihr Eigenes aus- und d. h. freizulegen. Erst dann wäre auch deutlich geworden, 279
Anmerkungen 280 bis 290 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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warum Nietzsches „Versuche eines nicht-begrifflichen, der Dichtung genäherten" Sprechens das Ursprüngliche, wie Craemer ahnt, „vielleicht am ehesten" (10, Anm.) entsprechen; erst dann nämlich, wenn von Nietzsches erkenntnistheoretisch-metaphysischer Begründung des dichterischen Sprechens ab- und dessen Vor-metaphysisches eingesehen wird. 281 G D , Die „ V e r n u n f t in der Philosophie" 2, 6 / 3 , 69; vgl. Anm. 73, Anm. 110 sowie Anm. 259. 282 P H G 10, 3/2, 337; vgl. auch S. 60. 283 Vgl a u c h Anm. 73. 284 BAW 2, 54—59. 285 Siehe J a n z l , 98—104. 286 Für die Auffassung des späten Nietzsche vgl. folgendes N o t a t vom Juni—Juli 1885, VII 36 [15], 7 / 3 , 280 f., hier: S. 280: „ H ä t t e die Welt ein Ziel, so müßte es erreicht sein. Gäbe es f ü r sie einen unbeabsichtigten Endzustand, so müßte er ebenfalls erreicht sein. Wäre sie überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens, eines ,Seins' fähig, hätte sie nur Einen Augenblick in allem ihrem Werden diese Fähigkeit des ,Seins', so wäre es wiederum mit allem Werden längst zu Ende, also auch mit allem Denken, mit allem ,Geiste'. Die Thatsache des ,Geistes' a l s e i n e s W e r d e n s beweist, daß die Welt kein Ziel, keinen Endzustand hat und des Seins unfähig ist." 287 BAW 2, 56 f. 288 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Sämtliche Werke, Bd. 11, S. 36: „Es hat sich [ . . . ] aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sey, daß sie der vernünftige, nothwendige Gang des Weltgeistes gewesen, des Geistes, dessen N a t u r zwar immer eine und dieselbe ist, aber in dem Weltdaseyn diese seine N a t u r explicirt." 289 BAW 3, 319—326, hier: S. 322 f. 290 H L 8, 3 / 1 , 304 f. Neben diesem Einwand, seine Art der Geschichtsbetrachtung sei „eine verkappte Theologie" (ebd., S. 301; vgl. auch: Sommer—Herbst 1873, III 29 [46], 3 / 4 , 253, und III 29 [53], 3 / 4 , 258) bringt Nietzsche gegen die Hegeische Geschichtsdeutung folgendes vor: 1. Eine „Einheit des Planes" in der Geschichte zu erkennen, heiße nichts anderes, als selber eine solche „in die Dinge" hineinzulegen: eine solche Einheit sei nichts als eine Voraussetzung des Erkennenden, existiere nur in seiner Vorstellung. „So überspinnt der Mensch die Vergangenheit und bändigt sie, so äussert sich sein Kunsttrieb — nicht aber sein Wahrheits-, sein Gerechtigkeitstrieb." ( H L 6, 3 / 1 , 286 f.; vgl. dazu unsere grundsätzlichen Ausführungen über die Vorstellung der Einheit bei Nietzsche auf S. 14 ff. und in Anm. 71; vgl. auch auch Anm. 245.) 2. Seine Voraussetzung, daß in allen (wesentlichen) geschichtlichen Ereignissen die Idee siege, sei „nackte Bewunderung des Erfolges" ( H L 8, 3 / 1 , 305). In einem Fragment aus der Entstehungszeit der Schrift, Sommer—Herbst 1873, III 29 [42], 3 / 4 , 252, bemerkt Nietzsche d a z u : „ V e r g ö t t e r u n g d e s E r f o l g s ist recht der menschlichen Gemeinheit angemessen. W e r aber nur einen einzigen Erfolg einmal genau studirt hat, weiss, was f ü r Faktoren (Dummheit, Bosheit, Faulheit usw.) immer mitgewirkt haben, und nicht als die schwächsten Faktoren. Es ist toll, dass der Erfolg mehr werth sein soll als die unmittelbar vorher noch bestehende schöne Möglichkeit! Gar aber in der Geschichte die Verwirklichung des Guten und Rechten sehen ist Blasphemie gegen das Gute und Rechte. Diese schöne Weltgeschichte ist, um Heraklitisch zu reden, ,ein wirrer Kehrichthaufen'! Das K r ä f t i g e schlägt sich durch, das ist das allgemeine Gesetz : w e n n e s n u r nicht so oft gerade das D u m m e und das Böse wäre!" In allen Geschehnissen das Walten der Vernunft zu erkennen, führe darum zum „Götzendienste des Thatsächlichen" ( H L 8, 3 / 1 , 305), wogegen eben einzuwenden sei, daß „das Factum immer dumm ist" (ebd., S. 306): „Ueber Goethe hat uns neuerdings Jemand belehren wollen, dass er mit seinen 82 Jahren sich ausgelebt habe: und doch würde ich gern ein paar Jahre des .ausgelebten' Goethe gegen ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufte einhandeln [ . . . ] . Wie wenige
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Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Lebende haben überhaupt, solchen Todten gegenüber, ein Recht zu leben! Dass die Vielen leben und jene Wenigen nicht mehr leben, ist nicht als eine brutale Wahrheit, das heisst eine unverbesserliche Dummheit, ein plumpes ,es ist einmal so' gegenüber der Moral ,es sollte nicht so sein'." (Ebd.) Anstatt dazu aufzurufen, daß man „sich gegen jene blinde Macht der Facta, gegen die Tyrannei des Wirklichen" empöre und gegen „die Gesetze jener Geschichtsfluctuationen" (ebd., S. 307) ankämpfe, anstatt mithin zur Unzeitgemäßheit anzuhalten, f ü h r e diese „Religion der historischen M a c h t " (ebd., S. 305) vielmehr zum Zynismus des „gerade so musste es kommen, wie es gerade jetzt geht" ( H L 9, 3 / 1 , 308) und damit zur Neigung, sich „chinesenhaft-mechanisch" jeder Macht zu beugen, „sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zahlen-Majorität" ( H L 8, 3 / 1 , 305). 3. Hegels Konzeption gehe von einem falschen Begriff der Größe aus. „ D i e Grösse soll nicht vom Erfolge abhangen, und Demosthenes hat Grösse, ob er gleich keinen Erfolg hatte." ( H L 9, 3 / 1 , 317) 4. Die Auflösung aller festen Fundamente des gegenwärtigen Handelns „in ein immer fliessendes und zerfliessendes W e r d e n " durch das „Historisiren alles G e w o r d e n e n " (ebd., S. 309) lähme die Menschen, weil sie in Konsequenz davon an allen Sitten und Werten zweifeln. V o r allem im jungen Menschen erwachse das Gefühl: „in allen Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist." ( H L 7, 3 / 1 , 296) Es ist dies ein Problem, das sich in Nietzsches Philosophie des fortwährenden Werdens noch verschärft und das sie schließlich mit der Konzeption der ewigen Wiederkunft des Gleichen zu lösen sucht: „ D a ß A l l e s w i e d e r k e h r t , ist die extremste A n n ä h e r u n g e i n e r W e l t d e s W e r d e n s a n d i e d e s S e i n s " , zeichnet Nietzsche Ende 1886—Frühjahr 1887 (VIII 7 [54], 8/1, 320 f., hier: S. 320) auf. — Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der Hegeischen Geschichtsphilosophie siehe auch: Ilse Nina Bulhof, Apollos Wiederkehr, Eine Untersuchung der Rolle des Kreises in Nietzsches Denken über Geschichte und Zeit, Den H a a g 1969.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Logik, Bd. 2, S. 154. Sie sei „Darstellung Gottes [ . . . ] , wie er in seinem ewigen Wesen [ . . . ] ist," bemerkt Hegel in: G . W . F. H., Logik, Bd. 1, S. 31. 293 Yg| e bd., S. 143: „Die Antwort auf die Frage, wie das Unendliche endlich werde, ist [ . . . ] diese, daß es nicht ein Unendliches gibt, das vorerst unendlich ist, und das nachher erst endlich zu werden, zur Endlichkeit herauszugehen nötig habe, sondern es ist f ü r sich selbst schon ebenso endlich als unendlich." 292
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Vgl. etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel, System der Philosophie I, Werke Bd. 8, S. 425: „die Dinge sind das was sie sind nur durch den ihnen inwohnenden göttlichen und damit schöpferischen Gedanken." 29 5 H L 8, 3 / 1 , 304 f. 296 Sommer—Herbst 1873, III 29 [53], 3 / 4 , 258. 297 G . W . F . Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd.7, S. 33. 298 Hegel hat „zwischen dem wahrhaft Wirklichen als der wahren Darstellung Gottes auf der einen und dem bloß scheinhaft Wirklichen, der bloßen Erscheinung, auf der anderen Seite" unterschieden (Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, Zwei Bände in einem Band, Darmstadt 1983, 1. Band, S. 379), ohne daß er dies zureichend begründen konnte. W e n n nämlich „alles Wirkliche nur insofern i s t , als es die Idee in sich hat, und sie ausdrückt" (G. W. F. Hegel, Logik, Bd. 2, Werke Bd. 5, S. 239), dann muß auch das Zufällige aus Gott, der Idee oder dem Begriff stammen. Hegel ist darum genötigt, auf eine unbegreifliche Freiheit des Begriffs zu rekurrieren, seine Macht aufgeben zu können, alle Wirklichkeit darzustellen. Im Anschluß an die Aufzählung einer Reihe von Naturzufälligkeiten, als da wären: die „sinnlichen Eigenschaften, Härte, Farbe, und so fort, sowie die Erscheinungen der Reizempfänglichkeit f ü r H a f e r , der Irritabilität f ü r Lasten, oder der Anzahl und Art Junge zu gebähren", f ü h r t Hegel in der „Phänomenologie des Geistes" (Werke Bd. 2, S. 215) aus: „die Bestimmtheit ihres s i n n l i c h e n S e y n s besteht eben darin, vollkommen
Anmerkungen 298 bis 311 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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gleichgültig gegen einander zu existiren und die des Begriffs entbundene Freiheit der N a t u r vielmehr darzustellen; als die Einheit einer Beziehung, viel mehr ihr unvernünftiges H i n = und Herspielen auf der Leiter der zufälligen Größe zwischen den Momenten des Begriffs, als diese selbst." 299
Vgl. den bereits erwähnten Aphorismus „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel w u r d e " aus der Götzen-Dämmerung, 6 / 3 , 74 f., hier: S. 74, Punkt 4. 300 Siehe ebd. 301 Nietzsche an Cosima Wagner am 3 . 1 . 1 8 8 9 aus Turin (III/5, 572): „ M a n erzählt mir, daß ein gewisser göttlicher Hanswurst dieser Tage mit den Dionysos-Dithyramben fertig geworden i s t . . . " ; vgl. auch: E H , W a r u m ich ein Schicksal bin 1, 6 / 3 , 363: „Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein H a n s w u r s t . . . Vielleicht bin ich ein H a n s w u r s t . . . " 302 Die Wortgeschichte (siehe dazu: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, a. a. O., hier: Bd. 1, Sp. 417—418) verzeichnet als einen der wenigen Belege vor Nietzsche neben Stellen von Heinrich Müller (Geistliche Erquickstunden, 1666). H e r d e r und Jean Paul auch Goethes „ Z u e i g n u n g " und „Faust I", wo in Vers 490 der von Faust beschworene Erdgeist diesen spöttisch „Ubermensch" nennt, als er furchtsam vor ihm zurückweicht: „Welch erbärmlich G r a u e n / F a ß t Ubermenschen dich! W o ist der Seele R u f ? / W o ist die Brust, die eine Welt sich erschuf/Und trug und hegte, die mit Freudebeben/Erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben?" Nietzsche hat das W o r t zum ersten Male im Jahre 1861 verwendet, in seinen Überlegungen „Ueber die dramatischen Dichtungen Byrons" (BAW 2, 9—15, hier: S. 10), in denen er Byrons Manfred, dem Goetheschen Sprachgebrauch nahe, als „geisterbeherrschenden Uebermenschen" bezeichnet. 303 Siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Aufsätze aus dem Kritischen Journal der Philosophie, S. 49. 304 Gemeint ist der Philosoph Friedrich Eduard Beneke (1798—1854). 305 P H G 11, 3/2, 341. 306 Ebd. 307 So zuerst bei Anaximander, der die ά ρ χ ή in ihrem dreifachen Walten als Ursprung, Urgrund und Abgrund des Seienden τ ο θ ε ί ο ν genannt hat. Dieses ist f ü r ihn „ o h n e Alter" (άγήρω), „ o h n e T o d " ( ά θ ά ν α τ ο ν ) , „ o h n e U n t e r g a n g " (άνώλεθρον), „ o h n e Anfang und ohne V e r d e r b " ( ά γ έ ν η τ ο ν και ά φ θ α ρ τ ο ν); nach Diels/Kranz Β 3, A 11 , A 15. D. h., es ist immerseiend, vom W e r d e n des Wirklichen geschiedenes Sein: Zufolge Nietzsches Auslegung in der Schrift über die Vorsokratiker „eine metaphysische Burg", in die sich Anaximander „aus dieser Welt des Unrechtes" flüchtete ( P H G 4, 3 / 2 , 314). 308 Das „ I m m e r " gilt indes nicht f ü r die letzte Phase seines Denkens — wir haben schon auf S. 6 f. darauf hingewiesen, daß Nietzsche im Jahre 1888, in dem Aphorismus „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel w u r d e " aus der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " , nach zweiundzwanzigj ähriger Denkarbeit endlich die Konsequenz aus seinen frühen — durch F. A. Lange mit beeinflußten — Zweifeln an der Berechtigung des Begriffes „ D i n g an sich" zieht und mit der wahren Welt auch die scheinbare Welt abschafft, ohne daß er indes noch Gelegenheit gefunden hätte, die sich darin ankündigende „ H i n a u s d r e h u n g " aus dem Piatonismus gedanklich zu vollziehen und damit, wie Martin Heidegger es formuliert (Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 242), „den W e g zu einer neuen Auslegung des Sinnlichen aus einer neuen Rangordnung von Sinnlichem und Nichtsinnlichem freizumachen." Ob dies jedoch, wie dieses Zitat nahezulegen scheint, der W e g gewesen wäre, den Heidegger schließlich gegangen ist, bleibt mehr als fraglich, mag auch die nachfolgende Passage aus einer Aufzeichnung vom Frühjahr 1888 in Heideggers Augen vielleicht in diese Richtung gewiesen haben (er zitiert sie, ebd., S. 625, ohne sich indes explizit in diesem Sinne zu äußern): „ D e r Gegensatz der scheinbaren Welt und der wahren Welt reduzirt sich auf den Gegensatz ,Welt' und .Nichts' — " (VIII 14 [184], 8/3, 163). 309 γ n [293], 5 / 2 , 452. 310 311
W a W I , 566. Vgl. dazu Martin Heideggers Ausführungen über die Geschichte des Chaos-Begriffes in: Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S: 348—353.
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Anmerkungen 312 bis 316 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
J ' 2 In: Μ. H., Wegmarken, a. a. O., S. 201—236. 313 Ebd., S. 232. 314 Ebd., S. 224. 315 Ebd., S. 228. 316 Ebd., S. 233. Heidegger entdeckt in Piatons Wahrheitsbegriff „eine notwendige Zweideutigkeit" (ebd., S. 229), insofern in ihm zum einen „die ,Wahrheit' noch als Charakter des Seienden festgehalten [wird], weil das Seiende als das Anwesende im Erscheinen das Sein hat und dieses die Unverborgenheit mit sich bringt." Zugleich aber verlagere „sich das Fragen nach dem Unverborgenen auf das Erscheinen des Aussehens und damit auf das diesem zugeordnete Sehen und auf das Rechte und die Richtigkeit des Sehens" (ebd.), womit Heidegger auf die ό ρ θ ό τ η ς abzielt, von der Piaton in Rep. 515 d, 4 spricht. Uns erscheint diese Auslegung der Platonischen Wahrheit als „Richtigkeit des Blickens" indes nicht unbedenklich zu sein. Einerseits spricht nämlich Piaton nirgends von einer solchen „Richtigkeit des Blickens" als einem G r u n d z u g des menschlichen Verhaltens zum Seienden — auch in der von Heidegger zitierten Stelle nicht, die nichts anderes besagt, als daß das wahre Sein die Sicht des Seienden ermöglicht. Andererseits aber muß eine „Richtigkeit des Blickens" auch die Möglichkeit des falschen Blickens annehmen; sie aber ist im Bereich des in den sogenannten Ideendialogen Piatons thematisierten noetischen Denkens insofern nicht gegeben, als die von ihm zu erschauenden Ideen im Lichte der ά λ ή θ ε ι α stehen, die von der Idee des Guten gewährt wird: die Möglichkeit des Irrtums besteht mithin f ü r das noetische Denken nicht, sind doch die Ideen die höchste Instanz, durch die etwas verifiziert werden kann. Heidegger selbst hat in ebendiesem Sinne noch in „Sein und Zeit" (a. a. O., S. 33) ausgeführt: „ ,Wahr' ist im griechischen Sinne und zwar ursprünglicher als der [ . . . ] λ ό γ ο ς die α ΐ σ θ η σ ι ς , das schlichte, sinnliche Vernehmen von etwas. Sofern eine α ΐ σ θ η σ ι ς je auf ihre ί δ ι α zielt, das je genuin nur gerade durch sie und für sie zugängliche Seiende, ζ. B. das Sehen auf die Farben, dann ist das Vernehmen immer wahr. Das besagt: Sehen entdeckt immer Farben, H ö r e n entdeckt immer Töne. Im reinsten und ursprünglichsten Sinne ,wahr' — d. h. nur entdeckend, so daß es nie verdecken kann, ist das reine ν ο ε ΐ ν , das schlicht hinsehende Vernehmen der einfachsten Seinsbestimmungen des Seienden als solchen. Dieses ν ο ε ΐ ν kann nie verdecken, nie falsch sein, es kann allenfalls ein Unvemehmen bleiben, ά γ ν ο ε ϊ ν , f ü r den schlichten, angemessenen Zugang nicht zureichen." Auch Piaton schließt eine falsche ά ν ά μ ν η σ ι ς grundsätzlich aus. Zwar besteht die Möglichkeit, daß das Wissen in der Seele zunächst verborgen bleibt — Piaton spricht im Phaidon (75 d) von der λήθη —, aber irgendwann wird es vermöge der Sinneswahrnehmungen aufs neue erschlossen werden (Phaidon 75 e): Die Ursache f ü r die Unvollkommenheit der Erkenntnis sieht Piaton in der Gemeinschaft der Seele mit dem Leib beschlossen. Solange wir im Leibe leben, vermag unsere Seele „die ganze W a h r h e i t " (Phaidon 67 b) nicht zu erkennen, hindert doch die Sorge um den Leib unsere „Jagd nach dem Sein" (την τ ο ϋ δ ν τ ο ς θήραν, Phaidon 66 c). Das Wissen aber bleibt immer Wissen vom wahren Sein und beruht in der Unvergessenheit (μη έ π ι λ ε λ ή σ θ α ι , Phaidon 75 d) dessen, was unsere Seele vor der Geburt in voller Klarheit geschaut hat. So gründet die Klarheit der Erkenntnis in der Klarheit und Unverborgenheit der Ideen (Phaidon 67 b). Das ψεΟδος aber vermag dieser Ansatz nicht zu erklären, es wird darum in den Ideendialogen außer acht gelassen; allenfalls hätte es auf das den Ideen Entgegengesetzte, auf die Dinge als bloße Aggregate, d. h. auf das Chaos (Parmenides 135 b, Politeia 524 c, Gorgias 465 d) bezogen werden können. Erst in den Spätdialogen, zuerst im Sophistes, wird die Frage aufgeworfen, wie — unter Beibehaltung des von Parmenides überkommenen Gesetzes der Gleichsetzung von Denken und Sein — die Möglichkeit eines falschen Satzes denn gedacht werden könne. Und nur im Hinblick auf die im Anschluß an diese Fragestellung entwickelte Methode der διαίρεσις, der Methode der Abstufung der Begriffe nach ihrer relativen Allgemeinheit, erscheint es angebracht, von einem Begriff, der Wahrheit als Richtigkeit (όρθότης) bei
Anmerkungen 316 bis 328 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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Piaton zu sprechen. W e n n im Phaidon und den anderen Ideendialogen mit dem Logos immer die Anwesenheit (παρουσία) der Ideen bei den sinnenfälligen Dingen gemeint ist, so wird im Sophistes hingegen vom Logos gesagt, daß er nur durch die Verflechtung der verschiedenen Begriffe (Ideen) entstehe. Darin aber, daß die an sich immer wahren Begriffe zu Unrecht miteinander verflochten werden, bestehe die Möglichkeit eines falschen Logos. In dieser Hinsicht kann Wahrheit als Richtigkeit der Einteilung der Begriffe verstanden werden. 317 f w 3 4 4 ( 5/2, 256-259, hier: S. 259. 318
Martin Heidegger, V o m Wesen der Wahrheit, in: Μ. H., Wegmarken, a. a. O., S. 175-199, hier: S. 178. 319 Ebd., S. 178 f. 320 Vg[ dazu: Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Μ. H., Holzwege, a . a . O . , S. 73-110. 321 Hier zitiert nach: Rene Descartes, Regulae ad directionem ingenii — Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, kritisch revidiert, übersetzt und hrsg. von Heinrich Springmeyer f> Lüder Gäbe, H a n s Günter Zahl, H a m b u r g 1973, Reg. VIII, 396, S. 178/179. 322 Rene Descartes, Meditationes de prima philosophia, a. a. O., S. 38/39. 323 Vgl dazu die nachfolgende Passage aus einer Aufzeichnung, die von Nietzsche im Herbst 1885—Herbst 1886 festgehalten wurde (VIII 2 [93], 8/1, 105): „Auch Descartes hatte einen Begriff davon, daß in einer christlich-moralischen Grunddenkweise, welche an einen g u t e n Gott als Schöpfer der Dinge glaubt, die Wahrhaftigkeit Gottes erst uns unsre Sinnesurtheile v e r b ü r g t . " Mithin setzte Descartes bei seiner Argumentation den „guten G o t t " voraus. Vgl. auch die — in Anm. 418 zitierte — Aufzeichnung VII 40 [20], 7 / 3 , 369 f. vom August—September 1885. 324 Vgl. dazu: Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, a. a. O., Bd. 1, S. 173. 325 Siehe dazu die auf S. 40 f. zitierte Bemerkung Nietzsches über den metaphysischen Glaubenssatz. 326 Den Cartesianischen Ansatz, im Selbstbewußtsein den Anfangsgrund von Sein und Wissen zu setzen, f ü h r t Leibniz nicht direkt fort. Gegen die Annahme des Descartes, daß Vorstellung (coagitatio) immer und ausschließlich Selbstbewußtsein (apperceptio) bedeute — weswegen Descartes nur den selbstbewußten Geist als Leben, alles andere hingegen nur als Maschine begreifen konnte —, wendet Leibniz ein, daß es auch selbstbezogenes Bewußtsein gebe, das nicht selbstbewußt sei. N u r beim Menschen sei das selbstbezogene, die Vielheit des Vorgestellten zur Einheit vereinigende Bewußtsein zum Selbstbewußtsein gesteigert. „Für die Monadologie ist das ego nicht mehr als eine, wenngleich ausgezeichnete Analogie f ü r die Verfassung des wahrhaft Seienden." (Wolfgang Janke, Leibniz als Metaphysiker, in: Leibniz, sein Leben, sein Wirken, seine Welt, hrsg. v. Wilhelm T o t o k und Carl Haase, Hannover 1966, S. 361-420, hier: S. 378) So hat Leibniz diese seine Grundeinsicht, daß das Bewußtsein als Prinzip einigender Einheit durch perceptio und appetitus wirkt, auch nicht auf dem Wege einer Analyse des Selbstbewußtseins gewonnen. „ D a s Ich bietet lediglich eine Analogie, welche die aus der Analyse wahrer Einheit gewonnenen Resultate in die Sphäre konkreter Deutlichkeit und verbürgter Gewißheit hebt. [ . . . ] Die Rücksicht auf die Einheit des Selbstbewußtseins macht die sich einigende Einheit der Monade f ü r uns durchsichtig; denn hier liegt ja ein Fassen vor, das sich seines Fassens bewußt ist, und es zeigt sich ein Streben, das Wille, also vom Selbstbewußtsein begleitetes Erstreben ist. Im Anblick des Ich ist das Einigungsverfahren der einfachen Einheit gleichsam exemplarisch zu Bewußtsein zu bringen. Aber das Sein geht nicht darin auf, Einheit der Apperzeption zu sein." (Ebd.) 237 Ebd., S. 417. 328 Im „Discours de metaphysique", in: Schriften IV, 427-463, hier: S. 451, heißt es: „car naturellement rien ne nous entre dans l'esprit par dehors, et c'est une mauvaise habitude que nous avons de penser comme si nostre ame recevoit quelques especes messageres et comme si eile avoit des portes et des fenestres" ("denn auf natürliche Weise tritt nichts in
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Anmerkungen 328 bis 331 zum Abschnitt „Voraussetzungen" unseren Geist von außen ein, und es ist eine schlechte Gewohnheit von uns, zu denken, unsere Seele empfinge irgendwelche Art von Boten und hätte Türen und Fenster"). Siehe dazu die vorzügliche Arbeit von Ingetrud Pape, Leibniz, Zugang und Deutung aus dem Wahrheitsproblem, Stuttgart 1949, besonders S. 113-128. Leibniz hat diesen Gedanken zunächst im Rahmen erkennnistheoretischer Erörterungen entfaltet, welche „sich streng im Rahmen des ,systeme commun' " halten, „d. h. es wird in ihnen so von Erkenntnis und Gegenstand, von Bewußtsein und Außenwelt, von eingeborenen Ideen' und E r f a h r u n g e n der Sinne' gesprochen, als ob es die fensterlose Monade und ihre unwiderrufliche Abgeschlossenheit nicht gäbe." (Pape, S. 97) In einem Dialog aus dem Jahre 1677, welcher von der Verknüpfung von Worten mit Dingen handelt, geht Leibniz von zwei Grundmomenten der Zeichen-Repräsentation aus, um dem Wahrheitsrelativismus von Hobbes zu begegnen: Erstens dem Moment der geregelten Z u o r d n u n g : „Est aliqua relatio sive o r d o in characteribus qui in rebus" („in den Zeichen besteht eine Beziehung oder O r d n u n g , welche derjenigen in den Dingen entspricht"; Schriften VII, 192), zweitens dem Moment der zulässigen Ungleichartigkeit: „nulla opus esse similitudine" („es ist keine Ähnlichkeit nötig"; ebd.). Er kommt damit zur neuen Bestimmung des (objektiven) Wahrheitsbegriffes: „relatio est fundamentum veritatis". Die Stelle lautet: „ N a m etsi characteres sint arbitrarii, eorum tarnen usus et connexio habet quiddam quod non est arbitrarium, scilicet proportionem quandam inter characteres et res, et diversorum characterum easdem res exprimentium relationes inter se. Et haec proportio sive relatio est fundamentum veritatis." („Denn wenn die Charaktere auch willkürlich sind, so liegt gleichwohl in ihrer Verwendung und ihrer V e r k n ü p f u n g etwas, was nicht willkürlich ist, nämlich ein Verhältnis, das zwischen den Charakteren und den Dingen besteht, und damit Beziehungen der verschiedenen Charaktere untereinander, welche ein und dieselbe Sache ausdrücken. U n d dieses Verhältnis oder diese Beziehung ist die Grundlage der Wahrheit", Hervorhebung von mir, T h . B.) Diese beiden Grundmomente tragen auch die Wahrheit der monadischen (metaphysischen) Repräsentation. Der geregelten Beziehung, die jedes Vorstellungsmoment mit jedem Gegenstand verknüpft, entspricht hier die innere Übereinstimmung der Vorstellungsabläufe unendlicher Monaden. Im „Discours de metaphysique" heißt es ( a . a . O . , S. 439: „ [ . . . ] cependant il est tres vray que les perceptions ou expressions de toutes les substances s' entrerepondent, en sorte que chacun suivant avec soin certaines raisons ou loix qu'il a observees, se rencontre avec l'autre qui en fait autant, comme lors que plusieurs s'estant accordes de se trouver ensemble en quelque endroit ä un certain jour prefix, le peuvent faire effectivement s'ils veuillent." („Es ist indessen durchaus wahr, daß die Perzeptionen oder Expressionen aller Substanzen miteinander übereinstimmen, und zwar in der Weise, daß jeder, der mit Sorgfalt gewisse Gründe oder Gesetze, die er beobachtet hat, befolgt, mit einem andern, der es ebenso macht, zusammentrifft, so wie mehrere Leute, die sich f ü r einen vorher ausgemachten T a g an einem bestimmten O r t verabredet haben, dies in der Tat, wenn sie wollen, tun können.", Hervorhebung von mir, T h . B.) Die Einschränkung der Gleichartigkeit der Relationsglieder folgt auch hier mit Notwendigkeit daraus, daß jede Monade in der Lage (situs) des Gesichtspunktes (punctus visus) der repraesentatio mundi einzigartig ist. Der oben angeführte Text fährt in diesem Sinne fort: „ O r quoy tous expriment les memes phenomenes, ce n'est pas pour cela que leur expressions soyent parfaitement semblables, mais il suffit qu'elles soyent proportionelles; comme plusieurs spectateurs croyent voir la meme chose, et s'entrentendent en effect, quoyque chacun voye et parle Selon la mesure de sa veue." (Obwohl nun alle dieselben Phänomene ausdrücken, sind doch deshalb nicht alle Expressionen vollkommen gleich, aber es genügt, daß sie einander entsprechen; so wie mehrere Beobachter dieselbe Sache zu sehen vermeinen und sich in der T a t darüber verständigen, obgleich jeder nach Maßgabe seines Gesichtspunktes sieht und spricht.") So hat jede Monade wohl ihre eigene Welt, aber keine hat einen eigenen Weltinhalt; nur die durch ihren Blickpunkt fixierte Ansicht der unendlich oft gespiegelten Welt ist ihr eigentümlich. Pape, op.cit, S. 118.
Anmerkungen 332 bis 346 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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332 w a s beispielsweise die Metaphysik der Monade belegt, die von Leibniz „zweifellos mit dem Anspruch einer absolut sicheren, adäquaten Seinsaussage vorgetragen [ist]"; Pape, a. a. O., S. 123. 333
Janke, op. cit., S. 417. 334 Y g j ebd., S. 362: „ G o e t h e war — entgegen Diltheys These — Spinozist Leibnizscher Observanz". 335 „ D a s Höchste, was wir von Gott und der N a t u r erhalten haben, ist das Leben, die rotierende Bewegung der Monas um sich selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt; [ . . . ]." „Die zweite Gunst der von oben wirkenden Wesen ist das Erlebte, das Gewahrwerden, das Eingreifen der lebendig beweglichen Monas in die Umgebung der Außenwelt, wodurch sie sich erst selbst als innerlich Grenzenloses, als äußerlich Begrenztes gewahr wird." Goethe, Maximen und Reflexionen, H A 12, 365-547, hier: S. 396 f., Nr. 227 und Nr. 228. 336 Ebd., S. 371, Nr. 44 und Nr. 45. 337 Im Gespräch mit Falk an Wielands Begräbnistag (25. 1. 1813) sagt Goethe: „ich nehme verschiedene Klassen und Rangordnungen der letzten Urbestandteile aller Wesen an, gleichsam der Anfangspunkte aller Erscheinungen der Natur, die ich Seelen nennen möchte, weil von ihnen die Beseelung des Ganzen ausgeht, oder noch lieber Monaden — lassen Sie uns immer diesen Leibnizischen Ausdruck beibehalten! Die Einfachheit des einfachsten Wesens auszudrücken, möchte es keinen bessern geben." (Zitiert nach: Goethes Gespräche in vier Bänden, aufgrund der Ausgabe und des Nachlasses von F. v. Biedermann ergänzt und hrsg. v. Wolfgang Herwig, Zürich 1965 ff., Band 2, S. 769-778, hier: S. 771.) 338 Goethe zu Eckermann am 26. 2. 1824 (zitiert nach: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Zürich 1948, 24. Band der Gedenkausgabe der Goetheschen Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. v. Ernst Beutler, S. 94-98, hier: S. 98). Vgl. auch: Annalen bis 1780, H A 10, 431; Brief an Zelter vom 28.6. 1831, HA-Briefe 4, 433 f., hier: S. 434. J . W . Goethe, Winckelmann, H A 12, 96-129, hier: S. 97. 340 J . W . Goethe, Bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches W o r t , H A 13, 37-41, hier: S. 38. 341 Siehe dazu: Marie Hendel, Die platonische Anamnesis und Goethes Antizipation, Kant-Studien X X V / 1 9 2 0 , S. 182-195. Vgl. auch: Franz Koch, Goethe und Plotin, Leipzig 1925, S. 100. 342 Wie Anm. 337. 343 Auf die Frage Falks, ob die Übergänge zwischen verschiedenen Zuständen „ f ü r die Monaden selbst mit Bewußtsein verbunden wären?", soll Goethe geantwortet haben: „ ,Daß es einen allgemein historischen Uberblick, sowie daß es höhere Naturen, als wir selbst, unter den Monaden geben könne, will ich nicht in Abrede sein. Die Intention einer Weltmonade kann und wird manches aus dem dunkeln Schöße ihrer Erinnerung hervorbringen, das wie Weissagung aussieht und doch im Grunde nur dunkle Erinnerung eines abgelaufenen Zustandes, folglich Gedächtnis ist; völlig wie das menschliche Genie die Gesetztafeln über die Entstehung des Weltalls entdeckte, nicht durch trockne Anstrengung, sondern durch einen ins Dunkel fallenden Blitz der Erinnerung, weil es bei deren Abfassung selbst zugegen war. [ . . . ] ' " (Ebd., S. 774 f.). 344 Zitiert nach: Georg Simmel, Goethe, Leipzig 5 1923, S. 6. Vgl. auch den Brief an Johann Heinrich Meyer am 8.2. 1796, HA-Briefe 2, 214-216, hier: S. 215: „denken Sie immer: daß wir nur eigentlich f ü r uns selbst arbeiten. Kann das jemand in der Folge gefallen oder dienen, so ist es auch gut. Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst". 345 Solcherweise in „Vermächtnis", H A I , 369 f., hier: S. 370; auch in Naturphilosophie", H A 13, 44 f., hier: S. 45, sowie im Brief an Zelter vom Silvester-Abend 1829, HA-Briefe 4, 366 f., hier: S. 367. 346 An Schiller am 19. 12. 1798; hier zitiert nach: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, hrsg. v. H a n s Gerhard Graf und Albert Leitzmann, a. a. O., Bd. 2, S. 180.
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Anmerkungen 347 bis 360 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
Op. cit., S. 35. Ebd., S. 23. Vgl. die W o r t e Goethes, die der Kanzler von Müller unter dem Datum des 4. 11. 1823 berichtet: „ ,Ich statuiere keine Erinnerung in eurem Sinne, das ist nur eine unbeholfene Art sich auszudrücken. Was uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes begegnet, muß nicht erst von außen her wieder er-innert, gleichsam er-jagt werden, es muß sich vielmehr gleich vom Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neueres beßres Ich in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen. [ · . · ] ' " (Zitiert nach: Goethes Gespräche, ed. Wolfgang Herwig, a . a . O . , Bd. 3 / 1 , S. 611.) 349 Siehe Goethes Maxime: „ D i e Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee". (Zitiert nach: H A 12, S. 366, Nr. 12.) 350 Emil Staiger, Goethe, 3 Bde., hier: Bd. 2, Zürich e n Nachweis, daß die neuzeitliche Berufung auf den homo-mensura-Satz (siehe Frühjahr 1888, V I I I 1 4 [116], 8/3, 84 f., hier: S. 85: „unsere heutige Denkweise ist in einem hohen Grade heraklitisch, demokritisch und protagoreisch . . . es genügte zu sagen, d a ß s i e p r o t a g o r e i s c h (sei), weil Protagoras die beiden Stücke Heraklit und Demokrit in sich zusammennahm") etwas anderes meint als sein Urheber Protagoras, führt wie bereits erwähnt Heidegger (siehe: Μ. H., Die Zeit des Weltbildes, a. a. O., S. 104): „Eines ist die Bewahrung des jeweilig beschränkten Umkreises der Unverborgenheit durch das Vernehmen des Anwesenden (der Mensch als μέτρον). Ein Anderes ist das Vorgehen in den entschränkten Bezirk der möglichen Vergegenständlichung durch das Errechnen des jedermann zugänglichen und f ü r alle verbindlichen Vorstellbaren.//Jeder Subjektivismus ist in der griechischen Sophistik unmöglich, weil hier der Mensch nie Subjectum sein kann; er kann dies nicht werden, weil das Sein hier Anwesen und die Wahrheit Unverborgenheit ist." 465
Deutlich weisen die auf S. 16 ff. beschriebenen frühen Überlegungen auf die nachfolgenden Gedanken der Spätzeit vor: „Wir haben nur nach dem Vorbilde des Subjektes die D i n g l i c h k e i t erfunden und in den Sensationen-Wirrwarr hineininterpretiert. Glauben wir nicht mehr an das w i r k e n d e Subjekt, so fällt auch der Glaube an w i r k e n d e Dinge, an Wechselwirkung, Ursache und Wirkung zwischen jenen Phänomenen, die wir Dinge nennen. [ . . . ] Geben wir das wirkende S u b j e k t auf, so auch das O b j e k t , auf das gewirkt wird. Die Dauer, die Gleichheit mit sich selbst, das Sein inhärirt weder dem, was Subjekt, noch dem, was Objekt genannt wird: es sind Complexe des Geschehens, in Hinsicht auf andere Complexe scheinbar dauerhaft" (Herbst 1887, VIII 9 [91], 8/2, 47—51, hier: S. 47 f.). 466 w i r bedenken hier die bereits zitierten Aufzeichnungen: Alles „ist Interpretation, nicht T e x t " (JGB 22, 6 / 2 , 31; siehe Anm. 87) und „ S c h e i n wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge" (August—September 1885, VII 40 [53], 7 / 3 , 386; siehe Anm. 429). Nietzsche denkt den täuschenden Gott des Descartes gleichsam als irdisches „Prinzip" (siehe JGB 34, 6 / 2 , 48—50, hier: S. 48: „wir finden Gründe über Gründe dafür, die uns zu Muthmaassungen über ein betrügerisches Princip im ,Wesen der Dinge' verlocken möchten"), wenn er überall nur „Metamorphosen Verkleidungen Maskeraden" sieht — man kann, wie dies Walter Kaufmann tut, von „Nietzsches Philosophie der Masken" (Nietzsche-Studien 10—11/1981—82, S. 111 —131) sprechen, wobei das Attribut sowohl als Genitivus subjectivus wie auch als Genitivus objectivus zu hören ist: Sie ist eine maskenhafte Philosophie, die um diesen Wesenszug weiß und ihm — zwangsläufig in maskenhafter Weise — nachdenkt. So schreibt Nietzsche im 289. Aphorismus seines Buches „Jenseits von Gut und Böse" (6/2, 243 f., hier: S. 244) in unüberhörbarer Selbstauslegung: „ W e r Jahraus, Jahrein und Tags und Nachts allein mit seiner Seele im vertraulichen Zwiste und Zwiegespräche zusammengesessen hat, wer in seiner Höhle — sie kann ein Labyrinth, aber auch ein Goldschacht sein — zum Höhlenbär oder Schatzgräber oder Schatzwächter und Drachen
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Anmerkung 466 zum Abschnitt „Voraussetzungen" wurde: dessen Begriffe selber erhalten zuletzt eine eigne Zwielicht-Farbe, einen Geruch ebenso sehr der Tiefe als des Moders, etwas Unmittheilsames und Widerwilliges, das jeden Vorübergehenden kalt anbläst. Der Einsiedler glaubt nicht daran, dass jemals ein Philosoph — gesetzt, dass ein Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war — seine eigentlichen und letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe: schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt? — ja er wird zweifeln, ob ein Philosoph ,letzte und eigentliche' Meinungen überhaupt haben k ö n n e , ob bei ihm nicht hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse — eine umfänglichere fremdere reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder ,Begründung'. Jede Philosophie ist eine Vordergrunds-Philosophie — das ist ein Einsiedler-Urtheil: ,es ist etwas Willkürliches daran, dass e r hier stehen blieb, zurückblickte, sich umblickte, dass er h i e r nicht mehr tiefer grub und den Spaten weglegte, — es ist auch etwas Misstrauisches daran.' Jede Philosophie v e r b i r g t auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes W o r t auch eine Maske." Jedes W o r t und jede Philosophie — d. h. auch seine „neue Philosophie" des Willens zur Macht, die er darum in einem Fragment aus der Entstehungszeit von „Jenseits von Gut und Böse" als „ Ve rs u ch e i n e r n e u e n A u s l e g u n g a l l e s G e s c h e h e n s " (August bis September 1885, VII 40 [50], 7 / 3 , 385 f., hier: S. 385; Kursivierung von mir, T h . B.) bezeichnet, könne sie doch „billigerweise nur vorläufig und versucherisch, nur vorbereitend und vorfragend, nur ,vorspielend'" sein. Denn es gibt keine feststehende Wahrheit, keinen absoluten Grund, „kein Ende und keine letzte Horizontlinie" (August—September 1885, VII 40 [57], 7 / 3 , 388), weil in Nietzsches Sicht das Leben immer über das, was ist, hinauswill: sei es doch Wille zur Macht. Er soll das „letzte Factum [sein], zu dem wir hinunterkommen" (August—September 1885, VII 40 [61], 7 / 3 , 393), insofern in ihm die in Anm. 418 angesprochene Struktur des immerwährenden „ D a h i n t e r " , das Geschehnis des ständigen Entzugs eines unbedingten Seins, das wir in unserem Lebensvollzug anzunehmen genötigt sind (vgl. dazu die in Anm. 127 zitierte, gegen Spir gerichtete Aufzeichnung vom August—September 1885), eine Auslegung findet. Er zeigt sich als „Einer [der sich] tausend Male widerspricht und viele Wege geht und viele Masken trägt und in sich selber kein Ende und (keine) letzte Horizontlinie findet" (August—September 1885, VII 40 [57], 7 / 3 , 388): Nietzsche selber bezeichnet darum, wie gehört, seine Konzeption des Willens zur Macht als einen bloßen „ N a m e n " f ü r diese unsere ,Schein-Realität', zudem nur „von Innen her bezeichnet und nicht von seiner [des Willens zur Macht] unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus." (August—September 1885, VII 40 [53], 7 / 3 , 386) Wie Karl-Heinz Dickopp (op. cit., S. 117 f.) bemerkt, gibt der Wille zur Macht als Quale der Welt nämlich „nicht zu erkennen, was er ist und woher er kommt: er will nur die Macht." Und dies in dieser versuchenden und zugleich versucherischen Auslegung, die darum weiß, daß sie selber innerhalb der von ihr herausgestellten Bedingtheit der Erkenntnis ist, in der sich anders gesagt der Wille zur Macht selber in Übermächtigung der Erscheinungen der Welt und ihrer bisherigen Ausdeutungen als solcher auslegt. Die oben angeführte Aufzeichnung, in der Nietzsche seine Philosophie als „Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens" bezeichnet, endet darum mit der Bemerkung: „jeder Philosoph soll insoweit die Tugend des Erziehers haben, daß er, bevor er zu überzeugen unternimmt, erst verstehen muß zu überreden. Ja der V e r f ü h r e r hat vor allem Beweisen zu untergraben und zu erschüttern, vor allem Befehlen und Vorangehn erst zu versuchen, in wie weit er versteht, auch zu verführen." Er muß verführen zu den Voraussetzungen seiner Philosophie, gemäß denen sie richtig erscheint. Dieses Voraussetzen, Festmachen der Tatbestände, an die sich das Denken nachher anmißt, sie entdeckt, hat Nietzsche aber als Wille zur Macht gedacht. Das wiederum heißt, daß sich seine Philosophie nurmehr gemäß den eigenen Voraussetzungen selbst begründet und dies zudem auch eingestehen kann („Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist — und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? — nun, um so besser. — " , heißt es im Aphorismus 22 von „Jenseits von Gut und Böse", siehe dazu schon Anm. 87), weil ein solches Eingeständnis jene Voraussetzungen bestätigt. In dieser
Anmerkung 466 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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Sichtweise ist kein Denken, sofern es stringent ist, mehr widerlegbar, da es rein in sich selbst kreist. („Solche Menschen leben in ihrem eignen Sonnensystem; darin muß man sie aufsuchen.", bemerkt Nietzsche in „Ueber das Pathos der W a h r h e i t " zu Heraklit, 3 / 2 , 252.) Es ist bloß radikalisierbar, dies jedoch wiederum schon im Hinblick auf die eigene Philosophie, insofern diese den Punkt voraussetzt, in welchem die jeweiligen Denkansätze vergleichbar werden. Für Nietzsche ist dies das „Leben". — Heidegger, der dort, w o er nicht belegen kann, häufig zu zitieren pflegt — als Mittel der V e r f ü h r u n g das Zitat benutzt —, hat diesen Zirkel des Denkens noch klarer als Nietzsche in seiner Vorlesung über ihn als „die Frage nach der Selbstbegründung der Philosophie" bedacht. „Sie betrifft jenen Sachverhalt, daß, was die Philosophie ist und wie sie jeweils ist, sich nur aus ihr selbst bestimmt, daß aber diese Selbstbestimmung nur möglich ist, indem sie sich schon selbst begründet hat." (Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 24) Walter Kaufmanns Argumentation zu dem Problem der Maske bewegt sich nahezu ausschließlich auf psychologischer Ebene — w o zwar die meisten, nicht aber die wichtigsten von Nietzsches Äußerungen zur Maske angesiedelt sind: auch das eine Maske. Erst am Ende seines Aufsatzes kommt Kaufmann auf das eigentlich philosophische Problem zu sprechen. Zu dem oben zitierten Satz: „Jede Philosophie v e r b i r g t auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes W o r t auch eine Maske.", bemerkt er in jener selbstherrlich-oberflächlichen Manier, die auch sein Nietzsche-Buch auszeichnet: „Wir haben gesehen, daß viele seiner W o r t e tatsächlich Masken sind. Ist aber jedes W o r t eine Maske? Kaum. Und schreibt man wirklich Bücher um zu verdecken, was man in sich hat [ . . . ] ? / / D e r hier zitierte Abschnitt hat auch einen Selbstbezug. Indem er fühlt, daß er sich zu sehr exponiert hat, setzt der Einsiedlerphilosoph die Maske des Possenspielers auf, der lediglich spielt und keine letzten und wirklichen Gesichtspunkte hat. Dies ist eine von Nietzsches personae, eine seiner Masken und Rollen" (128 f.). „Natürlich hatte er Meinungen und drückte diese gelegentlich lebhaft und mit Nachdruck aus, aber er sah es als seine Ehrenpflicht an, seine Meinungen als vorläufig und nicht .endgültig' aufzufassen. Sie können alle in Frage gestellt werden, und der Zweck, die Bücher zu schreiben, die er hervorbrachte, war insgesamt nicht, uns zu überreden, seine Meinungen zu akzeptieren, sondern eher — im Geiste Gotthold Ephraim Lessings — uns aufzuwecken, uns aufzuschütteln und uns dahin zu führen, daß wir f ü r uns selbst denken." (129) Abgesehen davon, daß jemand, der sich in schopenhauerscher Manier über Universitätsphilosophen erhaben dünkt — oder sollte seine Polemik gegen sie maskierte Selbstironie sein? —, abgesehen davon also, daß jemand, der sich als ernsthaften Denker darzustellen bemüht ist, das W o r t „natürlich" wenn nicht überhaupt, so doch zumindest aus dem Schatz seiner Lieblingsvokabeln streichen sollte, einmal abgesehen auch davon, daß mit dieser Argumentation das Problem wieder auf die psychologische Ebene verlagert ist, — uns erscheint in dieser Darstellung Nietzsches als eines liberalen Aufklärers die Gewalt seines Denkens verharmlost: Wenn Nietzsche den Leser dazu auffordert, über seine Gedanken hinauszugehen, so setzt er ihm ineins damit den äußersten Widerstand entgegen, weil sich seiner eigenen Philosophie nach nur so der Wille zur Macht weiter steigern kann. Zudem fragt es sich, ob man Nietzsches Philosophie jemals „ e n t k o m m e n " kann, bewährt sich doch gerade in einem solchen Entkommen einer ihrer Grundgedanken. Eine Verharmlosung von Nietzsches Denken als Hauptfolge einer schlechten Psychologisierung droht Kaufmann auch an anderen Stellen seines Aufsatzes, etwa dort, wo er schreibt: „ebensowenig sollten seine Leser die verschiedenen anderen Masken als seine letzten Meinungen auffassen, am wenigsten aber die exoterischen Bedeutungen von ,wie man mit dem H a m m e r philosophiert' und der ,Herren-Moral', dem Jenseits von Gut und Böse' und dem ,Willen zur Macht'. Weit entfernt davon, roh zu sein, war Nietzsche, womöglich, im Ubermaß feinsinnig." (129) Sicher sind die betreffenden Gedanken nicht Nietzsches letzte Meinungen, aber nur derjenige, der sich ihrer Härte, die nichts mit Roheit, alles hingegen mit geistiger Redlichkeit zu tun hat, aussetzt, hat sich das Recht und auch die Möglichkeit erworben, zu den „esoterischeren" Gedanken vorzudringen. In ihre N ä h e gelangt Kaufmann aber dort, w o er folgendes zu bedenken gibt: „Vielleicht — wie
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Anmerkungen 466 bis 473 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Nietzsche selbst in einigen seiner späten Äußerungen nahelegt — gibt es nur Erscheinungen und keine letzte Wirklichkeit hinter ihnen. Vielleicht gibt es nur den Fluß und nichts wirklich Festes. Und vielleicht gibt es nicht einmal ein Selbst. Vielleicht haben die Individuen kein Wesen und keine Natur, und wenn sie es hätten, dann könnte man sagen, es sei ihre Aufgabe, dies zu überwinden. Vielleicht sind alle festen Positionen nur Masken und nicht endgültig. Nietzsches Tiefe rührt zum Teil daher, daß er diese Fragen aufgeworfen hat." (130 f.) W a r u m sucht sich Kaufmann, der so vieles Wichtige bei Nietzsche beobachtet, nicht diese Tiefe zu bewahren? Könnte man dann nämlich noch Nietzsches Wesensbestimmung der W o r t e als Masken mit einem einzigen W o r t abtun? Kaum. Vgl. Sommer—Herbst 1873, III 29 [17], 3 / 4 , 240 f., hier: S. 240: „Kunst behandelt also den S c h e i n a l s S c h e i n , will also gerade n i c h t täuschen, i s t w a h r . " Sowie: III 29 [20], 3 / 4 , 241: „Die Wahrheit ist unverkennbar. Alles Erkennbare Schein. Bedeutung der Kunst als des wahrhaftigen Scheines." H L 9, 3 / 1 , 315 nennt Nietzsche etwa „die Lehren vom souverainen Werden, von der Flüssigkeit aller Begriffe, Typen und Arten, von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier — Lehren, die ich f ü r wahr, aber f ü r tödtlich halte". Jeder Glaube aber ist, wie Nietzsche im Herbst 1887 bemerkt (VIII 9 [41], 8/2, 18), „ein F ü r - w a h r - h a l t e n . " Nicht zuletzt spricht aus dem Begriff des „notwendig zu Glaubenden" der Charakter der Vorläufigkeit, der Nietzsche zufolge allen Annahmen zugesprochen werden muß. Das eben angesprochene Zitat lautet im Zusammenhang: „Es giebt k e i n e a p a r t e P h i l o s o p h i e , g e t r e n n t von der Wissensch aft: dort wie hier wird gleich g e d a c h t . D a ß ein u n b e w e i s b a r e s Philosophiren noch einen Werth hat, mehr als meistens ein wissenschaftlicher Satz, hat seinen Grund in dem aesthetischen W e r t h e eines solchen Philosophirens, d. h. durch Schönheit und Erhabenheit. Es ist als K u n s t w e r k noch vorhanden, wenn es sich als wissenschaftlicher Bau nicht erweisen kann. Ist das aber bei wissenschaftlichen Dingen nicht ebenso? — / / M i t anderen W o r t e n : es entscheidet nicht der reine E r k e n n t n i ß t r i e b , sondern der a e s t h e t i s c h e : die wenig erwiesene Philosophie des Heraklit hat einen größeren Kunstwerth als alle Sätze des Aristoteles.//Der Erkenntnißtrieb wird also gebändigt durch die Phantasie in der Kultur eines Volkes. Dabei ist der Philosoph vom höchsten W a h r h e i t s p a t h o s erfüllt: der W e r t h seiner Erkenntniß verbürgt ihm ihre W a h r h e i t . Alle F r u c h t b a r k e i t , und alle treibende Kraft liegt in diesen v o r a u s g e w o r f n e n Blicken." (Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [76], 3/4. 32). Ganzheit ist Oberflächlichkeit, diese aber ist Schönheit; siehe Frühjahr 1884, VII 25 [505], 7 / 2 , 142 f., sowie: N W , Epilog 2, 6 / 3 , 437. D a r u m kann Nietzsche schon im Sommer 1872—Anfang 1873 (III 19 [22], 3 / 4 , 11) sagen: „ D i e S c h ö n h e i t tritt bei dem wählerischen Erkenntnißtrieb wieder als Macht hervor." Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 33. Schopenhauer sieht die Langeweile, die eintritt „sobald N o t und Leiden dem Menschen eine Rast vergönnen" ( W a W I, 429), als „Quelle der Geselligkeit" an (ebd., S. 430). In GM II 17 (6/2, 340 f.) wird Nietzsche diese Theorie vom Ursprung des Staates als „Schwärmerei" abtun. Der Staat entstehe vielmehr in Ausübung des Willens zur Macht durch Gewalt und Eroberung. Aus einem Willen zur Macht sieht Nietzsche den Staat im Grunde schon 1872, in der Vorrede „ D e r griechische Staat", entstanden. Die terminologische Nähe zu Rousseau in der ein halbes Jahr später entstandenen Schrift könnte daher zu Mißverständnissen Anlaß geben, erkennte man nicht, daß die Rede vom „Gesellschaftsvertrag" weniger ein Modell der Ereignisse zu geben beabsichtigt, die der Gründung eines Staates voraufgehen, als vielmehr das zu erfassen bestrebt ist, was eine solche G r ü n d u n g bedeutet, nämlich die Aufrichtung von Konventionen — sei es explizit oder implizit. In diesen Anschauungen stimmte Nietzsche mit Jacob Burckhardt überein. So bemerkt dieser in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" — die ihnen zugrundeliegende
Anmerkungen 473 bis 479 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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Vorlesung „Über Studium der Geschichte" im Winter 1870/71 hat Nietzsche gehört (siehe: Janz 1, 387) —: „Eitel sind alle unsere Konstruktionen von Anfang und Ursprung des Staates, und deshalb werden wir uns hier über diese Primordien nicht wie die Geschichtsphilosophen den Kopf zerbrechen. N u r so viel Licht, daß man sehe, was f ü r ein Abgrund vor uns liegt, sollen die Fragen geben: Wie wird ein Volk zum Volk? und wie zum Staat? [ . . . ] / / A b s u r d ist die Kontrakthypothese f ü r den zu errichtenden Staat, die bei Rousseau auch nur als ideale hypothetische Aushilfe gemeint ist, indem er nicht zeigen will, wie es gewesen sei, sondern wie es nach ihm sein sollte. N o c h kein Staat ist durch einen wahren, d. h. von allen Seiten freiwilligen Kontrakt (inter volentes) entstanden". „ S o ist denn nur zweierlei wahrscheinlich: a) die Gewalt ist wohl immer das Prius. U m ihren Ursprung sind wir nie verlegen, weil sie durch die Ungleichheit der menschlichen Anlagen von selbst entsteht. O f t mag der Staat nichts weiter gewesen sein als ihre Systematisierung. O d e r b) wir ahnen sonst einen höchst gewaltsamen Prozeß, zumal der Mischung. Ein Blitzstrahl schmilzt mehreres zu einem neuen Metall zusammen, etwa zwei stärkere und ein schwächeres oder umgekehrt." (J. B., Weltgeschichtliche Betrachtungen, Erläuterte Ausgabe hrsg. v. Rudolf Marx, Stuttgart 1978, S. 30 und S. 32). 474
Dies Nietzsches beständig wiederholte Betrachtung jener Unzeit, welche geprägt ist von der „ E x s t i r p a t i o n d e s d e u t s c h e n G e i s t e s z u G u n s t e n d e s , d e u t s c h e n R e i c h e s ' ". (DS 1, 3 / 1 , 156) Siehe zu dieser Fragestellung vor allem: C V 3 ( „ D e r griechische Staat"), w o sich der Satz findet (3/2, 264 f.) über „die ungeheure Nothwendigkeit des Staates, ohne den es der Natur nicht gelingen möchte, durch die Gesellschaft zu ihrer Erlösung im Scheine", d. h. zur verklärten Physis (siehe unten) oder Kultur, „im Spiegel des Genius, zu kommen." Dagegen erkennt Nietzsche „in jener neuerdings von allen Dächern gepredigten", auf Hegel zurückgehenden „Lehre, dass der Staat das höchste Ziel der Menschheit sei, und dass es f ü r einen Mann keine höheren Pflichten gebe, als dem Staate zu dienen", „nicht einen Rückfall in's Heidenthum, sondern in die D u m m h e i t " (SE 4, 3 / 1 , 361). Und an anderer Stelle der gleichen Schrift „Schopenhauer als Erzieher" hält er dem Gerede vom deutschen „Kulturstaat" entgegen: „ M a g der Staat noch so laut sein Verdienst um die Kultur geltend machen, er fördert sie, um sich zu fördern und begreift ein Ziel nicht, welches höher steht als sein Wohl und seine Existenz." (3/1,396). 475 Auf Nietzsches diesbezügliche Äußerungen kommen wir weiter unten zu sprechen. 476 III 19 [229], 3 / 4 , 79 f., hier: S. 80. 477 Im Frühjahr 1884 (VII 25 [305], 7 / 2 , 84) zeichnet Nietzsche auf: „— w i r m a c h e n e i n e n V e r s u c h m i t d e r W a h r h e i t ! Vielleicht geht die Menschheit dran zu Grunde! Wohlan!", womit er die Wahrheit meint, daß es keine Wahrheit gibt. Im Sommer 1872—Anfang 1873 nennt er hingegen das „Aussprechen der W a h r h e i t u m j e d e n P r e i s [ . . . ] s o k r a t i s c h "(III 19 [97], 3 / 4 , 39 f., hier: S. 40), er rechnet es mithin noch zu den Entartungen des gegenwärtigen Lebens. N o c h glaubt er die Kultur allein durch das Festhalten an der überkommenen metaphysischen Begriffsdichtung retten zu können. Noch sieht er nicht, daß erst zerstört werden muß, damit gebaut werden kann. (Weiteres dazu im folgenden.) 478 Vgl. dazu, was Michel Foucault in seinem Buch „Die O r d n u n g der Dinge", F r a n k f u r t / M a i n 2 1978, S. 74 f. schreibt: „Seit dem siebzehnten Jahrhundert [ . . . ] wird die Anordnung der Zeichen binär, weil man sie seit Port-Royal durch die Verbindung eines Bezeichnenden und eines Bezeichneten definieren wird. In der Renaissance ist die Organisation eine andere und viel komplexere. Sie ist t e m ä r , weil sie sich des formalen Gebietes der Zeichen, dann des Inhalts, der durch diese Zeichen signalisiert wird, und der Ähnlichkeiten bedient, die diese Zeichen mit den bezeichneten Dingen verbinden. [ . . . ] Diese neue Disposition zieht das Erscheinen eines neuen, bis dahin unbekannten Problems nach sich. In der T a t hatte man sich gefragt, wie man erkennen soll, daß ein Zeichen genau das bezeichnete, was es bedeutete. V o m siebzehnten Jahrhundert an wird man sich fragen, wie ein Zeichen mit dem verbunden sein kann, was es bedeutet." 479 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [258], 3 / 4 , 88.
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Anmerkungen 480 bis 484 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
480 Nietzsche war nicht der erste, der dies erkannt hat. Als Vorgänger sind vor allem Vico und H e r d e r zu nennen. Aber erst bei Nietzsche führt diese Erkenntnis zu einer Krisis des Denkens. Vgl. dazu: Beda Allemann, Die Metapher und das metaphorische Wesen der Sprache, in: Welterfahrung in der Sprache, Erste Folge, hrsg. v. der Arbeitsgemeinschaft Weltgespräch, Freiburg 1968, S. 29-43. 481
VIII 11 [148], 8/2, 311 f., hier: S. 311. Die Metonymie sucht Nietzsche in zeitgleichen Fragmenten wie folgt zu spezifizieren, wobei er anknüpft an deren rhetorische Bestimmung als „einer Verschiebung der Benennung außerhalb der Ebene des Begriffsinhalts", wozu vorzüglich die Vertauschung von Ursache und Wirkung rechnet (Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, München H976, §216—§219, S. 75f.). Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [204], 3 / 4 , 69 f.: „ D i e A b s t r a k t i o n e n sind M e t o n y m i e n d . h . Vertauschungen von Ursache und Wirkung. N u n aber ist jeder Begriff eine Metonymie und in Begriffen geht das Erkennen vor sich." Und in der Aufzeichung III 19 [242], 3 / 4 , 83 heißt es: „Ein bestimmter Körper ist gleich so und so viel Relationen. Relationen können nie das Wesen sein, sondern nur Folgen des Wesens. Das synthetische Urtheil beschreibt ein Ding nach seinen Folgen, d . h . W e s e n und F o l g e n werden i d e n t i f i c i r t , d . h . eine M e t o n y m i e . / / A l s o im Wesen des synthetischen Urtheils liegt eine M e t o n y m i e , / / d . h. es ist eine f a l s c h e G l e i c h u n g . / / D . h. D i e s y n t h e t i s c h e n S c h l ü s s e s i n d u n l o g i s c h . Wenn wir sie anwenden, setzen wir die populäre Metaphysik voraus, d. h. die, welche Wirkungen als Ursachen betrachtet." In der Hinsicht, daß sämtliche Begriffe als Anthropomorphismen oder Übertragungen anzusehen sind, werden sie mithin von Nietzsche als Metaphern bezeichnet, während sie in der Hinsicht, daß sie das Ursache-Wirkungs-Verhältnis vertauschen, nämlich überhaupt ein solches annehmen, von ihm als Metonymien angesehen werden. Auch Lausberg bemerkt von seiner ganz anders gelagerten Sichtweite her, daß die Grenzen zwischen Metonymie und Metapher fließend sind (a. a . O . , §225. S. 77). 483 Vgl. dazu: Jochem Hennigfeld, Sprache als Weltansicht, Humboldt — Nietzsche — W h o r f , in: Zeitschrift f ü r philosophische Forschung 30 (1976), S. 435—451, hier: S. 437: „In der [ . . . ] Darlegung der Sprache als Weltansicht verbindet Humboldt Kants transzendentalen Ansatz mit dem neuzeitlichen Individualitätsbegriff, wie er durch Leibniz' Monadologie geprägt wurde." Dabei stoße er „ z u einer eigenen Art des transzendentalen Idealismus" vor. Martin Heidegger, Der W e g zur Sprache, in: ders., Unterwegs zur Sprache, a. a. O., S. 239—268, hier: S. 246—249, stellt vor allem die enge Beziehung zur Philosophie von Leibniz heraus, die sich am deutlichsten dadurch bekunde, „daß Humboldt das Wesen der Sprache als Energeia bestimmt, diese jedoch ganz ungriechisch im Sinne von Leibnizens Monadologie als Tätigkeit des Subjektes versteht." (249). Es gibt keine Anzeichen dafür, daß Nietzsche Humboldt jemals selber gelesen hätte. Das Verhältnis zwischen beiden wären daher, wie Anthonie Meijers ausführt, „auf dem Umweg über Gerbers Humboldt-rezeption [sie] näher zu erforschen." (Α. M., Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche, a. a. O., S. 44) Abgesehen davon, daß der Verfasser von „Die Sprache als Kunst" vielfach mit großer Zustimmung auf Humboldt hinweist, zeigt sich nämlich schon dem oberflächlichen Betrachter die enge Verwandtschaft zwischen beiden, „so bei Gerbers Auffassungen über das Wesen der lebendigen Sprache, bei seiner genetischen Betrachtungsweise und dem dabei angewandten Gesetz der Wechselwirkung von Sprache und Geist, bei dem engen Zusammenhang zwischen Sprache und Kunst, bei seiner Ansicht, der Satz sei die kleinste bedeutungsvolle Einheit in der Sprache, schliesslich bei der Bedeutung, die er Analogien und Bedeutungswandlungen beimisst." (Ebd., S. 11, Anm. 27) Hinweise genug, um eine eingehendere Untersuchung des Verhältnisses zwischen Nietzsche und Humboldt als wünschenswert erscheinen zu lassen. 484 Wilhelm von Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, in: ders., Band 3 der Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 5 1979, S. 1—25, hier: S. 20.
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Anmerkungen 485 bis 496 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 485
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Ernst Cassirer, Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, in: Festschrift für Paul Hensel, Erlangen 1923, S. 105—127, hier. S. 116. 486 Wie Anm. 484. Vgl. dazu auch, was Jochem Hennigfeld, op. cit., zu dieser Fragestellung zu bedenken gibt: „Wenn Sprache Weltbild ist, dann wird nicht nur das Verstehen der Menschen untereinander, sondern das Verstehen des Seienden überhaupt fraglich. Humboldt sieht darin kein schwerwiegendes Problem. Denn für ihn entsteht die Sprache als Abdruck der in der Vernunft von Dingen an sich erzeugten Bilder [ . . . ] , und das Bild ist nicht das Ding selbst, aber doch dessen Erscheinung. Die Dinge an sich bleiben bei allen individuellen Unterschieden unseres Verstehens das Einheit ermöglichende Substrat. Sprache vermittelt so zwar immer nur ein Weltbild, aber dieses Bild ist doch Abbild, d. h. der an sich seienden Welt ähnlich. Wodurch aber ist eine solche Auffassung begründet? Wenn ohne Sprache keine Erkenntnis möglich ist, kann dann das Bild von der Welt, das die Sprache uns gibt, nicht auch Trugbild statt Abbild sein?" (442) Diese Frage werfe erst Nietzsche auf, für den der Maßstab von An-Sich und Für-Uns insofern bestehen bleibe, „als er zwar das An-sich zu einer ,widersinnigen Konzeption' [ . . . ] erklärt, aber um den Preis des Wahrheitsverlustes." (450) — Siehe des weiteren: Jörn Albrecht, Friedrich Nietzsche und das „sprachliche Relativitätsprinzip", in: Nietzsche-Studien 8/1979, 225—244. 487 P H G 3, 3/2, 311. 488 Siehe: Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [210], 3/4, 72: „Zeit Raum und Kausalität sind nur Erkenntnißme t a p h e r n , mit denen wir die Dinge uns deuten." 489 III 19 [209], 3/4, 70—72, hier: S. 71. 49 ° Ebd. 491 Vgl. z.B. Frühjahr 1888, VIII 14 [98], 8/3, 66—68, hier: S. 66. Dem entspricht Schopenhauers Aufzeichnung in WaW I, 158: „In der Reflexion allein ist Wollen und Tun verschieden: in der Wirklichkeit sind sie eins. Jeder wahre, echte, unmittelbare Akt des Willens ist sofort und unmittelbar auch erscheinender Akt des Leibes". 492 Ende 1870—April 1871, III 7 [194], 3/3, 221. 493 September 1870—Januar 1871, III 5 [77], 3/3,114: „Der Instinkt der uns zur That nöthigt und die Vorstellung die uns als Motiv ins Bewußtsein tritt liegen auseinander. Die W i l l e n s f r e i h e i t ist die Welt dieser dazwischen geschobenen Vorstellungen, der Glaube daß Motiv und Handlung nothwendig einander bedingen." 494 Ende 1870—April 1871, III 7 [144], 3/3, 204 f., hier: S. 204; vgl. auch: III 7 [175], 3/3, 216 f., hier: S. 217. Zu diesem Trug rechnet Nietzsche auch Schopenhauers an Kant anknüpfende Lehre vom „intelligiblen Charakter": „Begriff der Persönlichkeit, ja der moralischen Freiheit nothwendige Illusionen" (III 29 [4], 3/4, 229 f., hier: S. 230). Er denkt den Charakter schon jetzt von einem genealogischen Standpunkt aus, indem er seine Bestimmtheit auf die Erbmasse einer langen Geschlechterkette zurückführt. „Es ist wahr, jeder Mensch ist schon ein intelligibles Wesen (durch zahllose Generationen bedingt?).", so im Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [113], 3/4, 43 f., hier: S. 43. 495 In größter Deutlichkeit spricht Nietzsche dies im „Antichrist" (5 14, 6/3, 178 f., hier: S. 178) in Hinblicknahme auf den Willen zur Machtaus: „Ehedem gab man dem Menschen als seine Mitgift aus einer höheren Ordnung den ,freien Willen': heute haben wir ihm selbst den Willen genommen, in dem Sinne, dass darunter kein Vermögen mehr verstanden werden darf. Das alte Wort,Wille' dient nur dazu, eine Resultante zu bezeichnen, eine Art individueller Reaktion, die nothwendig auf eine Menge theils widersprechender, theils zusammenstimmender Reize folgt: — der Wille ,wirkt' nicht mehr, ,bewegt' nicht m e h r . . . " Er ist auf dieser Stufe von Nietzsches Denken Wille zur Macht, d. h. eine „Kraft", die „in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht." (JGB 22, 6/2, 31) Ein „Konsequenzziehen" aber intendiert Nietzsche bereits auf der frühen Stufe, womit an diesem Beispiel deutlich wird, daß der spätere Begriff des Willens zur Macht bereits in jenem früheren des Willens zum Leben vorgezeichnet ist. 496 Vgl. JGB 213, 6/2, 151 — 153, hier: S. 152, wo Nietzsche die Künstler charakterisiert als diejenigen, „die nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie Nichts mehr ,willkürlich' und
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Anmerkungen 496 bis 513 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Alles nothwendig machen, ihr Gefühl von Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von schöpferischem Setzen, Verfügen, Gestalten auf seine H ö h e kommt, — kurz, dass N o t w e n d i g k e i t und ,Freiheit des Willens' dann bei ihnen Eins sind." G M II 17, 6 / 2 , 340 f., hier: S. 341. Die Deutung des Staates als Kunstwerk findet sich bereits in der „Geburt der T r a g ö d i e " ( 2 1 , 3 / 1 , 129) und zwar in der Weise, daß Nietzsche Apoll, den Gott der Kunst, auch als den ,,staatenbildende[n]" bezeichnet. Apoll ist der Gott der Kunst, weil er der Gott der Form, d. h. des Maßes, ist. D e r Staat aber ist geformtes Menschenmaterial: verbesserte Physis, d. h. Kultur. Siehe d a z u : C V 3, 3 / 2 , 264. Vgl. zu dieser Fragestellung auch die hervorragende Darstellung von Raymond Polin, Nietzsche und der Staat oder die Politik des Einsamen, in: Nietzsche, Werk und Wirkungen, hrsg. v. H a n s Steffen, Göttingen 1974, S. 27-44. G M I 13, 6 / 2 , 293. Ebd. Der Terminus Herbst 1887, VIII 9 [91], 8 / 2 , 47—51, hier: S. 48. G M I 13, 6 / 2 , 293. Vgl. Herbst 1887, VIII 9 [106], 8/2, 59f., hier: S. 60: „ H y p o t h e s e , d a ß es n u r S u b j e k t e g i e b t — daß ,Objekt' nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist . . . ein m o d u s d e s S u b j e k t s " . Herbst 1887, VIII 9 [91], 8 / 2 , 47—51, hier: S. 47. H a n s Martin Klinkenberg, D e r Kulturbegriff Nietzsches, in: Historische Forschungen und Probleme, Festschrift f ü r Peter Rassow, hrsg. v. Karl Erich Born, Wiesbaden 1961, S. 313—341, hier: S. 331. G M I 13, 6 / 2 , 293. Siehe: Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [209], 3 / 4 , 70—72, hier: S. 71: „Die einzige Kausalität, die uns bewußt ist, ist zwischen Wollen und T h u n — diese übertragen wir auf alle Dinge und deuten uns das Verhältniß von zwei immer beisammen befindlichen Veränderungen. Die Absicht oder das Wollen ergiebt die Nomina, das T h u n die Verba." E j n v o n Nietzsche sein ΜΑ I wiederholt aufgegriffenes Thema. Vgl. etwa dort Aph. 70 (4/2, 79) und Aph. 107 (4/2, 101 — 104). G M I 13, 6 / 2 , 293. G D , Die „ V e r n u n f t " in der Philosophie 5, 6 / 3 , 72. Brief an Constantin N a u m a n n , III/5, 163. Vgl. auch eine Aufzeichnung von Ende 1886—Frühjahr 1887, VIII 7 [4], 8/1, 267—278, hier: S. 267, in der ein Gedanke zum Ausdruck kommt, der sich bereits in P H G 4, 3 / 2 , 312 ff. findet: „Seit Plato ist die Philosophie unter der Herrschaft der Moral: auch bei seinen Vorgängern spielen moralische Interpretationen entscheidend hinein (bei Anaximander das Zu-Grunde-gehn aller Dinge als Strafe f ü r ihre Emancipation vom reinen Sein, bei Heraklit die Regelmäßigkeit der Erscheinungen als Zeugniß f ü r den sittlich-rechtlichen Charakter des gesammten Werdens)". Erich Heintel (Hg.), Johann Gottfried Herder, Sprachphilosophische Schriften, H a m b u r g 1975 (unveränderter N a c h d r u c k der zweiten, erweiterten Auflage), S. X X f. Gustav Gerber, der eine Wechselwirkung zwischen Sprache und menschlichem Geist dahingehend annimmt, daß sich beide gleichzeitig entwickeln — er zitiert in diesem Zusammenhang Humboldts Satz: „Die Sprache ist das bildende Organ des Gedankens" (G. G., Die Sprache als Kunst, a. a. O., S. 146) —, er ist hier präziser: Meint Nietzsche bei der Genese der Sprache von der vereinfachten Kette (Ding an sich) -* Nervenreiz -* Bild (oder Anschauungsmetapher)-* Laut (oder Wort)-* Begriff ausgehen zu können, so nimmt Gerber dagegen folgende viel komplexere Phasenfolge an: (Ding an sich)-* Nervenreiz-* Empfindung-* Laut-* Vorstellung-* Wurzel-* Wort-* Begriff. (Vgl. d a z u : Meijers, op. cit., S. 12 und S. 38). Erst durch den Zusammentritt von Empfindung und Laut ergibt sich zufolge dieses Modells eine geformte Vorstellung. So vermag es in der T a t Gerbers Einsicht wiederzugeben, daß „der Sprachschatz auch den Schatz des Erkennens [bildet]" (Gerber, op. cit., S. 276), weswegen, wie er ausdrücklich hervorhebt, „dass, was Kant als .Kritik der reinen V e r n u n f t ' zu untersuchen begann, fortzuführen ist als Kritik der
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unreinen Vernunft, der gegenständlich gewordenen, also als K r i t i k d e r S p r a c h e " (ebd., S. 262). Eine solche Kritik der Sprache hat Gerber dann in seinem nächsten W e r k „Die Sprache und das E r k e n n e n " (Berlin 1884) zu liefern versucht. MusA 5, 467—470. Ebd., S. 467. Siehe Anm. 435. So schon Schopenhauer in seiner „Kritik der Kantischen Philosophie" im Abschnitt „ D i e Form des kategorischen Urteils", W a W I (Anhang), 615—617, hier: S. 617. — Die eckige Klammer als Erläuterung bereits im Text. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [107], 3/4, 42. So auch noch in F W 354 (5/2, 272—275, hier: S. 274): „dieses bewusste Denken g e s c h i e h t i n W o r t e n , d a s h e is s t in M i t t h e i l u n g s z e i c h e n , womit sich die H e r k u n f t des Bewusstseins selber aufdeckt. Kurz gesagt, die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins ( n i c h t der Vernunft, sondern allein des Sich-bewusst-werdens der Vernunft) gehen H a n d in Hand." P H G 5, 3 / 2 , 317. KSA 14, 114. Vgl. etwa G T 21, 3 / 1 , 41: Der Weltgenius, der Wille, spricht „seinen Urschmerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch" aus. Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [20], 3 / 3 , 66: „Symbol die Übertragung eines Dinges in eine ganz verschiedene Sphaere." D a ß f ü r das Verständnis dieses Satzes der gesunde Menschenverstand nicht hinreichend ist, zeigt Martin Heidegger (Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 501 f.): „Die Wahrheit sei eine Illusion, sagt H e r r Nietzsche. Dann ist doch, wenn Nietzsche .konsequent' sein will — und es geht nichts über die ,Konsequenz' —, dann ist doch auch der Satz Nietzsches über die Wahrheit eine Illusion, und dann brauchen wir uns nicht länger mit ihm a b z u g e b e n . / / D e r leere Scharfsinn, der sich mit dieser Art von Widerlegung aufspielt, erweckt den Anschein, als sei nun alles erledigt. Er vergißt allerdings bei seiner Widerlegung von Nietzsches Satz über die Wahrheit als Illusion das Eine, daß, wenn Nietzsches Satz wahr ist, nicht allein Nietzsches eigener Satz als ein wahrer zur Illusion wird, sondern daß dann ebenso notwendig auch der hier als Widerlegung Nietzsches vorgebrachte wahre Folgesatz eine .Illusion' sein muß. D e r Verfechter des Scharfsinns wird nun aber, inzwischen noch klüger geworden, entgegnen, daß dann auch unsere Kennzeichnung seiner Widerlegung als einer Illusion ihrerseits Illusion bleibe. Allerdings — und dieses wechselweise Widerlegen könnte ins Endlose fortgesetzt werden, um stets nur das zu bestätigen, wovon es nämlich beim ersten Schritt schon Gebrauch macht: daß die Wahrheit eine Illusion sei. Dieser Satz wird durch die Widerlegungskunststücke des bloßen Scharfsinns nicht nur nicht erschüttert, er wird dadurch nicht einmal berührt." U n d weiter (S. 503): „ D e r gesunde Menschenverstand in Ehren, aber es gibt Bereiche, und es sind die wesentlichsten, zu denen er nicht hinreicht. Es gibt solches, was eine strengere Denkungsart fordert. Wenn die Wahrheit in allem Denken herrschen soll, kann ihr Wesen vermutlich nicht durch das gewöhnliche Denken und dessen Spielregeln begriffen werden." Diese Behauptung sucht Heidegger durch den Nachweis zu stützen, „ d a ß Nietzsches Bestimmung des Wesens der Wahrheit keine überspannte und grundlose Behauptung eines Menschen ist, der um jeden Preis auf seine Originalität erpicht bleibt, sondern daß die Wesensbestimmung der Wahrheit als ,Illusion' wesentlich mit der metaphysischen Auslegung des Seienden zusammenhängt und deshalb so alt und anfänglich ist wie die Metaphysik selbst." (504) Und er führt diesen Satz zurück auf das Heraklit-Fragment 28 (Diels/Kranz): δ ο κ έ ο ν τ α γ α ρ ό δ ο κ ι μ ώ τ α τ ο ς γ ι ν ώ σ κ ε ι , φ υ λ ά σ σ ε ι , das er übersetzt mit: „ ,Ansichten haben ist nämlich/auch n u r / d e s Angesehensten Erkennen, das Uberwachen/Festhalten einer Ansicht.'" (504) Danach heiße f ü r Heraklit „Erkennen: das Festnehmen dessen, was sich zeigt, das Bewachen des Anblicks als der ,Ansicht' die etwas bietet, des ,Bildes' im [ . . . ] Sinne der φ α ν τ α σ ί α . Im Erkennen wird das Wahre festgehalten; das Sichzeigende, das Bild, wird in den Besitz aufund eingenommen; das W a h r e ist das ein-gebildete Bild. Wahrheit ist Ein-bildung; das
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Anmerkungen 523 bis 527 zum Abschnitt „Voraussetzungen" W a h r e aber jetzt griechisch gedacht, nicht psychologisch', nicht erkenntnistheoretischneuzeitlich." (506) O b diese R ü c k f ü h r u n g des Nietzscheschen Satzes „Wahrheiten sind Illusionen" auf mehr als einem „Wortspiel" beruht, das müssen wir hier offenlassen. Uns interessiert hier ein anderer Gedanke Heideggers mehr, weil er in die N ä h e dessen gerät, was wir zu diesem Satz ausgeführt haben. Heidegger bemerkt: „Übereinstimmung der Erkenntnis mit den Sachen und dem Wirklichen. Dieser Begriff der Wahrheit ist die Voraussetzung und das Leitmaß f ü r die Auslegung der Wahrheit als Schein und Irrtum. Wird dann nicht Nietzsches eigene Auslegung der Wahrheit als Schein zu einem Schein? Sie wird noch nicht einmal zu einem Schein: Nietzsches Auslegung der .Wahrheit' als Irrtum unter Berufung auf das Wesen der Wahrheit als Ubereinstimmung mit dem Wirklichen wird zur Verkehrung des eigenen Denkens und dadurch zu dessen Auflösung." (Nietzsche, Bd. 2, a. a. O., S. 185) D a ß diese Auflösung von Nietzsche intendiert sein kann und zwar in Hinblick auf seinen Grundgedanken des Werdens, das vermag Heidegger — aus Gründen, die wir bereits in Anm. 190 aufgezeigt haben — nicht zu sehen. Viel zu kurz greift hingegen Eugen Fink mit seiner nachfolgenden Bemerkung, deren Grund-Satz, daß Nietzsches Intuition des Werdens wahr zu sein beanspruche, ebenfalls bereits in Anm. 190 als irrig ausgewiesen worden ist: „ O f t wird Nietzsche der Vorwurf gemacht, er bewege sich in einem fehlerhaften Zirkel, wenn er einerseits die Erkenntnis auf den Fälschungstrieb gründe und andererseits selbst eine neue Philosophie, also doch wohl eine neue Erkenntnis proklamiere, [ . . . ] . Dieser Einwand geht fehl, weil die Erkenntnis vom Werden, die zur kritischen Verwerfung aller das Werden verfälschenden kategorialen Erkenntnis führt, nicht selbst wieder unter den kritisierten Erkenntnisbegriff fällt." (Nietzsches Philosophie, a . a . O . , S. 165) P H G 5, 3 / 2 , 317. Keine Übersetzung eines Fragments von Heraklit, sondern von Fragment Nr. 6 (Diels/Kranz) des Parmenides, in dem dieser über „nichts wissende Sterbliche" sagt, daß bei ihnen „das Sein und Nichtsein f ü r dasselbe gilt". P H G 10, 3 / 2 , 336. Als Antinomie (von griech. ά ν τ ί ν ο μ ί α „Widerspruch des Gesetzes mit sich selbst") bezeichnet man eigentlich den Widerstreit zwischen mehreren Sätzen, deren jedem f ü r sich Gültigkeit zukommt. Doch macht Nietzsche, wie wir aus obiger Passage ersehen können, keinen Unterschied zum Paradoxon (von griech. π α ρ ά δ ο ξ ο ν „Unerwartetes", aus π α ρ ά „ g e g e n " und δόξα „Meinung"), einem Satz, der in sich Gegensätzliches oder Widersprüchliches vereint, Vereinigung des scheinbar Unvereinbaren ist. — Die Berechtigung unserer Überlegungen hinsichtlich der Rolle der Paradoxien kann ein höchst bedeutsames Beispiel belegen, das indes nicht unserem Untersuchungszeitraum angehört. Wir sagten, daß Nietzsche keine Wahrheit (an sich) anzunehmen vermag, weil diese ein Sein voraussetzen würde, das es „in W a h r h e i t " nicht gibt, weil alles wird und nichts ist. Das Sein erwächst nämlich, wie Nietzsche später sagt, aus einer Fälschung des „ i m " menschlichen Intellekt wirkenden Willens zur Macht, der sich nur so als Überwindungsvollzug ermöglichen kann. Diesen Gedanken faßt Nietzsche in einer berühmten, vielfach (u. a. von Heidegger und Fink, von diesen aber, wie wir zeigen werden, ganz anders als von uns) interpretierten Notiz von Ende 1886—Frühjahr 1887 (VIII 7 [54], 8/1, 320 f., hier: S. 320) wie folgt: „ D e m Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n — das ist der höchste W i l l e z u r Macht.//Zwiefache F ä l s c h u n g , von den Sinnen und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwerthigen usw." Was aber hat es danach mit der Fest-stellung eines reinen Werdens auf sich? Ist sie nicht formal gesehen ein Widerspruch, weil sie, wie wir jetzt in anderer Perspektive gesehen haben, zwangsläufig das Werden als ein Sein setzt? Verfehlt sie es damit nicht notwendigerweise? In unmittelbaren Fortgang der N o t i z spricht Nietzsche das Problem an: „ D a ß A l l e s w i e d e r k e h r t , ist die extremste A n n ä h e r u n g e i n e r W e l t d e s W e r d e n s an die d e s S e i n s : G i p f e l d e r B e t r a c h t u n g . " In der Konzeption der ewigen Wiederkunft, die wir — ohne daß dies hier ausgeführt werden könnte — als Mythus verstehen, glaubt Nietzsche die beste
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„Übersetzung" des immerwährenden Werdens, f ü r das kein Anfang und kein Ende denkbar ist, in die Sprache des Seins (insofern ein Pleonasmus, als das Sein das Ge-setz der Sprache ist) gefunden zu haben, ohne daß sie, wie dies Fink (Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 168) und Heidegger (Nietzsche, a. a. O., Bd. 1, S. 656 f., und Bd. 2, S. 288 ff.; W e r ist Nietzsches Zarathustra?, a . a . O . , S. 112f.) vermeinen, „ W a h r h e i t " zu sein beansprucht — was diese Konzeption schon deshalb nicht tun kann, weil sie sich dem Werden anzumessen sucht. Das Werden aber ist uns, wie wir bereits auf S. 36 f. ausgeführt haben, nur im Gegenhalt zum Sein denkbar: „ W i r würden nicht von Zeit reden und nichts von Bewegung wissen, wenn wir nicht, in grober Weise, ,Ruhendes' neben Bewegtem zu sehen glaubten. [ . . . ] Eine werdende Welt könnte im strengen Sinne nicht .begriffen', nicht ,erkannt' werden", zeichnet Nietzsche in ebendiesem Sinne im Juni—Juli 1885 auf (VII 36 [23], 7 / 3 , 285). Der Gedanke der ewigen Wiederkunft sucht diesen Zug zum Sein in der Weise in sich aufzuheben, daß er ihn — was wir später noch genauer aufzeigen werden, s. S. 445 ff. — bestreitet. In diesem Bemühen f ü h r t er auch Nietzsches paradoxales Denken zum Gipfel. „Alle seine Begriffe, mit denen er in der Wiederkunftslehre operiert, heben sich auf: eine ewige Wiederkunft, bei der es kein Original gibt, das dann repetiert würde, ist ein ebenso paradoxer Begriff, wie die Wiederholung des Einmaligen mit dem Charakter der Einmaligkeit." (Die Wiederholung soll die Einmaligkeit verewigen.) Des weiteren wird die Vergangenheit Z u k u n f t und die Z u k u n f t Vergangenheit, die Freiheit Notwendigkeit und die Notwendigkeit Freiheit — in gewohnter Präzision arbeitet Eugen Fink (op. cit., S. 103) diese paradoxalen Strukturen in der Lehre von der ewigen Wiederkunft heraus, ohne daß er sich die Frage nach ihrem W a r u m stellte. Unsere Antwort auf diese Frage lautet: Die durch den Logos, d. h. die sprachlich verfaßte Vernunft, hervorgerufene Paradoxie einer Fest-stellung des reinen Werdens sucht diese Konzeption dadurch aufzuheben, daß sie sich ent-spricht, in ihrem Sprechen dem Gesetz der Logik, dem Ge-setz der Sprache widerspricht und derweise in der Widersprechungsbewegung das von ihr Gemeinte als ein jenes Ge-setz Transzendierendes aufscheinen läßt. 528 529 530
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III 7 [58], 3/3, 159 f., hier: S. 159. Janz 1, 199. Vgl. dagegen die auf S. 96 abgedruckte Aufzeichnung Nietzsches vom September 1870—Januar 1871, in der er gerade diesen Gedanken zu denken versucht. P H G 12, 3 / 2 , 343. Bezüglich der Bewertung der Antinomien bzw. der Paradoxien durch Kant und Nietzsche ergibt sich eine Paradoxie: Wir haben schon darauf hingewiesen, daß Kant durch das, was er die „Antinomien der reinen V e r n u n f t " nannte, die Möglichkeit einer Ubereinstimmung von menschlichem Weltbild und „wirklicher" Welt widerlegt zu haben glaubte. Kant geht nämlich davon aus, daß alles, was f ü r uns erkennbar sein soll, sich den formallogischen Gesetzen unterworfen zu zeigen hat. Zu diesen rechnet vor allem der Satz des Widerspruches, demzufolge von zwei kontradiktorischen Behauptungen nicht beide zugleich richtig sein können. Ist es mithin möglich, in logisch unanfechtbarer Weise über einen vermeintlichen Gegenstand sowohl das positive als auch das negative Urteil eines sonst gleichen Inhalts zu beweisen, so ergibt sich daraus, wie Kant schließt, daß der beurteilte Gegenstand kein wirklicher Gegenstand sein kann. N u n deckt er aber auf, daß unsere gesamte „Welt"auffassung durch eine solche Antinomie bestimmt ist. Unsere Verstandeserkenntnis besitzt nämlich das Bedürfnis, die Gesamtheit der Dinge als ein Fertiges und Abgeschlossenes zu betrachten. Doch jede bestimmte Vorstellung, mit der wir dieses versuchen, zerschellt daran, daß die sinnliche Anschauungsweise über jede Grenze im Räume, in der Zeit, in der Kausalreihe des Geschehens hinausgehen muß. Notwendigerweise stehen sich darum immer wieder gegenüber die Gegensätze von räumlicher Begrenztheit und Unendlichkeit Zeitlichkeit und Ewigkeit, Atomismus und Monismus, Freiheitslehre und Mechanismus, Schöpfungstheorie und Naturalismus. Wenn aber Thesis und Antithesis gleich wahr sind — die „ W e l t " unendlich und endlich zugleich gedacht werden muß —, so sind sie auch gleich falsch: Für Kant heißt das, daß beide von der falschen Voraussetzung ausgehen, daß die regulative Vernunftidee eines totalen
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Anmerkungen 532 bis 541 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Zusammenhangs der Dinge — Nietzsches „Alles ist Eins" —, daß mithin die Idee „ W e l t " Gegenstand möglicher Erkenntnis sein kann. Gleichwohl ist sie notwendig f ü r die menschliche Erkenntnisfähigkeit, so daß auch diese Widersprüche ,nothwendige Widersprüche im Denken' sind, ,um leben zu können' — wenngleich in anderer Weise als bei Nietzsche. Bei diesem hat nämlich im Falle der Bewertung der Paradoxien gegenüber Kant eine Verschiebung statt, die jener entspricht, die wir bei ihm in der Auslegung des Verhältnisses von „Ding an sich" und „Erscheinung" bemerken konnten. W e n n sich Kant des Begriffes „Ding an sich" als eines bloßen Grenzbegriffes bedient, um die Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis herauszuarbeiten, Nietzsche hingegen diesen Grenzbegriff in das Zentrum seiner Kant-Rezeption rückt und im Hinblick auf ihn von Kant die Unmöglichkeit menschlicher Erkenntnis erwiesen sieht, dann entspricht dem, daß Nietzsche nicht, wie Kant, in den formallogischen Gesetzen eine dieser Erkenntnisbedingungen erblickt — so daß alles, was f ü r uns erkennbar sein soll, ihnen unterworfen sein müßte —, sondern umgekehrt eine der Bedingungen, die eine Erkenntnis des „ H e r z e n s der Dinge" verhindern, weswegen er in allem, was diese Bedingungen transzendiert, einen Schritt in Richtung auf dieses H e r z sieht: eben in den Antinomien und Paradoxien. Johann Wolfgang Goethe, Einleitung in die Propyläen, H A 12, 38—55, hier: S. 45. Johann Wolfgang Goethe, Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz „ D i e N a t u r " , H A 13, 48 f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik I, Werke 12, S. 171 f. Vgl. dazu eine Aufzeichnung vom Juni—Juli 1885, VII 36 [23], 7 / 3 , 285: „Die fortwährenden Ubergänge erlauben nicht, von .Individuum' usw. zu reden; die ,Zahl' der Wesen ist selber im Fluß. [ . . . ] Der Satz von der Identität hat als Hintergrund den .Augenschein', daß es gleiche Dinge giebt." Siehe dazu auch im folgenden unsere Interpretation von „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne". Siehe oben Seite 18 f. Siehe oben Seite 30 f. Ich modifiziere hier meine eigenen Ausführungen in dem Aufsatz „ ,Das Buch eines Musikers ist eben nicht das Buch eines Augenmenschen' — Metaphysik und Sprache beim frühen Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 15/1986, S. 72—106, hier: S. 103 f. Gemeint ist Heraklits Begriff des π ό λ ε μ ο ς , auf den wir anläßlich der Interpretation der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " eingehen werden. Schon hier sei aber darauf hingewiesen, daß Nietzsches Verwandtschaftsempfinden zu Heraklit auch diesen Begriff mit einschließt. In „Ecce h o m o " heißt es im Kapitel über die „Geburt der T r a g ö d i e " im Abschnitt 3 (6/3, 311): „Die Bejahung des Vergehens u n d V e r n i c h t e n s , das Entscheidende in einer dionysischen Philosophie, das Jasagen zu Gegensatz und Krieg, das W e r d e n , mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs ,Sein' — darin muss ich unter allen Umständen das mir Verwandteste anerkennen, was bisher gedacht worden ist." Und an anderer Stelle desselben Werkes, im Kapitel „ W a r u m ich so weise bin", Abschnitt 7 (6/3, 272), f ü h r t Nietzsche über sein polemisches Wesen aus: „Ein ander Ding ist der Krieg. Ich bin meiner Art nach kriegerisch. Angreifen gehört zu meinen Instinkten. Feind sein k ö n n e n , Feind sein — das setzt vielleicht eine starke N a t u r voraus, jedenfalls ist es bedingt in jeder starken Natur. Sie braucht Widerstände, folglich s u c h t sie Widerstand: das a g g r e s s i v e Pathos gehört ebenso nothwendig zur Stärke als das Räch- und Nachgefühl zur Schwäche." „Angreifen gehört zu meinen Instinkten" — ein rein psychologisches Verständnis dieser Aussage wäre unzureichend, ist doch der „Instinkt", den Nietzsche meint, der Wille zu Macht in seiner höchsten Ausprägung. Wenn wir oben sagten, daß die Deutung der Welt die Weise vorgibt, in der sie gedacht wird, so kann man nunmehr auch umgekehrt sagen, daß die Weise zu denken die Deutung der Welt zumindest mitbestimmt. Vgl. dazu, was Nietzsche im Juni—Juli 1885 aufzeichnet (VII 36 [21], 7 / 3 , 284): „ D a s Schwächere drängt sich zum Stärkeren, aus Nahrungsnoth; es will unterschlüpfen, mit ihm womöglich E i n s werden. Der Stärkere wehrt umgekehrt ab von sich, er will nicht in dieser Weise zu Grunde gehen; vielmehr, im Wachsen, spaltet er sich zu Zweien und
Anmerkungen 541 bis 548 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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Mehreren. Je größer der D r a n g ist zur Einheit, um so mehr darf man auf Schwäche schließen; je mehr der Drang nach Varietät, Differenz, innerlichem Zerfall, um so mehr K r a f t ist da." Siehe auch das nachfolgende Notat aus dem Zeitraum August—September 1885 (VII 40 [57], 7 / 3 , 388): „ N B ! Ist aber etwas Ruhendes wirklich glücklicher als alles Bewegte? Ist das Unveränderliche wirklich und nothwendig werthvoller als ein Ding, das wechselt? Und wenn sich Einer tausend Male widerspricht und viele Wege geht und viele Masken trägt und in sich selber kein Ende und (keine) letzte Horizontlinie findet: ist es wahrscheinlich, daß ein Solcher weniger von der ,Wahrheit' erfährt als ein tugendhafter Stoiker, welcher sich ein f ü r alle Mal wie eine Säule und mit der harten H a u t einer Säule an seine Stelle gestellt hat? Aber dergleichen Vorurtheile sitzen an der Schwelle zu allen bisherigen Philosophien: und sonderlich das, daß Gewißheit besser sei als Ungewißheit und offene Meere, und daß der Schein es sei, den ein Philosoph als seinen eigentlichen Feind zu bekämpfen habe." 542 Ebenfalls eine Modifikation entsprechender Gedankengänge des in Anm. 539 zitierten Aufsatzes. 543 Vgl. etwa Peter Pütz, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1967, S. 22. 544 So heißt es etwa in G M III 12, 6 / 2 , 383: „Es giebt n u r ein perspektivisches Sehen, n u r ein perspektivisches ,Erkennen'; und j e m e h r Affekte wir über eine Sache zu W o r t e kommen lassen, je m e h r Augen, verschiedne Augen wir uns f ü r dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser .Begriff' dieser Sache, unsre ,Objektivität' sein." 545 Vgl. etwa den Aphorismus 301 der „Fröhlichen Wissenschaft" (5/2, 219 f., hier: S. 220), in dem Nietzsche über den „ W a h n der Contemplativen" schreibt: Der höhere Mensch „nennt seine Natur eine c o n t e m p l a t i v e und übersieht dabei, dass er selber auch der eigentliche Dichter und Fortdichter des Lebens ist —, dass er sich freilich vom S c h a u s p i e l e r dieses Drama's, dem sogenannten handelnden Menschen, sehr unterscheidet, aber noch mehr von einem blossen Betrachter und Festgaste v o r der Bühne. [ . . . ] Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort Etwas m a c h e n , d a s noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. Diese von uns erfundene Dichtung wird fortwährend von den sogenannten practischen Menschen (unsern Schauspielern wie gesagt) eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt. W a s nur W e r t h hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, — die N a t u r ist immer werthlos: — sondern dem hat man einen Werth einmal gegeben, geschenkt, und w i r waren diese Gebenden und Schenkenden!" Siehe zu der darin angesprochenen erkenntnistheoretischen Frage, auf die wir im folgenden noch genauer eingehen werden, bereits S. 8 f. 546 Dies ist die Grenze jenes berühmten Leibnizschen Gleichnisses, das die Monaden als Spiegel begreift, die um einen Marktplatz herum aufgestellt sind: O b z w a r eine jede ein anderes Bild zeige, könnten sie sich doch darum untereinander niemals widersprechen, weil sie ein und dasselbe Objekt — eben nur in verschiedener Perspektive — widerspiegeln (Monad. § 57; Disc. § 9). Das Gleichnis ist aber nur dann recht verstanden, wenn im Sinne unserer Ausführungen über Leibniz (S. 80—81) gesehen wird, daß ihre Einheit nicht in der Objektivität eines schon vorliegenden Objekts gründet, sondern vielmehr umgekehrt die objektive Einheit der Welt in der Übereinstimmung jener Perspektiven. 547 Vgl etwa in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung „ V o m Nutzen und Nachteil der Historie f ü r das Leben" das Nebeneinander von antiquarischer und kritischer Historie, die beide f ü r einen gesunden Vollzug des Lebens vonnöten sind. Erstere „versteht [ . . . ] allein Leben zu b e w a h r e n " (HL 3, 3 / 1 , 264), während die letztere „im Dienste des Lebens" „von Zeit zu Zeit" die Kraft aufbringt, „eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen" ( H L 3, 3 / 1 , 265). 5 « Vgl. etwa Herbst 1887, VIII 9 [91], 8/2, 47—51, hier: S. 49: „Wahrheit ist somit nicht etwas, was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, — sondern etwas, d a s z u s c h a f f e n i s t und das den Namen f ü r einen P r o z e ß abgiebt, mehr noch f ü r einen
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Anmerkungen 548 bis 558 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat [ . . . ] Es ist ein W o r t f ü r den .Willen zur M a c h t ' " . 549 Siehe November 1887—März 1888, VIII 11 [3], 8/2, 251 f.: „ M a n ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler ,Form' nennen, als I n h a l t , als ,die Sache selbst' empfindet. Damit gehört man freilich in eine v e r k e h r t e W e l t : denn nunmehr wird einem der Inhalt zu etwas bloß Formalem, — unser Leben eingerechnet." 550 Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [155], 8/1, 140. Siehe auch Herbst 1873—Winter 1873/74, III 30 [27], 3/4, 352: „So ein Unsinn, dass eine Descendenzlehre gar religionsmässig gelehrt werden kann! Die Freude liegt darin, dass nichts Festes da ist, nichts Ewiges und Unverbrüchliches." 551 G T 15, 3/1, 95. Siehe: Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Karl Lachmann und Franz Muncker, Bd. 13, S. 24. 552 Μ 575, 5 / 1 , 335. 553 Wir haben schon erwähnt, daß Nietzsche in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung „ V o m Nutzen und Nachtheil der Historie f ü r das Leben" das Leben charakterisiert als „jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht." ( H L 3, 3 / 1 , 265) Und wenn das Leben Wille ist, dann heißt das, daß dieser Wille Wille zum Willen ist. 554 Μ . H . , Nietzsche, Bd. 1, a . a . O . , S. 565: „ D a s Leben lebt, indem es leibt." Zu diesem „Leiben" gibt er zu bedenken: „Es ist mehr und anderes als nur ,einen Leib mit sich herumtragen', es ist jenes, in dem all das erst seinen eigenen Vorgangscharakter bekommt, was wir an Abläufen und Erscheinungen am Leib eines Lebendigen feststellen." (Ebd.) „ D a s Leiben des Lebens ist nichts Abgesondertes f ü r sich, verkapselt in den ,Körper', als welcher uns der Leib erscheinen kann, sondern der Leib ist Durchlaß und Durchgang zugleich. Durch diesen Leib strömt ein Strom von Leben, wovon wir je nur ein Geringes und Flüchtiges und dieses wieder je nur gemäß der Empfängnisart des jeweiligen Leibzustandes spüren. Unser Leib selbst ist in diesen Strom des Lebens zu einer Schwebe in ihm eingelassen und durch diesen Strom fortgetragen und hingerissen oder auch an den Rand gedrängt. Jenes Chaos unseres Empfindungsbezirkes, den wir als Leibbezirk kennen, ist nur ein Ausschnitt aus dem großen Chaos, das die ,Welt' selbst ist." (565 f.) 555
Deutlich zeigt sich das vor allem darin, daß Nietzsche als das Wesen des „ U r - E i n e n " den Schmerz ansieht; wie er in der „Geburt der T r a g ö d i e " (4, 3 / 1 , 34 f.) ausführt, fühlt er sich „zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht: welchen Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm bestehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d. h. als ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als empirische Realität zu empfinden genöthigt sind." In diesem Ansatz unterscheidet er sich von Schopenhauer, in dessen System der Schmerz in der Welt die Folge davon ist, daß der eine Wille in jeder einzelnen Erscheinung der uns gegebenen Welt nach möglichst adäquater Darstellung strebt, woraus notwendigerweise ein Konflikt der Erscheinungen untereinander hervorgeht. Mit seiner Modifikation konkretisiert Nietzsche den bei Schopenhauer unbestimmt bleibenden Mangel des Willens, den Schopenhauer anzunehmen genötigt ist, weil er erkennt: „alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, solange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens." ( W a W I, 425).
556 Sommer—Herbst 1884, VII 27 [27], 7 / 2 , 282. 557 Ende 1876—Sommer 1877, IV 23 [27], 4 / 2 , 509. 558
Vgl. auch ebd., Β 157: „Dagegen bin ich mir meiner selbst in der transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption, bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch w i e ich an mir selbst bin, sondern nur d a ß ich bin. Diese V o r s t e l l u n g ist ein D e n k e n , nicht ein A n s c h a u e n . " Laut Wolfgang Rod, Gewißheit und Wahrheit bei Descartes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 16, S. 342—362, hier: S. 357, habe auch Descartes nicht anderes angestrebt, als die „Erfassung eines reinen Daß". Zumindest Kant
Anmerkungen 558 bis 574 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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und Nietzsche verstehen Descartes jedoch anders. Vgl. dazu: Karl-Heinz Dickopp, Nietzsches Kritik des Ich-denke, a. a. O. Vgl W L 1, 3/2, 373, wo es heißt: „Das ,Ding an sich' (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein)". Viele Jahre später, im August—September 1885, setzt er sich mit Descartes' Ansatz auseinander: „in Betreff der unmittelbaren Gewißheit' sind wir nicht mehr so leicht zu befriedigen: wir finden ,Realität' und .Schein' noch nicht im Gegensatz, wir würden vielmehr von G r a d e n des Seins — und vielleicht noch lieber von Graden des Scheins — reden und jene ,unmittelbare Gewißheit' ζ. B. darüber, daß wir denken und daß folglich Denken Realität hat, immer noch mit dem Zweifel durchsäuern, welchen Grad dieses Sein hat" (VII 40 [20], 7/3, 369 f., hier: S. 369). Siehe auch: Dickopp. op. cit. Die in der vorhergehenden Anmerkung zitierte Aufzeichnung vom August—September 1885 schließt mit der Bemerkung: „In summa: es ist zu bezweifeln, daß ,das Subjekt' sich selber beweisen kann — dazu müßte es eben außerhalb einen festen Punkt haben und d e r fehlt!" (hier: 7/3, 370.) Siehe: FW 354, 5/2, 272—275, hier: S. 275: „Es ist, [ . . . ] , nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich den Erkenntnisstheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik) hängen geblieben sind." Vgl. auch die in Anm. 465 zitierte Aufzeichnung vom Herbst 1887. Nicht umsonst lautet Nietzsches späte Formel für seine Philosophie: „Dionysos gegen den .Gekreuzigten'" (Frühjahr 1888, VIII 14 [89], 8/3, 57—59, hier: S. 58, sowie: EH, Warum ich ein Schicksal bin 9, 6/3, 372), in der „Dionysos" verstanden werden soll als „jenes geheimnißreiche Symbol der höchsten bisher auf Erden erreichten Welt-Bejahung und Daseins-Verklärung" (August—September 1885, VII 41 [7], 7 / 3 , 415 f., hier: S. 415). Yg[ J a z u auch Anm. 466. 1/2, 228 f., hier: S. 229. SE 3, 3/1, 346. PHG (1. und 2. Vorwort), 3/2, 295 bzw. 297. Ebd., S. 295. Yg] auch Sommer bis Ende September 1875, IV 12 [7], 4/1, 323 f.: „Erst glauben wir einem Philosophen. Dann sagen wir: ,mag er in der Art, wie er seine Sätze beweist, Unrecht haben, die Sätze sind wahr'. Endlich aber: es ist gleichgültig, wie die Sätze lauten, die N a t u r des Mannes steht uns für hundert Systeme ein. Als Lehrender mag er hundertmal Unrecht haben: aber sein Wesen selber ist im Recht; daran wollen wir uns halten. Es ist an einem Philosophen etwas, was nie an einer Philosophie sein kann: nämlich die Ursache zu vielen Philosophien, der große Mensch." Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [62], 3 / 4 , 27. Ihn kommt damit dasselbe an, was den Lieblingsdichter seiner Jugendjahre, den damals wenig geschätzten Friedrich Hölderlin, einst „beim Lesen des Laertius Diogenes über Leben und Lehren griechischer Philosophen" nachdenklich stimmte und wovon dieser in einem Brief an Sinclair vom 24. 12. 1798 berichtete, den Nietzsche in seiner 2. Unzeitgemässen Betrachtung zitiert (HL 7, 3/1, 296): „ ,ich habe auch hier wieder erfahren, was mir schon manchmal begegnet ist, dass mir nämlich das Vorübergehende und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und Systeme fast tragischer aufgefallen ist, als die Schicksale, die man gewöhnlich allein die wirklichen nennt.'" CV 1, 3/2, 251. Wie wir in Anm. 819 aufzeigen werden, sucht Nietzsche die Lösung des Problems, daß das Werden sich nur im illusionären Glauben an ein Sein vollziehen kann, schließlich in der mythischen Lehre von der ewigen Wiederkunft, die das Werden freisetzt, indem sie dieses in ihrem Charakter einer ewigen Wiederkunh als ein Sein setzt, so daß sie das Leiden am Vergehen der großen Augenblicke und ihrer Schöpfungen aufhebt, indem sie das Leiden an der Unvergänglichkeit der kleinen und niedrigen Momente heraufbeschwört. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [36], 3/4, 16 f., hier: S. 16. Ebd. III 19 [35], 3/4, 15 f., hier: S. 16.
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Anmerkungen 575 bis 587 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Wie Anm. 572. September 1870—Januar 1871, III 5 [25], 3 / 3 , 102. Ebd. Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [11], 3 / 3 , 62. Siehe Seite 113 sowie Anm. 494. — Gleichzeitig finden sich auch schon — f ü r spätere Phasen seines Philosophierens bestimmend gewordene — an die positivistischen Tendenzen seiner Zeit anknüpfende Versuche Nietzsches, die schöpferische Freiheit des Menschen in einer physiologischen Bestimmtheit aufzuheben. So notiert er sich im Sommer 1872—Anfang 1873 über die beim Bilderdenken tätige K r a f t (III 19 [79], 3 / 4 , 33 f.): „Es ist zwiefach eine künstlerische Kraft da, die bildererzeugende und die auswählend e . / / [ . . . ] / / Sieht man jene Kraft näher an, so ist hier auch kein künstlerisch ganz freies Erfinden: das wäre etwas Willkürliches, also Unmögliches. Sondern die feinsten Ausstrahlungen von Nerventhätigkeit auf einer Fläche gesehn: sie verhalten sich wie die Chladni'schen Klangfiguren zu dem Klang selbst: so diese Bilder zu der darunter sich bewegenden Nerventhätigkeit. Das allerzarteste sich Schwingen und Zittern! D e r künstlerische Prozeß ist physiologisch absolut bestimmt und nothwendig. Alles Denken erscheint uns auf der Oberfläche als willkürlich, als in unserem Belieben: wir bemerken die unendliche Thätigkeit nicht."
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Im November 1887—März 1888 stößt Nietzsche selber auf dieses Problem, wenn er nämlich fragt, „ob nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegentheils f ü r uns unlösbar ist." (VIII 11 [97], 8/2, 287 f., hier: S. 228). 581 C V 1, 3 / 2 , 254. 5S2 Ebd. 583 584 585 586 587
III 5 [25], 3 / 3 , 102. III 5 [26], 3/3, 102 f., hier: S. 102. Wie Anm. 572. Sommer—Herbst 1873, III 29 [205], 3 / 4 , 320 f., hier: S. 320. Ebd. Siehe auch SE 3, 3 / 1 , 353: , , j e d e [ . . . ] g r o ß e [ . . . ] Philosophie [sagt] als Ganzes immer nur [ . . . ] : dies ist das Bild alles Lebens, und daraus lerne den Sinn deines Lebens." Aufgabe des Philosophen ist es mithin, Erzieher der anderen zu sein. Darauf deutet auch der Titel der 3. Unzeitgemässen Betrachtung: „Schopenhauer als Erzieher", in welcher Rolle sein philosophischer Lehrmeister f ü r ihn noch Bedeutung haben konnte, als er dessen Lehre schon längst f ü r irrig hielt. „ E r z i e h e r e r z i e h n ! A b e r d i e e r s t e n m ü s s e n s i c h s e l b s t e r z i e h n ! U n d f ü r diese schreibe ich.", zeichnet Nietzsche im Frühling—Sommer 1875 auf (IV 5 [25], 4 / 1 , 122 f., hier: S. 122). Doch nicht nur „theoretisch" machte sich Nietzsche Gedanken über das Erziehungswesen — als bedeutendste Frucht der Frühzeit sind dabei die fünf Vorträge „Ueber die Z u k u n f t unserer Bildungsanstalten" anzusehen —, vielmehr war er auch im „praktischen" Bereich, mehr noch im Pädagogium als in der Universität, ein anerkannter Erzieher. Wiederholt denkt er auch an den Aufbau einer klosterähnlichen „ , [ . . . ] Schule der Erzieher' (wo diese s i c h selbst erziehen)" (an Reinhart von Seydlitz am 24. 9. 1876, II/5, 188 f.). Das erste Mal taucht dieser Gedanke unmittelbar nach dem Ausbruch des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 auf: „Wir können bereits am Anfang vom Ende sein! Welche Wüstenei! Wir werden wieder Klöster brauchen. Und wir werden die ersten fratres sein.", schreibt Nietzsche am 19.7. 1870 an Erwin Rohde (II/1, 130 f.). Doch steht dieser Gedanke in jenen Tagen noch in Zusammenhang mit Wagners Bayreuther Plänen (siehe den Brief vom 15.12. 1870 an den gleichen Adressaten, I I / l , 165—167). Allein der Gedanke an den anderen gibt dem letzten Philosophen, der um keinen Sinn an sich mehr weiß, Sinn und damit Halt. Darin liegt eine Erklärung d a f ü r beschlossen, daß Nietzsche der Freundschaft eine so große Bedeutung zugemessen hat. So schreibt er am 16.11. 1875 an seinen Freund Carl von Gersdorff (II/5, 123 f., hier: S. 124): „wirklich ist an meine Freunde zu denken immer noch das Einzige, was mich etwas mit dem Dasein versöhnt, das mir sonst immer s i n n l o s e r erscheint. Diese Mühe! diese Hast! Dieser naive Glauben jedes Menschen, daß um ihn die Sonne und alle Welt sich dreht! Ich strotze
Anmerkungen 587 bis 595 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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von Erfahrungen dieser Art und möchte lachen, wenn ich nur könnte." Indes heißt dies nicht, daß Nietzsche den Sinn im anderen sucht, vielmehr sieht er ihn darin, dem anderen Vorbild d a f ü r zu sein, „wie man wird, was man ist" (— es ist dies der Untertitel des „Ecce h o m o " , der auf Pindars ,,γένοι', ο ΐ ό ς έ σ σ ι — werde, der du bist" (Pyth. II V. 73) zurückgeht — : Spätestens seit 1867, als er es seiner Untersuchung „ D e Laertii Diogenis fontibus" als Motto voranstellte, war dies der Leitspruch seines Lebens; siehe: Janz I, 191). W e n n dagegen „jeder seinen Zweck in einem anderen hat, so haben a l l e k e i n e n Z w e c k i n s i c h , z u e x i s t i r e n ; und dies , f ü r e i n a n d e r e x i s t i r e n ' ist die komischste Komödie." (März 1875, IV 3 [64], 4 / 1 , 108 f.) In diesem Sinne schreibt er nach einer überstandenen Krise am 14.4. „Charfreitag 1876" (II/5, 149 f., hier: S. 150) an Erwin Rohde: „Ich muß mir schon selber treu bleiben, um Euch meinen wahren Freunden treu bleiben zu können, aber es fraß die Skepsis und das Mißtrauen an mir. Ebenso verpflichtet mich das heimliche Weiterleben meiner Schriften, immer von neuem höre ich, daß hier und dort ein Kreis von Menschen sitzt, die auf mich hören und die erwarten, daß man noch höher steigt, freier wird, um selber dabei freier zu werden." In dieser Krise hat er selber die Kraft, die von einem Vorbild ausgeht, erfahren. Über seine Lektüre des Buches „Memoiren einer Idealistin" schreibt er am gleichen T a g an die Autorin, Malwida von Meysenbug: „Sie gingen vor mir her als ein höheres Selbst, als ein v i e l höheres —, aber doch noch mehr ermuthigend als beschämend: so schwebten Sie in meiner Vorstellung und ich maass mein Leben an ihrem Vorbilde und fragte mich nach dem Vielen, was mir fehlt." (Ebd., S. 148 f., hier: S. 148.) 588
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [187], 3 / 4 , 65. VII 8 [24], 7 / 1 , 352. So im übrigen auch — Goethe in einem Gespräch mit Falk, in dem er ausführt, daß Philosophie nichts als die Weise widerspiegele, in der ihr Schöpfer sein Leben zu bewältigen sucht, weswegen wir diese „Lebensformen" nur danach beurteilen könnten, wie diese „unserer N a t u r oder unseren Anlagen n a c h " „ f ü r uns passen" (zitiert nach: Goethes Gespräche, Zweiter Teil, Zürich 1950, 23. Band der Gedenkausgabe der Goetheschen Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. v. Ernst Beutler, S. 817). 590 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [321], 3 / 4 , 105 f., hier: S. 106. 591 Za IV, Der Schatten, 6 / 1 , 336. Die früheste Andeutung dieses „Assassinen-Spruches", als der jener Satz in GM III 24, 6 / 2 , 417 bezeichnet wird, stellt ein Fragment aus dem Sommer 1875 dar, das sich auf die Vorsokratiker und den bei ihnen erkennbaren Kampf zwischen Weisheit und Wissenschaft bezieht: „Ironische Novelle: alles ist falsch. Wie der Mensch sich an einen Balken klammert." (IV 6 [6], 4 / 1 , 174 f., hier: S. 175.) 592 Siehe dazu: Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensätze, a . a . O . , S. 154—157. 5 » Frühjahr 1884, VII 25 [300], 7 / 2 , 84. 594 Siehe dazu: Jörg Salaquarda, Nietzsche und Lange, a . a . O . , S. 249—251, der den Nachweis führt, daß Nietzsche Lamarcks These, die im „letzten Drittel des 19. Jahrhunderts [ . . . ] als recht wahrscheinlich [galt], sogar Darwin selbst hatte sie keineswegs ausgeschlossen" (250), aus Langes „Geschichte des Materialismus" kannte. 595 y i j 25 [305], 7 / 2 , 84. — Diese Haltung manifestiert sich zum ersten Male in jenem Brief vom 30. 1. 1872 an seinen Lehrer Ritsehl, mit dem er diesen zu einer Reaktion auf seine „ G e b u r t der T r a g ö d i e " herauszufordern suchte: „ich dachte, wenn Ihnen irgend etwas Hoffnungsvolles in Ihrem Leben begegnet sei, so möchte es dieses Buch sein, hoffnungsvoll f ü r unsere Alterthumswissenschaft, hoffnungsvoll f ü r das deutsche Wesen, wenn auch eine Anzahl Individuen daran zu Grunde gehen sollte. Denn die practische Consequenz meiner Ansichten werde i c h wenigstens nicht schuldig bleiben, und Sie errathen etwas davon, wenn ich Ihnen mittheile, dass ich hier öffentliche Vorträge ,über die Z u k u n f t unserer Bildungsanstalten' halte." (II/1, 281 f.) Nachdem er sich am 31. 12. 1871 bereits in seinem Tagebuch notiert hatte: „Buch von N . Geburt der Tragödie ( = geistreiche Schwiemelei)", zeichnet sich Ritsehl nunmehr am 2.2. 1872 dort auf: „Fabelhafter Br. von Ν ( = Größenwahnsinn)". (Zitiert nach: Karl Schlechta, Nietzsche-Chronik, Daten zu Leben und Werk, München 1984, S. 39.) 589
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Anmerkungen 596 bis 613 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Zum Terminus siehe Anm. 591. Siehe dazu jene Passage des Kapitels „ V o n der schenkenden T u g e n d " , Abschnitt 3, aus dem 1. Teil des „ Z a r a t h u s t r a " (6/1, 97), mit der Nietzsche auch das V o r w o r t zu „Ecce h o m o " (6/3, 258 f.; wir folgen diesem leicht veränderten Selbstzitat) beschließt: „Allein gehe ich nun, meine Jünger! Auch ihr geht nun davon und allein! So will ich e s . / / G e h t fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch: schämt euch seiner! Vielleicht betrog er e u c h . / / D e r Mensch der Erkenntniss muss nicht nur seine Feinde lieben, er muss auch seine Freunde hassen können. / / M a n vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. [ · · · ] / / N u n heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, w e n n i h r m i c h A l l e v e r l e u g n e t h a b t , will ich euch wiederkehren . . . " . E H , W a r u m ich ein Schicksal bin 1, 6 / 3 , 363. BAW 3, 291—315, hier: S. 293. Ebd.,S. 298. 1/2, 321 f., hier: S. 322. Nicht von ungefähr erreicht die Schopenhauer-Begeisterung unter Nietzsches Freunden ihren H ö h e p u n k t während des Feldzuges gegen Frankreich; siehe dazu vor allem die Briefe des jungen Freiherrn Carl von Gersdorff an Nietzsche. Am 20. 10. 1870 antwortet ihm dieser (II/I, 147— 149, hier: S. 147): „Alles was Du mir schreibst, hat mich auf das Stärkste ergriffen, vor allem der treue ernste T o n , mit dem D u von dieser Feuerprobe der uns gemeinsamen Weltanschauung sprichst. Auch ich habe eine gleiche Erfahrung gemacht, auch f ü r mich bedeuten diese Monate eine Zeit, in der jene Grundlehren sich als festgewurzelt bewährten: man kann mit ihnen sterben; das ist mehr als wenn man von ihnen sagen wollte: man kann mit ihnen leben." G T , Versuch einer Selbstkritik 1, 3 / 1 , 6. Ebd., Abschnitt 6, 3/1, 14. Brief an Erwin Rohde vom 9. 12. 1868, 1/2, 348—353, hier: S. 352. Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [51], 3 / 3 , 74; vgl. G T 18, 3 / 1 , 114: „ D e r ungeheuren Tapferkeit und Weisheit K a n t ' s und S c h o p e n h a u e r ' s ist der schwerste Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund unserer Kultur ist." Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [32], 3 / 3 , 69. Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [95], 3 / 3 , 85 f. Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [91], 3/3, 84 f., hier: S. 85: „Die asketischen Richtungen sind aufs Höchste wider die N a t u r und meist nur die Folge der verkümmerten Natur. Diese mag eine verschlechterte Rasse nicht fortpflanzen. Das Christenthum konnte nur in einer verkommenen Welt zum Siege kommen." Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [95], 3/3, 85 f., hier: S. 86. Vgl. September 1870—Januar 1871, III 5 [31], 3 / 3 , 104 f.: „Die Weltverneinung ist ein unglaublicher Standpunkt: wie ließ ihn der Wille z u ? / / E r s t e n s ist er verbunden mit dem höchsten Wohlwollen, er hindert nichts, er ist nicht aggressiv.//Zweitens wird er sofort wieder eskamotirt durch eine andersartige Verherrlichung des Daseins, Unsterblichkeitsglauben, Sehnsucht zur Seligkeit.//Drittens ist der Quietismus auch eine Daseinsform." Siehe des weiteren III 5 [68], 3/3, 112: „ D a s h ö c h s t e Z e i c h e n d e s W i l l e n s : / / d e r Glaube an die Illusion und der theoretische Pessimismus beißt sich selbst in den Schwanz." Ende 1870 zeichnet Nietzsche dann auf: „Die tragische Erkenntniß ist ja auch dem Ureinen-Wesen gegenüber nur eine Vorstellung, ein Bild, ein W a h n . " (III 6[3], 3/3, 135 f., hier: S. 136). III 10 [1], 3 / 3 , 345—363. Die Vorstufe findet sich in KSA 14, S.541. Als Vorstufen bezeichnen die Herausgeber solche „Aufzeichnungen, welche zur Reinschrift f ü h r e n " , ebd., S. 39. Die eckigen Klammern— mit Ausnahme der zweiten, die von mir als Erläuterung eingefügt wurde — bereits in der Vorlage. Sie bedeuten „Streichung Nietzsches". „ " weist auf einen abgebrochenen oder unvollständigen Satz hin. Ende 1870—April 1871, III 7 [165], 3 / 3 , 210.
Anmerkungen 614 bis 637 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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WaW II, Kap. 17 „Über das metaphysische Bedürfnis des Mensch" S. 206—243, hier: S. 207 f. 6 1 5 Ebd., S. 236: „ D a s Ganze der Erfahrung gleicht einer Geheimschrift und die Philosophie der Entzifferung derselben, deren Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden Zusammenhang bewährt." 6 1 6 Winter 1872/73, III 23 [9], 3/4, 137 f., hier: S. 137. 6 1 7 Winter 1872/73, III 23 [7], 3/4, 136. 6 1 8 Ebd. 619 Sommer-Herbst 1873, III 29 [212], 3/4, 322. 620 G T 23, 3/1, 141. « i G T 17, 3/1, 107. 6 2 2 H L 9, 3/1, 319. « 3 Ebd. 6 2 4 H L 1, 3/1, 247. 6 2 5 Gottfried Wilhelm Leibniz, Von deutscher Sprachpflege: Unvorgreifliche Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache, § 49, in: G . W . L., Deutsche Schriften, hrsg. v. Walther Schmied-Kowarzik, Bd. I, Leipzig 1916, S. 25—54, hier: S. 38. 6 2 6 Ζ. B. Sommer 1871— Frühjahr 1872, III 16 [17], 3/3, 424 f., hier: S. 425: „Thaies. Kampf mit dem Mythus." 6 2 7 Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [11], 3/3, 62. 6 2 8 Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [3], 3/3, 59. Vgl. auch die nachfolgende Aufzeichnung vom September 1870—Januar 1871, III 5 [33], 3/3, 105 f., hier: S. 106: „ V o n Illusionen sich nicht beherrschen lassen, ist ein unendlich naiver Glaube, aber es ist der intellektuelle Imperativ, das Gebot der Wissenschaft. Im Aufdecken dieser Spinngewebe feiert der άνθρωπος θεωρητικός und mit ihm der Wille zum Dasein ebenfalls seine Orgien: er weiß, daß die Neugier nicht zu Ende kommt und betrachtet den wissenschaftlichen Trieb als eine der mächtigsten μηχαναί zum Dasein." 6 2 9 Ende 1870—April 1971, III 7 [125], 3/3, 189—191, hier: S. 191. 6 3 0 Ebd. 6 3 1 Ebd., S. 190. 6 3 2 Martin Heidegger hat in „Die Zeit des Weltbildes", a. a. O., herausgestellt, daß „Weltbild, wesentlich verstanden, [ . . . ] nicht ein Bild von der Welt [meint], sondern die Welt als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird [ . . . ] so genommen, daß es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist." (S. 87) Weder Mittelalter, wo Seiendes als analogia entis erfahren wurde, noch Früh-Griechentum, welches das Seiende als „das Aufgehende und Sichöffnende [erfuhr], was als das Anwesende über den Menschen als den Anwesenden kommt" (S. 88), hätten derweise ein Weltbild gekannt. Daß Nietzsche neuzeitliches Denken in die Antike projiziert, verrät sich besonders deutlich dort, wo er das Enstehen griechischer Wissenschaft auf ebenjenes Ereignis zurückführt, in dessen Gefolge sich Descartes über das Seiende ins Bild setzte: „Wissenschaft [ . . . ] entsteht// 1) wenn die Götter nicht gut gedacht werden. Grosser Vortheil irgend etwas als f e s t zu erkennen." (Sommer 1875, IV 6 [4], 4/1, 173 f., hier: S. 173). Darüber hinaus ist die Gleichsetzung der antiken Theoria mit der neuzeitlichen Wissenschaft mehr als bedenklich. Vgl. dazu auch: Fink, Nietzsche, a. a. O., S. 29 f. 6 3 3 Wie Anm. 631. 6 3 4 Sommer 1875, rV 6 [7], 4/1, 175. 6 3 5 S E 3, 3/1, 352. 6 3 6 Wie Anm. 629. 6 3 7 Im Sommer 1872—Anfang 1873 (III 19 [98], 3/4, 40) zeichnet Nietzsche als einen von mehreren Titelentwürfen zu einer Schrift über den Philosophen auf: „ D e r Philosoph. Betrachtungen über den K a m p f von K u n s t und Erkenntniss." Siehe dazu auch: KSA 14, 544. 614
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Anmerkungen 638 bis 665 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
P H G 3, 3/2, 307. Ebd., S. 311. wo i v 6 [48], 4 / 1 , 191 — 194, hier: S. 194. 641 Sommer 1875, IV 6 [4], 4 / 1 , 173; vgl. auch: Herbst 1873— Winter 1873/74, III 30 [5], 3 / 4 , 341. 642 P H G 3, 3 / 2 , 310. 643 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [28], 3/4, 13: „Im Mittelalter übernimmt die Theologie die Zügel der Wissenschaft." 644 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [24], 3 / 4 , 12. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [319], 3 / 4 , 105. 646 H L 4, 3 / 1 , 267. 647 März 1875, III 3 [63], 4 / 1 , 107 f., hier: S. 108: „ M a n sehe nur, womit ein wissenschaftlicher Mensch sein Leben todt schlägt: was hat die griechische Partikellehre mit dem Sinne des Lebens zu thun?" 648 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [196], 3 / 4 , 67: „Wir sollen so lernen, wie die Griechen von ihren Vergangenheiten und Nachbarn lernten — zum L e b e n , also mit größter Auswahl und alles Erlernte sofort als Stütze benutzend, auf der man sich hoch — und höher als alle Nachbarn schwingt. Also nicht gelehrtenhaft! Was nicht zum Leben taugt, ist keine wahre Historie. Freilich kommt es darauf an, wie hoch und wie gemein ihr dieses L e b e n nehmt. 649 Sommer 1872-Anfang 1873, III 19 [21], 3/4, 10 f., hier: S. 10. 650 Winter 1883—1884, VII 24 [14], 7 / 1 , 692 f.: „Eine Vielheit von Kräften, verbunden durch einen gemeinsamen Ernährungs-Vorgang, heißen wir ,Leben'. Zu diesem Ernährung-Vorgang, als Mittel seiner Ermöglichung, gehört alles sogenannte Fühlen, Vorstellen, Denken, d. h. 1) ein Widerstreben gegen alle anderen Kräfte 2) ein Zurechtmachen derselben nach Gestalten und Rhythmen 3) ein Abschätzen in Bezug auf Einverleibung oder Abscheidung." Siehe auch: Juni—Juli 1885, VII 36 [22], 7 / 3 , 284 f., hier: S.284: „Leben wäre zu definiren als eine dauernde Form von P r o z e ß der K r a f t f e s t s t e l l u n g e n , wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen." D. h. Leben ist Wille zur Macht: „ D e r [ . . . ] Begriff ,Kraft' [ . . . ] : es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als,Willen zur Macht', [ . . . ].", Juni—Juli 1885, VII 36 [31], 7 / 3 , 287. 651 Zu Eckermann am 2. 4. 1829 (hier zitiert nach: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe, a. a. O., S. 332). 652 H L 10, 3 / 1 , 327. 653 Winter 1872/73, III 23 [15], 3 / 4 , 141. 654 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [28], 3 / 4 , 13. « 5 Ebd. 656 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [319], 3 / 4 , 105. 657 P H G 3, 3 / 2 , 307. 658 Ebd. 659 Kr. d. r. V.,Β391.:„dieabsolute E i n h e i t der R e i h e der B e d i n g u n g e n der E r s c h e i nung". 660 Sommer 1872-Anfang 1873, III 19 [37], 3 / 4 , 17 f., hier: S. 17. 661 Immanuel Kant, Was heißt sich im Denken orientieren?, a. a. Ο., A 320. Sommer 1 8 7 2 - A n f a n g 1873, III 19 [34], 3 / 4 , 14 f., hier: S. 15. 663 Sommer 1 8 7 2 - A n f a n g 1873, III 19 [37], 3/4, 17 f. 664 Sommer 1 8 7 2 - A n f a n g 1873, III 19 [28], 3/4, 13. 665 Die Verbindung zwischen den einzelnen Wissenssplittern schafft der Journalist, „der Diener des Augenblicks", als solcher der Antagonist „des großen Genius, des Führers f ü r alle Zeiten, des Erlösers vom Augenblick" (BA I, 3/2, 163). Die Journalistik ist „jene klebrige verbindende Schicht, die sich jetzt zwischen die Wissenschaften gelegt h a t " (ebd., S. 162). Hier glaubt sie „ihre Aufgabe zu erfüllen", die „sie nun ihrem Wesen gemäß ausführt d . h . wie der N a m e sagt, als eine Tagelöhnere!" (ebd., S. 162 f.). „Im Journal 639
Anmerkungen 665 bis 682 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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kulminirt" darum f ü r Nietzsche „die e i g e n t ü m l i c h e Bildungsabsicht der Gegenwart", in ihm bekämpft er im Zeichen seines an den Griechen orientierten Bildungsgedankens die „überall erreichte Verkehrung aller eigentlichen Bildungsbestrebungen" (ebd., S. 163): „ D e n k e n Sie sich, wie nutzlos jetzt die angestrengteste Arbeit des Lehrers sein muß, der etwa einen Schüler in die unendlich ferne und schwer zu ergreifende Welt des Hellenischen, als in die eigentliche Bildungsheimat zurückführen möchte: wenn doch derselbe Schüler in der nächsten Stunde nach einer Zeitung oder nach einem Zeitroman oder nach einem jener gebildeten Bücher greifen wird, deren Stilistik schon das ekelhafte Wappen der jetzigen Bildungsbarbarei an sich trägt." (Ebd.) 666 So Nietzsche in seiner Baseler Antrittsvorlesung „ H o m e r und die klassische Philologie" (2/1, 247—269, hier: S.268 f.) als Erläuterung seines „Glaubensbekenntnisses [ . · · ] : ,philosophia facta est quae philologia f u i t ' " . Er bekundet darin seinen Willen, der zunehmenden Spezialisierung der Geisteswissenschaften entgegenzuwirken — wie dies auch sein Zuhörer Jacob Burckhardt versuchte. Mit diesem „Glaubensbekenntnis" sollte nämlich „ausgesprochen sein, dass alle und jede philologische Thätigkeit umschlossen und eingehegt sein soll von einer philosophischen Weltanschauung, in der alles Einzelne und Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche bestehen bleibt." 667 H L 4, 3/1, 268 f. 668 H L 10, 3 / 1 , 330. 669 Frühjahr—Herbst 1873, III 28 [4], 3 / 4 , 223. 670 Ebd. 671 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 23. 672 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [43], 3 / 4 , 21. 673 Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, a . a . O . , S. 160. 674 Die T e n d e n z dieser Schrift kommt in nuce zum Ausdruck in einer Aufzeichnung vom Sommer—Herbst 1873, III 29 [100], 3 / 4 , 286: „Diejenige Betrachtung der Geschichte ist die beste, welche die fruchtbarste ist, aber f ü r das Leben. Was nützt es, die Ursachen streng zu sammeln, daraus das Factum herzustellen und so zu mortificiren! Bei einer anderen Betrachtung hätte es noch lebendig weiterzeugen können: sobald es als Resultat der Rechnung erscheint, wirkt es nicht mehr, sondern vergeudet alle Kräfte in der Erklärung seiner selbst." So auch schon Goethe am 15.10. 1823 zu Eckermann: „ , M a n g e l an Charakter der einzelnen forschenden und schreibenden Individuen', sagte er, ,ist die Quelle alles Übels unserer neuesten Literatur.//Besonders in der Kritik zeigt dieser Mangel sich zum Nachteile der Welt, indem er entweder Falsches f ü r Wahres verbreitet, oder durch ein ärmliches W a h r e uns um etwas Großes bringt, das uns besser w ä r e . / / Bisher glaubte die Welt an den Heldensinn einer Lukretia, eines Mucius Scävola und ließ sich dadurch erwärmen und begeistern. Jetzt aber kommt die historische Kritik und sagt, daß jene Personen nie gelebt haben, sondern als Fiktionen und Fabeln anzusehen sind, die der große Sinn der Römer erdichtete. Was sollen wir aber mit einer so ärmlichen Wahrheit! und wenn die Römer groß genug waren, so etwas zu erdichten, so sollten wir wenigstens groß genug sein, daran zu glauben.' " (Zitiert nach: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe, a. a. O., S. 162.) 675 Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, a . a . O . , S. 123. 676 Ebd., S. 122. 677 Gemeint sind die monumentalische, die antiquarische und die kritische Historie, f ü r die jeweils eine der drei zusammengehörenden Zeit-Ekstasen leitend ist: die Zukunft, die Gewesenheit und das Gegenwärtigen. 678 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [258], 3 / 4 , 88. Siehe Seite 110. Μ Ebd. 680 J G B 9, 6 / 2 , 15 f., hier: S. 16. 681 August—September 1885, VII 40 [50], 7 / 3 , 385 f. Vgl. Anmerkung 466. 682 In G D , Moral als Widernatur 5, 6 / 3 , 80, drückt Nietzsche das später so aus: „ W e n n wir von Werthen reden, reden wir unter der Inspriration, unter der Optik des Lebens: das
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Anmerkungen 682 bis 697 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Leben selbst zwingt uns W e r t h e anzusetzen, das Leben selbst werthet durch uns, w e n n wir Werthe ansetzen..." Auf Seite 129 haben wir bereits die nachfolgende Aufzeichnung von Sommer 1883 gelesen: „ M a n sucht das Bild der Welt in der Philosophie, bei der es uns am freiesten zu Muthe wird; d. h. bei der unser mächtigster [Wille zur Macht!] Trieb sich frei fühlt zu seiner Thätigkeit. So wird es auch bei mir stehen!" Eugen Fink (Nietzsches Philosophie, a. a. O.) hat diesen Satz, zu dem er bemerkt: „Philosophie erscheint f ü r Nietzsche mehr als eine ,Lebenspraxis' denn eine theoretische Wahrheit". (159), nicht zureichend bedacht, andernfalls hätte er nicht einige Seiten vorher bemerken können: „alle Probleme der Philosophie sind ihm Wertprobleme; [ . . . ] Wahrheit als jene Offenbarkeit des flutenden Lebens, als Wille zur Macht und als Ewige Wiederkunft aber ist ja die Grundlage f ü r Nietzsches universale Wertperspektive — und kann also nicht nur ein Wertphänomen sein. Die N a t u r derjenigen Wahrheit, die seine eigene Philosophie trägt, kommt zu keiner letzten Klarheit." (127) Zum einen übersieht Fink dabei, wie wir schon mehrmals gezeigt haben, daß seine eigene Philosophie f ü r Nietzsche Illusion ist, und zwar nicht zu umgehende, d. h. notwendig zu glaubende Illusion, was besagt, daß sie weniger illusionär ist als andere Illusionen. D a r u m aber kann Fink zum anderen auch kein ausreichendes Verständnis d a f ü r aufbringen, daß der „ l e t z t e P h i l o s o p h " angesichts dieser „Wahrheit, ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein" (CV 1, 3 / 2 , 254), nur noch „ z u m L e b e n zu helfen" hat (Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [36], 3 / 4 , 16f., hier: S. 16). Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [125], 3 / 4 , 47. III 19 [49], 3 / 4 , 23. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [67], 3/4, 28 f., hier: S. 29. Ebd. Wie Anm. 685. Siehe Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [50], 3 / 4 , 23 f., hier: S.24: „die höhere Physiologie wird freilich die künstlerischen Kräfte schon in unserem Werden begreifen, ja nicht nur in dem des Menschen, sondern des Thieres: sie wird sagen, daß mit dem O r g a n i s c h e n auch das K ü n s t l e r i s c h e b e g i n n t . " Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [37], 3 / 4 , 17 f., hier: S. 17. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [76], 3 / 4 , 32. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [83], 3 / 4 , 35 f., hier: S. 35. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [24], 3 / 4 , 12. Vgl. Herbst 1873—Winter 1873/74, III 30 [15], 3 / 4 , 347 f., hier: S. 348: „Thatsächlich hat die Philosophie sich in den Strom der jetzigen Bildung hineinziehn lassen: sie beherrscht ihn gar nicht. Bestenfalls Wissenschaft geworden (Trendelenburg)." Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [51], 3 / 4 , 24. Vgl. z . B . eine Aufzeichnung vom Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [134], 3 / 4 , 50, derzufolge die Pythagoreer mit der „ Z a h l " und Demokrit mit dem „ S t o f f " Grundvorstellungen der Naturwissenschaft entwickeln. Sehr wichtig ist in diesem Zusammenhang die nachfolgende Passage eines Briefes an Gersdorff vom 5. 4. 1873 (II/3, 138—141, hier: S. 139): „ N a c h Bayreuth bringe ich ein Manuscript ,die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen' mit, zum Vorlesen. [ . . . ] Auch war ich genöthigt, die sonderbarsten Studien zu jenem Zwecke zu treiben, selbst die Mathematik trat in die N ä h e , ohne Furcht einzuflößen, dann Mechanik, chemische Atomenlehre usw. Ich habe mich wieder auf das herrlichste überzeugt, was die Griechen sind und waren. Der W e g von Thaies bis Sokrates ist etwas Ungeheures." Bei dem Manuskript handelt es sich um die nachgelassene Basler Schrift „ D i e Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen", welche indes im Gegensatz zu der Vorlage seines im Sommersemester 1872 gehaltenen Kollegs über „Vorplatonische Philosophen" und anders auch als beispielsweise ein nachgelassenes Notat vom Frühjahr 1873 (III 26 [1], 3 / 4 , 173 f.) keinen Vergleich zwischen den Konzeptionen der Vorsokratiker und den modernen naturwissenschaftlichen Theorien anstellt. Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [24], 3 / 3 , 67.
Anmerkungen 698 bis 721 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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Ende 1870—April 1871, III 7 [125], 3 / 3 , 1 8 9 — 1 9 1 , hier: S. 190. P H G 3, 3 / 2 , 308. 7 0 0 Sommer 1872—Anfang 1873, III 21 [19], 3 / 4 , 121. 7 ° ' Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [76], 3 / 4 , 32.
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Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [136], 3 / 4 , 21 f. hier: S. 22. 703 Vgl w a s Nietzsche im „Versuch einer Selbstkritik" seiner „Geburt der Tragödie" als die Aufgabe dieses ,,verwegene[n]" Buches herausstellt, nämlich: „ d i e W i s s e n s c h a f t u n t e r d e r O p t i k des K ü n s t l e r s zu s e h n , die K u n s t a b e r u n t e r der des L e b e n s . . . " ( 2 , 3 / 1 , 8). 7 ° 4 III 23 [14], 3 / 4 , 140 f., hier: S. 140. 7 °5 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [28], 3 / 4 , 13. 7° Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [3], 3 / 3 , 39. 7 ° 7 Sommer 1875, IV 6 [12], 4 / 1 , 177. 7 ° 8 Ebd. 7 0 9 Vgl. Sommer 1872—Anfang 1873, III 21 [6], 3 / 4 , 116: „Ich will Historienmalerei, nicht Antiquitäten." Die Nähe der monumentalischen Historie zum Mythos zeigt: Ilse Nina Bulhof, Apollos Wiederkehr. Eine Untersuchung der Rolle des Kreises in Nietzsches Denken über Geschichte und Zeit, Den Haag 1969; siehe auch die Rezension dieses Buches von J ö r g Salaquarda in: Nietzsche-Studien 1 / 1 9 7 2 , S. 4 2 7 — 4 3 2 . 7 1 0 Vgl. Nietzsches nachfolgendes Selbstlob aus jener Zeit, da er an einer einführenden Vorrede für die Neuausgabe der „Morgenröthe" schrieb, Herbst 1885—Herbst 1886, V I I I 2 [162], 8 / 1 , 142: „Man bemerkt, bei meinen früheren Schriften, einen guten Willen zu unabgeschlossenen Horizonten, eine gewisse kluge Vorsicht vor Uberzeugungen, ein Mißtrauen gegen die Bezauberungen und Gewissens-Überlistungen, welche jeder starke Glaube mit sich bringt; mag man darin zu einem Theile die Behutsamkeit des gebrannten Kindes, des betrogenen Idealisten sehen — wesentlicher scheint mir der epikureische Instinkt eines Räthselfreundes, der sich den änigmatischen Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs nehmen lassen will, am wesentlichsten endlich ein aesthetischer Widerwille gegen die großen tugendhaften unbedingten Worte, ein Geschmack, der sich gegen alle viereckigen Gegensätze zur W e h r setzt, ein gut Theil Unsicherheit in den Dingen w ü n s c h t und die Gegensätze wegnimmt, als Freund der Zwischenfarben, Schatten, Nachmittagslichter und endlosen Meere". Siehe dazu auch die auf Seite 122 zitierte, in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft entstandene Aufzeichnung. 7 | 1 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [52], 3 / 4 , 24. 7 1 2 Kapitel 15, 3 / 1 , 98 und Kapitel 17, 3 / 1 , 107. 7 1 3 Winter 1 8 7 2 / 7 3 , III 23 [7], 3 / 4 , 136. 7 1 4 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [62], 3 / 4 , 27. 7 ' 5 Winter 1 8 7 2 / 7 3 , III 23 [8], 3 / 4 , 136 f., hier: S. 137. 7 1 6 Winter 1 8 7 2 / 7 3 , III 23 [9], 3 / 4 , 137. 7 · 7 Vgl. für die Vorsokratiker, Winter 1 8 7 2 / 7 3 , III 23 [14], 3 / 4 , 140 f., hier: S. 140: „ B ä n d i g u n g d e s M y t h i s c h e n . — Stärkung des Wahrheitssinnes gegenüber der freien Dichtung, v i s v e r i t a t i s oder Stärkung des reinen Erkennens (Thaies Demokrit P a r m e n i d e s ) . / / B ä n d i g u n g d e s W i s s e n s t r i e b e s — oder Stärkung des MythischMystischen, des Künstlerischen, (Heraklit Empedokles Anaximander.) Gesetzgebung der Größe." 7 1 8 Winter 1 8 7 2 / 7 3 , III 23 [14], 3 / 4 , 140 f., hier: S. 141. 7 19 Sommer 1875, I V 6 [7], 4 / 1 , 175 f., hier: S. 176. 7 2 0 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [76], 3 / 4 , 32. 7 2 1 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [62], 3 / 4 , 27. Damit stimmt überein, was Nietzsche rückblickend im Juni—Juli 1885 aufzeichnet (VII 38 [13], 7 / 3 , 339 f.): „Als ich jünger war, machte ich mir Sorge darüber, was denn eigentlich ein Philosoph sei: denn ich glaubte an den berühmten Philosophen entgegengesetzte Merkmale wahrzunehmen. Endlich ging mir auf, daß es zwei unterschiedliche Arten von Philosophen giebt, einmal solche, welche irgend einen großen Thatbestand von Werthschätzungen, das heißt ehemaligen 702
440
722 7 23 724
725 726 727 728
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Anmerkungen 721 bis 742 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Werthsetzungen und Werthschöpfungen (logischen oder moralischen), festzuhalten haben, sodann aber solche, welche selber Gesetzgeber von Werthschätzungen sind. Die ersteren suchen sich der vorhandenen oder vergangenen Welt zu bemächtigen, indem sie dieselbe durch Zeichen zusammenfassen und abkürzen. Diesen Forschern liegt es ob, alles bisher Geschehene und Geschätzte übersichtlich, überdenkbar, faßbar, handlich zu machen, die Vergangenheit zu überwältigen, alles Lange, ja die Zeit selbst abzukürzen, eine große und wundervolle Aufgabe. Die eigentlichen Philosophen a b e r s i n d B e f e h l e n d e u n d G e s e t z g e b e r , sie sagen: so s o l l es sein! sie bestimmen erst das Wohin und W o z u des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit der philosophischen Arbeiter, jener Überwältiger der Vergangenheit. Diese zweite Art von Philosophen geräth selten; und in der T h a t ist ihre Lage und Gefahr ungeheuer." Ebd. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [28], 3/4, 13. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [34], 3/4, 14 f., hier: S. 15. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [62], 3/4, 27. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [39], 3/4, 19. Ebd. G T 7, 3/1, 52. — Von einem „Trost, den die Kunst gewährt", weiß auch Schopenhauer ( W a W I, 372), nach dessen Ansicht die Künste die metaphysischen Ideen darstellen, die immer seienden Urformen, in denen sich der Wille äußert — mit Ausnahme der Musik, welche den Willen als solchen zur Erscheinung bringt. Fragmentengruppe III 32, 3 / 4 , 367—399. W B 4, 4 / 1 , 23. 31.1. 1873, II/3, 119—121, hier: S. 121. Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, a. a. O., S. 93. Ebd. Ebd., S. 91. Yg[ j a s nachfolgende Zitat aus dem vermutlich von Tieck verfaßten Aufsatz „Die Symphonien" aus den „Phantasien über die Kunst f ü r Freunde der Kunst": „ D e n n die Tonkunst ist gewiß das letzte Geheimnis des Glaubens, die Mystik, die durchaus geoffenbarte Religion. Mir ist es oft, als wäre sie immer noch im Entstehn, und als dürften sich ihre Meister mit keinen andern messen." (zitiert nach: Wilhelm Heinrich Wackenroder, Werke und Briefe, Heidelberg 1967, S.251). Dahlhaus, op. cit., S. 77. I I / l , 203—205, hier: S. 204. Frühling—Sommer 1875, IV 5 [22], 4 / 1 , 121 f., hier: S. 122. III 3 [60], 3 / 3 , 76 f. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [35], 3 / 4 , 15 f., hier: S. 15. Vgl. auch G T 18, 3/1, 114: Mit Kants und Schopenhauers Erkenntniskritik „ist eine Cultur eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage." G T 23, 3 / 1 , 141. H L 5, 3 / 1 , 280 f.: „es mag was Gutes und Rechtes geschehen, als That, als Dichtung, als Musik: sofort sieht der ausgehöhlte Bildungsmensch über das W e r k hinweg und fragt nach der Historie des Autors. [ . . . ] Augenblicklich erschallt das Echo: aber immer als ,Kritik', während kurz vorher der Kritiker von der Möglichkeit des Geschehenden sich nichts träumen Hess. Nirgends kommt es zu einer Wirkung, sondern immer nur wieder zu einer ,Kritik'; und die Kritik selbst macht wieder keine Wirkung, sondern erfährt nur wieder Kritik. Dabei ist man übereingekommen, viel Kritiken als Wirkung, wenige als Misserfolg zu betrachten. Im Grunde aber bleibt, selbst bei sothaner ,Wirkung', alles beim Alten: man schwätzt zwar eine Zeit lang etwas Neues, dann aber wieder etwas Neues und thut inzwischen das, was man immer gethan hat. Die historische Bildung unserer Kritiker erlaubt gar nicht mehr, dass es zu einer Wirkung im eigentlichen Verstände, nämlich zu einer Wirkung auf Leben und Handeln komme [ . . . ] Gerade in dieser Maasslosigkeit ihrer kritischen Ergüsse, in dem Mangel der Herrschaft über sich selbst, in dem was die Römer
Anmerkungen 742 bis 755 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
441
impotentia nennen, verräth sich die Schwäche der modernen Persönlichkeit." Ein Gegenbild erblickt Nietzsche in jener „Erschütterung und Verzweiflung an aller Wahrheit [ . . . ] , wie sie [ . . . ] Heinrich von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte." (SE 3, 3 / 1 , 351 f.) Und er fragt: „wann werden wieder die Menschen dergestalt Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem ,heiligsten Innern' messen?" 7 « H L 8, 3 / 1 , 301. 744 Richard Wagner, Einleitung zum dritten und vierten Bande [der „Gesammelten Schriften und Dichtungen"], in: Werke, Bd. 6, S. 192—198, hier: S. 194, über Ludwig Feuerbach, „der meiner damaligen Stimmung vorzüglich dadurch nahe trat, daß er der Philosophie (in welcher er einzig die verkappte Theologie aufgefunden zu haben glaubte) den Abschied gab." 7 « Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [36], 3 / 4 , 16 f., hier: S. 16. 746 G T , Vorwort an Richard Wagner, 3 / 1 , 20. 747 An Elisabeth Nietzsche am 11.6. 1865 (1/2, 60—64, hier: S. 60 f.): „Suchen wir denn bei unserem Forschen Ruhe, Friede, Glück? Nein, nur die Wahrheit, und wäre sie höchst abschreckend und häßlich. [ . . . ] Hier scheiden sich nun die Wege der Menschen; willst Du Seelenruhe und Glück erstreben, nun so glaube, willst D u ein Jünger der Wahrheit sein, so forsche." 748 III 32 [68], 3/4, 392 f. 749 H a n s Martin Klinkenberg, Der Kulturbegriff Nietzsches, a. a. O., S. 338 f. 750 Im Herbst 1887 zeichnet Nietzsche auf (VIII 10 [28], 8/2, 136): „an Stelle der ,Gesellschaft' der C u l t u r - C o m p l e x als m e i n Vorzugs-Interesse (gleichsam als Ganzes, bezüglich in seinen Theilen)". 751 Klinkenberg, op. cit., S. 314. 752 5 / 1 , 168—170. Nietzsche hat das Defizit der ,sogenannten classischen Erziehung' schon früh erkannt, doch wurde die Absicht, es zu beheben, durch seine überraschende Berufung nach Basel vereitelt. In dem Brief vom 16.1. 1869 an seinen Freund Erwin Rohde (1/2, 358—360), mit dem er diesem von jener W e n d e seines Lebens Mitteilung macht, heißt es: „Wir sind doch recht die N a r r e n des Schicksals: noch vorige Woche wollte ich Dir einmal schreiben und vorschlagen, gemeinsam Chemie zu studieren und die Philologie dorthin zu werfen, wohin sie gehört, zum Urväter-hausrath. Jetzt lockt der Teufel .Schicksal' mit einer philologischen Professur." (359 f.) Die Lösung von dem erst noch zu übernehmenden Brotberuf kündigte sich schon an — und die Lebensberufung, zu bedenken, was ist, sollte darunter zu leiden haben, daß die Möglichkeit, in naturwissenschaftlichen und technischen Dingen über ein Dilettieren hinauszugelangen, nicht ergriffen wurde. Er sollte der letzte nicht sein... 753 H L 10, 3 / 1 , 330. Dies, wie er meint, „der griechische Begriff der Cultur", der im „Gegensatze zu dem romanischen" stehe (ebd.), als welcher aufzufassen sei „als D e k o r a t i o n d e s L e b e n s " (ebd., S. 329). Das aber heiße „im Grunde doch immer nur Verstellung und Verhüllung; denn aller Schmuck versteckt das Geschmückte." (Ebd., S. 329 f.) 754 BA II, 3/2, 176 f. erläutert dies am Beispiel des Soldaten, der „genöthigt ist gehen zu lernen, nachdem er vorher im Gehen roher Dilettant und Empiriker war. Es sind mühselige Monate: man fürchtet daß die Sehnen reißen möchten, man verliert alle H o f f n u n g , daß die künstlich und bewußt erlernten Bewegungen und Stellungen der Füße jemals bequem und leicht ausgeführt werden: man sieht mit Schrecken, wie ungeschickt und roh man Fuß vor Fuß setzt und fürchtet jedes Gehen verlernt zu haben und das rechte Gehen nie zu lernen. Und plötzlich wiederum merkt man, daß aus den künstlich eingeübten Bewegungen bereits wieder eine neue Gewohnheit und zweite N a t u r geworden ist, und daß die alte Sicherheit und Kraft des Schrittes gestärkt und selbst mit einiger Grazie im Gefolge zurückkehrt: jetzt weiß man auch, wie schwer das Gehen ist und darf sich über den rohen Empiriker oder über den elegant sich gebärdenden Dilettanten des Gehens lustig machen." 755 C V 5, 3 / 2 , 277.
442 756
Anmerkungen 756 bis 785 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
Sommer 1871—Frühjahr 1872, III 16 [15], 3 / 3 , 423 f., hier: S.424. C V 5, 3 / 2 , 286. 758 1879, in V M 95, 4 / 3 , 51, spricht Nietzsche von „sublimirter Geschlechtlichkeit". Vgl. zu dieser Frage: Walter Kaufmann, Nietzsche, Philosoph — Psychologe — Antichrist, a . a . O . , S. 254 f. 759 „Verbesserte Physis" meint durch „ F o r m u n g " gesteigerte Physis, was in der Terminologie der „Artisten-Metaphysik" besagt, daß Dionyos durch Apollo bestritten und derweise gesteigert wird. 7 ° BA I, 3 / 2 , 155. 761 SE 3, 3 / 1 , 380. Vergleichbare Passagen u. a. in BA: Einleitung, 3 / 2 , 139; Vortrag 3, 3 / 2 , 189 ff.; Vortrag 5, 3 / 2 , 242 f. 762 H L 9, 3 / 1 , 313. 7 « SE 5, 3 / 1 , 378. 764 BAW 3, 393. 765 Ebd., S. 373 f. 766 SE 5, 3 / 1 , 376. 767 H L 9, 3 / 1 , 315. 768 Vgl z u dieser Frage: Walter Kaufmann, op. cit., S. 204 f.: „Nietzsche akzeptierte Darwins Lehre vom Mangel aller kardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Tier als unbestreitbare empirische Tatsache; gegen diese ,tötliche' Botschaft versuchte er die neue Nietzschesche Lehre zu setzen, daß sich der Mensch über die Tiere erheben kann. Nietzsche gab zu, daß es nicht der Verstand ist, durch den sich der Mensch über alle anderen Tiere erhebt [ . . . ] Aber Nietzsche trat Darwin entgegen, wenn dieser meinte, bei Tieren auch nur Spuren von Kunst — die Nietzsche von bloßer Fertigkeit unterschied — Religion und Philosophie zu finden. Ein Techniker ist nur ein Über-Affe, aber von Plato kann man so etwas nicht sagen." 7 9 * Vgl. etwa Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [202], 3 / 4 , 69: „ V o n irgend einer Vorsehung f ü r gute Bücher vermag ich nichts zu spüren: die schlechten haben fast mehr Aussichten sich zu erhalten. Es sieht wie ein W u n d e r aus, daß Aeschylus Sophokles und Pindar immer wieder abgeschrieben worden sind und offenbar ist es das zufälligste Ereigniß, daß wir überhaupt eine antike Literatur besitzen." Siehe auch: III 19 [203], ebd.: „ W e n n Schopenhauer es, in unserem Saeculum, erleben konnte, daß die erste Auflage seines Werkes als Maculatur eingestampft wurde und es im Grunde der Geschäftigkeit unbedeutender, ja bedenklicher Litteraten zu danken ist, daß sein N a m e aus tiefer Verschollenheit allmählich auftauchte ". 77 ° Anfang 1871, III 10 [1], 3 / 3 , 345—363, hier: S. 350. 771 1871, III 9 [26], 3/3, 292: „ D i e französiche Revolution ist aus dem Glauben an die Güte der N a t u r entstanden: sie ist die Consequenz der Renaissance." 772 C V 3, 3 / 2 , 259. 773 Ende 1870—April 1871, III 7 [116], 3 / 3 , 172—174, hier: S. 172. 774 H a n s Blumenberg, „ N a c h a h m u n g der N a t u r " , Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, S. 55—103, hier: S.55. 775 III 35 [12], 3/4, 432—439, hier: S . 4 3 2 f . 776 BA 4, 3 / 2 , 204. 777 BA 3, 3 / 2 , 189. 778 D S 1, 3/1, 159. 779 BA 5, 3 / 2 , 242. 78 ° C V 3, 3 / 2 , 269 f. 781 Wie Anm. 779. 782 1/2 , 314 — 316, hier: S. 316. 783 IV 3 [36], 4 / 1 , 107 f., hier: S. 108. 784 1.—3 . 2. 18 6 8, 1/2 , 245 —2 5 0, hier: S. 248 f. 785 Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 2 [20], 3 / 3 , 50. 757
Anmerkungen 786 bis 798 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
443
786 BA 1, 3 / 2 , 157. 787
Frühjahr—Sommer 1874, III 34 [15], 3/4, 414. In der 3. Unzeitgemässen Betrachtung „Schopenhauer als Erzieher " resümiert Nietzsche seine Ausführungen über das Genie als Ziel der Kultur wie folgt: „was ist uns durch alle diese Betrachtungen aufgegangen? Dass überall, wo jetzt die Kultur am lebhaftesten gefördert erscheint, von jenem Ziel nichts gewusst wird. Mag der Staat noch so laut sein Verdienst um die Kultur geltend machen, er fördert sie, um sich zu fördern und begreift ein Ziel nicht, welches höher steht als sein Wohl und seine Existenz." (SE 6, 3 / 1 , 3 % ) Bald jedoch wird Nietzsche erkennen, daß seine Forderung an den Staat, als wichtigste Aufgabe die Pflege der höchsten Güter der Menschheit zu betrachten, sprich: Kulturpolitik zu betreiben, nur das Gegenteil dessen herbeiführen kann, was er ersehnt. Rückblickend zeichnet er im Juni—Juli 1879 (IV 40 [9], 4 / 3 , 437) auf: „Mir wurde Angst beim Anblick der Unsicherheit des modernen Culturhorizonts. Etwas verschämt lobte ich die Culturen unter Glocke und Sturzglas. Endlich ermannte ich mich und warf mich in das freie Weltmeer." Mit „ E r m a n n u n g " meint Nietzsche Aufzeichnungen wie diese, welche zu den Aphorismen 233, „Die Stimme der Geschichte", und 235, „Genius und idealer Staat in Widerspruch", des ersten nachwagnerschen Buches „Menschliches, Allzumenschliches" führten: „Die Ziele der m e n s c h l i c h e n W o h l f a h r t im Groben sind ganz a n d r e : als die höchste Intelligenz zu erzeugen. Das Wohlleben gilt viel zu hoch und ist ganz äußerlich genommen, auch die Schule und die E r z i e h u n g . / / D e r ideale Staat, den die Socialisten träumen, zerstört das F u n d a m e n t der großen Intelligenzen, die starke E n e r g i e . / / W i r müssen wünschen, daß das Leben seinen g e w a l t s a m e n Charakter behalte, daß w i l d e Kräfte und Energien hervorgerufen werden. Das Urtheil über den Werth des Daseins ist das höchste Resultat der kräftigsten S p a n n u n g im Chaos. [ . . . ] / / D e r W e i s e muß den Gedanken der unintelligenten Güte w i d e r s t r e b e n , weil ihm an der Wiedererzeugung seines Typus liegt. Mindestens kann er n i c h t den idealen Staat f ö r d e r n . — Christus förderte die Verdummung der Menschen, er hielt die Erzeugung des großen Intellekts auf." (Frühling—Sommer 1875, IV 5 [188], 4 / 1 , 169 f.) U n d : „ W e r zum Bewußtsein über die Erzeugung des Genies käme und die Art, wie die N a t u r verfährt, auch praktisch durchführen wollte, würde so böse und so rücksichtslos wie die Natur selbst sein müssen." (Frühling—Sommer 1875, IV 5 [191], 4 / 1 , 170) Er trägt damit einer seiner Grundeinsichten Rechnung, die schließlich auch in die Konzeption des Willens zur Macht Eingang gefunden hat, daß nämlich nur dort Steigerung statthaben kann, w o das Prinzip des Kampfes, des ά γ ώ ν , herrscht. 789 III 19 [64], 3/4, 27 f., hier: S. 27. 790 Winter 1870/71—Herbst 1872, III 8 [92], 3 / 3 , 267 f., hier: S. 267. 791 Man beachte die Sein und Werden zusammenschließende paradoxale Fügung. 792 G f 23, 3 / 1 , 143 f. Ebd., S. 141: „ O h n e Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen N a t u r k r a f t verlustig: erst ein mit Mythen umstellter H o r i z o n t schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab." 793 H L 9, 3 / 1 , 313. Das Schopenhauersche Bild (siehe: Arthur Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß, 6 Bde., hrsg. v. Arthur Hübscher, F r a n k f u r t / M . 1970, hier: Bd. 3, S. 188) findet sich auch andernorts: P H G 1, 3 / 2 , 302; Winter 1872/73, III 24 [4], 3 / 4 , 160; Sommer—Herbst 1873, III 29 [52], 3/4, 256—258, hier: S. 257. 794 Siehe H L 2, 3/1, 254: „Die Geschichte gehört vor Allem dem Thätigen und Mächtigen, dem, der einen grossen Kampf kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie unter seinen Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag." Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [1], 3 / 4 , 5. 796 BA 3, 3/2, 192. 797 SE 4, 3/1, 361: „worin ich nicht einen Rückfall in's Heidenthum, sondern in die Dummheit erkenne." 798 SE 4, 3 / 1 , 364: der Staat „wünscht dass die Menschen mit ihm demselben Götzendienst treiben möchten, den sie mit der Kirche getrieben haben." Siehe auch das Kapitel „ V o m neuen G ö t z e n " im 1. Teil von „Also sprach Zarathustra" (6/1, 57—60). 788
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Anmerkungen 799 bis 814 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
C V 3, 3/2, 266. BA 3, 3/2, 201. et» Ebd., S. 202. 802 Ebd., S. 200. Zur Ablehnung des Staates durch die Stürmer-und-Dränger vgl. Gerhard Kaiser, Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, München 2 1976, S. 189: „ T r o t z der ideellen Rückbindung des Genies an das Volk kann der Sturm und D r a n g Merkmale einer eigentümlichen sozialen und einer politischen Ortlosigkeit zeigen. Herders Geschichtsschreibung richtet sich auf Völker und Kulturen; Staaten sind ihm ,künstliche Anstalten der Gesellschaft', ,hölzerne Maschinen'. Die Kritik am Absolutismus hat als mögliche Konsequenz die Abwendung vom Staat, die Gleichgültigkeit gegen ihn." 803 Frühjahr—Sommer 1874, III 34 [8], 3 / 4 , 412 f., hier: S. 413. Vorübergehend verwirft Nietzsche diese Auffassung. So heißt es in einer Fragmentengruppe vom Sommer 1875 (IV 9 [1], 4 / 1 , 207—257), in der Exzerpte und kritische Anmerkungen zu „ D e r Werth des Lebens von E. Dühring. 1865" aneinandergereiht sind: „Jedes Individuum ist ein neuer Standpunkt, der eine neue Welt ins Bewußtsein treten l ä ß t . / / ( N u n , das ist doch auch Mythologie, und Mystik und zwar schlecht g e g l a u b t e ! ) " (Ebd., S. 220 f.) D a ß Nietzsche diese Auffassung zumindest im Hinblick auf die schöpferischen Genies schließlich weiter gelten läßt, bezeugt der in Anm. 545 zitierte Aphorismus 301 der „Fröhlichen Wissenschaft". 804 Siehe: Piaton, Apol., 31c—33a. 805 Vgl dazu: Edgar Zilsel, Die Entstehung des Geniebegriffes, Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus, Tübingen 1926, S. 12 f. 806 SE 1, 3 / 1 , 334. 807 JGB 62 (6/2, 79—81, hier: S. 79) bezeichnet Nietzsche den Menschen als „das n o c h nicht festgestellte Thier". 8 8 ° H L 10, 3 / 1 , 330. 809 SE 3, 3 / 1 , 355. 810 SE 3, 3 / 1 , 358. 811 Vgl. Zilsel, op. cit., a. a. O., S. 183. 812 W B 4, 4 / 1 , 18. 813 H L 8, 3 / 1 , 307. 814 In der Vorrede „Ueber das Pathos der W a h r h e i t " (CV 1, 3 / 2 , 249—254) fragt Nietzsche: „Ist der Ruhm wirklich nur der köstlichste Bissen unserer Eigenliebe? — Er ist doch an die seltensten Menschen, als Begierde, angeknüpft und wiederum an die seltensten Momente derselben. Dies sind die Momente der plötzlichen Erleuchtungen, in denen der Mensch seinen Arm befehlend, wie zu einer Weltschöpfung, ausstreckt, Licht aus sich schöpfend und um sich ausströmend. [ . . . ] ; in der ewigen Nothwendigkeit dieser seltensten Erleuchtungen f ü r alle Kommenden erkennt der Mensch die Nothwendigkeit seines Ruhms; die Menschheit, in alle Z u k u n f t hinein, braucht ihn, und wie jener Moment der Erleuchtung der Auszug und der Inbegriff seines eigensten Wesens ist, so glaubt er als der Mensch dieses Momentes unsterblich zu sein" (249). Besonders gelte dies f ü r den Philosophen, „weil er gar nicht weiß, w o er stehen soll, wenn nicht auf den weit ausgebreiteten Fittigen aller Zeiten; denn die Mißachtung des Gegenwärtigen und Augenblicklichen liegt in der Art des philosophischen Betrachtens. Er hat die Wahrheit; mag das Rad der Zeit rollen, wohin es will, nie wird es der Wahrheit entfliehen können." (251) Nietzsche exemplifiziert und korrigiert diese Überlegungen am Beispiel Heraklits, der — so muß man aus der Nietzscheschen Perspektive interpretieren — in Widerspruch zu dem von ihm Gedachten, dem Werden und Vergehen in sich beschließenden Werden, an das Währen dieses Gedankens glaubte: „ D e n n die Welt braucht ewig die Wahrheit, also braucht sie ewig Heraklit, obschon er ihrer nicht bedarf. Was geht i h n sein Ruhm an! [ . . . ] Sein Ruhm geht die Menschen etwas an, nicht ihn; seine Eigenliebe ist die Liebe zur Wahrheit — und eben diese Wahrheit sagt ihm, daß ihn die Unsterblichkeit der Menschen brauche, nicht er die Unsterblichkeit des Menschen Heraklit." (253) D o c h : „was war die Heraklitische . W a h r h e i t ' ! / / U n d wo ist sie hin? Ein verflogener Traum, weggewischt aus 800
Anmerkungen 814 bis 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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den Mienen der Menschheit, mit anderen T r ä u m e n ! — Sie war die Erste nicht!" Auf den ersten Blick heißt das nur: seine Wahrheit des Werdens war gleich allen anderen Wahrheiten eine der Vergänglichkeit unterworfene Illusion. Auf den zweiten Blick muß man jedoch erkennen, daß sich gerade in diesem Vergehen die „Richtigkeit" dieses Gedankens in bezug auf das Gedachte, nämlich das Werden, bezeugt. Anders als Heraklit, der diese Tatsache verkannt hat, erwartet, ja fordert darum der sich auf ihn berufende Nietzsche f ü r sein Denken das Vergehen, um so das Werden besser in die O b h u t nehmen zu können: „erst, w e n n i h r m i c h A l l e v e r l e u g n e t h a b t , will ich euch wiederkehren", ruft Nietzsche mit Zarathustra seinen „ J ü n g e r n " zu ( E H , Vorwort 4, 6 / 3 , 259). Auf listige Weise stellt auch er sich mithin auf jene ,weit ausgebreiteten Fittige aller Zeiten'. 815
W B 3, 4 / 1 , 16. 816 W B 5, 4 / 1 , 31. 817 H L 10, 3 / 1 , 326. 818 H L 2, 3 / 1 , 256. 819 Insofern die spätere Lehre von der ewigen Wiederkunft, von Nietzsche als „die w i s s e n s c h a f t l i c h s t e aller möglichen Hypothesen" (Sommer 1886—Herbst 1887, VIII 5 [71], 8/1, 215—221, hier: S.217) und d . h . als notwendig zu Glaubendes herausgestellt (vgl. Frühjahr 1888, VIII 14 [188], 8/3, 166—168, wo es u. a. [S. 168] heißt: „ W e n n die Welt als bestimmte Größe von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftcentren gedacht werden d a r f — und jede andere Vorstellung bleibt unbestimmt und folglich u n b r a u c h b a r — so folgt daraus, daß sie eine berechenbare Zahl von Combinationen, im großen Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen hat. In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche Combination irgendwann einmal erreicht sein".), aus dieser überhistorischen mythischen Perspektive hervorgeht, stellt sich die Frage, ob Zarathustras Lehre wirklich den Geist der Rache, nämlich „des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ,Es w a r . ' " (Za II, Von der Erlösung, 6 / 1 , 176), und damit die metaphysische Nichtung der Welt, wie sie der Entwurf überzeitlicher Ideale bewirkt, grundsätzlich überwindet, d. h. die Vergänglichkeit des Irdischen rückhaltlos bejaht, ober ob nicht Heideggers diesbezüglicher Zweifel (Μ. H., W e r ist Nietzsches Zarathustra?, a. a. O., S. 113) geteilt werden muß: Verbirgt sich, so fragt er, in diesem Denken, „das alles Werden in die O b h u t der ewigen Wiederkehr des Gleichen nimmt, nicht doch und auch noch ein Widerwille gegen das bloße Vergehen und somit ein höchst vergeistigter Geist der Rache?" In der der T a t : Nichts ist nach dieser Lehre endgültig vergangen, alles kehrt wieder: Das Moment des Ewigen — von Nietzsche in seiner nachwagnerschen Phase bekämpfte Leitvorstellung der Seins-Metaphysik — prägt im Widerstreit mit der Bestandlosigkeit des Werdens diesem seinen illusionären Charakter der Beständigkeit auf, um so dem Dasein die lebensnotwendige Möglichkeit der Sinnhaftigkeit zu eröffnen: „ G e g e η die lähmende Empfindung der allgemeinen Auflösung und Unvollendung hielt ich die e w i g e W i e d e r k u n f t ! " , zeichnet Nietzsche im Winter 1883/1884 auf ( V I I 2 4 [28], 7 / 1 , 703 f., hier: S. 704). Doch „der E w i g e - W i e d e r k u n f t s - G e d a n k e " wäre nicht die „höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden k a n n " ( E H , Also sprach Zarathustra 1, 6 / 3 , 333), trüge er nicht noch ein anderes, finsteres Gesicht: „Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ,die ewige W i e d e r k e h r ' . / / D a s ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das .Sinnlose') ewig!" (Sommer 1886—Herbst 1887, VIII 5 [71] 6, 8/1, 215—221, hier: S. 217) N u r die stärksten Naturen vermögen Nietzsche zufolge diese Form des Gedankens zu ertragen: „als a u s w ä h l e n d e s Princip" soll er „im Dienste der K r a f t (und Barbarei!!)" (Winter 1883/1884, VII 24 [7], 7 / 1 , 688 f., hier: S. 688) die Lebensuntüchtigen aussondern: „Es ist der große z ü c h t e n d e Gedanke: die Rassen, welche ihn nicht ertragen, sind verurtheilt; die, welche ihn als größte Wohlthat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehn." (Sommer— Herbst 1884, VII 26 [376], 7 / 2 , 248) Dieser die Sinnlosigkeit betonende Teil der Lehre, die die Unendlichkeit der Welt in einer der Endlichkeit des Menschen
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Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen" entsprechenden Form zu fassen sucht, kündigt sich im übrigen bereits im Sommer 1872—Anfang 1873 in der nachfolgenden Aufzeichnung an (III 19 [139], 3 / 4 , 52): „Die U n e n d l i c h k e i t ist die uranfängliche Thatsache: es wäre nur zu erklären, woher das Endliche stamme. Aber der Gesichtspunkt des Endlichen ist rein sinnlich d. h. eine T ä u s c h u n g . / / W i e kann man von einer Bestimmung der Erde zu reden w a g e n ! / / I n der unendlichen Zeit und dem unendlichen Räume giebt es keine Ziele: w a s d a i s t , i s t e w i g d a in irgend welchen Formen. Was f ü r eine methaphysische [sie!] Welt es geben soll, ist gar nicht a b z u s e h n . / / O h n e jede derartige Anlehnung muß die Menschheit s t e h e n können — ungeheure Aufgabe der Künstler!" Sinnvolle und sinnlose Weltauslegung widerstreiten somit einander auf das höchste in dieser paradoxalen, den Weltstreit von Dionysos und Apoll (siehe dazu den Abschnitt über die „ G e b u r t der Tragödie"), von Werden und Sein abbildenden Formel ebenso wie Metaphysik und Umkehrung der Metaphysik. In einem noch in Schlechtas Edition des Nachlasses der Achtzigerjähre auftauchenden Fragment (SA III, 919), das in der K G W darum nicht mehr zum Abdruck kommt, weil das Manuskript inzwischen verlorengegangen ist (siehe dazu: Marie-Luise Haase und Jörg Salaquarda, Konkordanz, Der Wille zur Macht: Nachlass in chronologischer O r d n u n g der kritischen Gesamtausgabe, in: Nietzsche-Studien 9/1980, S. 446—490, hier: S. 447, es handelt sich um den Aphorismus 1061 der Nachlaßkompilation „ D e r Wille zur Macht") bemerkt Nietzsche genau in diesem Sinne: „Die beiden extremsten Denkweisen — die mechanistische und die platonische — kommen überein in der ewigen Wiederkunft: beide als Ideale." Die mechanistische Denkweise — die Nietzsche unbeschadet ihres Wertes f ü r den täglichen Gebrauch (vgl. Anm. 87) als „Tölpelei" bezeichnet (JGB 21, 6 / 2 , 29 f., hier: S. 29), weil sie „die ursächliche K r a f t " , den Willen zur Macht, ,nicht berührt' (Frühjahr 1888, VIII 14 [79], 8 / 3 , 49—51, hier: S. 51) — nämlich in der Hinsicht, daß die von ihr entworfene Welt „eine essentiell s i n n l o s e Welt w ä r e " (FW 373, 5 / 2 , 306—308, hier: S. 308), die platonische Denkweise aber in der Hinsicht, daß von ihr die Sinnhaftigkeit der Welt verbürgt wird. Im folgenden wollen wir auf einige Aspekte des Wiederkunft-Gedankens näher eingehen, um so zum einen die in Anm. 259 aufgeworfene Frage weiterzutreiben, in welcher Weise Nietzsches Denken dem metaphysischen Entwurf des Seins als beständiger Anwesenheit folgt — wir erinnern an unsere Behauptung, daß Nietzsche aus dem Geist des Dionysischen heraus denkt, als welchem an sich selbst, d. h. in seiner tiefsten uns zugänglichen Schicht, die Beständigkeit fehlt, weswegen Heidegger nicht nur zu diesem, sondern auch zu der von ihm kündenden Musik ein fruchtbarer Zugang versperrt ist —, und zum anderen unsere Überlegungen zu Nietzsches Gedanken über das Verhältnis von Wissenschaft, Kunst und Philosophie fortzusetzen. Zunächst aber wollen wir mit Blick auf sie erneut die Frage nach der Metaphysik aufwerfen, wie Nietzsche sie versteht. Exkurs N u r der Glaube an ein Sein eröffnet die Möglichkeit von Sinn — und beides scheint f ü r den Vollzug des vermutlich sinn-, weil ziellosen Werdens nötig zu sein, wie an dem vom W e r d e n hervorgebrachten menschlichen Intellekt abgelesen werden kann, der als solcher Sein und Sinn ,hat', metaphysisch ist, nämlich über das Werden, die φύσις, hinaus zum Sein und zum Sinn geht und nur darum von Sinnlosigkeit sprechen kann. (Was etwas anderes ist als das Jenseits das Sinnes, das Nietzsche f ü r die tiefste Schicht der Welt anzunehmen genötigt ist, wie das in der bereits angeführten Bemerkung [vgl. Anm. 580] zum Ausdruck kommt, „ o b nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegentheils f ü r uns unlösbar ist", November 1887—März 1888, VIII 11 [97], 8/2, 287 f., hier: S.288.) Wenn derweise aber bereits das menschliche Erkenntnisvermögen metaphysischen Wesens ist, weil es kunstschaffend, nämlich sein- und sinnvorstellend ist — wir verweisen auf die noch zu bedenkende Aussage der „Geburt der Tragödie", daß die Kunst als die „eigentlich metaphysische Thätigkeit dieses Lebens" anzusehen sei (GT, Vorwort an Richard Wagner, 3/1, 20) —, so daß die Metaphysik selber nichts anderes als eine Verschärfung und Verabsolutierung dieser Tendenz bedeutet, dergestalt, daß sie allein die zu beständiger Anwesenheit festgestellte Welt f ü r wesentlich und die diese im Grunde
Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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tragende, sich durch die Setzung des Seins ermöglichende bestandlose Flucht des Werdens, das Chaos der Physis, f ü r nichtig erachtet, dann ist diese nur im Abstoß von ihrem Gegenhalt, dem Sein, her erreichbar. Weswegen zumindest nach Maßgabe dieses erkenntnistheoretischen Verständnisses eine andere Form der denkerischen Überwindung der Metaphysik als die einer Umdrehung des philosophischen Blickens und einer Rückbeziehung des Seins auf das Werden nicht möglich zu sein scheint. (Auch Heidegger spricht von einer „metaphysisch geprägtefn] Weise des menschlichen Vorstellens" (Μ. H., Uberwindung der Metaphysik, a. a. O., S. 66), doch versteht er etwas anderes darunter als Nietzsche. So erläutert er seinen Satz in „ W e r ist Nietzsches Zarathustra?" (a. a.O., S. 104) wie folgt: „Wie immer auch der Mensch das Seiende als solches vorstellen mag, er stellt es im Hinblick auf dessen Sein vor. Durch diesen Hinblick geht er über das Seiende immer schon hinaus und hinüber zum Sein. Hinüber heißt griechisch μετά. D a r u m ist jedes Verhältnis des Menschen zum Seienden als solchen in sich metaphysisch." Für Nietzsche äußert sich der metaphysische Charakter des menschlichen Vorstellens darin, daß es das Werden zum Sein vor-stellt und dieses dann als Seiendes in die Unverborgenheit her-stellt, f ü r Heidegger hingegen, f ü r den es Seiendes fraglos „gibt" — erkenntnistheoretische Fragestellungen läßt er als der Metaphysik verhaftet hinter sich —, bezeugt sich das metaphysische Wesen des Erkenntnisvermögens in dessen „Uberstieg" vom Seienden zum Sein, wodurch allein uns Seiendes soll begegnen können. Kann darum nach Nietzsches Ansicht der aus der Metaphysik herausführende Schritt nur in der U m k e h r u n g des Blickes vom Seienden zum Werden beschlossen liegen, so in der Heideggerschen Perspektive ausschließlich in der aus der Einsicht in die ontologische Differenz von Seiendsein und Sein als solchem gestellten — auch das Nietzschesche Werden, insofern dieses nicht nichts ist, umgreifenden — Seinsfrage.) Daß sich, worauf wir bereits auf S. 36 f. hingewiesen haben, das Werden allein im Gegenhalt zum Sein und somit das Physische allein in der Abstoßung vom Metaphysischen denken läßt, bemerkt Nietzsche mit größter Deutlichkeit in der nachfolgenden Aufzeichnung aus der Zeit kurz nach dem Aufkommen des Wiederkunft-Gedankens (Frühjahr—Herbst 1881, V 11 [162], 5 / 2 , 401 f.): „ D a m i t es irgend einen Grad von Bewußtsein in der Welt geben könne, mußte eine unwirkliche Welt des Irrthums — entstehen: Wesen mit dem Glauben an Beharrendes an Individuen usw. Erst nachdem eine imaginäre Gegenwelt im Widerspruch zum absoluten Flusse entstanden war, konnte a u f d i e s e r G r u n d l a g e etwas e r k a n n t w e r d e n — ja zuletzt kann der Grundirrthum eingesehn werden worauf alles beruht (weil sich Gegensätze d e n k e n lassen) — doch kann dieser Irrthum nicht anders als mit dem Leben vernichtet werden: die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die E i n v e r l e i b u n g nicht, unsere O r g a n e (zum L e b e n ) sind auf den Irrthum eingerichtet. So entsteht im Weisen der W i d e r s p r u c h d e s L e b e n s und seiner letzten Entscheidungen; sein T r i e b zur Erkenntniß hat den Glauben an den Irrthum und das Leben darin zur Voraussetzung.//Leben ist die Bedingung des Erkennens. Irren die Bedingung des Lebens und zwar im tiefsten Grunde Irren. Wissen um das Irren hebt es nicht auf! Das ist nichts Bitteres ! / / W i r müssen das Irren lieben und pflegen, es ist der Mutterschooß des Erkennens. Die Kunst als die Pflege des Wahnes — unser C u l t u s . / / U m des Erkennens willen das Leben lieben und fördern, um des Lebens willen das Irren W ä h n e n lieben und fördern. Dem Dasein eine ästhetische Bedeutung geben, u n s e r e n G e s c h m a c k a n i h m m e h r e n , ist Grundbedingung aller Leidenschaft der E r k e n n t n i ß . / / S o entdecken wir auch hier eine Nacht und einen T a g als Lebensbedingung f ü r u n s : Erkennen-wollen und Irren-wollen sind Ebbe und Fluth. Herrscht e i n e s absolut, so geht der Mensch zu Grunde; und z u g l e i c h d i e Fähigkeit." Wir haben diese Aufzeichnung ungekürzt wiedergegeben, weil von ihr her die Bedeutung deutlich werden dürfte, die der Gedanke der ewigen Wiederkunft f ü r Nietzsches Philosophie hat. Der Satz: „die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die E i n v e r l e i b u n g nicht" meint, daß diese als die tiefste uns zugängliche Scheinbarkeit von den jeweiligen
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Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Willen zur Macht nicht mehr übermächtigt, d. h. anverwandelt werden kann, weil sie sich jeder sichernden Fest-stellung entzieht — etwas übermächtigen aber heißt, etwas in seiner Machtsphäre so zum Stehen zu bringen, daß es die Basis f ü r weitere Ausgriffe abgeben kann. Mit Heidegger gesprochen besagt das: „die Lehre vom ewigen Fließen aller Dinge im Sinne der durchgängigen Bestandlosigkeit kann nicht mehr f ü r wahr gehalten werden; in ihr kann sich der Mensch nicht als in einem Wahren halten, weil er sonst dem endlosen Wechsel und Unbestand und der völligen Zerstörung preisgegeben ist, weil dann ein Festes und damit Wahres unmöglich bleibt." (Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 407) Heidegger ist nun der Ansicht, daß Nietzsche jene „Grundstellung zum Seienden im Ganzen als einem ewigen Flusse" (ebd.) wohl bis zum Aufkommen des Gedankens der ewigen Wiederkunft des Gleichen eingenommen, durch diesen aber überwunden hat. Er verweist dabei auf jene Aufzeichnung aus der Zarathustra-Zeit (November 1882—Februar 1883, VII 5 [1] 160, 7 / 1 , 209): „Ich lehre euch die Erlösung vom ewigen Flusse: der Fluß fließt immer wieder in sich zurück, und immer wieder steigt ihr in den gleichen Fluß, als die Gleichen." Was Heidegger so interpretiert: „Dieses W o r t ist eine bewußte Gegenwendung gegen einen Gedanken, der in der griechischen Philosophie im Anschluß an Heraklit, d. h. an eine bestimmte Deutung seiner Lehre, ausgesprochen wurde. Danach können wir wegen des ständigen Fort- und Wegfließens des Flusses [Ν. B.: auch diese W e n d u n g zeigt, daß wir das Werden nur im Gegenhalt des Seins denken können, T h . B.] niemals in denselben Fluß steigen. Nietzsches Lehre bezeichnet sich dagegen als ,Erlösung vom ewigen Flusse'. Das besagt nicht: Beseitigung des Werdens und Erstarrung, sondern Befreiung von dem bloßen endlosen ,Immer so weiter'. Das Werden wird als Werden erhalten, und doch wird in das Werden die Beständigkeit, d. h. griechisch verstanden, das Sein, gelegt." (Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 408) Damit wird aber deutlich, warum Heidegger die Konzeption der ewigen Wiederkunft als Nietzsches zentralen Gedanken herausstellen und den von ihm geprägten Bereich seiner Philosophie als Nietzsches eigentliches Denken bezeichnen muß: N u r weil er in ihm die Wiederaufnahme der wesentlichen Grundstellungen des anfänglichen Denkens findet, kann er Nietzsches Spätphilosophie als das Ende der Geschichte der Metaphysik ausgeben. Zu diesem Zwecke muß er aber behaupten, daß „die Kennzeichnung des Seienden als Wille zur Macht nur die Ausfaltung des ursprünglichen und vorgängigen Entwurfes des Seienden als ewige Wiederkehr des Gleichen" (ebd., S. 427) darstellt. Wir wollen uns hier nicht auf die Frage nach der Chronologie beider Gedanken einlassen — der Befund eines ersten Blickes auf die Textlage spricht gegen Heideggers Behauptung —, auch nicht auf den jene Behauptung stützenden Gedanken Heideggers, daß ewige Wiederkunft und Wille zur Macht zueinander im Verhältnis von existentia und essentia stehen — schon Wolfgang Müller-Lauter hat hiergegen Einwände erhoben (in: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, a. a. O., S. 23, Anm. 68) —, vielmehr wollen wir aufzeigen, daß Heidegger selber 2 Jahre nach seiner letzten Nietzsche-Vorlesung dieser Deutung widersprochen hat und sich dabei Nietzsches eigener Auslegung annähert, wonach der Wille zur Macht als Voraussetzung f ü r die ewige Wiederkunft des Gleichen anzusetzen ist — was Heidegger vordem als von nur begrenzter, leicht irreführender Bedeutung abqualifiziert hatte (Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 424 ff.). In einer Passage seiner im Sommer—Semester 1943 gehaltenen Vorlesung über Heraklit, „ D e r Anfang des abendländischen Denkens" (a. a. O., S. 104 f.), bemerkt Heidegger, nachdem von ihm aufgewiesen worden ist, daß sich schon im Beginn des Denkens, eben bei Heraklit, „die Wesensnähe von ,Leben' und ,Sein' gezeigt hat": „Zuletzt hat Nietzsche die Gleichsetzung von ,Sein' und ,Leben' ausgesprochen, und zwar in dem Sinne, daß das ,Leben' als ,Wille zur Macht' erfahren und begriffen ist. Damit wird dem W o r t ,Sein' die Rolle des Grundwortes der Philosophie genommen. ,Sein' bleibt die Bezeichnung dessen, was ,Beständigkeit' meint. Diese wird allerdings im Sinne der neuzeitlichen Metaphysik als .Sicherheit' und ,Sicherung' gedacht. Allein die Bestandsicherung, also ,das Sein', ist nicht der Wille zur Macht selbst, ist nicht ,das Leben' selbst, sondern nur eine vom Leben selbst gesetzte Bedingung seiner selbst. Der Wille zur Macht kann nur wollen, was er allein will und wollen muß, nämlich ,mehr
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Macht', also Machtsteigerung, wenn jeweils die erreichte Machtstufe gesichert ist, von der aus und über die hinaus der nächste Schritt sich vollzieht. Das jeweils Gesicherte, das Seiende, und die jeweilige Sicherung, das Sein, bleiben, innerhalb der Perspektive des Willens zur Macht gesehen, das stets nur Vorübergehende, was nur ,ist', um überwunden zu werden, was daher notwendig verdunsten muß im Feuer des Willens zur Macht. Allerdings muß im höchsten Denken dieser Metaphysik doch noch die Erinnerung an das Sein eingestanden werden; denn wenn der Wille zur Macht als die Wirklichkeit des Wirklichen erscheint und als diese bestimmend bleiben soll, dann muß das ,Leben', d. h. das ständige Werden, in den Grundzug des Seins eingehen und eben dieses .Werden', der Wille zur Macht, selbst als das Sein gewollt werden. In der Tat, Nietzsches Denken ist im Umkreis der Metaphysik des Willens zur Macht radikal genug, um auch dieses äußerste Zugeständnis an das Sein einzugestehen. Am Beginn einer längeren Aufzeichnung, die beschrieben ist: ,Recapitulation', sagt Nietzsche: ,Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen — das ist der höchste Wille zur Macht.' [ . . . ] Der höchste Wille zur Macht ist, das Werden zu wollen, dieses aber als Sein zu stabilisieren." Wenn somit das Leben sich selbst als das chaotische und bestandlose Werden, als das es geschieht, niemals ergreifen kann, weil jeder Versuch eines Zugriffes ein Sein fest-stellt, ohne eine solche Fest-stellung hinwiederum gar nichts er- und d. h. begriffen werden kann, dann folgt daraus, wie wiederholt hervorgehoben, daß das Werden nur im Widerhalt des Seins gedacht werden kann: „Erst nachdem eine imaginäre Gegenwelt im Widerspruch zum absoluten Flusse entstanden war, konnte a u f d i e s e r G r u n d l a g e etwas e r k a n n t w e r d e n — ja zuletzt kann der Grundirrthum" — der des Seins — „eingesehn werden worauf alles beruht (weil sich Gegensätze d e n k e n lassen)", hat Nietzsche ausgeführt, und man kann verschärfen: weil sich nur Gegensätze denken lassen. Im Abstoß vom Sein bleibt das Denken mithin an dieses gebunden, weil es dieses selber ist — die vollständige Ablösung bedeutete die Selbstabschaffung. Nietzsche fährt fort: „doch kann dieser Irrthum nicht anders als mit dem Leben vernichtet werden: die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die E i n v e r l e i b u n g nicht, unsere O r g a n e (zum L e b e n ) sind auf den Irrthum eingerichtet." Es ist dem Denken nur die Möglichkeit der Annäherung gegeben: wohl bleibt jene Selbstaufhebung unaufhebbar — im Gefolge unserer Darlegungen über den Tod Gottes haben wir Nietzsches Philosophie als das Denken eines fortwährenden Entzugs charakterisiert —, doch eröffnen sich verschiedene Grade des Verfehlens; von Stufen der Scheinbarkeit haben wir im Rahmen unserer Ausführungen über den Wahrheitsbegriff gesprochen. Die größte Annäherung ist aber dort gegeben, wo die Form des Denkens in der Weise seinen Inhalt ausmacht, daß es Denken im Fluß wird, wie beispielsweise in der Paradoxie. Indes nähert es sich dort schon gefährlich der Selbstvernichtung — erinnert sei nur an Heideggers Diktum von der „Auflösung" (Nietzsche, Bd.2, a . a . O . , S. 185) des Nietzscheschen Denkens (vgl. Anm. 523). Jedoch ist dieses nur der eine Aspekt der perpetuellen Selbstverfehlung des Lebens. Denn es muß gesehen werden, daß sich gerade in dieser Selbstverfehlung die Möglichkeit der Selbstgewinnung auftut, nämlich als beständig sich selbst Verfehlendes (wie sonst könnte Nietzsche diese Tatsache konstatieren?). Denn die Selbstverfehlung ist es ja selbst, sie geschieht in ihm — diesen „Wesenszug" aber kann es ergreifen. Ebendavon spricht Heidegger in der oben zitierten Passage: Der Wille zur Macht kann sich als das bestandlose Werden, als das er geschieht, nicht denken; sobald er sich denkt, stellt er sich fest, fügt sich in ein Sein und verfehlt sich so. Gesprochen im Hinblick auf unsere Interpretation der frühesten Nietzsche-Aufzeichnungen: sein Für-Sich entspricht nicht seinem An-Sich. Aber dieses jene Kluft eröffnende Vorstellungsgeschehen ist er selbst, es macht sein „Wesens"geschehnis aus, das ihm nicht etwa nur gelegentlich zugänglich ist, sondern als das er sich beständig ergreifen muß: Die Rede von der Notwendigkeit des Verfehlens hat neben der fatalistischen auch eine Imperativische Bedeutung — wie die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. So deutet sich bereits an, daß die Lehre vom Willen zur Macht in der Tat die Grundlehre der Nietzscheschen Spätphilosophie darstellt, aus der
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Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen" deren sämtliche inhaltlichen und formalen Aspekte — die bei Nietzsche überdies weniger noch als bei anderen zu trennen sind — abgeleitet werden können. D e r Wille zur Macht als das Quale des Lebens darf sich somit, wenn er sich als der denken will, der er ist, nicht, wie das im reinen Dionysismus geschieht, in der Bestimmungslosigkeit fortreißender Bestandlosigkeit belassen, sondern hat sich in einer Gedankenform festzustellen, in der er sich ergreifen kann. Auf der anderen Seite darf er sich doch auch wiederum nicht — wie dies das Kennzeichen der sokratischen Lebensform darstellt — in ihr stillstellen. Vielmehr hat er sie in dem Bewußtsein, daß sie eine denkerische Verfehlung seiner selbst darstellt, deren Grad überdies immer mehr zunimmt, je länger sie währt, baldmöglichst hinter sich zu lassen, um sich aufs neue zu bestimmen. Das vom Willen zur Macht Gefaßte bleibt in seiner Perspektive, mit Heidegger zu reden, „das stets nur Vorübergehende, was nur ,ist', um überwunden zu werden, was daher notwendig verdunsten muß im Feuer des Willens zur Macht." Alles dies denkt Nietzsche im „Willen zur Macht" als seiner Auslegung des Grundgeschehens der Welt, das f ü r ihn ein Auslegungsgeschehen in der Form eines — wie wir meinen: metaphysikgeschichtlich begründeten — Verbergungs- oder Entzugsgeschehens darstellt. Das aber bedeutet, daß sich im Gedanken des Willens zur Macht dieser selber interpretiert, indem er sich eine bestimmte Form gibt, die er ergreift. Weil diese aber zwangsläufig seinsmäßiger Art ist, verfehlt er in ihr seine .unfaßbare flüssige Proteus-Natur' (August—September 1885, VII 40 [53], 7 / 3 , 386), die zu bestimmen er immer neue, wenn möglich machtvollere, gleichwohl immer vergebliche Interpretationsversuche unternehmen muß: Eben weil sich in Nietzsches Auslegung des „Willens zur M a c h t " dieser selber auslegt, müssen alle ihre Aussagen auf sich selbst hin gelesen werden — wir sagten an anderer Stelle bereits, daß bei Nietzsche das Denken f ü r sich selbst einstehen muß. Das heißt aber, mit Heidegger zu reden, der indes die Reflexivität der Nietzscheschen Aussagen vollkommen zu übersehen scheint: das gedankliche Sein des Willens zur Macht „ist nicht der Wille zur Macht selbst, ist nicht ,das Leben' selbst, sondern nur eine vom Leben selbst gesetzte Bedingung seiner selbst", woraus sich ergibt, daß der Wille zur Macht über diesen Gedanken seiner selbst als „Wille zur Macht" hinausgehen muß, wenn er das bleiben will, was er ist — Werden, das sich heute im gedanklichen Sein des Willens zur Macht ergriffen und befördert hat, morgen aber — gesprochen aus der Bestimmung des Heute — sich noch mächtiger herausstellen und vollziehen wird. Die „Richtigkeit" der Nietzscheschen Lehre beweist sich somit dadurch, daß man ihrem Aufruf Folge leistet und sie als „irrig" überwindet, d. h. dadurch, daß sie das Werden in fruchtbarerer Weise befördert als jede ihr vorangehende Lehre. Das gilt auch f ü r den Gedanken der ewigen Wiederkunft, der erst dann wiederkehren könnte, wenn er überwunden ist: „ D a s Leben selber schuf diesen f ü r das Leben schwersten Gedanken, es will über sein höchstes Hindernis h i n w e g ! " , zeichnet Nietzsche auf (GA XII, 369, Nr. 720). Es kann deshalb keine Rede davon sein, daß von Nietzsche die Grundstellung zum Seienden im Ganzen als einem ewigen Flusse völlig aufgegeben worden ist (dagegen spricht schon die mehrfach zitierte Aufzeichnung vom Frühjahr—Herbst 1881 — sie ist mithin n a c h dem Aufkommen des Widerkunftsgedankens entstanden —, in der Nietzsche den „muthmaaßlichen a b s o l u t e n F l u ß d e s G e s c h e h e n s " bedenkt (V 11 [293], 5 / 2 , 452): Für die tiefste uns zugängliche Schicht gilt diese Auslegung weiterhin, auch in Nietzsches eigener Philosophie gibt es, wir haben bereits darauf hingewiesen, verschiedene Stufen der Scheinbarkeit. Behält man dies im Auge, kann man ebenfalls Heidegger recht geben, wenn er im Hinblick auf beide Grundgedanken der Nietzscheschen Spätphilosophie bemerkt: „ D e r höchste Wille zur Macht ist, das Werden zu wollen, dieses aber als Sein zu stabilisieren." Er hat bei dieser Formulierung eine Passage aus einer von Ende 1886—Frühjahr 1887 stammenden Aufzeichnung im Auge (VIII 7 [54], 8 / 1 , 320—321, hier: S. 320), die er im Zusammenhang seiner zahlreichen Auslegungen der Wiederkunftslehre immer wieder heranzieht. Es dürfte nicht ganz unwichtig sein, vorab zu bemerken, daß der Titel, unter dem diese Aufzeichnung sowohl in der Nachlaßkompilation „ D e r Wille zur Macht" als
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auch noch in der Schlechtaschen Edition des Nachlasses der Achtzigerjahre erscheint, von den Herausgebern der K G W als nachträgliche H i n z u f ü g u n g von Peter Gast erkannt worden und darum in ihrer Ausgabe nicht mehr zum Abdruck gekommen ist, hat doch Heidegger aus dieser Überschrift „Recapitulation" geschlossen, daß Nietzsche hier eine „Zusammennähme des Hauptsächlichsten seiner Philosophie in wenige Sätze" (Nietzsche, Bd. 1, a . a . O . , S.466) versuche — eine Auszeichnung im Strom der Nietzscheschen Gedanken, die dieser Aufzeichnung, zumindest was den Titel angeht, nun nicht mehr zugesprochen werden kann. Die Passage lautet: „ D e m Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n — das ist der höchste W i l l e z u r M a c h t . I I Ζ w i e f a c h e F ä l s c h u n g , von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwerthigen u s w . / / D a ß A l l e s w i e d e r k e h r t , ist die extremste A n n ä h e r u n g e i n e r W e l t d e s W e r d e n s a n d i e d e s S e i n s : G i p f e l der Betrachtung." Wenn Nietzsche die ewige Wiederkehr als ,die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins' bezeichnet, dann bringt er damit zum Ausdruck, daß es in diesem Gedanken nicht darum geht, die Unbeständigkeit des Werdens, das meint die Bestandlosigkeit von Entstehen und Vergehen, durch die Beständigkeit des Seins zu beseitigen und zu ersetzen, vielmehr darum, „das Werden so zum Seienden [zu] gestalten, daß es als Werdendes erhalten bleibt und Bestand hat, d. h. ist." (Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 466) So zwar, daß das nur einen verhältnismäßigen Bestand habende Gleiche sich durch seine Wiederkehr beständigt. Wie Heidegger sagt: „Die ewige Wiederkehr ist die beständigste Beständigung des Bestandlosen." (Nietzsche, Bd. 2, a. a. O., S. 287) Beständigung des bestandlosen Werdens ist aber die Grundbedingung f ü r den Vollzug des Willens zur Macht, bedarf doch dieser allererst der Bestandsicherung, ehe er sich übersteigen kann, indem er auf andere Willen zur Macht ausgreift. Aber nur dort, w o sich die Bestandsicherung nicht in sich verschließt und d. h. Selbstzweck wird, machtet der Wille zur Macht in seiner höchsten Kraft, nur dort also, w o das festgestellte Sein auf das Werden bezogen bleibt, wo das Apollinische der Form dem Widerstreit des dionysischen Chaos ausgesetzt bleibt (wir erinnern in diesem Zusammenhang an unsere Ausführungen über den großen Stil, s. Anm. 259) und schließlich in dieses freigegeben wird — wie dies im Gedanken der ewigen Wiederkunft der Fall ist, in dem somit das Wesensgesetz des Willens zur Macht auf das reinste zur Geltung kommt. Anders als Heidegger glaubte annehmen zu müssen — aus „systematischen" Gründen —, erweist sich somit nicht der Entwurf der ewigen Wiederkehr, sondern derjenige des Willens zur Macht als primär und damit als der Grundgedanke der Nietzscheschen Spätphilosophie. D a ß der Gedanke der ewigen Wiederkehr Äußerung des höchsten Willens zur Macht ist, läßt sich aber noch anders begründen. Ein jeder Wille zur Macht bedarf, wie es in einer Aufzeichnung vom Frühjahr 1888 heißt (VIII 14 [122], 8/3, 93 f., hier: S. 94), zu seinem Erhalt und d. h. zur Mehrung seiner Macht einer „Conception der Realität", welche „so viel Berechenbares und Gleichbleibendes" erfaßt, „ d a ß darauf hin ein Schema ihres Verhaltens construirt werden kann." Denn beim Menschen handele es sich um eine „Thierart, welche nur unter einer gewissen relativen R i c h t i g k e i t , vor allem R e g e l m ä ß i g k e i t ihrer Wahrnehmungen (so daß sie Erfahrung capitalisiren kann) gedeiht". Grundsätzlich aber hängt, wie Nietzsche weiter ausführt, „das M a ß des Erkennenwollens [ . . . ] ab von dem Maß des Wachsens des W i l l e n s z u r M a c h t der Art: eine Art ergreift so viel Realität, u m ü b e r s i e H e r r z u w e r d e n , u m s i e in D i e n s t z u n e h m e n . " Und mit Nietzsche sucht sie das Werden in seiner Gänze zu ergreifen. D a ß diesem Bestreben eine Täuschung auf dem Fuße folgt, ist Nietzsche von vornherein klar — ist doch jede Einheitsvorstellung in seinen Augen, wie erinnerlich, ein höherer Schein: Auch im Gedanken der ewigen Wiederkunft hat, wie Nietzsche betont, eine „ z w i e f a c h e F ä l s c h u n g " statt, „von den Sinnen her und vom Geiste her". Uber diesen Passus geht Heidegger in der Regel hinweg, nur ein einziges Mal kommt er auf ihn zu sprechen (Nietzsche, Bd. 2, a. a. O., S. 288): „Auf der H ö h e seines Denkens muß
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Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Nietzsche dem Grundzug dieses Denkens ins Äußerste folgen und die Welt hinsichtlich ihres Seins bestimmen. So entwirft und fügt er die Wahrheit des Seienden im Sinne der Metaphysik. Aber zugleich wird auf dem ,Gipfel der Betrachtung' gesagt, um eine Welt des Seienden, d. h. des beharrend Anwesenden zu erhalten, sei eine zwiefache Fälschung'nötig. Die Sinne geben in den Eindrücken ein Festgemachtes. D e r Geist stellt, indem er vor-stellt, Gegenständliches fest. Jedesmal geschieht ein je verschiedenes Festmachen des sonst Bewegten und Werdenden. Dann wäre also der ,höchste Wille zur Macht' als solche Beständigung des Werdens eine Verfälschung. Auf dem ,Gipfel der Betrachtung', wo die Wahrheit über das Seiende als solches im Ganzen sich entscheidet, müßten ein Falsches und ein Schein errichtet werden. So wäre die Wahrheit ein I r r t u m . / / I n der Tat. Die Wahrheit ist sogar f ü r Nietzsche wesenhaft Irrtum [ . . . ]". Es ist dies mithin auch eine der wenigen Stellen, wo Heidegger dem Grundzug des Nietzscheschen Denkens über die Wahrheit folgt — doch auch sie bleibt f ü r sein eigenes Denken folgenlos. Wie nämlich verträgt sich die Erkenntnis, daß Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkunft f ü r eine Fälschung gehalten hat, mit der seinsgeschichtlich begründeten Behauptung Heideggers, Nietzsche habe mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft „die Lehre vom ewigen Fluß der Dinge [ . . . ] überwunden" (Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 407) und d. h. hinter sich gelassen? Kann Nietzsche diesen Gedanken denn nicht nur darum als Fälschung ansehen, weil in seinen Augen das bestandlose Werden weiterhin die tiefste uns zugängliche Scheinbarkeit darstellt? So bleibt Nietzsches Denken auch fürderhin der Bestandlosigkeit verpflichtet — sein Ursprung ist immer noch der Geist der Musik, die von allen Künsten das Werden am reinsten darzustellen befähigt ist, woraus sich erklärt, warum ihr Nietzsche einen so hohen Rang zuspricht. Daß er sie den anderen Künsten nachgeordnet habe, dieser auf das Ganze gesehen irrigen Meinung konnte Heidegger nur im Hinblick auf Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkunft anhängen, in dem in der T a t die anfängliche metaphysische Auslegung des Seins als beständige Anwesenheit wiederkehrt. Doch Nietzsches Denken hat, wenn man so will, zwei Aspekte: Zum einen geht sein Bestreben dahin, das reine Werden zu ergreifen. Aus dem Verfehlen desselben ergibt sich als Konsequenz, zum anderen die Notwendigkeit dieses Verfehlens f ü r den Vollzug des Werdens zu bedenken. Dieses wiederum kann nur dann geschehen, wenn das denkerische Bemühen weiterhin zugleich auf das reine Werden bezogen bleibt. Anders gesagt: Aus dem Bestreben, das reine Werden zu denken, geht eine Kluft des Verfehlens hervor, die denkerisch wohl ergriffen, dabei aber auch offengehalten werden muß. W e n n nämlich das Denken der ihm einwohnenden Tendenz zum Sein zu folgen hat, dann in der Weise, daß es schließlich doch im Werden untergehen kann. Dieses aber läßt sich nicht denken, sondern nur — sofern man sich von den eingewurzelten Vorurteilen der V e r n u n f t zu befreien vermag — sinnlich erfahren: vom Gehörs- oder auch vom Geruchssinn. Nietzsches diesbezügliche Ausführungen in der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " (Die „ V e r n u n f t " in der Philosophie 3, 6 / 3 , 69 f.) haben wir bereits zitiert: „ — Und was f ü r feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren Sinnen! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht: es vermag noch Minimaldifferenzen der Bewegung zu constatiren, die selbst das Spektroskop nicht constatirt. Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne a n z u n e h m e n , — als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. D e r Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnisstheorie. O d e r Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem". Gleichwohl hat es seinen Sinn, daß dieses Zeugnis der Sinne verfälscht und denkerisch in ein Sein gefügt wird. Das geschieht auch in jenen Gedanken Nietzsches, in denen er — wie etwa im Falle der ewigen Wiederkehr — diesem Zeugnis nachzudenken und gleichzeitig jenen Sinn zu bedenken und damit eine Selbstrechtfertigung des Denkens zu erdenken sucht. Weil er an der Selbigkeit von Denken
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und Sein festhält, darum sieht sich Heidegger ausschließlich an diese Gedanken verwiesen und nicht auch an jene, in denen Nietzsche die Kluft des Verfehlens dadurch überhaupt erst zu eröffnen bzw. einseitig offenzuhalten sucht, daß er das Denken gegenüber dem Sinnlichen zurücksetzt. Ebendeshalb kann Heidegger auch Nietzsches daraus erwachsender Hochschätzung der sinnlichsten aller Künste, der Musik, nicht beipflichten, die nur vorübergehend — in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " — gegenüber der Tragödie zurückgesetzt wird, aus Gründen, die wir später ansprechen werden. Schon früh erkannte Nietzsche, daß die aus dem Zusammenbruch der Metaphysik hervorgehende, den Lebensvollzug unmittelbar gefährdende Sinnlosigkeit vor allem ein Problem der Zeit darstellt. Bereits in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung spricht er davon, daß „das Volk am egoistischen Kleinen und Elenden, an Verknöcherung und Selbstsucht zu G r u n d e " ( H L 9, 3/1, 315) zu gehen droht, weil es nach dem Ende des metaphysischen Zeitalters keine überpersönlichen Mächte mehr gibt: Kunst, Religion und Philosophie haben ihren überhistorischen Charakter verloren. Der eingetretene „ U n g l a u b e a n d a s , m o n u m e n t u m a e r e p e r e n n i u s ' " bewirkt, „dass das Individuum zu streng seine kurze Lebenszeit in's Auge fasst und keine stärkeren Antriebe empfängt, an dauerhaften, f ü r Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen; es will die Frucht selbst vom Baume pflücken, den es pflanzt, und desshalb mag es jene Bäume nicht mehr pflanzen, welche eine jahrhundertlange gleichmässige Pflege erfordern und welche lange Reihenfolgen von Geschlechtern zu überschatten bestimmt sind. Denn metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in ihnen das letzte endgültige Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle Z u k u n f t der Menschheit niederzulassen und anzubauen genöthigt sei; der Einzelne fördert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein Kloster stiftet, es wird ihm, so meint er, im ewigen Fortleben der Seele angerechnet und vergolten, es ist Arbeit am ewigen Heil der Seele." (Vgl. auch: Frühjahr—Herbst 1881, V 11 [172], 5 / 2 , 405) Ist Nietzsche in diesem 22. Aphorismus von „Menschliches, Allzumenschliches" (4/2, 39 f., hier: S. 39) noch der Ansicht, daß einst auch die Wissenschaft solchen Glauben an ihre Resultate erwecken und so unser gegenwärtiges ,,aufgeregte[s] Ephemeren-Dasein" (ebd.) beenden kann, so kehrt er doch schließlich zu seiner früheren Einsicht zurück, daß das „rasend-unbedachte Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente, ihre Auflösung in ein immer fliessendes und zerfliessendes Werden, das unermüdliche Zerspinnen und Historisiren alles Gewordenen durch den modernen Menschen" ( H L 9, 3 / 1 , 309) das unaufhebbare Grundgeschehen der Wissenschaft ausmacht: Eben weil der Zweck der Wissenschaft die Weltvernichtung ist, bedarf sie der Bändigung durch die ihr widerstreitende Kunst: „Leben ist die Bedingung des Erkennens. Irren die Bedingung des Lebens und zwar im tiefsten Grunde Irren. Wissen um das Irren hebt es nicht auf! Das ist nichts Bitteres!//Wir müssen das Irren lieben und pflegen, es ist der Mutterschooß des Erkennens. Die Kunst als die Pflege des Wahnes — unser C u l t u s . / / U m des Erkennens willen das Leben lieben und fördern, um des Lebens willen das Irren Wähnen lieben und fördern. Dem Dasein eine ästhetische Bedeutung geben, u n s e r e n G e s c h m a c k a n i h m m e h r e n , ist Grundbedingung aller Leidenschaft der Erkenntniß. / / S o entdecken wir auch hier eine Nacht und einen T a g als Lebensbedingung f ü r u n s [vgl. zu dieser denkerischen Figur auch unsere Ausführungen auf S. 56]: Erkennen-wollen und Irren-wollen sind Ebbe und Fluth. Herrscht e i n e s absolut, so geht der Mensch zu Grunde; und z u g l e i c h d i e F ä h i g k e i t . " Das alles zersplitternde Wesen der Wissenschaft bedarf der Bändigung durch die ganzheitlichen Bilder der Kunst, wie umgekehrt diese auch wieder durch wissenschaftliche Analyse zersetzt werden müssen — wir haben bereits aufgewiesen, daß und wie sich Nietzsche zufolge das Leben im Widerstreit beider Mächte vollziehen muß, wenn es gesund bleiben will. In der Gegenwart ist es indes erkrankt, wozu, wie Nietzsche selber sagt, in nicht unerheblichem Maße sein eigener wissenschaftlich abgesicherter (siehe Seite 46 ff.) Grundgedanke des,immer fliessenden und zerfliessenden Werdens' beigetragen hat. (Vgl. dazu, was Nietzsche in H L 1, 3 / 1 , 246, anmerkt: „ D e n k t euch das äusserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt
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Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen" wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler Heraklits zuletzt kaum mehr wagen den Finger zu heben.") „Ars longa, vita et scientia breves" — gemäß diesem Spruch soll nun die Kunst die fatalen Folgen abwenden, die jener Gedanke f ü r das Zeitempfinden und damit f ü r das Lebensverhalten der Menschen nach sich zieht. Dies geschieht im Gedanken der ewigen Wiederkunft, so zwar, daß in ihm Wissenschaft und Kunst in der Form der mechanistischen und platonischen Denkweise zu einem Ausgleich kommen, nämlich einander widerstreitend sich in ihre höchsten Möglichkeiten treiben: In reinster Form ist in jener Lehre Nietzsches denkerische Grundfigur des Streites verkörpert, so daß man vielleicht in dieser Hinsicht den Wiederkunftsgedanken als den Grundgedanken der Nietzscheschen Spätphilosophie bezeichnen kann. Unmittelbar nach dem Aufkommen dieses Gedankens, im Frühjahr—Herbst 1881, notiert sich Nietzsche (V 11 [159], 5 / 2 , 401): „ D r ü c k e n wird das Abbild der Ewigkeit auf u n s e r Leben! Dieser Gedanke enthält mehr als alle Religionen, welche dies Leben als ein flüchtiges verachten und nach einem unbestimmten a n d e r e n Leben hinblicken lehrten." Das will sagen: Verhalten wir uns in der Weise künstlerisch, nämlich schaffend zum in uns leibenden Leben, daß wir ihm den Charakter der Ewigkeit aufprägen, es zum währenden Sein umprägen und d. h. das bestandlose Chaos in eine beständige Form fügen, doch so, daß das Werden in dieser Einverleibung erhalten bleibt — kurze Zeit nach der ersten Aufzeichnung des Wiederkunftsgedankens bemerkt Nietzsche: „ W i r wollen ein Kunstwerk immer wieder erleben! So soll man sein Leben gestalten, daß man vor seinen einzelnen Theilen denselben Wunsch hat! Dies der H a u p t g e d a n k e ! " (Frühjahr—Herbst 1881, V 11 [165], 5/2, 403) W e n n wir aber unser Leben so leben, daß wir es jederzeit wieder wollen können, bekommt es das Schwergewicht zurück, das es mit dem Vergehen der Metaphysik verloren hat. Denn dann eröffnet sich mitten in der Zeit sinnvolle Ewigkeit — ,,[u]nd gerade nur so viel ist ein Volk — wie übrigens auch ein Mensch — werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag", heißt es schon in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " (23, 3 / 1 , 144) programmatisch —, so daß das Leben nicht mehr wie in den überkommenen Religionen und metaphysischen Systemen dadurch nichtig gesetzt wird, daß die Ewigkeit jenseits der Zeit angesiedelt ist. Indes muß gesehen werden, daß Nietzsches Gedanke jenen metaphysischen Ansatz in mehrfacher Weise beerbt. Zum einen darin, daß er — worauf Heidegger und Fink hingewiesen haben — „noch an der antiken Grundvorstellung vom Sein als dem Ständigen festhält" (Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 101), des weiteren darin, daß in ihm — auch darauf hat Heidegger, wie gesehen, aufmerksam gemacht — in höchst vergeistigter Form der metaphysische Geist der Rache, nämlich „des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ,Es war' ", fortlebt (vgl. dagegen: Wolfgang Müller-Lauter, Der Geist der Rache und die ewige Wiederkehr. Zu Heideggers später Nietzsche-Interpretation, a. a. O., hier vor allem: S. 104 f.), und daß er schließlich, was damit zusammenhängt, den Charakter einer religionsmäßigen Lehre beansprucht: Als das größte Schwergewicht wird der Wiederkunftsgedanke nichts anderes sein als die „Religion der Religionen" (GA 12, 415; vgl. dazu: Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensätze, a . a . O . , S. 143). So daß sich erneut die ,,[i]nnerste Verwandtschaft der P h i l o s o p h e n und der R e l i g i o n s s t i f t e r " bezeugt und Nietzsches eigene Skepsis sich als unbegründet erweisen könnte, daß es nach der „Kritik der reinen V e r n u n f t " „ u n w a h r s c h e i n l i c h " sei, „ d a ß einer f ü r sein in das Vacuum hineingestelltes mythisches Gebäude G l a u b e n e r w e c k t , d . h . daß er einem außerordentlichen Bedürfnisse entspricht." (Siehe dazu: S. 151) Als ein Bild vom Ganzen der Welt ist dieser Gedanke im Sinne der „Geburt der T r a g ö d i e " ein Mythos, der „eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab[schliesst]", indem er ihren H o r i z o n t umstellt, ein Mythos, der der Kultur der Gegenwart ihre verlorengegangene „ g e s u n d e f . . . ] schöpferische[... ] N a t u r k r a f t " wiedergeben soll ( G T 2 3 , 3 / 1 , 141). Mythos aber ist er ein neuer Glaube: „seine nächste Wirkung ist ein Ersatz f ü r den Unsterblichkeitsglauben: er mehrt den guten Willen zum Leben?", gibt
Anmerkungen 819 bis 828 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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Nietzsche im Herbst 1883 zu bedenken (VII 16 [63], 7 / 1 , 546 f., hier: S. 547). Derweise wäre er eine Lebensnotwendigkeit — vorläufig zumindest, denn Nietzsche weiß: „es kann ein Glaube Lebensbedingung und t r o t z d e m f a l s c h sein." (Juni—Juli 1885, VII 38 [3], 7 / 3 , 325 f., hier: S. 326) Vorderhand aber stellt er auch wissenschaftlich gesehen eine Denknotwendigkeit dar, woraus sich das Pathos der Gewißheit erklärt, mit dem Nietzsche diesen Gedanken vorträgt: „Meine Lehre sagt: s o leben, daß du w ü n s c h e n mußt, wieder zu leben ist die Aufgabe — du wirst es j e d e n f a l l s ! " (Frühjahr—Herbst 1881, V 11 [163], 5 / 2 , 402 f., hier: S. 403). Und nur weil er wissenschaftlich abgesichert ist, kann ihm Nietzsche den Glaubenscharakter zubilligen, ist doch jeder Glaube f ü r ihn „ein F ü r - w a h r - h a l t e n " (Herbst 1887, VIII 9 [41], 8/2, 18). So sieht Nietzsche den Wiederkunftsgedanken im doppelten Sinne als einen Glauben an: zum einen in dem überkommenen religiösen Sinne, zum anderen in dem speziellen Sinne seines eigenen Wahrheitsbegriffes. Dieser aber stellt jenen Gedanken in einen Raum des Zweifels: „Vielleicht ist er nicht wahr: — mögen Andere mit ihm ringen!", schließt Nietzsche die schon zitierte Aufzeichnung vom Herbst 1883. Von diesem Wahrheitsbegriff her gesehen kann dem Gedanken, wie wir wissen, bestenfalls der Charakter der Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit zugesprochen werden. D o c h : „ W e n n die Kreis-Wiederholung auch nur eine Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit ist, auch der G e d a n k e e i n e r M ö g l i c h k e i t kann uns erschüttern und umgestalten, nicht nur Empfindungen oder bestimmte Erwartungen! Wie hat die M ö g l i c h k e i t der ewigen Verdammniß gewirkt!", so Nietzsche schon kurz nach der ersten Vision dieses Gedankens im Frühjahr—Herbst 1881 (V 11 [204], 5/2, 421 f.). In bezug auf die tiefste uns zugängliche Schicht des reinen Werdens bedeutet dieser Gedanke indes noch weniger, nämlich nicht mehr als einen Irrtum. In bezug auf sie ist „ j e d e r Glaube, jedes Für-wahr-halten nothwendig falsch", weil es von ihr her gesehen „ e i n e w a h r e W e l t g a r n i c h t g i e b t " . Auch dieser Gedanke ist „ein p e r s p e k t i v i s c h e r S c h e i n , dessen H e r k u n f t in uns liegt (insofern wir eine engere, verkürzte, vereinfachte Welt fortwährend n ö t h i g h a b e n ) " (Herbst 1887, VIII 9 [41], 8/2, 18). Er ist somit ein Irrtum im Dienst des Lebens und damit auch im Dienst des Erkennens und zwar ein solcher, mit dem wir, wie Nietzsche hofft, auf das Ganze gesehen ,,[d]em Dasein eine ästhetische Bedeutung geben, u n s e r e n G e s c h m a c k a n i h m mehren". 820 821
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H L 6, 3 / 1 , 286. H L 6, 3 / 1 , 290: „Also: Geschichte schreibt der Erfahrene und Ueberlegene. W e r nicht Einiges grösser und höher erlebt hat als Alle, wird auch nichts Grosses und H o h e s aus der Vergangenheit zu deuten wissen.", ist eine euphemistische Beschreibung dieses Sachverhaltes. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [123], 3/4, 47. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [125], 3/4, 47. G T 24, 3 / 1 , 147. G T , V o r w o r t an Richard Wagner, 3 / 1 , 20. September 1870—Januar 1871, III 5 [32], 3 / 3 , 105. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [50], 3 / 4 , 23 f., hier: S. 23. Vgl. auch die nachfolgende Aufzeichnung vom September 1870—Januar 1871, III 5 [91], 3/3, 121: „ W e n n man die Wahnvorstellung sich als solche auflöst, so muß der Wille — w e n n a n d e r s er unser Fortbestehen will — eine n e u e schaffen. B i l d u n g ist ein fortwährendes Wechseln von Wahnvorstellungen zu den edleren hin, d. h. unsre ,Motive' im Denken werden immer geistigere, einer größeren Allgemeinheit angehörige. Das Ziel der .Menschheit' ist das Äußerste, was uns der Wille als Phantom bieten kann. Im Grunde ändert sich nichts. Der Wille thut seine Nothwendigkeit und die Vorstellung sucht das universell besorgte Wesen des Willens zu erreichen. In dem Denken an das Wohl größerer Organismen, als das Individuum ist, liegt die Bildung." G T 5, 3 / 1 , 43.
456 829
Anmerkungen 829 bis 849 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
Ende 1870, III 6 [3], 3/3, 135 f., hier: S. 136: „ D e r Genius hat die Kraft, die Welt mit einem neuen Illusionsnetze zu umhängen: die Erziehung zum Genius heißt das Illusionsnetz nothwendig zu machen, durch eifrige Betrachtung des Widerspruchs." 830 H L 7, 3/1, 292. « ι September 1870—Januar 1871, III 5 [35], 3/3, 106. 832 Siehe Anm. 827. 833 H L 6, 3 / 1 , 286. 834 Ebd. 83 5 Ebd. 836 H a n s Martin Klinkenberg. D e r Kulturbegriff Nietzsches, a. a. O., S. 336. 837 September 1870—Januar 1871, III 5 [33], 3 / 3 , 105 f., hier: S. 106. 838 Hans Blumenberg schreibt in seinem Aufsatz „ N a c h a h m u n g der N a t u r " (a. a. O., S. 65) über Piatons Begriff der μίμησις: „ Z w a r gebraucht Plato den Ausdruck .Nachahmung' durcheinander und füreinander mit dem der ,Teilhabe', oft f ü r ein und denselben Sachverhalt; aber es ist doch deutlich zu erkennen, daß μέθεξις ein positives Vorzeichen hat, während μίμησις eher die Negativität der Differenz zwischen Urbild und Abbild, den Defekt des phänomenalen gegenüber dem idealen Sein akzentuiert. N a c h a h m u n g heißt eben: das Nachgeahmte selbst nicht sein." 839 Aristoteles, Poetik, griechisch-deutsch, übersetzt von Walter Schönherr, Leipzig 1979, Kap. 9, 1451b: ά λ λ ά τ ο ύ τ ω διαφέρει, τ φ τ ό ν μ έ ν τ ά γ ε ν ό μ ε ν α λέγειν, τ ό ν δέ ο ί α ά ν γένοιτο, διό κ α ι φ ι λ ο σ ο φ ώ τ ε ρ ο ν και σ π ο υ δ α ι ό τ έ ρ ο ν ποίεσις ι σ τ ο ρ ί α ς εστίν, ή μέν γ ά ρ π ο ί η σ ι ς μ ά λ λ ο ν τ ά κ α θ ό λ ο υ , ή δ'Ιστορία τ ά καθ' έ κ α σ τ ο ν λέγει. 840 Ε. Chr. Schröder, Die Selbstaufhebung der Moral im Vollendungsstadium der Metaphysik bei Nietzsche, Phil. Diss. Köln 1953, masch.-schriftl., S . 2 0 5 f . 841 W L 1, 3 / 1 , 375. 842 Frühjahr 1871, III 12 [1], 3 / 3 , 375—387, hier: S.378. 843 Ebd., S. 379. 844 D W 4, 3 / 2 , 64. 845 Wie Anm. 842, hier: S. 379. 846 Wie Anm. 844. 847 Bereits Anfang 1874—Frühjahr 1874 (III 32 [52], 3 / 4 , 385) ist hingegen zu lesen: „Überdies ist unendlich viel Conventionelles an allen Gebärden — der völlig freie Mensch ist ein Phantasma." Ebenso dann wieder, nach der Lösung von Wagner, Frühling—Sommer 1877 (IV 22 [76], 4 / 2 , 486): „Wie es f ü r den Menschen keine absolut menschlichen Gebärden giebt, sondern sie immer der Symbolik einer bestimmten Culturstufe, eines Volksthums, eines Standes eignen müssen, so giebt es bei keiner Kunst eine absolute Form." Entsprechend spricht er in der jetzt gewonnenen Perspektive einer „Chemie der Begriffe und Empfindungen" der Musik ab, „als u n m i t t e l b a r e Sprache des Gefühls" gelten zu dürfen: „An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom .Willen', vom ,Dinge an sich'; das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter wähnen, welches den ganzen U m f a n g des inneren Lebens f ü r die musicalische Symbolik erobert hatte." (ΜΑ I 4, Aph. 215, 4 / 2 , 177.) 848 4 ; 3 / 2 , 64. Noch im Frühjahr 1888 (VIII 14 [119], 8/3, 88—91) gibt Nietzsche über den von einem „Uberreichthum von M i t t h e i l u n g s m i t t e l n , zugleich mit einer extremen E m p f ä n g l i c h k e i t f ü r Reize und Zeichen" gezeichneten ästhetischen Zustand des Rausches zu bedenken: „die Sprachen haben hier ihren Entstehungsherd: die Tonsprachen, sogut als die Gebärden- und Blicksprachen. Das vollere Phänomen ist immer der Anfang: unsere Culturmensch-Vermögen sind subtrahirte aus volleren Vermögen. Aber auch heute hört man noch mit den Muskeln, man liest selbst noch mit den Muskeln. [ . . . ] Man theilt sich nie Gedanken mit, man theilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin z u r ü c k g e l e s e n werden..." (ebd., S. 88 f.). Vgl. dazu auch: ΜΑ I 4, Aph. 216, 4 / 2 , 178 f. 849 D W 4, 3 / 2 , 67.
Anmerkungen 850 bis 868 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 850
457
BAW 3, 351: „Parallele zwischen Sprache und Musik. Die Sprache besteht auch aus Lauten wie die M u s i k . / / D i e Interjektion und das W o r t . / / E r s t e r e s schon musikalisch." 851 Richard Wagner, O p e r und Drama, S. 218 ff. 852 MusA 5, 467—470, hier: S.470. 853 D W 4, 3/2, 67. 854 Vgl. (Ueber das Wesen der Musik), Oktober 1862, BAW 2, 114: „ D u r c h die Sprachwissenschaft finden wir, daß je älter eine Sprache umso tonreicher sie ist, ja daß man oft die Sprache vom Gesang nicht unterscheiden kann. Die ältesten Sprachen waren auch mehr wortärmer, die allgemeinen Begriffe fehlten, es waren die Leidenschaften, die Bedürfnisse und Gefühle, die in dem T o n ihren Ausdruck fanden. Man kann fast behaupten, daß sie weniger Wortsprache als Gefühlssprache waren, jedenfalls bildeten die Gefühle die Töne und Worte, bei jedem Volk nach seiner Individualität; das wallende Gefühl brachte den Rythmus. Allmählich trennte sich die Sprache von der Tonsprache," (das Zitat genau so). 855 Wie Anm. 842, hier: S. 379. 856 D W 4, 3 / 2 , 67. 857 Ebd., S. 68, wo der „Wille" als Metaphysicum ausgegeben wird. 858 Mit der Hervorhebung des „ u n d " pointiert Nietzsche eine Differenz zu der in „ O p e r und D r a m a " entfalteten, auf der Theorie vom Ursprung der Sprachwurzeln aus der Melodie basierenden Theorie vom Stabreime, der ,,urälteste[n] Eigenschaft aller dichterischen Sprache". Danach werden „die verwandten Sprachwurzeln in der Weise zueinander gefügt, daß sie, wie sie sich dem sinnlichen Gehöre als ähnlich lautend darstellen, auch ähnliche Gegenstände zu einem Gesamtbilde von ihnen verbinden" (Oper und Drama, S. 221), so zwar, daß sich der Konsonant — mit dem das Gefühl die äußeren Gegenstände „auf eine dem Eindrucke des Gegenstandes entsprechende, diesen Eindruck ihm vergegenwärtigende Weise" „nach ihrer Unterscheidung selbst" bezeichnet (S. 220) — „dem ,Auge' des Gehöres" (S. 267) darstellt, wohingegen sich der Vokal — „der tönende Laut der reinen Gefühlssprache" (S. 219) — „dem ,Ohre' des Gehöres selbst" mitteilt (S. 267). 859 Wie Anm. 842, hier: S. 379 f. Von hier aus eröffnet sich eine neue Möglichkeit des Verständnisses, warum Nietzsche seine späten Gedichte „Dionysos-Dithyramben" genannt hat. 860 V o m Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 467. «61 D W 4, 3/2, 68. 862 V o m Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 470. 863 Carl Wilhelm Ludwig Heyse, System der Sprachwissenschaft, Berlin 1856, S. 62. Hier zitiert nach: Meijers, Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche, a. a. O., S. 3, Anm. 5. 8 4 III 19 [329], 3 / 4 , 108. 865 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [278], 3 / 4 , 94: „ D e r feste Punkt, um den sich das griechische Volk krystallisirt, ist seine S p r a c h e . / / D e r feste Punkt, an dem seine Kultur sich krystallisirt, ist H o m e r . / / A l s o beidemal sind es Kunstwerke." 866 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [310], 3 / 4 , 101. 867 III 23 [14], 3/4, 140 f., hier: S. 141. 868 So verkündet Nietzsche in einer dem Umkreis der 1. Unzeitgemässen Betrachtung zugehörigen Aufzeichnung vom Frühjahr 1873 (III 26 [16], 3 / 4 , 183—186), in der er vor den schlimmen Folgen warnt, die der militärische Sieg über Frankreich f ü r die deutsche Kultur haben kann — neben der Gefahr der Überschätzung der eigenen Kultur, die sich in diesem Sieg als überlegen erwiesen haben soll, ist dies in seinen Augen vor allem eine noch weiter zunehmende Durchdringung mit ausländischen Sitten und Gebräuchen: „In dieser N o t h halte ich mich an die deutsche Sprache, die wahrhaftig bis jetzt allein sich durchgerettet hat, durch all die Mischung von Nationalitäten und Wechsel der Zeiten und Sitten, und meine, daß ein metaphysischer Zauber, Einheiten aus Vielheiten, Einartiges aus Vielartigem zu gebären, in der Sprache liegen müsse. Eben deshalb müssen wir die strengsten Wächter über diese unificirende, unsre zukünftige Deutschheit verbürgende
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Anmerkungen 868 bis 888 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Sprache setzen. Unsere großen Autoren haben ein heiliges Amt, als Wächter dieser Sprache; und unsere deutsche Schule hat eine fruchtbare ernste Aufgabe, unter den Augen solcher Wächter zur deutschen Sprache zu erziehen." (Ebd., S. 184 f.) Wenn indes solche Schriftsteller wie David Friedrich Strauß als große Autoren gelten, kann es, so Nietzsche, um den Zustand und die Z u k u n f t der deutschen Kultur nicht zum besten stehen. Ende 1870—April 1871, III 7 [23], 3/3, 149 f., hier: S. 150. Ende 1874, III 37 [6], 3 / 4 , 455 f., hier: S. 456. Ebd., S. 455. W L 1, 3 / 2 , 371. Wie Anm. 870, S. 456. F W 370, 5 / 2 , 301—304, hier: S. 303. Frühjahr 1888, VIII 14 [47], 8/3, 33. Siehe dazu S. 273 ff. Wie Anm. 870, S. 455. Ebd. S. 456. Ebd., S. 455. 4 / 4 , 275: „nach dem W o r t Valentin Roses in Aristoteles pseudoepigraphus, Leipzig 1863, 717: ,sibi quisque scribit', das Ν schon in seinen Aufzeichnungen vom Herbst 1867—Frühjahr 1868 vielfach kommentiert und zitiert hatte", vgl. etwa: BAW 3, 362 f. (dort auch ein Zitat aus Ralph Waldo Emersons „Versuche (Essays)", übersetzt von G. Fabricius, Hannover 1858, S. 114: „ D e r der f ü r sich selbst schreibt, schreibt f ü r ein unsterbliches Publikum.") sowie BAW 4, 70 f. Als Wahlspruch dann etwa: Bis Anfang März 1875, IV 2 [2], 4 / 1 , 87; V M 167, 4 / 3 , 82. Als Beispiel späterer Zeugnisse kann die nachfolgende Stelle aus einem Brief an Erwin Rohde von Mitte Juli 1882 ( I I I / l , 226 f., hier: S. 226) dienen: „Mihi ipsi scripsi — dabei bleibt es". Eine Kombination seiner beiden Wahlsprüche findet sich in einer Aufzeichnung vom Frühjahr—Herbst 1881 (V 11 [297], 5 / 2 , 453 f., hier: S. 453): „ W e r d e fort und fort, der, der du bist — der Lehrer und Bildner deiner selber! Du bist kein Schriftsteller, du schreibst nur f ü r dich!" Doch macht er dort auch deutlich, daß letzteres nur f ü r die Gegenwart gilt: „ S o bereitest du dich auf die Zeit vor, w o du sprechen mußt! Vielleicht daß du dich dann des Sprechens schämst, wie du dich mitunter des Schreibens geschämt hast, daß es noch nöthig ist, sich zu interpretiren, daß Handlungen und Nicht-Handlungen nicht genügen, dich m i t ζ u t h e i 1 e η . Ja, du willst dich mittheilen! Es kommt einst die Gesittung, wo viel-Lesen zum schlechten T o n e gehört: dann wirst du auch dich nicht mehr schämen müssen, gelesen zu werden; während jetzt jeder, der dich als Schriftsteller anspricht, dich beleidigt".
880 i n | 9 [131], 3/4, 48 f. D e r Untertitel lautet: „Ein Fragment aus der Geschichte der Nachwelt." 881
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E H , W a r u m ich so klug bin 7, 6 / 3 , 289. Die letzte Strophe lautet: „Meine Seele, ein Saitenspiel,/sang sich, unsichtbar berührt,/heimlich ein Gondellied dazu,/zitternd vor bunter Seligkeit./— H ö r t e Jemand ihr zu?..." Ende 1874, III 37 [6], 3/4, 455 f., hier: S.455. Frühjahr—Sommer 1883, VII 7 [173], 7 / 1 , 306. W B 5, 4 / 1 , 27. III 8 [29], 3 / 3 , 242 f., hier: S. 242. Vgl. Sommer—Herbst 1882, VII 3 [1] 296, 7 / 1 , 89: „ D a s Verständlichste an der Sprache ist nicht das W o r t selber, sondern T o n , Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden — kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht g e s c h r i e b e n werden kann. Deshalb ist es nichts mit Schriftstellerei." III 9 [128], 3/3, 333. So Friedrich A. Kittler im Nietzsche-Kapitel seiner Arbeit über „Aufschreibesysteme 1800/1900", München 1985, S. 183 ff. D e r Begriff des Gleichnisses spielt in Nietzsches frühen Schriften eine bedeutsame Rolle. Wie „Symbol" oder „ M e t a p h e r " bezeichnet auch er „die Übertragung eines Dinges in eine ganz verschiedene Sphaere" (Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [20], 3 / 3 , 66).
Anmerkungen 888 bis 910 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
459
Gleichnisse in diesem Wortsinne sind f ü r Nietzsche alle Erscheinungen, insofern sie auf den „Willen" oder das „ W e r d e n " als ihren „ G r u n d " zu beziehen sind, der an ihnen gleichnishaft zum Vorschein kommt ( D W 1, 3 / 2 , 49: „Jedes Individuum kann als Gleichniß, gleichsam als ein einzelner Fall f ü r eine allgemeine Regel, dienen"); sich auch anders als in solch gleichnishafter Weise gar nicht fassen läßt: was meint, daß die Sphäre des Dionysischen überhaupt nur in apollinischen (Traum-)Gleichnissen gedacht werden kann — auch das „Dionysische" ist, wie wir noch sehen werden, ein solches Gleichnis. Das am wenigsten gleichnishafte Gleichnis dieser Sphäre stellt — aus bereits erwähnten Gründen — die Musik dar, als welche nämlich zu dem f ü r eine Hinblicknahme auf das Dionysische notwendigen „Depotenziren des Scheins zum Schein" ( G T 4, 3 / 1 , 35) auffordert: „die Musik reizt zum g l e i c h n i s s a r t i g e n A n s c h a u e n der dionysischen Allgemeinheit, die Musik lässt sodann das gleichnissartige Bild i n höchster B e d e u t s a m k e i t hervortreten." ( G T 16, 3 / 1 , 103) Das Gleichnis der Sprache ist somit gegenüber jener Sphäre des Dionysischen in ihren Signifikaten gleichnishafter als in ihren Signifikanten. Hinsichtlich der Sphäre der Erscheinungen, der Sphäre des Apollinischen, kann die Sprache indes darum nicht als Gleichnis bezeichnet werden, weil sie die Erscheinungen allererst vorstellend herstellt, und sei dies auch nur in der Form der rein bildlich verfaßten, erst nachträglich verlautbarten Metapher. Anderes kann nach Nietzsches Ansatz nur derjenige meinen, der von an sich bestehenden Erscheinungen ausgeht, die in der Sprache bloß abzubilden sind. 889
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D a ß der Mensch, auch wenn mit dem Entschwinden des göttlichen Logos nunmehr alles Sprechen sinnlos geworden, weil seines Resonanzraumes verlustig gegangen ist, fortsprechen muß, will er nicht von seinem Wesen als ζ φ ο ν λ ό γ ο ν έ χ ο ν abfallen und zum stummen Naturwesen degenerieren — das spricht Nietzsche, wie wir in Anmerkung 418 gezeigt haben, in jenem unendlich schwermütigen Aphorismus 423 der „ M o r g e n r ö t h e " aus. 1871, III 9 [125], 3/3, 332. W L 1, 3 / 2 , 380. III 3 [81], 3/3, 81 f., hier: S. 82. D W 4, 3 / 2 , 68. W L 1, 3 / 2 , 373. Vgl. auch Arthur Schopenhauer, W a W II, 89 f. W L 1, 3 / 2 , 375 f. In der Vorstufe zu „Ueber Wahrheit und Lüge" heißt es am Ende des 1. Abschnittes (KSA 14, S. 114): „Jeder Begriff, also eine Metapher ohne Inhalt". Vgl. zu dieser Fragestellung folgende in MusA 2, 29 abgedruckte Aufzeichnung zur Antrittsvorlesung „ H o m e r als classischer Philologe": „ D e r Philologe liest noch Worte, wir Modernen nur noch Gedanken." P H G 12, 3 / 2 , 343. W L 2, 3 / 2 , 380. W L 1, 3 / 2 , 377. P H G 11, 3 / 2 , 340. G T 15, 3 / 1 , 95. G T 18, 3 / 1 , 115. Vgl. eine Aufzeichnung vom Sommer 1872—Anfang 1873 (III 19 [283], 3 / 4 , 95), in der Nietzsche „Die Faktoren der jetzigen C u l t u r . " auflistet und als Punkt 9 notiert: „Schreiben, nicht Sprechen." Ende 1874, III 37 [4], 3 / 4 , 453 f., hier: S. 453. W L 1, 3 / 2 , 377. Ebd., S. 378. Ebd. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [236], 3 / 4 , 81 f., hier: S. 82. H L 1, 3 / 1 , 246.
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Anmerkungen 911 bis 917 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Za rV, Das Lied der Schwermuth 3, 6 / 1 , 367—370, hier: S. 370, sowie D D , N u r N a r r ! N u r Dichter!, 6 / 3 , 375—378, hier: S.378. Das W o r t „Auseinandersetzung" ist, wie wir noch zeigen werden, im Sinne des Nietzschesch-Heraklitischen πόλεμος-Begriffes als „Aus-einander-setzung" zu verstehen. H L 10, 3 / 1 , 324 f. Ende 1874, III 37 [8], 3 / 4 , 458: „ M a n denke, (was für) ein complicirtes Wesen der Mensch ist: wie unendlich schwer f ü r ihn, sich wirklich a u s z u d r ü c k e n ! Die meisten Menschen bleiben eben in sich kleben und können nicht heraus, das ist aber Sklaverei. Sprechen- und Schreibenkönnen heisst freiwerden: zugegeben dass nicht immer das Beste dabei herauskommt; aber es ist gut, dass es sichtbar wird, dass es W o r t und Farbe findet. Barbar ist einer, der sich nicht ausdrücken kann, der sklavenhaft plappert." Siehe dazu Anm. 90. O p e r und Drama, S. 225 f.: „In der modernen Prosa sprechen wir eine Sprache, die wir mit dem Gefühle nicht verstehen, deren Zusammenhang mit den Gegenständen, die durch ihren Eindruck auf uns die Bildung der Sprachwurzeln nach unserem Vermögen bedang, uns unkenntlich geworden ist; die wir sprechen, wie sie uns von Jugend auf gelehrt wird, nicht aber wie wir sie bei erwachsender Selbständigkeit unseres Gefühles etwa aus uns und den Gegenständen selbst begreifen, nähren und bilden; deren Gebräuchen und auf die Logik des Verstandes begründeten Forderungen wir unbedingt gehorchen müssen, wenn wir uns mitteilen wollen. Diese Sprache beruht vor unserem Gefühle somit auf einer Konvention, die einen bestimmten Zweck hat, nämlich nach einer bestimmten N o r m , in der wir denken und unser Gefühl beherrschen sollen, uns in der Weise verständlich zu machen, daß wir eine Absicht des Verstandes an den Verstand darlegen. Unser Gefühl, das sich in der ursprünglichen Sprache unbewußt ganz von selbst ausdrückte, können wir in dieser Sprache nur beschreiben [ . . . ] Wir können nach unserer innersten Empfindung in dieser Sprache gewissermaßen nicht mitsprechen, denn es ist uns unmöglich, nach dieser Empfindung in ihr zu erfinden; wir können unsere Empfindungen in ihr nur dem Verstände, nicht aber dem zuversichtlich verstehenden Gefühle mitteilen; und ganz folgerichtig suchte sich daher in unserer modernen Entwickelung das Gefühl aus der absoluten Verstandessprache in die absolute Tonsprache, unsere heutige Musik, zu flüchten." SE 4, 4 / 1 , 27 f. In der Vorstufe dieser Passage (Sommer bis Ende September 1875, IV 12 [24], 335—339, hier: S. 336) hat Nietzsche im übrigen später zwischen den Zeilen hinzugefügt: „Wie die antike Welt die Sprache in Rhetorik zuletzt förmlich verbraucht hatte, so ist durch Schreiben und Drucken, durch Litteratur die Sprache erkrankt — die Sprache ein Ding, welches stumpf gemacht werden kann." (4/4, 409) Vgl. dazu Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, S. 78 ff., sowie: ders., Über die Bestimmung der Oper, S. 164 ff. Daß Nietzsche am Gedanken einer Erziehung zu richtigen Empfindungen auch nach seiner Lösung von Wagner festhält, belegt die nachfolgende Aufzeichnung vom Sommer 1880 (V 5 [25], 5 / 1 , 516), in der er allerdings in der neugewonnenen Perspektive eines historischen Philosophierens dessen Vorstellung von einer „natürlichen" Empfindung als unhistorisch verwerfen muß: „Unsere Aufgabe ist, die richtige Empfindung d. h. die welche wahren Dingen und richtigen Urtheilen entspricht zu pflanzen. N i c h t die natürlichen wiederherstellen: denn sie haben nie existirt. Man lasse sich durch das W o r t .natürlich' oder ,wirklich' nicht täuschen! Das bedeutet ,volksthümlich' ,uralt' ,allgemein' — mit der Wahrheit hat es nichts zu thun. N u r auf der Grundlage r i c h t i g e r Empfindungen können die Menschen sich auf die Dauer und auf alle Entfernungen h i n v e r s t e h e n . Dazu bedarf es n e u e r Werthschätzungen. Zunächst eine Kritik und Beseitigung der Alten. Das zu V e r l e r n e n d e ist jetzt die nächste Masse die Arbeit giebt." — Später präzisiert Nietzsche seine oben dargelegten Überlegungen zum Leiden des Menschen an der sprachlichen Konvention. So äußert er im 354. Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft", mit dem auf Schopenhauer anspielenden Titel „ V o m ,Genius der Gattung' " (5/2, 272—275), die schon auf den Willen zur Macht vorausdeutende "Vermuthung [ . . . ] , dass B e w u s s t s e i n ü b e r h a u p t s i c h n u r u n t e r d e m D r u c k d e s M i t t h e i l u n g s - B e d ü r f n i s s e s e n t w i c k e l t h a t , — dass
Anmerkungen 917 bis 926 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
461
es von vornherein nur zwischen Mensch und Mensch (zwischen Befehlenden und Gehorchenden in Sonderheit) nöthig war, nützlich war, und auch nur im Verhältniss zum Grade dieser Nützlichkeit sich entwickelt hat." (273) Er geht dabei von der Beobachtung aus, daß das „bewusste Denken [ . . . ] i n W o r t e n [ g e s c h i e h t ] , d a s h e i s s t i n Μ i t t h e i l u n g s z e i c h e n " (274). Nietzsche schließt daraus, „dass das Bewusstsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und H e e r d e n - N a t u r ist; dass es, wie daraus folgt, auch nur in Bezug auf Gemeinschafts- und Heerden-Nützlichkeit fein entwickelt ist, und dass folglich Jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu v e r s t e h e n , ,sich selbst zu kennen', doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen wird, sein durchschnittliches', — dass unser Gedanke selbst fortwährend durch den Charakter des Bewusstseins — durch den in ihm gebietenden ,Genius der Gattung' — gleichsam m a j o r i s i r t und in die Heerden-Perspektive zurück-übersetzt wird." (Ebd.) Weil aber „die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins ( n i c h t der Vernunft, sondern allein des Sich-bewusst-werdens der Vernunft) [ . . . ] H a n d in H a n d [gehen]" (ebd.), darum kann die Sprache nicht mehr als ein „Heerden-Merkzeichen" (275) sein. So daß sich derjenige, welcher sich gegen jenen „natürlichen, allzunatürlichen progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in's Ahnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte — in's G e m e i n e !" (JGB 268, 6 / 2 , 231 f., hier: S. 232) zur W e h r zu setzen sucht, vor nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten gestellt sieht. Mag es ihm schließlich auch gelingen, sein eigenes Bewußtsein zu individualisieren, so vermag er dies schwerlich anderen mitzuteilen, weil diese seine W o r t e nur gemäß ihren eigenen konventionalisierten Empfindungen verstehen können (ebd., S. 231: „ W o r t e sind Tonzeichen f ü r Begriffe; Begriffe aber sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen f ü r oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfindungen, f ü r Empfindungs-Gruppen. Es genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben W o r t e gebraucht: man muss die selben W o r t e auch f ü r die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss zuletzt seine Erfahrung mit einander g e m e i n haben.") — In einer Aufzeichnung vom Frühjahr—Herbst 1881, aus der Entstehungszeit der „Fröhlichen Wissenschaft" also (V 11 [156], 5 / 2 , 398—400) zeigt Nietzsche, daß in unserer Zeit vor allem die Wissenschaft das Geschäft der Konventionalisierung betreibt: „ I m Grunde ist die Wissenschaft darauf aus, festzustellen, wie d e r M e n s c h — n i c h t das Individuum — zu allen Dingen und zu sich selber empfindet, also die Idiosyncrasie Einzelner und Gruppen auszuscheiden und das b e h a r r e n d e Verhältniß festzustellen. [ . . . ] Die Wissenschaft setzt also den Prozeß nur f o r t , der das Wesen der Gattung c o n s t i t u i r t hat, den Glauben an gewisse Dinge endemisch zu machen und den Nichtglaubenden auszuscheiden und absterben zu lassen. [ . . . ] Es ist der M a s s e n instinkt, der auch in der Erkenntniß waltet" (398 f.). 918
SE 4, 4 / 1 , 28. G T 1, 3 / 1 , 25. 920 Winter 1872—73, III 23 [15], 3/4, 141. 921 III 2 [10], 3 / 3 , 45 f. 922 W L 2, 3 / 2 , 381. 9 " Ebd. 924 Ebd., S. 383. 925 G T 8, 3 / 1 , 56. 926 Vgl. die nachfolgende Selbsteinschätzung des Zarathustra-Dichters in „Ecce h o m o " ( E H , Also sprach Zarathustra 6, 6 / 3 , 341): „Dass ein Goethe, ein Shakespeare nicht einen Augenblick in dieser ungeheuren Leidenschaft und H ö h e zu athmen wissen würde, dass Dante, gegen Zarathustra gehalten, bloss ein Gläubiger ist und nicht Einer, der die Wahrheit erst s c h a f f t , ein w e l t r e g i e r e n d e r Geist, ein Schicksal —, dass die Dichter des Veda Priester sind und nicht einmal würdig, die Schuhsohlen eines Zarathustra zu lösen, das ist Alles das Wenigste und giebt keinen Begriff von der Distanz, von der a z u r n e n Einsamkeit, in der dies W e r k lebt." 919
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Anmerkungen 927 bis 945 zum Abschnitt „Voraussetzungen" Dementgegen hält Eugen Fink trotz der von ihm erkannten Begriffsfeindlichkeit Nietzsches die dichterische Form seines Denkens f ü r defizient: „Die Dichtung wird zur vorläufigen Rettung eines von der Metaphysik sich abstoßenden und zunächst noch spracharmen Weltdenkens" (Nietzsches Philosophie, a . a . O . , S. 180). Es muß mithin in Begriffe überführt werden, um vollgültige Philosophie sein zu können — was bei Eugen Fink geschieht. Gerhard Kaiser weist diese Interpretation, die in ähnlicher Form auch von Karl Löwith (Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, a. a. Ο., S. 21) vertreten wird, zu Recht zurück: „Statt dessen wäre Nietzsche beim W o r t zu nehmen: W e n n die Welt ποίησις ist, ,ein sich selbst gebärendes Kunstwerk' (zit. Fink, ebd. S. 169), dann ist Poesie die einzig angemessene Weise von ihr zu sprechen." (G. K., Wie die Dichter lügen, Dichten und Leben in Nietzsches ersten beiden Dionysos-Dithyramben, in: Nietzsche-Studien 15/1986, S. 186—224, hier: S.221, Anm. 33.) G T 1, 3 / 1 , 21. W L 2, 3/2, 381. W L 1, ebd., S. 369. W L 2, ebd., S. 383. Schon hier sei darauf hingewiesen, daß Nietzsche in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " die Welt als ein Spiel von Werden und Vergehen interpretiert. (Siehe auch Anm. 927.) W L 1, 3/2, 375. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [218], 3 / 4 , 76. Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich, Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik, Berlin 1970, S. 220. Nietzsche im Frühjahr—Sommer 1883 (VII 7 [107], 7 / 1 , 286 f., hier: S. 286) über die Philosophen: wie die Künstler wollen sie „ihren Geschmack an der Welt h e r r s c h e n d m a c h e n — d e s h a l b l e h r e n u n d s c h r e i b e n s i e . " Vgl. auch Anmerkung 466. Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 2 [11], 3 / 3 , 46. Brief vom 20. 10. 1887, III/5, 172 f. — Es ist auffällig, daß f ü r Nietzsche, der so viel über die Verschriftlichung der Sprache und die Bedeutung dieser Verschriftlichung f ü r die „Mnemotechnik" nachgedacht hat, die Aufzeichnung der Musik kein Gegenstand des Nachdenkens geworden ist. Dabei ist der von ihm angesprochene Fort-schritt der Musik über weite Strecken der Musikgeschichte von den Fortschritten in der Notation abhängig gewesen. Im übrigen ist die Musik, im Hinblick auf die Übertragung von Affekten gesehen, wohl eine unmittelbarere Sprache als die Wortsprache, aber sie ist immer noch nicht unmittelbar genug, der H ö r e r hat noch einen Freiraum: „Es ist sonderbar, daß die eigne Empfindung sich so schwer übertragen läßt, und was man dann noch an einer solchen Musik percipirt, o h n e diese meine Empfindung, das weiß Gott.", schreibt er über seine Komposition „Nachklang einer Sylvesternacht" am 31.12. 1871 an Gustav Krug (II/1, 269). SE 3, 3/1, 352. G T 23, 3 / 1 , 141. Ebd. Ebd. D S 1, 3 / 1 , 159. G T 23, 3/1, 141. Ebd., S. 142. G T 23, 3/1, 141 f. im Anschluß an die Darstellung des auf „das mythische Fundament" gegründeten Staates: „ M a n stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen geleiteten Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte, das abstracte Recht, den abstracten Staat: man vergegenwärtige sich das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelte Schweifen der künstlerischen Phantasie: man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmerlich zu nähren verurtheilt ist — das ist die Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gegründeten Sokratismus." In einer Aufzeichnung aus dem Umkreis der „Geburt der T r a g ö d i e " (1871, III 9 [93], 3/3, 319 f., hier: S. 320) bemerkt
Anmerkungen 945 bis 949 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
463
Nietzsche: „Eine Menschheit, die die Welt nur abstrakt, nicht in Symbolen sieht, ist kunstunfähig." Mit gleichem Recht kann man aber auch umgekehrt sagen: Eine Menschheit, die unter dem Druck gesellschaftlicher Konventionen, nämlich dem Zwang zur Begrifflichkeit kunstunfähig geworden ist, kann die Welt nur noch abstrakt erleben, d.h. empfinden: Sofern an ihm unentwegt weitergedichtet wird, ist der Mythos für Nietzsche unmittelbarer Ausdruck der Empfindungen oder Instinkte eines Volkes (siehe etwa: BA III, 3 / 2 , 191; W L 2, 3 / 2 , 381). Nietzsches Klage über den Verlust des Mythos und seine Kritik am Uberhandnehmen der Begrifflichkeit erwachsen mithin aus der einen, schon angesprochenen Erkenntnis, daß der Mensch im herrschenden Sokratismus nur noch abstrakt empfinden kann. Was das in Nietzsches Augen bedeutet, lehrt die nachfolgende Passage aus der 2. Unzeitgemässen Betrachtung ( H L 4, 3 / 1 , 273), in der Nietzsche von einer Bemerkung ausgeht, die er in Franz Grillparzers „Über den Nutzen des Studiums der Geschichte" gefunden hatte (siehe: Sommer—Herbst 1873, III 29 [65], 3 / 4 , 265 f., S. 265, sowie den dazugehörigen Kommentar in K S A 14, 550): „wie verzweifelt klänge der Satz: wir Deutschen empfinden mit Abstraction; wir sind Alle durch die Historie verdorben — ein Satz, der jede Hoffnung auf eine noch kommende nationale Cultur an ihren Wurzeln zerstören würde: denn jede derartige Hoffnung wächst aus dem Glauben an die Aechtheit und Unmittelbarkeit der deutschen Empfindung heraus, aus dem Glauben an die unversehrte Innerlichkeit". 946 947 948 949
H L 7, 3 / 1 , 295. Ebd., S. 295 f. G T 23, 3 / 1 , 143. Daß die Griechen in Nietzsches Augen das Idealbild einer Kultur, als welche ja „die Herschaft der Kunst über das Leben" ( W L 2, 3 / 1 , 383) darstellt, verwirklicht haben, liegt für ihn nicht zuletzt darin begründet, daß sie auch als Exempel „eines mythisch erregten V o l k e s " dienen können: Ihr wacher T a g „ist durch das fortwährend wirkende Wunder, wie es der Mythus animmt, in der T h a t dem Traume ähnlicher als dem T a g des wissenschaftlich ernüchterten Denkers." ( W L 2, 3 / 2 , 381) Mythisch zu leben, heißt aber, eine unhistorische, nämlich künstlerische Stellung zur Geschichte zu beziehen, was ein gewisses Maß an Kraft des Vergessens verlangt: Nur dasjenige wird er-innert, was sich unmittelbar an die Gegenwart anschließt, so zwar, daß es von ihr einverleibt und d. h. handelnd bewältigt werden kann. „Zu allem Handeln gehört Vergessen" ( H L 1 , 3 / 1 , 246) gibt Nietzsche in der Erkenntnis zu bedenken, daß der Mensch allererst ganz bei sich sein muß, um sich wahrhaft ent-schließen zu können, was bedeutet, daß die Zeitekstasen zu höchster Gegenwart zu versammeln sind. In Nietzsches positivistischer Sprache gesprochen: Sicher handeln kann der Mensch nur instinktiv, was allein aus Momenten unhistorischer Unbewußtheit heraus möglich ist. Diese Gedanken geben den Verstehenshintergrund für die folgende Aufzeichnung vom Sommer—Herbst 1873, III 29 [172], 3 / 4 , 3 1 0 - 3 1 2 , hier S. 311 f.): „Es ist gar nichts Unsinniges zu denken, dass das Gedächtniss für die Vergangenheit auch bei uns geringer sei und dass der historische Sinn etwa ebenso schliefe, wie er in der höchsten Akme der Griechen schlief. Bald hinter der Gegenwart begänne das Dunkel: in ihm wandeln schattenhaft unsicher grosse Gestalten ins Ungeheure sich ausdehnend, wirkend auf uns, aber fast wie Heroen, nicht wie gemeine helle Tageswirklichkeit. Alle Tradition wäre jene fast unbewusste der ererbten Charactere: die lebenden Menschen wären, in ihren Handlungen, Beweise, was im Grunde durch sie tradirt werde; mit Fleisch und Blut liefe die Geschichte herum, nicht als vergilbtes Document und als papiernes Gedächtniss. [ . . . ] Ähnlich lebt jetzt noch der Bauer, ähnlich fast jedes grosse Volk der Vergangenheit. Der Hauptgewinn für beide ist und war, dass die gegenwärtige Generation nicht so peinlich vergleicht und sich misst, so dass sie über sich selbst in Unbewusstheit des Urtheils bleiben kann. Sie wird zutrauensvoller zu ihrer Kraft sein, weil ihre Kraft nur durch durch das wirkliche, nicht durch das eingebildete und anerzogene Bedürfniss in Anspruch genommen wird und Kraft und Bedürfniss sich meistens entsprechen. Sie wird vor dem Überdrusse mehr bewahrt bleiben als ein Volk, das historischer und gebildeter ist, als seine Productionskraft auszuhalten vermag. Nicht so oft
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Anmerkungen 949 bis 965 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
irregeführt nach dem unerreichbaren Ziele, zum Ekel gestimmt über das Erreichte, kommt der Mensch zu einer Ruhe, die der Gegensatz der modernen durch und durch historischen Welt und ihrer Hast ist." 950 Siehe d a z u : Ilse Nina Bulhof, op. cit. « ι Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [52], 3/4, 24. 952 Winter 1870/71—Herbst 1872, III 8 [69], 3 / 3 , 259. In der 2. Unzeitgemässen Betrachtung bezeichnet Nietzsche diese Art der Geschichtsschreibung als „Künstlerhistorie" ( H L 2, 3 / 1 , 259), und in der 4. Unzeitgemässen Betrachtung spricht er sie Wagner zu: „Sobald ihn seine bildende Kraft überkommt, wird ihm die Geschichte ein beweglicher T h o n in seiner H a n d ; dann steht er mit einem Mal anders zu ihr als jeder Gelehrte, vielmehr ähnlich wie der Grieche zu seinem Mythus stand, als zu einem Etwas, an dem man formt und dichtet, zwar mit Liebe und einer gewissen scheuen Andacht, aber doch mit dem Hoheitsrecht des Schaffenden. Und gerade weil sie f ü r ihn noch biegsamer und wandelbarer als jeder T r a u m ist, kann er in das einzelne Ereigniss das Typische ganzer Zeiten hineindichten und so eine Wahrheit der Darstellung erreichen, wie sie der Historiker nie erreicht." (WB 3, 4 / 1 , 15). 953 H L 10, 3 / 1 , 326. 954 Siehe dazu: Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, a . a . O . , S. 92 ff. Vgl. auch folgende, längst eingetroffene Prophezeiung Nietzsches vom Sommer 1872—Anfang 1873 (III 19 [21], 3 / 4 , 10 f., hier: S. 11): „Schreckliche Gefahr: daß das amerikanische-politische Getreibe und die haltlose Gelehrtenkultur sich verschmelzen." 955 Sommer—Herbst 1873, III 29 [193], 3/4, 316 f., hier: S.317. Siehe dazu Anm. 819. 956 SE 4, 3 / 1 , 370 f. 957 H L 9, 3/1, 315. 958 III 11 [1], 3 / 3 , 367—373, „ V o r w o r t a n R i c h a r d W a g n e r " , „ L u g a n o am 22 Februar 1 8 7 1 / / a m Geburtstage Schopenhauers." (Für die philologische Einordnung siehe KSA 14, 42.) Das folgende Zitat auf S. 372. 959 Za I, Zarathustra's Vorrede 5, 6 / 1 , 14. 960 In der Vorrede „ D e r griechische Staat" bemerkt Nietzsche: „ D a m i t es einen breiten tiefen und ergiebigen Erdboden f ü r eine Kunstentwicklung gebe, muß die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderzahl, ü b e r das Maaß ihrer individuellen Bedürftigkeit hinaus, der Lebensnoth sklavisch unterworfen sein. Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit soll jene bevorzugte Klasse dem Existenzkampfe entrückt werden, um nun eine neue Welt des Bedürfnisses zu erzeugen und zu befriedigen." Diese an der griechischen Kultur abgelesene, auch von Friedrich August Wolf (siehe: Ende 1870—April 1871, III 7 [79], 3 / 3 , 164) und von Jacob Burckhardt vertretene Auffassung, „ d a ß z u m W e s e n e i n e r Kultur das S k l a v e n t h u m g e h ö r e " — » S i e ist der Geier, der dem prometheischen Förderer der Kultur an der Leber nagt.", schreibt Nietzsche (CV 3, 3 / 2 , 261) —, führt mit zu seiner vehementen Ablehnung aller sozialen T e n d e n z e n : „ H i e r liegt der Quell jenes Ingrimms, den die Kommunisten und Socialisten und auch ihre blasseren Abkömmlinge, die weiße Race der,Liberalen' jeder Zeit gegen die Künste, aber auch gegen das klassische Alterthum genährt haben." (Ebd., S. 261 f.) Mit ihrem Streben nach Verbreiterung sowie nach Verminderung und Abschwächung der Bildung kämpfen sie, wie Nietzsche im 3. Vortrag „Ueber die Z u k u n f t unserer Bildungsanstalten" (BA III, 3 / 2 , 191) in Anknüpfung an romantisches Gedankengut sagt, „gegen die natürliche Rangordnung im Reiche des Intellekts, zerstören sie die Wurzeln jener aus dem Unbewußtsein des Volkes hervorbrechenden höchsten und edelsten Bildungskräfte, die im Gebären des Genius und sodann in der richtigen Erziehung und Pflege desselben ihre mütterliche Bestimmung haben." 96) BA III, 3 / 2 , 192. 962 G T 5, 3 / 1 , 43. 963 SE 4, 3 / 1 , 371. 964 Ende 1886—Frühjahr 1887, VIII 7 [54], 8/1, 320 f., hier: S. 320. Vgl. Anm. 819. 965 Siehe SE 3, 3 / 1 , 351: „Sobald aber Kant anfangen sollte, eine populäre Wirkung auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und zerbröckelnden
Anmerkungen 965 bis 978 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
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Skepticismus und Relativismus gewahr werden; und nur bei den thätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel ausgehalten haben, würde an seiner Stelle jene Erschütterung und Verzweiflung an aller Wahrheit eintreten, wie sie zum Beispiel Heinrich von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte." Nietzsche zitiert dann aus jenem Brief vom 22. 3. 1801, in dem Kant Wilhelmine von Zenge über seine Kant-Lektüre berichtet („Wir können nicht entscheiden, ob das, war wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint. [ . . . ] Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken und ich habe keines mehr."), um anschließend zu fragen: „Ja, wann werden wieder die Menschen dergestalt Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem ,heiligsten Innern' messen?" (Ebd., S. 351 f.) 966 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [125], 3 / 4 , 47. 967 Sommer 1875, IV 9 [1], 4 / 1 , 207—261, hier: S. 235. 968 Vgl. Anm. 387. 9 9 C V 1, 3 / 2 , 251. 970 H L 9, 3 / 1 , 315. Darüber hinaus hält er folgende Lehre bereit, der er selber nachzuleben bestrebt sein sollte: „Die alten Denker suchten mit allen Kräften das Glück und die Wahrheit — und nie soll einer finden was er suchen muss, lautet der böse Grundsatz der Natur. W e r aber Unwahrheit in allem sucht und dem Unglücke sich freiwillig gesellt, dem wird vielleicht ein anderes W u n d e r der Enttäuschung bereitet: etwas Unaussprechbares, von dem Glück und Wahrheit nur götzenhafte Nachbilder sind, naht sich ihm, die Erde verliert ihre Schwere, die Ereignisse und Mächte der Erde werden traumhaft, wie an Sommerabenden breitet sich Verklärung um ihn aus." (SE 4, 3 / 1 , 371.) 971 Sommer 1875, IV 6 [48], 4 / 1 , 191 f., hier: S. 192. 972 So auch noch in F W 110 ( „ U r s p r u n g d e r E r k e n n t n i s s " ; 5 / 2 , 147—149). Nietzsche führt dort aus, der Intellekt habe „ungeheure Zeitstrecken hindurch Nichts als Irrthümer erzeugt; einige davon ergaben sich als nützlich und arterhaltend: wer auf sie stiess, oder sie vererbt bekam, kämpfte seinen Kampf f ü r sich und seinen Nachwuchs mit grösserem Glücke." Die „feinere Redlichkeit und Skepsis hatte überall dort ihre Entstehung, wo zwei entgegengesetzte Sätze auf das Leben a n w e n d b a r erscheinen, weil sich beide mit den Grundirrthümern vertrugen, wo also über den höheren oder geringeren Grad des N u t z e n s f ü r das Leben gestritten werden konnte; ebenfalls dort, w o neue Sätze sich dem Leben zwar nicht nützlich, aber wenigstens auch nicht schädlich zeigten, als Aeusserungen eines intellectuellen Spieltriebes, und unschuldig und glücklich gleich allem Spiele." Doch erst dann, wenn „der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht b e w i e s e n hat", kämpfen im Denker „Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Irrthümer ihren ersten Kampf". Nietzsche schließt: „ I m Verhältniss zu der Wichtigkeit dieses Kampfes ist alles Andere gleichgültig: die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt, und der erste Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? — das ist die Frage, das ist das Experiment." 973 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [76], 3 / 4 , 32. 974 Sommer 1872—Anfang 1873, III 21 [11], 3 / 4 , 117: „An Sokrates alles falsch — die Begriffe sind nicht fest,/auch nicht wichtig, / / d a s Wissen ist nicht der Quell/des Rechten, und überhaupt/nicht f r u c h t b a r , / / d i e Kultur verneinend." 975 Zur Erinnerung: Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [91], 3 / 3 , 62: „ D e r Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es allerdings, daß die nächste Wirkung die von kleinen Dosen Opium ist: Steigerung der Weltbejahung." 976 C V 1, 3/2, 254. — Das Bild ist, worauf Nietzsche selber in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " aufmerksam macht ( G T 18, 3/1, 114), Schopenhauers H a u p t w e r k entnommen (siehe: W a W I, 568). 977 G T 7, 3 / 1 , 53. 978 Nietzsche selbst spricht diese mit dem Streben nach Wahrhaftigkeit einhergehende Notwendigkeit der Selbsttäuschung, der „Kunst", an, wenn er in der aus dem Jahre 1881
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Anmerkungen 978 bis 1004 zum Abschnitt „Voraussetzungen" stammenden Vorrede zur zweiten Auflage von „Menschliches, Allzumenschliches", Teil 1, jenen (imaginären) Kritikern, die ihm seine frühen Irrtümer über Schopenhauer und Wagner, über die Griechen und die Deutschen vorhalten (könnten), folgendes entgegnet: „was wisst i h r davon, was k ö n n t e t ihr davon wissen, wie viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere O b h u t in solchem Selbst-Betrüge enthalten ist, — und wie viel Falschheit mir noch n o t h t h u t , damit ich mir immer wieder den Luxus m e i n e r Wahrhaftigkeit gestatten darf?... Genug, ich lebe noch; und das Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es w i l l Täuschung es l e b t von der Täuschung..." (4/2, 8).
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C V 1, 3 / 2 , 254. 980 Vgl s . 145 f. In Anm. 259 haben wir darauf hingewiesen, daß Nietzsche später zwischen einem schöpferischen Leiden an der Uberfülle und einem schöpferischen Leiden an der Verarmung des Lebens unterscheidet und daß er ersteres dem Pessimismus der Stärke, dem dionysischen Pessimismus, letzteres aber dem Pessimismus der Schwäche, dem romantischen Pessimismus, zuordnet. 981 SE 3, 3 / 1 , 351. 982 F W 125, 5 / 2 , 158—160. 983 Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [157], 8 / 1 , 123—125, hier: S. 125: „Seit Copernikus rollt der Mensch aus dem Centrum ins x". 984 Siehe: Za IV, Der Nothschrei, 6 / 1 , 298. 985 H L 9, 3 / 1 , 317. 986 Sommer 1876, IV 17 [22], 4 / 2 , 396. 987 Vgl. H L 10, 3 / 1 , 329, w o Nietzsche im Hinblick auf den delphischen Spruch „Erkenne dich selbst" ausführt: „Es gab Jahrhunderte, in denen die Griechen in einer ähnlichen Gefahr sich befanden, in der wir uns befinden, nämlich an der Ueberschwemmung durch das Fremde und Vergangne, an der .Historie' zu Grunde zu gehen. [ . . . ] . Und trotzdem wurde die hellenische Cultur kein Aggregat, D a n k jenem apollinischen Spruche. Die Griechen lernten allmählich das C h a o s z u o r g a n i s i r e n , dadurch dass sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heisst auf ihre ächten Bedürfnisse zurück besannen und die Schein-Bedürfnisse absterben Hessen. So ergriffen sie wieder von sich Besitz". 988 W B 4, 4 / 1 , 25. 989 III 7 [29], 3 / 3 , 153. 990 Vorrede zu ΜΑ II, 4 / 3 , 3—11. 991 Frühjahr—Herbst 1873, III 28 [2], 3 / 4 , 221—223, hier: S.222. 992 III 3 [51], 3/3, 74. 993 Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [127], 8/1, 123—125, hier: S. 125. 994 v g i . etwa SE 4, 3 / 1 , 363 f.: „Wir leben die Periode der Atome, des atomistischen Chaos. Die feindseligen Kräfte wurden im Mittelalter durch die Kirche ungefähr zusammengehalten und durch den starken Druck, welchen sie ausübte, einigermaassen einander assimilirt. Als das Band zerreisst, der D r u c k nachlässt, empört sich eines wider das andre. [ . . . ] jedenfalls befinden wir uns auch jetzt noch im eistreibenden Strome des Mittelalters; es ist aufgethaut und in gewaltige verheerende Bewegung gerathen. Scholle türmt sich auf Scholle, alle Ufer sind überschwemmt und gefährdet. Die Revolution ist gar nicht zu vermeiden und zwar die atomistische". 995 H L 7, 3 / 1 , 298. 996 H L 3, 3 / 1 , 265 bzw. 266. 997 Siehe dazu: ΜΑ II, Vorrede 2, 4 / 3 , 4. 998 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [36], 3 / 4 , 16 f., hier: S. 16. 999 G T , Versuch einer Selbstkritik 13, 3 / 1 , 13. 1000 Vgl. dazu: ΜΑ II, Vorrede 1, 4 / 3 , 4. 1001 G T 25, 3 / 1 , 151. 1002 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [122], 3 / 4 , 106. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [47], 3 / 4 , 22. 1004 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [76], 3 / 4 , 32.
Anmerkungen 1005 bis 1031 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
467
1005
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [321], 3 / 4 , 105. »006 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [322], 3 / 4 , 106. 1007 Winter 1872—73, III 23 [14], 3/4, 140 f., hier: S. 141. Ό08 Ebd., S. 140. 1009 Frühjahr—Herbst 1873, III 28 [2], 3 / 4 , 221—223, hier: S. 222. 1010 A n m . 1007. 1011 Zum ά γ ώ ν als wesentlichem Element des Nietzscheschen Denkens siehe Seite 242 f. ίο»2 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [23], 3/4, 11; das Fragment fährt fort: „ D e r Philosoph soll am stärksten das allgemeine Leid nachempfinden: wie die alten griechischen Philosophen jeder eine N o t h ausdrückt: dort, in die Lücke hinein stellt er sein System." 1013 Anfang 1874—Frühjahr 1874, III 32 [10], 3 / 4 , 370 f. hier: S. 370. 1014 w b 4 ) 4 / 1 , 19. Solches spricht Nietzsche im übrigen auch Schopenhauer zu, siehe Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [321], 3 / 4 , 105 f., hier: S. 105: „Schopenhauer Vereinfacher, räumt die Scholastik auf." 1015 w b 4, 4 / 1 , 19. Vgl. auch: W B 5, 4 / 1 , 26. 1016 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [17], 3 / 4 , 9. 1017 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [23], 3/4, 11. •οι» Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [12], 3/4, 7. 1019 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [51], 3/4, 24. 1020 G T 7, 3 / 1 , 53.
ι 0 2 ' Ende 1870—Anfang 1871, 7 [27], 3/3, 151 — 153, hier: S. 152. i° 2 2 C V 1, 3 / 2 , 254. •° 23 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [145], 3 / 4 , 53. 1024 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [22], 3 / 4 , 11. 1025 Im Frühjahr 1888 liest Nietzsche erneut seine philosophische Erstlingsschrift. Er bemerkt unter anderem: „ D a s Wesentliche an dieser Conception ist der Begriff der Kunst im Verhältniß zum Leben: sie wird, ebenso psychologisch als physiologisch, als das große S t i m u l a n s aufgefaßt, als das, was ewig zum Leben, zum ewigen Leben d r ä n g t . . . " (VIII 14 [23], 8/3, 20). 1026 Ende 1870—April 1871, III 7 [27], 3 / 3 , 151 — 153, hier: S. 152. 1027 Vgl. dazu: Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, a . a . O . , S. 126—135. 1028 W a W I, 253: „Das einzelne, in Gemäßheit des Satzes vom Grunde erscheinende Ding ist also nur eine mittelbare Objektivation des Dinges an sich (welches der Wille ist), zwischen welchem und ihm noch die Idee steht, als die alleinige unmittelbare Objektität des Willens, indem sie keine andere dem Erkennen als solchem eigene Form angenommen hat als die der Vorstellung überhaupt, d. i. des Objektseins f ü r ein Subjekt. Daher ist auch sie allein die möglichst adäquate Objektität des Willens oder Dinges an sich, ist selbst das ganze Ding an sich, nur unter der Form der Vorstellung". Auf die Problematik dieser Ideenlehre hat zuletzt Friedhelm Decher, Wille zum Leben, a. a. O., S. 35—37, aufmerksam gemacht. Er bemerkt zu Recht, daß die Idee aufgrund jener Bestimmungen „ein seltsames Zwischengebilde mit undurchsichtigem ontologischen Status zwischen der Welt der Erscheinungen und dem Willen als dem Ding an sich dar[stellt]." (35) V o r allem erscheine die Ideenlehre als „inkompatibel" „mit seiner dem Pessimismus zugrundeliegenden Lehre vom Willen". Ist dieser in der ihm eigentümlichen Entzweiung mit sich selbst f ü r das Leiden in der Welt verantwortlich, so sollen die mit den Gattungen gleichzusetzenden Ideen den Anblick von Harmonie und Aufeinanderhingeordnetsein bieten. Decher stellt daher die berechtigte Frage, „ob Schopenhauers Ideenlehre nicht eine künstliche Konstruktion darstellt, die durch sachliche Motive kaum zu rechtfertigen ist." (35 f.) 1029 W 1030 W 1031
a W a W
259. 260.
Schopenhauer selber deutet dies an, wenn er über den Willen, als das An-Sich der Subjekt und Objekt zusammenschließenden Idee ausführt, daß er „außer der Vorstellung und allen ihren Formen [ . . . ] einer und derselbe im kontemplierten Objekt und im Individuo [ist], welches sieb an dieser Kontemplation emporschwingend, als reines Subjekt seiner bewußt
Anmerkungen 1031 bis 1049 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
468
wird' ( W a W I, 259; Hervorhebung von mir, T h . B.). Nietzsche ist in diesem Punkt genauer. Das Geschehen des Durchschauens der Erscheinungen der Welt auf den darin erscheinenden Urgrund, d. h. das Geschehen des Erkennens des Scheins als Schein, charakterisiert er „gleichnißweise" so: „es ist etwas Ahnliches, wenn man träumt und zugleich den T r a u m als T r a u m spürt." Der Erkennende muß danach im subjektauflösenden „Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter auf der Lauer liegen. Nicht im Wechsel von Besonnenheit und Rausch, sondern im Nebeneinander" ( D W 1, 3 / 2 , 47 f.), im Streit von Ausständigkeit und Inständigkeit im Selbst vollzieht sich jener Erkenntnisvorgang. 1032 1033
1034 1035
G M III 6, 6 / 2 , 364. So bemerkt Nietzsches Freund Heinrich Romundt in einem Brief vom 16. 2. 1872 über die soeben erschienene Schrift: „Es scheint mir in der That, lieber Freund, daß in Deinem Buche zum ersten Mal der Quell alles Kunstschaffens und alles Kunstgenusses klar aufgedeckt ist. Noch erst kürzlich wieder ist mir deutlich geworden, wie sehr die Ästhetik auch die Schopenhauers darunter leidet, daß sie vom Kenner und nicht vom Künstler ausgeht. Nicht einmal der Genuß der Kunst, geschweige das Schaffen läßt sich aus der Willenslosigkeit des reinen Subjects des Erkennens erklären." (II/2, 547—550, hier: S. 548) In dieser Antithese zur Schopenhauerschen Ästhetik sieht auch Nietzsche selbst eine der bedeutsamsten Leistungen dieses Buches. Im Herbst 1885—Herbst 1886 schreibt er (VIII 2 [110], 8/1, 113 f.): Der „einseitigen Betrachtung Schopenhauer's", „welcher die Kunst nicht vom Künstler aus, sondern vom Empfangenden aus allein zu würdigen versteht: weil sie Befreiung und Erlösung im Genuß des Nicht-Wirklichen mit sich bringt", habe die Artisten-Metaphysik „die Kunst vom Erlebniß des Künstlers aus, entgegengestellt, vor Allem des Musikers: die T o r t u r des Schaffenmüssens, als d i o n y s i s c h e r T r i e b . " d W 2, 3/2, 55 f. Siehe G T 5, 3 / 1 , 39. 2, 3 / 2 , 56. Ebd. Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [3], 3 / 3 , 59. Siehe Seite 131 f. Sommer—Herbst 1873, III 29 [17], 3 / 4 , 240 f. 2, 3 / 2 , 381.
1036 D W
!° 37 1038
i° 3 9 1040
1041 1042
Ebd. Vgl. Frühjahr—Sommer 1875, IV 5 [69], 4 / 1 , 135 f., hier: S. 135: „ D a s l e i b h a f t e E r s c h e i n e n von Göttern, wie bei Sappho's Anrufung der Aphrodite, ist n i c h t als poetische Lizenz zu verstehen, es sind häufige Hallucinationen." 1043 Vgl J i e nachfolgende Passage aus einem Brief, den Nietzsches Lehrer Friedrich Ritsehl am 2.2. 1873 an den Baseler Ratsherrn Wilhelm Vischer geschrieben hat: „Aber unser Nietzsche —! ja das ist wirklich ein recht betrübtes Kapitel, wie ja doch auch Sie — trotz alles Wohlwollens f ü r den trefflichen Mann — in Ihrem Briefe es auffassen. Es ist wundersam, wie in dem Manne geradezu zwei Seelen nebeneinander leben. Einerseits die strengste Methode geschulter wissenschaftlicher Forschung... anderseits diese phantastisch-überschwängliche, übergeistreich ins Unverstehbare überschlagende, Wagner-Schopenhauerische Kunstmysterienreligionsschwärmerei! Denn das ist kaum zu viel gesagt, daß er und seine — ganz unter seinem magischen Einfluß stehenden — Mitadepten Rohde und Romundt im Grunde auf eine neue Religionsstifterei ausgehen." (zitiert nach: Janz 1, S. 511). 1044
2, 3 / 2 , 383.
Ό « Ebd., S. 383 f. 1046 W L 1, 3 / 2 , 375. 1047 GA 19, 389—391, hier: S.391. 1048 Ebd. >°49 Za IV, Das Lied der Schwermuth 3, 6 / 1 , 367—370, hier: S.370; schließlich, leicht verändert, als erster Dionysos-Dithyrambus unter dem Titel „ N u r N a r r ! N u r Dichter!",
Anmerkungen 1049 bis 1063 zum Abschnitt „Voraussetzungen"
469
6 / 3 , 375—378, hier: S. 378, danach das Zitat. Siehe dazu Gerhard Kaisers vorzügliche Interpretation dieses Gedichtes in: G. K., Wie die Dichter lügen, a. a. O., S. 184—206. 1050 h i n t e r 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [3], 3 / 3 , 59. 1051 September 1870—Januar 1871, III 5 [25], 3 / 3 , 102. 1052 Ebd. 1053
September 1870—Januar 1871, III 5 [26], 3 / 3 , 102. Ende 1870—April 1871, III 7 [152], 3 / 3 , 206. Ό » W B 3, 4 / 1 , 17. 1056 W B 4, 4 / 1 , 23. 1057 Ebd., S. 24 f. "Woraus sich seine Feindschaft gegen die moderne — später sagt er dazu: decadencehafte — Kunst erklärt, insofern diese nämlich ihre Aufgabe in einer — vom Publikum erwünschten — „künstlich erzeugten A u f r e g u n g " findet: „Als ob man sich fürchtete, an sich selber durch Ekel und Stumpfheit zu Grunde zu gehen, ruft man alle bösen Dämonen auf, um sich durch diese Jäger wie ein Wild treiben zu lassen: man lechzt nach Leiden, Zorn, Hass, Erhitzung, plötzlichem Schrecken, athemloser Spannung und ruft den Künstler herbei als den Beschwörer dieser Geisterjagd." (WB 5, 4 / 1 , 32). 1058 VII 25 [505], 7 / 2 , 142 f. 1059 i n 19 [322], 3/4, 106. Vgl. zu der folgenden Erklärung dieses Satzes Nietzsches entsprechende Ausführungen in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " über das Wiederaufleben der dionysischen Weisheit in der Gegenwart (Abschnitt 19, 3/1, 124): „ D e n n diesen unausmessbaren Werth behält f ü r uns, die wir an der Grenzscheide zweier verschiedener Daseinsformen stehen, das hellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene Uebergänge und Kämpfe zu einer classisch-belehrenden Form ausgeprägt sind: nur dass wir gleichsam in u m g e k e h r t e r O r d n u n g die grossen Hauptepochen des hellenischen Wesens analogisch durcherleben und zum Beispiel jetzt aus dem alexandrinischen Zeitalter rückwärts zur Periode der Tragödie zu schreiten scheinen." 1054
1060
i° 61 1062 1063
Siehe E H , Die Geburt der Tragödie 3, 6 / 3 , 310 f: „ V o r mir giebt es diese Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos nicht: es fehlt die t r a g i s c h e W e i s h e i t , — ich habe vergebens nach Anzeichen davon selbst bei den g r o s s e n Griechen der Philosophie, denen der zwei Jahrhunderte v o r Sokrates, gesucht. Ein Zweifel blieb mir zurück bei Η e r a k 1 i t , in dessen N ä h e überhaupt mir wärmer, mit wohler zu Muthe wird als irgendwo sonst." III 19 [17], 3 / 4 , 9. I I / l , 189—191, hier: S. 190. 2 / 1 , 247—269, hier: S.268.
Anmerkungen 1
zum Abschnitt „ Übersetzungen - Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik"
Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 20 f. I I / 3 , 44—46, hier: S. 45. Vgl. auch Nietzsches Brief an Ritsehl vom 30. 1. 1872, I I / l , 281 f. 3 So Nietzsche über sich selbst im Entwurf eines Briefes an Sophie Ritsehl am 26.7. 1869 ( I I / l , 29—31, hier: S.30). 4 SE 3, 3 / 1 , 356. 5 Siehe den Brief an Rohde vom 29.3. 1871 ( I I / l , 189—191, hier: S. 189). 6 II/3, 80—83, hier: S. 81 f. 7 G T , Versuch einer Selbstkritik 3, 3 / 1 , 9. 8 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [62], 3 / 4 , 27. 9 Wie Anm. 7. 10 G T 5, 3 / 1 , 39. 11 G T , Versuch einer Selbstkritik 1, 3 / 1 , 5. ' 2 Ebd., S. 5 f. 13 G T , Versuch einer Selbstkritik 3, 3/1, 8. 2
470
Anmerkungen 14 bis 25 zum Abschnitt „Übersetzungen"
G T 21, 3/1, 131. Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich, a. a. O., S. 220. ! Wie Anm. 13. 1 7 Louis Ehlert (1825—1884), Musiklehrer, Komponist und Musikschriftsteller. Das von Nietzsche gelesene Buch ist im Jahre 1859 in Berlin erschienen (3. Auflage 1879) und wurde auch ins Französische und Englische übersetzt. 18 1/2, 297—299, hier: S. 298 f. 1 9 Siehe dazu: G T , Versuch einer Selbstkritik 6 und 7, 3/1, 13—16, sowie: FW 370 („Was ist Romantik?"), 5/2, 301—304. 2 0 Vgl. etwa FW 370, a. a. O., hier: S. 303: „Dergestaltlernte ich allmählich Epikurbegreifen, den Gegensatz eines dionysischen Pessimisten, ebenfalls den ,Christen', der in der That nur eine Art Epikureer und, gleich jenem, wesentlich Romantiker ist". — Daß sich das Wesen der Romantik auf Christentum und Piatonismus zurückführen läßt, hat vor Nietzsche mit am deutlichsten Jean Paul gesehen. Im § 23 seiner „Vorschule für Ästhetik" schreibt der vom Nietzsche als „Verhängniss im Schlafrock" (WS 99, 4/3, 235) bezeichnete Dichter unter der Uberschrift „Quelle der romantischen Poesie": „Ursprung und Charakter der ganzen neueren Poesie läßt sich so leicht aus dem Christentume ableiten, daß man die romantische ebensogut die christliche nennen könnte. Das Christentum vertilgte, wie ein Jüngster Tag, die ganze Sinnenwelt mit allen ihren Reizen, drückte sie zu einem Grabeshügel, zu einer Himmels-Staffel zusammen und setzte eine neue Geister-Welt an die Stelle. Die Dämonologie wurde die eigentliche Mythologie der Körperwelt, und Teufel als Verführer zogen in Menschen und Götterstatuen; alle Erden-Gegenwart war zu Himmels-Zukunft verflüchtigt. Was blieb nun dem poetischen Geiste nach diesem Einstürze der äußern Welt noch übrig? — Die, worin sie einstürzte, die innere. Der Geist stieg in sich und seine Nacht und sah Geister. Da aber die Endlichkeit nur an Körpern haftet und da in Geistern alles unendlich ist oder ungeendigt: so blühte in der Poesie das Reich des Unendlichen über der Brandstätte der Endlichkeit auf. [ . . . ] statt der griechischen heitern Freude erschien entweder unendliche Sehnsucht oder die unaussprechliche Seligkeit — und zeit- und schrankenlose Verdammnis — die Geisterfurcht, welche vor sich selber schaudert — die schwärmerische beschauliche Liebe — die grenzenlose Mönchs-Entsagung — die platonische und neuplatonische Philosophie." (Jean Paul, Werke in zwölf Bänden, hrsg. v. Norbert Miller, München/Wien 1975, hier: Bd. 9, S. 93) Auch Nietzsche war der Meinung „Jean Paul wußte sehr viel" (WS 99, a. a. O.,): eben ζ. B. über den Ursprung jenes Tuns, die Welt zu einem Grabeshügel zusammenzudrücken, doch verstand er nicht, was dieses letztlich bedeutet — wir hingegen verstehen dies mit einem Blick, beispielsweise aus dem Fenster, aber sind Ignoranten in bezug auf das Woher jener Umweltzerstörung. Vielleicht sollte man doch Goethe, den Abgott des Bildungsbürgers, endlich einmal genau lesen, der schon wußte, warum er gleichermaßen Christentum, Romantik und Technik bekämpfte. 14
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25
EH, Die Geburt der Tragödie 1, 6/3, 308. Wir erinnern hier an unsere Ausführungen über Sprache und Musik auf S. 171 f., S. 182 f. sowie S. 185. I I / l , 255-258, hier: S. 256. EH, Die Geburt der Tragödie 4, 6 / 3 , 311 f. Solches sollte sich später im Falle des Maestro Pietro Gasti wiederholen. EH, Menschliches, Allzumenschliches 6, 6 / 3 , 325 f., hier: S. 326; siehe dazu auch: EH, Die Unzeitgemässen 1, 6/3, 314 f.: „In der d r i t t e n und v i e r t e n Unzeitgemässen werden, als Fingerzeige zu einem h ö h e r e n Begriff der Cultur, zur Wiederherstellung des Begriffs ,Cultur', zwei Bilder der härtesten S e l b s t s u c h t , S e l b s t z u c h t dagegen aufgestellt [ . . . ] Schopenhauer und Wagner o d e r , mit Einem Wort, Nietzsche..." Vgl. des weiteren: Friedrich A. Kittler, Wie man abschafft, wovon man spricht: Der Autor von ,Ecce homo', in: Literaturmagazin 12, Nietzsche (Das neue Buch 135), Reinbek bei Hamburg 1980, S. 153-175.
Anmerkungen 26 bis 35 zum Abschnitt „Übersetzungen" 26
471
G T , Versuch einer Selbstkritik 5 , 3 / 1 , 11. Im folgenden werden Zitate aus der „Geburt der T r a g ö d i e " im Haupttext nachgewiesen, wobei zunächst der Abschnitt, dann die Seite zur Angabe kommen. 27 Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, a. a. O., S. 29. Zu unserer Interpretation des Heraklitischen π ό λ ε μ ο ς siehe auch Heideggers Ausführungen über das betreffende Heraklit-Fragment, ebd., S. 28 f., sowie seine daran anknüpfende Deutung des wesenhaften Streites in der Schrift „ D e r Ursprung des Kunstwerkes", a. a. O., S. 34. — Unsere folgenden Ausführungen werden zeigen, was von Friedhelm Dechers Behauptung zu halten ist, daß es angebracht sei, „den Einfluß Heraklits auf den jungen Nietzsche nicht zu hoch zu veranschlagen." (F. D., Nietzsches Metaphysik in der „Geburt der Tragödie" im Verhältnis zur Philosophie Schopenhauers, in: Nietzsche-Studien 14/1985, S. 110-125, hier: S. 118.) Sofern dabei das W o r t „Einfluß" im philosophischen und nicht im philologischen Sinne verstanden werden will... 28 P H G 5, 3 / 2 , 319: „es ist die gute Eris Hesiods". 29 Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung, S. 28. 3 ° Ebd. 31 W B 9, 4 / 1 , 66: „Wagner's Musik als Ganzes ist ein Abbild der Welt, sowie diese von dem grossen ephesischen Philosophen verstanden wurde, als eine Harmonie, welche der Streit aus sich zeugt, als die Einheit von Gerechtigkeit und Feindschaft." 32 C V 5, 3 / 2 , 283. 33 Eine solche Kultur erblickt Nietzsche im „indischen Buddhaismus, der, um überhaupt mit seiner Sehnsucht in's Nichts ertragen zu werden, jener seltnen ekstatischen Zustände mit ihrer Erhebung über Raum, Zeit und Individuum bedarf: wie diese wiederum eine Philosophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche Unlust der Zwischenzustände durch eine Vorstellung zu überwinden." (21, 129) Wenige Seiten vorher bezeichnet Nietzsche diese Kultur als „ t r a g i s c h e Cultur", was zur Verwechslung mit seinem Kulturideal Anlaß geben kann, das er an dieser Stelle „ k ü n s t l e r i s c h e " oder „hellenische" Kultur nennt (18, 112), dem er später jedoch ebenfalls den N a m e n „tragische Kultur" gibt (18,114). Vielleicht ist diese terminologische Unsauberkeit nicht ganz unbeabsichtigt, wird doch dadurch unter Umständen weniger deutlich, daß Nietzsche bei seinen kritischen Worten über die buddhaistische Kultur nicht zuletzt die Schopenhauersche Metaphysik und mit ihr die Wagnersche Kulturphilosophie und Kunst im Auge hat. Mögen darum beide auch in der „Geburt der T r a g ö d i e " als Wegbereiter der von Nietzsche erhofften tragischen Kultur gefeiert werden, mag Wagners „Tristan" darüber hinaus als Vorbild der neuen Tragödie gerühmt werden — diese Stelle belegt, daß Nietzsches Konzeption der Wiederbelebung des in sich einigen Streites von Dionysos und Apoll von den „rein dionysischen" und als solchen nicht mehr mit „dionysisch" zu betitelnden Ansätzen Schopenhauers und Wagners tiefgreifend geschieden ist. 34 Martin Heidegger, Heraklit, a. a. O., S. 26. 35 Anfang 1871, III 10 [1], 3 / 3 , 345-363, hier: S. 349. — Genau dies aber sieht Walter Kaufmann (op. cit.) nicht — womit er Zeugnis davon ablegt, daß alles Reden über das „dialektische" Verhältnis von Apoll und Dionysos („Nietzsches Denkweise ist in doppelter Weise dialektisch. [ . . . ] Wie Nietzsche zu seinem Verständnis philosophischer Systeme kam, indem er ihre Gefahren und Nachteile erkannte, so erklärte er auch die Geburt der Schönheit durch den Konflikt und durch den Triumph von Apollo über Dionysos." [S. 154] U n d : „In der Geburt der Tragödie steht das Dionysische f ü r jenes negative und doch notwendige dialektische Moment, ohne das, nach Nietzsche, die Erschaffung ästhetischer Werte unmöglich wäre." [S. 151]) so lange gedankenlos bleibt, wie man den „Kampf jenes Gegensatzes" ( G T 1,21) bzw. „Dialektik" nicht im Hinblick auf Heraklits π ό λ ε μ ο ς zu denken versucht — und d. h. nicht bloß darüber redet: „alle philosophisch bedeutsamen Stellen über ,Krieg' haben, genausowenig wie Heraklits berühmter Satz: ,Der Krieg ist der Vater aller Dinge', etwas mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu tun. Es war ja auch Heraklit, von dem Nietzsche das W o r t .Krieg' übernommen hat." Das mag einem amerikanischen Kaufmann genügen (S. 452), nicht aber
472
Anmerkung 35 zum Abschnitt „Übersetzungen" einem Leser, der diesem zentralen Gedanken Nietzsches nachzudenken versucht — der sich denn doch besser an das hält, was Heidegger über Heraklits πόλεμος zu sagen weiß. Bezugnehmend auf ein Zitat aus dem 2. Kapitel der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " (3/1, 28), in dem die „dionysischen" Regungen der Barbaren den apollinisch veredelten der Griechen gegenübergestellt werden („gerade die wildesten Bestien der N a t u r wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche ,Hexentrank' erschienen ist"), führt Kaufmann aus: „Dieses Bild vom Dionysischen als höchst zerstörerischem Fieber unterscheidet sich so sehr von seiner angeblichen Verherrlichung auf Kosten des Apollinischen, daß man sich verwundert fragt, wie die Geburt der Tragödie jemals so gründlich mißverstanden werden konnte. Es gibt eine einfache Erklärung dafür. Man hat nicht gemerkt, daß der Dionysos, den Nietzsche in den späteren Schriften als seinen Gott rühmte, nicht mehr die Gottheit der gestaltlosen Raserei ist, die er in seinem ersten Buch repräsentiert. N u r der N a m e hält sich durch, aber später steht das Dionysische f ü r die beherrschte Leidenschaft im Gegensatz zu der Abtötung der Leidenschaften, die Nietzsche zunehmend mit dem Christentum identifizierte. [ . . . ] Der spätere Dionysos ist eine Synthese aus den beiden Kräften, die in der Geburt der Tragödie durch Dionysos und Apoll repräsentiert w e r d e n " (S. 150 f.). Nein, man hat ebensowenig wie Kaufmann bemerkt, daß der Dionysos der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " darum keine Gottheit der gestaltlosen barbarischen Raserei sein kann, weil er nur im gegenwendigen Bezug zu Apollo ist. Und um solches zu erkennen, bedarf es noch nicht einmal des Nachdenkens über das, was Nietzsche mit dem „Kampf jenes Gegensatzes" zwischen Dionysos und Apoll gemeint haben könnte, sondern nur schlichten, aber genauen Lesens. So schreibt Nietzsche nämlich über die „ungeheure Kluft [ . . . ] , welche die d i o n y s i s c h e n G r i e c h e n von den dionysischen Barbaren trennt", die Apollo nicht kennen: „Aus allen Enden der alten Welt — um die neuere hier bei Seite zu lassen — von Rom bis Babylon können wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen, deren Typus sich, besten Falls, zu dem Typus der griechischen verhält, wie der bärtige Satyr, dem der Bock N a m e n und Attribute verlieh, zu Dionysus selbst." ( G T 2, 3/1, 27 f.) Die sich in ,,geschlechtliche[r] Zuchtlosigkeit" (ebd., S. 28) ergehenden Barbaren verehrten somit in Wahrheit nicht Dionysos, sondern seine „rein dionysischen" Begleiter, sind mithin dem buddhaistischen Kultur-Typus zuzurechnen; womit übereinstimmt, daß Nietzsche die Barbarenwelt als „ausser-apollinische[... ] Welt", das griechische Titanen-Zeitalter hingegen als „vor-apollinische W e l t " charakterisiert ( G T 4, 3 / 1 , 36). Damit aber wird auch Kaufmanns Behauptung hinfällig, daß man „einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den früheren und den späteren Thesen Nietzsches" (S. 207) konstatieren könne, dergestalt, daß „seine endgültige Philosophie [ · . . ] sich auf die Annahme eines einzigen grundlegenden Prinzips [stütze], die Philosophie seiner Jugend [ . . . ] dagegen durch eine Kluft gekennzeichnet [ sei ], die sie beinahe in zwei Stücke geteilt hätte." (Ebd.) Jene angebliche Kluft ist nämlich nichts anderes als die Fuge des in sich einigen Streites, als welcher der eine Wille, der Urgrund, west, der auch f ü r den frühen Nietzsche, wie wir sehen werden, dionysischen Charakters ist und von ihm ebenfalls mit „Dionysos" bezeichnet wird. D e r Unterschied zur späteren Konzeption liegt somit keineswegs darin beschlossen, daß jene monistisch, die frühere hingegen dualistisch ist, sondern darin, daß jene den „Willen" — wie Nietzsche meint — unmetaphysisch als Willen zur Macht, diese aber im Anschluß an Schopenhauer (pseudo-)metaphysisch als Willen zum Leben denkt. Und nur diese Kette von Verkennungen — Bedeutung des Streites, Entsprechung zwischen früher und später Auffassung im Hinblick auf einen „gebändigten" Dionysos — gestattet es Kaufmann, Nietzsche schließlich auch noch das Mäntelchen eines „Aufklärers" umzuwerfen: Mit seiner Formel „Dionysos gegen den Gekreuzigten" habe Nietzsche niemand anderes als Sokrates im Sinn gehabt. Ausgerechnet Sokrates! Ausgerechnet denjenigen, in dem die „Geburt der T r a g ö d i e " den Begründer der nach ihm benannten rein apollinischen, wissenschaftlichen Weltverhaltung erblickt! (Aber von ihrer Konzeption des Dionysischen soll Nietzsche ja abgewichen sein). Ausgerechnet
Anmerkungen 35 bis 37 zum Abschnitt „Übersetzungen"
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denjenigen, über den Nietzsche im Sommer 1875 aufzeichnet (IV 6 [3], 4 / 1 , 173): „ S o c r a t e s , um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe." Mit dem Mechanismus von Thesis, Antithesis und Synthesis klappernd, weiß Kaufmann über jene „kritische" T e n d e n z nur zu bemerken: „In Nietzsches erstem Buch wird Sokrates zwar ebenso kritisiert wie in seinem letzten, aber er wird zugleich aufgehoben in den Typ, den Nietzsche am meisten bewundert, wird ein Teil von ihm." (S. 460) Das bezieht sich auf Nietzsches selbstcharakterisierende Formel vom „ m u s i k t r e i b e n d e n S o k r a t e s " ( G T 15, 3 / 1 , 98). Aber diese „ A u f h e b u n g " des Sokrates, in der Kaufmanns dialektische Interpretation gipfelt („Das volle Ausmaß der ausgeführten Dialektik in der Geburt der Tragödie wird erst [ . . . ] deutlich werden, wenn wir die Rolle des Sokrates untersuchen.", S. 154), — diese „ A u f h e b u n g " ist nicht anders zu verstehen als im Sinne jenes einläßlich besprochenen Streites von „Wissenschaft und Kunst" bzw. von „Wissenschaft und Weisheit": Die Kunst bestreitet die Tendenz der Wissenschaften zur Aufsplitterung der Welt durch Zusammenfassung ihrer Erkenntnisse zu einem „Weltbild"; umgekehrt suchen jene dasselbe zu zersetzen: N u r in diesem Widerstreit sind Kunst und Wissenschaft fruchtbar. Mit „Sokrates" — f ü r Nietzsche mehr eine, im Sinne seiner monumentalischen Historie, die heute herrschende Strömung verbildlichende mythische Gestalt, als der „reale" Sokrates — setzte aber eine Verabsolutierung der nihilistischen Tendenz der Wissenschaften ein. Nietzsche bekämpft sie, indem er jenen Widerstreit erneut zu entfachen sucht — auch in sich selbst. Ebendies meint die zitierte Aufzeichnung: „ S o c r a t e s , um es nur zu bekennen, steht mit so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe.", folgt ihr doch unmittelbar das N o t a t (IV 6 [4], 4 / 1 , 173): „Wissenschaft und Weisheit im Kampfe." Allenfalls ein „musiktreibender Sokrates" dürfte sich mithin „Dionysos" nennen und sich gegen den Gekreuzigten stellen — in Athen aber träumte sich ein solcher bestenfalls, tanzen sah ihn erst Turin. „Polemik" bedeutet bei Nietzsche nämlich nicht zuletzt, sich das Selbst zu erstreiten in Bestreitung Eigenes, häufig natürlich auch Anderes repräsentierender anderer, mit denen indes ein Streit nur dann wahrhaft strittig sein kann, wenn jener andere anerkannt wird. N u r das meint die Bewunderung, die Nietzsche f ü r Sokrates hegt — keineswegs aber eine Identifikation. Nietzsche aus den Fängen der nationalsozialistischen Ideologie zu befreien, ist eines — da hat Kaufmann sicher große Meriten —, ihn zum „ A u f k l ä r e r " zu stilisieren, weil er sich nur so im angelsächsischen Bereich . . . an den Mann bringen läßt, aber ein anderes. Am Anfang steht das „ e r z e n e " Zeitalter mit dem kaum gebändigten dionysischen „Uebermaass" (4, 36) ,,seine[r] Titanenkämpfe [ . . . ] und seiner herben Volksphilosophie" (4, 37). Nietzsche zeigt dann, wie „sich unter dem Walten des apollinischen Schönheitstriebes die homerische Welt entwickelt, wie diese ,naive' Herrlichkeit wieder von dem einbrechenden Strome des Dionysischen verschlungen wird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich das Apollinische zur starren Majestät der dorischen Kunst und Weltbetrachtung erhebt." (4, 37 f.) Auf diese Weise zerfällt „die ältere hellenische Geschichte, im Kampf jener zwei feindseligen Principien, in vier grosse Kunststufen" (4, 38). Das gemeinsame Ziel beider Triebe aber ist „das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk der a t t i s c h e n T r a g ö d i e und des dramatischen Dithyrambus" (ebd.). Friedrich A. Kittler, Nietzsche (1844-1900), in: Klassiker der Literaturtheorie, hrsg. v. H o r s t T u r k , München 1979, S. 191-205, hier: S. 194. Diese Bezugnahme auf Leibliches wird im ersten Satz der Schrift fortgeführt: „ W i r werden viel f ü r die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des A p o l l i n i s c h e n und des D i o n y s i s c h e n gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt." ( G T 1, 3 / 1 , 21). Heiner Craemer, Religionskritik und tragische Erkenntnis, a. a. O., S. 6 f., Anm., liest diesen Satz, „über die thematische Vorzeichnung hinaus, auch als Ironie": er bezieht den letzten Teil desselben auf Schopenhauers „Metaphysik der Geschlechtsliebe". Schon
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Anmerkungen 37 bis 50 zum Abschnitt „Übersetzungen"
hier sei von Nietzsche „gegen Schopenhauer die Bejahung des Wollens in der Kunst vorgewiesen". 38 N W , W o ich Einwände mache, 6 / 3 , 416. 39 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Zukunftsphilologie I, Berlin 1872, S. 11. 40 So hat Nietzsche im Eingangsabschnitt von „Die dionysische Weltanschauung", einer Vorstufe der „Geburt der Tragödie", den Gegensatz von Dionysos und Apoll bezeichnet. Es heißt dort von den Griechen, daß sie „die Geheimlehre ihrer Weltanschauung in ihren Göttern aussprechen und zugleich verschweigen" (3/2, 45). Indem Nietzsche in der entsprechenden Passage der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " statt dessen von „Kunstanschauung" spricht, verschweigt er hinwiederum, daß seine Ästhetik Metaphysik ist. 41 September 1870—Januar 1871, III 5 [79], 3 / 3 , 115f., hier: S. 115. Vgl. auch September 1870—Januar 1871, III 5 [81], 3 / 3 , 118 f.: „Ich scheue mich, Raum Zeit und Kausalität aus dem erbärmlichen menschlichen Bewußtsein abzuleiten: sie sind dem Willen zu eigen. Es sind die Voraussetzungen f ü r alle Symbolik der Erscheinungen: nun ist der Mensch selbst eine solche Symbolik, der Staat wiederum, die Erde auch. N u n ist diese Symbolik unbedingt nicht f ü r den Einzelmenschen allein da —". 42 D W 3, 3 / 2 , 62. 43 D W 2, 3 / 2 , 57. Siehe auch G T 4, 3 / 1 , 37. 44 G M D , 3 / 2 , 11. 45 Vgl. D W 1, 3 / 2 , 47: „der Rausch [ist] das Spiel der N a t u r mit dem Menschen". 46 Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [32], 3/3, 69. 47 Wir erinnern hier erneut an Heideggers Ausführungen über die griechische Seinserfahrung, die das abendländische Denken bis einschließlich Nietzsche geprägt haben soll: „Weil Sein besagt: Anwesenheit und Beständigkeit, deshalb ist das ,Sehen' vornehmlich geeignet, als Erläuterung f ü r die Erfassung des Anwesenden und Beständigen zu dienen. Denn im Sehen haben wir das Erfaßte in einem betonten Sinne g e g e n ü b e r ' , vorausgesetzt, daß nicht schon unserem Sehen eine Auslegung des Seienden zugrunde liegt. Die Griechen haben das Verhältnis zum Seienden nicht durch das Sehen erläutert, weil sie ,Augenmenschen' waren, sondern sie waren, wenn man so will, ,Augenmenschen', weil sie das Sein des Seienden als Anwesenheit und Beständigkeit erfuhren." (Nietzsche, Bd. 2, a. a. O., S. 223 f.) In Nietzsches Sicht und Terminologie würde das heißen, daß die Griechen Apolliniker waren — was ihm zufolge nur bedingt richtig ist: „ D e r Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen." ( G T 3, 3 / 1 , 31) Der Grieche war f ü r Nietzsche vordergründig sehender Apolliniker, weil er in der Tiefe hörender Dionysiker war — mag Heidegger dieser Behauptung noch zustimmen können, so doch nicht mehr der Folgerung, die Nietzsche daran k n ü p f t : daß die Griechen an das Sein als einen illusionären Schein glaubten, weil sie im Bewußtsein des von Heraklit verkündeten reinen Werdens, das kein „ G e g e n ü b e r " kennt, nicht hätten leben können — wie ja auch Heraklit diesen Gedanken in das künstlerische Bild des Spiels kleiden mußte. Heraklit aber ist, wie wir wissen, auch ein anderer N a m e f ü r N i e t z s c h e . . . 48 W a r u m wir hier plötzlich statt von „ U b e r m a ß " von „ U n m a ß " sprechen, das wird aus dem Kapitel „Versuch einer Er-läuterung des philosophischen Ansatzes der ,Geburt der Tragödie aus dem Geiste der M u s i k ' " hervorgehen. 49 III 7 [27], 3/3, 151 — 153, hier: S. 153. 50 Siehe dazu etwa G T 16, 3 / 1 , 104, wo es über den Untergang des Helden in der Tragödie heißt: „an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio individuationis, das ewige Leben jenseit [sie] aller Erscheinung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. [ . . . ] der Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt wird. [ . . . ] In der dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbe N a t u r mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an: ,Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel
Anmerkungen 50 bis 64 zum Abschnitt „Übersetzungen"
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der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!' " Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, a . a . O . , S. 18. Unsere Deutung meint Fink unverständlicherweise erst den Spätschriften zusprechen zu können. „In der Tragödie der Griechen entdeckt Nietzsche das Gegenspiel von Gestalt und gestaltloser Lebensflut, von PERAS und A P E I R O N ; von endlichem Seienden, das der Vernichtung geweiht heimfällt an den un=endlichen Grund, und dem Grunde selbst, der immer wieder Gestalten aus sich hinauswirft, — dieses Gegenspiel nennt er den Gegensatz des Apollinischen und Dionysischen. In der ,Geburt der Tragödie..' operiert Nietzsche noch mit dieser Unterscheidung wie mit einem echten Gegensatz, so als ob das Apollinische auf der einen, das Dionysische auf der anderen Seite stünde. Auf dem Wege seines Denkens aber radikalisiert sich dieser anfängliche Gegensatz zu einer Hereinnahme des Apollinischen selbst in das Dionysische. Das un=endliche Leben selbst ist das Bauende, das Bildende, welches Gestalten fixiert — und sie wieder zerbricht. Das Apollinische wird am Ende von Nietzsches Entwicklung als ein Moment des Dionysischen begriffen."
52 Ebd., S. 41. 53
P H G 5, 3 / 2 , 316. Ebd., S. 317. 55 Ebd., S. 318. 56 Ebd., S. 319. 57 G T , Versuch einer Selbstkritik 5, 3 / 1 , 11. 58 VIII 11 [415], 8/2, 435 f., hier: S. 435. 59 Fragment 80 lautet: ,,είδέναι δέ χ ρ ή τ ο ν π ό λ ε μ ο ν έ ό ν τ α ξυνόν και δ ί κ η ν έριν, και γ ι ν ό μ ε ν α π ά ν τ α κ α τ ' έριν και χ ρ ε ώ μ ε ν α . — Man soll aber wissen, daß der Krieg gemeinsam (allgemein) ist und das Recht der Zwist und daß alles geschieht auf Grund von Zwist und Schuldigkeit." (Übersetzung nach Diels/Kranz). Zu Fragment 53 siehe Seite 213. 60 P H G 5, 3 / 2 , 319. 61 Es zeigen sich hier entfernte Beziehungen zu Schopenhauers Deutung der Materie als eines — von der Kausalität hervorgebrachten — in sich einigen Widerstreites von Raum und Zeit. W a W I, 39 f.: „ W i r haben aber gefunden, daß im Wirken, also in der Kausalität, das ganze Wesen der Materie besteht: folglich müssen auch in dieser Raum und Zeit vereinigt sein, d. h. sie muß die Eigenschaften der Zeit und die des Raumes, sosehr sich beide widerstreiten, zugleich an sich tragen, und was in jedem von jenen beiden f ü r sich unmöglich ist, muß sie in sich vereinigen, also die bestandlose Flucht der Zeit mit dem starren unveränderlichen Beharren des Raumes [ . . . ] Im bloßen Raum wäre die Welt starr und unbeweglich [ . . . ] In der bloßen Zeit wiederum wäre alles flüchtig". 62
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Rainer Maria Rilke, Brief an Gräfin Margot Sizzo-Noris-Crouy am Dreikönigstag 1923, in: R. M. R., Briefe, Wiesbaden 1980, S. 802—808. Die Passage, in der Rilke versucht, „das W o r t ,Tod' ohne Negation zu lesen", lautet im Zusammenhang: „wie der Mond, so hat gewiß das Leben eine uns dauernd abgewendete Seite, die nicht sein Gegenteil ist, sondern seine Ergänzung zur Vollkommenheit, zur Vollzähligkeit, zu der wirklichen heilen und vollen Sphäre und Kugel des Seins." (S. 806 f.) Zur Beziehung zwischen Nietzsches Denken und Rilkes Dichten siehe: Martin Heidegger, W o z u Dichter?, a. a. O., vor allem die Seiten 271, 282 und 308. Martin Heidegger, W o z u Dichter?, a. a. O., S. 298. Ende 1870—April 1871, III 7 [175], 3 / 3 , 216f., hier: S.216: „Es i s t allein der e i n e Wille: der Mensch ist eine in jedem Moment geborne Vorstellung. [ . . . ] / / U n d so ist unser Denken nur ein B i l d des Urintellekts, ein Denken durch die Anschauung des e i n e n Willens entstanden, der sich seine Visionsgestalt denkend denkt. Wir schauen das Denken an wie den Leib — weil wir Wille s i n d . / / [ . . . ] / / D i e Einheit zwischen dem Intellekt und der empirischen Welt ist die prästabilirte Harmonie, in jedem Moment geboren und sich völlig im kleinsten Atome deckend. [ . . . ] / / [ . . . ] D. h. alles Vorhandene ist in d o p p e l t e r Weise V o r s t e l l u n g : einmal als B i l d , dann als B i l d des B i l d e s . / / L e b e n ist jenes
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Anmerkungen 64 bis 78 zum Abschnitt „Übersetzungen"
unablässige Erzeugen dieser doppelten Vorstellungen: der Wille i s t und l e b t allein. Die empirische Welt e r s c h e i n t nur, und w i r d . " Frühjahr 1871, III 12 [1], 3 / 3 , 377—387, hier: S. 380. 66 Ebd., S. 379. 7 C V 3, 3/2, 262. 68 Vgl. jetzt auch: D W 3, 3 / 2 , 59, wo sich Nietzsche ausläßt über „das E r h a b e n e als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das L ä c h e r l i c h e als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden", kurz: über die apollinische Bändigung oder Gestaltung des Dionysischen: „ D a s Erhabene und das Lächerliche ist ein Schritt über die Welt des schönen Scheins hinaus, denn in beiden Begriffen wird ein Widerspruch [sc. ein Streit] empfunden. Andererseits decken sie sich keineswegs mit der Wahrheit: sie sind eine Umschleierung der Wahrheit, die zwar durchsichtiger als die Schönheit, aber doch noch eine Umschleierung ist. Wir haben in ihnen also eine M i t t e l w e i t zwischen Schönheit und Wahrheit: in ihr ist eine Verneinung von Dionysos und Apoll möglich. Diese Welt offenbart sich in einem Spiel mit dem Rausche, nicht in einem völligen Verschlungensein durch denselben. Im Schauspieler erkennen wir den dionysischen Menschen wieder, den instinktiven Dichter Sänger Tänzer, aber als g e s p i e l t e n dionysischen Menschen. Er sucht dessen Vorbild in der Erschütterung der Erhabenheit zu erreichen oder auch in der Erschütterung des Gelächters: er geht über die Schönheit hinaus und er sucht doch die Wahrheit nicht. In der Mitte zwischen beiden bleibt er schwebend. Er strebt nicht nach dem schönen Schein, aber wohl nach dem Schein, nicht nach der Wahrheit, aber nach W a h r s c h e i n l i c h k e i t . (Symbol, Zeichen der Wahrheit)." 69 3/1, 32: „Derselbe Trieb, der die Kunst in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt entstehn" — dieser Trieb aber ist der apollinische Trieb. 70 G T 21, 3 / 1 , 129: „der staatenbildende Apollo [ist] auch der Genius des principii individuationis". 71 Vgl. Frühjahr 1888 VIII 14 [47], 8/3, 33: „die Wirkung der Kunstwerke ist die E r r e g u n g d e s k u n s t s c h a f f e n d e n Z u s t a n d e s , des R a u s c h e s . . . " 72 V I I I 1 4 [46], 8/3, 32: „Im dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust: sie fehlt nicht im apollinischen." Vgl. auch: G D , Streifzüge eines Unzeitgemässen 10, 6 / 3 , Ulf. 73 So Nietzsche in einer berühmten Stelle von „Ecce h o m o " (Also sprach Zarathustra 3, 6 / 3 , 337), auf die wir später noch zu sprechen kommen werden. 74 Sommer bis Ende September 1875, VI 12 [8], 4 / 1 , 324: „Wie durch Wagner die aesthetischen Gegensätze ,subjektiv', ,objektiv', romantisch, klassisch, naiv, sentimentalisch, ganz aufgehoben sind; sie p a s s e n nicht." 75 1871, III 9 [36], 3/3, 296 f., hier: S. 296. 76 Wie Anm. 72. 77 Sommer 1871—Frühjahr 1872, III 16 [6], 3/3, 421. 78 D W 4, 3 / 2 , 64. Noch in „ D e r Fall W a g n e r " fühlt sich Nietzsche bemüßigt, über das Drama, respektive die Tragödie, an der er in seiner philosophischen Erstlingsschrift das Wesen der Kunst abgelesen hatte, in einer Anmerkung folgendes zu bedenken zu geben ( 6 / 3 , 2 6 ) : „Es ist ein wahres Unglück f ü r die Aesthetik gewesen, dass man das W o r t D r a m a immer m i t , H a n d l u n g ' übersetzt hat. Nicht Wagner allein irrt hierin; alle Welt ist noch im Irrthum; die Philologen sogar, die es besser wissen sollten. Das antike D r a m a hatte grosse P a t h o s s c e n e n im Auge — es schloss gerade die H a n d l u n g aus (verlegte sie v o r den Anfang oder h i n t e r die Scene). Das W o r t Drama ist dorischer H e r k u n f t : und nach dorischem Sprachgebrauch bedeutet es ,Ereigniss', ,Geschichte', beide W o r t e in hieratischem Sinne. Das älteste Drama stellte die Ortslegende dar, die ,heilige Geschichte', auf der die Gründung des Cultus ruhte (— also kein Thun, sondern ein Geschehen: δ ρ ά ν heisst im Dorischen gar nicht ,thun')." Schon im Herbst 1869 hatte er in diesem Sinne aufgezeichnet (III 1 [56], 3 / 3 , 23 f., hier: S. 23): „ W i c h t i g s t . Die H a n d l u n g kam in die Tragödie erst mit dem D i a l o g . Dies zeigt, wie es in dieser Kunstart von vornherein gar
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nicht abgesehn war auf das 6pöv: sondern auf das πάθος." (Vgl. dazu auch: GMD, 3/2, 17; Ende 1876—Sommer 1877, IV 23 [74], 4/2, 523).Wagner schreibt hingegen in seiner 1872 erschienenen Abhandlung „Über die Benennung ,Musikdrama'": „Nun heißt ,Drama' ursprünglich Tat oder Handlung·, als solche, auf der Bühne dargestellt, bildete sie anfänglich einen Teil der Tragödie, d. h. des Opferchor-Gesanges, dessen ganze Breite das Drama endlich einnahm und so zur Hauptsache ward. Mit seinem Namen bezeichnete man nun für alle Zeiten eine auf einer Schaubühne dargestellte Handlung, wobei das Wichtigste war, daß dieser Darstellung zugeschaut werden konnte, weshalb der Raum, in welchem man sich hierzu versammelte, das .Theatron', der Schauraum hieß." (A. a. O., S. 273 f.) Μ. H., Nietzsche, Bd. 2, a . a . O . , S. 223; vgl. Anm. 259 des Abschnittes „Voraussetzungen". Nietzsche an Rudolf Buddensieg am 12.7. 1864, 1/1, 292—294, hier: S.293. Nietzsche fährt, in Anknüpfung an die romantische Kunst-Religion, fort: „Wenn es je Ahnungen höherer Welten giebt, so liegen sie hier verborgen." — Als „dämonisch" wurde die Musik auch von dem Nietzsche unbekannt gebliebenen Sören Kierkegaard bezeichnet, dem das Unmittelbare der Musik, nicht anders als Hegel, trotz seiner Begeisterung für sie suspekt war. Dieses Unmittelbare bestimmt Kierkegaard in seiner Don-Giovanni-Abhandlung „Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische" (S. K., Entweder/Oder, Erster Teil, deutsch von Emanuel Hirsch, Köln und Düsseldorf 1979, S. 47—145) als „sinnliche Unmittelbarkeit" (S. 75). Vom Christentum her gesehen aber ist das Sinnliche das vom Geist Ausgeschlossene, und als solches ist es dämonisch. September—Oktober 1862, (Ueber das Wesen der Musik.), BAW 2, 89. [Frühjahr 1863], (Ueber das Wesen der Musik), BAW 2, 171 f., hier: S. 171. GA 18, 317. Die Datierung nach KSA 14, 26. Die Aufzeichnung ist Bestandteil des Quarthefts Ρ I 20 (vgl. GA 18, 338, wo noch die alte Sigle P. XLI verwendet wird). Siehe 1871, III 9 [116], 3/3, 329f.:„Die Bedeutung des T a k t e s als Schranke der Musik, gegen ihre größte Wirkung. [ . . . ] Der Takt gänzlich vorbildlos in der Natur: was wäre das für eine Gewalt, die die Regungen des Willens mit gleichen Zeittheilen durchschnitte? — d. h. ursprünglich ist er Abbild des Wellenschlags. Er ist schon eine Gleichnißrede vom Willen: etwas Äußerliches, zu vergleichen mit den zwei Schauspielern der Tragödie; was festgehalten wird. Mit dem Takte wird die Harmonie und Melodie gleichsam gebändigt.// [ . . . ] / / D a n n wäre der T a k t als etwas Fundamentales zu verstehen: d.h. die ursprünglichste Zeitempfindung, die F o r m d e r Z e i t selbst." GT, Versuch einer Selbstkritik 6, 3/1, 13. GA 18, 320 (vgl. Anm. 83). Ebd., S. 318. DW 4, 3/2, 66. Ebd., S. 66 f. Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [29], 3/3, 68. III 3 [23], 3/3, 67. Vgl. GT 21, 3/1, 133 f., wo Nietzsche in Fortführung Wagnerscher Thesen, beispielsweise in „Oper und Drama" (S. 289 ff.), über den „Harmonienwechsel" bemerkt, daß er „uns die Relationen der Dinge in sinnlich wahrnehmbarer, keinesfalls abstracter Weise, unmittelbar vernehmbar" macht. WaW I, 366. Ebd. Ebd., S. 377. Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, a. a. Ο., S. 38. Ebd., S. 37. Vgl. für die Frühzeit Anfang 1874—Frühjahr 1874, III 32 [52], 3/4, 384—387, hier: S. 384; für die Spätzeit: Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [110], 8/1, 113 f., hier: S. 114. Carl Dahlhaus, op. cit., S. 39. Siehe den Brief an Wagner vom 10.11. 1870 ( I I / l , 156 f.). Vgl. auch die Briefe an
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Anmerkungen 100 bis 111 zum Abschnitt „Übersetzungen"
Gersdorff vom 12.12. 1870 ( I I / l , 160—163, hier: S. 161) und an Rohde vom 15. 12. 1870 ( I I / l , 165—167, hier: S. 166). 101 Richard Wagner, Beethoven, 55. Vgl. dazu Nietzsches nachfolgende Aufzeichnung von Ende 1870—April 1871, III 7 [127], 3 / 3 , 193—200, hier: S. 196: „in jedem Momente, w o einmal die dionysische Gewalt der Musik in den Zuhörer einschlägt, umflort sich das Auge, das die Aktion sieht, das sich in die vor ihm auftretenden Individuen versenkt hat: der Zuhörer v e r g i ß t jetzt das D r a m a und wacht erst wieder f ü r dasselbe auf, wenn ihn der dionysische Zauber losgelassen hat." — 1872, in dem Aufsatz „Uber die Benennung , M u s i k d r a m a ' " wird Wagner noch deutlicher, er bezeichnet dort (S. 276) seine Dramen „als ersichtlich gewordene Taten der Musik". 102 op. cit., S. 40. 103 Vgl. ebd. 104 Frühjahr 1871, III 12 [1], 3 / 3 , 377—387. 105 Ebd., S. 385. 106 Ende 1870—April 1871, III 7 [127], 3 / 3 , 193—200, hier: S. 195. 107 Vgl. etwa FW 368, 5/2, 298—300, hier: S. 299: „Was geht mich das D r a m a an! Was die Krämpfe seiner sittlichen Ekstasen, an denen das ,Volk' seine Genugthuung hat! Was der ganze Gebärden-Hokuspokus des Schauspielers! . . . Man erräth, ich bin wesentlich antitheatralisch geartet, — aber Wagner war umgekehrt wesentlich Theatermensch und Schauspieler, der begeistertste Mimomane, den es gegeben hat, auch noch als M u s i k e r ! . . U n d , beiläufig gesagt: wenn es Wagner's Theorie gewesen ist ,das Drama ist der Zweck, die Musik ist immer nur dessen Mittel', — seine P r a x i s dagegen war, von Anfang bis zu Ende, ,die Attitüde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik ist immer nur i h r Mittel'." 108 Vgl. den Brief an Paul Deussen „Mittwoch im Febr. 1870", I I / l , 99—101, hier: S. 100: „Es ist traurig, aber f ü r die unsäglich dürftige deutsche Geselligkeit charakteristisch, daß Du Vergnügen am Umgange mit Schauspielern hast. [ . . . ] . Im Allgemeinen kann der ernstere Mensch sicher sein, in diesen Kreisen ausgenützt und ausgelacht zu werden. Doch merkt man dies sehr spät, und deshalb ist es ein hübscher Zeitvertreib. Mir ist dies Wesen augenblicklich fatal." Eine Passage, die insofern von einiger Ironie gezeichnet ist, als Nietzsche bald erkennen muß, justament einen versetzten Schauspieler zu seinem Idol erkoren zu haben. 109 Anfang 1874—Frühjahr 1874, III 32 [8], 3 / 4 , 370: „ W e n n Goethe ein versetzter Maler, Schiller ein versetzter Redner ist, so ist Wagner ein versetzter Schauspieler." 110 Wir denken hier an Ausführungen wie die nachfolgende aus der Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen 10, 6 / 3 , 111 f.: „ D e r apollinische Rausch hält vor Allem das Auge erregt, so dass es die Kraft der Vision bekommt. [ . . . ] . Im dionysischen Zustande ist dagegen das gesamte Affekt-System erregt und gesteigert: so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens, Verwandeins, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt. [ . . . ] Musik, wie wir sie heute verstehn, ist gleichfalls eine Gesammt-Erregung und -Entladung der Affekte, aber dennoch nur das Überbleibsel von einer viel volleren Ausdrucks-Welt des Affekts, ein blosses r e s i d u u m des dionysischen Histrionismus. Man hat, zur Ermöglichung der Musik als Sonderkunst, eine Anzahl Sinne, vor Allem den Muskelsinn still gestellt (relativ wenigstens: denn in einem gewissen Grade redet noch aller Rhythmus zu unsern Muskeln): so dass der Mensch nicht mehr Alles, was er fühlt, sofort leibhaft nachahmt und darstellt. T r o t z d e m ist D a s der eigentlich dionysische Normalzustand, jedenfalls der Urzustand; die Musik ist die langsam erreichte Spezifikation desselben auf Unkosten der nächstverwandten Vermögen." — Für Nietzsches Beziehung zu Feuerbach siehe Anm. 28 des Abschnitts „Voraussetzungen". 111 Vgl. etwa die nachfolgende Aufzeichnung vom Frühjahr 1871— Anfang 1872 (III 14 [3], 3 / 3 , 398), in der Nietzsche über die Musik als „ein Mittel [ . . . ] , jedes Bild der Welt [ . . . ] in einen M y t h u s z u v e r w a n d e l n und zum Ausdruck einer ewig-gültigen allgemeinen Wahrheit zu bringen", anzumerken weiß: „Dieses ungeheure Vermögen der Musik sehen wir zweimal bisher in der Weltgeschichte zur M y t h e n s c h ö p f u n g kommen: und das
Anmerkungen 111 bis 125 zum Abschnitt „Übersetzungen"
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eine Mal sind wir beglückt genug, diesen erstaunlichen Prozeß selbst zu erleben, um von hier aus auch jenes erste Mal uns analogisch zu verdeutlichen." 112 III 32 [42], 3 / 4 , 381. Es wird dies einer der Hauptvorwürfe gegen die Wagnersche Musik. Vgl. etwa: Sommer 1875, IV 10 [16], 4 / 1 , 264; Frühling—Sommer 1877, IV 22 [3], 4 / 2 , 475; sowie V M 134, 4 / 3 , 70 f. 113 G T 7, 3 / 1 , 52: „Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum zartesten und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, der mit schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeit der N a t u r geschaut hat und in Gefahr ist, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich — das Leben." 114 D W 4, 3 / 2 , 69. " 5 Ebd. 116 Vgl. dazu und zu dem Folgenden die Fortsetzung des auf Seite 221 angeführten und in Anmerkung 58 nachgewiesenen Zitates: „ W i r h a b e n L ü g e n ö t h i g , um über diese Realität, diese ,Wahrheit' zum Sieg zu kommen das heißt, um zu l e b e n . . . D a ß die Lüge nöthig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins.. . / / D i e Metaphysik, die Moral, die Religion, die Wissenschaft — sie werden in diesem Buche nur als verschiedene Formen der Lüge in Betracht gezogen: mit ihrer Hülfe wird ans Leben g e g l a u b t . ,Das Leben s o l l Vertrauen einflößen': die Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer. U m sie zu lösen, muß der Mensch von N a t u r schon ein Lügner sein, er muß mehr als alles Andere noch K ü n s t l e r sein... Und er ist es auch: Metaphysik, Moral, Religion, Wissenschaft — Alles nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der ,Wahrheit', zur V e r n e i n u n g der ,Wahrheit'. Dies Vermögen selbst, dank dem er die R e a l i t ä t d u r c h d i e L ü g e v e r g e w a l t i g t , dieses K ü n s t l e r - V e r m ö g e n par excellence des Menschen — er hat es noch mit Allem, was ist, gemein: er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, N a t u r — er selbst ist auch ein Stück G e n i e d e r L ü g e . . . / / D a ß der Charakter des Daseins v e r k a n n t wird — tiefste und höchste Geheim-Absicht (der) Wissenschaft, Frömmigkeit, Künstlerschaft. Vieles niemals sehn, Vieles falsch sehn, Vieles hinzusehn . . . O h wie klug man noch ist, in Zuständen, wo man am fernsten davon ist, sich f ü r klug zu halten! Die Liebe, die Begeisterung, ,Gott' — lauter Feinheiten des letzten Selbstbetrugs, lauter Verführungen zum Leben! In Augenblicken, wo der Mensch zum Betrogenen wird, w o er wieder ans Leben glaubt, wo er sich überlistet hat: oh wie schwillt es da ihm auf! Welches Entzücken! Welches Gefühl der Macht! Wie viel Künstler-Triumph im Gefühl der Macht! . . . Der Mensch ward wieder einmal H e r r über den ,Stoff' — H e r r über die Wahrheit! . . . Und wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der Gleiche in seiner Freude: er freut sich als Künstler, er genießt sich als Macht. D i e L ü g e i s t d i e M a c h t . . . / / D i e Kunst und nichts als die Kunst. Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans zum L e b e n . . . " 117 P H G 5, 3 / 2 , 318 f. " β Ebd., S. 319. 119 Juli 1867, D e r Sängerkrieg auf Euboea, BAW 3, 230—244. 120 Ebd., S. 243. 121 P H G 4, 3 / 2 , 314. 122 P H G 4, 3 / 2 , 312: „ ,Der rechte Maßstab zur Beurtheilung eines jeden Menschen ist, daß er eigentlich ein Wesen ist, welches gar nicht existiren sollte, sondern sein Dasein abbüßt durch vielgestaltetes Leiden und T o d : was kann man von einem solchen erwarten? Sind wir denn nicht alle zum T o d e verurtheilte Sünder? Wir büßen unsre Geburt erstlich durch das Leben und zweitens durch das Sterben a b . ' " Das Zitat entstammt einer Anmerkung im § 156 aus dem 2. Band der „Parerga und Paralipomena". 123 Siehe dazu Seite 39 ff. 124 P H G 4, 3 / 2 , 312 f. 125 P H G 4, 3 / 2 , 314.
A n m e r k u n g e n 126 bis 159 z u m Abschnitt „ Ü b e r s e t z u n g e n "
480 126 Ebd. 127 Ebd. 128 129 1 30 13'
P H G 4, 3 / 2 , 313. Ebd. P H G 7, 3 / 2 , 326. So z . B . in G D , Die vier grossen I r r t h ü m e r 8, 6 / 3 , 90 f.: „ D a s s N i e m a n d m e h r verantwortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht auf eine causa prima z u r ü c k g e f ü h r t werden darf, dass die W e l t w e d e r als Sensorium, noch als ,Geist' eine Einheit ist, d i e s e r s t i s t d i e g r o s s e B e f r e i u n g , — damit erst ist die U n s c h u l d des W e r d e n s wieder h e r g e s t e l l t . . . D e r Begriff , G o t t ' w a r bisher der grösste E i n w a n d gegen das D a s e i n . . . W i r leugnen G o t t , wir leugnen die Verantwortlichkeit in G o t t : d a m i t erst erlösen wir die W e l t . — " ,32 G T , Versuch einer Selbstkritik 5, 3 / 1 , 11. 1» III 19 [50], 3 / 4 , 23. • 3 4 Vgl. die Heraklitischen Fragmente 30, 31, 64, 66 ( D i e l s / K r a n z ) . 1 3 5 P H G 6, 3 / 2 , 324 f. 1 3 6 P H G 6, 3 / 2 , 322. 1 37 E H , Die G e b u r t der T r a g ö d i e 3, 6 / 3 , 311. 158 P H G 7, 3 / 2 , 327. 1 3 9 P H G 7, 3 / 2 , 325. D W 1, 3 / 2 , 47 f. H1 Zitat und Ü b e r s e t z u n g nach D i e l s / K r a n z . 142 W B 9, 4 / 1 , 65 f. 143 3 / 2 , 3 2 0. 144 W a W 1 , 218. 145 P H G 5, 3 / 2 , 320. i4 G T 5, 3 / 1 , 43.; vgl. auch G T 24, 3 / 1 , 148, G T 25, 3 / 1 , 150. 147 O t t o Scheel, Die Bedeutung d e r W i t t e n b e r g e r R e f o r m a t i o n , in: W i r k u n g e n der deutschen R e f o r m a t i o n , hrsg. v. W a l t h e r H u b a t s c h , D a r m s t a d t 1967, S. 31—67, hier: S. 58. ' 4 8 Zitiert n a c h : Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher N a t i o n , V o n der Freiheit eines Christenmenschen, Sendbrief vom Dolmetschen, hrsg. v. Ernst Kahler, Stuttgart 1975, S. 132. • 4 9 Martin H e i d e g g e r , Parmenides, Gesamtausgabe Bd. 54, hrsg. v. M a n f r e d S. Frings, F r a n k f u r t a. M. 1982, S. 75. 150 Ebd. 151 Ebd. 152 Ebd., S. 76. 153 V g l dazu: Martin H e i d e g g e r , Ü b e r w i n d u n g der Metaphysik, in: Μ. H . , V o r t r ä g e und Aufsätze, Teil I, a. a. O . , S. 63—91, hier: S. 77: „ D i e Gewißheit ist als die Selbstsicherung (Sich-selbst-wollen) die iustitia als R e c h t f e r t i g u n g des Bezugs z u m Seienden und seiner ersten U r s a c h e und damit der Zugehörigkeit in das Seiende. Die iustificatio im Sinne der R e f o r m a t i o n und Nietzsches Begriff der Gerechtigkeit als W a h r h e i t sind das Selbe." Letzteres bezieht sich auf H e i d e g g e r s A u s f ü h r u n g e n z u m Wahrheitsbegriff des späten Nietzsche (vgl. etwa Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 632 ff., Bd. 2, a. a. O., S. 19 f., S. 322), die — was wir hier jedoch nicht aufzeigen k ö n n e n — keineswegs unproblematisch sind. 1 54 155 156 ι57 158 159
An Erwin R o h d e am 28. 2. 1875, I I / 5 , 26—28, hier: S. 28. G T , V o r w o r t an Richard W a g n e r , 3 / 1 , 20. D W 1, 3 / 2 , 46. G T 5, 3 / 1 , 43 f. VIII 2 [114], 8 / 1 , 116 f., hier: S. 117. G T 7, 3 / 1 , 52; G T 8, 3 / 1 , 55: d o r t spricht Nietzsche über „das ewige Leben jenes Daseinskernes", den er mit „ d e m D i n g an sich" gleichsetzt; G T 18, 3 / 1 , 111, w o „ d e r metaphysische T r o s t " als „Illusion" herausgestellt wird.
Anmerkungen 160 bis 175 zum Abschnitt „Übersetzungen" 160
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Siehe d a z u : G T , Versuch einer Selbstkritik 7, 3 / 1 , 16: „Ihr solltet vorerst die Kunst des d i e s s e i t i g e n Trostes lernen, — ihr solltet l a c h e n lernen, meine jungen Freunde, wenn anders ihr durchaus Pessimisten bleiben wollt; vielleicht dass ihr darauf hin, als Lachende, irgendwann einmal alle metaphysische Trösterei zum Teufel schickt — und die Metaphysik voran!" P H G 19, 3/2, 363. Ebd. G T 10, 3 / 1 , 69. III 3 [24], 3 / 3 , 67. Sommer 1872—Anfang 1873, III 21 [16], 3 / 4 , 119 f., hier: S. 119 (dort das ganze Zitat gesperrt). Diese Aufzeichnung beantwortet implizit Eugen Finks Frage nach der Bedeutung der Bezeichnung „ t r a g i s c h e [ . . . ] Philosophen. Sind sie dies, weil sie im Zeitalter der Tragödie lebten und dachten, — oder sind sie in ihrem Denken selbst offen f ü r das, was Nietzsche in seiner Deutung der Tragödie den Bruderbund von Dionysos und Apoll nannte? Schwingt in ihrem Denken das tragische Weltverständnis?" (Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 39). Dazu Nietzsche später, im Sommer 1878, IV 30 [32], 4 / 3 , 388: „ W e n n ich auf den Gesammtklang der älteren griechischen Philosophen hinhorchte, so meinte ich T ö n e zu vernehmen, welche ich von der griechischen Kunst, und namentlich von der Tragödie gewohnt war zu hören. In wie weit dies an den Griechen, in wie weit aber auch nur an meinen Ohren, den Ohren eines sehr kunstbedürftigen Menschen, lag — das kann ich auch jetzt noch nicht mit Bestimmtheit aussprechen." G T 2, 3 / 1 , 26. So bemerkt Nietzsche beispielsweise über die Kunst des Plastikers: „hier überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der E w i g k e i t d e r E r s c h e i n u n g , hier siegt die Schönheit über das dem Leben inhärirende Leiden, der Schmerz wird in einem gewissen Sinne aus den Zügen der N a t u r hinweggelogen." ( G T 16, 3 / 1 , 104). Derweise in den dionysischen Erscheinungen des Erhabenen als der ,,künstlerische[n] Bändigung des Entsetzlichen" und des Komischen als der ,,künstlerische[n] Entladung vom Ekel des Absurden" ( G T 7, 3 / 1 , 53). G T 3, 3 / 1 , 33. G T 5, 3 / 1 , 43. Z . B . Ende 1870—April 1871, III 7 [168], 3/3, 211 f.: „Dies der U r p r o z e ß : der eine Weltwille ist zugleich Selbstanschauung: und er schaut sich als Welt: als Erscheinung."; III 7 [175], 3 / 3 , 216: „Es i s t allein der e i n e Wille: der Mensch ist eine in jedem Moment geborne Vorstellung. [ . . . ] Und so ist unser Denken nur ein B i l d des Urintellekts, ein Denken durch die Anschauung des e i n e n Willens entstanden, der sich seine Visionsgestalt denkend denkt.", III 7 [204], 3 / 3 , 224 f., hier: S. 225: „ S o ist der ganze Wille Erscheinung geworden und schaut sich selbst an." Ζ. B. SE 5, 3 / 1 , 374: „und wenn die gesammte N a t u r sich zum Menschen hindrängt, so giebt sie dadurch zu verstehen, dass er zu ihrer Erlösung vom Fluche des Thierlebens nöthig ist und dass endlich in ihm das Dasein sich einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde das Leben nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint." Ebd., S. 378: „ D e n n wie die N a t u r des Philosophen bedarf, so bedarf sie des Künstlers zu einem metaphysischen Zwecke, nämlich zu ihrer eignen Aufklärung über sich selbst, damit ihr endlich einmal als reines und fertiges Gebilde entgegengestellt werde, was sie in der U n r u h e ihres Werdens nie deutlich zu sehen bekommt — also zu ihrer Selbsterkenntniss." E H , Die Geburt der Tragödie 1 , 6 / 3 , 308. Beispielsweise bittet Schopenhauer im § 52 des 1. Bandes von „Die Welt als Wille und Vorstellung" den Leser zu erwägen, daß „nach unserer Ansicht die gesamte sichtbare Welt nur die Objektivation, der Spiegel des Willens ist, zu seiner Selbsterkenntnis, ja wie wir bald sehn werden, zur Möglichkeit seiner Erlösung ihn begleitend" (a. a. O., S. 371). G T 4, 3 / 1 , 34.
482 176
Anmerkungen 176 bis 196 zum Abschnitt „Übersetzungen"
Ende 1870—April 1871, III 7 [168], 3 / 3 , 211 f. III 7 [64], 3/3, 161. 178 G T 10, 3/1, 68. Siehe auch ebd., S. 69, wo Nietzsche als einen der Bestandteile der „ M y s t e r i e n l e h r e d e r T r a g ö d i e " „die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Uebels" nennt. 179 Siehe W a W I, 426, wo Schopenhauer darüber sinniert, „wie wesentlich alles Leben Leiden ist". 180 'Wohl erscheint, wie Schopenhauer ausführt, der Wille in jedem Individuum ganz und ungeteilt (vgl. W a W I, 195), aber „durch die an seinen Dienst gebundene Erkenntnis getäuscht", verkennt er, wie er „in einer seiner Erscheinungen gesteigertes Wohlsein suchend, in der andern großes Leiden hervorbringt und so im heftigen Drange die Zähne in sein eigenes Fleisch schlägt, nicht wissend, daß er immer nur sich selbst verletzt, dergestalt durch das Medium der Individuation den Widerstreit mit sich selbst offenbarend, welchen er in seinem Innern trägt." ( W a W I, 484). Vgl. dazu: Friedhelm Decher, Nietzsches Metaphysik in der „Geburt der T r a g ö d i e " im Verhältnis zur Philosophie Schopenhauers, a. a. O., Seite 115—120, der indes nicht erkennt, warum dieser Schopenhauersche Ansatz f ü r Nietzsche nicht bestimmend werden konnte. 181 Ende 1870—April 1871, III 7 [116], 3 / 3 , 172 f., hier: S. 172. Das folgende Zitat S. 173. 182 Ende 1870—April 1871, III 7 [170], 3 / 3 , 213. 183 III 7 [188], 3/3, 219. 184 Siehe Ende 1870—April 1871, III 7 [201], 3 / 3 , 222—224, hier: S.223: „ D e r S c h m e r z u n d d a s L e i d m u ß m i t i n d i e V i s i o n ü b e r g e h n , aus der Vorstellung des Gemarterten: nun empfindet er ihre Visionsbilder, als Anschauender, nicht als Leid." Vgl. auch Ende 1870—April 1871, III 7 [204], 3 / 3 , 224f.: „1. Nachweis, warum die Welt nur eine Vorstellung sein k a n n . / / 2 . Diese Vorstellung ist eine verzückte Welt, die ein leidendes Wesen projicirt. Analogie-Beweis: wir sind zugleich Wille, aber ganz in die Erscheinungswelt verstrickt. Das Leben als ein fortwährender, Erscheinungen projicirender und dies mit Lust thuender Krampf. Das Atom als Punkt, inhaltslos, rein Erscheinung, in jedem kleinsten Momente werdend, n i e s e i e η d . So ist der ganze Wille Erscheinung geworden und schaut sich selbst a n . / / J e n e aus der Qual erzeugte Vorstellung wendet sich einzig der Vision zu. Sie hat natürlich kein Selbstbewußtsein. / / S o sind auch wir nur der Vision, nicht des Wesens uns b e w u ß t . / / [ . . . ] / / [ . . . ] Somit können wir sagen, daß der Schmerz des kleinsten Atoms zugleich der Schmerz des e i n e n Willens ist: und daß aller Schmerz ein und derselbe ist: die Vorstellung ist es, durch die wir ihn als zeitlich und räumlich wahrnehmen, bei NichtVorstellung nehmen wir ihn gar nicht wahr. Die Vorstellung ist die Verzückung des Schmerzes, durch die er gebrochen wird. In diesem Sinne ist der ä r g s t e S c h m e r z doch noch ein gebrochener, vorgestellter Schmerz, gegenüber dem Urschmerz des e i n e n Willens.//Die Wahnvorstellungen als Verzückungen, um den Schmerz zu brechen." 185 Ende 1870—April 1871, III 7 [201], 3/3, 222—224, hier: S. 224. 186 Ende 1870—April 1871, III 7 [116], 3/3, 172 f., hier: S. 172; vgl. auch: Ende 1870—April 1871, III 7 [201], 3/3, 222— 224, hier: S. 223. 187 Ende 1870—April 1871, III 7 [117], 3 / 3 , 173 f., hier: S. 173; vgl. auch: III 7 [165], 3 / 3 , 210: „ D a s A l l e i n e l e i d e t und projicirt zur Heilung den Willen, zur Erreichung der reinen Anschauung. Das Leid, die Sehnsucht, der Mangel als Urquell der Dinge." 188 G T , Versuch einer Selbstkritik 5, 3 / 1 , 11. 189 G T 24, 3/1, 148. 190 G T , Versuch einer Selbstkritik 7, 3 / 1 , 15. 191 p w 3 7 0 ) 5 / 2 , 301—304, hier: S. 302. 192 G T , Versuch einer Selbstkritik 1, 3 / 1 , 6. 193 D W 4, 3 / 2 , 64. 194 Sommer 1875, IV 9 [1], 4 / 1 , 207—257, hier: S.232. 195 Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [18], 3 / 3 , 65. 196 VIII 14 [47], 8/3, 33. 177
Anmerkungen 197 bis 227 zum Abschnitt „Übersetzungen" 197 198 199 200 201 202 203
204 205 206 207 208 2°9 210
211 212 213 214 2 '5 216 217 218 219 22° 22' 222 223 224
225
226 227
483
III 3 [17], 3/3, 64 f. G T 25, 3/1, 151. Ende 1870—April 1871, III 7 [201], 3/3, 222—224, hier: S. 222. Ende 1870—April 1871, III 7 [157], 3/3, 207 f., hier: S.207. Ende 1870—April 1871, III 7 [201], 3/3, 222—224, hier: S.223. CV 3, 3/2, 262. Ende 1870—April 1871, III 7 [154], 3/3, 207; vgl. auch III 7 [196], 3/3, 221: „Das Ineinander von Leid und Lust im Wesen der Welt ist es, von dem wir leben. Wir sind nur Hülsen um jenen unsterblichen Kern." G T 1, 24. D W 1, 3/2, 49 f. Ende 1870—April 1871, III 7 [123], 3/3, 184—187, hier: S. 185; ebenso: G T 10, 3/1, 68. Ende 1870—April 1871, III 7 [172], 3/3, 213. G T 25, 3/1, 151. Ende 1870—April 1871, III 7 [172], 3/3, 213 f., hier: S.214. Genialität ist für Schopenhauer „die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren und die Erkenntnis, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens daist, diesem Dienste zu entziehn, d. h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrigzubleiben: und dieses nicht auf Augenblicke; sondern so anhaltend und mit so viel Besonnenheit, als nötig ist, um das Aufgefaßte durch überlegte Kunst zu wiederholen [ . . . ]." (WaW I, 266) „Der gewöhnliche Mensch, diese Farbikware der Natur, wie sie solche täglich zu Tausenden hervorbringt", ist hingegen „einer in jedem Sinn völlig uninteressierten Betrachtung, welches die eigentliche Beschaulichkeit ist, wenigstens durchaus nicht anhaltend fähig: er kann seine Aufmerksamkeit auf die Dinge nur insofern richten, als sie irgendeine, wenn auch nur sehr mittelbare Beziehung auf seinen Willen haben." (WaW I, 268) Ende 1870—April 1871, III 7 [116], 3/3, 172 f., hier: S. 172. Ende 1870—April 1871, III 7 [117], 3/3, 173 f., hier: S. 174. Ende 1870—April 1871, III 7 [116], 3/3, 172 f., hier: S. 172. G T 24, 3/1, 148. Ebd. G T 19, 3/1, 122. G T 4, 3/1, 35. DW 1, 3/2, 46. Ende 1870—April 1871, III 7 [175], 3/3, 216 f., hier: S.217. Ebd. Ebd. Ende 1870—April 1871, III 7 [157], 3/3, 207 f. G T 5, 3/1, 43. Siehe Anm. 279 des Abschnitts „Voraussetzungen". Nachweise für Zitate aus diesem Text im folgenden in Klammern. — Erst bei der Drucklegung der vorliegenden Arbeit habe ich Kenntnis von Schmids Buch „Nietzsches Gedanke der tragischen Erkenntnis" (Würzburg 1984 [Nietzsche in der Diskussion]) erhalten, das ich zu den nicht allzu häufigen wirklich wichtigen Auslegungen der Nietzscheschen Philosophie zählen möchte. Die Lektüre dieser Schrift bestätigte meine Vermutung, daß der von mir diskutierte Aufsatz ihre Grundgedanken enthält. Abgesehen davon, daß meine Auseinandersetzung mit Schmid nunmehr noch auf eine breitere Basis Nietzschescher Texte gestellt werden könnte, habe ich daher meinen obigen Ausführungen nichts Wesentliches hinzuzufügen. Siehe: Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [106], 2 [110] bis 2 [120], 8/1, 111 bzw. 113—119; November 1887, VIII 11 [415], 8/2, 435 f.; Frühjahr 1888, VIII 14 [14] bis 14 [26] und 14 [33] bis 14 [36], 8/3, 16—22, 26—28. III/5, 513—515, hier: S. 515. VIII 2 [139], 8/1, 133 f., hier: S. 134.
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Anmerkungen 228 bis 266 zum Abschnitt „Übersetzungen" VIII 14 [98], 8 / 3 , 66—68, hier: S.67. VII 35 [15], 7 / 3 , 235 f., hier: S. 236. Schmid beruft sich dabei auf die folgenden beiden Aufzeichnungen: Winter 1883—1884, VII 24 [9], 7 / 1 , 689 f., April—Juni 1885, VII 34 [46], 7 / 3 , 154. 6 / 2 , 44. Ebd. VIII 5 [9], 8/1, 191. 6 / 2 , 50 f., hier: S.51. Wie Anm. 227, S. 133. 6 / 2 , 361. Frühjahr 1888, VIII 14 [98], 8/3, 66—68, hier: S.67. Vgl. dazu eine Aufzeichnung von Ende 1886—Frühjahr 1887, VIII 7 [4], 8 / 1 , 267—278, hier: S. 267, in der ein Gedanke zum Ausdruck kommt, der sich bereits in P H G 4, 3 / 2 , 312 ff. findet: „Seit Plato ist die Philosophie unter der Herrschaft der Moral: auch bei seinen Vorgängern spielen moralische Interpretationen entscheidend hinein". Siehe auch Nietzsches Brief an Constantin N a u m a n n vom 5. 10. 1887, III/5, 163. VII 40 [25], 7 / 3 , 373: „ D e r Glaube an die unmittelbare Gewißheit des Denkens ist ein Glaube mehr, und keine Gewißheit! Wir Neueren sind Alle Gegner des Descartes und wehren uns gegen seine dogmatische Leichtfertigkeit im Zweifel. ,Es muß besser gezweifelt werden als Descartes!' " So hat schließlich auch Wolfgang Müller-Lauter die in seinem Nietzsche-Buch (a. a. O., S. 166) geäußerte Auffassung widerrufen, daß Nietzsches naturwissenschaftliche Begründung der Wiederkunftslehre „exoterisches R e d e n " sei, „das auf den Zeitgeist Rücksicht nimmt" (W. M.-L., Das Willenswesen und der Übermensch, a. a. O., S. 160 f., Anm. 38). VIII 14 [79], 8 / 3 , 49—51. Ebd., S. 49. Ebd., S. 50. Ebd. Ebd., S.51. Wie Anm. 237. G D , Die „ V e r n u n f t " in der Philosophie 4, 6 / 3 , 70. In: Nietzsche-Studien 13/1984, S. 356—373, hier: S. 360. Ebd., S. 364. August—September 1885, VII 40 [8], 7 / 3 , 363 f., hier: S. 363. Juni—Juli 1885, VII 37 [5], 7 / 3 , 305 f., hier: S. 306. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsches Philosophie der Gegensätze, a. a. O., S. 21. AC 14, 6 / 3 , 178. Siehe auch: November 1887—März 1888, VIII 11 [73], 8 / 2 , 278 f.; Frühjahr 1888, VIII 14 [219], 8 / 3 , 186; Frühjahr 1888 VIII 14 [121], 8 / 3 , 92 f.; Frühjahr 1888, VIII 14 [122], 8 / 3 , 93—95; Winter 1883—1884, VII 24 [34], 7 / 1 , 705; vgl. dazu schon: Müller-Lauter, Nietzsches Philosophie der Gegensätze, a . a . O . , S. 2 3 f . 6 / 2 , 2 59. G T 15, 3 / 1 , 95. Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, a. a. O., S. 60. G T 9, 3 / 1 , 62 f. VIII 20 [58], 8 / 3 , 363. Johann Wolfgang Goethe, Z u r Farbenlehre, Vorwort, H A 13, 315. VII 25 [351], 7 / 2 , 101. VII 25 [352], 7 / 2 , 101. 6/1, 166. G T 3, 3 / 1 , 30 f. Ebd., S. 31. III 3 [62], 3 / 3 , 77. V M 169, 4 / 3 , 82 f.
Anmerkungen 267 bis 293 zum Abschnitt „Übersetzungen" 267
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Bernhard Lypp, op. cit., S. 370. 268 Yg[ d a z u : Bernhard Lypp, op. cit., S. 370. 269 Frühjahr 1888, VIII 14 [47], 8/3, 33. 270 VIII 2 [114], 8/1, 117. 271 GM III 6, 6 / 2 , 365. 272 Siehe: Frühjahr 1884, VII 25 [505], 7 / 2 , 142 f. 273 III 3 [11], 3 / 3 , 62. 274 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [145], 3/4, 53. 275 SE 6, 3 / 1 , 395 f. Nietzsche fährt dort fort: „und so giebt es einen Widerstreit der Gesinnungen und Thätigkeiten. Ganz beglückte Zeiten brauchten den Gelehrten nicht und kannten ihn nicht, ganz erkrankte und verdrossene Zeiten schätzten ihn als den höchsten und würdigsten Menschen und gaben ihm den ersten Rang." 276 H A 12, 371, Nr. 47. 277 H L 7, 3 / 1 , 294. 278 VIII 2 [93], 8/1, 105. 279 Martin Heidegger, Uberwindung der Metaphysik, a. a. O., S. 74. 280 November 1882—Februar 1883, VII 5 [1], 7 / 1 , 191—233, hier: S.219. 281 Za III, 6 / 1 , 205 f. 282 Im Zeitraum Ende Sommer 1883 und Anfang 1884 arbeitete Nietzsche am 3. Teil des „Zarathustra", während die im folgenden zitierte Aufzeichnung VII 24 [28], 7 / 1 , 703 f. im Winter 1883—1884 entstanden ist. 283 G T 1, 3 / 1 , 25. 284 W L 1, 3 / 2 , 369. 285 III 29 [72], 3 / 4 , 268 f., hier: S. 269. 286 Za, Vorrede 3, 6 / 1 , 8. 287 Ebd. 288 H A 1, 304. 289 Vgl auch, was der Philosoph dazu sagt, der sich bisher am aufgeschlossensten f ü r das gezeigt hat, was uns bewegt. Im Kapitel „ D a s Da-sein als Befindlichkeit" bemerkt Martin Heidegger in „Sein und Zeit" (a. a. O., S. 138): „Theoretisches Hinsehen hat immer schon die Welt auf die Einförmigkeit des puren Vorhandenen abgeblendet, innerhalb welcher Einförmigkeit freilich ein neuer Reichtum des im reinen Bestimmen Entdeckbaren beschlossen liegt." 290 Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding, Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, Tübingen 1962, S. 163 f. 291 Siehe f ü r die Spätzeit F W 301, 5 / 2 , 219 f., hier: S. 220 (zitiert in Anm. 545 zum Abschnitt „Voraussetzungen"). Siehe auch: Herbst 1887, VIII 9 [102], 8/2, 57 f., hier: S.57: „Die Zustände, in denen wir eine V e r k l ä r u n g u n d F ü l l e i n d i e Dinge legen und an ihnen dichten, bis sie unsere eigene Fülle und Lebenslust zurückspiegeln:/ der Geschlechtstrieb/ der Rausch/die Mahlzeit/der Frühling/der Sieg über den Feind, der H o h n / d a s Bravourstück; die Grausamkeit; die Ekstase des religiösen Gefühls." Umgekehrt muß Nietzsche aber auch folgendes annehmen, was er mit seinem Ansatz wohl schwerlich erklären kann: „treten uns Dinge entgegen, welche diese Verklärung und Fülle zeigen, so antwortet das animalische Dasein mit einer E r r e g u n g j e n e r S p h ä r e n , wo alle jene Lustzustände ihren Sitz haben: — und eine Mischung dieser sehr zarten Nuancen von animalischen Wohlgefühlen und Begierden ist der a e s t h e t i s c h e Z u s t a n d . " : Der gleiche Zwiespalt wie in seiner Jugend. 292 Hervorhebung von mir, T h . B. 293 Juli 1863, BAW 2, 255—257, hier: S.255. Vgl. auch, was Nietzsche in einer anderen Aufzeichnung vom Juli 1863, überschrieben „ N a t u r p h y s i o g n o m i e " (BAW 2, 259 f., hier: S. 260), bemerkt: „ W e r fühlt sich nicht anders gestimmt in dem dunkeln Schatten der Buchen; auf Hügeln, die mit einzeln stehenden T a n n e n bekränzt sind; oder auf der Grasflur, w o der Wind in dem zitternden Laube der Birke säuselt?"
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