Schriftliche Sprache: Strukturen geschriebener Wörter und ihre Verarbeitung beim Lesen [Reprint 2016 ed.] 9783110935851, 9783484220409


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German Pages 224 Year 1988

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Kapitel 1: Mündliche und schriftliche Äußerungen
Kapitel 2: Schriftgeschichte
Kapitel 3: Schriftsysteme
Kapitel 4: Das deutsche Schriftsystem
Kapitel 5: Augenbewegungen beim Lesen
Kapitel 6: Phonologisches Rekodieren
Kapitel 7: Worterkennung und Leseprozeß
Kapitel 8: Interaktionen von Schriftsystem und Leseprozeß
Literatur
Namenregister
Sachregister
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Schriftliche Sprache: Strukturen geschriebener Wörter und ihre Verarbeitung beim Lesen [Reprint 2016 ed.]
 9783110935851, 9783484220409

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Klaus Baumgärtner

40

Hartmut Günther

Schriftliche Sprache Strukturen geschriebener Wörter und ihre Verarbeitung beim Lesen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988

Den Kollegen von der Studiengruppe »Geschriebene Sprache« bei der WernerReimers-Stiftung, Bad Homburg, gewidmet.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Günther, Hartmut: Schriftliche Sprache: Strukturen geschriebener Wörter u. ihre Verarbeitung beim Lesen / Hartmut Günther. - Tübingen : Niemeyer, 1988 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ; 40) NE: GT ISBN 3-484-22040-6

ISSN 0344-6735

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten/Allgäu

Inhalt

Einleitung 1. 1.1 1.2 1.3

1

Mündliche und schriftliche Äußerungen Der lautsprachliche Kommunikationsprozeß Schriftliche Kommunikation Phonetik, Phonologie und die Erforschung der schriftlichen Sprache und Sprachtätigkeit 1.4 Zusammenfassung

6 6 10 14 17

2. 2.1 2.2 2.3 2.4

Schriftgeschichte Entstehung der Schrift Historisch orientierte Klassifikation von Schriftsystemen Vorgeschichte des Alphabets Zusammenfassung

18 18 22 31 39

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7

Schriftsysteme Terminologie und Klassifikation Chinesisch: Ein logographisches Schriftsystem Japanisch: Ein wort-silbisches Schriftsystem Koreanisch: Ein alphabetisches Silbenschriftsystem . . . . Alphabetschriften Sonderschriftsysteme Zusammenfassung

40 40 45 50 54 58 61 63

4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Das deutsche Schriftsystem Die graphischen Mittel (Graphetik des Deutschen) . . . . Zur Definition des Begriffs Graphem Elemente einer Graphematik des Deutschen Architektur des deutschen Schriftsystems Graphem-Phonem-Korrespondenzen Zusammenfassung

64 64 68 79 86 94 98

5. Augenbewegungen beim Lesen 5.1 Physiologie des Auges 5.2 Augenbewegungen beim Lesen: Globale Parameter . . . .

99 99 103 V

5.3 Die Wahrnehmungsspanne 5.4 Lokale Kontrolle der Augenbewegungen und Informationsintegration 5.5 Zusammenfassung

111 114 121

6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8

Phonologisches Rekodieren Fragestellung Subvokalisation und Verwandtes Zwei Befunde der Worterkennungsforschung Lexikalische Entscheidungsexperimente Aussprechexperimente Befunde der Neuropsychologie Schlußbemerkungen Zusammenfassung

122 122 127 129 134 139 141 146 148

7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6

Worterkennung und Leseprozeß Der Wortüberlegenheitseffekt Sublexikale Ebenen Morphologische Gliederung Lexikalische Gliederung Worterkennung, Lexikon und Leseprozeß Zusammenfassung

149 149 154 159 164 169 171

8. 8.1 8.2 8.3 8.4

Interaktionen von Schriftsystem und Leseprozeß Schriftsysteme und Leseprozeß Orthographie und Orthographiereform Schriftspracherwerb Zusammenfassung und Ausblick

172 172 180 191 195

Literatur

197

Namenregister

211

Sachregister

214

VI

Einleitung Sprache und Schrift verhalten sich zueinander wie Linie und Zahl. H e j m a n n Paul

Schriftliche Sprache spielt in so vielen Bereichen unseres modernen Lebens eine zentrale Rolle, daß wir uns dessen kaum mehr bewußt werden. Denn es gehört zur entwickelten Fähigkeit des Lesens und Schreibens, daß die Lese- und Schreibtechnik selbstverständlich ist. Dementsprechend muß menschliche Tätigkeit in einer entwickelten Gesellschaft betrachtet werden als stets u.a. auch durch Schriftlichkeit bestimmt. Dabei läßt sich Schrift und Schriftlichkeit unter sehr verschiedenen Blickwinkeln zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung machen. Abbildung 1 gibt einen sehr globalen und keineswegs vollständigen Überblick über die Dimensionen, die bei ihrer Erforschung zu berücksichtigen sind. Es ist unmittelbar einsichtig, daß der durch diese Auflistung umrissene Gegenstand nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit behandelt werden kann (vgl. Günther, Ludwig et al. 1987). Das vorliegende Buch soll Aspekte thematisieren, die sich in gewisser Weise als Schnittmenge dieser Dimensionen ergeben. Es handelt sich um die basalen Strukturen schriftlicher Äußerungen und die bei ihrer Verarbeitung beim Erwachsenen mehr oder weniger automatisch ablaufenden kognitiven Prozesse. Ich gehe dabei aus von der Unterscheidung von Sprachsystem und Sprachtätigkeit. Ich ziehe den Begriff der Sprachtätigkeit dem Ausdruck Sprachverarbeitung vor, weil er stärker die aktive Komponente betont. Wesentliches Kennzeichen für die linguistische Auffassung vom Sprachsystem ist es, daß von den Bedingungen seiner Verwendung abstrahiert wird, also insbesondere von Unterschieden zwischen der Produktion sprachlicher Äußerungen und ihrer Perzeption. Diese aber sind zentral für die Analyse der Sprachtätigkeit. Abbildung 2 kennzeichnet das systematische Verhältnis der vier basalen Sprachtätigkeiten Sprechen, Hören, Schreiben und Lesen, über die ein durchschnittlicher erwachsener Sprecher des Deutschen verfügt. Die Unterscheidung von Sprachsystem und Sprachtätigkeit ist im Zusammenhang dieses Buches vor allem deswegen wichtig, weil es unzulässig ist, von beschreibbaren strukturellen Sachverhalten auf der Ebene des Sprachsystems direkt auf kognitive Prozesse bei der Sprachtätigkeit zu schließen. Eben weil linguistische Beschreibungen des Schriftsystems notwendig von den Bedingungen der Produktion und 1

1. Systematische Dimension — — — — —

Typologie der Schriftsysteme Zusammenhang zwischen Sprachsystem und Schriftsystem Wechselwirkung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache Eigenschaften schriftlicher Äußerungen Bedingungen schriftlicher Kommunikation

2. Psychologisch-physiologische und medizinische Dimension — — — — —

Psychologie des Lesens und Psychologie des Schreibens Entwicklung der Lese- und Schreibfähigkeit Physiologie des Schreibens und Lesens Pathologie des Schriftgebrauchs Rolle der Schrift unter primär-pathologischen Voraussetzungen

3. Soziale Dimension — — — — — —

Schriftliche Kommunikationsformen und ihre Anwendung Funktion der Schriftlichkeit Orthographie und Standardisierung von Schriftsystemen Alphabetisierung illiteraler Gesellschaften Analphabetismus in entwickelten Gesellschaften Maschinelle Verarbeitung von Texten und Schrift

4. Historische Dimension — — — —

Geschichte der Struktur von Schriftsystemen Geschichte der Funktion von Schriftlichkeit Geschichte der wissenschaftlichen Betrachtung von Schrift Die Entwicklung geschriebener und nichtgeschriebener Sprachen

5. Pädagogische und therapeutische Dimension — — — — —

Erwerb der schriftlichen Sprache Erlernung der schriftlichen Kommunikationsformen Einführung der Schriftlichkeit in schriftlosc Gesellschaften Therapie von Schriftpathologien (Re-)Alphabetisierung bei Erwachsenen

Abbildung 1: Dimensionen der Schriftlichkeit (modifiziert nach Günther & Günther 1983: VIII) P e r z e p t i o n a b s t r a h i e r e n , k ö n n e n sie k e i n e M o d e l l e d e r s c h r i f t l i c h e n S p r a c h t ä t i g k e i t l i e f e r n . Es w i r d d e s h a l b in d i e s e m B u c h d i e D i c h o t o m i e » S p r a c h e vs. S c h r i f t « v e r m i e d e n , da b e i m G e b r a u c h des A u s d r u c k s » S p r a c h e « i n der R e g e l auf das S p r a c h s y s t e m a b g e h o b e n u n d v o n d e n B e d i n g u n g e n der P r o d u k t i o n u n d P e r z e p t i o n w i e a u c h v o n M ü n d l i c h k e i t u n d S c h r i f t l i c h k e i t abstrahiert w i r d - bei d e r A n a l y s e d e r Sprachtätigkeit d a g e g e n e r l a n g e n d i e s e z e n t r a l e B e d e u t u n g . Mit w e n i g e n A u s n a h m e n befaßt sich m e i n e Darstellung der linguistisch beschreibbaren Strukturen mit der F o r m v o n Wörtern in schriftl i c h e n Ä u ß e r u n g e n , d.h. d i e s y n t a k t i s c h e u n d d i e T e x t e b e n e w e r d e n 2

Produktion

Perzeption

Mündlich

Sprechen

Hören

Schriftlich

Schreiben

Lesen

A b b i l d u n g 2: Verhältnis der vier basalen Sprachtätigkeiten (nach G ü n t h e r 1985a)

nur gelegentlich in Betracht gezogen. Der G r u n d d a f ü r ist, daß f ü r die Sprachsystembeschreibung zwar ein phonologisches und ein graphematisches Teilsystem zu unterscheiden sind, daß aber Morphologie, Syntax und höhere Teilsysteme f ü r die mündliche und die schriftliche Sprache die gleichen sind. Weiterhin habe ich mich bei der Beschreibung der Sprachtätigkeit auf das Lesen beschränkt. Dies ist zunächst der Forschungslage geschuldet: Während bei der wissenschaftlichen Erforschung der mündlichen Sprachtätigkeit in den letzten 100 Jahren die Sprachproduktion im Vordergrund stand, ist bezüglich der schriftlichen Sprachtätigkeit fast ausschließlich der Lesevorgang thematisiert und der Schreibprozeß weitgehend vernachlässigt worden. Dies ist freilich wohl m e h r als ein Zufall oder eine bloße Konsequenz aus der technischen Leichtigkeit, mit der m a n jeweils das eine untersuchen konnte gegenüber den Schwierigkeiten bei der Untersuchung des anderen. I m ersten Kapitel werden wir sehen, daß die phonetische Analyse der mündlichen Sprachtätigkeit in der Tat auch beim Hörer auf den Sprecher zurückweist, daß aber der Lesevorgang keineswegs auf den Schreibprozeß bezogen ist. D a eine wesentliche Zielsetzung dieses Buches darin besteht, durch die Gegenüberstellung von strukturlinguistischen und sprachpsychologischen Befunden zur schriftlichen Sprache und Sprachtätigkeit deren Z u s a m m e n h a n g etwas aufzuhellen, habe ich mich im wesentlichen auf den strukturellen K e r n des Leseprozesses beschränkt, d.h. die visuelle Worterkennung. Dies folgt zunächst aus der oben genannten Position, daß sich das graphematische Teilsystem einer Sprache auf die Wortebene und darunter bezieht, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, genau diesen Bezugspunkt auch für die Diskussion des Leseprozesses zu w ä h l e n : In welcher F o r m werden die schriftlichen Strukturen auf dieser Ebene verarbeitet? Damit soll freilich nicht impliziert sein, daß die Verarbeitung schriftlicher Sprache beim Lesen nur auf den Ebenen von Wort und Buchstabe unterschiedlich zur mündlichen Sprachverarbeitung ist. Angesichts der in Kapitel 1 thematisierten Unterschiede zwischen schriftlichen und mündlichen Äußerungen wäre es außerordentlich überraschend, wenn ihre Verarbeitung in gleicher Weise 3

erfolgen würde. In welcher Form freilich z.B. syntaktisches Parsing oder der Aufbau von Makropropositionen beim Hören und Lesen (und Sprechen und Schreiben) unterschiedlich sind oder sein können, ist derzeit noch kaum erforscht. Aus diesen Überlegungen folgt der Aufbau des vorliegenden Buches. Nachdem im ersten Kapitel einige globale Charakteristika mündlicher und schriftlicher Sprachtätigkeit gegenübergestellt und daraus Folgerungen für die Erforschung der schriftlichen Sprache und Sprachtätigkeit gezogen werden, sollen in den folgenden drei Kapiteln Strukturen schriftlicher Sprache diskutiert werden. Der historische Aspekt wird in Kapitel 2 behandelt. Kapitel 3 gibt eine Übersicht über wichtige Schriftsysteme. Im umfangreichen Kapitel 4 wird das heutige deutsche Schriftsystem paradigmatisch als Beispiel für ein modernes alphabetisches System beschrieben. Die darauf folgenden Kapitel befassen sich mit der schriftlichen Sprachtätigkeit, d.h. mit Prozessen bei der Perzeption schriftlicher Äußerungen. Kapitel 5 beschreibt grundlegende Aspekte der Augenbewegungen beim Lesen. In Kapitel 6 wird die Frage systematisch diskutiert, inwieweit der Lesevorgang eine Umsetzung des Geschriebenen in eine phonetisch-phonologische Form involviert. Kapitel 7 behandelt den zentralen Aspekt des Lesevorgangs, nämlich die Worterkennung. Im Schlußkapitel schließlich soll an drei Bereichen gezeigt werden, wie Schriftsystem und schriftliche Sprachtätigkeit interagieren. Beim Schreiben dieses Buches habe ich mich an zwei Maximen gehalten. Die erste lautete, das, was ich zu sagen habe, möglichst so zu formulieren, daß es mit ein wenig Mühe auch der verstehen kann, der nicht Sprachwissenschaftler oder experimentell arbeitender Psychologe ist. Denn wenn man Schrift und Schriftlichkeit als einen interdisziplinären Gegenstand betrachtet, so ist es wichtig, die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Einzelbereiche fächerübergreifend bekannt und die einzelwissenschaftlichen Perspektiven verstehbar zu machen. Die zweite Maxime lautete, wesentliche Fragen in einigermaßen erschöpfendem Detail zu behandeln. Um dies auf gegebenem Raum möglich zu machen, ist besonders bei der Darstellung experimenteller Befunde eine sehr strikte Auswahl weniger Arbeiten unvermeidbar gewesen, die möglicherweise stellenweise eklektizistisch wirkt; dieser Tendenz sollen Hinweise auf zusammenfassende Arbeiten entgegenwirken. Technische Abkürzungen habe ich zu vermeiden gesucht. Bei den Literaturhinweisen habe ich mich an die in führenden internationalen Zeitschriften übliche Form gehalten: Ein Kurzzitat im Text verweist auf die Literaturliste am Ende des Buches. Auch den vorliegenden sehr kleinen Ausschnitt aus Problemen von Schrift und Schriftlichkeit hätte ich kaum bewältigen können ohne die 4

Diskussionen, die ich mit meinen Kollegen der Studiengruppe » G e schriebene Sprache« in den letzten 5 J a h r e n führen durfte - Claus Wallesch, Eckart Scheerer, Bernd Pompino-Marschall, Ulrich Knoop, Otto Ludwig, Klaus B. Günther, Helmut Glück, Heinz W. Giese, Peter Eisenberg, Konrad Ehlich, Florian Coulmas und Jürgen Baurmann. Mein Dank gilt auch der Werner Reimers Stiftung, die die kontinuierliche Arbeit der Gruppe ermöglicht hat. Schließlich danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung eines Heisenbergstipendiums, ohne das dieses Buch kaum in der vorliegenden F o r m möglich geworden wäre. Das Manuskript wurde inhaltlich im April 1986 abgeschlossen; viele Kollegen hatten frühere Teilversionen kommentiert. Verzögerungen beim ursprünglich vorgesehenen Publikator und schließlich ein Verlagswechsel (Mai 1987) sind Ursache des relativ späten Erscheinens dieses Buches. Ich danke dem M a x Niemeyer Verlag für die prompte Ü b e r n a h m e des Buches in sein Programm und die rasche Produktion.

5

Kapitel 1: Mündliche und schriftliche Äußerungen

In diesem Kapitel soll zunächst einiges v o n d e m skizziert werden, was die für lautsprachliche Äußerungen zuständige Wissenschaft, die Phonetik, über ihren Gegenstand zu sagen hat (1.1), sodann sollen Charakteristika schriftlicher K o m m u n i k a t i o n im Gegensatz dazu betrachtet werden (1.2). Im Abschnitt 1.3 werden einige Konsequenzen aus diesen Darstellungen zur Sprache k o m m e n .

1.1 Der lautsprachliche Kommunikationsprozeß Es ist üblich, rudimentäre Aspekte des lautsprachlichen Kommunikationsprozesses wie in Abbildung 3 darzustellen.

Abbildung 3: Ein Schema des mündlichen Kommunikationsprozesses

Inhaltlich verbirgt sich dahinter möglicherweise die Einsicht in folgende Aspekte lautsprachlicher Kommunikationsvorgänge: Ein Sprecher äußert sich auf wahrnehmbare Weise durch Betätigung seiner Artikulationsorgane, und ein Hörer reagiert darauf. Es wird ein akustisches Signal produziert, d.h. ein flüchtiges Signal mit einer Erstrekkung in der Zeit. Jeder Sprecher ist gleichzeitig ein Hörer seiner eigenen Äußerung, und in normaler Kommunikation wechseln Sprecher und Hörer ständig die Rollen. Zentral bei diesen einfachen Überlegungen ist der Sprecher: Ohne Sprecher kein Signal, ohne Signal kein (externer) Hörer und keine wahrnehmbare Bedeutung. Was tut der Sprecher? Er betätigt auf teilweise universell, teilweise einzelsprachlich geregelte Weise seine Artikulationsorgane und erzeugt dabei Schall; Details sind in den einschlägigen Lehrbüchern der Phonetik beschrieben (vgl. allgemein Tillmann 1980, für das Deutsche Kohler 1977). Bedingt ist die Art der Betätigung der Artikulationsorgane zunächst einzelsprachunabhängig durch die Gegebenheiten des menschlichen Artikulationapparates, der von den Lungen über den Kehlkopf bis zu den Lippen einschließlich des Nasenraumes reicht. Bei der Kennzeichnung einer artikulatorischen Einstellung sind verschiedene Parameter zu berücksichtigen wie 6

Modus, Stelle und Organ, Stimmhaftigkeit etc. Einzelsprachlich geregelt ist, welche Parametereinstellungen zur Produktion regulärer Äußerungen zulässig sind. Bei den Konsonanten des Deutschen etwa ist die Kombination Plosiv/Lippen zulässig (z.B. am Anfang von BÄR), dagegen die Kombination Frikativ/Lippen nicht (die im Englischen zulässig ist, z.B in WHERE). Die zulässigen Parametereinstellungen in einer Sprache werden bestimmt durch eine Auswahl aus den universell zulässigen Parametereinstellungen der Artikulationsorgane (»reguläre Vektoren«, vgl. Tillmann 1980). Betrachtet man freilich die Artikulation des Anfangs der Wörter KAHL, KIEL, KOHL und K Ü H L , so stellt man etwas Verblüffendes fest. Während der Aussprache von allen vier Wörtern gemeinsam ist, daß zu Beginn der Zungenrücken kurz gegen den hinteren Gaumen gedrückt und dann davon wegbewegt wird, ist - bevor überhaupt Schall wahrnehmbar wird - die Lippenstellung bei [ko:l] anders als bei [ka:l] und [ki:l]. Ferner: Wenn man oft genug hintereinander [ka:l] und [ki:l] äußert, wird man feststellen, daß zwar in beiden Fällen der Zungenrücken den G a u m e n berührt, aber nicht an der gleichen Stelle. Trotzdem hat man gelernt zu sagen, daß alle diese Wörter mit dem gleichen »Laut« anfangen. Die Pioniere der modernen Phonetik in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts haben nun entdeckt, daß man trotz dieser offensichtlichen Verschiedenheiten bei der Artikulation eines »Lautes« lautsprachliche Äußerungen systematisch durch Symbole kennzeichnen kann, die die obengenannten artikulatorischen Parameter spezifizieren. Jeder, der das aufgrund dieser Beobachtung entwickelte System beherrscht (das International Phonetic Alphabet, kurz IPA - vgl. IPA 1949), ist in der Lage, eine beliebige Äußerung in irgendeiner natürlichen Sprache als eine Abfolge von schriftlichen Symbolen darzustellen oder eine Symbolfolge, die ein anderer mit diesem Hilfsmittel korrekt niedergeschrieben hat, adäquat lautsprachlich zu reproduzieren, ohne die Originaläußerung gehört zu haben oder auch nur die Sprache zu kennen. Auf dieser Grundlage entwickelte man eine sehr einfache Theorie der lautsprachlichen Kommunikation. Aus der Darstellbarkeit lautsprachlicher Äußerungen als Abfolge diskreter Segmente wurde geschlossen, daß mithin die lautsprachlichen Äußerungen selbst eine Abfolge einzelner Segmente, eben der Sprachlaute, seien. Es erfordert nur wenig Überlegung zu erkennen, daß die Konklusion nicht aus der Prämisse folgt: Daß man lautsprachliche Äußerungen durch eine Abfolge diskreter Elemente beschreiben kann, besagt nicht, daß die Äußerung selbst eine Abfolge diskreter Elemente ist (vgl. ausführlich Tillmann & G ü n t h e r 1986). Gemäß dieser Theorie produziert der Sprecher das 7

Sprachsignal als eine Abfolge artikulatorischer Einstellungen, die in einer Abfolge akustischer Sprachlaute im Sprachsignal resultieren, das der Hörer als eben eine solche Abfolge wahrnimmt und verarbeitet. Ich vermute, daß die meisten Leser dieses Buches eine entsprechende Alltagstheorie vom Funktionieren der lautsprachlichen Kommunikation haben. Und doch steckt sie voller Probleme, sobald man daran geht, sie im einzelnen zu verifizieren. Ein erstes Problem zeigt sich bereits in dem oben angeführten einfachen Selbstbeobachtungsexperiment: Wenn man nacheinander die Wörter KAHL, KIEL, KOHL und K Ü H L artikuliert, so kann man beobachten, daß bereits bei der Artikulation des Wortanfangs, also des [k], die Lippen sich bei jedem Wort unterschiedlich formen entsprechend dem folgenden Vokal. Dieses Phänomen der Koartikulation, das zuerst Menzerath & de Lacerda 1933 systematisch beschrieben haben, ist eine erste empirische Falsifikation der eben genannten einfachen Theorie des phonetischen Funktionierens lautsprachlicher Kommunikation: Es gibt ganz offensichtlich keine artikulatorisch vollständig spezifizierbaren Einstellungen für einzelne Sprachlaute, die einander in diskreter Weise folgen; vielmehr ist die Artikulation ein kontinuierlicher Prozeß. Die Tatsache, daß bei der Messung und technischen Darstellung des akustischen Sprachsignal ebenfalls keine Segmentgrenzen erkennbar sind, ist ein weiteres Problem - es gibt bis heute trotz erheblicher technischer und finanzieller Aufwendungen kein Verfahren, mit dem man natürliche gesprochene Sprache automatisch in Sprachlaute aufteilen könnte, was (jedenfalls prinzipiell) möglich sein müßte, sollte die oben geschilderte einfache Theorie zutreffen. Was schließlich den Hörer angeht, so kann man zwar nachweisen, daß er sehr strikt zwischen »Sprachlaut«kategorien unterscheiden kann, (vgl. den klassischen Aufsatz von Liberman, Cooper, Shankweiler & Studdert-Kennedy 1967), aber es zeigt sich neuerdings, daß den perzeptuellen Kategorien keine invarianten akustischen Merkmale entsprechen. Kurz: Es gibt weder im akustischen Sprachsignal noch bei seiner Produktion oder Perzeption sinnvolle Korrelate für das, was wir »Sprachlaut« nennen (vgl. die zusammenfassende Darstellung der modernen perzeptiven Phonetik in Pompino-Marschall 1983). Einen Ausweg aus dieser Problematik haben schon sehr früh die Linguisten vorgeschlagen; von besonderer Bedeutung sind hier die Arbeiten von Trubetzkoy gewesen, vor allem seine »Grundzüge der Phonologie« von 1939. Er führte die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Sprachlaute auf Realisationsvorgänge zurück. Wesentlich für eine Sprache und ihre Beschreibung sind danach nur die funktionalen Unterschiede, d.h. Lautunterschiede, die Bedeutungen unterscheiden können, vgl. im Deutschen z.B. / k / vs. / h / in KOHL VS. H O H L oder / o : / vs. 8

/ i : / in der gesprochenen (!) Version von K O H L VS. KIEL etc., nicht aber z.B. die Unterschiede der K-Laute in KIEL VS. KOHL oder eines gerollten R-Lautes gegenüber einem nicht-gerollten. Jede Sprache besitzt nach Trubetzkoy ein restringiertes Inventar solcher Einheiten. Sie allein machen die Elemente jeder möglichen Äußerung aus; jede lautsprachliche Äußerung in einer Sprache ist darstellbar als eine Abfolge von Elementen aus dieser Menge. Die beobachtbaren Unterschiede in der phonetischen Realisierung solcher funktionaler Einheiten wie die oben für / k / in KAHL, KIEL, KOHL und K Ü H L genannten sind reine Realisierungsphänomene, die dadurch zustande kommen, daß es bei der Artikulation der einzelnen Sprachlaute Übergänge gibt, die nur mit den Gegebenheiten des Artikulationapparates etwas zu tun haben, aber nichts mit der intendierten Lautäußerung. Mit anderen Worten, ein Sprechakt kommt gemäß dieser Konzeption so zustande, daß der Sprecher zunächst eine phonemische Repräsentation bildet und diese dann durch einen komplizierten Apparat neurophysiologischer und physiologischer Vorgänge in artikulatorische Bewegungen umsetzt. Dabei entsteht das akustische Sprachsignal; der Hörer versucht, aus dem Sprachsignal die durch die mannigfachen physiologischen, artikulatorischen und physikalischen Vorgänge bezüglich der phonemischen Elemente nur verschlüsselt (»kodiert«) vorliegende Originalinformation wiederzugewinnen, d.h. die abstrakte Phonemfolge. In dieser Konzeption ist der phonetische Sprechakt ein bloßes Epiphänomen der »eigentlichen« kognitiv-sprachlichen Vorgänge. Einen bis heute außerordentlich lesenswerten Versuch, eine solche Theorie im Sinne eines Informationsverarbeitungsprozesses zu entwerfen, stellt die Arbeit von Liberman et al. 1967 dar, die oben bereits erwähnt wurde. Unter dem starken Einfluß der Linguistik versuchten diese Autoren, Evidenz für die Notwendigkeit verschiedener interner Repräsentationen beim Weg von der ganz abstrakten, phonemischen Repräsentation bis hin zur extrem komplexen artikulatorischen Realisierung dieser Phonemkette zu finden. Der Wert dieses Aufsatzes liegt vor allem auch darin, daß man zwar auch heute noch weit von einer vollständigen Theorie des phonetischen Funktionierens der lautsprachlichen Kommunikation entfernt ist, daß man aber mit Sicherheit diejenigen Theorieansätze als falsch bezeichnen kann, wonach wir erst »im Kopf« eine abstrakte Phonemfolge bilden, die dann schrittweise über zunehmend komplexer werdende interne Repräsentationen in Artikulationsbewegungen umgeformt wird (vgl. Tillmann 1980, Pompino-Marschall 1983 sowie Tillmann & Günther 1986). Als eine alternative Theorievorstellung gegenüber sprachlautbasierten Ansätzen sei hier die von H.G. Tillmann entwickelte Konzeption in einem längeren Zitat aus einem neueren Aufsatz skizziert (Tillmann & Günther 1986:255f.): 9

Wir möchten dazu im folgenden davon ausgehen, daß der zentrale Gegenstand der Phonetik und Phonologie die in ihrer Form einzelsprachlich geregelten Sprechbewegungen sind (vgl. Tillmann 1980). Der Vorteil einer so allgemeinen Festlegung . . . ist leicht zu sehen. Sprechen ist eine körperliche Tätigkeit, die in ihren Ablaufbedingungen der Wohlartikuliertheit genügen m u ß . . . . Weiterhin sind mit bestimmten einzelsprachlich geregelten Sprechbewegungen bestimmte Inhalte (ebenfalls einzelsprachlich geregelt) verbunden. Will der Sprecher z.B. so unterschiedliche Possessivverhältnisse wie mein Buch oder dein Buch zum Ausdruck bringen, so müssen sich zu Beginn der Sprechbewegung u.a. Zungenspitze und Lippen auf bestimmte Weise unterschiedlich verhalten. Und offenbar sind es genau diese Unterschiede im Ablauf der Sprechbewegung, auf die wir zuerst stoßen, wenn wir herausfinden wollen, warum sich beide Sprechakte rein äußerlich voneinander unterscheiden. Von spezieller Bedeutung ist weiter die Tatsache, daß sich Sprechbewegungen ohne Rekurs auf Sprachlaute modellieren lassen. Wenn wir annehmen, daß der Sprecher beim Äußerungsakt immer ganze Sprechbewegungen intendiert und sich damit ausdrückt, daß andererseits der Hörer immer ganze Sprechbewegungen identifiziert, zu einem Ganzen integriert und inhaltlich interpretiert, dann ist dies außerdem mit der Tatsache verträglich, daß die alphabetisch beschreibbare Form . . . einer Äußerung dem Sprecher wie dem Hörer natürlicherweise verborgen bleibt, einfach weil sie für eine direkte Beobachtung zu rasch abläuft (vgl. Tillmann 1980: 38ff.). Hörer interpretieren den Schall, den sie wahrnehmen, inhaltlich. Ganz automatisch lokalisieren Mensch und Tier den Schall bei der Schallquelle, sie identifizieren weniger das Schallereignis als solches als vielmehr die Schallquelle und ihr spezielles Verhalten. Nur dann wissen sie, was in ihrer Welt der Fall ist. Beim Sprechakt lokalisiert der Hörer den Sprecher, und als Verhalten dieser Schallquelle werden Sprechbewegungen wahrgenommen. D i e Sprechbewegungen sind also i n dieser K o n z e p t i o n n i c h t M i t t e l z u m Z w e c k , d . h . es w e r d e n n i c h t ü b e r die S p r e c h b e w e g u n g e n S p r a c h l a u t e o d e r P h o n e m e w a h r g e n o m m e n , s o n d e r n sie selbst sind d e r W a h r nehmungsgegenstand. Der H ö r e r interpretiert den w a h r g e n o m m e n e n S c h a l l b e z ü g l i c h d e r A r t s e i n e r H e r v o r b r i n g u n g , wie sie i h m selbst als S p r e c h e r d u r c h das H ö r e n u n d F ü h l e n des e i g e n e n S p r e c h e n g e l ä u f i g ist. Bei d e r B e t r a c h t u n g d e r p h o n e t i s c h e n A s p e k t e l a u t s p r a c h l i c h e r K o m m u n i k a t i o n d r e h t sich alles u m d i e S p r e c h b e w e g u n g e n . D e r Sprec h e r bewegt s e i n e A r t i k u l a t i o n s o r g a n e in s y s t e m a t i s c h g e r e g e l t e r F o r m , u n d der H ö r e r v e r s u c h t , a u s d e m p r o d u z i e r t e n Signal die d a h i n t e r s t e h e n d e n B e w e g u n g e n systematisch zu r e k o n s t r u i e r e n .

1.2 S c h r i f t l i c h e K o m m u n i k a t i o n In n i c h t w e n i g e n D a r s t e l l u n g e n w i r d d a v o n a u s g e g a n g e n , d a ß

der

s c h r i f t l i c h e K o m m u n i k a t i o n s p r o z e ß d u r c h ein d e r o.a. A b b i l d u n g 3 e n t s p r e c h e n d e s S c h e m a dargestellt w e r d e n k a n n , vgl. A b b i l d u n g 4 : 10

Abbildung 4: Ein Schema des schriftlichen Kommunikationsprozesses in Analogie zum mündlichen

Man könnte sich dieses Schema beispielsweise vorstellen als Briefwechsel: A schreibt an B, und B antwortet brieflich. Gegenüber der mündlichen Kommunikation verändert wäre lediglich das »Material«, die physische Qualität des Sprachsignal: Lautsprachliche Äußerungen sind kontinuierlich, erstrecken sich in der Zeit und sind flüchtig, schriftliche Äußerungen dagegen bestehen aus diskreten Elementen, haben eine räumliche Ausdehnung und sind nicht flüchtig. Diese unterschiedliche Materialität der lautsprachlichen gegenüber der schriftlichen Äußerung hat jedoch Konsequenzen, die in den beiden Abbildungen verschleiert werden. Um diesen Unterschied auch terminologisch deutlich zu machen, habe ich in Abbildung 4 das Wort Sprachsignal durch das Wort Text ersetzt. Ehlich 1983 hat den Begriff Text bestimmt als eine sprachliche Äußerung, die aus der unmittelbaren Sprechsituation herausgelöst ist. So etwas gibt es zwar gelegentlich auch im mündlichen Sprachgebrauch (z.B. bei der Übermittlung einer Nachricht durch Boten oder beim Rezitieren), aber die Lösung aus der Sprechsituation ist im Bereich der Schriftlichkeit der Normalfall, ermöglicht durch die Konstanz schriftlicher Sprachsignale (Texte). Die Konsequenzen dieses einfachen Sachverhalts sind nun freilich von erheblicher Tragweite. Es zeigt sich nämlich, daß die Übernahme des Schemas von Abbildung 3 in die schriftliche Domäne Gemeinsamkeiten vorspiegelt, die nicht vorhanden sind. Denn in der mündlichen Kommunikation kann das Sprachsignal nicht als unabhängig vom Sprecher gedacht werden: Die raumzeitliche Koinzidenz von Sprecher, Hörer und Signal ist eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen mündlicher Kommunikation. 1 Anders bei der schriftlichen Kom1

Im Prinzip ist das auch dann noch der Fall, wenn der Sprecher seine Äußerung in Abwesenheit des Hörers auf einen Tonträger aufzeichnet, etwa beim Gebrauch eines Diktiergeräts oder beim Senden eines Grußes auf Kassette. Denn das Signal muß erst wieder in die flüchtige zeitliche Erstreckung transformiert werden (durch Verstärker und Lautsprecher), und der Hörer kann es nur in dieser Form als akustisches Sprachsignal aufnehmen. Dabei aber wird er versuchen (gemäß der in 1.1 geschilderten Theorie der lautsprachlichen Kommunikation), die Sprechbewegungen zu rekonstruieren, die zur Erzeugung dieses Signals nötig waren. 11

munikation: Hier ist die raumzeitliche Koinzidenz der Sonderfall. Insbesondere gewinnt die schriftliche Äußerung, der Text, aufgrund seiner materiellen Stabilität und der nichtzeitlichen Erstreckung ein Eigenleben. Schriftstücke, geschriebene Texte erwecken den Anschein, als existieren sie aus eigener Kraft. Der Leser des Textes setzt sich mit dem Text, bestenfalls mittelbar mit dem Schreiber auseinander. Daraus aber sollte deutlich werden, daß der Leseprozeß im engeren Sinne ganz offenbar nicht parallelisiert werden kann zum Hörverstehensprozeß, wie er in Abschnitt 1.1 modelliert worden ist. Es ist einfach unsinnig zu vermuten, der Leser rekonstruiere den Schreibprozeß. Unmittelbar augenfällig ist das im Falle von in großer Auflage hergestellten Druckwerken, bei denen dem Durchschnittsleser der Produktionsprozeß gar nicht bekannt ist. Eine andere Variante einer motorischen Theorie der visuellen Sprachwahrnehmung, bei der auf die Artikulation des Schreibers rekurriert wird, ist ebenfalls unzutreffend (s.u. Kapitel 6). Ein weiterer Grund dafür, daß beim Lesen nicht auf den Produktionsprozeß rekurriert wird, liegt in einem anderen, häufig übersehenen Sachverhalt. Im Gegensatz zur lautsprachlichen Kommunikation, in der wir unsere Sprechorgane zur Produktion von Sprachsignalen benutzen, fertigen wir schriftliche Texte grundsätzlich mit Hilfe von Werkzeugen an. Diese schieben sich zwischen den Schreiber und die produzierte Äußerung, so daß sie für den Leser nicht mehr quasi körperlich erfahrbar ist wie die mündliche Äußerung. 2 Der Umgang mit dem Werkzeug aber muß gelernt und gelehrt werden. Hier zeigt sich, daß schriftliche Äußerungen selbst Werkzeugcharakter haben - ihre Handhabung ergibt sich nicht »natürlicherweise«. In schriftlichen Äußerungen wird so der Werkzeugcharakter von Sprache schlechthin explizit, der in mündlichen Äußerungen allenfalls implizit vorliegt (vgl. Meßing 1981). Festzuhalten ist also, daß die mündlichen und schriftlichen Sprachprozesse sehr unterschiedlich organisiert sind. Die beiden oben gegebenen Kästchenmodelle täuschen Gemeinsamkeiten vor, die nicht existieren. Trotzdem lehren sie etwas. Es scheint nämlich, als ist diese Art von Modell viel geeigneter, den schriftlichen Kommunikationsprozeß zu verdeutlichen als den mündlichen, und zwar insbesondere deshalb, weil durch die unterschiedlichen Kästchen sehr anschaulich die Verselbständigung des Textes gegenüber dem Schreiber wie dem Leser repräsentiert wird. 2

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Scheinbare Ausnahmen wie das Schreiben mit dem Finger in den Sand sind ohne Belang. Im übrigen wird auch hier ein Gegenstand benötigt, auf dem geschrieben wird, und der Finger ist hier ebenfalls ein Werkzeug.

Solche Verselbständigungen gibt es in der mündlichen Kommunikation normalerweise nicht. Wesentlich für das Funktionieren lautsprachlicher Kommunikation ist, daß die mündliche Äußerung stets in eine Situation eingebunden ist; daher trägt das Signal nicht allein die ganze kommunikative Last. Der Sprecher kann vom Hörer direkt befragt werden bezüglich unverstanden gebliebener Aspekte seiner Äußerung - der Schreiber in der Regel nicht, vor allem nicht in einer gegebenen raumzeitlichen Konstellation. So beinhaltet die andere Materialität der schriftlichen Äußerung gegenüber der mündlichen einerseits veränderte sprachliche Handlungsmöglichkeiten, erfordert aber andererseits auch andere Produktions- und Perzeptionsmechanismen. Während im Bereich der lautsprachlichen Kommunikation eine auf Produktionsprozesse rekurrierende Perzeptionstheorie nicht nur sinnvoll, sondern wahrscheinlich unumgänglich ist, ist eine solche im schriftlichen Bereich kaum denkbar. Der Leser befaßt sich mit dem Text und schließt von daher auf die Situation - der Hörer kennt die Situation und interpretiert dahingehend die lautsprachliche Äußerung. Die situative Leere der schriftlichen Äußerung aber ist dafür verantwortlich, daß in schriftlicher Kommunikation die verwendeten Einheiten im Gegensatz zu denen der gesprochenen Sprache einen scharf segmentalen und vergleichsweise invarianten Charakter haben: Die Segmente müssen als solche identifizierbar sein. Die diskrete Natur der verwendeten Zeichen ist ein Charakteristikum aller Schriften, seien es logographische, silbische, alphabetische oder Mischsysteme; allerdings ist es durchaus von Schriftsystem zu Schriftsystem verschieden, welche Einheiten als diskrete Elemente behandelt werden, und es ist weiterhin eine nicht a priori beantwortbare Frage, welche Einheiten der Leser oder Schreiber in einem gegebenen Moment verwendet. Darauf wird ausführlich zurückzukommen sein. Die Konsequenzen aus der Trennung von Textproduzent, Text und Textrezipient sind von gar nicht zu überschätzender Tragweite. Einstweilen scheint es ausreichend, zusammenfassend zu erkennen, daß die segmentale Struktur von schriftlichen Texten offenkundig ist,3 wäh3

Eine scheinbare Ausnahme bilden handschriftliche Currentschriften. Hier liegt auf den ersten Blick eine ähnliche Situation vor wie bei lautsprachlichen Äußerungen: Auch beim Lesen einer handschriftlichen Äußerung gibt es ein Segmentationsproblem derart, daß man bei den Binnenbuchstaben der Wörter nicht exakt bestimmen kann, an welcher Stelle ein neuer Buchstabe beginnt und der vorige endet. Freilich ist dies eine falsche und irreführende Analogie: Currentschriften entstehen, in welchem System auch immer, durch Verbindung an sich diskreter Elemente. Dagegen ist bis heute nicht nachgewiesen, daß kontinuierliche Artikulation als die Verbindung an sich diskreter Sprachlaute entsteht; im Gegenteil scheint das verfügbare phonetische Wissen diese Möglichkeit prinzipiell auszuschließen.

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rend gesprochene Äußerungen eine solche Struktur nicht erkennen lassen. Gegenüber der flüchtigen, zeitlichen und kontinuierlichen Natur mündlicher Äußerungen ermöglicht die stabile, räumliche und diskrete Natur schriftlicher Sprachäußerungen die Loslösung der Äußerung aus der Situation in der schriftlichen Kommunikation - mündliche Äußerungen sind, von Randfällen abgesehen, stets empraktisch eingebunden. 1.3 Phonetik, Phonologie und die Erforschung der schriftlichen Sprache und Sprachtätigkeit Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß diese offenkundigen Unterschiede in der Geschichte der Sprachforschung weitgehend unberücksichtigt geblieben sind. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, daß in der Sprachforschung, allen gegenteiligen Beteuerungen und dogmatischen Festlegungen zum Trotz, die gesprochene Sprache in aller Regel vom Standpunkt der geschriebenen aus betrachtet wurde (und wird). Diese war offenkundig segmental organisiert - also auch jene; darum wurde vermutet, daß Schrift nur so sein könne, wie sie ist, weil die Lautsprache die entsprechenden Merkmale bereitstelle - eben, z.B., die Organisation in diskrete »Laute«. Typisch für den Sprachforscher in unserem Jahrhundert ist es, daß er einerseits überzeugt davon ist, daß allein die gesprochene Sprache sein Untersuchungsgegenstand ist, und daß sich andererseits seine Analysen grundsätzlich auf schriftliches oder verschriftlichtes Material stützen. Unreflektiert bleibt dabei in der Regel der Sachverhalt, daß die schriftliche Symbolisierung hier nur eine Art Metasprache darstellt, mit der lautsprachliche Äußerungen beschrieben werden können. Leonard Bloomfield, einem der Väter der modernen Linguistik, ist dies übrigens noch völlig klar gewesen. In seinem Versuch einer axiomatischen Grundlegung der Linguistik von 1926 sind Phoneme (minimal sames of vocal features, i.e. Sprachlaute) keineswegs Einheiten der Sprache, sondern Einheiten, mit denen man Sprachen beschreibt. Die realiter fiktiven, nur in der Linguistik absoluten Beschreibungskategorien sind dabei aufgebaut nach einem Ideal, das formalen Wissenschaften entstammt. Danach sind zunächst die elementaren Einheiten zu bestimmen, das »Alphabet«, und anschließend die Kombinationsmuster und -restriktionen, die bei der Zusammensetzung der Elementarkategorien zu komplexen größeren Einheiten zu beobachten sind. Was bei Bloomfield 1926 ausdrücklich als eine Beschreibungssprache konzipiert ist, kippt dann bei Chomsky 1957:2 und vielen anderen in eine Hypostasierung der Beschreibungskategorien als Einheiten der Sprache selbst, wenn postuliert wird (Übersetzung und Hervorhebung d. Verf.): 14

Ich werde eine Sprache ansehen als eine Menge . . . von Sätzen, jeder von endlicher Länge und bestehend aus Elementen, die einer endlichen Menge entstammen. Alle natürlichen Sprachen sind Sprachen in diesem Sinne, weil jede natürliche Sprache eine endliche Zahl von Phonemen (oder Buchstaben in ihrem Alphabet) aufweist, und jeder Satz dargestellt werden kann als eine endliche Folge solcher Phoneme (oder Buchstaben).

Trotz erheblicher Anstrengungen ist bislang der Nachweis nicht geführt worden, daß die mündliche Sprache eine Sprache in diesem Sinne ist - es ist lediglich hinreichend demonstriert worden, daß sie so beschrieben werden kann. Dies ist um so bemerkenswerter, als alphabetisch geschriebene schriftliche Sprache ganz offensichtlich eine solche Sprache ist, obgleich sie der herrschenden linguistischen Lehrmeinung dieses Jahrhunderts zufolge gerade nicht zum Gegenstand der Linguistik im engeren Sinne zu rechnen ist. Es bleibt dann zu klären, warum man lautsprachliche Äußerungen als Folge diskreter Elemente verschriften kann, und welche Bedeutung derlei segmentale Beschreibungen kontinuierlicher Ereignisse haben. Die Antwort auf die erste Frage haben schon Jakobson et al. 1953 gegeben. Danach machen einzelne Sprachen unterschiedlichen Gebrauch von den möglichen, universell bereitgestellten Parametern und Parameterkombinationen der Sprechbewegungen. Die in einer jeweiligen Sprache relevanten Einstellungen werden als unterscheidende Merkmale (distinctive features) bezeichnet: Die Kombinationen von Parametereinstellungen, die zulässig sind, kontrastieren miteinander und ermöglichen so die Unterscheidung von Bedeutungen. Während aber für diese Autoren und alle ihre linguistischen Adepten seit Chomsky & Halle 1968 die phonetischen unterscheidenden Merkmale nur Mittel zum Zweck waren, daraus wieder Sprachlaute zu destillieren, wird in der hier vertretenen Konzeption davon ausgegangen, daß phonetische Merkmale als solche eine Äußerung charakterisieren. Phonetische Merkmale erstrecken sich über eine gewisse Zeit; sie setzen ein, bevor ein bestimmtes »Segment« beginnt, und sie enden erst, nachdem es zuende ist, vgl. Abbildung 5, die berühmte schematische Darstellung des Spektrogramms des englischen Wortes BAG. Es ist hier nicht der Ort, diese Problematik im Detail darzustellen. Auch geht es nicht darum, segmental orientierte Phonologie als »falsch« zu kennzeichnen. Im Gegenteil wird in der ausführlichen Darstellung in Tillmann & Günther 1986 der Standpunkt vertreten, daß eine segmental orientierte Phonologie von außerordentlichem Wert für die Erforschung der mündlichen Sprachtätigkeit ist - jedenfalls solange, wie man nicht die Beschreibung für die Sache selbst nimmt. Auch wird hier nicht der Standpunkt vertreten, daß die Phoneme (Sprachlaute) als reine »Beschreibungskategorien« keine psychische Realität hätten - ganz 15

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