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German Pages 288 Year 1997
KLAUS DICKE I MICHAEL EDINGER OLIVER LEMBCKE (Hrsg.)
Menschenrechte und Entwicklung
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 99
Menschenrechte und Entwicklung Herausgegeben von Klaus Dicke I Michael Edinger I Oliver Lembcke in Zusammenarbeit mit Brigitte Hamm
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Menschenrechte und Entwicklung / hrsg. von Klaus DickelMichael Edinger/Oliver Lembcke. In Zusammenarbeit mit Brigitte Hamm. Berlin: Duncker und Humblot, 1997 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft; Bd. 99) ISBN 3-428-08950-2
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gerrnany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-08950-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Vorwort Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zum gleichnamigen Thema im Juni 1996 im Gustav-Stresemann-Institut (GSI) in Bonn-Bad Godesberg zurück. Das vom Institut für Politikwissenschaft der FriedrichSchiller-Universität Jena und dem Fach Politikwissenschaft der GerhardMercator-Universität - GH Duisburg in Zusammenarbeit mit dem GSI konzipierte Programm - gleichermaßen Beitrag zur interuniversitären Kooperation im Bereich der Forschung und Lehre zu Menschenrechten und Entwicklung wie zum Austausch mit der außeruniversitären Erwachsenenbildung - richtete sich an Studierende der Politikwissenschaft sowie an weitere an der Thematik Interessierte. Ziel der Veranstaltung war neben der vertiefenden Diskussion des Problemzusammenhangs von Menschenrechten und Entwicklung die Auseinandersetzung mit deren Implikationen für die praktische Menschenrechts- und Entwicklungspolitik, letztlich die Zusammenführung von Theorie und Praxis. Zu diesem Zweck konnten, nicht zuletzt dank der aktiven Unterstützung des GSI, renommierte Fachleute aus Wissenschaft, Politik, Administration und aus dem NGO-Bereich als Referenten gewonnen werden. Erfreulicherweise ist die Idee, die Beiträge in einem Sammelband zu publizieren, von nahezu allen Vortragenden mit Interesse aufgegriffen und aktiv durch die Überarbeitung der Redemanuskripte, im Einzelfall auch durch die Ausarbeitung von thematisch neuen Beiträgen unterstützt worden. Über die Referenten hinaus hat sich der Kreis der Beitragenden um drei weitere kompetente Autoren - Vertreter von GERMANWATCH und den Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Unterausschuß "Menschenrechte und humanitäre Hilfe" des Deutschen Bundestages erweitert. Schließlich haben die an der Entstehung des Bandes Beteiligten selbst drei Beiträge beigesteuert. Die Publikation wendet sich über die akademischen Zirkel und den Kreis der beruflich mit Menschenrechts- und entwicklungspolitischen Fragen Befaßten hinaus an in NGOs Engagierte und allgemein an die politisch interessierte Öffentlichkeit. Gerade durch die Vielfalt der versammelten Perspektiven trägt der Band unterschiedlichen Erwartungen und Interessen Rechnung. Seine
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Vorwort
Erstellung ist Ausdruck der bereits während des Seminars fruchtbaren Zusammenarbeit der beiden politikwissenschaftlichen Institute in Jena und Duisburg. Sie wurde ermöglicht durch eine Reihe von Personen, denen an dieser Stelle ausdrücklich gedankt sei: an erster Stelle den Autorinnen und Autoren für die gute Kooperation und die Geduld gegenüber den Anliegen der Herausgeber, Frau Monika Löftler für die konstruktive Zusammenarbeit bei Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Tagung im GSI sowie für die wiederholte Ermutigung zur Weiterverfolgung des Publikationsvorhabens, den Studierenden für ihre Erarbeitung der als Band 15 in die Schriftenreihe des GSI aufgenommenen Tagungsdokumentation, schließlich den Herren Andreas Eis, Stefan Göhlert und Ingo Köhn für die technische Unterstützung und die Hilfe beim Kampf gegen den Fehlerteufel. Daß aus einer (guten) Publikationsidee noch lange kein Buch wird, dürfte nicht nur dem Wissenschaftler bekannt sein. Daher gilt unser besonderer Dank dem Verlag Duncker & Humblot, namentlich Herrn Prof. Dr. Norbert Simon, für die bereitwillige Aufnahme des Titels in das Verlagsangebot und für die Übernahme der Herstellungskosten.
Jena / Duisburg, im März 1997
Klaus Dicke Michael Edinger Oliver Lembcke Brigitte Hamm
Inhalt Michael Edinger / Oliver Lembcke Menschenrechte als Maßstab der Entwicklung. Eine Einfiihrung . . . . . . . . .. 11
L Theoretischer Zusammenhang
UweHoltz Menschenrechte: Hilfe oder Hemmnis für Entwicklung? . . . . . . . . . . . . . .. 31 Klaus Dicke Menschenrechte als Kulturimperialismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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Franz Nuscheler Recht auf Entwicklung - Involution zum "Recht auf alles"? . . . . . . . . . . . .. 77 Brigitfe Hamm Entwicklung und Menschenrechte. Eine empirische Analyse . . . . . . . . . . .. 97
II. PoUtische Durchsetzung
Klemens van de Sand Menschenrechte als integraler Bestandteil der staatlichen Entwicklungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Wolfgang Gerz Nord-Süd-Dialog über Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 137 Volkmar Deile Strategien zur Durchsetzung der Menschenrechte - die Perspektive von amnesty international ........................................ 145
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Inhalt
Theodor Rathgeber Ethnische Konflikte als Problem der Menschenrechte und der Entwicklung . . .. 157
Man/red Kohler / Günther Holtmeyer Herausforderungen Wld Strategien der Fluchtprävention: Perspektiven
für das 21. JahrhWldert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 183 Ste/an Telöken Möglichkeiten Wld Grenzen des Flüchtlingsschutzes durch den UNHCR ... 201
III. InstitutioneUe Verankerung
Michael Edinger / Oliver Lembcke Strukturen parlamentarischer Menschenrechtspolitik. Der Unterausschuß "Menschenrechte Wld humanitäre Hilfe" ............... . . . . . . . . . . . . . .. 213
Andreas Krautscheid Nette Gesten für die Galerie? Die parlamentarische Menschenrechtsarbeit zwischen notwendiger Außenwirkung Wld substantieller Einflußnahme . . .. 253
RudolfBindig Für ein menschenrechtliches Profil der deutschen Politik. Alternativen zur Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
Amke Dieterl-Scheuer NGOs in der deutschen Menschenrechtspolitik. Eine oppositionelle Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
lrmgard Schwaetzer Menschenrechtspolitik in einem liberalen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 279
Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 285
Abkürzungsverzeichnis AA
Auswärtiges Amt
AKP
Länder Afrikas, der Karibik Wld des Pazifik (durch LomeAbkommen mit der EG verbWlden)
APuZ
Aus Politik Wld Zeitgeschichte
ASEAN
Association of South East Asian Nations
AVR
Archiv des Völkerrechts
AwZ
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit des Deutschen BWldestages
BIP
Bruttoinlandsprodukt
BMJ
BWldesministerium der Justiz
BMZ
BWldesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Wld EntwiCklWlg
BSP
Bruttosozialprodukt
DAC
Development Assistance Committee (der OECD)
DIE
Deutsches Institut für EntwicklWlgspolitik
Drs.
BWldestagdrucksache
DSE
Deutsche Stifhmg für EntwiCklWlg
DVGN
Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen
EA
Europa Archiv
E+Z
EntwiCklWlg Wld Zusammenarbeit
EZ
EntwicklWlgszusammenarbeit
FAZ
Frankfiuter Allgemeine ZeitWlg
GASP
Gemeinsame Außen- Wld Sicherheitspolitik
GfbV
Gesellschaft für bedrohte Völker
GTZ
Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit
GUS
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten
GYIL
German Yearbook ofIntemational Law
10
AbkürZWlgsverzeichnis
HOl
Human Development Index
HFI
Human Freedom Index
HRQ
Human Rights Quarterly
JGH
Internationaler Gerichtshof
lGO
Intergovemmental Organization
ILO
International LabO\lT Organization
IWF
Internationaler Währungsfonds
JZ
Juristenzeitung
KAS
Konrad-Adenauer-Stifhmg
KfW
Kreditanstalt für Wiederaufbau
KSZE
Konferenz für Sicherheit \Dld Zusammenarbeit in Europa
NGO
Non-Govemmental Organization
ODA
Official Development Assistance
OECD
Organization for Economic Cooperation and Development
OSZE
Organisation für Sicherheit \Dld Zusammenarbeit in Europa
ÖZP
Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft
PVS
Politische Vierteljahresschrift
RgW
Rat der gegenseitigen Wirtschaftshilfe
SIPRI
Stockholm International Peace Research Institute
UN(O)
United Nations (Organization)
UNDP
United Nations Development Program
UNHCR
United Nations High Commissionar for Refugees
UNlDO
United Nations Industrial Development Organization
VR
Volksrepublik
VN
Vereinte Nationen (Zeitschrift)
VRÜ
Verfass\Dlg \Dld Recht in Übersee
WEU
Westeuropäische Union
ZEP
Zeitschrift für internationale Bild\Dlgsforsch\Dlg \Dld Entwickl\Dlgspädagogik
ZfP
Zeitschrift für Politik
ZParl
Zeitschrift für Parlamentsfragen
Menschenrechte als Maßstab der Entwicklung Eine Einführung Von Michael Edinger / Oliver Lembcke
Der Zusammenhang von Menschenrechten und Entwicklung ist in den letzten Jahren verstärkt zum Thema sowohl der Politik als auch der Sozialwissenschaften geworden. Ausdruck dessen ist nicht zuletzt eine wachsende Zahl an Veröffentlichungen.! Diese Tendenz verdankt sich vor allem der Tatsache, daß in der Praxis der Industriestaaten, zumal nach dem Ende der Blockkonfrontation, die Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik stärker miteinander verzahnt sind und dadurch die gemeinsame Schnittmenge in beiden Politikfeldem an Bedeutung gewonnen hat. Gleichwohl lassen sich jeweils unterschiedliche Ausprägungen konstatieren: Die Entwicklungspolitik hat sowohl auf bilateraler als auch multilateraler Ebene menschenrechtspolitische Konzepte ! Vgl. u a. Lothar Brock (Hg.): Menschenrechte lDld EntwiCkllDlg. Beiträge zum ökumenischen lDld internationalen Dialog, Frankfurt a.M. I Hannover 1996; Wolfgang Heinz: Positive Maßnahmen zur Förder\Dlg von Demokratie lDld Menschenrechten als Aufgabe der EntwickllDlgszuammenarbeit, Berlin 1994; Journal für EntwickllDlgspolitik (Schwerpunkt: Menschenrechte lDld EntwickllDlg) 10 (1994) 1; Rainer Tetzlaff (Hg.): Menschenrechte lDld EntwiCkllDlg. Deutsche lDld internationale Kommentare lDld Dokumente, Bonn 1993; Heiner Bielefeldt et aI. (Hg.): Menschenrechte lDld EntwickllDlg. Globale Politik zwischen lDliversalen Normen Wld kultureller Identität, Bonn 1992. Für die zweite Hälfte der 80er Jahre siehe David P. Forsythe (Hg): Human Rights and Development. International Views, Basingstoke 1989; Dieter Oberndöner: Die Menschenrechte in der EntwicklWlgspolitik Wld der deutschen politischen Kultur, in: ZfP 35 (1988), 1-14; Theo van Boven: Human Rights and Development. Rhetorics and Realities, in: M. Nowak 1 D. Steurer 1H Tretter (Hg.): Fortschritt im Bewußtsein der Grund- lDld Menschenrechte. FS Felix Ermacora, Kehl 1 Straßburg I Arlington 1988,575-588; Lothar Brock: Menschenrechte lDld EntwiCklWlg, in: APuZ B 27/1985, 3-16; Ved P. Nanda I George W. Shepherd (Hg.): Human Rights and Third World Development, Westport 1985.
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Michael Edinger / Oliver Lembcke
aufgenommen,2 was sich vor allem in der zunehmenden menschenrechtlichen Konditionalisierung der Vergabepolitik bekundet. Parallel dazu läßt sich in der Menschenrechtspolitik die Berücksichtigung entwicklungspolitischer Anliegen feststellen, 3 wenngleich hier nur ansatzweise eine programmatische und institutionelle Verankerung erfolgt ist. Ein Grund für diesen Unterschied könnte ihre ungleiche Akzeptanz in der öffentlichen Meinung, aber auch in der wissenschaftlichen Zunft sein. Dieser Eindruck drängt sich jedenfalls auf, betrachtet man die Abgesänge auf die Steuerungsleistungen der Entwicklungspolitik nach den für die Länder der Dritten Welt "verlorenen Dekaden" der 70er und 80er Jahre. Warum in ihrer eigenen "Logik" das Scheitern der staatlichen Entwicklungshilfe angelegt ist und warum die Fortsetzung einer solchermaßen verfehlten Politik letztlich "tödliche" Auswirkungen für die Empfangerstaaten hat,4 sind zwei beispielhafte Fragestellungen, unter denen Entwicklungspolitik seit einiger Zeit in der Wissenschaft diskutiert und von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Selbst wenn diese Fundamentalkritik als höchst einseitig gelten muß und unlängst von kompetenter Seite eine Apologie der Entwicklungspolitik erfolgt ist,5 kann eine wachsende Skepsis in Politik und Öffentlichkeit ebensowenig geleugnet werden wie der gleichzeitig gewachsene Stellenwert der Menschenrechte. Während im entwicklungspolitischen Bereich. mit Verweis auf das Konzept "Hilfe zur Selbsthilfe" eine Beschränkung externer Eingriffe auf das Notwendige angemahnt wird, hat es im Menschenrechtsbereich wiederholt Aufrufe an einzelne Staaten oder die Staatengemeinschaft gegeben, sich stärker zu engagieren. 6
2 Vgl. etwa für die europäische Ebene Art. 5 Abs. 1 des Vierten AKP-EWG-Abkommens von Lome vom 15. Dezember 1989; für Deutschland den Kriterienkatalog der Entwicklungszusammenarbeit. 3 Vgl. Carl-Dieter Spranger: Menschenrechte und Demokratie - neue Aufgaben in der deutsch-afrikanischen Partnerschaft, in: DSE (Hg.): Fördenmg der Menschenrechte und der politisch-gesellschaftlichen Beteiligung in Afrika, Berlin 1994,21-27, hier 23. 4 Vgl. Dietrich Dömer: Die Logik des Mißlingens, Reinbek 1989; Brigitte Erler: Tödliche Hilfe, Freiburg 1985; für eine Übersicht Ludgera Klernp: Entwicklungshilfekritik. Analysen und Dokumentation, Bonn 1988, insbesondere 59-84. 5 Vgl. Franz Nuscheler: Gegen den entwickIungspolitischen Pessimismus, in: APuZ B 12/1996, 3-10; mit ähnlichem Tenor und verknüpft mit der Forderung nach bereichsspezifischer Konzentration der Entwicklungshilfe Hartmut Sangmeister: Ist Entwicklungshilfe noch zeitgemäß?, in: APuZ B 9/1997, 3-11. 6 Vor allem seit dem Eingreifen in Somalia ist die Skepsis gegenüber menschenrechtlieh motivierten Interventionen jedoch deutlich gewachsen. Vgl. zu der Ge-
Menschenrechte als Maßstab der Entwickhmg
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I. Worauf beruht der Unterschied zwischen den beiden Politikbereichen, die das Ziel der Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen eint und deren gemeinsames Betätigungsfeld vorrangig in der Dritten Welt liegt? Es liegt nahe, ihn auf den Unterschied in Begriff und Gehalt dessen zurückzuführen, was Gegenstand der jeweiligen Politiken ist: Menschenrechte und Entwicklung. Menschenrechte bestimmen den Träger des Rechts und den Verpflichteten des normativen Anspruchs und weisen insofern eine klare Normenstruktur auf. Sie sind nicht nur in den verschiedenen Pakten der Vereinten Nationen verrechtlicht worden, sondern haben auch infolge eines seit der Allgemeinen Erklärung von 1948 andauernden Menschenrechtsdialogs eine fortschreitende Bestimmung ihres normativen Gehalts erfahren. 7 Mag ihr Verbindlichkeitsgrad noch immer umstritten sein, der in den Menschenrechten formulierte Anspruch ist nicht bzw. allenfalls hinsichtlich seiner Reichweite kontrovers. So lassen etwa weder der in Artikel 6 Abs. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) garantierte Anspruch auf Leben, das es gesetzlich gegen jede Form der Willkür zu schützen gilt, noch das ähnlich eindeutig formulierte Recht auf Arbeit in Artikel 6 Abs. 1 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR) Unklarheiten bezüglich des geregelten Gegenstandes aufkommen. Während die Menschenrechte von der Autonomie der Person her gedacht werden, ohne dadurch die Existenz kollektiver Menschenrechte auszuschließen, wird Entwicklung - mit Blick auf die Entwicklungsländer - vornehmlich auf Gruppen oder Gesellschaften bezogen. Ein solches Verständnis von Entwicklung gilt unabhängig davon, daß diese auch den Individuen zugute kommt. Sie stellt in diesem Verständnis eine Synthese kollektiver (politischer, ökonomischer etc.) Güter dar und besitzt damit eine verglichen mit den Menschenrechten komplexere Struktur. Bereits die Überlegung, wer oder was sich
samtproblematik Heike Gading: Der Schutz grundlegender Menschenrechte durch militärische Maßnahmen des Sicherheitsrates - das Ende staatlicher Souveränität?, Berlin 1996; Wolfgang S. Heinz: Schutz der Menschenrechte durch humanitäre intervention?, in: APuZ B 12-13/1993, 3-11; Hartmut Jäckel (Hg.): Ist das Prinzip der Nichteinmischung überholt?, Baden-Baden 1995. 7 Vgl. etwa Bruno Simma / Ulrich Fastenrath (Hg.): Menschenrechte. Ihr internationaler Schutz, 3. Aufl, München 1992.
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entwickeln bzw. entwickelt werden soll, wirft Fragen auf. Noch schwieriger ist es, den Inhalt von Entwicklung zu erfassen. 8 Nach dem "Scheitern der großen Theorie,,9 infolge einer unangemessenen Reduktion von Entwicklung auf einfache Strukturen (z. B. mangelnde Wahrnehmung der Binnendifferenzierung der Dritten Welt) wird nunmehr von der Wissenschaft versucht, durch die Auswahl analytisch unterscheidbarer, gleichwohl normativ zusammenhängender Entwicklungsziele den Gehalt von Entwicklung adäquat zu bestimmen; Beispiele für derartige Bestimmungsversuche bieten das "zivilisatorische Hexagramm" und das "magische Fünfeck". 10 Sofern Wachstum in den verschiedenen Konzepten von Entwicklung als ein nach wie vor notwendiges, wenngleich nicht hinreichendes Element der Entwicklung begriffen wird, stellt sich die Frage nach den Maßstäben, die sicherstellen sollen, daß die angestrebte Entwicklung sich als "nachhaltig" und "verträglich" erweist. Menschenrechte bieten, so die Perspektive des vorliegenden Sammelbandes, Orientierung für politisches Handeln auf der Suche nach adäquaten Entwicklungsprozessen. Sie lassen die jeweils entstehenden sozialen, ökologischen oder ökonomischen Unausgewogenheiten im Zuge einer gesellschaftlich selbstbestimmten Entwicklung erkennbar und hinsichtlich ihrer Verträglichkeit und Nachhaltigkeit für den einzelnen bewertbar werden. Der Sammelband bietet somit alternativ zu dem häufig im (juristischen) Kontext des Rechts auf Entwicklung diskutierten Zusammenhang von Menschenrechten und Entwicklung eine politikwissenschaftliche und politische Sicht. Einen Ansatzpunkt dafür liefert die vor allem nach der Zäsur von 1989/90 realisierte Konditionalisierung von Entwicklungshilfe in Abhängigkeit von der Menschenrechtslage im Empfängerland, die einen zen-
8 Zum Stand der Diskussion um den Entwickhmgsbegriff siehe Dieter Nohlen / Franz Nuscheler: Was heißt Entwickhmg?, in: dies. (Hg.): Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1,3. Auß., Bonn 1992, 55-75; aus philosophischer Sicht Reiner Manstetten: Zukunftsfähigkeit lDld Zu1runftswürdigkeit. Philosophische BemerklDlgen zum Konzept der nachhaltigen EntwickllDlg (= Diskussionsschriften der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Heidelberg, Nr. 236), Heidelberg 1996. 9 Vgl. Ulrich Menzel: Das Ende der Dritten Welt lDld das Scheitern der großen Theorie, Frankfurt a.M. 1992; kritisch dazu Gerhard Hauck: Evolution, EntwickllDlg, UnterentwickllDlg, Frankfurt a.M. 1996,7. 10 Vgl. Dieter Senghaas: Wohin driftet die Welt?, Frankfurt a.M. 1994, 24; Nohlen / Nuscheler: Was heißt EntwiCkllDlg? (= Anm. 8).
Menschenrechte als Maßstab der EntwicklWlg
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tralen Aspekt der eingangs erwähnten jüngeren Forschung ausmacht. ll Davon ausgehend ist es das Anliegen des Sammelbandes, zu einer Klärung grundsätzlicher normativer und praktischer Fragen des Zusammenhangs von Menschenrechten und Entwicklung beizutragen.
ll. Die im ersten Teil "Theoretischer Zusammenhang" versammelten Beiträge eint das Bemühen um Voraussetzungen und Konsequenzen eines menschenrechtlichen Maßstabs für die Entwicklung. Einen ersten Überblick über die grundsätzlichen Positionen gibt Prof Uwe Holtz (Rheinische FriedrichWilhelm-Universität Bonn), indem er ausgehend von Löwenthals These der Antinomie von Freiheit und Entwicklung die verschiedenen Stadien der Diskussion nachvollzieht. Seine Analyse verdeutlicht die Defizite von ökonomistischen und teleologischen Entwicklungskonzeptionen mit der für sie charakteristischen Überhöhung ihrer zumeist eindimensionalen Endziele. Im Zuge der Expansion des Entwicklungsbegriffs hat sich demgegenüber in Wissenschaft und (ansatzweise auch) in der praktischen Politik ein Verständnis von Entwicklung durchgesetzt, dessen multidimensionaler und prozessualer Charakter mit prinzipiell offenem Ausgang von Ho/tz zustimmend hervorgehoben wird. Ein solches Verständnis sieht Menschenrechte als Wegweiser für die Entwicklungspolitik und darüber hinaus auch als "Kompaßnadel für Entwicklung". Menschenrechte als Wegweiser für Entwicklung setzt zweierlei voraus: zum einen die universelle Geltung der Menschenrechte, zum anderen die Unter11 Vgl. z. B. Wolfgang S. Heinz: EntwicklWlgszusammenarbeit Wld Menschenrechte, in: H. Bielefeldt / V. Deile / B. Thomsen (Hg.): Menschenrechte vor der Jahrtausendwende, Frankfurt a.M. 1993, 128-142; Knut Ipsen: Zum Problem der menschenrechtsorientierten Konditionalität von EntwicklWlgspolitik, in: Institut fiir EntwickIWlgsforschung Wld EntwicklWlgspolitik (Hg.): NeuorientierWlgen der EntwiCklWlgSpolitik, Frankfurt a.M. U a. 1995, 181-196; Thomas Wissing: Die gegenwärtige Diskussion über Kriterien bei der Vergabe staatlicher EntwicklWlgshilfe, Frankfurt a.M. 1994; Eckart Klein: Menschenrechte Wld politische Konditionalität, in: KAS/ Auslandsinformationen 13 (1997) 2, 11-18. Vgl. fiir die europäische Ebene u a. Klaus Komatz: FördefWlg von Demokratie Wld Menschenrechten durch EU-EntwicklWlgspolitik? (= Diskussionspapiere des Fachgebiets Volkswirtschaft des Vorderen Orient der FU Berlin, Nr. 42), Berlin 1995.
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scheidbarkeit von Menschenrechten und Entwicklung. Gegen diese beiden Prämissen sind zwei theoretische Einwände möglich, die zugleich politische Bedeutung erlangt haben: Gegen die Universalität der Menschenrechte läßt sich zunächst ihre Entstehungsgeschichte im westlichen Kulturkreis vorbringen. Dieses Argument, das in dem VorwUlf des "westlichen Kulturimperialismus" gipfelt, impliziert jenseits der politisch instrumentalisierbaren Abwehrfunktion die theoretische Frage nach der universellen Begründbarkeit der Menschenrechte. Dieser Frage nachzugehen, ist das Anliegen des Beitrags von Prof Klaus Dicke (Friedrich-Schiller-Universität Jena). Er betrachtet sie zunächst als Herausforderung an das europäisch-atlantische Menschenrechtsverständnis. Sein Leitgedanke besteht in der Unterscheidung zwischen der historischen Genese der Menschenrechte auf der Grundlage vielfacher struktureller Unrechtserfahrungen der neuzeitlich-modemen Geschichte einerseits und ihrem normativen Ursprung in der Würde des Menschen andererseits. Danach fungieren Menschenrechte normativ vor allem als ein Korrektiv gegenüber der Allmacht moderner Staatlichkeit und der Bedrohung grundlegender Freiheitswerte durch gesellschaftliche "Verwerfungen". So wie der Staat als Organisationsform gesellschaftlichen Lebens heute faktisch ebenso Globalität beanspruchen kann wie die verantwortliche Selbstbestimmung voraussetzende, aber auch die Gefahr struktureller Entfremdungen des Menschseins mit sich bringende modeme Lebensform, so sind Menschenrechte als Schutz verantwortlicher Daseinsgestaltung und normativer Orientierung für Politik unverzichtbar geworden. Ihre Funktion als universale Leitnormen der modemen Welt machen es jedoch erforderlich, ihren Sinnanspruch im interkulturellen Dialog aus den unterschiedlichen Kulturen, Religionen und ethischen Weltdeutungen heraus zu interpretieren. In diesem Dialog ist die europäischatlantische Tradition eine Stimme, die ihre universale Dialogfähigkeit erst noch gewinnen muß. Den Ansatzpunkt für einen solchen Dialog bietet immer wieder neu die der internationalen Menschenrechtspolitik zugrundeliegende Erfahrung der Einheit der Menschheit, die jeder verengenden Vereinnahmung der Menschenrechte für eine bestimmte kulturelle Identität widerstreitet. Neben der kulturrelativierenden Verengung der Menschenrechte stellt aber auch eine Entgrenzung des Menschenrechtsbegriffs ihre Funktion, Maßstab für Entwicklung zu sein, in Frage. Solche vorwiegend seit den frühen 70er Jahren seitens vieler Entwicklungsländer angeregten Diskurse zielen auf eine inhaltliche Verschmelzung von Menschenrechten und Entwicklung und bündeln sich in dem Anspruch, Entwicklung als Menschenrecht anzuerkennen.
Menschenrechte als Maßstab der Entwicklung
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Zunächst von Einzelpersonen wie dem senegalesischen Juristen Keba M'Baye verfochten, 1986 zum Inhalt einer Erklärung der UN-Generalversammlung geworden und auf der Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 neuerlich proklamiert, findet das Recht auf Entwicklung trotz häufig vorgebrachter Skepsis wachsenden Zuspruch. Mit seinem Werdegang sowie mit dem Gehalt dieses Menschenrechts der "dritten Generation" setzt sich der Beitrag von Prof Franz Nuscheler (Gerhard-Mercator-Universität Duisburg) kritisch auseinander. Neben der Analyse der nord-süd-politischen Rahmenbedingungen seiner Entstehung werden Rechtsqualität und Justitiabilität des Rechts auf Entwicklung hinterfragt. Als ein "Recht auf alles", so Nuschelers Bedenken, formuliert es umfassende Ansprüche für alle Menschen und erreicht doch letztlich für niemanden etwas. Nicht die Inflation von vermeintlichen Rechten, sondern die Schaffung effektiver Durchsetzungsmechanismen wie etwa die eines Zusatzprotokolls zum Wirtschafts- und Sozialpakt sei dem Menschenrechtsschutz förderlich. Streben die ersten drei Beiträge eine theoretische Klärung von Prämissen des Verhältnisses zwischen Menschenrechten und Entwicklung an, so bleibt die Frage nach den empirischen Belegen dieser Beziehung notwendigerweise offen. Zwar wird in der aktuellen Debatte ein faktischer Zusammenhang vorausgesetzt, dieser beruht jedoch häufig auf der bloßen Grundlage von Plausibilitäten oder wird genährt von normativer Wünschbarkeit. Demgegenüber versucht der Beitrag von Brigitte Hamm, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg, mittels statistischer Verfahren die Intensität des Zusammenhangs auszuloten. Darüber hinaus läßt ihr Untersuchungsautbau, der - in der Sprache der empirischen Sozialforschung - Menschenrechte als abhängige Variable einführt, Rückschlüsse auf die Bedeutung des Entwicklungsniveaus für die Menschenrechtslage in den unterschiedlichen Staaten zu und stellt damit zugleich eine wichtige perspektivische Ergänzung zu den vorangegangen Texten dar. Die von Wissenschaftler/-innen 12 verfaßten Beiträge des ersten Teils bereiten zusammengenommen den analytischen Rahmen für die zuvor angeklungenen politischen Aspekte der Diskussion um Menschenrechte und Entwicklung, die im zweiten Teil von Praktikern der Menschenrechts- und Entwicklungspolitik ausführlich diskutiert werden. Zentrales Anliegen der insgesamt sechs
12 Im folgenden wird aus Gründen der Lesbarkeit gelegentlich die männliche Form geschlechtsneutral verwendet. 2 Dicke u.•.
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Beiträge ist die Auseinandersetzung mit den Inhalten der Menschenrechtsund Entwicklungspolitik sowie dem Kommunikations- und Kooperationsverhalten der relevanten Akteure als Voraussetzung eines - (gegenüber den Adressaten) vermittelbaren - menschenrechtlichen Maßstabs der Entwicklungspolitik. In seiner Binnenstruktur weist der zweite Teil eine dreifache Gliederung auf: Ausgehend von globalen Themen wie der menschenrechtlichen Dimension der Entwicklungspolitik, dem Nord-Süd-Dialog über Menschenrechte und der Durchsetzung von Menschenrechten erfolgt eine trichterförmige thematische Verengung auf ethnische Konflikte und die Flüchtlingsproblematik. Zugleich weitet sich auf einer zweiten Gliederungsebene der in den ersten beiden Beiträgen bestimmende Blick der deutschen Politik zu einer internationalen Perspektive, in der neben den einzelnen Staaten auch die Staatengemeinschaft zum Adressaten menschenrechts- und entwicklungspolitischer Ansprüche wird. Dem entsprechen - als dritte Gliederungsstruktur die verschiedenen Tätigkeitsbereiche der Autoren, die Unterschiede in der Akzentuierung und Bewertung zu erklären vermögen: Auf die Vertreter der staatlichen Administration folgen drei Menschenrechtsaktivisten aus dem NGO-Bereich sowie ein Repräsentant des UNHCR als einer Intergovernmental Organization (IGO). Im ersten Beitrag des Teils "Politische Durchsetzung" analysiert Dr. Klemens van de Sand, bis Ende 1996 Planungs- und Menschenrechtsbeauftragter im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die in den letzten Jahren erheblich verstärkte Menschenrechtskomponente deutscher Entwicklungszusammenarbeit vor dem Hintergrund eines veränderten Stellenwerts von Menschenrechtsfragen in der internationalen Politik nach dem Ende des Systemkonflikts. Seine Ausführungen belegen, daß sich die von Holtz eingeforderte Beachtung der politischen Dimension in Gestalt einer Verschränkung von entwicklungs- und menschenrechtsorientierten Ansätzen in der Politik der Geberländer zumindest konzeptionell durchgesetzt hat, indem sie zeigen, wie und in welchem Umfang Menschenrechte als Kriterium zur Vergabe von Entwicklungshilfe in die offizielle Entwicklungspolitik aufgenommen worden sind. Eine solche Vergabepolitik ist begleitet von einer ständigen Bereitschaft zum Dialog, ohne den die Intention einer Sanktionierung allzu häufig nicht vermittelbar wäre. Der Beitrag von Wolfgang Gerz, Leiter des Arbeitsstabs Menschenrechte im Auswärtigen Amt, schließt hieran an und zeigt, auf welchen Strukturen der derzeitige Menschenrechtsdialog beruht. Jenseits der vielzitierten Menschenrechtskonditionalität bildet der zwischenstaatliche Nord-Süd-Dialog das ge-
Menschenrechte als Maßstab der Entwicklung
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eignete Forum für eine interkulturelle Verständigung über Menschenrechte und ihre universelle Geltung. Für den Praktiker erhält unter diesen Voraussetzungen das von Nuscheler hinsichtlich seiner Rechtsqualität in Frage gestellte Recht auf Entwicklung einen kommunikativen Wert, der die Gesprächs- und Kooperationsbereitschaft der involvierten Akteure symbolisiert. Aus der Perspektive von Menschenrechts-NGOs bleibt der kritische Dialog mit menschenrechtsverletzenden Staaten unzureichend, wie die Ausführungen von Volkmar Deile, Generalsekretär der deutschen Sektion von amnesty international, beispielhaft belegen. Nuschelers These aufgreifend, daß das zentrale Anliegen des Menschenrechtsschutzes nicht eine Erweiterung des Normenbestands, sondern die Umsetzung bestehender Vereinbarungen ist, listet Deile Schritte zur effektiven Durchsetzung von Menschenrechten - von der Prävention über einen stärkeren Ressourceneinsatz bis hin zur konzeptionellen Verankerung - auf und formuliert solchermaßen einen normativen Maßstab für eine konsistente Menschenrechtspolitik. In der Konsequenz erfahrt der Menschenrechtsbegriff eine Ausweitung, die menschenrechtliche Erwägungen - im Sinne einer Querschnittsaufgabe - auf nahezu sämtliche Politikbereiche ausstrahlen läßt. Die folgenden drei Beiträge greifen den Gedanken der (konkreten) Durchsetzungsstrategien für einzelne politische Problemkreise auf. Den in den 90er Jahren hervortretenden ethnischen Konflikten widmet sich der Beitrag von Dr. Theodor Rathgeber, Mitarbeiter der Gesellschaft für bedrohte Völker. Rathgeber untersucht Kontexte solcher Konflikttypen und weist dabei auf die Problematik eines durch Zentralisierung und Modernisierung geprägten Entwicklungsparadigmas hin. Analysiert werden kulturelle Konfliktstrukturen im Zusammenhang des Gegensatzes von Zentrum und Peripherie, insbesondere der Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts, und deren Gefahrenpotential für die Menschenrechtslage und die Entwicklungsperspektiven indigener Völker. Um solchen Gefahren zu begegnen, gilt es, die spezifischen Handlungsmöglichkeiten von NGOs auszuschöpfen, wozu Rathgeber vor allem die Bemühungen um die Anerkennung spezieller Rechte Indigener, die Koordination indigener Interessenvertretungen sowie die Einflußnahme auf staatliche Entwicklungspolitiken zählt. Die ethnischen Konflikte haben in der jüngeren Zeit auch dazu beigetragen, die Flüchtlingsproblematik in das öffentliche Bewußtsein zu heben. Manfred Kohler und Dr. Günther Holtmeyer von GERMANWATCH haben es unternommen, die damit verbundenen Herausforderungen an die Menschenrechts2*
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und Entwicklungspolitik sowohl der westlichen Industrienationen als auch der internationalen Staatengemeinschaft zu skizzieren und Möglichkeiten für präventive Strategien aufzuzeigen. Dieser bedarf es um so mehr, als der Beitrag von Stefan Telöken, Pressesprecher der UNHCR-Vertretung in Deutschland, deutlich macht, vor welchen schwierigen Aufgaben der UNHochkommissar für Flüchtlinge angesichts wachsender Flüchtlingszahlen und einer restriktiven Einwanderungs- und Asylpolitik vor allem der Industriestaaten heutzutage steht. Will er nicht nur als "globale humanitäre Feuerwehr" punktuelle Schadensbegrenzung betreiben, sind ein eindeutiges politisches Mandat und der politische Wille der Staatengemeinschaft zu präventivem Handeln erforderlich. Dieser Gedanke der Prävention, der vor allem von Kohler und Holtmeyer mit konkreten Lösungsvorschlägen verknüpft wird, stellt ein zentrales Anliegen aller Beiträge der NGO- bzw. IGO- Vertreter dar und impliziert konkrete Forderungen an die einzelnen Staaten und die Staatengemeinschaft. Setzt man diese Forderungen in Beziehung zu dem Grundsatz, daß die Menschenrechtsund Entwicklungspolitik "zu Hause,,13 beginnt, so kommen das deutsche politische Institutionengefüge und seine Entscheidungsprozesse in den Blickpunkt. Das Anliegen des dritten Teils "Institutionelle Verankerung" ist es, Konsens- und Konfliktmuster bei der Ausgestaltung der deutschen Menschenrechtspolitik zu identifizieren. Dadurch werden zugleich skizzenhaft die realen Voraussetzungen eines menschenrechtlichen Maßstabs für politisches Handeln und damit auch für die Entwicklungspolitik beschrieben, der im ersten Teil aus theoretischer Perspektive beleuchtet und der im zweiten Teil von Praktikern diskutiert worden ist. Die fünf Beiträge des dritten Teils widmen sich den jeweiligen Positionen in den politischen Aushandlungsprozessen (z. B. etwaige parteipolitische sowie inter- und intrafraktionelle Differenzen, Orientierung an der öffentlichen Meinung) und thematisieren solchermaßen die Ausformung einer menschenrechtlichen Perspektive in der deutschen parlamentarischen Praxis. Eine Schwerpunktsetzung auf die parlamentarische Verankerung der Menschenrechte bietet sich insofern an, als der Deutsche Bundestag mit der Erweiterung der Kompetenzen des früheren Unterausschusses für humanitäre Hilfe um Menschenrechtsfragen auf deren gewachsene Bedeutung reagiert hat. Diese Veränderung des institutionellen Gefüges ging
13 Vgl. z. B. Gerhart R. Baum: Menschenrechtspolitik fängt zu Hause an, in: VN 43 (1995),206-209.
Menschenrechte als Maßstab der Entwicklung
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zeitlich der Ausdifferenzierung administrativer Bereiche (Arbeitsstab Menschenrechte im Auswärtigen Amt; Einrichtung von Menschenrechtsbeauftragten im AA, BMZ und BMJ) voraus. Während sich allerdings in der Administration die grundsätzliche Aufwertung der Menschenrechtsbelange (siehe die Beiträge von Gerz und van de Sand) vornehmlich in dem Bestreben einer effektiveren Umsetzung ausdrückt, soll die Einrichtung des Unterausschusses auch einen stärkeren Einfluß der Legislative auf die Menschenrechtspolitik als Bestandteil der Außenpolitik ermöglichen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit der Unterausschuß und das Parlament insgesamt diesem Anspruch - vor dem Hintergrund der traditionellen Prägung dieses Politikbereichs durch die Exekutive - gerecht geworden sind bzw. werden können. Innerhalb des Schlußteils behandelt der einleitende Beitrag allgemein Verfahrensweisen und Konfliktlinien im Unterausschuß und dessen Stellung in der Menschenrechtsarbeit des Bundestags, während sich die nachfolgenden Kurzbeiträge mit enger umgrenzten Themen - dafür aber in parlamentarischer Gesamtschau - befassen. Damit einher gehen Unterschiede in der Darstellungsweise: Versteht sich der Beitrag von Michael Edinger und Oliver Lembcke, wissenschaftliche Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, als Institutionenanalyse, so ergänzen die Obleute der vier Bundestagsfraktionen im Unterausschuß die Darstellung ausgewählter Aspekte des Institutionengefüges um die Akteursperspektive. Die diskutierten Themen sind bestimmt durch die jeweiligen Positionen und Interessen der Bundestagsabgeordneten, deren Ausführungen infolge dessen gelegentlich auch eine individuelle Note erhalten. So geht Andreas Krautscheid (CDU/CSU) auf die - häufig mit negativen Konnotationen versehene Symbolfunktion der parlamentarischen Menschenrechtsarbeit ein und verteidigt sie gegen den Vorwurf der bloß "netten Gesten für die Galerie". Rudolf Bindig (SPD) stellt dem die Defizite der bundesdeutschen Menschenrechtspolitik gegenüber und zeigt - unter Betonung der europäischen Dimension gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik - Alternativen dazu auf. Diese formuliert auch Amke Dietert-Scheuer (Bündnis 90 / DIE GRÜNEN), jedoch vor dem Hintergrund ihrer langjährigen Erfahrungen in der außerparlamentarischen Menschenrechtsarbeit bezüglich der Zugangschancen und Einflußmöglichkeiten von NGOs. Klingt in diesen Beiträgen gelegentlich die herkömmliche Konfliktlinie zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen an, so macht Dr. Jrmgard Schwaetzer (F.D.P.) in ihren Ausführungen auf eine parteiübergreifende Spannungslinie aufmerksam: die zwischen einer primär an moralischen Maßstäben und einer vorrangig an ökonomischen Interessen
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ausgerichteten Politik, zwischen - vereinfacht formuliert - Menschenrechtsund Wirtschaftspolitikern. Damit wird zugleich die Frage der Durchsetzungsmöglichkeiten von Menschenrechtspolitikern in der eigenen Fraktion diskutiert.
III. Wenn auch aus jeweils anderer Perspektive und verknüpft mit unterschiedlichen Anliegen sind die Beiträge des Sammelbands auf die Schnittmenge von Menschenrechten und Entwicklung gerichtet. In Anerkennung der besonderen Bedeutung dieser Schnittmenge sowohl auf theoretischer Ebene als auch in ihren Folgen für die praktische Menschenrechts- und Entwicklungsarbeit liefern die insgesamt 15 Aufsätze Bausteine für ihre genauere Bestimmung. Fügt man diese Bausteine - dabei über die spezifischen Intentionen der einzelnen Beiträge hinausgehend - zu einem "Rohbau" zusammen, so ergibt sich eine dreifache Abgrenzung gegenüber herkömmlichen Bestimmungen der Beziehung zwischen Menschenrechten und Entwicklung: gegenüber der bereits erwähnten Antinomiethese, der Interdependenzthese und der Konvergenz- bzw. Identitätsthese. Die Antinomiethese ist am prägnantesten von Richard Löwenthal in den 60er Jahren formuliert worden und seitdem wiederholt auf z. T. scharfe Kritik gestoßen. Von einem modernisierungstheoretisch inspirierten Entwicklungsbegriff ausgehend konstatierte Löwenthal, daß in den Entwicklungsländern "innerhalb gewisser Grenzen zwischen dem Ausmaß pluralistischer Freiheit und dem Tempo der Entwicklung eine Antinomie besteht... ".14 Diese These impliziert nicht nur eine relative und graduelle Antinomie auch zwischen Menschenrechten und Entwicklung, sondern bringt zudem die Vorrangigkeit von Entwicklung zum Ausdruck, indem Menschenrechtsverletzungen als Mittel zum Zweck legitimiert erscheinen (können). Unbeachtet der zahlreichen normativen Einwände gegen diese These sowie der Fragwürdigkeit von Löwenthals anthropologischem Optimismus gegenüber den Machthabern in Entwicklungsdiktaturen steht zunächst der empirische Nachweis für die behauptete Unvereinbarkeit von Freiheit und Entwicklung aus. Die ökonomi-
14 Richard Löwenthai: Staatsfimktionen und Staatsform in den Entwicklungsländern, in: ders. (Hg.): Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, Berlin 1963, 164-192, hier 187.
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sehen Erfolge der südostasiatischen "Tiger"-Staaten in den letzten beiden Jahrzehnten, Chiles wirtschaftlicher Aufschwung unter der Pinochet-Diktatur sowie die jüngsten Entwicklungen in der Volksrepublik China bestätigen gleichermaßen Inhalt wie Aktualität von Löwenthals These. Gerade Hongkong, Singapur, Süclkorea und Taiwan haben sich infolge ihrer kontinuierlich hohen Wachstumsraten längst aus dem Kreis der Entwicklungsländer "verabschiedet" und sind zu potenten Konkurrenten der westlichen Industrienationen auf den Weltmärkten avanciert, l' während sie sowohl bürgerlich-politische als auch die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte flagrant verletzen. Diesen Beispielen (im ökonomischen Sinn) erfolgreicher nicht-demokratischer Entwicklungsregime steht jedoch eine bei weitem größere Zahl von Staaten speziell in Afrika gegenüber, in denen das Experiment der Entwicklungsdiktatur in eine "Diktatur ohne Entwicklung" gemündet ist. Diese Erkenntnis hat nicht nur Löwenthal selbst zu einer Rücknahme seiner Antin0miethese veranlaßt, 16 sondern auch zur Aufgabe des Konzepts der Entwicklungsdiktatur in der wissenschaftlichen Literatur geführt. Nachfolgend sind Menschenrechte und Entwicklung statt dessen positiv aufeinander bezogen worden. Auf politischer Ebene hat diese Interdependenzthese am Ende der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz 1993 ihre "internationale Weihe" erhalten, nachdem seitens der EG bereits am 28. November 1991 eine Entschließung über Menschenrechte, Demokratie und Entwicklung verabschiedet worden war. 17 In der gegenwärtigen wissenschaftlichen Debatte werden - anders als bei Löwenthal, der aus der Analyse von (vermeintlich) empirischen Tatbeständen auf die Legitimität von menschenrechtsverletzendem Zwang geschlossen hat - Menschenrechte und Entwicklung in einem normativen Verhältnis erfaßt:
l' Vgl. Wilhelm Bürklin: Die vier kleinen Tiger. Die pazifische Herausfordertmg, München 1993. 16 So geschehen im "Nachtrag 1984" zum Neuabdruck seines Aufsatzes in: F. Nuscheler (Hg.): Politikwissenschaftliche Entwickbmgsländerforsch1Ulg, Darmstadt 1986, 273-275, wenngleich LöwenthaI auch Mitte der 80er Jahre lediglich einen etwaigen positiven Einfluß von Entwickl1Ulg auf die Staatsform (1Uld implizit die bürgerlichen Menschenrechte) zu erkennen vermag. 17 Vgl. die Punkte 8 1Uld 74 der Wiener Erklärtmg 1Uld des Aktionsprogramms der Weltkonferenz über Menschenrechte. Der Text ist ebenso wie die Entschließ1Ulg der EG abgedruckt in: Tetzlaff (Hg.): Menschenrechte 1Uld Entwickl1Ulg (= Anm. 1).
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Das Zitat von Donnelly läßt keinen Zweifel daran, daß dabei den Menschenrechten ein eigener Wert zukommt und vice versa Entwicklung als Voraussetzung für Menschenrechte begriffen wird. Unklar bleibt jedoch, auf welcher Basis die von Donnelly und anderen geforderte Verrechnung von Menschenrechten und Entwicklung in Form von "true cost-benefit" vorgenommen werden soll und in welchem Verhältnis beide Bereiche in die "Rechnung" eingehen. Will man an der Unterscheidbarkeit von Entwicklung und Menschenrechten festhalten, bedarf es einer genaueren Bestimmung der Intensität der jeweiligen Abhängigkeit voneinander. Gerade die Unterscheidbarkeit wird aber von den Verfechtem der Konvergenz- bzw. Identitätsthese in Zweifel gezogen, für die hier stellvertretend die Studien von John O'Manique herangezogen werden sollen. 19 An die Interdependenzthese anschließend wird von O'Manique die Ausdehnung und Angleichung des Menschenrechts- und Entwicklungsverständnisses konstatiert und jede Form des "trade off' abgelehnt. 20 Für ihn beruhen solche Tauschgeschäfte auf der mangelnden Akzeptanz des universellen Geltungsanspruchs von Menschenrechten, die ein instrumentelles Verrechnen überhaupt erst notwendig macht. Für ihre allgemein verbindliche Geltung sei vielmehr auf allgemein vorfindbare menschliche Dispositionen abzustellen. Ein solcher kleinster gemeinsamer Nenner für die Akzeptanz der Menschenrechte bestehe in der Propensität des Menschen zur Entwicklung, d. h. in der natürlichen 18 Jack Donnelly: Human Rights and Development: Complementary or Competing Concerns?, in: V. P. Nanda / G. W. Shepherd (Hg.): Human Rights and Third World Development, Westport 1985,27-55, hier 29. 19 Vgl. John O'Manique: Human Rights and Development, in: HRQ 14 (1992), 78-103; ders.: Universal and Inalienable Rights: A Search for Foundation, in: HRQ 12 (1990),465-485; vgl. auch Manfred Nowak: Menschenrechte und Entwicklung versus menschenrechtliche Entwicklungszusammenarbeit. Gedanken im Anschluß an die Wiener Menschenrechtskonferenz, in: Tetzlaff (Hg.): Menschenrechte und Entwicklung (= Anm. 1),215-226, hier 224. 20 Vgl. O'Manique: Human Rights (= Anm. 19), 78f und 83.
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Anlage des Menschen, sich zu entwickeln und die Voraussetzungen seiner Entwicklung bestimmen zu können. Entwicklung wird damit zur Basis der Menschenrechte, wie die folgenden Definitionen belegen: 21 (a) "Development is a process (of individual or community) of actualizing what is believed (by her, him, them) to be good." (81) (b) "A right is a claim to something that is needed for the development of an individual human." (79) (c) "The exercise of human rights is, therefore, doing or having what is required for development and, as such, can be identified [HervorheblDlgen der Verf] with the development process itself." (82)
Der Reiz der in diesen Definitionen entfalteten Identitätsthese liegt darin, daß das Problem der unbestimmten Zuordnung von Menschenrechten und Entwicklung in der Interdependenzthese gelöst wird, indem beide ineinander aufgehen. Die Frage nach der Tragfähigkeit dieses Konzepts läßt sich allerdings nur dann beantworten, wenn geklärt wird, inwieweit eine Identifizierung der Menschenrechte als individuelle Rechte [Satz (b)) mit dem Entwicklungsprozeß als kollektives wie auch individuelles Gut [Satz (a)) begrifilich möglich und normativ geboten ist. Neben den begrifilichen Problemen22 drängt sich vor allem ein normativer Einwand auf: Wäre die Identitätsthese begrifilich stimmig, so müßte entweder für die Entwicklung als Synthese kollektiver Güter im rechtlichen (und moralischen) Diskurs oder für die Menschenrechte im politischen Diskurs die eigenständige Normativität entfallen. 23 Zwei Schlußfolgerungen wären denkbar: Einerseits geriete Entwicklung zum bloßen Menschenrechtsvollzug und verlöre ihren Charakter als politische Aufgabe, zu Ebd., 79ff. 22 Eine begriffliche Analyse der Definitionen von O'Manique kann hier nicht geleistet werden; es soll genügen festzustellen, daß es sich bei Satz (c) nicht um eine logische, sondern inhaltliche Identitätsthese handelt. Eine logische Identität läge z. B. vor, wenn allgemein die Zugehörigkeit der EntwickllDlg lDld der Menschenrechte zu derselben Klasse behauptet würde. Die inhaltliche Identität ist hier gegeben, weil für die Menschenrechte das Element ihrer faktischen VerwirklichlDlg noch als ßedingmlg für die Identität mit EntwiCkllDlg hinzutritt. Die VerwirklichlDlg kann jedoch ihrerseits als kollektives Gut angesehen werden, das gleichwohl logisch nicht der Klasse der Menschenrechte angehört. Vgl. zu dieser Problematik Robert Alexy: Individualrechte lDld kollektive Güter, in: ders.: Recht, Vernunft, Diskurs, Frankfurt a.M. 1995, 232-261, hier 249-25l. 23 Vgl. ebd., 256. 21
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der die Planung und die Herbeiführung einer gesellschaftlichen Verständigung über "actualizing what is believed to be good" gehören. Andererseits würden die Menschenrechte zum Reflex gesellschaftlicher Entwicklung bzw. zur bloßen Explikation des für gut Befundenen?4 In der Konsequenz f.illt die Identitätsthese hinter die Interdependenzthese zurück. Ebenso wie die Interdependenzthese hält die hier vertretene Regulativthese an der Unterscheidbarkeit und jeweiligen Eigenständigkeit von Menschenrechten und Entwicklung fest. Während erstere jedoch auf den Zusammenhang des Unterschiedenen abstellt, will die Regulativthese das Verhältnis von Menschenrechten und Entwicklung genauer bestimmen; dazu ist es notwendig, die Unterscheidung zwischen Menschenrechten und Entwicklung zu explizieren: Zunächst läßt sich auf anthropologischer Ebene der Mensch - ganz im Sinne der Interdependenzthese - als autonomes Individuum und soziales Wesen bestimmen. Während die Menschenrechte Ausdruck des Autonomiegedankens sind, bietet sich bei der Bestimmung von Entwicklung eine Differenzierung zwischen der Entfaltung des einzelnen und den Entwicklungsprozessen sozialer Gruppen oder Gesellschaften an. Die soziale Entwicklung setzt den Menschen als soziales Wesen voraus und umfaßt mehr als die bloße Summe der Entwicklung von Individuen. In diesem Verständnis ist Entwicklung eine gemeinschaftlich zu bewältigende politische Aufgabe. Dabei können die Ergebnisse des Entwicklungsprozesses in Gestalt kollektiver Güter eine Voraussetzung für die Durchsetzung von Menschenrechten darstellen - man denke z. B. an Rechtsstaatlichkeit -, die normative Geltungskraft der Menschenrechte bleibt gleichwohl von dem Prozeß unberührt. 23 Die Menschenrechte sollen dem einzelnen den Schutz vor, den Anteil an und die Mitsprache bei dem von einer Gemeinschaft getragenen Entwicklungsprozeß gewährleisten. In dieser Funktion zeigen Menschenrechte (und sehr wohl auch soziale Menschenrechte) im Falle ihrer Verletzung die Kosten des jeweiligen Entwicklungsprozesses an - sie fungieren als Regulativ gegenüber der Entwicklung. Die Einsicht in die Notwendigkeit eines Regulativs gegenüber Entwicklung bestimmt auch die Ausgestaltung des Zielkatalogs von Entwicklung bei Dieter
24 Diese Überlegtmg läßt sich in einer aktuellen Lesart auf die im Rahmen der Kommunitarismus-Liberalismus-Debatte aufgeworfene Frage nach der Priorität des Guten vor dem Recht beziehen. 23 Allenfalls kann sich als Folge einer fortschreitenden Entwickhmg der internationalen Staatengemeinschaft der Menschenrechtskatalog erweitern.
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Nohlen und Franz Nuscheler?6 Die in ihrem magischen Fünfeck verbundenen und aufeinander bezogenen Ziele (qualitatives Wachstum, Arbeit, soziale Gerechtigkeit, Partizipation, Unabhängigkeit) enthalten, insofern sie verschiedene Menschenrechte integrieren, immanente Schranken, mit deren Hilfe Fehlentwicklungen verhindert werden sollen. Menschenrechte sind hier mit einzelnen Zielen verbunden und somit regulativer Bestandteil des Zielkatalogs an sich. Gleichwohl können sie lediglich als Teil eines Ziels - neben weiteren Zielen - mitbedacht werden und entfalten nur bedingt regulative Kraft gegenüber den anderen Zielen der Entwicklung. Geeigneter als solche internen Schranken erscheint daher ein externes Korrektiv in Gestalt der Menschenrechte als Maßstab für Entwicklung. Dieser menschenrechtliche Maßstab beläßt der politischen Ausgestaltung von Entwicklung einen weiten Spielraum, aber er setzt der - um den Terminus von Donnelly aufzugreifen - true cost-benefit Rechnung normative Grenzen?7 Ein Entwicklungsprozeßist auch dann noch nicht erfolgreich verlaufen, wenn der größtmögliche Nutzen für die größtmögliche Zahl an Menschen erreicht worden ist. Vielmehr indiziert erst die Beachtung der - effizienzfeindlichen Menschenrechte den Wert eines konkreten Entwicklungsprozesses ebenso wie die Beachtung der - mehrheitsfeindlichen - Menschenrechte erst den Wert einer Demokratie indiziert. In diesem Sinne fungieren Menschenrechte als Maßstab für Entwicklung, während umgekehrt Entwicklung nicht Maßstab für Menschenrechte sein kann. Darin begründet sich der Titel dieser Einführung.
Noblen / Nuscheler: Was heißt Entwickhmg? (= Anm. 8), 64-75. Solange Donnellys Argumentation von dem Gnmdgedanken der Verrechenbarkeit geleitet ist, kann Menschenrechten keine externe Korrektivfimktion gegenüber Entwickhmg zukommen. Sie steht im Ergebnis der hier vertretenen Regulativthese allerdings insoweit nahe, als seine cost-benefit-Analyse von dem normativen Anliegen getragen ist, die Legitimation der (vorübergehenden) Preisgabe von Menschenrechten im Namen der Entwickhmg zu hinterfragen. 26 27
I. Theoretischer Zusammenhang
Menschenrechte: Hilfe oder Hemmnis für Entwicklung?
Von Uwe Holtz
Bis in die achtziger Jahre galt in der Entwicklungspolitik die politische Dimension von Entwicklung bzw. die Frage nach dem politischen System in den Entwicklungsländern als unwichtig. Der erste Minister des Bundesministeriums :für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), Walter Scheel (F.D.P), formulierte vor dreißig Jahren kurz und bündig: "Entwicklungspolitik dient dem wirtschaftlichen Aufbau der Nehmerländer." Und sein Staatssekretär Friedrich Karl Vialon assistierte: "Unsere Entwicklungspolitik ist darauf angelegt, die Produktivität der Wirtschaft in den Entwicklungsländern zu steigern und damit zugleich unsere Absatzmöglichkeiten zu erweitern. ,, 1
I. Die politische Dimension in der Entwicklungspolitik Entwicklungspraktikerund Entwicklungsinstitutionen tabuisierten oft die Frage nach dem politischen System und nach der Verantwortung politischer Eliten. In ihrem entwicklungspolitischen Bericht von 1983 versicherte die ein Jahr zuvor ins Amt gekommene Bundesregierung unter Kanzler Kohl: "Die Bundesregierung achtet das Recht der freien Entscheidung der Entwicklungsländer über ihre politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung. ,,2 Außerdem wurde das Völkerrechtsprinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten hochgehalten. Das Weltbank-Abkommen untersagt es der Weltbank ausdrücklich, sich in die politischen Angelegenheiten eines Landes einzumischen, und fordert, daß bei den Weltbankbeschlüssen nur wirtschaftliche Er1 Vgl. Hennann Ziock (Hg.): Entwicklungshilfe - Baustein für die Welt von morgen, Frankfurt a.M. u. a. 1966, 6 und 47. 2 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Hg.): Fünfter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung, Bonn 1983,7.
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wägungen berücksichtigt werden dürften. 3 Manche Wissenschaftler, die sich mit Fragen des politischen Systems in Entwicklungsländern befaßten, zeigten gar Verständnis für Entwicklungsdiktaturen in der Dritten Welt. So vertrat der Berliner Politikwissenschaftler Richard Löwenthal in den sechziger Jahren die Auffassung, daß in den Entwicklungsländern offensichtlich die Diktatur entwicklungskonformer und leistungsfähiger als die Demokratie sei. 4 Für ihn bestand zwischen dem Ausmaß pluralistischer Freiheit und dem Tempo der Entwicklung eine relative Antinomie: "Jeder Grad an Freiheit wird mit etwas Verlangsamung der Entwicklung, jeder Grad an Beschleunigung mit etwas Verlust an Freiheit bezahlt.'" Auch die beiden Hauptstränge in der Entwicklungstheorie, sowohl die Modernisierungs- als auch die Imperialismus- und Dependenztheorien, vernachlässigten die Frage nach dem politischen System in den Entwicklungsländern. Dazu kam, daß in Zeiten des Ost-West-Konflikts von beiden Supermächten und ihren Verbündeten vorrangig darauf geachtet wurde, ob ein Entwicklungsland sich dem jeweiligen Lager zugehörig zeigte; Fragen der inneren Verhältnisse waren zweitrangig. So soll ein amerikanischer Präsident auf den Vorhalt, man könne doch nicht länger mit dem Diktator Somoza in Nicaragua zusammenarbeiten, geantwortet haben: "Ja richtig - das ist ein Hundesohn, aber er ist unser Hundesohn. " Für die Bundesrepublik galt bis zu den Ostverträgen und insbesondere bis zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR von 1972
3 Vgl. World Bank (External Mairs Department): The World Bank. Questions and Answers (Ms.), Washington D.C. 1995,34. 4 Vgl. Richard Löwenthai (Hg.): Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, Berlin, 1963; vgl. auch Dieter Nohlen: Lateinamerika zwischen Diktatur Wld Demokratie, in: D. Junker / D. Nohlen / H Sangmeister (Hg.): Lateinamerika am Ende des 20. JahrhWlderts, München 1994, 12-26, hier 20. , Richard Löwenthai: Staatsfimktionen Wld Staatsform in EntwicklWlgsländern, in: F. Nuscheler (Hg.): Politikwissenschaftliche EntwicklWlgsländerforschWlg, Darmstadt 1986, 241-275, hier 266. Im Nachwort zu seinem 1963 geschriebenen Wld in dem von Nuscheler herausgegebenen Sammelband abgedruckten Beitrag relativiert Löwenthai seine Antinomie-These aufgnmd der ErfahrWlg mit EntwicklWlgsdiktaturen, die sich fast ausnahmslos als "Diktaturen ohne EntwicklWlg" erwiesen haben. Vgl. auch Jürgen Rüland / Nikolaus Werz: Von der "EntwicklWlgsdiktatur" zu den Diktaturen ohne EntwicklWlg - Staat Wld Herrschaft in der politikwissenschaftlichen Dritte WeltForschWlg, in: F. Nuscheler (Hg.): Dritte Welt-ForschWlg: EntwicklWlgstheorie Wld EntwicklWlgspolitik (= PVS, Sonderheft 16/1985), Opladen 1985, 211- 232.
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unter Kanzler Willy Brandt die aus dem Jahre 1955 stammende HallsteinDoktrin auch in der Entwicklungspolitik: Wenn ein Entwicklungsland diplomatische Beziehungen zur DDR aufnahm, wurde dies von der Bundesregierung als "unfreundlicher Akt" betrachtet und die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit dem betreffenden Land eingestellt. Dabei spielte die Frage, ob das Entwicklungsland eine Demokratie oder eine Diktatur war, keine Rolle. Besonders das Epochenjahr 1989, das den Zusammenbruch kommunistischer Regime symbolisiert, hat mit der Vernachlässigung der politischen Dimension, d. h. der Frage nach dem politischen System, in der Entwicklungspolitik Schluß gemacht. Dies ist sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene spürbar. So führte die Bundesregierung 1991 politische Kriterien bei der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) ein, und der Ausschuß für Entwicklungshilfe der OECD (DAC) widmete in seinem Bericht von 1995 über die EZ erstmals der politischen Dimension ein eigenes Kapitel.
ll. Veränderte Bedeutung der Entwicklungspolitik Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wird deutlich: Vieles ist nicht mehr so, wie es einmal war. Der von Osteuropa ausgehende Wind des Wandels zu Demokratie, Respektierung der Menschenrechte und marktorientierten Ordnungen hat viele Entwicklungsländer erreicht - zum Leidwesen für einige ihrer Regierungen. Die Weltwirtschaft und die einflußreichen Bretton WoodsInstitutionen Weltbank und Internationaler Weltwährungsfonds sind wirklich global geworden. Eine wichtige Veränderung in den internationalen Beziehungen ist der Übergang von einem Zeitalter, in dem Regierungen und Wirtschaft die Alleinakteure waren, zu einer Welt, in der die Zivilgesellschaft und insbesondere die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eine zunehmend bedeutendere Rolle spielen. Zu Recht hält Franz Nuscheler es für voreilig, vom Ende des Nord-SüdKonflikts zu sprechen; dieser bleibe eine "Konfliktformation der internationalen Politik". Deshalb gilt es, das politische, wirtschaftliche und soziale NordSüd-Gefälle, die "globale Apartheid", zu bekämpfen. 6 Mehr als eine Milliarde Menschen - vor allem in den Hungergürteln Afrikas südlich der Sahara und in Südasien - lebt in absoluter Armut und muß mit
6 Vgl. Franz Nuscheler: Lem- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik, 4. Aufl., Bonn 1995, insbesondere 99ff. 3 Dicke u. a.
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maximal einem Dollar pro Tag auskommen. Im Armuts- und Hungerproblem liegt wohl die bedeutendste Ursache für viele andere Welt- und Entwicklungsprobleme (wie armutsbedingte Umweltzerstörung, Landflucht, Bevölkerungswachstum, Migration, inner- und zwischenstaatliche Verteilungskonflikte, fundamentalistische Strömungen). Bereits im ersten Bericht der Nord-SüdKommission von 1980 hatte ihr Vorsitzender Willy Brandt gemahnt, die Bemühungen um den Ausgleich zwischen Industrie- und Entwicklungsländern als "eine neue, geschichtliche Dimension für die aktive Sicherung des Friedens" zu begreifen; denn: "Wo Hunger herrscht, kann Friede nicht Bestand haben. Wer den Krieg ächten will, muß auch die Massenarmut bannen. ,,7 Weitere Probleme, unter denen die Menschen in einer Reihe von Entwicklungsländern zu leiden haben und die den ganzen Globus in Mitleidenschaft ziehen, sind Wasser- und Energieknappheit, Massenkrankheiten, die Verschuldungskrise, der "unfaire" Welthandel sowie politische Unterdrückung, Korruption und Krieg. Wenn es um die Bekämpfung zentraler Entwicklungsproblerne geht, wird häufig die Entwicklungspolitik bzw. die Entwicklungshilfe als probates Mittel angesehen. Die entwicklungspolitische Debatte des Deutschen Bundestages zu Beginn der 13. Wahlperiode am 19. Januar 1995 machte deutlich, daß die Entwicklungspolitik in den neunziger Jahren ein erweitertes Mandat besitzt. 8 Neben den traditionellen Aufgaben wie Armutsbekämpfung, Förderung von Bildung und Gesundheit, Umweltschutz und Eindämmung des Bevölkerungswachstums soll die Entwicklungspolitik zur Lösung anderer dringlicher Aufgaben beitragen: so zur Bekämpfung von Fluchtursachen, Konflikten sowie Not- und Katastrophensituationen, aber auch zur Unterstützung beim Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft sowie zur Stärkung der Menschenrechte und der Zivilgesellschaft.
m. Zusammenhang von Menschenrechten und Entwicklung Entwicklung ist ein außerordentlich tiefgreifender, langwieriger und komplexer Wandlungsprozeß, der wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturen verändert und die Denk-, Verhaltens- und Ausdrucksweisen der Menschen nicht unberührt läßt. Erfolge bei der Überwindung von Unterent7 Bericht der Nord-Süd-Kommission (Der Brandt-Report): Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer, Köln 1980,21 und 23. 8 Vgl. Plenarprotokoll13/12 vom 19. Januar 1995, 670-689.
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wicklung werden sich deshalb nur selten rasch einstellen. Ein Zustand der ·Unterentwicklung in einem Land herrscht laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) dann vor, wenn große Teile der Bevölkerung unter Hunger und Armut leiden, kein menschenwürdiges Leben führen können und ihre Grundbedürfnisse (wie Arbeit, Bildung, Ernährung, Kleidung, Trinkwasser, Gesundheit, Unterkunft, Transport, gesunde Umwelt, Eigenständigkeit, Selbstvertrauen und individuelle Freiheiten) nicht oder völlig unzureichend befriedigt sind. 9 Daß die These von der Zusammengehörigkeit von Menschenrechten und Entwicklung10 nicht die Kopfgeburt eines "Westlers" ist, verdeutlichen jene Zielbeschreibungen von Entwicklung, die vom Süden selbst oder unter starker Beteiligung des Südens gegeben worden sind. So findet sich eine überzeugende, von Persönlichkeiten des Südens gegebene Definition von Entwicklung im Bericht der Südkommission von 1990 (Kommissionsvorsitzender Julius Nyerere): "Nach unserer Auffassung ist Entwicklung ein Prozeß, der es den Menschen ermöglicht, ihre Fähigkeiten zu entfalten, Selbstvertrauen zu gewinnen und ein erfiilltes und menschenwürdiges Leben zu führen. Entwicklung ist ein Prozeß, der die Menschen von der Angst vor Armut und Ausbeutung befreit. Sie ist der Ausweg aus politischer, wirtschaftlicher und sozialer Unterdrückung. ,,11
9 Zum Konzept der Grundbedürfuisse vgl. Internationale Arbeitsorganisation (Hg.): Beschäftigung, Wachstum Wld Grundbedürfuisse. Ein weltweites Problem. Bericht des Generaldirektors, Genf 1976, insbesondere 7f und 34f Die Befriedigung der Grundbedürfuisse soll - so die ILO - als Teil der ErliillWlg der grundlegenden Menschenrechte erfolgen; sie stellt Mindestziele dar, deren einzelne Elernente je nach Entwicklungsstand und Land differieren können. 10 Zu den Publikationen neueren Datums zum Thema gehören: Rainer Tetzlaff (Hg.): Menschenrechte und EntwicklWlg: Deutsche und internationale Kommentare und Dokumente, Bonn 1993; Wolfgang S. Heinz: Positive Maßnahmen zur Förderung von Demokratie Wld Menschenrechten als Aufgabe der EntwicklWlgszusammenarbeit (= DIE, Berichte und Gutachten 4), Berlin 1994; Frank Braßel / Michael Windfuhr: Welthandel Wld Menschenrechte, Bonn 1995; Lothar Brock (Hg.): Menschenrechte und Entwicklung. Beiträge zum ökumenischen Wld internationalen Dialog, Hannover / Frankfurt a.M. 1996. 11 StiftWlg EntwicklWlg Wld Frieden (Hg.): Die Herausforderung des Südens: Der Bericht der Südkommission, Bonn 1991,34.
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Für Demokratisierungsdiskussionen weltweit ist der "Typus der sogenannten westlichen Demokratie im zustimmenden wie ablehnenden Sinne Maßstab und Referenzpunkt" geblieben; dabei stellt sich in vielen Ländern, die nicht dem abendländischen Kulturkreis angehören, die Frage nach der Zukunft der Demokratie in einem vorwiegend sozio-kulturellen Spannungsfeld, in dem oft tradierte Wertvorstellungen "mit dem Individualisierungsdruck und den sozialen Erwartungshaltungen, wie sie mit dem Einzug westlicher Lebensformen einschließlich der Demokratieideen - auftreten", kontrastieren. 12 Der Versuch, Demokratie von außen zu befördern, muß sich immer der Mahnung der aus Nord und Süd stammenden Verfasser der "Stockholmer Initiative zu globaler Sicherheit und Weltordnung" bewußt sein: "Demokratie entwickelt sich nicht auf Befehl von außen, sondern muß sich infolge einer internen 'Nachfrage' herausbilden."l3 Dennoch - fügen sie hinzu - habe die Völkergemeinschaft aus mitmenschlicher Solidarität und aus Gründen gegenseitiger Abhängigkeit die Pflicht, die Achtung der Menschenrechte und die Entwicklung der Demokratie zu unterstützen. 14 Zudem ist die interne Nachfrage in vielen Ländern zu spüren - von China über Indonesien, Myanmar, Kenia bis nach Brasilien. So sind nach der Überzeugung von Jorge Eduardo Saavedra Durao die seit dem letzten Jahrzehnt zu beobachtenden Demokratisierungstendenzen in Brasilien von der Basis der Gesellschaft ausgegangen und haben zu einer Bildung und Stärkung der Zivilgesellschaft geführt; dennoch bleibe im Bereich der Demokratisierung viel zu tun, und die von außen geleistete EZ könne einen Beitrag zum Demokratisierungsprozeß leisten. Unter Demokratisierung versteht er einen Prozeß, für den die Einhaltung der Menschenrechte "essentiell" ist und der auf die Formung eines Staates abzielt, "der ein System von 'checks and balances' aufweist, die Partizipation der Bevölkenmg auf allen Ebenen garantiert Wld eine 'öffentliche Politik' formuliert, 12 Ludger Kiihnhardt: Die Zukunft der Demokratisienmg, in: K. Kaiser / H.-P. Schwarz (Hg.): Die neue Weltpolitik, Baden-Baden 1995, 177-186, hier 182f Kühnhardt weist daraufhin, daß sich selbst im Westen eine Debatte über Gnmdlagen, VoraussetZWlgen, Möglichkeiten Wld Grenzen sowie über die Konzeption von Demokratie als notwendig erwiesen hat, wobei die Demokratietheorien zwischen dem klassischen Ansatz der repräsentativen Wld dem idealistischen Ansatz der partizipatorischen Demokratie schwanken (184f). 13 Stiftung EntwicklWlg Wld Frieden (Hg.): Gemeinsame VerantwortWlg in den 90er Jahren. Die Stockholmer Initiative zu globaler Sicherheit Wld WeltordnWlg, Bonn / Saarbrücken 1991,56. 14 Vgl. ebd., 56f
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die eine umfassende, nicht nur fonnale Demokratisienmg durch die Beteiligung sowie Teilhabe aller an der gesellschaftlichen Entwickhmg garantiert". 15
1990 meldete sich das UN-Entwicklungsprogramm UNDP mit einer Neudefinition von Entwicklung zu Wort. 16 Der erste Bericht über menschliche Entwicklung versteht "human development" als "einen Prozeß der Erweiterung menschlicher Wahlmöglichkeiten" . Drei Bereiche werden dabei als wesentlich herausgestellt: ein langes und gesundes Leben, Bildung und ein ausreichender Lebensstandard (a decent standard 01 living). Positiv an dieser Definition und der dahinter stehenden Konzeption ist, daß der Mensch im Zentrum von Ent-wicklung steht und nicht etwa das Wirtschaftswachsturn und die Expansion des Warenaustauschs. Diese Definition bildet die Grundlage des menschlichen Entwicklungsindex (Human Development Index - HOl). Der Index mißt Entwicklung mit drei zentralen Indikatoren: Lebenserwartung bei Geburt, Alphabetisierungsrate der Erwachsenen und Basiskaufkraft für einen würdigen Lebensstandard (Personal Purchasing Power). Diese drei Indikatoren werden im HOl zu einem einheitlichen Maß zusammengeführt. Verglichen mit der Messung des BSP pro Kopf vermittelt der HOl ein realistischeres Bild des sozio-ökonomischen Fortschritts eines Landes. Auf der Basis des HOl werden die Länder der Welt in drei Gruppen menschlicher Entwicklung eingeteilt, nämlich in die Ländergruppe mit hoher, mittlerer und niedriger menschlicher Entwicklung. Im 1990er Bericht weisen Japan, Schweden und die Schweiz den höchsten Grad an menschlicher Entwicklung auf, während Burkina Faso, Mali und Niger am Ende der menschlichen Entwicklung stehen. 17 Im Bericht von 1996 stehen Kanada, die USA und Japan auf den Plätzen 1 bis 3, Deutschland auf Platz 18 und Somalia, Sierra Leone und Niger nehmen die drei letzten Plätze ein. 18 Beim HOl fehlen Indikatoren, die sich auf die politischen Rahmenbedingungen beziehen. Dieses Manko spürte UNDP selbst; im zweiten Bericht über die menschliche Entwicklung 1991 findet sich unter Berufung auf die Er-
15 Jorge Eduardo Saavedra Durao: Ländliche und demokratische Entwicklung als Gegenstand der Entwicklungs-Zusammenarbeit, in: Evangelische ZentralsteIle für Entwicklungshilfe (Hg.): Land und Demokratie - Perspektiven ländlicher Entwicklung in Brasilien, Bonn 1994,34 und 37f. 16 Vgl. UNDP: Human Development Report 1990, New York /Oxford 1990, 1Off. 17 Vgl. ebd., 128f 18 Vgl. UNDP: Bericht über die menschliche Entwicklung 1996, Bonn 1996, 165ff
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kenntnis, daß menschliche Entwicklung unvollständig ist ohne menschliche Freiheit, erstmals der Versuch, einen "menschlichen Freiheitsindex" (HFI) zu erstellen. 19 Der Index basierte auf 40 Schlüsselindikatoren für den Begriff der Freiheit, die ausnahmslos der Charta der Vereinten Nationen von 1945, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 sowie anderen internationalen Verträgen entnommen wurden. Zu diesen Indikatoren gehörten Mehrparteienwahlen, Pressefreiheit, ein funktionierendes Rechtssystem, Reiseund Versammlungsfreiheit, Chancengleichheit der Geschlechter, Gleichbehandlung der Ethnien und andere demokratische Freiheiten einer zivilisierten Gesellschaft. Im Bericht von 1991 stand Schweden im Index der Freiheitsrechte an erster und der Irak an letzter Stelle; Deutschland fand sich auf der neunten Position. 20 Allerdings mußte UNDP auf Druck einzelner - besonders asiatischer - Entwicklungsländer in den folgenden Berichten bis heute auf diesen Index verzichten. Zum Zusammenhang von menschlicher Entwicklung und politischer Freiheit lassen sich folgende Thesen aufstellen: • Freiheit und Demokratie sind keine Garantie für eine gute Entwicklung, aber langfristig gibt es keine nachhaltige, hohe menschliche Entwicklung ohne demokratische Freiheiten und ohne die Respektierung der Menschenrechte. • Demokratisch verfaßte, wirtschaftlich starke und sozial verpflichtete Staaten sind am besten gerüstet, die Gegenwart ihrer Bevölkerung zu sichern, zukunftsfähige Entwicklungen voranzutreiben und globale Verantwortung zu übernehmen. In der deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskussion spielte das von Dieter Nohlen und Franz Nuscheler erstmalig 1974 vorgestellte "Magische Fünfeck von Entwicklung" eine große Rolle. In der dritten Auflage des von ihnen herausgegebenen achtbändigen "Handbuchs der Dritten Welt" (Bonn 1992-1994) nehmen sie einige Ergänzungen vor?1 Zunächst wiederholen sie die Elemente des magischen Fünfecks von Entwicklung, nämlich: Wachstum, Arbeit, Gleichheit/Gerechtigkeit, Partizipation und Unabhängigkeit. Diese 19 Vgl. UNDP: Human Development Report 1991, NewYork I Oxford 1991, lSff
Vgl. ebd., 20. Vgl. Dieter Nohlen I Franz Nuscheler: Was heißt Entwickhmg?, in: dies. (Hg.): Handbuch der Dritten Welt, 3. Aufl, Bonn 1992, 55-75, hier 74. 20 21
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Komponenten benennen fünf Einzelziele von Entwicklung, die zugleich normativ-kritische Maßstäbe und Langzeitperspektiven darstellen. 1992 fügen die beiden Politologen hinzu: 1. Die normative Vorgabe von Partizipation ("Partizipation ist ein normativer Sammelbegriff, der politische und soziale Menschenrechte zusammenfaßt. Partizipation fordert politische Mitwirkung und soziale Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft ... ") ist selbst für Industrieländer eine idealistische Vision; für viele Menschen in der Dritten Welt bedeutet Entwicklung "voraussichtlich auch weiterhin Befriedigung der Grundbedürfnisse" ?2 2. Früher war die Bedeutung der ökologischen Dimension noch nicht so
offensichtlich wie heute: "Ihre Berücksichtigung ist kein pflichtschuldiges Zugeständnis an den ökologiebewußten Zeitgeist, sondern eine conditio sine qua non, weil Entwicklung, wie sie auch immer definiert werden mag, bei einer fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen selbstzerstörerische Wirkung hat." 23 Deshalb präzisieren die beiden Wachstum nicht nur als armutsverminderndes, sondern auch als umweltverträgliches Wachstum und greifen den Begriff der nachhaltigen Entwicklung ("sustainable development")24 auf. 3. Angesichts der Überlegenheit des Kapitalismus als Wirtschaftssystem entgegnen die beiden Politikwissenschaftler ordo-liberalen Entwicklungstheoretikern, die auf die freie Konkurrenz des Marktes als Motor von Entwicklung setzen: liDer Markt ist ein wirksames Regulativ für Angebot und Nachfrage und für die Allokation der Ressourcen; ... er ist aber kein deus ex machina zur Überwindung von Unterentwicklung, vor allem dort, wo die strukturellen und sozio-kulturellen Voraussetzungen für eine funktionsfähige Marktwirtschaft fehlen." 23 Dennoch bleiben unter den internationalen Rah-
22 Ebd., 71. 23 Ebd., 74. 24 Dieser Begriff hat auf der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt wtd
Entwicklwtg in Rio 1992 "offizielle Weihen" erhalten. In der dort von über 100 Industrie- wtd Entwicklwtgsländem angenommenen Agenda 21 heißt es, daß "einer nachhaltigen Entwicklwtg auf der politischen Agenda der Staatengemeinschaft Vorrang einzuräumen ist"; vgl. Bwtdesministerium für Umwelt, Naturschutz wtd Reaktorsicherheit (Hg.): Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt wtd Entwicklwtg im Jwti 1992 in Rio de Janeiro - Agenda 21, Bonn o.J., 10. 25 Nohlen / Nuscheler: Was heißt Entwicklwtg (= Anm. 21),74.
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menbedingungen, die auch einen ordnungspolitischen Rahmen setzen, "ein sozial und ökologisch gebändigter Kapitalismus sowie eine internationale soziale Marktwirtschaft ordnungspolitische Orientierungsmodelle. ,,26 Dem ist hinzuzufügen: Der Mensch ist nicht nur ein "homo oeconomicus", sondern auch ein "zoon politikon" und ein Kulturwesen. Kultur ist ein wichtiges "Lebens-Mittel". Deshalb erweist sich die einseitige Fokussierung auf den Markt als risikoreich. Dort, wo der Markt seine gesellschaftliche Steuerungsfunktion nicht mehr im Sinne des Gemeinwohls erfüllen kann, muß der Staat z. B. bei sozialen und Umweltfragen seine Steuerungs- und Rahmensetzungsfunktionen nach wie vor wahrnehmen. Für die Partnerländer der EZ wie für uns selbst wird der richtige 'Mix' das Entscheidende sein. Das erweiterte und präzisierte "Magische Fünfeck von Entwicklung" ist ebenso überzeugend wie die Definition der Südkommission und die der menschlichen Entwicklung von UNDP, wenn sowohl der menschliche Entwicklungsindex als auch der menschliche Freiheitsindex konstitutiv für Entwicklung sind. Die kürzeste Zielbestimmung von Entwicklung lautet im übrigen: Entwicklung fordert einen menschenwürdigen, nachhaltigen Prozeß, der dreierlei auf Dauer ermöglicht: die Befriedigung der Grundbedürfnisse, die Verwirklichung der Menschenrechte und demokratischer Prinzipien sowie ein umwelt- und sozialverträgliches Wirtschaften. Die Anstrengungen sollten weniger auf die Beantwortung der Frage gerichtet sein, ob Demokratie die Entwicklung voranbringt, sondern auf welche Art und Weise die parallelen Prioritäten eines demokratischen Systems und eines wirksamen Entwicklungsstaates als Tandem verwirklicht werden können?7
IV. Interdependenz und Unteilbarkeit der Menschenrechte Die Menschenrechte beginnen mit dem Recht auf Reis, Schule, Gesundheitsversorgung und angemessenen Wohnraum und reichen über die Meinungs- und Pressefreiheit bis zur freien Betätigung von Parteien, Gewerkschaften und NGOs und schließen das Recht auf eine gesunde Umwelt ein -
Ebd., 74( Vgl. Gordon White: Towards a Democratic Developmental State, in: ids bulletin 26 (1995) 2, 27-36. 26 27
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sie umfassen also wirtschaftliche, soziale, ökologische und kulturelle Grundrechte und die politisch-bürgerlichen Freiheitsrechte. Ein Appell an die Bundesregierung vom April 1996 ist entsprechend darauf gerichtet, auf internationaler Ebene nicht länger die Zweiteilung der Menschenrechte hinzunehmen. In dem Aufruf wird beklagt, daß das Recht auf Nahrung, Arbeit, Wohnung und Gesundheit ein Schattendasein im Vergleich zu den politischen Menschenrechten fristet. Wir betonen, daß, wo die sozialen Rechte nicht erfüllt sind, auch die politischen Rechte nicht wahrgenommen werden, und daß viele politische und kriegerische Konflikte ihre Ursache in der Mißachtung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte haben?8 Die verschiedenen Menschenrechte sind gleichwertig, unteilbar und stützen sich gegenseitig. Dies machten die beiden vor dreißig Jahren verabschiedeten UN-Pakte bereits deutlich: der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte - jeweils von den UN am 19. Dezember 1966 angenommen und 1976 in Kraft getreten. Dieselbe Erkenntnis wurde jüngst auf der UNMenschenrechtskonferenz in Wien bekräftigt. Allerdings wird es immer dringender, die "Unteilbarkeits"-Rhetorik praktisch umzusetzen?9 Um die im Titel aufgeworfene Frage zu beantworten, sei auch ins Gedächtnis gerufen, was der Hauptautor des UNDP-Berichts, Mahbub ul Haq, im Mai 1991 anläßlich der Vorstellung des HFI erklärte: "Die Evaluienmg von Graden der menschlichen Entwicklung fiir jedes Land ist unvollständig, wenn man den Grad der Freiheitsrechte außer acht läßt. (... ) Ein Vergleich der beiden Indizes zeigt, daß ein hoher Grad an menschlicher Entwicklung offensichtlich erst im Rahmen eines hohen Grades an Freiheitsrechten erreicht wird. ,,30
Menschenrechte stellen demnach kein Hemmnis von Entwicklung dar; vielmehr gehört zu jeder Entwicklung, daß sie in einem menschenwürdigen Rahmen stattfinden muß. Menschenrechte machen die Essenz dessen aus, was Entwicklung eigentlich ist; sie sind die Kompaßnadel für Entwicklung. Wer 28 Vgl. Aufruf an die Bundesregienmg: Nahnmg, Arbeit, Wohnung, Gesundheit. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte fördern, in: epd-Entwicklungspolitik 9/1996, dlf 29 Vgl. dazu Asbj0l11 Eide: Human Rights Requirements to Social and Economic Development, in: Food Policy 21 (1996) 1,23-39, hier 38. 30 Zit. nach UNDP: UNDP-Bericht erstellt realistische Strategien (Ms.), Genf 1991,8.
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Menschenrechte unterdrückt, behindert Entwicklung. Die unterschiedlichen Menschenrechte sind eine gute Meßlatte für die Evaluierung von Entwicklung; entwicklungspolitischer Fortschritt läßt sich am fortschreitenden Grad der Verwirklichung der einzelnen Menschenrechte festmachen. Zur Freiheit von Unterdrückung und Ausbeutung, von Hunger und Ressourcenzerstörung beizutragen - dies ist sicherlich das vornehmste Ziel der Entwicklungspolitik. Oder, wie es in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heißt, es ist das "höchste Bestreben der Menschheit", eine Welt zu schaffen, in der die Menschen "frei von Furcht und Not leben".31 Eine weiterhin gültige Vision, die für Nord und Süd, West und Ost nichts an Attraktivität eingebüßt hat.
v. Erwartungen an die EZ beim Demokratisierungsprozeß Am jeweiligen Entwicklungs- und Demokratisierungsprozeß sind viele Akteure inner- und außerhalb der Entwicklungsländer beteiligt. Von außen gewährte Unterstützung - wie die Entwicklungshilfe - kann eine eigenständige Entwicklung und die "interne Nachfrage" nach Demokratie fördern. Fortschritte in den Entwicklungsländern sind jedoch auch von äußeren Faktoren abhängig, wie dem Funktionieren der Weltwirtschaft. 32 Die Industrieländer tragen Mitverantwortung, weil sie die internationalen Spielregeln in Wirtschaft, Handel und mächtigen Organisationen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) bestimmen. Im Vergleich zu den anderen Faktoren und Akteuren, die auf den Entwicklungsprozeß einwirken, ist die Entwicklungshilfe bzw. die EZ nur ein Leichtgewicht. Sie ist schon vom Volumen her von nachrangiger Bedeutung. Die Bundesregierung, d. h. der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Carl-Dieter Spranger, stellte im Oktober 1991 - erst nach der Epochenwende von 1989 - fünf Kriterien für die deutsche EZ mit den Entwicklungsländern vor. Die Kriterien verdeutlichen, daß jetzt der politischen Dimension von Entwicklung zumindest in der Theorie Relevanz zuge-
31 Abgedr. in: Christian Tomuschat (Hg.): Menschenrechte: Eine Sammhmg internationaler Dokumente zum Menschenrechtsschutz, Bonn 1992,26-31, hier 26. 32 Vgl. Stifhmg Entwickhmg \Dld Frieden (Hg.): Bericht der Südkommission (= Anm. 11), 34 \Dld 39f
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messen wird. 33 Sie lauten: Beachtung der Menschenrechte, Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen, Rechtsstaatlichkeit und Gewährleistung von Rechtssicherheit, marktwirtschaftlich orientierte und soziale Wirtschaftsordnung sowie Entwicklungsorientierung staatlichen Handeins. Die Vergabekriterien, die keine starren Meßgrößen bilden, dienen laut Bundesregierung vor allem der Entscheidungsfindung, ob und in welchem Umfang, mit welchen Instrumenten und in welchen Bereichen mit einem Land zusammengearbeitet werden soll.34 Zu Recht wurde damit die Bedeutung p0sitiver Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern als Voraussetzung für den Erfolg von Entwicklungshilfe anerkannt. Diese Kriterien, die aus Beschlüssen des Deutschen Bundestages seit 198235 , aus einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMZ aus dem Jahre 1990 sowie der internationalen Diskussion und internationalen Vereinbarungen schöpfen, haben in Deutschland und den OECD-Ländern weitgehend Zustimmung gefunden. Im jüngsten Evaluierungsbericht der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) von 1996 wurde ebenfalls deutlich, daß das wirtschaftliche, soziale und politische Umfeld entscheidende Erfolgsparameter sind. So müsse der Staat als Grundvoraussetzung entwicklungsorientiert handeln, eine marktwirtschaftliche Ordnung gewährleisten sowie Rechtssicherheit garantieren und die Menschenrechte respektieren. Projekte könnten mittel- und langfristig nicht besser sein als die Rahmenbedingungen, in die sie eingebettet seien. 36 Selbst die Weltbank und auch die OECD propagieren in den neunziger Jahren gutes Regierungs- und Verwaltungshandeln (good governance) und eine partizipative Entwicklung, die die Zivilgesellschaft stärkt. Dabei versteht die Weltbank unter governance "the manner in which power is exerdsed in the management of a country's economic and sodal resources for development. ,,37 Sie ist inso33 Vgl. ausführlicher den Beitrag von Klemens van de Sand (in diesem Band). 34 Vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Hg.): Zehnter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung, in: Drs. 13/3342 vom 14. Dezember 1995,48. 35 In einer Beschlußempfehlung des AwZ heißt es wörtlich: "Bei der entwicklungspolitisehen Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland sollte die Verwirklichung der Menschenrechte ein wesentliches Ziel der Politik der Bundesregierung sein." (Drs. 9/1344 vom 11. Februar 1982,2). 36 KfW: Ergebnisse der Finanziellen Zusammenarbeit. Dritter Auswertungsbericht über geforderte Vorhaben in Entwicklungsländern, Frankfurt a.M. 1996, 6f und 46. 37 World Bank: Govemance and Development, Washington D.C. 1992,52.
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weit an Rechtsstaat und Rechenschaftspflichtigkeit politischer Regime interessiert, als dadurch ihre Beiträge zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den Entwicklungsländern eine bessere Aussicht auf Erfolg versprechen?8 Der Entwicklungshilfeausschuß der OECD (DAC) billigte im Dezember
1993 die "Orientierungen für eine partizipative Entwicklung und gute Staats-
führung" .39 Damit unterstreichen die westlichen Geberländer den hohen Stellenwert, den sie einer guten Staatsführung, der Beachtung der Menschenrechte und der Demokratisierung für nachhaltige Entwicklungsfortschritte beimessen. Gleichzeitig wird damit ihr Wille deutlich, in wachsendem Maße die Gewährung entwicklungspolitischer Leistungen mit politischen Reformen in Richtung auf Demokratie und Menschenrechte zu verknüpfen, also eine politische Konditionalisierung der EZ zu praktizieren. Die im November 1995 beschlossene revidierte vierte Lome-Konvention zwischen den EU- und den AKP-Ländern verstärkte die Bedeutung der Menschenrechte und demokratischer Prinzipien für eine erfolgreiche Entwicklung und Entwicklungszusammenarbeit; zum erstenmal wird auch good govemance als ein besonderes Ziel der Kooperationsmaßnahmen aufgeführt (Art. 5).40 In seinem Bericht von 1995 widmet der Entwicklungshilfeausschuß der OECD der bislang vernachlässigten politischen Dimension von Entwicklung ein eigenes Kapite1. 41 Die politische Dimension erfordert von der öffentlichen EZ die stärkere Berücksichtigung von drei Förderbereichen: (1) Unterstützung für Demokratisierung und pluralistische, partizipatorische politische Systeme in den Entwicklungsländern (PD/GG - participatory development and good governance - stehen jetzt ganz oben auf der Entwicklungsagenda);42 (2) Hilfe beim Aufbau von Zivilgesellschaften; 38
1994.
Vgl. World Bank: Govemance. The World Bank's Practice, Washington D.C.
39 OECD: DAC Orientations on Participatory Development and Good Govemance, OECD / GD, 93/191, Paris 1993. 40 Abgedruckt ist die revidierte Lomb-Konvention als Sonderbeilage in: The ACPEU Courier, 155/1996. 41 OECD: Efforts and Policies of the Members of the Deve10pment Assistance Committee. 1995 Report. Development Co-operation, Paris 1996,25-34. 42 Vgl. auch OECD / DAC: Participatory Development and Good Govemance, Deve10pment Co-operation Guidelines Series, Paris 1995.
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(3) Unterstützung für friedensschaffende Maßnahmen, Konfliktmanagement und Konfliktprävention. Im Mai 1996 nahm der DAC den Bericht "Shaping the 21st Century: The Contribution of Development Co-operation" an, in dem die "Orientierungen" von 1993 bekräftigt werden. Zugleich werden aber auch wirtschaftliche, soziale, kulturelle und ökologische Ziele der EZ gesetzt. So soll bis zum Jahre 2015 die Zahl der in extremer Armut Lebenden um die Hälfte reduziert werden, für jedes Kind zumindest die Grundschulerziehung garantiert sein, die Sterberate der Kinder unter fünf Jahren um zwei Drittel reduziert werden, für alle eine gesundheitliche Grundversorgung verfügbar sein und bis zum Jahr 2005 in jedem Land eine nationale Strategie für nachhaltige Entwicklung vorhanden sein, so daß bis 2015 auf nationaler und globaler Ebene die negativen Umwelttrends gestoppt werden. Zur Erreichung dieser Ziele könne eine "stärker menschenzentrierte, partizipatorische und nachhaltige" Entwicklungszusammenarbeit beitragen, die dementsprechende Entwicklungsprozesse fordert. 43
VL Menschenrechtsorientierung in der Entwicklungspolitik Ausdruck neo-kolonialen Verhaltens? Eine Reihe von Entwicklungsländerregierungen ist überhaupt nicht glücklich über die Aufwertung der politischen Dimension von Entwicklung bei den westlichen Geberländern, die von den Menschenrechten bis zur Entwicklungsorientierung staatlichen Handeins reicht. Einige kritisieren - so z. B. Malaysiagrundsätzlich jede Konditionalisierung der Entwicklungshilfe als eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten und als neokolonialistisches Verhalten des Westens. "Der Westen täte gut daran, vom Erfolg Ostasiens zu lernen und sich zu asiatieren. Er sollte unsere Werte akzeptieren, nicht andersherum", meinte Malaysias Premier Mahathir vor dem europäischasiatischen Gipfel in Bangkok im März 1996. 44 Ihm ist zu erwidern: In der Tat haben die politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten ihre Ausformung im "Westen" erfahren, ihre besondere Prägung durch die Reformation und vor allem die europäische Aufklärung mit der 43 Vgl. OECD / DAC: Shaping the 21st Century: The Contribution of Development Co-operation, DCD / DAC, 96, 15IFinai (Ms.), Paris 1996; vgl. auch: Klemens van de Sand: Mehr Koordination der Geber?, in: E+Z 37 (1996),168-171. 44 Zit. nach "Kein Verständnis für Südostasien?", in: FES-Info, 1/1996, 2.
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Betonung der Freiheit und Mündigkeit des Individuums, des praktischen Lebenssinns sowie des Vernunftprinzips und des dadurch geforderten säkularisierten Denkens. 43 Kulturkreise ohne vergleichbare Erfahrungen haben es schwer, der Rationalität des mittlerweile den gesamten Globus umspannenden Wirtschaftsparadigmas zu folgen. Daß dies dennoch möglich ist - und dazu noch ohne Aufgabe der eigenen kulturellen Identität -, zeigt das Beispiel Japan. Verständlicherweise bedeutet für einen Analphabeten und hungernden Menschen die Pressefreiheit nicht unbedingt ein primäres, existentielles Grundrecht. Dennoch weist die Entwicklungsgeschichte z. B. in Afrika aus, daß die von vielen autokratischen, sich selbst bereichernden Herrschern in der Entkolonialisierungsphase in den 60er Jahren ausgegebene Parole "Erst Entwicklung, dann Demokratie" zu keinem von beiden geführt hat, sondern von den Machthabern dazu mißbraucht wurde, die Bevölkerung zu unterdrücken und sich an der Macht zu halten. Spätestens mit der Wiener Menschenrechtskollferenz von 1993 ist von der Völkergemeinschaft die Universalität und die gleichgewichtige Bedeutung der unterschiedlichen Arten von Menschenrechten anerkannt. Menschenrechte sind global und keine innere Angelegenheit eines Landes. Die kulturelle Relativierung des Universalprinzips der Menschenrechte soll oft nur Menschenrechtsverletzungen legitimieren. 46 Die Weltkonferenz über Menschenrechte in Wien ist von großer entwicklungstheoretischer und -strategischer Bedeutung. Nach z. T. heftigen Debatten vor allem zwischen Vertretern europäischer und asiatischer Länder verständigte man sich darauf, von der Universalität der Menschenrechte auszugehen und ihrer kulturellen Relativierung eine Absage zu erteilen. Außerdem wurde festgehalten: Demokratie, Entwicklung und die Verwirklichung der Menschenrechte, und zwar der politisch-bürgerlichen Freiheitsrechte wie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sowie des Rechts auf Entwicklung, sind untrennbar miteinander verbunden und stärken sich gegenseitig. Wer an den "Wiener Konsens" erinnert und von sich selbst und anderen dessen Erfüllung erwartet, kann nicht neo-kolonialen Verhaltens geziehen werden. Auch wenn fernöstliche Industriestaaten, deren Regierungen mit autoritären Methoden operieren, den Westen in einen brutalen globalen Wettbewerb hineindrängen, kann nur mit dem Liberalen Ralf Dahrendorf davor gewarnt wer-
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Vgl. den Beitrag von Klaus Dicke (in diesem Band). Vgl. das Dossier "Menschenrechte Wld Kultur", in: ZEP 17/1994,2-27.
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den, diese Staaten nachzuahmen: "Wenn wir Europäer nicht mehr überzeugt sind, daß politische und wirtschaftliche Freiheiten zusammengehören, an was, verdammt noch mal, glauben wir dann überhaupt noch?"47 Deshalb sollten diktatorische Regime, die die grundlegenden Menschenrechte verletzen, nicht noch mit Entwicklungsgeldern aufgepäppelt werden; in solchen Ländern sollten - wie es in einer einstimmig angenommenen Bundestagsentschließung heißt - allenfalls Projekte gefordert werden, die der notleidenden Bevölkerung oder dem Umweltschutz direkt zugute kommen. 48 Dahinter steht die Auffassung, Entwicklungshilfe solle eher ein Instrument der Ermutigung als der Bestrafung sein, und die ärmsten Bevölkerungsschichten eines Entwicklungslandes sollten nicht doppelt leiden müssen - einmal unter einer Diktatur und zum anderen unter dem Entzug der Entwicklungshilfe. Festzuhalten bleibt aber auch, daß die Bundesregierung in der Praxis die fünf neuen Vergabekriterien nicht einheitlich anwendet - kleinere Entwicklungsländer wie Haiti, Malawi und Myanmar hatten die strenge Anwendung der Kriterien zu erwarten, während die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit dem UN-Sicherheitsratsmitglied China, einem massiv die Menschenrechte verletzenden Regime, sogar noch ausgebaut wurde. 49
Vll. Entwicklungspolitik als langfristige Interessenpolitik Besonders in der NGO-Szene - von kirchlichen Organisationen bis hin zu Hilfsgruppen, die sich der Armutslinderung verschrieben haben - ist es unfein, Eigeninteressen, die sich auf das Wohlergehen der Bundesrepublik beziehen, für das entwicklungspolitische Engagement zu benennen. Man engagiert sich, um anderen zu helfen - aus humanitären, christlichen und solidarischen Motiven oder weil man für die "Eine Welt" etwas tun will. Demgegenüber beklagt vor allem die Wirtschaftswelt, daß sie von der deutschen EZ noch zu wenig profitiert. 47 Zit. nach Oliver Heilwagen: Lord Dahrendorf bittet zu Tisch, in: FAZ vom 23. April 1996. Vgl. auch RaIfDahrendorf: Europäisches Tagebuch, hg. v. Kurt Scheel, Göttingen 1995. 48 Eine ähnlich lautende Empfehlung hatte der Deutsche Bundestag bereits in einem einstimmig angenommenen Beschluß am 5. März 1982 gegeben. 49 Vgl. Thomas Wissing: Die gegenwärtige Diskussion über Kriterien bei der Vergabe staatlicher Entwicklungshilfe, Frankfurt a.M. 1994.
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Jede Politik ist Interessenpolitik - auch Entwicklungspolitik, die in das Gesamtgeflecht der auswärtigen Beziehungen eingebunden ist und wie andere Politikbereiche dem grundgesetzlichen Auftrag unterliegt, deutschen Interessen zu dienen. Humanitäre, solidarische und christliche Motive, nämlich Menschen in Entwicklungsländern aus Situationen von Not und Furcht befreien zu helfen, liegen vielfältigem Engagement von Einzelpersonen und Organisationen zugrunde. Diese Motive dominieren jedoch nicht die staatliche Entwicklungspolitik. "Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden ... werde" heißt es im Amtseid der Minister; vom Interesse anderer Völker ist vorerst nicht die Rede. Klassische, oft "realistisch" genannte Außenpolitik verfolgt primär die Eigeninteressen eines Landes. Zu ihnen gehören vorrangig die Maximierung der nationalen Sicherheit, Wohlstand und das Streben nach Macht und Einfluß im Sinne einer Sicherung "nationaler" Interessen. Die bundesdeutsche Außenpolitik zwang zu Zeiten des Kalten Krieges der Entwicklungspolitik die Verfolgung des deutschen Alleinvertretungsanspruchs auf; so wurde Tansania mit dem Entzug der Entwicklungshilfe bestraft, als es die DDR staatlich anerkannte. Der Außenwirtschaftspolitik der export- und rohstoffabhängigen Bundesrepublik ging und geht es vor allem um einen offenen Welthandel, die Ausweitung von Exporten und Investitionen und um sicheren und preiswerten Bezug von Rohstoffen. Da wurden - und werden - Rüstungsexportgenehmigungen aus wirtschaftlichen Interessen erteilt, ohne in jedem Fall die tatsächlichen Auswirkungen auf die Entwicklungsländer zu berücksichtigen. Zu Zeiten des Kalten Krieges instrumentalisierten die Industrieländer die Entwicklungspolitik häufig im Sinne einer ideologischen und strategischen Interessenwahrnehmung. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Bankrott kommunistischer Entwicklungsstrategien hat sich in den westlichen Industrieländern die alte "raison dletre" der Entwicklungshilfe als Mittel zur Eindämmung des Kommunismus verflüchtigt. Auf jeden Fall schien eine neue, freiere, auf genuin entwicklungspolitische Ziele ausgerichtete Politik möglich. In diese Richtung weisen die neuen entwicklungspolitischen Kriterien. Sie belegen die Absicht der Bundesregierung bzw. des BMZ, eine wertorientierte Entwicklungspolitik zu betreiben. Aber gegenläufige Tendenzen innerhalb der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages werden deutlich. Der Bundesminister des Auswärtigen bekundet den Willen, "unsere Präsenz auf offenen Märkten auszubauen, vor
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allem in den dynamischen Wachstumsregionen Asiens und Lateinamerikas"; dies werde damit zu einer "vorrangigen Aufgabe deutscher Außenpolitik. ,,50 Der Haushaltsausschuß hat des öfteren - ohne Konsultation des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit (AwZ) - die Entwicklungshilfe als "Schmiermittel" für die deutsche Exportwirtschaft, so für China und Indonesien, eingesetzt. Ist die Entwicklungspolitik Magd der Außen- und Außenwirtschaftspolitik? Werden die genuinen entwicklungspolitischen Zielsetzungen und Interessen auf dem Altar einer egoistischen Interessenvertretung geopfert? Kommt der Interessenausgleich in der von der Bundesregierung beschworenen Verantwortungspartnerschaft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zu kurz? Ja, dies ist häufig der Fall. Was das Verhältnis von Entwicklungspolitik und Eigeninteressen angeht, so hat die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland jedoch eher "eine mittlere Position bezogen: Sie hat die Entwicklungspolitik nie so eindeutig außen- und sicherheitspolitischen Interessen wie die USA oder außenwirtschaftlichen Interessen wie in der Vergangenheit Japan untergeordnet. ,,51 Die Bundesrepublik sollte - wie es die skandinavischen Länder und die Niederlande in der Vergangenheit gemacht haben - ein klareres entwicklungspolitisches Profil suchen, das humanitäre Motive mit wohlverstandenen langfristigen Eigeninteressen verbindet. Das eigene Überleben wird auch durch die Überlebens- und Zukunftsfähigkeit anderer gesichert und hängt wesentlich von globaler menschlicher Sicherheit ab - diese hat nicht" nur eine militärische, sondern vor allem auch eine wirtschaftliche, soziale, politische und ökologische Dimension. 52
50 Auswärtiges Amt (Hg.): Deutsche Außenpolitik nach der Einheit: 1990-1993. Eine Dokumentation, Meckenheim 1993,8. 51 Guido Ashoff: Die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland, in: E+Z 36 (1995), 234-238, hier 238. 52 Die internationale Nichtregierungsorganisation "Society for International Development" (Sm) zählte zu den ersten in einer breiteren Öffentlichkeit, die die Trennung von Entwicklung und Sicherheit beklagten. sm propagierte das "Global Human Security"-Konzept und fiilirte zusammen mit dem Deutschen Bundestag am 17./18. September 1993 eine Europäische Parlamentarierkonferenz zu dem Thema durch. In der Schlußerklärung dieser Konferenz wird menschliche Sicherheit defmiert als das Fehlen jeglicher Bedrohung von Leben, Lebensweise und Kultur der Menschen durch die Erfüllung ihrer Grundbedürfuisse. Sicherheit basiere auf der Verwirklichung der 4 Dicke u. a.
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Entwicklungspolitik - wie auch Außenpolitik - verdient eine "aufgeklärte", wertorientierte Interessenpolitik, die sowohl Solidarität mit den Entwicklungsländern praktiziert als auch wohlverstandene Eigeninteressen wahrnimmt. Dabei gilt es zu beachten: Zu den normativen Vorgaben des Grundgesetzes gehören auch der Wille des Deutschen Volkes, "in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen" (Präambel) und das Bekenntnis zu den Menschenrechten als "Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" (Art. 1 Abs. 2). Zur Dauererkenntnis der Entwicklungspolitik gehört: "Es geht nicht so sehr um Eigeninteresse versus Interessen der anderen, sondern um kurzfristige Augenblicksinteressen Wld aufgeklärte langfristige Eigeninteressen in einer interdependenten Welt. Hier scheiden sich Partei- Wld Gruppeninteressen der Kurzstreckenpolitik von den tatsächlichen auch an den kommenden Generationen orientierten nationalen Interessen." '3
Die langfristige Sicherung des Wohles des deutschen Volkes hängt auch von günstigen internationalen Rahmenbedingungen ab, zu denen ein Mindestmaß an Entwicklungschancen für den Süden, an sozialem Ausgleich und Schutz der Umwelt gehört. 34 Zu erwarten ist, daß es auch weiterhin Interessenkonflikte, etwa mit der Agrar-, Rüstungsexport- und Handelspolitik, geben wird; sie sollten jedoch zukünftig - und dafür muß geworben werden - immer weniger zugunsten einer Kurzstreckenpolitik gelöst werden.
vm. Menschenrechtsorientierte Entwicklungspolitik Bereits am 5. März 1982 hatte sich der Deutsche Bundestag in einer einstimmig angenommenen 14-Punkte-Erklärung zur entwicklungspolitischen Zusammenarbeit auch zum Thema Menschenrechte geäußert. 3' An die Spitze Menschenrechte Wld auf umweltverträglichem Wld sozial gerechtem Fortschritt. Vgl. "Eine 'Bonner ErkläfWlg' zu Frieden Wld Sicherheit", in: Das Parlament vom 8./15. Oktober 1993. 33 Winfried Böll / Dieter Danckwortt / Uwe Holtz / Hans Pakleppa: Nord-SüdZentrum Bonn. Die BWldesstadt Bonn als Standort für EntwicklWlgspolitik, nationale, internationale und supranationale EinrichtWlgen (Studie im Auftrag der FriedrichEbert-Stiftung), hg. v. Erfried Adam, Bonn 1995,37. 34 Vgl. ebd. 33 Abgedruckt ist dieser - in den folgenden Legislaturperioden Wlverändert bekräftigte - Beschluß u. a. in: BWldesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
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seiner konkreten Forderungen für die Gestaltung der deutschen EZ stellte er die Forderung, daß die Verwirklichung der Menschenrechte ein wesentliches Ziel der Politik der Bundesregierung sein sollte. Neu und wichtig an dem Beschluß ist die zentrale Bedeutung, die der Deutsche Bundestag der Verwirklichung der Menschenrechte in der Entwicklungspolitik einräumt. Im einzelnen wird von der Bundesregierung verlangt, bei entwicklungspolitischen Entscheidungen auch auf die Verwirklichung der Menschenrechte, des sozialen Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit zu achten, letzteres entsprechend einem Vorschlag des Deutschen Gewerkschaftsbundes besonders durch die Einhaltung sozialer Mindestnormen und die Gewährung gewerkschaftlicher Freiheiten. Es wird deutlich, daß der Bundestag seinerzeit nicht nur an die politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten, sondern z. B. auch an die sozialen Rechte gedacht hat. Wie die Menschenrechtskriterien zu berücksichtigen sind, wird in dem Beschluß im Hinblick auf zwei Ländergruppen näher ausgeführt: Bevorzugt sollen solche Länder unterstützt werden, die sich um den Aufbau demokratischer Strukturen bemühen. In Diktaturen könnten "allenfalls Vorhaben gefordert werden, die unmittelbar der notleidenden Bevölkerung zugute kommen." Auf Vorschlag der SPD-Fraktion hat der Bundestag am 19. Januar 1984 eine Präzisierung im Bereich "Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechte" unter Rückgriff auf eine Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates von 1982 vorgenommen. 56 Danach soll die Bundesregierung den Nachweis führen, daß die aufgewendeten Gelder zur Verwirklichung von Menschenrechten sowie zur Förderung demokratischer Verhältnisse und sozialer Gerechtigkeit in der Dritten Welt beitragen. Gegenüber menschenrechtsverachtenden Regimen soll eine Fall-zu-Fall-Prüfung mit folgenden möglichen Konsequenzen erfolgen: Es soll besonderer diplomatischer Druck zur Einhaltung der Menschenrechte ausgeübt werden. Darüber hinaus kann die Entwicklungszusammenarbeit auf Projekte beschränkt werden, die der notleidenden Bevölkerung (gegebenenfalls über NGOs) direkt zugute kom-
(Hg.): Fünfter Bericht (= Anm. 2), 136f Die 14-Punkte-Erklärung fmdet sich auch in: Auswärtiges Amt (Hg.): Dritte Welt - Materialien zur Politik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumentation, 3. Aufl., Bonn 1984, 155fI 56 Vgl. Uwe Holtz: Menschenrechte im Bundestag, in: E+Z 25 (1984) 3,25. 4·
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men. Notfalls muß die öffentliche Entwicklungshilfe verringert oder gar eingestellt werden. Leider trug die Bundesregierung den Entschließungen des Bundestages vom 5. März 1982 und 19. Januar 1984 nicht in stringenter Weise Rechnung. So war sie weder bereit, die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit den über hundert bedachten Entwicklungsländern auf eine menschenrechtsorientierte Basis zu stellen, noch willens, ein Sonderprogramm zur Unterstützung demokratischer Entwicklungsländer mit niedrigem oder mittlerem Einkommen auszuweisen, wie es in der vom Bundestag übernommenen Europaratsentschließung gefordert wird. Zwar hat die Bundesregierung die bilaterale staatliche Entwicklungszusammenarbeit gegenüber dem Chile Pinochets, dem diktatorisch regierten Somalia und dem sandinistischen Nicaragua eingestellt oder zumindest stark reduziert, aber z. B. gegenüber Togo, Zaire und Malawi (trotz einer anderslautenden einmütigen Empfehlung des AwZ) die entwicklungspolitische Zusammenarbeit fortgesetzt. Menschenrechtsverletzende Regime, wie die VR China und Indonesien, erlangten sogar Spitzenplätze in der Rangskala deutscher Entwicklungshilfeempfanger. Nach dem Massaker in Peking im Juni 1989 wurde aufgrund eines Bundestagsbeschlusses die entwicklungspolitische Zusammenarbeit zunächst ausgesetzt, dann jedoch nach dem Mehrheitsbeschluß des Bundestages vom 30. Oktober 1990 wieder unter der Bedingung aufgenommen, daß die Projekte der Bevölkerung (nicht der "notleidenden" Bevölkerung, wie es im Beschluß vom 5. März 1982 heißt) zugute kommen sowie der Erhaltung der Umwelt dienen und zur Reform der chinesischen Wirtschaft beitragen. Die Bundestagsmehrheit ließ sich bei der Aufhebung der entwicklungspolitischen Sperre sowohl von außenpolitischen Überlegungen (Abstimmungsverhalten Chinas im Golfkrieg) als auch von der strategischen Bedeutung Chinas leiten. Auch wurde mit der Liberalisierung der Wirtschaft in China ("sozialistische Marktwirtschaft") die Hoffnung auf eine - spätere politische Liberalisierung verbunden. Immerhin wird in diesem Beschluß die entwicklungspolitische Zusammenarbeit der Bundesrepublik mit der VR China in gewisser Weise konditioniert, leider jedoch nicht im menschenrechtlichen Sinne. So wird die Zusammenarbeit mit China z. B. nicht konkret mit dem Schicksal der politischen Häftlinge verknüpft. In einigen wenigen Fällen hat der Bundestag in der Vergangenheit eine direkte Verbin~ung zwischen der Menschenrechtslage im Entwicklungsland und der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit hergestellt. So forderte der
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Deutsche Bundestag "im Hinblick auf die derzeitige Situation in EI Salvador" . die Bundesregierung auf, "die weitere entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit EI Salvador von der Einhaltung der Menschenrechte und der demokratischen Entwicklung im Lande abhängig zu machen; noch laufende Projekte daraufhin zu überprüfen, ob sie direkt den armen Bevölkerungsschichten zugute kommen; Regierungsverhandlungen über fmanzielle Neuzusagen fiir EI Salvador erst dann wieder aufzunehmen, wenn die in den Mord an den Jesuiten und ihrem Personal verwikkelten Personen einem ordentlichen Gerichtsvetfahren zugefiihrt und zur Verantwortung gezogen wurden." 37
Dieser EI Salvador-Beschluß ist nicht nur wegen der direkten Verknüpfung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit der demokratischen Entwicklung in einem Lande von Bedeutung, sondern auch deshalb, weil neue Entwicklungshilfezusagen von der Erfüllung konkreter Forderungen im Menschenrechtsbereich abhängig gemacht werden. Ein anderes Beispiel findet sich in dem Antrag "Entwicklungszusammenarbeit mit Vietnam".38 Darin fordert der Bundestag die Bundesregierung auf, die staatliche EZ zwischen Deutschland und Vietnam "im Sinne einer grundbedürfnisorientierten, menschenwürdigen Entwicklung umgehend wieder aufzunehmen." Gleichzeitig fordert er die vietnamesische Regierung auf, an der weiteren Verbesserung der Menschenrechtslage zu arbeiten und den Besuch unabhängiger Menschenrechtskommissionen zuzulassen, den NGOs die Freiräume zuzugestehen, die für eine wirksame EZ erforderlich sind, und am Reformkurs festzuhalten. Allerdings wird die Auszahlung der Hilfe nicht von der Erreichung der an die Adresse Vietnams gerichteten Ziele abhängig gemacht.
IX. Menschenrechte in der Arbeit des Nord-Süd-Zentrums Am 20. Juni 1991 entschied sich der Deutsche Bundestag mit knapper Mehrheit für die Verlegung des Sitzes von Parlament und Bundesregierung nach Berlin. Nach dem Bundestagsbeschluß wurden erste Überlegungen laut, Bonn zu einem Nord-Süd-Zentrum zu machen. So forderte der Verfasser in
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Drs. 11/7134 vom 15. Mai 1990.
38 Drs. 11/7968 vom 24. September 1990.
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seiner damaligen Funktion als AwZ-Vorsitzender, Bonn zu einem Nord-SüdZentrum der Entwicklungszusammenarbeit und des internationalen Dialogs wachsen zu lassen und die Nord-Süd-Problematik bei der Ausgestaltung Bonns zu einer internationalen Wissenschaftsstadt zu berücksichtigen. S9 Das BMZ wandte sich am 1. August 1991 an das Innenministerium und das Wirtschaftsministerium mit dem Vorschlag, die Idee eines bereits auch in der Öffentlichkeit diskutierten Nord-Süd-Zentrums Bonn sowohl in Form eines nationalen als auch eines internationalen Standorts von entwicklungspolitischen Institutionen aktiv in die Planungen der jeweiligen Arbeitsgruppen des Arbeitsstabes BonnlBerlin aufzunehmen. Diese Anregungen wurden aufgegriffen. Das BerlinJBonn-Gesetz vom 26 .. April 1994 und der zwischen dem Bund, den Ländern NordrheinWestfalen und Rheinland-Pfalz sowie der Region Bonn am 29. Juni 1994 geschlossene "Ausgleichsvertrag" fordern nicht nur die "Sicherstellung einer dauerhaften und fairen Arbeitsteilung" zwischen Berlin und Bonn, sondern u. a. auch den Erhalt und die Förderung des Politikbereichs "Entwicklungspolitik, nationale, internationale und supranationale Einrichtungen" in Bonn. Hierbei handelt es sich um ein anspruchsvolles Projekt, dessen Bedeutung weit über die Bundesstadt Bonn hinausreicht. Heute steht fest, daß mit der Ansiedlung einer Reihe von UNOrganisationen (wie dem UN-Freiwilligenprogramm UNV), der geplanten Übersiedlung von Berliner Entwicklungsorganisationen nach Bonn, einigen Neugründungen in Bonn (wie dem Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen VENRO oder dem Nord-Süd-Zentrum für Entwicklungsforschung ZEF der Universität Bonn) sowie dem Verbleib des BMZ in Bonn das Nord-Süd-Zentrum Gestalt annimmt. Eine der wichtigsten Aufgaben besteht darin, dem Nord-Süd-Zentrum (das BMZ spricht vom "Zentrum für Entwicklungspolitik") ein attraktives inhaltliches Profil zu geben und dabei mit relevanten Institutionen im In- und Ausland zusammenzuarbeiten. Sollte Bonn nicht ein Leuchtfeuer für die Zivilgesellschaft, für die Förderung von Menschenrechten und Demokratie und gewaltfreien Konfliktlösungen und Ausgangspunkt für eine wirtschaftliche, soziale, ökologische Entspannungspolitik zwischen weiter und weniger entwickelten Ländern werden? Könnte also die Leitphilosophie für die EZ nicht "menschenwürdige, nachhaltige Entwicklung" lauten? Ein weiteres Thema, S9
Vgl. General-Anzeiger vom 9. Juli 1991.
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das vom "Standort Deutschland" international gut vertreten werden könnte, wäre die "internationale soziale und ökologische Marktwirtschaft" - ein Thema, das nicht nur rur die traditionellen Entwicklungsländer, sondern auch rur die Transitionsländer in Zentral- und Osteuropa sowie rur uns selbst von Interesse wäre. Bei diesen Themen könnte man sich der Erfahrungen beispielsweise der politischen Stiftungen, des Internationalen Konversionszentrums Bonn oder auch der Arbeitsfelder der geplanten Uni-Zentren rur Entwicklungs- und Europäische Integrationsforschung sowie der Ludwig-ErhardStiftung vergewissern. Zu denken ist auch an die Gründung eines Menschenrechtsinstituts in Bonn, das eine zentrale Informations- und Dokumentationsstelle aufbauen, politologische, soziologische und psychologische Grundlagenforschung betreiben und zugleich zu professioneller Politikberatung fähig sein könnte. 60
60 Zu dem Vorschlag, in Bonn ein solches MRI zu errichten, vgl. Böll / Danckwortt / Holtz / Pakleppa: Nord-Süd-Zentrum Bonn (= Anm. 53), 59-66.
Menschenrechte als Kulturimperialismus? Von Klaus Dicke
Die klassischen Erklärungen der Menschenrechte am Ende des 18. Jahrhunderts lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß Menschenrechte im Verständnis der Autoren dieser Erklärungen universale, d. h. für alle Menschen an jedem Ort der Erde für alle Zukunft geltende Normen sind. So hält die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung es für Wahrheiten, die "seIfevident" seien, daß alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit angeborenen Rechten ausgestattet sind, zu denen vor allem Leben, Freiheit und Streben nach Glück gehören. 1 Die im gleichen Jahr niedergeschriebene Bill of Rights von Virginia legt fest, daß keine Abmachung nachfolgende Generationen dieser Rechte entkleiden könne, und pointiert formuliert die Französische Erklärung von 1789 in Art. 16: "Jede Gesellschaft, in der weder die Garantie der Rechte zugesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung". Wie dieser Universalitätsanspruch gemeint war, enthüllt sein Verständnis in der Aufnahme der Amerikanischen und Französischen Revolution durch die deutsche politische Philosophie und Publizistik am Ende des 18. Jahrhunderts: Von "ew'gen" Rechten, "die droben hangen unveräußerlich", spricht Schiller;2 vom Freiheitsgeist beider Revolutionen - so etwa Fichte - gehe mit unwiderstehlicher Notwendigkeit die Vollendung der Freiheit in der Geschichte aus. 3 Hinter dem Universalitätsanspruch der klassischen 1 Dieser Text wie auch die nachfolgend genannten Textdokumente sind abgedruckt in: Wolfgang Heidelmeyer (Hg.): Die Menschenrechte. Erklänmgen, Venassungsartikel, Internationale Abkommen, 3. Aufl., Paderbom 1982. 2 Friedrich Schiller: Wilhelm Tell, 2. Aufzug, 2. Auftritt. 3 Vgl. die Hinweise bei Klaus Dicke: "Lieber hätt' ich von Dir den Kranz des Friedens empfangen". Rezeption Wld WirkWIgsgeschichte von Kants Schrift "Zwn ewigen Frieden" in Jena 1795-1815, in: K.-M. Kodalle (Hg.): Der Vemunftfrieden. Kants Entwwf im Widerstreit, Wiirzbw-g 1996, 21-36, hier 24ff.
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Menschenrechtserklärungen verbirgt sich demnach ein geschichtliches Fortschrittsdenken, das in sich keineswegs frei von Ambivalenzen ist. Je nach dem diesem Fortschrittsdenken zugrundeliegenden KulturbegrifI kann man eine idealistisch-bildungsbürgerliche Richtung von einer politisch-rechtlichen Richtung unterscheiden. Während für die erste das Leben des Geistes - Literatur, Sprache, Charakterbildung - als Ort kulturellen Fortschritts gilt, sieht die zweite Richtung in der Verrechtlichung und rechtsstaatlichen Bändigung jeder Einwirkung von Menschen auf Menschen die eigentliche Zivilisationsaufgabe der Menschheit in der Geschichte. Die zuletzt genannte Konzeption hat in Kants kleiner Schrift "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" einen durchaus geschichtsmächtigen literarischen Ausdruck gefunden. 4
I. Die Universalität der Menschenrechte eine Anfrage an die atlantische Tradition Man muß an diesen geschichtsphilosophischen Aspekt des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte aus zwei Gründen erinnern. Erstens ist davon auszugehen, daß die zuletzt genannte Fortschrittskomponente im politischen Denken der Gegenwart nicht mehr selbstverständlich, wenn überhaupt noch vorhanden ist. Norbert Elias hat darauf hingewiesen, daß dem kosmopolitischen KulturbegrifI der Aufklärung dieses geschichtliche Fortschrittsmoment vertraut ist, während unsere Zeit sich an die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, nämlich das als gleichberechtigt angesehene Nebeneinander verschiedener "Kulturen" gewöhnt habe. s Wir sprechen von der Kultur der Römer, der Maoris, des Westens und Polynesiens als von durchaus vergleichbaren Gräßen. Alain Finkielkraut hat dies in seiner eleganten Verteidigung des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte dahingehend zusammengefaßt, daß unter dem heutigen KulturbegrifI - man denke an die Rede von der "kulturellen Identität" - die Menschheit "im Plural" dekliniert werde und dem
4 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in wehbürgerlicher Absicht, in: Werke. Akademie-Ausgabe (AA) VIII, Berlin 1968, 15-31. Die Schrift hat u a. auf Schiller em.eblichen Einfluß ausgeübt. , Norbert Elias: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe wd Habitusentwicklung im 19. wd 20. Jalnhwdert, hg. v. Michael Schröter, Frankfurt a.M. 1992, 1611f Elias nimmt seinen AusgangspWlkt bei Schillers AntrittsvorlesWlg.
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die Einheit der Menschheit im Sinne des Universalitätsanspruchs der klassischen Menschenrechtserklärungen, besonders der Französischen, geopfert würde. 6 Der zweite Grund, weshalb man heute an den geschichtsphilosophischen Aspekt des Universalitätsanspruchs der klassischen Menschenrechtserklärungen erinnern muß, ist darin zu sehen, daß er in eine Zeit hinein formuliert wurde, in welcher der Philosophie mit Entschiedenheit die Fähigkeit abgesprochen wurde, überzeitlich gültige Wahrheiten mit einem nach modernem Wissenschaftsverständnis "objektiven" Geltungsanspruch zu formulieren. Nietzsches nachdrückliche Hinweise auf die Perspektivität jeder Wahrheit ist nur eine der Konsequenzen, welche aus dem Sturmlauf der Aufklärung gegen jede Art von auf vermeintlich "objektiver" Wahrheit beruhendem Dogmatismus einerseits und der Entdeckung der Geschichtlichkeit menschlicher Normen im 19. Jahrhundert andererseits gezogen wurde. Aber waren es nicht Aufklärer, die sich auf "self-evident truths" als Grundlage der Universalität der Menschenrechte beriefen? Und haben sie sich damit nicht in einen Widerspruch zum kritischen Programm der Aufklärung begeben, auf das sich heute etwa wissenschaftstheoretische Positionen stützen, welche eine "Letztbegründung" ethischer und politischer Normen grundsätzlich für unmöglich erachten? Tatsache ist jedenfalls, daß auch zeitgenössische Kritiker des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte sich auf die wissenschaftstheoretischen Errungenschaften der Aufklärung berufen. 7 Damit ist erstens die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit einer philosophischen Begründung universaler Normen überhaupt aufgeworfen. Zweitens ergibt sich die Notwendigkeit, sich im Zusanunenhang mit der Universalität von Menschenrechten mit dem philosophischen Problem "Norm und Geschichte" zu befassen. Es ist vor allem die europäisch-amerikanische Geistesgeschichte der letzten 220 Jahre bzw. eine ganz bestimmte Interpretation dieser Geschichte, aus der heraus jener Wandel des Menschenrechtsverständnisses eine Erklärung findet, der dazu führt, daß mit zunehmender politischer Verve der Universalitätsanspruch der Menschenrechte, wo immer er heute erhoben wird, als Äußerung eines geistigen Impe-
Alain Finkielkraut: Die Niederlage des Denkens, Reinbek 1989,96, 106ff. 7 Für die Menschenrechte explizit Ernst Topitsch: Die Menschenrechte als Problem der Ideologiekritik, in: Sozialphilosophie zwischen Ideologie IDld Wissenschaft, 3. Aufl., Neuwied 1971, 71-96. 6
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rialismus und Kolonialismus angesehen wird 8 Die Frage: "Menschenrechte als Kulturimperialismus?" sollte deshalb zunächst weniger als eine apologetische Frage der atlantischen politischen Kultur angesichts in der Tat heftiger Fundamentalangriffe aufgefaßt werden, sondern zu einer Rückfrage nach der eigenen Tradition des atlantischen Menschenrechtsverständnisses und seinen Wandlungen Anlaß geben. Damit ist die zentrale These benannt, die im folgenden zu entfalten ist: Die gegenwärtige Diskussion über die Universalität der Menschenrechte9 und spezifischer die kritische Anfrage, ob die "westliche" Menschenrechtspolitik, welche auf der Annahme universaler Geltung fundamentaler Menschenrechtsnormen beruht, nicht kultureller Imperialismus, Neo-Kolonialismus oder nicht gerechtfertigte Menschenrechtsmission sei, fordert in erster Linie eine kritische Besinnung auf die historische Herausbildung der Menschenrechte und die ihre universale Geltung begründende Philosophie. Eine solche Neubesinnung soll im folgenden vorgenommen werden anband einer Auseinandersetzung mit einem der Hauptargumente, die heute gegen die Universalität der Menschenrechte ins Feld geführt werden, dem Argument des Ursprungs der Menschenrechte in der atlantischen Kultur und ihrer daraus folgenden Gebundenheit an ein westliches Gesellschaftsbild. Erst im Anschluß daran ist eine LÖSUßgsperspektive für die in mancherlei Hinsicht aporetische Debatte um die Universalität der Menschenrechte zu entwerfen.
11. Die Frage nach dem Ursprung der Menschenrechte Das wohl wichtigste gegen den Universalitätsanspruch der Menschenrechte gerichtete Argument ist ein historisches bzw. ein historisierendes. Menschenrechte seien entstanden in der "westlichen", in der atlantischen politischen Kultur, und
Zum Problem vgl. Heiner Bielefeldt: UNO-Menschenrechte: Kolonialismus im Gewande des Humanismus?, in: S. Batzli / F. Kissling / R Zihlmann (Hg.): Menschenbilder Menschenrechte, Zürich 1994,33-49. 9 Aus der umfangreichen Literatur zu dieser Frage vgl. Klaus Dicke: Politische Aspekte der Universalität der Menschenrechte, in: J. Schwartländer (Hg.): Modemes Freiheitsethos lDld christlicher Glaube. Beiträge zm BestimmlDlg der Menschenrechte, Mainz / München 1981, 121-137; Ludger Külmhardt: Die Universalität der Menschenrechte. Studien zur ideengeschichtlichen BestimmlDlg eines politischen Schlüsselbegri1fs, München 1987; Klaus Dicke: Die der Person innewohnende Würde lDld die Frage der Universalität der Menschenrechte, in: H Bielefeldt / W. Brugger / K. Dicke (Hg.): Würde lDld Recht des Menschen. FS Johannes Schwartländer, Wiirzburg 1992, 161-182, jeweils mit zahlreichen Nachweisen. I
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auch die vorgeblich "universale" Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der UNO vom 10. Dezember 1948 10 sei deren Produkt. Von den wenigen nicht dem atlantischen Kulturkreis zugehörigen Staaten hat sich - neben den sozialistischen Staaten und Südafrika - Saudi-Arabien bei der Verabschiedung dieser Erklärung der Stimme enthalten, und zwar unter Berufung auf die Nicht-Vereinbarkeit der Religionsfreiheit mit Vorschriften des Korans. ll Wie bereits das einleitende Kapitel deutlich gemacht hat, kann an dem historischen Ursprung der Menschenrechte in der atlantischen politischen Kultur kein Zweifel bestehen. Es war die europäische Aufklärung, welche den Gedanken naturgegebener, staatlicher Verfugung entzogener und staatliche Gewalt allererst legitimierender Menschenrechte formuliert hat, und es waren die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die Virginia Bill of Rights von 1776 sowie die Declaration des droits de l'homme et du citoyen von 1789, welche die ersten Menschenrechtskataloge in der Geschichte formuliert haben. Weiterhin waren es die europäische Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts und die daran anknüpfende Staatsrechtslehre, welche den juridischen Grundrechtsschutz als die bis heute effektivste institutionelle Umsetzung des Menschenrechtsschutzes eingeführt haben. Und schließlich war es der aus der europäischen Aufklärung hervorgehende Sozialismus, der den Gedanken sozialer Menschenrechte grundlegend formuliert und war es die europäische Sozialgesetzgebung seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, welche ihm zur Rechtswirksamkeit verholfen hat. 12 Ebenso unbestritten dürfte es sein, daß auch in das Grundkonzept der Menschenrechte, wie es den heute geltenden völkerrechtlichen Normen des Menschenrechtsschutzes zugrundeliegt, tragende Traditionselemente der abendländischen Kultur Eingang gefunden haben. So ist die Grundnorm der Menschenrechte überhaupt, die Würde des Menschen, auch in unserem modernen Verständnis mit dem Begriff der Person und seiner abendländischen Tradition ebenso verbunden wie mit dem der Vernunft. Und das für Menschenrechte
Text in: Heidelmeyer: Menschenrechte (= Anm. 1),27lf[ Vgl. Dicke: Die der Person innewohnende Würde (= Anm. 9), 16lf 12 Vgl. zur historischen Fntwicklung der Menschenrechte Ge!hard Oestreich: Die Idee der Menschenrechte in ihrer geschichtlichen Fntwicklung, 5. Aufl., Berlin 1974; ders.: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, Berlin 1968; Klaus Dicke: Menschenrechte und europäische httegration, Kehl / Straßburg 1986, 12ft: 10
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konstitutive Prinzip der Gleichheit findet in der Gottesebenbildlichkeit und Gleich-Geschöpflichkeit der Menschen oder in der "Gleichheit der Kinder Gottes" fest in der abendländischen Tradition verankerte Wurzeln. Und schließlich ist der bereits der antiken griechischen Philosophie bekannte Gedanke eines Naturrechts als Gegenbegriff und Korrektiv zu dem von Menschen gesetzten Recht eine tragende ideengeschichtliche Säule "ewig unveräußerlicher" Menschenrechte, wie immer man die Komponente "Natur" philosophisch auch auslegen mag. 13 Was aber besagen diese Hinweise? Besagen sie vor allem, daß der Universalitätsanspruch der Menschenrechte notwendig ein exklusiv europäischer oder atlantischer ist? In welchem Aspekt der atlantisch-europäischen Kultur haben Menschenrechte ihren Ursprung? Bei näherem Hinsehen ergeben sich zunächst zwei Differenzierungen, welche diese Behauptung jedenfalls relativieren: die Differenzierung zwischen den geistesgeschichtlichen Wurzeln und dem politischen Ursprung der Menschenrechte einerseits und diejenige zwischen ihrem historischen und ihrem normativen Ursprung andererseits. 14 1. Der Ursprung der Menschenrechte in
fundamentalen Unrechtserfahrungen
Die erste Differenzierung wird bereits durch den Hinweis deutlich, daß weder die griechische und römische Antike noch das christliche Mittelalter Menschenrechte gekannt haben, und zwar weder den Begriff noch die Sache. Die oft als frühe Menschenrechtserklärung gepriesene Magna Charta libertatum von 1215 13 enthält Standesprivilegien, aber keine Menschenrechte. Menschenrechte sind vielmehr eine spezifische Erscheinung der Neuzeit und Moderne; sie entstehen unter ganz bestimmten sozialen und politischen Voraussetzun-
13
Zur Ideengeschichte der Menschenrechte im Hinblick auf die genannten Traditionsbe-
stände vgl. u a. Konrad Hilpert: Die Menschenrechte. Geschichte, Theologie, Aktualität, DüsseldOlf 1991; Wolfhart Pannenberg: Christliche Wun.eln des Gedankens der Menschenwürde, in: W. Kerber (Hg.): Menschenrechte und kulturelle Identität, München 1991, 61-76; Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde, Frankfiut a.M. 1961. 14
Diese Unterscheidung trifft Johannes Schwartländer: Freiheit im weltanschaulichen
Pluralismus. Zwn Problem der Menschenrechte, in: 1. Simon (Hg.): Freiheit. Theoretische und praktische Aspekte des Problems, Freiburg 1977, 205-228, hier 218. l' Text in: Heidelmeyer: Menschenrechte (= Anm. 1), 49ft:
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gen, auf welche die Erklärungen von Menschenrechten eine Antwort zu geben suchen. 16 Diesen Zusammenhang muß man sich historisch vergegenwärtigen und auf seine Bedeutung für das Konzept der Menschenrechte hin reflektieren, um ihren Sinnanspruch zu verstehen. Dazu ist zunächst ein Blick auf die Menschenrechtstheorie von lohn Locke hilfreich. Locke, bekanntlich der Vater des liberalen Menschenrechtsgedankens und der Trias "life, liberty and property", hat in seiner "Zweiten Abhandlung über die Regierung" eine Legitimationstheorie des Staates entworfen, welche eine vertraglich begründete und treuhänderisch auszuübende Regierung zum Schutz unverfiigbarer Rechte des Menschen vorsieht.!7 Von besonderer Bedeutung in unserem Zusammenhang sind die Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum. Reinhard Brandes hat gezeigt, daß sich hinter diesen Rechten eine bis auf Platon zurückfiihrbare alte europäische Trias von Seele, Leib und äußerer Habe verbirgt, in der die die Humanität menschlicher Existenz ausmachenden Grundgüter zusammengefaßt werden. Für Locke gewännen diese Grundgüter nun in einer besonderen Perspektive Bedeutung, die aus der Gliederung der "Zweiten Abhandlung" ersichtlich werde: Locke behandelt nach dem Naturzustand den Kriegszustand, die Sklaverei und das Eigentum. Zumindest bei den beiden ersten wird die Negation oder die Läsion der Grundgüter als die Perspektive sichtbar, unter der Locke diese reflektiert: Krieg ist die Negation des Lebens, Sklaverei die Negation der Freiheit. Brandt zeigt vor diesem Hintergrund, daß Locke die Menschenrechtstrias aus der Perspektive des Grundsatzes "neminem laede" und damit aus der Erfahrung
16 Zwn Antwortcharakter der Menschenrechte gnmdsätzlich Winfiied Brugger: Menschenrechtsethos Wld Verantwortungspolitik. Max Webers Beitrag zur Analyse Wld BegriindWlg der Menschenrechte, Freiburg 1980. !7 John Locke: Über den wahren UrspfWlg, die Reichweite Wld den Zweck der staatlichen RegierWlg, in: ders.: Zwei Abhandlungen über die RegierWlg, hg. Wld eingeleitet von W. Euchner, Franldiut a.M. 1977, 2001[; zu Locke vgl. Walter Euchner: Naturrecht Wld Politik bei John Locke, Franldiut a.M. 1979; A John Simmons: The Lockean Theory of Rights, Princeton 1992; Reinhard Brandt: Menschenrechte Wld Güterlehre. Zur Geschichte Wld Begriindung des Rechts auf Leben, Freiheit und Eigentwn, in: 1. Schwartländer / D. Willoweit (Hg.): Das Recht des Menschen aufEigentwn, Kehl / Straßburg 1983, 19-31; Eibe H Riedei: Die Eigentwnsgarantie als Problem der allgemeinen Staatslehre Wld des Verfassungsrechts am Beispiel Großbritanniens, in: ebd., 129-150; Dicke: Menschenrechte (= Anm. 12), 75ff. 11 Vgl. Brandt: Menschenrechte (= Anm. 17).
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einer grundsätzlich gegebenen Gefährdung der genannten menschlichen Grundgüter gewinnt. Erst die Annahme einer solchen grundsätzlichen Gefährdung macht die Formulierung von zu schützenden Menschenrechten bzw. die Konzeption eines im Schutz gleicher Rechte aller fundierten Rechtssystems überhaupt sinnvoll. Wendet man diesen philosophischen Gedanken auf die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Menschenrechte an, so ergibt sich die allgemeine Aussage, daß Menschenrechte aus der Erfahrung einer grundsätzlichen Gefahrdung menschlicher Daseinswerte, oder kurz: aus einer fundamentalen Unrechtserfahrung heraus 19 entstanden sind. Es fällt bei einem erneuten Blick auf die Entstehungsgeschichte der Menschenrechte nicht schwer, solche fundamentalen Unrechtserfahrungen zu rekonstruieren: • die Erfahrung, daß obrigkeitliches Festlegen auf eine bestimmte Konfession Unrecht ist, führt zunächst zur Freiheit auszuwandern und zur Religionsfreiheit; 20 • die Erfahrung, daß willkürliche Behandlung durch die seit dem 16. Jahrhundert mit zunehmend erstarkendem Gewaltmonopol ausgestattete Staatsgewalt Unrecht ist, führt zur Forderung und schließlich zur Kodifizierung der sogenannten habeas-corpus-Rechte; 21 • die Erfahrung, daß die politische und soziale Privilegienstruktur des ancien regime despotischen Charakter hat und die Masse der Bevölkerung bestenfalls von fremder Wohltätigkeit abhängig macht, wird als Unrecht erfahren und führt zu den Menschenrechtsforderungen der Französischen Revolution;22 • die Erfahrung, daß der mit der Industrialisierung einhergehende tiefgreifende "soziale Wandel" ganze Bevölkerungsgruppen mit einem Schlag aus
19 Vgl. Johannes Schwartländer: Demokratie und Menschenrechte im Horizont sittlichautonomer Freiheit, in: ders. (Hg.): Modemes Freiheitsethos (= Anm. 9), 36-69; ders.: Menschenrechte - eine Herausforderung der Kirche, Mainz 1München 1979. 20
Vgl. A v. Balogh: Der internationale Schutz der Mindedteiten, München 1928, 7-20.
21 Martin Kriele: Einfiihrung in die Staatslehre, 5. Aufl., Opladen 1994, 93ff., insbesondere 133ff. 22 Vgl. Sigmar-Jürgen Samwer: Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789/91, Hamburg 1970, 24-92 zu Einzelforderungen, welche in der Französischen Erklärung Niederschlag fanden.
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dem Gesellschaftszusammenhang herauskatapultiert, führt zur Forderung nach sozialen Menschenrechten;23 • die mit dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus gegebene Erfahrung des Totalitarismus führt dazu, den Staat nur als Rechtsstaat für legitimiert zu halten24 und ihn überdies durch internationale Normen des Menschenrechtsschutzes im Umgang mit seinen Bürgern einer Kontrolle zu unterwerfen2s . Die Liste der Beispiele ist verlängerbar. Gemeinsam ist ihnen, daß Erfahrungen fundamentalen Unrechts, die sich aus dem politischen und sozialen Wandel der europäischen Gesellschaften seit dem 16. Jahrhundert ergeben, zu Menschenrechtsforderungen und - wie immer vermittelt - zu immer komplexer werdenden Systemen der Verrechtlichung von Menschenrechten führen. Betrachtet man nun wiederum diese Vorgänge im einzelnen, so ergibt sich die folgende Differenzierung: Die Menschenrechtserklärungen führen nicht nur, ja nicht einmal primär zur Forderung nach einem situationsbezogenen Rechtsschutz, sondern verbinden dies mit der grundsätzlichen Aussage, daß nur eine ganz bestimmte organisatorische Ausgestaltung des diesen Rechtsschutz gesetzlich sichernden Staates mit der Freiheit des Menschen in Einklang steht. Sie machen sich die Gründung einer auf dem Selbstbestimmungsrecht basierenden republikanischen politischen Ordnung zu eigen. Habermas hat diesen Zusammenhang jüngst unter Hinweis auf die "Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie" im Verfassungsstaat in Erinnerung gerufen und in seiner systematischen Bedeutung für menschenrechtliche Debatten der Gegenwart entfaltet. 26 Der Schritt von einzelnen Unrechtserfahrungen hin zu institutionellen Sicherungen der Menschenrechte ist nur in einem rechtsstaatlich und demokratisch verfaßten Gemeinwesen möglich. 23 VgL Hans Ryffel/ Johannes Schwartländer (Hg.): Das Recht des Menschen auf Arbeit, Kehl / Straßburg 1983; Thilo Ramm: Der Wandel der Gnmdrechte und der freiheitliche soziale Rechtsstaat, in: JZ 27 (1972), 137-146. 24 Hannah Arendt: Elemente und Urspriinge totaler Herrschaft, 4. Aufl., München 1986, 426ff,703ff 2' Zur Geschichte des internationalen Menschenrechtsschutzes statt anderer Karl Josef Partsch: Hoffen auf Menschenrechte. Rückbesinnung auf eine internationale Fntwicklung, Zürich 1994. 26 Vgl. Jiirgen Habermas: Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat, in: Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 2. Aufl., Frankfwt a.M. 1993, 147-196, hier 153ff; vgL auch Dicke: Menschenrechte (= Anm. 12),48ff 5 Dicke u. a.
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Woran erweist sich nun aber die Fundamentalität einer Unrechtserfahrung gegenüber dem kleinen Unrecht des Alltags, welches jeder kennt, welches aber doch nicht in jedem Fall nach dem Staat ruft oder gar Revolutionen evoziert? Und was erweist die Fundamentalität einer Unrechtserfahrung gegenüber p0litischen Wünschbarkeiten vielfacher Art, welche in einem auf öffentlicher Autonomie gründenden Gemeinwesen als "Menschenrechtsforderung" vorgetragen werden? Oder anders gefragt: Was qualifiziert eine Menschenrechtsforderung als solche? Ist mit dem Hinweis auf öffentliche Autonomie eine Beantwortung dieser Frage durch das Mehrheitsprinzip nahegelegt? Die klassischen Menschenrechtserklärungen und ihre Deutungen jedenfalls widersprechen dem dadurch, daß sie die Eigenständigkeit der Menschenrechte und auch gerade als mögliches Schutzinstrument vor einer "Tyrannei der Mehrheit" hervorheben?7 Wie insbesondere die Präambeln aller in der Geschichte bekannten Menschenrechtserklärungen zeigen, wird als Begründungsinstanz für eingeforderte Menschenrechte vielmehr ein von der konkreten historischen Situation unabhängiger, diese transzendierender Grund angegeben, unter Berufung auf den Unrechtserfahrungen als "fundamental" ausgewiesen und die daraus resultierenden Menschenrechtsforderungen legitimiert werden. Mit der Frage nach diesem die jeweilige historische Situation transzendierenden Grund sind wir bei der zweiten Differenzierung, derjenigen zwischen dem historischen und dem normativen Ursprung der Menschenrechte angelangt.
2. Der normative Ursprung der Menschenrechte Die Frage nach dem normativen Ursprung der Menschenrechte ist die Frage nach ihrem Geltungsgrund, d. h. nach der "Autoritätsquelle,,28, aus der sich der Anspruch ihrer universalen Geltung speist. Auch bei dieser Frage sind weitere Differenzierungen unvermeidlich; um sie aufzuzeigen ist wiederum vom Textbefund einzelner Menschenrechtserklärungen und -dokumente auszugehen; dazu sollen im folgenden jedoch nicht mehr die "klassischen" Erklärungen, sondern modeme Grund- und Menschenrechtskataloge herangezogen werden.
27 Vgl. hierzu Johannes Schwartländer (Hg.): Menschenrechte und Demokratie, Kehl / Straßburg 1981. 21 John Rawls: Das Völkerrecht, in: S. Shute / S. Hurley (Hg.): Die Idee der Menschenrechte, Frankfint a.M 1996,53-103, hier 56f
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Zunächst und vor allem sind Menschenrechte Rechtsnormen. Sie gelten, weil sie nach den für das Zustandekommen von innerstaatlichen und völkerrechtlichen Rechtsnormen geltenden Verfahren vereinbart wurden und Rechtskraft haben. Ehe man diese Geltungsbegründung relativiert und als "positivistisch" abtut, sollte man festhalten, daß sie ihrerseits aus einer Menschenrechtsforderung resultiert, der Forderung nämlich, daß um der Gleichheit der Rechtsgenossen willen Rechtsnormen unparteiisch und daß sie um der politischen Freiheit des einzelnen willen öffentlich bekannt, nachvollziehbar und kontrollierbar sein müssen. Zusätzlich stellt die rechtspositive Geltungsbegründung Menschenrechte unter den Bestandsschutz des allgemeinen Rechtsgrundsatzes "pacta sunt servanda". Darauf ist zurückzukommen. Es ist jedoch offensichtlich, daß eine "positivistische" Begründung von Menschenrechten nicht ausreichend ist: denn worin sind die Verfahren des Zustandekommens ihrerseits begründet? Und gewährleisten sie auch das Zustandekommen materiell richtigen und gerechten Rechts? Die Unsicherheiten, ja Aporien des Rechtspositivismus machen jedenfalls die Suche nach weiteren Geltungsgründen erforderlich, und dies umso mehr, als sich das moderne, dem internationalen Menschenrechtsschutz zugrundeliegende Menschenrechtsverständnis z. T. in bewußter Abgrenzung gegen den Rechtspositivismus entwikkelt hat. 29 Als Geltungsgrund und "Autoritätsquelle" der Menschenrechte wird in modernen, nach dem Zweiten Weltkrieg abgefaßten Menschenrechtskatalogen neben den "Grundwerten" der Freiheit und Gleichheit die Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit der Menschenwürde angegeben. Was aber bedeutet "Menschenwürde"? Bei der Formulierung dieser "Autoritätsquelle" r,Ult zunächst auf, daß die Texte sich um einen Definitionsverzicht der Menschenwürde geradezu bemühen - dies wird etwa deutlich, wenn im internationalen Bereich die Formulierung "dignity of the human person", die zumindest Anklänge an ein christlich-abendländisches Konzept der Würde mitschwingen läßt, durch die neutralere Formulierung "dignity of human beings" ersetzt wird. 30 Mit diesem Definitionsverzicht wird der Formalität der Menschenwürde Ausdruck gegeben: es steht im Kern des Sinnanspruchs der Menschenrech-
29
Dazu Klaus Dicke: ... "unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen" ... , in:
s. Hobe (Hg.): Die Präambel der UN-Charta im Lichte der aktuellen Völkerrechtsentwicklung, Berlin 1997,47-58, hier 48ft: 30 Dicke: Die der Person innewohnende Würde (= Anm. 9), 168ft: 5*
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te, den Menschen nicht auf ein bestimmtes "Menschenbild", nicht auf ein konkretes Konzept "menschenwürdigen" oder sittlich-guten Lebens festzulegen, sondern anzuerkennen, daß eben diese Festlegung jedermanns eigene Verantwortung darstellt. 31 Mit dem Bezug auf Menschenwürde wird also mit anderen Worten zum Ausdruck gebracht, daß Menschenrechte und Menschenrechtskataloge nicht ein traditions- und kulturgebundenes "Menschenbild" konstituieren oder gar konstruieren, sondern in der Anerkennung der Tatsache gründen, daß der Mensch ein sittlich verfaßtes, d. h. eigene Daseinsverantwortung tragendes und grundsätzlich nicht gleichschaltbares Subjekt ist. Dieser Anerkennungsaspekt der Menschenrechte - die Charta der Vereinten Nationen spricht vom "Glauben ... an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit" wahrt die notwendige Formalität der Menschenwürde. In ihrer Formalität "heilt" Menschenwürde als Fundamentalnorm der Menschenrechte zumindest eines der Defizite der positivistischen Begründung: die Frage, ob eine Rechtsnorm diese Anerkennung des Menschen als sittlich verfaßtes Subjekt in sich trägt oder aber ihr widerspricht, ob sie anders gesagt die Form eines Autonomie und Gleichheit als wesentlichen Gesetzesinhalt achtenden, allgemeinen Gesetzes aufweist, ist ein notwendiges Kriterium zur Beurteilung ihrer materiellen Gerechtigkeit. Damit sei zugleich auf ein häufiges Mißverständnis der "Formalität" der Menschenwürde hingewiesen, das in ähnlich mißverständlichen Deutungen des kategorischen Imperativs Kants eine Entsprechung findet: "formal" bedeutet im Zusammenhang der Menschenwürde nicht einfachhin das Gegenteil von "materiell" und damit "inhaltsleer"; vielmehr hebt die Konzentration auf die Form einer Rechtsnorm, nämlich ihre Übereinstimmung mit der gleichen Autonomie eines jeden Rechtsunterworfenen, auf Freiheit und Gleichheit als den wesentlichen Inhalt des Rechts ab. 32 Dieser Inhalt muß aber ein solcher sein, der in jeder denkbaren Normierungs- und Rechtsanwendungssituation Berücksichtigung erfahren kann; eine materielle Formulierung der Fundamen-
31
An dieser Stelle wird deutlich, daß "kommunitaristische" Konzepte der Gegenwart,
welche die liberale Unterscheidung von Recht lUld Ethik oder den "Vorrang des Rechten vor dem Guten" zugunsten einer materiellen politischen Ethik ablehnen, die Universalität der Menschenrechte lUltergraben. 32
Zum hier vertretenen Verständnis der Formalität der Menschenwürde vgl. die Erläute-
flUlgen zum Formalismus Kants bei Johannes Schwartländer: Der Mensch ist Person. Kants
BestimmlUlg des Menschen, Stuttgart 1968, 144ff.; vgl. auch Hans Wagner: Die Würde des Menschen, Wiirzburg 1992, 373ff.
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talnorm des Rechts wird diesem Kriterium jedoch nicht gerecht. Wer Menschenwürde materiell definiert, schließt notwendig diejenigen aus, welche eines der Definitionskriterien nicht erfüllen. 33 Von diesen beiden Ansatzpunkten für eine Bestimmung des Geltungsgrundes der Menschenrechte, der Rechtsgeltung und der Menschenwürde, ist nun die konkrete Philosophie oder die konkrete Konzeption, in der eine solche Geltungstheorie dargelegt wird, strikt zu unterscheiden. Es macht erhebliche Unterschiede, ob man in der Deutung der Menschenwürde etwa Pico della Mirandolas Anthropologie des "offenen Entwurfsvermögens", einem katholischen Verständnis des Person-Gedankens oder Kants Philosophie der Autonomie folgt. Alle drei Entwürfe sind Interpretationen der Menschenwürde, nicht aber die Menschenwürde selbst. Sie haben deshalb auch im heutigen europäischen Diskurs über Menschenrechte noch ihre Bedeutung, weil sie - wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven - doch in einem übereinstimmen: in der Betonung der Unverfügbarkeit der Menschenwürde und in der Konsequenz, daß diese nicht theoretisch zu konstituieren, sondern praktisch anzuerkennen ist. Der Formalismus der Menschenwürde im oben skizzierten Verständnis legt schließlich auch eine Antwort auf das bereits angesprochene Problem "Norm und Geschichte" nahe. Zunächst sind Menschenrechte selbst in dreifacher Weise geschichtliche Normen: Erstens ist ihre historische Entwicklung an ganz bestimmte Voraussetzungen gebunden, nämlich an die Entstehung und Entwicklung der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft, an die Herausbildung des modernen Staates und an den politischen und sozialen Wandel seit dem 16. Jahrhundert. Zweitens verlagern sich menschenrechtliche Forderungen im Laufe der Geschichte: Waren die religiöse Autonomie in der Welt der Religionskriege, die Freiheit von staatlicher Willkür im Zeitalter des absolutistischen Staates, die Freiheit von sozialer Not und Entrechtung während der Industrialisierung westlicher Gesellschaften Leitbilder menschenrechtlicher Forderungen, so sind dies in der Kommunikationsgesellschaft die "informationelle Selbstbestimmung"34 und im weltwirtschaftlichen Zusammenhang des ausgehenden 20. Jahrhunderts das "Recht auf Entwicklung".
33 Insoweit stimme ich Rolf Gröschner zu, wenn er mit Theodor Heuss Menschenwürde als eine "nicht interpretierte These" bezeichnet; vgl. Rolf Gröschner: Menschenwürde \Dld Sepulkralkultur in der gnmdgesetzlichen Ordn\Dlg, Stuttgart 1995,28. 34 BVerfGE 65, 1.
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Während der Anspruch "auf periodischen bezahlten Urlaub" (Art. 24 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) in entwickelten Industriegesellschaften Sinn macht, mag dies in China gleichzeitig für das Recht auf ein Fahrrad gelten35 . Aus diesem Grunde ist auch ein ein für allemal festgelegter Katalog von Menschenrechten nicht denkbar; Menschenrechtskataloge bedürfen vielmehr der stetigen Anpassung an neue geschichtliche Situationen, welche neue Unrechtserfahrungen bzw. Bedrohungen der Menschenwürde hervorbringen. Die Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen, die seit 1945 zu mehr als sechzig Konventionen, Vereinbarungen und Deklarationen des Menschenrechtsschutzes geführt hat, ist hierfür ebenso Beispiel wie die in vielerlei Hinsicht - notwendigerweise - rechtsfortbildende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Grundrechten. Drittens bedeutet die Hinordnung der Menschenrechte auf die Würde des Menschen ihre Fundierung in einer Norm, welche ihrerseits die Geschichtlichkeit des Menschen als für die Welt- und Daseinsgestaltung verantwortliches Wesen impliziert. Denn das positive Korrelat zur Nicht-Feststellbarkeit und Nicht-Gleichschaltbarkeit des Menschen im Begriff der Menschenwürde besagt, daß jeder einzelne in einer unverfügbaren Weise für die Gestaltung der Welt und seines Daseins in der Welt verantwortlich ist. Würde in diesem Verständnis ist nicht absolut, sondern als unbedingter Anspruch der Verantwortung an den Menschen erfahrbar. Wie Kant in seiner Analyse der Pflicht gezeigt hat, wird der Mensch seiner Würde gerade in der Erfahrung seiner Endlichkeit inne36 : der Erfahrung seiner Position und seines Herausgefordertseins in einem räumlichen und zeitlichen Segment der Welt-Zeit einerseits und kontrafaktisch zu seiner Fehlbarkeit in Schuld und selbstverschuldeter Unzulänglichkeit andererseits. Im Gebot der Weltverantwortung, d. h. im Imperativ, jederzeit so zu handeln, wie jeder andere an seiner Stelle würde handeln können, erfährt der Mensch seine eigentümliche Stellung im Kosmos: als endliches Wesen doch frei von allen nötigenden äußeren Zwängen - in Kants Sprache: unbedingt - handeln zu können. Die Begründung der Menschenrechte in der Würde des Menschen besagt nicht, daß es eine konkrete Philosophie des Menschen gebe, die unabhängig
35
Vgl. den Diskussionsbeitrag von Felix Ermacora in: J. Schwart1änder (Hg.):
Menschenrechte - Aspekte ihrer BegriindlDlg lDld Verwirklichmg, Tübingen 1978, 119. 36 Vgl. Johannes Schwart1änder: Sittliche Autonomie als Idee der endlichen Freiheit, in: Theologische Quartalsschrift 161 (1981), 20-33.
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von Raum und Zeit gültig wäre, aus welcher einzelne Menschenrechte abgeleitet werden können. Sie besagt vielmehr, daß überall dort, wo Menschen in der Entfaltung von Welt- und Daseinsverantwortung festgelegt werden, wo sie als Sache oder Funktion behandelt werden, eine politische Korrektur fordernde Unrechtserfahrung vorliegt. Auf dieser Grundlage ist im folgenden der Frage nach der Universalität der Menschenrechte nachzugehen.
m. Konsequenzen für die Debatte um die Universalität der Menschenrechte
Die Debatte über die Universalität der Menschenrechte hat ihren Ursprung in einer dreifachen Globalisierung im 20. Jahrhundert: • Erstens ist im 20. Jahrhundert der politische und soziale Wandel, auf den in Europa und in Amerika im 18. Jahrhundert die klassischen Menschenrechtserklärungen anworteten, global geworden. Die Welt ist lückenlos staatlich organisiert, und ausweislich der jährlichen Statistiken der Weltbank oder des UNDP-Berichts sind auch die ökonomischen und sozialen Fragen, die etwa im Europa des 19. Jahrhunderts zur Herausbildung sozialer Menschenrechte geführt haben, heute globale Fragen. • Zweitens haben die Menschenrechte im 20. Jahrhundert einen in der Geschichte nahezu unvergleichbaren globalen Siegeszug angetreten. Die wichtigsten internationalen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte sind von ca. 130 Staaten ratifiziert; kaum ein Staat hat nicht mindestens eine Menschenrechtskonvention ratifiziert, und kaum eine Verfassung der Welt verzichtet auf Grundrechtskataloge; neben Europa und Amerika haben zu Beginn der achtziger Jahre die afrikanischen und die islamischen Staaten eine eigene Konvention des regionalen Menschenrechtsschutzes bzw. eine eigene Menschenrechtserklärung verabschiedet, und bei der Vorbereitung der Weltmenschenrechtskonferenz von Wien 1993 standen auch die asiatischen Staaten nicht abseits und hielten eine eigene regionale Vorbereitungskonferenz ab. Wenn sich auch in den regionalen Erklärungen und Dokumenten durchaus kulturelle Eigenheiten niederschlagen - erinnert sei nur an gruppenrechtliche Elemente in der afrikanischen Menschenrechtskonvention -, so ist doch heute von einer universalen Anerkennung der Menschenrechte als Grundnormen politischer Verfaßtheit auszugehen, so "verbal" sie in Einzelfällen auch sein mag.
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• Drittens hat die wissenschaftlich-technische Daseinsbewältigung samt ihrer "modernisierenden" und nivellierenden Effekte eine Globalisierung und aufgrund elektronischer Kommunikationsmittel eine erhebliche Intensivierung erfahren. Die Betonung der je eigenen "kulturellen Identität" in unseren Tagen, wo immer sie auftritt, kann als Reflex auf diese Entwicklung begriffen werden und beinhaltet durchaus begründete Menschenrechtsforderungen. 37 Vor diesem Hintergrund ist die mit der Globalisierung der Menschenrechte nach 1945 einsetzende Debatte über die Universalität der Menschenrechte zu sehen. In dieser Debatte sind mindestens die folgenden Diskursebenen zu unterscheiden: erstens die rechtliche Debatte über die Geltung und Durchsetzung völkerrechtlicher Normen des internationalen Menschenrechtsschutzes; zweitens die - bei dessen Ausbau virulent werdende - Frage nach der philosophischen Begründung universaler Menschenrechte angesichts des kulturellen und weltanschaulichen Pluralismus in der "internationalen Gemeinschaft", und drittens die Frage nach dem Verhältnis des Freiheitsethos der Menschenrechte zu je eigenen Ethosformen vor allem solcher Kulturen und Gesellschaften, die sich erst seit ca. 50 Jahren mit dem politisch-rechtlichen Ethos der Menschenrechte konfrontiert sehen. Alle drei Fragen sind umso schärfer hervorgetreten, je stärker die Bemühungen in der internationalen Politik wurden, nicht nur die Deklaration, sondern auch die Durchsetzung völkerrechtlich geltender Normen des Menschenrechtsschutzes zur Aufgabe der politischen Institutionen der Staatengemeinschaft zu machen. 38 Nicht nur die unter dem Stichwort der "humanitären Intervention" diskutierten Möglichkeiten des Sicherheitsrates, bei massiven Menschenrechtsverletzungen den Sanktionsmechanismus von Kap. VII der UNO-Charta anzuwenden39 , sondern vor allem auch die multilaterale und bilaterale Praxis der sogenannten "Menschenrechts-
37
Vgl. Jost Delbrück: Die kulturelle und individuelle Identität als Grenzen des In-
formationspluralismus?, in: R. Wolfrum (Hg.): Recht auf Information. Schutz vor Information. Menschen- und staatsrechtliche Aspekte, Berlin 1986, 181-200. 31
Vgl. etwa den Situationsbericht anläßlich der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993
von Rüdiger Wolfrum: Die Fntwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes, in: EA48 (1993), 681-690. 39
Vgl. Heike Gading: Der Schutz gnmdlegender Menschenrechte durch militärische
Maßnahmen des Sicherheitsrates - das Fnde staatlicher Souveränität?, Berlin 1996.
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konditionalität,,40 waren der Auslöser für ihre jüngste Intensivierung. Welchen Beitrag kann die Rückbesinnung auf die atlantische Tradition der Menschenrechte in diesem Disput leisten? Zunächst und vor allem diesen: Eine Menschenrechtspolitik kann nur dann glaubwürdig sein, wenn sie den Standpunkt der Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu ihrer Sache macht41 und damit einem der Leitgedanken der europäischen politischen Philosophie: dem der Einheit der Menschheit Geltung verschaffi. Bereits Kant hatte es als Indiz der Geltung eines "Weltbürgerrechts" betrachtet, daß "es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen ( ... ) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird".42 Mit dem Hinweis auf den Grund der Menschenrechte in strukturellen Unrechtserfahrungen kann zunächst ein Mißverständnis zurechtgerückt werden: es geht bei der Frage um die Universalität der Menschenrechte nicht darum, ein an eine bestimmte kulturelle Tradition gebundenes Ethos zu "universalisieren". Vielmehr ist es primäre Aufgabe der ethischen Reflexion über Menschenrechte, in jedem Protest gegen Unrecht und in jedem politischen Handeln, das um die Beseitigung und Verhinderung solchen Unrechts bemüht ist, die Erfahrung der Menschenwürde als universalen und nicht hintergehbaren Bezugspunkt der Legitimation von Politik hermeneutisch darzulegen. Es geht also darum, die "dignity of human beings" als ein "geschichtliches Normapriori" und unbedingte Anforderung an jede Politik auszuweisen, die nun ihrerseits in den verschiedenen Kulturen und Religionen unterschiedlich ausgelegt und auf der Grundlage von deren je eigenen historischen und kulturellen Erfahrungen verständlich gemacht werden muß. Erst auf dieser Grundlage kann der Vorwurf, die Behauptung der Universalität der Menschenrechte sei eine Form des kulturellen Imperialismus oder Neo-Kolonialismus, differenziert diskutiert werden. Der politische Begriff des 40 Vgl. zuletzt Eckart Klein: Menschmrechte lUld politische Konditionalität, in: KAS/ Auslandsinformationen 13 (1997) 2, 11-18. 41 Vgl. etwa Rainer Tetzlaff: Den Opfern eine Stimme geben. Frieden durch tmiversal gültige Menschmrechte, in: D. Senghaas (Hg.): Frieden machen, Frankfwt a.M. 1997, 292-313. 42 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, in: Werke. Akademie-Ausgabe (AA) Vlll, Berlin 1968,360.
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Kolonialismus ist ohne den Bezugspunkt einer universalen Rechtsgemeinschaft, in der "die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird", nicht denkbar. Die Ideengeschichte des Kolonialismusbegriffs zeigt dies sehr deutlich: Die mit der spanischen Politik in Amerika ins Gericht gehenden Dominikaner, insbesondere Vitoria und die anderen sogenannten "Väter des Völkerrechts", legitimierten ihre Kritik des Kolonialismus in der Idee des "totus orbis", der als alle Menschen umfassende Rechtsgemeinschaft gefaßt war. 43 Für Kant ist das wichtigste Anwendungsfeld des "Weltbürgerrechts" die Kritik des inhospitalen und menschenrechtswidrigen Verhaltens der angeblich so zivilisierten Europäer in den Kolonien. 44 Der Unrechtscharakter des Kolonialismus wird durchgehend in der Verletzung der Selbstverantwortung und Selbständigkeit von Völkern aufgrund struktureller Abhängigkeitsverhältnisse gesehen. Als politischer Begriff ist Kolonialismus daher ohne ein menschenrechtliches Konzept von Politik überhaupt nicht denkbar. Die erste Aufgabe in der Debatte um die Universalität der Menschenrechte besteht somit darin, den "universalen" Bezugspunkt dieser Debatte immer wieder neu herauszustellen. Wendet man dies etwa auf die Diskussion um die "Menschenrechtskonditionalität" an, ergibt sich daraus die kritische Anfrage an die Politik der Industriestaaten, mit welchem Menschenrechtskonzept hier operiert wird. Nur zwei Beispiele: 1. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob die Vergabe von Mitteln im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit an "Menschenrechte" gebunden wird, wie dies in machen Verlautbarungen ohne jede nähere Erläuterung gesagt wird, 45 oder aber an völkerrechtlich geltende Normen des internationalen Menschenrechtsschutzes. Im zweiten Fall wird von vornherein deutlich gemacht, daß Politik in den Rahmen eines Rechtssystems eingeordnet wird und damit unter einem Gerechtigkeitsanspruch steht, der jedem politischen Subjekt verantwortliche Mitwirkung auf der Basis gemeinschaftlicher Rechtsbefolgung zusichern soll. Dabei wird zugleich auch ersichtlich, daß die fortschreitende Errichtung eines internationalen politischen Systems, in dem dieser Gerechtigkeitsanspruch für alle Seiten erkennbar und von allen
43 Vgl. etwa Ulrich Matz, Vitoria, in: H. Maier et al. (Hg.): Klassiker des politischen Denkens, 5. Aufl., München 1979, Bd. 1,274-292, hier 283ff. 44 Vgl. Kant: Zum ewigen Frieden (= Anm. 42), 358f 45 Für eine Präzisienmg vgl. den Beitrag von Klemens van de Sand (in diesem Band).
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Seiten wahrnehmbar wird, für die internationale Menschenrechtspolitik eine Notwendigkeit darstellt. Jenseits aller Kriterien der ökonomischen Effizienz sei in diesem Zusammenhang zumindest die Frage aufgeworfen, ob die gegenwärtige Debatte um die UNIDO der Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit des Bemühens, ein solches internationales politisches System zu errichten, nicht doch einigen Schaden zugefügt hat. Verzichtet man hingegen in der politischen Rhetorik oder gar in der politischen Praxis darauf, den Bezug von Menschenrechtskonditionalität auf geltende Völkerrechtsnormen explizit zu machen, dann trägt man zumindest zu der Gefahr bei, Menschenrechte ideologischen Auseinandersetzungen preiszugeben. 2. Dies sei an einem zweiten Beispiel verdeutlicht: Aus der internationalen Menschenrechtspolitik sind zahlreiche Beispiele dafür bekannt, daß Verhandlungen scheitern, wenn Konzept gegen Konzept steht. In besonders krasser Form war dies auf der Belgrader Nachfolgekonferenz der KSZE 1977 der Fall, aber auch in der Analyse der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993 lassen sich Beispiele dafür finden. Allein dies sollte in den Industriestaaten einmal Anlaß für die selbstkritische Nachfrage geben, wie im internationalen Umfeld die eigene Menschenrechtskonzeption dargestellt und vor allem perzipiert wird. Wenn z. B. Menschenrechte, wie dies hierzulande häufig geschieht, als Ergebnis eines "säkularisierten" Denkens hingestellt oder aber auf ein liberales Konzept individueller Abwehrrechte gegen den Staat reduziert werden, dann ist dem universalen Dialog über Menschenrechte ein Bärendienst erwiesen: Ohne Zweifel gehören die Emanzipation des Glaubens von religiös-dogmatischen Bevormundungen und die Sicherung von Entfaltungsräumen individueller Freiheit zum Kernbestand der europäischen Menschenrechtsgeschichte; aber erhebliche Zweifel sind doch daran angebracht, ob ein gesellschaftspolitisches Konzept, das nahezu zwangsläufig den Abfall von Glauben und die Auflösung von Gemeinschaftsbindungen in Individualismen mit sich bringt, auf universale Akzeptanz rechnen kann. Für beide Deutungen lassen sich der atlantischen Geschichte der letzten 250 Jahre Anhaltspunkte entnehmen, und gerade deshalb kommt es im internationalen Menschenrechtsdialog sehr darauf an, den normativen Ursprung der Menschenrechte nicht über gängige Formeln aus dem Blick zu verlieren. Menschenrechte, wie sie in der atlantischen Kultur formuliert wurden, sind der historisch erste Versuch, auf der Basis der Erfahrung der Menschenwürde das Konzept einer der Freiheit bzw. der selbstverantwortlichen Daseinsgestaltung des Menschen verpflichteten Gesellschaftsgestaltung zu verwirk-
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lichen. Auf der Grundlage der Erfahrung, daß der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg "das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben"46, hat die Staatengemeinschaft seit der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" vom 10. Dezember 1948 dieses Konzept zur Grundlage der Errichtung eines den Frieden sichernden und das Recht verwaltenden internationalen politischen Systems gemacht. Wie die seitherige Entwicklung der internationalen Menschenrechtspolitik zeigt, ist die universale Geltung der Menschenrechte an die Voraussetzung einer pluralistisch strukturierten internationalen politischen Rechtskultur gebunden, in die die europäisch-atlantische politische Kultur zwar vieles an Erfahrungen einbringen, in der sie jedoch kein Deutungsmonopol beanspruchen kann. Sie ist vielmehr darauf verwiesen, durch die stets neu vorzunehmende Reflexion auf den wesentlichen Normanspruch der Menschenrechte jene Dialogfähigkeit an den Tag zu legen, welcher der internationale Menschenrechtsschutz letztlich seine Entstehung verdankt und den die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" in ihrem Art. 1 einfordert: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen".
46 Allgemeine Erklänmg der Menschenrechte (= Anm. 1). Vgl. dazu Johannes Morsink: World War Two and the Universal Declaration, in: HRQ 15 (1993), 357-405.
Recht auf Entwicklung Involution zum "Recht auf alles"?
Von Franz Nuscheler
Mit dem Zivil- und Sozialpakt, die beide 1976 in Kraft traten, hatte der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz die Grenzen der "klassischen" Freiheits- und Bürgerrechte, verstanden als Schutz- oder Abwehrrechte gegenüber staatlicher Willkür, bereits weit überschritten. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ("Sozialpakt") hatte aufDrängen der Entwicklungsländer und RgW-Länder Solidar- und Anspruchsrechte formuliert und normiert, denen manche westliche Kritiker nicht nur eine geringe rechtliche Verpflichtungskraft einräumten, sondern auch unterstellten, den harten Kern der Menschenrechte aufzuweichen.
I. Die verschiedenen Generationen der Menschenrechte Für die Kritiker der Solidarrechte bedeutete die "zweite Generation" der Menschenrechte keinen Fortschritt in der Evolution der Menschenrechte, sondern bestenfalls etwas Zweitrangiges, schlimmstenfalls einen Konstruktionsfehler im menschenrechtlichen Normenkatalog. Ludger Kühnhardt beispielsweise konnte in sozialen Solidarrechten nur die "EinbruchsteIle einer Ideologisierung der Menschenrechte" erkennen. 1 Noch umstrittener war deshalb die "dritte Generation" von kollektiven Menschenrechten, weil in ihrem Kollektivismus ein fundamentaler Widerspruch zum individualistischen Fundament der "klassischen" Freiheits- und Bürgerrechte erkannt wurde. Der vor allem von Karel Vasale, dem damaligen Leiter der Menschenrechtsabteilung der UNESCO, begründeten Generationentheorie wurde vorgehalten, mit einer
1
Vgl. Ludger Kühnhardt: Die Universalität der Menschenrechte, Bonn 1987,258.
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neuen Kategorie von Menschenrechten die im Schoße der okzidentalen Gesellschaften entwickelten "bürgerlichen" Menschenrechte abwerten und deren individualistischen Kern aushöhlen zu wollen? Die Verteidiger der Solidarrechte betonten dagegen angesichts der "globalen Apartheid" der Lebens- und Überlebenschancen, die Johan Galtung auf den Begriff der "strukturellen Gewalt" gebracht hatte,3 die Unteilbarkeit der Menschenrechte. Sie hielten der Degradierung der sozialen Menschenrechte entgegen, daß sie erst die Voraussetzungen zur Verwirklichung der politischen Menschenrechte schaffen, weil Massenelend "die Entwicklung jener Fähigkeiten und Fertigkeiten behindert, die als intellektuelle Voraussetzungen für die Wahrnehmung gerade der klassischen Freiheits- und Teilhaberechte betrachtet werden müssen".4 Sie beriefen sich auf Art. 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, aus dem sogar die Unentbehrlichkeit eines "Rechts auf Entwicklung" zur Verwirklichung der politischen und sozialen Menschenrechte abgeleitet wurde:~ "Jedermann hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung aufgeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können." Dieser Streit über den Stellenwert verschiedener "Generationen" der Menschenrechte verschärfte sich, als die mehrheitlich in der Blockfreienbewegung und in der "Gruppe der 77" organisierten Entwicklungsländer in den 70er Jahren versuchten, mittels ihrer Stimmenmehrheit in den Vereinten Nationen im Rahmen eines "Entwicklungsvölkerrechts" eine "dritte Generation" von kollektiven Menschenrechten durchzusetzen. In deren Mittelpunkt rückten sie die Forderung nach einem "Recht auf Entwicklung", für dessen Begründung der senegalesische Jurist Keba MBaye schon zu Beginn des Jahrzehnts, in dem sich der Nord-Süd-Konflikt zu einer Konfliktformation in der Weltpolitik
2 Vgl. Karel Vasak: Le droit international des droits de l'homme, in: Recueil des Cours de l'Academie de Droit International 4 (1974), 333-415; dagegen Armin Barthel: Die Menschenrechte der dritten Generation, Aachen 1991. 3 Vgl. Johan Galtung: Eine strukturelle Theorie des Imperialismus, in: D. Senghaas (Hg.): Imperialismus lDld strukturelle Gewalt, Frankfurt a.M. 1972,29-104. 4 Lothar Brock: Menschenrechte lDld FlltwickllDlg, in: APuZ B 27 (1985), 3-16, hier 5. ~ Vgl. Roland Rich: The Right to Development as an Emerging Human Right, in: Virginia Journal ofInternational Law 23 (1983), 287-328.
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entwickelte, Argumente lieferte. 6 Das "Recht auf Entwicklung" wurde zu einem Streitobjekt im Nord-Süd-Konflikt und dadurch zu einem Politikum, das alle juristische Argumentationskunst überlagerte. Die in juristische Argumente gekleideten politischen Vorbehalte gegenüber der zweiten und dritten Generation der Menschenrechte wurden im Westen dadurch verstärkt, daß die auf den stürmischen Nord-Süd-Konferenzen der 70er Jahre zunehmend massiv vorgetragenen Forderungen der Entwicklungsländer erstens vom Block der sozialistischen RgW-Länder unterstützt, zweitens mit Forderungen nach mehr finanziellen Transferleistungen (Entwicklungshilfe) und drittens - und vor allem - mit der Forderung nach Herstellung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung vermengt wurden. Die Entwicklungsländer, sekundiert vom RgW-Block, setzten 1977 in der UN-Generalversamrnlung eine Resolution durch, die feststellte, daß das "Weiterbestehen einer ungerechten internationalen Wirtschaftsordnung ... ein großes Hindernis für die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte" in den Entwicklungsländern sei und umgekehrt "die Verwirklichung der Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung ... ein wesentliches Element für die wirksame Förderung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" darstelle. 7 Im Februar 1977 war erstmals in einem UN-Dokument das "Recht auf Entwicklung" aufgetaucht, als die UN-Menschenrechtskommission den Generalsekretär mit einer Studie über die "internationalen Dimensionen des Rechts auf Entwicklung als einem Menschenrecht" beauftragte. 8 Die Forderung nach einem "Recht auf Entwicklung" geriet durch die Verknüpfung von entwicklungspolitischen Forderungen mit Menschenrechten zwischen die Frontlinien der Kontroversen über eine Neue Weltwirtschaftsordnung, bei denen es um den Kern der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, um Macht- und Besitzstandsinteressen in der von den OECD-Ländern beherrschten Weltwirtschaft ging.
6 Vgl. Keba M'Baye: Le Droit au developpement comme Wl Droit de l'homme, in: Revue des Droits de l'Homme 5 (1972), 503-534; Sabine Bennigsen: Das "Recht auf EntwicklWlg" in der internationalen Diskussion, Frankfurt a.M. / Bem / New York 1989,36ff. 7 UN Resolution 32/130. 8 Vgl. Bennigsen: "Recht aufEntwicklWlg" (= Arun. 6), 22ff.
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Die Debatte in den UN-Gremien war also von Anfang an von schwerwiegenden Interessenkonflikten überschattet, die alle rechtlichen Argumente überlagerten. Die OE CD-Länder und ihre Rechtsberater verdächtigten das "Recht auf Entwicklung" - nicht ganz ohne Grund - zunächst als Kurzformel für alle Forderungen, mit denen die Entwicklungsländer eine Neue Weltwirtschaftsordnung zu erzwingen versuchten, oder als Trojanisches Pferd, mit dem diese das Bollwerk der "harten" Menschenrechte der "ersten Generation" zu durchdringen versuchten. Besonders bei Philip Alston9 klangen solche Verdachtsmomente an, die das Abstimmungsverhalten der OE CD-Länder in den UN-Gremien mit juristischen Argumenten munitionierten, obwohl es dabei mehr um Politik denn um Völkerrecht ging.
11. Vom Dissens zum Formelkompromiß Die "Gruppe der 77" ließ sich von solchen Bedenken der OECD-Länder, die keine geschlossene Ablehnungsfront bildeten, nicht von ihrem Ziel abbringen, das "Recht auf Entwicklung" im Kanon der Menschenrechte zu verankern. Am 23. November 1979 erklärte es die UN-Generalversammlung, gestützt auf eine Vorlage der UN-Menschenrechtskommission, kurz und bündig zu einem Menschenrecht und eröffnete damit eine intensive akademische Debatte über diese von einer Staatenmehrheit aufgestellte Rechtsbehauptung, deren Rechtsquellen bis heute umstritten blieben. Am 14. Dezember 1981 wertete sie es in einer "Formulierung von geradezu römischer Prägnanz", wie Christian Tomuschat bemerkte,10 sogar zu einem "unveräußerlichen Menschenrecht" auf. 135 Staaten stimmten zu, 13 (unter ihnen die Bundesrepublik Deutschland) enthielten sich, nur die USA stimmten dagegen. Schon damals prognostizierte Tomuschat, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis auch die Gegner und Skeptiker auf eine Zustimmung einschwenken würden - nicht aufgrund neuer rechtlicher Einsichten und Bewertungen, um die sich eine von der UN-Menschenrechtskommission eingesetzte Arbeits-
9 Vgl. Philip Alston: A Third Generation of Solidarity Rights: Progressive Devlopment or Obfuscation of International Hwnan Rights?, in: Netherlands International Law Review 29 (1982), 307-336. 10 Christian Tomuschat: Das Recht auf Entwicklung, in: GYIL 25 (1982), 85-112, hier 85.
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gruppe aus Regierungsexperten bemühte, sondern aus politischen Gründen. 11 Die OE CD-Länder hatten zwar das Sagen in der internationalen Entwicklungspolitik, aber die Koalition aus dem Süden und Osten zwang sie zu taktischen Kompromissen. Die Arbeitsgruppe verständigte sich auf den folgenden Begriffsinhalt des "Rechts auf Entwicklung": "Der Kern eines Rechts auf Entwickhmg setzt sich aus folgenden Rechten zusammen: das Recht auf Leben, das Recht auf ein angemessenes Minimum an Nabnmg, KleidlDlg, Wohnraum lDld medizinischer VersorglDlg, das Recht auf ein Minimum an garantierter Sicherheit lDld Unverletzlichkeit der Person, das Recht auf Gedanken-, Gewissens- lDld Religionsfreiheit lDld das Recht auf Teilhabe (partizipation), das zur AusüblDlg der anderen genannten Rechte lDlerläßlich ist. Wir stimmen mit denen überein, die das Recht auf EntwickllDlg als Kombination von bereits früher definierten Menschenrechten, verblDlden mit dem Gedanken des Fortschritts lDld der EntwickllDlg der Gesellschaften lDld ihrer individuellen Mitglieder ansehen". 12
Die Arbeitsgruppe machte sich also eine in der völkerrechtlichen Diskussion gewichtige, aber keineswegs unumstrittene Rechtsauffassung zueigen, die dem "Recht auf Entwicklung" als "Konglomerat positivierter Menschenrechte" und als "kategorialem Dach auf höherer Abstraktionsstufe, das die bestehenden Menschenrechtsnormierungen krönend abschließt", 13 die Weihe eines "unveräußerlichen Menschenrechts" zu verleihen versuchte. Unter allen Begründungsversuchen fand diese Synthesetheorie die meiste Zustimmung, auch im deutschen Diskurs über das "Recht aufEntwicklung",14 blieb aber auch hier nicht unumstritten. 1s Die Prognose von Christian Tomuschat näherte sich der Erfüllung, als die UN-Generalversammlung am 4. Dezember 1986 mit 146 Ja-Stimmen, bei nur
Vgl. ebd. Zit. nach Eibe Riedei: Die Menschenrechte der dritten Generation als Strategie zur VerwirklichlDlg der politischen lDld sozialen Menschenrechte, in: A. P. Esquivel (Hg.): Das Recht auf EntwiCkllDlg als Menschenrecht, München / Zürich 1989, 49-70, hier 60. 13 Ebd., 64. 14 Vgl. ebd.; Armin Barthel: EntwickllDlg lDld Menschenrechte. Das Recht auf EntwickllDlg als Menschenrecht, Aachen 1986; Barthel: Menschenrechte (= Anm. 2). 1S Vgl. Holger Scharpenack: Das "Recht auf EntwickllDlg", Frankfurt a.M. 1996, 15 Off. 11
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noch acht Enthaltungen und einer Nein-Stimme (USA) die Erklärung über das Recht auf Entwicklung verabschiedete. Art. 1 Abs. 1 dieser Deklaration stellte fest: "Das Recht auf Entwicklung ist ein unveräußerliches Menschenrecht, kraft dessen alle Menschen und Völker Anspruch darauf haben, an einer wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung, in der alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll vetwirklicht werden können, teilzuhaben, dazu beizutragen und daraus Nutzen zu ziehen." Diese hohen und unerreichbaren Ziele wurden formuliert und in einen Rechtsanspruch gekleidet, als die Verschuldungskrise die meisten Entwicklungsländer in schwere Wirtschafts-, Sozial- und politische Stabilitätskrisen gestürzt hatte und in manchen Regionen, besonders im subsaharischen Afrika, eher Rückentwicklung denn Entwicklung stattfand. Man könnte die Deklaration von 1986 auch als eine politische Trotzreaktion und als ein Aufbäumen gegen Zustände deuten, die das Bild der "globalen Apartheid" nährten und allen Normen der beiden Menschenrechtspakte widersprachen, auf die sich die Deklaration - im Sinne der Synthesetheorie - ausdrücklich bezog. Ihr Art. 9 Abs. 2 weichte die Ablehnungsfront auf, weil er einen Generalvorbehalt enthielt, nach dem keine Bestimmung der Deklaration dahingehend ausgelegt werden dürfe, daß sie "im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehe bzw. daß sich daraus das Recht eines Staates, einer Gruppe oder einer Person ableiten lasse, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die auf die Verletzung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in den Internationalen Menschenrechtspakten festgelegten Rechte abzielt".
Warum konnten dennoch einige Industrieländer ihre Vorbehalte gegen das deklarierte "Recht auf Entwicklung" noch nicht überwinden? Der Pferdefuß lag erstens in einem Passus der Präambel, der forderte, daß "auf internationaler Ebene unternommene Bemühungen um die Förderung und den Schutz der Menschenrechte mit Bemühungen um die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung einhergehen sollten", zweitens in der starken Betonung des Solidaritätsprinzips, das den Industrieländern die Pflicht auferlegte, mehr für die Verwirklichung des "Rechts auf Entwicklung" zu tun, also mehr Entwicklungshilfe zu leisten. So forderte Art. 4 Abs. I: "Die Staaten haben die Pflicht, einzeln und gemeinschaftlich Maßnahmen zur Aufstellung internationaler Entwicklungspolitiken zu ergreifen, die darauf ge-
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richtet sind, die volle Verwirklichung des Rechts auf Entwicklung zu erleich-
tern."
Obwohl die Präambel die Hauptverantwortung für die Schaffung entwicklungsforderlicher Rahmenbedingungen bei den einzelnen Staaten verortete und Art. 8 Abs. 1 den Entwicklungsländern abforderte, "auf nationaler Ebene alles Erforderliche zur Verwirklichung des Rechts auf Entwicklung" zu tun, paßte das Prinzip der internationalen Solidarität, obwohl es als "Grundaxiom . der heutigen Völkerrechtsordnung durchaus Anerkennung verdient", 16 nicht in das neoliberale Credo, daß jeder Staat und jede Person für sich selbst zu sorgen habe. Jede Formulierung, aus der eine Pflicht zu höheren Entwicklungshilfeleistungen oder gar zu Kompensationsleistungen für koloniale oder nachkoloniale Benachteiligungen abgeleitet werden könnte, stieß auf Vorbehalte. Der Versuch des DDR-Völkerrechtlers Bernhard Graefrath, das "Recht auf Entwicklung" aus einem Schadensersatzanspruch für koloniale Ausbeutung abzuleiten,17 war allenfalls dazu angetan, diese Vorbehalte zu verstärken. Der westdeutsche Vertreter in der UN-Menschenrechtskommission betonte nachdrücklich, daß das "Recht auf Entwicklung" nicht zur "Anspruchsgrundlage für wirtschaftliche Forderungen des Tages" werden dürfe. 18 Das Interpretationsdilemma wird offensichtlich, wenn das "vielleicht wichtigste inhaltliche Element" eines "Rechts auf Entwicklung" in seiner "Ausgestaltung als Anspruchsrecht, kraft dessen es den Anspruchsberechtigten einen subjektiven Leistungsanspruch gegenüber den Verpflichteten verschaffen soll", gesehen wird. 19 Was nützt ein solches Anspruchsrecht, wenn die Anspruchsverpflichteten keine Leistungspflicht anerkennen? Schon gar nicht war das neoliberale Credo des Freihandels mit der Forderung nach einer regulierenden Neuen Weltwirtschaftsordnung vereinbar, die in den 80er Jahren auf Druck der OECD-Staaten von der Agenda des Nord-Süd-Dialogs verschwand. Um so überraschender war, daß alle Staaten - nun auch die USA - zunächst in der von der UN-KonJerenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro (1992) im Konsensverfahren verabschiedeten RioTomuschat: Recht auf Entwicklung (= Arun. 10), 105. Vgl. Bemhard Graefrath: Das Recht auf Entwicklung in der internationalen Diskussion, in: DDR-Komitee für Menschenrechte. Schriften und Informationen 8 (1982) 1. 18 Zit. nach Scharpenack: "Recht auf Entwicklung" (= Anm. 15),44. 19 Ebd., 108. 16 17
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Deklaration und dann in Punkt 10 des Abschlußdokuments der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz das "Recht auf Entwicklung" als "universelles und unveräußerliches Recht und als integralen Bestandteil der grundlegenden Menschenrechte" anerkannten. Die Wiener Erklärung bekannte sich ausdrücklich zum "Recht auf Entwicklung, wie es in der Erklärung über das Recht auf Entwicklung niedergelegt wurde". Tomuschats Prognose hatte sich nun endgültig erfüllt, ohne daß seine rechtlichen Bedenken in der Zwischenzeit ausgeräumt worden wären.
m. Das "Recht auf Entwicklung" als fauler Kompromiß Wie ist der Sinneswandei der Staaten, die sich 1986 noch der Stimme enthielten oder gegen die Deklaration stimmten, zu erklären? Erstens wurde das "Recht auf Entwicklung" nach der weltpolitischen Wende von 1989/90 nicht mehr als Mittel des ideologischen Schlagabtausches gebraucht. Zweitens entdeckten die westlichen Staaten in der Deklaration von 1986 auch individualrechtliche Elemente, die ihre grundsätzlichen Bedenken gegen Kollektivrechte der "dritten Generation" relativierten. Art. 2 Abs. 1 dieser Deklaration hatte festgestellt: "Der Mensch ist zentrales Subjekt der Entwicklung und sollte aktiver Träger und Nutznießer des Rechts auf Entwicklung sein. " Drittens - und vor allem - war die widerwillige Anerkennung eines "Rechts auf Entwicklung" ein taktisches Zugeständnis, um als Gegenleistung die Anerkennung der Universalität der Menschenrechte durch einige gewichtige asiatische Länder (China, ASEAN-Gruppe) einzuhandeln. Die westlichen Länder erhielten etwas, was ihnen wichtig war (nämlich die Anerkennung des Universalitätsprinzips), und sie konzedierten etwas (nämlich ein Bekenntnis zum völkerrechtlich unverbindlichen "Recht auf Entwicklung"), was sie zu nichts verpflichtete. Es roch nach einem faulen Komprorniß. Man kann durchaus von einem Kuhhandel sprechen, bei dem um hohe Rechtsgüter gepokert wurde. Aber die taktische Zustimmung sämtlicher OECD-Staaten lieferte noch keine Antwort, welche Folgerungen sie aus ihrer Zustimmung zu ziehen bereit waren, wenn das "Recht auf Entwicklung" als Anspruchsrecht auf höhere Entwicklungshilfe, Schuldenerlasse oder handelspolitische Konzessionen bemüht werden sollte. Ihre Zustimmung in Rio und Wien hinderte sie nicht daran, ihre Entwicklungsetats zu kürzen. Bei Haushaltsdebatten oder bei den Verhandlungen der Uruguay-Runde, in denen es auch um die soziale und ökologische Ausgestaltung des Welthandels ging,
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entfaltete das "Recht auf Entwicklung" keinerlei regulative Wirkung. Das "unveräußerliche Menschenrecht" erwies sich in der nationalen und internationalen Politik als wirkungslos. Der "asiatische Block" deutete das nun im Konsensverfahren akzeptierte bzw. tolerierte "Recht auf Entwicklung" ganz anders, als es in der Deklaration von 1986 niedergelegt worden war: nicht als Synthese bereits kodifizierter Menschenrechte, sondern als ein den politischen Freiheitsrechten übergeordnetes Recht, das ihm die Rechtfertigung für den Primat der Entwicklung ("zuerst Entwicklung, dann Freiheit") lieferte - obwohl der oben zitierte Art. 9 Abs. 2 der Deklaration von 1986 und der weniger verklausulierte § 10 Abs. 3 der Wiener Erklärung eine solche Umdeutung des "Rechts auf Entwicklung" und sein Zurückfallen hinter die in den Menschenrechtspakten kodifizierten Menschenrechtsnormen ausdrücklich ausschlossen. Die Wiener Erklärung stellte fest: "Wenngleich die Entwicklung die Durchsetzung aller Menschenrechte erleichtert, ist es nicht zulässig, sich auf Entwicklungsrückstände zu berufen, um die Einschränkung international anerkannter Menschenrechte zu rechtfertigen. " Was in Wien beschlossen wurde, war kein Fortschritt in der Entwicklung der Menschenrechte, sondern ein zwischen Nord und Süd ausgehandelter Formelkompromiß, der auch dem "Recht auf Entwicklung" einen Bärendienst erwies. 20 Es ist sicherlich kein Zufall, daß die Deklaration von 1986, auf die sich die Wiener Abschlußerklärung bezog, nicht in die vom Auswärtigen Amt besorgten Textsammlungen zum internationalen Menschenrechtsschutz aufgenommen wurde. Noch steht das "Recht auf Entwicklung" lediglich auf dem Papier einer völkerrechtlich unverbindlichen Deklaration, der auch der Versuch, es als Synthese bereits anerkannter Menschenrechte aufzuwerten, noch wenig politische Überzeugungskraft oder gar Rechtskraft verleihen konnte.
IV. "Recht auf Entwicklung": Recht auf was? Die Deklaration von 1986 formulierte zwar allgemeine Postulate, präzisierte aber nicht, was Entwicklung bedeuten soll. Was konnte dann ein Recht auf etwas Unbestimmtes bedeuten? Nur Art. 8 enthält einen Zielkatalog: "die
20 Vgl. Franz Nuscheler: Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte? Zur Kakophonie des Wiener Wunschkonzerts, in: ÖZP 24 (1995), 199-210.
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Chancengleichheit für alle beim Zugang zu Grundressourcen, Erziehung, Gesundheitsdiensten, Nahrung, Unterkunft, Arbeit und einer gerechten Einkommensverteilung" sowie die "Mitwirkung der Bevölkerung in allen Bereichen als eine wichtige Voraussetzung für Entwicklung und die volle Verwirklichung aller Menschenrechte". Dieser Zielkatalog war weitgehend identisch mit den Zielvorgaben der sogenannten Grundbedürfnisstrategie, die die Weltbank und in ihrem Gefolge die Industrieländer in den 70er Jahren als Antwort auf das Anwachsen der "absoluten Armut" propagierten. Damals stieß diese Entwicklungsstrategie bei den Staatseliten des Südens auf erhebliche Widerstände, weil sie in ihr ein Ablenkungsmanöver von ihrer Forderung nach einer Neuen WeltwirtschaftsordilUng und von ihrem ehrgeizigen Ziel der "aufholenden Entwicklung" entdeckten. 21 Nachdem sich bald erwartungsgemäß herausstellte, daß die Deklaration von 1986 keinerlei Wirkung auf das Verhalten der Staaten und auf die internationale Entwicklungspolitik hatte, und eine von der UN-Menschenrechtskommission eingesetzte Arbeitsgruppe aus Regierungsexperten sich nicht auf konkrete Vorschläge zur Verwirklichung des "Rechts auf Entwicklung" verständigen konnte, berief der UN-Generalsekretär auf Ersuchen der Menschenrechtskommission im Januar 1990 eine Expertenrunde aus Wissenschaft und Vertretern von Regierungen, UN-Organisationen und nicht-staatlichen Menschenrechtsorganisationen zu einer "Global Consultation on the Right to Development as a Human Right"?2 Die Expertenrunde, die mehrheitlich aus der Dritten Welt stammte, erarbeitete einen umfassenden Bericht, der zitieTWÜrdige Passagen enthält. § 143 des Berichts faßte die Kernpunkte der Deklaration von 1986 so zusammen: "The right to development is the right of individuals, groups and peoples to participate in, contribute to, and enjoy continuous economic, social, cultural and political development, in which all human rights and fimdamental freedoms can be fully rea1ized. This includes the right to effective participation in all aspects of development and at all stages of the decision-making process;
21 Vgl. Franz Nuscheler: "Befriedigung der Gnmdbedürfuisse" als neue entwicklungspolitische Lösungsformel, in: D. Nohlen / F. Nuscheler (Hg.): Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1,2. Aufl, Hamburg 1982, 332-358. 22 Vgl. Russel Lawrence Barsh: The Right to Development as a Human Right: Results ofthe Global Consultation, in: HRQ 13 (1991),322-338.
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the right to equal opportunity and aeeess to resourees; the right to fair distribution of the benefits of development; the right to respect for eivil, politieal, econornie, soeial and eultural rights, and the right to an international environment in whieh a11 these rights ean be fu11y realized."
Bei dieser Aufzählung von allen denkbaren Wohltaten wird man an den kaum widerlegbaren Einwand von Tomuschat erinnert, daß sich ein "umfassendes, unspezifiziertes Recht auf Gewährung aller Wohltaten, die der Entfaltung des Menschen förderlich sind", nicht vorstellen lasse. 23 Es gibt kein Menschenrecht auf alles Schöne und Gute und auf eine jenseits des Möglichen entrückte Entwicklung. Es geht vielmehr zunächst um die Sicherung menschenwürdiger Lebensbedingungen - also um die Verwirklichung der bereits im "Sozialpakt" verankerten sozialen Menschenrechte. Die Expertenrunde rückte Partizipation ("both as a means to an end and as an end in itself') und Demokratie ("essential to true development") in den Mittelpunkt aller Bemühungen um die Verwirklichung des "Rechts auf Entwicklung". Partizipation meint Teilhabe am innenpolitischen Entscheidungsprozeß. Adressaten der Forderung sind die Staaten in aller Welt. Wenn jemand Einwände gegen dieses normative Kernstück des "Rechts auf Entwicklung" haben sollte, dann wären es autoritäre Regime, die dieses Recht aber besonders lautstark forderten, weil sie mit ihm offensichtlich andere Ziele und Zwecke verfolgten, als die Förderung von Partizipation im Sinne politischer Mitwirkung. Aber auch das Postulat der Partizipation war weder originell, weil bereits der "Zivilpakt" sämtliche Elemente für die demokratische Willensbildung enthielt, noch - wie Tomuschat ebenfalls einwandte - "geeignet, eine irgendwie geartete Originalität des Rechts auf Entwicklung zu begründen"?4 Partizipation gehörte auch schon zur Lyrik der Grundbedürfnisstrategie und bildet wieder eine Schlüsselkategorie in dem vom Human Development Report propagierten Konzept von human development. Bemerkenswert ist, daß der Bericht in § 153 Entwicklungsstrategien kritisierte, die sich ausschließlich am Ziel des Wirtschaftswachsturns orientieren und soziale Menschenrechte ignorieren - bemerkenswert deshalb, weil an seiner Erarbeitung auch Vertreter der OECD-Staaten mitwirkten, die in den
23 24
Tomusehat: Recht aufEntwieklung (= Anm. 10), 104. Ebd.
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Entscheidungsgremien der Bretton Woods-Institutionen (also IWF und Weltbank:) eine solche wenig sozialverträgliche Wachstumsfixierung absegnen. Eine zentrale Passage des Berichts (§ 155) versteckte die Unmöglichkeit einer allgemein akzeptierten Definition von Entwicklung hinter dem prinzipiell begrüßenswerten Plädoyer für das Recht auf verschiedene Entwicklungswege: "What constitutes 'development' is largely subjective, and in this respect development strategies must be determined by the people themselves and adapted to their particular conditions and needs. No one model of development is universally applicable to all cultures and peoples. All development models, however, must conform to international human rights standards."
Die Frage muß anschließen: Wie kann ein "universelles und unveräußerliches Recht auf Entwicklung" begründet werden, wenn der Inhalt von Entwicklung "subjektiven" Deutungen überlassen wird, also in den Grenzen der internationalen Menschenrechtsstandards beliebig interpretierbar bleibt. Wenn nach Otmar Höll eine "Einigung auf einen universellen, allgemein akzeptierten und ökologisch sinnvollen Entwicklungsbegriff in absehbarer Zeit eher unwahrscheinlich" ist,2~ dann ist auch die Verständigung auf eine allgemein akzeptierte Interpretation des "Rechts auf Entwicklung" unwahrscheinlich. Der Begriff von Entwicklung erfuhr im Verlauf von vier Entwicklungsdekaden, in unzähligen Berichten und Resolutionen von UN-Gremien, Weltkonferenzen und Entwicklungsagenturen, zuletzt in der vom UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali vorgelegten Agenda for Development, eine "Ausdehnung in eine Dimension hinein, die außerhalb der Reichweite einer jeden positiven Rechtsordnung liegt,,?6 Auch die Wiener Erklärung bemühte sich nicht um eine Präzisierung und entzog sich allzu elegant mit dem Hinweis auf die Deklaration von 1986 dem Begründungszwang. Deshalb ist die Kritik zutreffend, daß sich das von den Vereinten Nationen proklamierte "Menschenrecht auf Entwicklung" noch immer von den anderen Menschenrechten "nicht nur durch seine relative Neuheit, sondern auch nach wie vor durch seine vage Formulierung" unterscheidet. 27 25 Otmar Höll: Das Recht auf Entwicklung, in: Journal fiir Entwicklungspolitik 10 (1994) 1,33-46, hier 45. 26 Tomuschat: Recht auf Entwicklung (= Anm. 10), 87f; zur internationalen Diskussion über den Entwicklungsbegriffvgl. Dieter Nohlen / Franz Nuscheler: Was heißt Entwicklung?, in: dies. (Hg.): Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1,3. Aufl., Bonn 1992, 55-75. 27 Scharpenack: "Recht auf Entwicklung" (= Anm. 15),52.
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v. Sozial- und Umweltverträglichkeit von Entwicklung: Implementationsprobleme eines doppelten Imperativs
Die Wiener Erklärung stellte in § 11 außerdem einen Zusammenhang zwischen dem "Recht auf Entwicklung" und dem von der Rio-Konferenz elaborierten Konzept von sustainable development her - und stellte es damit unter eine zusätzliche Bewährungsprobe: "Das Recht auf Entwicklung sollte so verwirklicht werden, daß den Bedürfuissen gegenwärtiger und künftiger Generationen in den Bereichen Entwicklung und Umwelt gleichermaßen Rechnung getragen wird."
Diese Überfrachtung des "Rechts auf Entwicklung" mit einer Vielzahl von Anforderungen diente nicht so sehr seiner Aufwertung, sondern eher seiner Inflationierung zu einem diffusen "Recht auf alles", dem die juristisch greifbaren Konturen abhanden kamen. Zu dieser inhaltlich diffusen Worthülse gesellte sich nun das neue Schlagwort der "nachhaltigen Entwicklung", dessen Inhalt ebenso umstritten und diffus ist wie der Inhalt von Entwicklung. 28 Auf diese Weise wurde die "dritte Generation" der Menschenrechte zugleich angereichert und entwertet. Die asiatische Staatengruppe, die besonders lautstark das "Recht auf Entwicklung" forderte, artikulierte zugleich heftigen Widerstand gegen den Einsatz von Entwicklungshilfe zum Schutz der Menschenrechte und zur Förderung von Demokratie sowie gegen den Einbau von Sozial- und Umweltklausein in das Handelsregime der Welthandelsorganisation zur Sicherung von sozialen und ökologischen Mindeststandards. Diese Staatengruppe gewann aber in der internationalen Menschenrechtsdiskussion einen wachsenden Einfluß - nicht zum Vorteil eines als Synthese der beiden Menschenrechtspakte verstandenen "Rechts auf Entwicklung". Sicherlich hat der Bericht der Expertenrunde dazu beigetragen, daß einige Industrieländer ihre Vorbehalte gegenüber dem "Recht auf Entwicklung" abbauten und der Wiener Erklärung zustimmten. Der deutsche Regierungsvertreter bescheinigte dem Bericht der Global Consultation "einen Schritt in die richtige Richtung" .29 28 Vgl. Angela Schmitz: Sustainable Development. Paradigma oder LeeIformel, in: D. Messner / F. Nuscheler (Hg.): Weltkonferenzen und Weltberichte. Ein Wegweiser durch die internationale Diskussion, Bonn 1996, 103-119. 29 Vgl. Barsh: The Right to Development (= Anm. 22), 336.
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Die UN-Menschenrechtskommission, die sich aus weisungsgebundenen Regierungsvertretern zusammensetzt, behandelte 1996 auf ihrer 52. Sitzung erneut das "Recht auf Entwicklung" und verabschiedete auf Initiative der Blockfreien und einiger Industriestaaten (darunter Deutschland) eine Resolution, die die Kernforderungen der Global Consultation bekräftigte und eine weitere Expertengruppe mit der Erarbeitung einer Implementationsstrategie beauftragte. Gleichzeitig forderte die Resolution die UN-Regionalkommissionen und UN-Sonderorganisationen zur Prüfung auf, wie sie das "Recht auf Entwicklung" in ihre Arbeit einbeziehen können. Hätte ein anerkanntes Menschenrecht nicht mehr verlangt als einen solchen Prüfungsauftrag?
Wieder wurde - wie schon so oft - eine Kommission eingesetzt, von der kaum konkretere Erkenntnisse und Empfehlungen zu erwarten sind, als sie bereits im Bericht der Global Consultation und in den Aktionsprogrammen zu finden sind, die von den seit 1990 veranstalteten Weltkonferenzen im Konsensverfahren verabschiedet wurden. 30 Es fehlt längst nicht mehr an Einsichten, was getan werden müßte, um die Menschenrechte zu verwirklichen, sondern am politischen Willen, das Notwendige zu tun; es geht nicht um die Weiterentwicklung von Menschenrechtsnormen, sondern um die Verwirklichung der bereits anerkannten Normen. Inzwischen wurde im Amt des UN-Hochkommissars für Menschenrechte eine Arbeitsgruppe zur Erforschung und Durchsetzung des "Rechts auf Entwicklung" eingerichtet. Das Thema hat - nicht zuletzt auf Drängen des "asiatischen Blocks", der mit dem "Recht auf Entwicklung" etwas anderes verbindet als der Westen - in UN-Gremien an politischem Gewicht gewonnen. Die Zweifel an seiner juristischen Begründbarkeit sind jedoch noch keineswegs überwunden.
VI. Zur Qualität des "Rechts auf Entwicklung" als Menschenrecht Seitdem die UN-Generalversammlung im Jahre 1979 erstmals das "Recht auf Entwicklung" zu einem Menschenrecht erklärte, erschien eine Vielzahl
30 Vgl. Dirk Messner / Franz Nuscheler (Hg.): Weltkonferenzen und Weltberichte. Ein Wegweiser durch die internationale Diskussion, Bonn 1996.
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von Berichten und Studien, die sich vor allem mit der rechtlichen Qualität eines zum "universellen und unveräußerlichen Menschenrecht" aufgewerteten Postulats befaßten. Verteidiger des "Rechts auf Entwicklung" bemühen eine Vielzahl von Rechtsquellen, aus denen sie seine Qualität als Menschenrecht abzuleiten versuchen:
• Art. 1 Abs. 3 sowie Art. 55 und 56 der UN-Charta, die eine internationale Kooperationspflicht begründen; • Art. 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der eine internationale Sozialordnung fordert, die die Verwirklichung der politischen und sozialen Menschenrechte ermöglicht und fördert; • die beiden Menschenrechtspakte, im besonderen Art. 2 Abs. 1 des "Sozialpakts", der ein Bekenntnis zur internationalen Solidarität ablegt, in der viele Autoren die normative Grundlage für ein "Recht auf Entwicklung" erkennen; • das Völkergewohnheitsrecht, das nach Art. 38 Ib des IGH-Statuts "Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung" ist und vor allem von den Vereinten Nationen als Rechtsquelle für das "Recht auf Entwicklung" bemüht wird; • die 1986 von der UN-Generalversammlung verabschiedete Deklaration zum Recht auf Entwicklung sowie die Abschlußerklärungen der Weltkonferenzen von Rio (1992) und Wien (1993), in denen alle Staaten im Konsensverfahren das "Recht auf Entwicklung" als "unveräußerliches Menschenrecht" anerkannten. Außerdem wurden - in Ergänzung zur internationalen Kooperations- und Solidaritätspf1icht - allgemeine Gerechtigkeits- und Billigkeitstheoreme aus der Rechts- und Sozialphilosophie zur Begründung eines "Rechts aufEntwicklung" herangezogen. 31 Inzwischen wurde das "Recht auf Entwicklung" schon einer "vierten Generation" von Menschenrechten zugerechnet, die darauf abziele, das in der Völkerrechtsordnung angelegte formale Gleichheitsprinzip mit materieller Gleichheit anzureichern. 32
Vgl. Bennigsen: "Recht aufEntwickhmg" (= Anm. 6), 141ff. Vgl. Matjoleine Zieck: The Concept of"Generations" ofHmnan Rights and the Right to Bmefit from the Common Heritage of Mankind with Refermce to Extraterrestrial Realms, in: VRÜ 25 (1992), 161-198. 31
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Warum konnte dann Christian Tomuschat schon zu Beginn der akademischen Debatte feststellen, daß sich die Qualität des "Rechts auf Entwicklung" als "individuelles - und gar unveräußerliches! - Menschenrecht kaum begründen läßt,,?33 Und warum konnte Holger Scharpenack ein gutes Jahrzehnt später in der Zusammenfassung des juristischen Diskurses kurz und bündig feststellen: "Das 'Recht auf Entwicklung' ist kein Recht im normativen Sinne ... Aufgrund der gewonnenen Ergebnisse ist eine Einordnung des 'Rechts auf Entwicklung' als international anerkanntes Menschenrecht und somit als Bestandteil des internationalen Rechts abzulehnen. ,,34 Jack Donnelly hielt es gar für gänzlich überflüssig, sich mit etwas zu beschäftigen, was es nicht gibt und nicht geben kann. 35 Wie begründen die Kritiker aus den westlichen Rechtsschulen diese harsche Kritik? • Erstens verneinen sie, daß es für das "Recht auf Entwicklung" eine völkervertragsrechtliche Grundlage gibt. Weder die Art. 55 und 56 der UN-Charta noch die beiden Menschenrechtspakte könnten als vertragsrechtliche Lükkenbüßer herangezogen werden, da diese Vertragswerke noch kein "Recht auf Entwicklung" kannten. • Zweitens ließen auch die einstimmig verabschiedeten Erklärungen von Rio und Wien noch nicht den Schluß zu, daß das "Recht auf Entwicklung" inzwischen eine völkergewohnheitsrechtliche Grundlage erhalten habe, weil die für den Nachweis von Völkergewohnheitsrecht erforderliche Rechtsüberzeugung bei den Adressaten der im "Recht auf Entwicklung" verankerten Leistungspflicht keineswegs vorausgesetzt werden könne. • Drittens könne den von einer Staatenmehrheit in der UN-Generalversammlung verabschiedeten Resolutionen und Deklarationen keine rechtsbindende Funktion zugemessen werden. • Viertens könne zwar eine Pflicht zur internationalen Kooperation und Solidarität nicht mehr geleugnet werden, aber aus diesen Axiomen der Völkerrechtsordnung könne noch kein Menschenrecht auf Entwicklung abgeleitet werden, das Hilfeleistungen zur Rechtspflicht der Reichen und zum Rechtsanspruch der Armen in aller Welt mache. 33 Tornuschat: Recht auf Entwicklung (= Anm. 10), 105. 34 Scharpenack: "Recht auf Entwicklung" (= Anm. 15),52. 35 Vgl. Jack Donnelly: In Search ofthe Unicorn. The Jurisprudence and Politics of the Right to Developrnent, in: Califomia Western International Law Joumal15 (1985), 473-509.
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Am ehesten begründbar erscheint noch die Synthesetheorie, die dem "Recht auf Entwicklung" als "Konglomerat positivierter Menschenrechte", also durch die Ableitung von vertragsrechtlich anerkannten Rechtsnormen, die Qualität eines Menschenrechts zu verleihen versucht. Die Deklaration von 1986 unternahm diesen Begründungsversuch. Der Einwand, daß eine solche Synthese den beiden Menschenrechtspakten nichts Neues hinzufüge und keinen neuen Zweck erfülle,36 kann nicht überzeugen, weil es gar nicht so sehr um etwas Neues, sondern um eine Zusarnmenführung der prinzipiell unteilbaren, aber durch die beiden Menschenrechtspakte geteilten Menschenrechte geht.
Tomuschat wollte das aus seiner Sicht rechtlich nicht begründbare "Recht auf Entwicklung" auf das verpflichtende Prinzip der internationalen Solidarität, Scharpenack auf die Funktion einer Richtlinie zurückschrauben, die bei "künftigen völkerrechtsrelevanten Handlungen zu beachten" sei. 37 Auch Tomuschat schrieb dem "Recht auf Entwicklung" lediglich bzw. immerhin die Funktion einer "Leitmarke" zu: "Wenn ein zufriedenstellender Interessenausgleich allein über den Markt nicht gefunden werden kann, muß ein Ausgleich unter den Leitgedanken von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität organisiert und institutionalisiert werden. ,,38 Sabine von Schorlemer anerkannte es als "wichtigen rechtspolitischen 'Pflock', der in die stagnierende Nord-SüdDebatte eingeschlagen wurde. ,,39 Ob Richtlinie oder Leitmarke, Prinzip oder Konzept: Ein Menschenrecht ist etwas qualitativ anderes - oder eben nicht als Menschenrecht begründbar.
36 Vgl. Philip Alston: The Right to Development at the International Level, in: F. E. Snyder / S. Sathirathai (Hg.): Third World Attitudes Toward International Law, Dordrecht / Boston / Lancaster 1987, 811-824; Scharpenack: "Recht auf Entwicklung" (= Anm. 15), 151. 37 Scharpenack: "Recht auf Entwicklung" (= Anm. 15), 280. 38 Tomuschat: Recht auf Entwicklung (= Anm. 10), 108. 39 Sabine von Schorlemer: Das Recht auf Entwicklung als kollektives Menschenrecht und seine Bedeutung gegenüber den individuellen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, in: S. Fritsch-Oppermann (Hg.): Mechanismen, Chancen und Grenzen sozialer Menschenrechte (= Loccumer Protokolle 11/95), Loccum 1996, 71-84, hier 84.
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VB. Schlußfolgerungen Dem von der UN-Generalversammlung erstmals 1979 proklamierten "Recht auf Entwicklung" geschah in der Global Consultation und auf den Weltkonferenzen von Rio und Wien das Schlimmste, was ihm geschehen konnte: nämlich die Involution zu einem "Recht auf alles", was in der internationalen Politik ein "Recht auf nichts" bedeutet. Die Zustimmung der OECD-Staaten, die von massiven Kürzungen der Entwicklungsetats begleitet war, bedeutete keine Aufwertung, weil sie keine Verpflichtungen eingingen. Es schien fast so, als versuchten sie, mit einem Zugeständnis, das sie nichts kostete, den Forderungsdruck aus dem Süden - und nun auch aus dem Osten - abzufedern. Die Mehrheit der Juristen aus dem Westen, die sich zum "Recht auf Entwicklung" äußerten, anerkannten es allenfalls als "soft law" oder bestenfalls als "threshold law", d. h. als "Schwellenrecht" zwischen den bereits kodifizierten Pflichten zu internationaler Kooperation und Solidarität und einem sich evolutionär herausbildenden neuen Rechtsprinzip. Aber noch ist nicht einmal in Ansätzen zu erkennen, daß das "Recht auf Entwicklung" als "Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung" in das Völkergewohnheitsrecht inkorporiert werden könnte. Ist also das "Recht auf Entwicklung" nach seiner deklaratorischen Anerkennung als Menschenrecht schon zum rechts- und entwicklungspolitischen Abschreibungsobjekt geworden? Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich die Staaten zu einem Fakultativprotokoll zum "Sozialpakt" durchringen würden, was weder auf der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz noch auf dem Kopenhagener Weltsozialgipfel (1994) gelang. Wenn die Unteilbarkeit der Menschenrechte nicht nur proklamiert, sondern auch die Gleichrangigkeit der politischen und sozialen Menschenrechte durch wirksame Rechtsinstrumente gesichert würde, bedürfte es keines Syntheserechts in Form eines "Rechts auf Entwicklung". Das Monitum von Rüdiger Wolfrum bleibt gebieterisch: "Nicht die normative Entwicklung neuer oder die Weiterentwicklung bereits international anerkannter Menschenrechte, sondern erst die Schaffimg eines wirklichen internationalen Durchsetzungsverfahrens wird den Durchbruch zu einem effektiveren internationalen Menschenrechtsschutz erlauben.,,40
Ein Fakultativprotokoll zum "Sozialpakt" könnte dem Forderungskatalog, den die Deklaration zum Recht auf Entwicklung von 1986 enthielt und der
40 Rüdiger Wolfrum: Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes, in: EA 48 (1993), 681-690, hier 689.
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Bericht der Global Consultation noch erweiterte, mehr Nachdruck verleihen als die Überfrachtung eines "Rechts auf Entwicklung" mit allen denkbaren entwicklungs- und umweltpolitischen Forderungen, die dem Wunschzettel aus einer heilen Welt gleichkommen. Ein "Recht auf alles", das von keiner Staatengruppe und von keiner Person, die von Entwicklung ausgeschlossen ist, eingeklagt werden kann, ist wenig wert und sollte nicht mit dem hohen Anspruch eines "unveräußerlichen Menschenrechts" geschmückt werden. Auf diese Weise werden Menschenrechte entwertet. Ein "Recht auf Entwicklung", das von einzelnen Staaten zur Rechtfertigung des Vorrangs von Entwicklung vor der Einhaltung von politischen Freiheitsrechten mißbraucht werden kann, stellt keinen Fortschritt in der Evolution der Menschenrechte dar. Es war erstens die Inflationierung des "Rechts auf Entwicklung" zu einem "Recht auf alles" und zweitens sein in Ost- und Südostasien erlebter Mißbrauch, die den Autor dieses Beitrags dazu bewogen, vom Befürworter zum Kritiker des "Rechts auf Entwicklung" zu konvertieren. Er wäre erneut zur Konversion bereit, wenn die Konkretisierung eines solchen Rechts oder der in der Völkerrechtsordnung bereits verankerten Kooperations- und Solidaritätspflicht zur Überwindung der "globalen Apartheid" beitragen könnte, also als verpflichtendes Anspruchsrecht auf menschenwürdige Lebensbedingungen ausgestaltet würde. Derzeit hat die Rechtsfigur noch eher die kontraproduktive Funktion, Verpflichtungen durch ein wohlfeiles Bekenntnis zu ersetzen oder die Mißachtung von politischen Freiheitsrechten zu rechtfertigen. Ein somißbrauchtes und mißbräuchliches "Menschenrecht" verdient keine Verteidigung. Und deshalb wurde das "Recht auf Entwicklung" in Anführungszeichen gesetzt.
Entwicklung und Menschenrechte Eine empirische Analyse
Von Brigitte Ramm
Das auf der 2. Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien einstimmig verabschiedete Abschlußdokument betont den Zusammenhang von Menschenrechten und Entwicklung: "Demokratie, Entwicklung und Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten bedingen und stärken einander. Die Demokratie beruht auf dem frei zum Ausdruck gebrachten Willen des Volkes, über seine politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Systeme selbst zu bestimmen, und auf seiner vollen Teilnahme an allen Aspekten seines Lebens. In diesem Sinne soll die Förderung und der Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf nationaler und internationaler Ebene umfassend sein und ohne einschränkende Bedingungen verwirklicht werden. Die internationale Gemeinschaft soll die Stärkung und Förderung der Demokratie, der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung und die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf der ganzen Welt unterstützen. ,,1 Diese Auffassung steht im Einklang mit Artikel 28 der Al/gemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, der die globale Verantwortung für Entwicklung betont: "Jedermann hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung aufgeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können. ,,2 Mit dem Wiener Abschlußdokument bekennt sich die internationale Staatengemeinschaft zu ihrer Verantwortung für den globalen Entwicklungsprozeß. 1 DGVN (Hg.): Dokumente Z\U' Weltrnenschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen 14. bis 25. Juni 1993 in Wien. Dokumentationen, Informationen, Meinungen, Nr. 50, Bonn 1993, 8. 2 Abgedr. in: C. Tornuschat (Hg.): Menschenrechte. Eine Sammlung internationaler Dokumente zum Menschenrechtsschutz, Bonn 1992, 31.
7 Dicke u.'.
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I. Zum Zusammenhang von Entwicklung und Menschenrechten Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik kam und kommt es zu konträren Auffassungen über den Zusammenhang von Menschenrechten und Entwicklung. Ist die Verwirklichung der Menschenrechte Voraussetzung für Entwicklung oder umgekehrt? In den USA findet man häufig die Auffassung, daß ohne politische Freiheit ökonomische Entwicklung unmöglich sei. 3 Vertreter ost- und südostasiatischer Regierungen propagieren hingegen eine entgegengesetzte Auffassung. Sie formulieren eine Art Etappenmodell, wonach zuerst ein gewisser Stand an sozioökonomischer Entwicklung erreicht sein müsse, bevor der einzelnen Person politische Freiheitsrechte gewährt werden könnten. Neuerdings wird von einigen Politikern dieser Region selbst dieses Etappenmodell verworfen. Die individuellen Menschenrechte werden aufgrund ihrer ideengeschichtlichen und historischen Genese in Europa als vermeintlich westliches Konzept insgesamt in Frage gestellt. Die Debatte über den Zusammenhang von Entwicklung und Menschenrechten spiegelt sich auch in der Auseinandersetzung über die Gewichtung unterschiedlicher Menschenrechte wider. Bereits bei der Erarbeitung und Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Dezember 1948 wurden die Menschenrechte zum ideologischen Spielball im Ost-WestKonflikt, wobei es in bezug auf die Menschenrechte vor allem um die Frage ging, welche Gruppe von Rechten vorrangig sei. So betonten die USA die klassischen bürgerlichen Freiheiten und politischen Rechte. Vertreter sozialistischer Regierungen hingegen stuften die Verwirklichung der sozialen und ökonomischen Rechte als höherrangig ein. Als Ausdruck des sich zu Beginn der 50er Jahre verschärfenden Ost-West-Konfliktes ist die Aufteilung der Menschenrechte in zwei völkerrechtliche Verträge zu werten. Am 16. Dezember 1966 wurden der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte ("Zivilpakt") und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ("Sozialpakt") von der Generalversammlung einstimmig verabschiedet. Beide Verträge traten 1976 in Kraft. Der Zusammenhang von Entwicklung und Menschenrechten ist auch theoretisch umstritten. So formulierte Richard Löwenthal die These, daß in einer ersten Phase Entwicklung nur durch die Einschränkung individueller Freiheit
3 In diesem Sinn äußerte sich kürzlich die Heritage Foundation in: Welt 3m Sonntag vom 5. Januar 1997, 5.
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möglich sei. 4 Diese These läßt sich empirisch durch die Erfolge (süd-)ostasiatischer Entwicklungsdiktaturen stützen, die als sogenannte kleine Tiger wirtschaftliches Wachstum nicht nur nachholten, sondern heute höhere wirtschaftliche Wachstumsraten als die westlichen Industriestaaten aufweisen. In anderen Regionen hingegen, z. B. in Afrika, konnten diktatorische Regime keine erfolgreichen Entwicklungsprozesse einleiten. Insofern läßt sich die These Löwenthals empirisch sowohl be- als auch widerlegen. Zusätzliche Bedingungen für einen erfolgreichen Entwicklungsprozeß müssen offensichtlich vorhanden sein. Nicht nur Löwenthal favorisierte einen EntwicklungsbegrifI, der auf dem Fortschrittsgedanken und auf ökonomischem Wachstum basiert. Ökonomische Wachstumsmodelle waren nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl theoretisch wie praktisch bestimmend. Sie folgen gemeinsamen Grundannahmen: Unterentwicklung ist Ausdruck von Kapitalmangel; Entwicklung ist nur möglich durch ökonomisches Wachstum und Industrialisierung; die Entwicklungsländer partizipieren am Wachstum der Weltwirtschaft durch den sogenannten "trickle-down" Effekt, wonach das allgemeine Wachstum der Weltwirtschaft und der Industrieländer auch positive Effekte für die Entwicklungsländer haben würde. Daß dies eine verhängnisvolle Täuschung ist, zeigen die seit nunmehr 30 Jahren ausgerufenen und enttäuschend verlaufenen Entwicklungsdekaden der Vereinten Nationen. Besonders die 2. Dekade (1971-1980) und die 3. Dekade (1981-1990) gelten als Jahrzehnte der Frustration und als verlorene Jahrzehnte. Sieht man von den wirtschaftlich erfolgreichen Schwellenländern ab, dann klafft die Schere zwischen armen und reichen Ländern weiter auseinander denn je, wie Elmar Altvater nachweist: "Im Jahre 1965 lebten in den nach Weltbankkriterien - Ländern mit hohem Einkommen ( ... ) 20,4 % der Weltbevölkerung; 1989 waren es noch 16,0 %. Ihr Anteil am globalen Bruttoinlandsprodukt hingegen erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 70,2 % auf 73,5 %. Die Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen (das sind die 'Entwicklungsländer') hingegen stellten 1965 71,9 % und 1989 77,9 % der Weltbevölkerung, produzierten aber 1965 19,0 % des Weltsozialprodukts und 1989 nur noch 16,2 %."~
4 Vgl. Richard Löwenthai: Staatsfimktion Wld Staatsform in den EntwicklWlgsländern, in: F. Nuscheler (Hg.): Politikwissenschaftliche EntwicklWlgsländerforschWlg, Darmstadt 1986, 241-275, hier 266f. ~ Elmar Altvater: Stammeswesen im globalen Dorf, in: Blätter für deutsche Wld internationale Politik 37 (1992),540-551, hier 542f. 7'
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Auch in den Menschenrechtsdokumenten der Vereinten Nationen findet sich der ökonomische Fortschrittsglaube. So formuliert der Sozialpakt in Art. 11 Abs. 1 zunächst "das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie ... , einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung".6 Weiter wird in diesem Artikel vom Recht auf "eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen" gesprochen, wobei zwischen Industrie- und Entwicklungsländern nicht differenziert wird. Dieser Wachstumsglaube bestimmte ursprünglich auch die Diskussion um das Recht auf Entwicklung. Der Völkerrechtler Christian Tomuschat charakterisiert dieses Recht deshalb als "geistesgeschichtlich C... ) ein Kind der fortschrittsgläubigen 60er Jahre. ,,7 Die Diskussion um eine nachhaltige Entwicklung hat in der Zwischenzeit verdeutlicht, daß eine Entwicklung, die auf ungehemmtes ökonomisches Wachstum setzt, nicht nur illusorisch, sondern auch gefahrlich ist. Offen ist dabei, in welchem Umfang ökonomisches Wachstum weiter notwendig ist und ob dieses Wachstum allen Regionen der Erde gleichermaßen zugute kommen soll. In seinem ersten Jahresbericht "Human Development Report 1990" hat das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP ein Modell der menschlichen Entwicklung vorgeschlagen. Für UNDP bedeutet menschliche Entwicklung, die Wahlmöglichkeiten der einzelnen Person vor allem durch die Herstellung der Chancengleichheit und durch Partizipation in umfassender Weise zu erhöhen und abzusichern. Mit diesem Ansatz ist es UNDP gelungen, in der entwicklungspolitischen und -theoretischen Diskussion zu einem Wandel des Entwicklungsparadigmas von einer auf ökonomisches Wachstum orientierten Entwicklung hin zu einer umfassenden menschlichen Entwicklung beizutragen. Darüber hinaus will UNDP auch das BSP als Maß für Entwicklung ablösen. Mit der Veröffentlichung des sogenannten Human Development Index (HDI), der regelmäßig im Human Development Report erscheint, hat sich UNDP somit ein ehrgeiziges Ziel gesteckt. Dieser HDI ist konzipiert als Ausdruck für den Lebensstandard und Wohlstand in einer Gesellschaft. Zur Messung menschlicher Entwicklung verknüpft UNDP verschiedene Indikatoren (Lebenserwartung bei Geburt, Alphabetisierung und persönliche Kaufkraft pro Kopf) zu einem Index über menschliche Entwicklung. Abgedr. in: Tomuschat: Menschenrechte (= Anm. 2), 35. Christian Tomuschat: Das Recht auf Entwickhmg, in: GYIL 25 (1982), 85-112, hier 108. 6
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Während in früheren Berichten die Bedeutung der sozialen Entwicklung im Vordergrund stand, betont UNDP im "Human Development Report 1996" die Notwendigkeit von ökonomischem Wachstum für menschliche Entwicklung. Die Hauptthese des Berichts ist, "that more economic growth, not less, will generally be needed as the world enters the 21st century.,,8 China gilt als Beweis dafür, daß ökonomisches Wachstum und menschliche Entwicklung erfolgreich zusammengehen können. 9 Keine Erwähnung findet dabei, daß der brutale Manchesterkapitalismus des chinesischen Regimes nicht nur einhergeht mit schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen, mit Arbeitslagern und Landflucht, sondern auch mit Umweltzerstörungen und der Verarmung großer Teile der Bevölkerung bei gleichzeitiger Bereicherung weniger. China ist derzeit sicherlich keine Gesellschaft, die den Grundsätzen der von UNDP 1994 vorgeschlagenen Weltsozialcharta nahekommen würde. Zwar wollte UNDP nie auf ökonomisches Wachstum für Entwicklung verzichten, doch wurde es nie so in den Vordergrund gerückt wie im 96er Bericht. Über die Hintergründe dieser Umorientierung werden keine Angaben gemacht.
11. Der empirische Zusammenhang von Entwicklung und Menschenrechten Die folgende empirische Analyse ist der Versuch, mit Hilfe von Aggregatdaten den Zusammenhang von Entwicklung und Menschenrechten weltweit zu überprüfen. 10 Aggregatdaten können die konkrete Lage eines Staates nur grob erfassen. Daten, die interne und regionale Unterschiede und Ungleichheiten in einem Land indizieren, sind in der Regel nicht für alle Staaten vorhanden, so daß ein differenzierter internationaler Vergleich schwierig ist. Darüber hinaus darf von Analysen mit Aggregatdaten nicht auf die Situation der einzelnen Staaten geschlossen werden. Analysen mit Aggregatdaten vermitteln einen Blick auf die Globallage, von der die Einzelsituation abweichen kann.
UNDP: H~an Development Report 1996, New York IOxford 1996, l. Vgl. ebd., 6. 10 Die BerechnWlgen wurden zusammen mit Dipl.-Soz.Wiss. Klaus Simon durchge-
8
9
führt.
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In der hier vorgestellten Analyse wirken Indikatoren für die soziale, ökonomische und politische Lage der Staaten als unabhängige Variablen auf eine Skala. die das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen zum Ausdruck bringt, als abhängige Variable ein. 11
~iale Indikatore0 schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen
Abb. I: Darstelhmg des Analysemodells
Freedom House verwendet für politische Rechte Indikatoren, die im wesentlichen demokratische Verhältnisse oder, um es präziser zu fassen, die Verwirklichung des westlichen Demokratiemodells messen. Die Prüfliste für politische Rechte enthält neun Merkmale, die auf freie und faire Wahlen fokussieren. Darüber hinaus werden das Recht auf Selbstbestimmung und Autonomierechte für Minderheiten angesprochen. Zwei Zusatzfragen sollen die Kontexte traditioneller Monarchien und die Herrschaft unter multi ethnischen Bedingungen erfassen. Die 13 Merkmale der Liste für bürgerliche Freiheiten erfassen die klassischen bürgerlichen Freiheitsrechte, von der Meinungsfreiheit über Chancengleichheit und Freiheit von sozialer Ungleichheit bis hin zur Freiheit von extremer Regierungsuntätigkeit und Korruption. Auch die Religionsfreiheit ist in der Liste der bürgerlichen Freiheiten enthalten. Jedes Land wird anhand dieser Merkmalslisten bewertet. Dies bildet die Basis für die 11 Die sozioökonomischen Daten stammen überwiegend aus verschiedenen Jahrgängen des W orId Development Report der Weltbank \Dld des Human Development Report von UNDP. Die politische Lage wird dW'ch Daten der amerikanischen Menschenrechtsorganisation Freedom House erfaßt.
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Entwickhmg \Dld Menschenrechte
Einordnung auf einer jeweils siebenstufigen Ordinal-Skala für "Politische Rechte" bzw. "Bürgerliche Freiheiten". Die Freiheit der Medien spiegelt sich in einem Index für "Pressefreiheit" von Freedom House wider. Dieser Index erfaßt die Unabhängigkeit der Druckmedien und des Fernsehens und Radios auf einer dreistufigen Ordinalskala. Tab. J: Unabhängige Variablen soziale Indikatoren
ökonomische
politische Indikatoren
Indikatoren - Lebensqualität
- BIP
- politische Rechte
- Lebenschancen
- persönliche Kaufkraft
- bürgerliche Freiheiten
pro Kopf - Emähnmgssituation
- Inflationsrate
- Erzieh\Dlg
- Anteil des Exports am
- Freiheit der Medien
BIP - Staatsausgaben für Wohlfahrt - Bevölker\Dlgsdichte \Dld -wachstum
- Anteil des Imports am BIP - Anteil der Militärausgaben an den Staatsausgaben - Öffentliche Entwickl\Dlgshilfe (ODA) - Auslandsschulden
Als abhängige Variable kommt eine fünfstufige Skala zum Einsatz, die über sogenannte schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen (gross human rights violations) informiert, d. h. jenen staatlichen Terror, der die Integrität der Person verletzt. Die "Politische Terror Skala" (PTS) wurde zu Beginn der 80er Jahre erstmals vom Freedom House vorgestellt. Heute arbeiten Wissenschaftler an der Purdue University in Indiana sowie an den Universitäten Leiden, Niederlande, und in Duisburg mit dieser Skala. Sie dient als Meßinstrument zur Auswertung internationaler Menschenrechtsberichte, die über schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen informieren. Dazu zählen die Country Reports des US-State Department, die Jahresberichte von amnesty international und von Human Rights Watch. Die folgende Tabelle zeigt die fünf Stufen der "Politischen Terror Skala".
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Brigitte Hamm Tab. 2: Abhängige Variable "Politische Terror Skala" (PTS)
Stufe
Beschreibung der Stufe u
Stufe 1
Gute Menschenrechtslage: In Ländern mit sicherer rechtsstaatlicher Ordnung gibt es keine politischen Gefangenen. Folter und politische Morde sind äußerst selten.
Stufe 2
Ziemlich gute Menschenrechtslage: Inhaftierung wegen gewaltloser Opposition kommt in begrenztem Umfang vor. Folter ist die Ausnahme, politische Morde sind selten.
Stufe 3
Schlechte Menschenrechtslage: Politische Haft ist bzw. war injÜllgster Zeit gängige Praxis. Hinrichtungen und politische Morde können häufig vorkommen, ebenso unbegrenzte Haft wegen politischer Ansichten.
Stufe 4
Sehr schlechte Menschenrechtslage: Die Praxis von Stufe 3 hat sich zahlenmäßig ausgeweitet. Mord, "Verschwindenlassen" und Folter sind an der Tagesordnung. Der Terror richtet sich vornehmlich gegen Menschen, die wegen ihrer politischen oder weltanschaulichen Auffassungen verfolgt werden.
Stufe 5
Katastrophale Menschenrechtslage: Der Terror der Stufe 4 ist auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet worden. Die politischen Führer wenden auch brutalste Mittel zur Verwirklichung ihrer persönlichen und ideologischen Ziele an.
1. Ökonomischer Entwicldungsstand und Menschenrechte Bevor in einer multiplen Regressionsanalyse der Einfluß sozialer, ökonomischer und politischer Indikatoren auf die Menschenrechtslage geschätzt wird, soll zunächst allein der Zusammenhang von ökonomischem Entwicklungsstand und Menschenrechtslage genauer betrachtet werden.
12 Die Idee zu dieser Kurzbeschreibung der Stufen der Skala stammt von Studierenden eines Methodenserninars im Fach Politikwissenschaft an der Universität Duisburg.
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Eine Klassifizierung der Staaten nach ökonomischen Kriterien erweist sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Auseinanderbrechen von Jugoslawien als schwierig. Wo sollen die neu entstandenen Transformationsgesellschaften auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, wo soll z. B. Serbien eingestuft werden? Mit der Einteilung in Industrieländer, Entwicklungsländer und unterentwickelte Länder akzeptiert man große Unterschiede der Staaten in diesen Gruppen im Hinblick auf ihren ökonomischen Entwicklungsstand. Auch die Mitgliedschaft in der OECD garantiert keinen einheitlichen ökonomischen Entwicklungsstand, wenn man bedenkt, daß neben den G 7-Staaten Länder wie Tschechien, Mexiko und neuerdings Süd-Korea Mitglieder der OECD sind. Für eine erste Überprüfung des Zusammenhangs von ökonomischem Entwicklungsstand und Menschenrechtslage wird deshalb auf das Pro-KopfEinkommen eines Landes zurückgegriffen. Es wird berechnet als Verhältnis des Bruttoinlandprodukts zur Bevölkerungszahl. Das Pro-Kopf-Einkommen ist ein umstrittener Indikator, der den wirklichen Wohlstand der Bevölkerung aus vielfältigen Gründen nicht vermitteln kann. So werden die nationale Einkommensungleichheit oder geschlechtsspezifische Ungleichheiten im Einkommen durch ein solches Maß verschleiert. Hier wird das Pro-Kopf-Einkommen eines Landes nicht als realer Wohlstandsindikator eingesetzt, sondern die Klassifizierung der Staaten nach dem Pro-Kopf-Einkommen 13 soll als Differenzierung der Länder entsprechend ihrem ökonomischen Entwicklungsstand dienen. Tabelle 3 zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem allgemeinen Wohlstand eines Landes und seiner Menschenrechtslage, der sich in dem Zusammenhangsmaß Somer's D von -.49 und in einem Gammawert von -.62 ausdrückt. Die Staaten mit hohem Pro-Kopf-Einkommen befinden sich ausschließlich in Stufe 1 und 2 der PfS. Staaten mit einer sehr schlechten und katastrophalen Menschenrechtslage hingegen haben nur ein niedriges bzw. mittleres Pro-Kopf-Einkommen. Rund 45 % der Staaten mit niedrigem ProKopf-Einkommen sind in Stufe 4 und 5 der PfS gegenüber 23 % der Staaten mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen in diesen Stufen. Hingegen liegen mehr als die Hälfte der Staaten mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen, d. h. 58,2 % in den Stufen 1 und 2 der PfS, d. h. sie haben eine relativ gesicherte Menschenrechtslage. Dies gilt nur für knapp ein Drittel (rund 29 %) der Staaten mit niedrigem Einkommen. 13
Vgl. UNDP: Human Development Report (= Anm. 8), 226.
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Brigitte Ramm Tab. 3: Zusammenhang Pro-Kopf-Einkommen und Menschenrechtslage
Zellen: Absolut Reihen % Spalten % Politischer Terror 1993
Pro-Kopf-Einkommen 1993 8) niedrig
mittel
hoch
7
28 48,3 32,6
23 39,7 82,1
25,0 16,1
22 61,1 25,6
5 13,9 17,9
48,4 26,8
51,6 18,6
0,0 0,0
Sehr schlechte Menschenrechtslage
57,1 28,6
42,9 14,0
0,0 0,0
Katastrophale Menschenrechtslage
52,9 16,1
47,1 9,3
0,0 0,0
Stufe 1 Gute Menschenrechtslage Stufe 2 Ziemlich gute Menschenrechtslage
12,1 12,5 9
------------------------------------------Stufe 3 15 16 o Schlechte Menschenrechtslage
------------------------------------------Stufe 4 16 12 0 ------------------------------------------Stufe 5 9 o 8 a) niedriges Einkommen: weniger als 695 USoS, mittleres Einkommen: zwischen 696 md 8625 USoS, hohes Einkommen: über 8625 USoS
Insgesamt läßt sich festhalten, daß Menschenrechte in armen Staaten besonders gefahrdet sind. Ein zunehmender ökonomischer Entwicklungsstand hingegen erweist sich für die Menschenrechtslage als günstig. Eine solche Aussage darf jedoch nur als Trendaussage für die Staaten insgesamt verstanden werden. Für immerhin 20 Staaten mit einem mittleren Pro-KopfEinkommen trifft diese Aussage nicht zu, da dort die Menschenrechtslage 1993 sehr schlecht bis katastrophal war. Zu diesen Staaten gehören z. B. Mexiko, Algerien, die Türkei und Kolumbien.
2. Regressionsschätzung der Menschenrechtslage Im folgenden soll die internationale Menschenrechtslage mit Hilfe von Informationen über die soziale, ökonomische und politische Lage geschätzt werden. Als Analyseverfahren für eine solche Schätzung eignet sich das Regressi-
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onsmodell, das die Streuung einer abhängig metrischen Variablen auf der Basis einer oder mehrerer abhängiger Variablen überprüft. Die PTS mit ihren fünf Ausprägungen wird hier als approximativ metrische Variable verstanden. Die Kohärenz der unabhängigen Variablen läßt sich zunächst in einer Faktorenanalyse überprüfen. Damit soll die theoretische Annahme, daß die verwendeten Indikatoren tatsächlich die soziale, die ökonomische und die politische Lage der Staaten der Welt abbilden, getestet werden. Die Faktorenanalyse ermittelt statistische Dimensionen (Faktoren), denen die Variablen entsprechend der höchsten Faktorladungen zugeordnet werden. Eine Faktorenanalyse ergibt zwei konstante Faktoren. Sie lassen sich als Faktor "Menschliche Entwicklung" und als Faktor "Demokratierückstand" beschreiben. Ein dritter Faktor, auf den die Variablen insgesamt weniger hoch laden, könnte als "Demographie-Faktor" beschrieben werden. Neben Informationen über die "Bevölkerungsgröße", die "Anzahl der Ethnien" lädt auch die "Öffentliche Entwicklungshilfe (ODA)" auf diesem Faktor hoch. Die folgende Tabelle nennt die Indikatoren, die auf den ersten beiden Faktoren am höchsten laden. Tab. 4: Faktoren "Menschliche Entwicklung" und "Demokratierückstand" Faktor 1: Menschliche Entwickl\Ulg Variable
F aktorlad\Ulg
- Lebenserwartung bei Geburt - Kindersterblichkeit
.92 -.89 .87 .86 .84 .83 -.63
- persönl. Kaufkraft pro Kopf - durchschnittl. Schuljahre - Alphabetisier\Ulgsrate - Kalorien pro Kopf - Bevölkef\Ulgswachstum
Faktor 2: Demokratierückstand Variable - Freiheit der Medien - politische Rechte - bürgerl. Freiheiten
Faktorlad\Ulg
.91 .84 .81
Interessanterweise hat sich kein eigenständiger Faktor für die ökonomische Situation eines Landes herausgebildet, sondern soziale Indikatoren und der eher sozioökonomische Indikator "Persönliche Kaufkraft pro Kopf' bilden gemeinsam den Faktor "Menschliche Entwicklung". Dies kann an der Modellkonfiguration, d. h. den in die Analyse eingeführten Indikatoren, liegen. Möglicherweise müßten weitere eindeutig ökonomische Variablen, die z. B. die Investitionstätigkeit erfassen, in die Analyse eingeführt werden. Zumindest aber zeigt sich, daß soziale und ökonomische Entwicklung nicht voneinander
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unabhängig zu sehen sind. Die beiden Faktoren "Menschliche Entwicklung" und "Demokratierückstand" sind als zwei voneinander unabhängige, die Lage von Staaten strukturierende Dimensionen aufzufassen. Als unabhängige Variablen werden für die Regressionsanalyse jene Indikatoren ausgewählt, die mit den Faktoren "Menschliche Entwicklung" und "Demokratierückstand" stark korrelieren, d. h. sogenannte hohe Faktorladungen haben. Eigentlich sollten die drei politischen Indikatoren, "Pressefreiheit", "Politische Rechte" und "Bürgerliche Freiheiten", die zusammen den Faktor "Demokratierückstand" bilden, als unabhängige Variablen in die Regressionsanalyse eingehen. Da zwei der 13 Merkmale der Skala "Bürgerliche Freiheiten" aber schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen und die Beachtung der Rechtsstaatlichkeit erfassen, wird befürchtet, daß diese Skala zum Teil dasselbe mißt wie die abhängige Variable PTS. Deshalb werden nur die Skalen für "Pressefreiheit" und für die "Politischen Rechte" für die Regressionsschätzung herangezogen. Der Vollständigkeit halber werden auch einige ökonomische und demographische Variablen in die Analyse aufgenommen. Folgende Variablen gehen in die Regressionsanalyse ein: Variablen zur demographischen Lage: - Anzahl der Ethnien - Bevölkenmg in Millionen - Bevölkenmgswachstwn Sozialindikatoren: - Kalorienzufuhr pro Kopf - Alphabetisienmgsrate - Kindersterblichkeit bis zum 5. Lebensjahr - Zahl der durchschnittlich besuchten Schuljahre - Lebenserwartung bei Geburt ökonomische Indikatoren: - Wachstwnsrate des BSP pro Kopf - persönliche Kaufkraft pro Kopf - Entwickhmgshilfe (ODA) politische Indikatoren: - Pressefreiheit - politische Rechte
Für die Regressionsanalyse wurde die Methode "rückwärts" gewählt, bei der alle unabhängigen Variablen zunächst in der Regressionsschätzung Berücksichtigung finden. Schritt für Schritt werden bei diesem Analyseverfahren nicht-signifikante unabhängige Indikatoren aus der Regressionsschätzung
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Entwickhmg Wld Menschenrechte
entfernt. Die letzte Schätzung schließlich erfolgt nur mit den für das Modell signifikanten Indikatoren. Mit Hilfe der Kenntnis der sozioökonomischen und politischen Lage der Staaten im Jahre 1991 wird ihre Einstufung auf der PTS in den Jahren 1991 bis 1994 geschätzt. Die folgende Tabelle zeigt die standardisierten Regressionskoeffizienten ß, die bei der letzten Schätzung der Menschenrechtslage (PTS) signifikant bleiben. Tab. 5: Schätzung der Menschenrechtslage (PTS) aDer Länder Standardisierter Regressionskoeffizient ß Signifikante Indikatoren
1991
1992
1993
1994
LebenserwartWlg persönliche Kaufkraft pro Kopf Pressefreiheit Anzahl der Ethnien Kindersterblichkeitsrate bis 5. Lebensjahr Anteil der erklärten StreuWlg R2 Reduktion von R2 gegenüber der EingangsschätZWlg
.50 -.86 .43 .24
1.05 -.79 .37 .17 .79 58% -2%
.34 -.88 .29 .33
-.72 .20
50% -3 %
52% -3 %
49% -4%
Tabelle 6 dokumentiert die Ergebnisse derselben Regressionsschätzung nur für die Entwicklungsländer. Tab. 6: Schätzung der Menschenrechtslage (PTS) der Entwicklungsländer Standardisierter Regressionskoeffizient ß Signifikante Indikatoren
1991
1992
1993
1994
LebenserwartWlg persönliche Kaufkraft pro Kopf Pressefreiheit Anzahl der Ethnien
.37 -.43 .49 .30
-.19 .20 .48
-.30 .20 .42
Kindersterblichkeitsrate bis 5. Lebensjahr Wachstumsrate der Bevölkerwtg Anteil der erklärten StreuWlg R2 Reduktion von R2 gegenüber der EingangsschätZWlg
1.03 -.42 .38 .24 .83
-.22 34% -5 %
38% -5 %
30% -6%
31 % -4%
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Die Tabellen 5 und 6 zeigen, daß sich die Schätzung der Menschenrechtslage (R2) ausgehend von der allgemeinen Lage der Staaten 1991 leicht verschlechtert, wenn die zeitlich weiter entfernt liegende Menschenrechtslage betrachtet wird. Unterschiede im Ausmaß der Verletzung der Menschenrechte, wie sie in der PTS erfaßt sind, lassen sich zu einem beträchtlichen Teil durch die unterschiedliche sozioökonomische und politische Lage der Staaten erklären. Der Anteil der erklärten Streuung auf der PTS liegt bei allen Staaten über die vier Jahre hinweg bei durchschnittlich 52 % und bei der Modellrechnung für die Entwicklungsländer bei durchschnittlich rund 33 %. Es ist zu beachten, daß die signifikanten Regressionskoeffizienten abhängig von der Modellkonfiguration sind. a) Die Freiheit der Medien und die Menschenrechte Die Tabellen 5 und 6 zeigen beim hier vorgestellten Analysemodell eine relativ einheitliche Struktur der signifikanten Regressionskoeffizienten ß. Über die Jahre hinweg ist die Pressefreiheit oder Freiheit der Medien für den Schutz der Menschenrechte, wie er durch die PTS gemessen wird, von signifikanter Bedeutung. Auf der Skala für "Pressefreiheit" und auf der PTS bedeuten hohe Werte eine schlechte Bewertung hinsichtlich der Beachtung dieser Menschenrechte. Die positiven ß-Koeffizienten bringen deshalb zum Ausdruck, daß schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen besonders häufig erfolgen, wenn die Freiheit der Medien mißachtet wird. Dies leuchtet unmittelbar ein, da eine freie Berichterstattung die Verheimlichung von Menschenrechtsverbrechen erschwert. Möglicherweise kann die Variable "Pressefreiheit" auch umfassender als Indikator für die Beachtung der bürgerlichen Freiheiten insgesamt verstanden werden. Dies müßte aber in weiteren Analysen überprüft werden. Es mag zunächst tautologisch erscheinen, mit Hilfe der Pressefreiheit schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen erklären zu wollen. Die Pressefreiheit gehört ebenso zu den politischen Menschenrechten wie die Integrität der Person und die Beachtung der Rechtsstaatlichkeit, deren Verletzung die PTS mißt. Die Pressefreiheit einerseits sowie andererseits die Integrität der Person und die Beachtung der Rechtsstaatlichkeit werden hier als unterschiedliche Gruppen der politischen Menschenrechte verstanden, die bei einer Diskriminanzanalyse voneinander abweichende Gewichte erhalten. 14
14 Vgl. Dipak K. Gupta / Albert J. Jongman / Alex P. Schmid: Creating a Composite Index for Assessing COlUltry Performance in the Field ofHuman Rights: Proposal for a New Methodology, in: HRQ 16 (1994), 131-162, hier 145.
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Neben der empirischen Überprüfung läßt sich die Trennung der Freiheit der Medien von Rechten, die die Integrität der Person berühren (Verbot der Folter, der politischen Morde, des Verschwindenlassens und die Beachtung der Rechtsstaatlichkeit), auch theoretisch begründen. Denn während jede Regierung das Verbot der Folter, der politischen Morde und des Verschwindenlassens zumindest in der Theorie anerkennt, ist die Bedeutung der bürgerlichen Freiheiten durchaus umstritten. So gilt in den USA die Redefreiheit als die individuelle Freiheit schlechthin. Unter Berufung auf die Redefreiheit konnten in den USA Bemühungen, Pornographie im Internet zu verbieten, zu Fall gebracht werden. Der amerikanische Politologe Samuel Huntington geht so weit, die Ergebnisse der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien als völlige Niederlage für den Westen einzustufen, weil bürgerliche Freiheiten wie die Rede-, Presse-, Versammlungs- und Religionsfreiheit nicht explizit bekräftigt worden seien. 15 Vertreter (süd-)ostasiatischer Staaten und islamistischer Regime stellen hingegen gerade die bürgerlichen Freiheiten als typisch westliche "Errungenschaften" dar, die auf ihre jeweiligen Kulturkreise nicht zu übertragen seien. Die vorliegende empirische Analyse zeigt jedoch, daß Gesellschaften, die die Freiheit der Medien respektieren, auch eher schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen vermeiden. Dieser Befund gilt auch für die Entwicklungsländer und kann empirisch - mit aller Vorsicht - kulturrelativistische Argumentationen, daß bürgerliche Freiheiten nur im sogenannten Westen von Bedeutung seien, widerlegen. Auf jeden Fall zeigt dieses Ergebnis, daß Entwicklung die politische Dimension einschließt. Bei Verwirklichung der Pressefreiheit können schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen eher vermieden werden. Die zweite Variable für die politische Lage, die Skala "Politische Rechte", erweist sich (bis auf ein Jahr) in den Regressionsschätzungen als nicht signifikant. Dies deutet darauf hin, daß die bloße Durchführung von Wahlen, die diese Skala erfaßt, keinen positiven Effekt auf den Schutz der Menschenrechte hat. b) Die sozioökonomische Lage und die Menschenrechte Neben der Variable "Pressefreiheit" sind vor allem die "Persönliche Kaufkraft pro Kopf (Personal Purchasing Power)" und die "Lebenserwartung bei Geburt" relevant für die Schätzung der Menschenrechtslage. Das negative 15 Vgl. Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996, 196.
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Vorzeichen des standardisierten Regressionskoeffizienten ß bei der Variablen "Persönliche Kaufkraft pro Kopf' bringt einen negativen Einfluß auf die Menschenrechtslage zum Ausdruck. Da die schlechteste Menschenrechtslage in Stufe 5 ist, bedeutet ein negativer Einfluß, daß es zu schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen besonders häufig kommt, wenn die "Persönliche Kaufkraft pro Kopf' niedrig ist. Dasselbe gilt für die "Lebenserwartung bei Geburt". Zwar ist hier das Vorzeichen positiv, doch ist dies technisch bedingt. Durch die Zusammenführung verschiedener Indikatoren in der multiplen Regression können sich Effekte ergeben, die das Vorzeichen umkehren. Bei der Überprüfung des Vorzeichens in einer einfachen Regression ergibt sich ein negatives Vorzeichen der Variable "Lebenserwartung bei Geburt". Die "Persönliche Kaufkraft pro Kopf' kann sowohl als sozialer Indikator für den durchschnittlichen Lebensstandard als auch als Ausdruck des ökonomischen Entwicklungsstandes gewertet werden. Die herausragende Bedeutung dieses Indikators in den Regressionsschätzungen weist zum einen auf das Zusammenwirken von ökonomischer und sozialer Entwicklung hin. Zum anderen zeigen die signifikanten Regressionskoeffizienten dieses Indikators die Bedeutung der sozioökonomischen Entwicklung für den Schutz der Menschenrechte an. In den meisten Regressionsanalysen hat auch die Variable "Lebenserwartung bei Geburt" einen hohen ß-Koeffizienten. Die Variable "Lebenserwartung bei Geburt" korreliert stark mit anderen S