Martin Buber Werkausgabe: Band 1 Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891-1924 9783641248499

Im ersten Band dieser Edition begegnet uns ein vielfach unbekannter Martin Buber. Neben bisher unveröffentlichten Schrif

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German Pages 396 Year 2001

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
Vorbemerkung
Einleitung
Rede gehalten von Martin Buber an seiner »Barmizwah«-Feier am 8. Februar 1891
»Glaube, Hoffnung, Liebe« (Ewige Jugend)
Zarathustra
Zur Wiener Literatur
Zu Schopenhauers Lehre vom Erhabenen
Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte
Feste des Lebens Ein Bekenntnis
Kultur und Zivilisation Einige Gedanken zu diesem Thema
Zwei Bücher nordischer Frauen
Die Abenteuer des kleinen Walther
A. M. und Constantin Brunner
Daniel Gespräche von der Verwirklichung
Von der Richtung Gespräch in den Bergen
Von der Wirklichkeit Gespräch über der Stadt
Von dem Sinn Gespräch im Garten
Von der Polarität Gespräch nach dem Theater
Von der Einheit Gespräch am Meer
Ereignisse und Begegnungen
Die Burg
Die Fahrt
Mit einem Monisten
Helden
Bruder Leib
Leistung und Dasein
Der Dämon im Traum
Der Augenblick
Pescara, an einem Augustmorgen. Berlin, nach der Heimkehr
Bücher, die jetzt und immer zu lesen sind
Bewegung Aus einem Brief an einen Holländer
Dem Fähnrich Willy Stehr ins Stammbuch
Ein Dankeswort an Alfons Paquet
Aus einem Rundschreiben von Ostern 1914
Was ist zu tun?
Brief an Florens Christian Rang
Geheimnis einer Einheit
Anhang
Kommentar
Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Glossar
Stellenregister
Sachregister
Personenregister
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Martin Buber Werkausgabe: Band 1 Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891-1924
 9783641248499

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Martin Buber Werkausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Israel Academy of Sciences and Humanities herausgegeben von Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer unter Mitarbeit von Martina Urban

Gütersloher Verlagshaus

Martin Buber Werkausgabe 1 Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891-1924 Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Martin Treml

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Die Edition wird seit 1998 aus Mitteln der Alfried Krupp von Bohlen HalbachStiftung sowie 2001 aus Mitteln der German-Israeli Foundation for Scientific Research and Development (G.I.F.) finanziert.

Copyright © 2001 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Umschlaggestaltung: Init Kommunikationsdesign GmbH, Bad Oeynhausen Satz: SatzWeise GmbH, Bad Wünnenberg ISBN 978-3-641-24849-9 www.gtvh.de

Inhalt Vorwort der Herausgeber 9 Vorbemerkung 12 Einleitung 13 Rede gehalten von Martin Buber an seiner »Barmizwah«-Feier am 8. Februar (1891) 93 »Glaube, Hoffnung, Liebe« (Ewige Jugend) (1892) 99 Zarathustra (1896/97) 103 Zur Wiener Literatur (1897) 119 Zu Schopenhauers Lehre vom Erhabenen (1897/98) 131 Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte (1900) 149 Feste des Lebens. Ein Bekenntnis (1901) 153 Kultur und Zivilisation. Einige Gedanken zu diesem Thema (1901) 157 Zwei Bücher nordischer Frauen (1901) 161 Die Abenteuer des kleinen Walther (1901) 169 A. M. und Constantin Brunner (1912) 177 Daniel. Gespräche von der Verwirklichung (1913) 183

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Inhalt

Von der Richtung. Gespräch in den Bergen 183 Von der Wirklichkeit. Gespräch über der Stadt 191 Von dem Sinn. Gespräch im Garten 204 Von der Polarität. Gespräch nach dem Theater 216 Von der Einheit. Gespräch am Meer 234

Ereignisse und Begegnungen (1913-15/1917) 247 Die Burg 247

Buddha 247 Die Fahrt 249

Der Altar 249 Mit einem Monisten 252 Helden 257 Bruder Leib 261 Leistung und Dasein 266 Der Dämon im Traum 271 Der Augenblick 275 An das Gleichzeitige 275 Pescara, an einem Augustmorgen. Berlin, nach der Heimkehr (1914) 277

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Inhalt

Bücher, die jetzt und immer zu lesen sind (1914) 279 Bewegung (1915) 281 Dem Fähnrich Willy Stehr ins Stammbuch (1915) 287 Ein Dankeswort an Alfons Paquet (1916) 289 Aus einem Rundschreiben von Ostern 1914 (1917) 291 Was ist zu tun? (1919) 293 Brief an Florens Christian Rang (1924) 297 Geheimnis einer Einheit (1924) 299 Anhang: Aufstellung der von Buber 1896-1901 belegten Universitätsveranstaltungen 301 Kommentar 305 Abkürzungsverzeichnis 341 Quellen- und Literaturverzeichnis 345 Glossar 365 Stellenregister 369 Sachregister 370 Personenregister 375 Gesamtaufriß der Edition 398

Vorwort der Herausgeber Die Idee einer Martin Buber-Werkausgabe (MBW) wurde von Raphael Buber (1900-1990) – bis zu seinem Tod Verwalter des literarischen Nachlasses seines Vaters in Jerusalem – gemeinsam mit Lothar Stiehm entwickelt. Dieser übernahm 1970 den Lambert Schneider Verlag in Heidelberg, der seit 1925 der Hauptverleger von Bubers Schriften in Deutschland war. Nach dem Tode Raphael Bubers war es dem Engagement seiner Tochter und Nachfolgerin, Professor Judith Buber Agassi, zu verdanken, daß die Vision einer Gesamtausgabe der umfangreichen Schriften ihres Großvaters nicht verloren ging. Das Projekt begann Gestalt anzunehmen, als 1991 der Bleicher Verlag in Gerlingen die Rechte am Werk Bubers erwarb. Lothar Stiehm fungierte für den Bleicher Verlag als Berater und Lektor, betraut mit sämtlichen wissenschaftlichen Fragen in bezug auf Bubers Schriften. Gemeinsam mit Willy Schottroff (1931-1997), Professor für Bibelwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., entwarf er den ersten ausführlichen Plan für eine Werkausgabe. Angelegt als ein deutsch-israelisches Gemeinschaftsprojekt, traten 1995 Willy Schottroff und Paul Mendes-Flohr, Professor für Moderne Jüdische Geistesgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, die Herausgeberschaft der MBW an. Nach Professor Schottroffs zu frühem Tod im Februar 1997 übernahm Peter Schäfer, Professor für Judaistik an der Freien Universität Berlin, die Rolle des deutschen Herausgebers der MBW. Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer orientierten sich an der von Lothar Stiehm und Willy Schottroff erstellten Konzeption der Buber-Werkausgabe, unterzogen diese jedoch einer Überarbeitung. Dabei knüpften die Herausgeber an die wertvollen, von den Initiatoren der Werkausgabe geleisteten Vorarbeiten an. Im Januar 1998 richtete Schäfer am Institut für Judaistik eine Arbeitsstelle Martin Buber-Werkausgabe ein. Martina Urban koordiniert seitdem als wissenschaftliche Mitarbeiterin die Werkausgabe und hat sachkundig dazu beigetragen, die Verwirklichung der Edition voranzutreiben. Im Januar 1999 erwarb das Gütersloher Verlagshaus die verlegerischen Rechte am Gesamtwerk Martin Bubers in deutscher Sprache. Die 21 Bände der Werkausgabe sollen die mehr als sechs Jahrzehnte andauernde, weitverzweigte intellektuelle Tätigkeit Bubers dokumentieren und seinen Beitrag zu den kulturellen und politischen Debatten des 20. Jahrhunderts verdeutlichen. Zusätzlich ist ein Ergänzungsband vorgesehen, der neben Nachträgen und ggf. Korrekturen ein Gesamtregister sowie Bildmaterial enthalten wird. Die Bände sind nach thematischen

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Vorwort der Herausgeber

Gesichtspunkten strukturiert und in sich chronologisch gegliedert. Jedem Band wird vom Bearbeiter eine Einleitung vorangestellt, die vor allem die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Schriften, hauptsächlich im deutschen und hebräischen Sprachraum, diskutiert. Der MBW wird in der Regel die deutsche Erstfassung oder die erste deutsche Übersetzung eines Buber-Werkes zugrunde gelegt, wobei Textvarianten und unmittelbare Erläuterungen zum Text in einem Fußnotenapparat angegeben werden. Darüber hinaus bietet der Fußnotenapparat auch allgemeine Anmerkungen. Im Anschluß an die Texte folgt ein ausführlicher Kommentar mit einem Editionsbericht und der Diskussion wichtiger inhaltlicher Veränderungen späterer Ausgaben sowie der Erörterung zentraler Begriffe und Konzepte des Buberschen Denkens. Da Buber seine Schriften oft mehrmals überarbeitete und, ohne diese Veränderungen zu kennzeichnen, neu herausgab, wird der Kommentar u. a. diese redaktionellen Schritte nachvollziehbar machen. Obwohl im Rahmen der Werkausgabe keine Edition von Bubers Briefwechsel erfolgen kann – es sind mehrere Tausend Briefe erhalten – werden einzelne Briefe dann ediert und aufgenommen, wenn sie als historisches Dokument die Erschließung bestimmter Fragestellungen und Sachverhalte erleichtern. Außerdem präsentiert die MBW auch kürzere Stellungnahmen Bubers in der Tagespresse sowie »Briefe an den Herausgeber«, zumeist politische Zeitfragen betreffend. Schriften, die zuerst auf Hebräisch erschienen, werden übersetzt. Verhältnismäßig kurze, in englischer Sprache verfaßte Stellungnahmen, verbleiben in der Originalsprache. Während Bubers Schriften zur Theorie und Praxis der Übersetzung der Hebräischen Bibel in die MBW Aufnahme finden, konnte die Verdeutschung der Schrift, die Martin Buber zusammen mit Franz Rosenzweig (1886-1929) angefangen und nach dem Tod seines Freundes allein weitergeführt hat, nicht Teil der MBW werden. Daß die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften zusammen mit der Israel Academy of Sciences and Humanities – deren Gründungspräsident Martin Buber war – das Projekt in ihre Obhut genommen hat, ist eine besondere Ehre und unterstreicht den Kooperationscharakter der Werkausgabe. Zusätzlich zu deutschen und israelischen Gelehrten konnten auch Wissenschaftler aus weiteren Ländern und verschiedenen akademischen Disziplinen für die Mitarbeit an der Edition gewonnen werden. Wir möchten an dieser Stelle auch den Sponsoren der Edition für ihr Vertrauen in das Projekt unseren Dank aussprechen. Durch die Anschubfinanzierung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung konnte die Voraussetzung für die MBW geschaffen werden. Seit Januar 2001

Vorwort der Herausgeber

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finanziert die Deutsch-Israelische Stiftung für Wissenschaftliche Forschung und Entwicklung (German-Israeli Foundation) die Werkausgabe. Zuschüsse für Übersetzungen, Reisekosten und andere Ausgaben wurden der Edition vom Franz Rosenzweig Forschungszentrum für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, von der Memorial Foundation for Jewish Culture, New York, und der Lucius N. Littauer Foundation, New York, zuteil. Die äußerst umfangreichen Bestände des Martin Buber Archivs in der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem sind unentbehrlich für die Vorbereitung der MBW. Besonderer Dank gebührt daher Margot Cohn, der Leiterin des Archivs, für ihre selbstlose und professionelle Zusammenarbeit. Hier sei auch Helen Przibilla erwähnt, die seit Februar diesen Jahres als studentische Hilfskraft verschiedene Aufgaben in der Arbeitsstelle übernommen hat. Unser Dank gilt ferner Klaus Vahlbruch, der als Leiter der wissenschaftlichen Publikationen des Bleicher Verlags großes persönliches Engagement für die MBW in ihrem Anfangsstadium aufbrachte, Hansjürgen Meurer, der als Geschäftsführer im Gütersloher Verlagshaus das Projekt engagiert betreut sowie Diedrich Steen, dem Lektor der MBW im Gütersloher Verlagshaus. Paul Mendes-Flohr, Jerusalem

Peter Schäfer, Berlin

Vorbemerkung Mein Dank gilt Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer, den Herausgebern, für das Vertrauen, die wissenschaftliche Förderung und die zahlreichen Gespräche, Martina Urban, der Koordinatorin der Arbeitsstelle Martin Buber Werkausgabe (MBW) am Institut für Judaistik der Freien Universität Berlin für die so erhellende wie genaue Lektüre des Manuskripts und die dauernde Unterstützung, Margot Cohn, der Leiterin des Martin Buber-Archivs der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem, für die häufigen Hinweise und die Gastfreundschaft im Archiv, den Angestellten der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem für die Unermüdlichkeit im Bereitstellen von Material, Corinna Kaiser und Hans-Joachim Schwab für die Hilfe bei der Literatursuche sowie Brigitta Treml und Sylvie Rühl für die bei der Entzifferung von Handschriften und beim Vergleich der Textfassungen. Berlin/Jerusalem, Sommer 2000

Martin Treml

Einleitung 1. Zum Bild Bubers Über seinen Tod hinaus ist Martin Buber (1878-1965) eine umstrittene Persönlichkeit geblieben, der mit ebenso großer Bewunderung wie Skepsis begegnet wird. In Israel nahm man ihn vor allem als »Jekke« wahr, als typisch deutschen Juden, so tiefsinnig wie weltfremd, so prophetisch wie pedantisch. Auch in der Emigration hing er der deutsche Sprache bewundernd an und tat dies gegen den Rat enger Freunde. 1 In Wien geboren und in Galizien aufgewachsen, lebte er seit seinen Studienjahren bis zur Emigration mit sechzig Jahren in der Hauptsache in Deutschland. Daß er einmal Bürger jenes Vielvölkerstaats war, der nach dem Ersten Weltkrieg unterging, vergaß man und hätte es doch an seiner Intonation hören können.2 Ein scharfer Beobachter wie Fritz Mauthner (1849-1923) beschrieb ihn 1906 so: »Gegen Mittag kam Dr. Buber aus Florenz. Seltsam wertvoller Mensch. Polnischer Jude, Freund von Landauer, atheistischer Zionist.« 3 Was auf den ersten Blick als ein widersprüchliches Porträt erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als Beschreibung jener Spannungen, die das vergangene Jahrhundert durchzogen. In welchem besonderen Maß Buber sie verkörperte, zeigen seine Schriften. Man kann es sich leicht machen und in ihm den prototypischen Vertreter einer von vielen Diasporakulturen erblicken. Doch hielt er zwischen Assimilation und Bewahrung stets einen eigenen Kurs. Daß er das deutsche Judentum in seinen Eigenheiten repräsentierte und ab März 1938 in Palästina und später im Staat Israel weiterleben ließ, gab Anlaß zu Anekdoten zumindest in der Generation derer, die freiwillig oder auf der Flucht hierher kamen. So pflegten manche von Bubers Zuhörern, die seine deutschen Schriften und ihren schwierigen Stil kannten, nach einem 1.

2. 3.

Vgl. M. Buber, B II, S. 654 (Bergmann an B., 4. 2. 1938): »Mir scheint, daß Ihr eigentliches Werk noch vor Ihnen liegt. Es müßte damit beginnen, daß Sie der deutschen Sprache endgültig absagen (Sie wissen, daß ich dies nicht etwa aus irgendeiner Absicht gegen das Deutsche sage, Gott behüte) und daß Sie das, was Sie dem jüdischen Volk zu sagen haben, in der schlichten Form eines einfachen Hebräisch sagen; ohnehin hat der Reichtum Ihres Deutschen Sie oft verführt, wenn ich so sagen darf, und Ihrer Wirkung, zumal in dieser harten Zeit, ungeheuer geschadet. Es scheint mir – wenn ich Ihr Wort gebrauchen darf – daß für Sie die Zeit gekommen ist, ›die Tür der Möglichkeiten hinter sich zuzuschlagen‹ und jetzt daran zu gehen, den ganzen Reichtum Ihres Lebens und Denkens nachhause zu bringen.« Vgl. S. Ben-Chorin, Zwiesprache mit Martin Buber, S. 246 f. G. Weiler, Fritz Mauthner, S. 147 (Mauthner an Levysohn, 31. 5. 1906). Buber wohnte »in den Jahren 1905 und 1906 in Florenz[,] wohin er zu längeren Aufenthalten wiederholt zurückkehrte« (Kohn, S. 71).

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Einleitung

Vortrag auf Hebräisch festzustellen, er beherrsche die Sprache doch noch nicht so gut, daß man ihn in gewohnter Weise mißverstehen könne. Tatsächlich sprach er ein gutes Hebräisch, wenngleich er anfangs Skrupel hatte, es auch öffentlich zu tun. Es waren vor allem deutsche Juden – oder solche, die sich wie die ehemaligen Mitglieder des Vereins jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag zu dieser Kultur zählten –, die auch in Israel an dem Interesse nahmen, was Buber zu sagen hatte. Sieht man von Gesprächspartnern und Lesern wie Hugo Bergmann (1883-1975), Werner Kraft (1896-1991), Ernst Simon (1899-1988) ab, die schon in den Jahren in Deutschland in einer engen Verbindung mit ihm standen, so ist er in seiner neuen Heimat ohne größeren Einfluß geblieben, ein Außenseiter in seinen politischen Ansichten und seinem religiösen Denken. Eine Ausnahme bilden die Kibbutzim, in denen er entscheidende Impulse setzte, unter anderem durch seinen Schüler Hermann Gerson (1908-1984).4 Bubers Außenseitertum gilt auch für die Diaspora, freilich mit den wichtigen Ausnahmen Nordamerika, Schweiz und Deutschland. Was den Fall des Landes angeht, das die Familie Buber im Frühjahr 1938 verließ, um nie mehr, außer besuchsweise, zurückzukehren, so ist er auf seine Weise, aber auch für die Rezeption insgesamt, bemerkenswert. Es lohnt, einige Überlegungen dazu anzustellen. Nachdem Buber im westlichen Teil Deutschlands in den fünfziger Jahren wiederentdeckt worden war, galt er bald als derjenige, der das Judentum schlechthin vertreten, über es in autorisierter Weise Auskunft geben und vor allem auch in ein Gespräch mit dem Christentum führen könne. Weil er Deutschen mit der Bitte um christlich-jüdische Zusammenarbeit verständnisvoll und bereit gegenübertrat, übte er, nach den Verbrechen und der lastenden Schuld des Nationalsozialismus, eine befreiende Wirkung aus. Daß er sich aber entschloß, so bald in Deutschland wieder öffentlich aufzutreten, und dort wenige Jahre nach dem Krieg sogar Auszeichnungen und Preise entgegennahm, stieß im Staat Israel unter vielen auf Unverständnis und Verbitterung. Für sie war Buber »der Jude für die Deutschen« geworden. Auf verzerrte Weise spiegelte sich darin ein Urteil, das einer seiner engsten Freunde, Gustav Landauer (1870-1919), gefällt hatte, der ihn, fast ein Menschenalter früher, den »Apostel des Judentums vor der Menschheit« nannte. 5 In Bubers Auffassung vom Judentum, die man nicht nur in Deutschland gerne absolut setzen wollte, fanden christliche Theologen einen innerli4. 5.

Vgl. E. Maoz, The Werkleute, J. Michaeli, Kibbutz Hasorea, S. 6 f., 12, A. Benari, Erinnerungen eines Pioniers, S. 18-25 (Buber und George als Stichwortgeber Gersons). G. Landauer, Martin Buber, S. 90, 96 (= 162, 165).

Einleitung

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chen und um Einheit zentrierten Monotheismus, der auch ihrer Sicht der eigenen Religion entsprach. Sie mußten nur seine Interpretation der Bedeutung des Volks Israel übergehen oder relativieren. Er selbst sprach von »zwei Glaubensweisen«, wenn er emuna und pístis, jüdisches »Vertrauen« und christliches »Für wahr anerkennen« verglich. 6 »Für das erste ist der Glaube ein Stand, in dem man steht, fürs zweite ein Begebnis, das sich an einem begeben hat, oder ein Akt, den man vollzogen hat und vollzieht, oder vielmehr beides in einem.«7 Jesus sei herausragender Vertreter der emuna, während Paulus die pístis repräsentiere. Indem dieser den Kontrapunkt in Bubers Darstellung bildet, ist sie vom Bild des Christentums beeinflußt, wie Friedrich Nietzsche (1844-1900) es zeichnete. 8 Überhaupt komme Paulus eine hervorragende Stellung zu. »Man kann die Zeitalter der christlichen Geschichte nach dem Maße der Vorherrschaft des Paulinismus in ihnen ordnen. […] Paulinisch sind jene Zeitalter, in denen die Widersprüche des menschlichen Lebens, insbesondere des menschlichen Zusammenlebens, sich so übersteigern, daß sie im Daseinsbewußtsein der Menschen in wachsendem Maße den Charakter des Verhängnisses annehmen. […] Daß es einen nichtpaulinischen Ausblick, also einen der Signatur des Zeitalters überlegenen, gibt, hat schon vor einem Jahrhundert eben Kierkegaard ausgedrückt, als er in sein Tagebuch ein Gebet schrieb, in dem es heißt: ›Vater im Himmel, es ist doch nur der Augenblick des Schweigens in der Unendlichkeit des Miteinanderredens.‹« 9 Bubers latenter Antipaulinismus stellte jedoch kein Hindernis dar, daß er als gewichtige Stimme von einem Christentum gehört wurde, das den Existentialismus für sich zu entdecken begann.10 Freilich bewegte sich die Rezeption dann in dem von diesem gesetzten Rahmen, was auch für die Interpretation von Michael Theunissen gilt, der in Der Andere (1965) an keiner Stelle untersucht, welchen systematischen Ort jüdische Tradition und deren Figuren in Bubers Philosophie haben.11 Statt dessen bescheidet er sich mit der Auskunft, »der Gedanke vom ›dialogischen Prinzip‹ entspringt nicht einer metaphysischen, sondern einer ›Glaubenserfahrung‹ und muß darum erst in philosophische Begrifflichkeit ›übersetzt‹ werden. 6. M. Buber, Zwei Glaubensweisen, S. 5. 7. Ebd., S. 33 f. 8. Zu Paulus bei Buber, vgl. ebd. S. 41-54, bei Nietzsche, Morgenrthe [1881], KGW V.1, v. a. 60–64, Der Antichrist.[1888], KGW VI.3, 190 f., 213–216, 220–224, 230, 245. Ich danke Paul Mendes-Flohr (Jerusalem) für die Hinweise auf Bubers Nähe zu Nietzsche auch in seinem Paulusbild. 9. Ebd., S. 166, 171 f. 10. Vgl. P. Tillich, M. Bubers dreifacher Beitrag zum Protestantismus, S. 141-144. Zu einem neueren Bild, vgl. E. Stegemann, Einleitung. 11. Vgl. M. Theunissen, Der Andere, S. 243-346.

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Einleitung

Solche Übersetzung ist notwendig inadäquat.« 12 Zwar beruft er sich hier auf eine Äußerung Bubers. Der erklärte, »daß all die in den [für die Reife entscheidenden] Jahren 1912-1919 von mir gemachten Seinserfahrungen mir in wachsendem Maße als eine Glaubenserfahrung gegenwärtig wurden. Damit ist eine Erfahrung gemeint, die den Menschen in all seinem Bestande, sein Denkvermögen durchaus eingeschlossen, hinnimmt, so daß durch alle Gemächer, alle Türen aufsprengend, der Sturm weht«. 13 Das pneumatische Bild und damit die Glaubenserfahrung als solche näher zu bestimmen, unternimmt Theunissen jedoch nicht und er verzichtet, sie zu anderen Formen menschlicher Erfahrung in ein Verhältnis zu setzen, immerhin Aufgabe einer philosophischen Rede von Religion. Die von ihm untersuchten anthropologischen Grundkonstanten hatte Buber erstmals in Ich und Du (1923) vorgetragen, zu einem Zeitpunkt, als er die Reife bereits erreicht hatte und seine Philosophie der Jugend an ihr Ende gekommen war. Sie wurde durch das dialogische Prinzip ersetzt, das allein das »echte Gespräch« ermögliche. 14 Ein solches zu führen, begriff Buber als seine eigentliche Aufgabe. 15 Dazu trat noch eine spezifische Deutung des Chassidismus. Zwar überwölbt diese die Abschnitte des Werks auf eine Weise, die schon in den frühen Büchern die »Sprachform der viele Jahre danach entstandenen Schriften über das dialogische Prinzip« an manchen Stellen erscheinen läßt. 16 Am deutlichsten geschieht das in der im Herbst 1907 geschriebenen Einführung in Die Legende des Baalschem. Dort wird vom Mythos erklärt, in ihm stünden Heros und Gott »auf einer anderen Stufe«, nicht einander gegenüber: »sie sind nicht das Ich und das Du«, das erreiche erst die chassidische Legende, sie sei darum »der Mythos des Ich und Du«. 17 In dem im September 1919 verfaßten Geleitwort zu Der große Maggid und seine Nachfolge findet sich schließlich die Kennzeichnung der jüdischen Lehre als einer, die »so ganz auf die doppelgerichtete Beziehung von Menschen-Ich und Gott-Du, auf die Realität der Gegenseitigkeit, auf die Begegnung gestellt« sei. 18 Wirklich erfolgte bald danach »die erste, noch unbeholfene Niederschrift von ›Ich und Du‹«. 19 12. Ebd., S. 258. 13. M. Buber, Aus einer philosophischen Rechenschaft, S. 1111 f. 14. Vgl. M. Buber, Elemente des Zwischenmenschlichen, S. 293–297 (=W I, S. 285– 288). 15. Vgl. M. Buber, Aus einer philosophischen Rechenschaft, S. 1114: »Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.« 16. M. Buber, Zur Geschichte des dialogischen Prinzips, S. 307 (=W I, S. 297). 17. M. Buber, Die Legende des Baalschem, S. vi. 18. M. Buber, Der große Maggid und seine Nachfolge, S. xxii. 19. M. Buber, Zur Geschichte des dialogischen Prinzips, S. 308 (= W I, S. 298). Zur Vorgeschichte von Ich und Du, vgl. R. Horwitz, Buber’s Way to »I and Thou«.

Einleitung

17

Den Chassidismus selbst bestimmte Buber als eine Form der Mystik und volkstümlichen Weisheit, die gegen die »Gesetzesherrschaft« der rabbinischen Tradition »Führer« und »Gemeinde« schuf. 20 In ihm »siegte für eine Weile das unterirdische Judentum über das offizielle, – über das allbekannte, übersichtliche Judentum, dessen Geschichte man erzählt und dessen Wesen man in gemeinverständlichen Formeln fasst.« 21 Buber machte als erster ein größeres Publikum im Westen mit den ekstatischen Konfessionen und dem legendenhaften Erzählgut des Ostjudentums bekannt. Zugleich stellt seine Interpretation einen Prozeß lebendiger religiöser Neuschöpfung dar. Sie hat ihm ebenso wie die mit Franz Rosenzweig (1886-1929) unternommene Bibelübersetzung Anhänger bis heute geschaffen, vor allem unter Christen. Das Publikum, für das die Verdeutschung der Schrift begonnen worden war, die deutschen Juden, haben die Nazis ermordet. Jene enge und im Zeichen des Christentums stehende Rezeption Bubers brachte sein Denken um den vollen Gehalt. Aber auch ein Versuch, der sich seinen eigentlich jüdischen Interessen zuwandte wie Gilya Gerda Schmidt, Martin Buber’s Formative Years (1995), läßt seine zionistischen Aktivitäten unter dem Begriff des Kulturzionismus glatt aufgehen. Tatsächlich erfuhren aber Bubers Anschauungen eine komplizierte Entwicklung, die ihn von einer ästhetisch-vitalistischen und einer die Macht des Bluts zumindest metaphorisch beschwörenden Sichtweise zu einer sozialistischen Haltung führte, in der auch arabische Rechte anerkannt wurden. 22 Auf dem Feld der Biographie mündet diese Sichtweise von Bubers Denken in Legendenbildung und Hagiographie. Eine wirkliche Ausnahme stellt Paul Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog (dt. 1978) dar, zugleich Pionierarbeit zum jungen Buber. Indes leistete Buber seiner möglichen Verzeichnung selbst Vorschub, stellte er doch das Werk der Reife vor das der Jugend. Darum ist dieses mitsamt den dunklen Seiten Jahrzehnte nach seinem Tod immer noch zu entdecken: nicht nur was die dort gegebenen Antworten, sondern auch was die vorangegangenen Fragen angeht. Sie in ihrer Bedeutung zu erkennen und in ihrer Wirkung zu begreiffen, wird es ermöglichen, eine 20. Vgl. M. Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, S. 24 (Gesetzesherrschaft), ders., Mein Weg zum Chassidismus, S. 964 (Führer und Gemeinde). 21. M. Buber, Die Legende des Baalschem, S. v. 22. Die erste Phase dauerte von 1898 bis 1904 und hat den Aufsatz »Jüdische Renaissance« (1900) als Schlüsseltext, die zweite begann mit den Drei Reden über das Judentum (1911) und endete im Ersten Weltkrieg, während die dritte Bubers zionistische Anschauungen von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zu seinem Tod prägte. Ihre wichtigsten Texte, v. a. auch über die Araberfrage, beinhaltet jetzt der Sammelband Ein Land und zwei Völker.

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Einleitung

Geistesgeschichte des deutschen Judentums im Spätwilhelminismus und der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu schreiben. Welchen wichtigen Anteil Buber daran hatte, zeigt seine Aufnahme vor allem durch die jüdische Jugend, deren Debatten übrigens nicht entlang nationaler Grenzen verliefen. Für sie war er, um mit Gustav Landauer zu sprechen, »ein Gelöbnis«, nüchterner ausgedrückt: eine exponierte Figur, die zu besonderen Stellungnahmen reizte und Begeisterung ebenso sehr wie Widerspruch hervorrief. 23 Wurde ihm von den Mitgliedern des Vereins jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag eine glühende Verehrung entgegengebracht, so standen ihm etwa Leo Strauss (1899-1973) kritisch und Walter Benjamin (1892-1940) stark ablehnend gegenüber. 24 Gershom Scholem (18971982), ein großer Polemiker, nahm gegenüber Buber hingegen eine ausgewogenere Position ein. Er war bemüht zu erkennen, was er selbst dessen Denken schuldete, aber auch zu erkunden, worin dessen Grenzen lagen. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen beiden komplizierter als bisher angenommen und entspricht nicht einfach dem zwischen einem religiösen Neuschöpfer und einem akademischen Historiker. 25 Um dem jungen Buber überhaupt gerecht werden zu können, ist es vor allem nötig, eine breite Textbasis zu schaffen. Ihn selbst bewegten andere Interessen, war ihm doch und nicht erst am Lebensende hauptsächlich an einer Auswahl dessen gelegen, was in seinen Augen Bestand haben sollte. Sie fand in den drei Bänden der Werke (1962-64) und in dem einen der Nachlese (1965) ihren Niederschlag. Dem stand aber Bubers eigene Poetik gegenüber, die das Schreiben als einen fortlaufenden, sich selbst ergänzenden Prozeß verstand. Sie findet ihren Ausdruck darin, auf welche Weise er Anleihen bei anderen Autoren machte. Dies geschah nicht nur durch Zitat und als Paraphrase, sondern auch durch direkte Übernahme und Anverwandlung. 26 Auch behandelte Buber Eigenes palimpsestartig. Ohne darüber genaue Auskunft zu geben, überschrieb er seine Texte zu 23. G. Landauer, Martin Buber, S. 90 (= 162). Zu Buber und die Jugend, vgl. C. Schatzker, Martin Buber’s Influence on the Jewish Youth Movement. 24. Zu L. Strauss, vgl. M. Buber, B II, S. 158 (an Rosenzweig, 10. 2. 1923): »Leo Straussens Äußerung über das Bubertum (das klingt mir wie Hubertum und verleidet mir fast meinen schönen Namen, der eigentlich Bobr […] lautet und Biber bedeutet) habe ich mit ähnlichen, nur eben naturgemäß noch pointierteren Gefühlen gelesen wie Sie.« Gemeint ist L. Strauss, Antwort auf das »Prinzipielle Wort« der Frankfurter, S. 301 f., eine Wortmeldung im Streit der jüdischen Jugendbewegung in Deutschland. Zu W. Benjamin, vgl. G. Scholem, Walter Benjamin, S. 14, 22, 37 f., 40-42, 148 (die mit den Jahren steigende »Härte in Benjamins Urteilen über Buber«), vgl. W. Benjamin, Gesammelte Briefe 5, S. 130 (an A. Cohn, 18. 7. 1935: »meine[] ungemein tief wurzelnde[] Abneigung« gegenüber Buber). 25. Vgl. K. S. Davidowicz, Gershom Scholem und Martin Buber, S. 9 f. 26. Vgl. M. Urban, In Search of a ›Narrative Anthology‹.

19

Einleitung

wiederholten Malen, wobei die Spuren des Älteren nie gänzlich getilgt werden konnten, zirkulierten doch stets andere und ältere Versionen. Nicht nur aus philologischer Redlichkeit korrigiert dieser Band die Selbstbeschränkung und das Anliegen Bubers. Alles, was dieser an kulturkritischen und philosophischen Schriften in der Zeit vor Ich und Du verfaßte, ist in ihn aufgenommen worden, darunter auch Inedita. In Einleitung und Kommentar findet man Exkurse, unternommen in die zionistischen, religionswissenschaftlichen und theologischen Schriften, aber auch in Bubers Dichtungen, um die in den Band aufgenommenen Texte durch ihre Entstehungs- und Wirkungsgeschichte zu erhellen. Einige der geistigen und persönlichen Konstellationen werden ausgeschrieben – so Bubers Verhältnis zu Peter Altenberg (1859-1919) und Georg Simmel (1858-1918) –, anderes wie sein spezifischer Nietzscheanismus umrissen, manches hingegen nur benannt. Der Darstellung und Analyse liegen intensive Arbeiten im Martin Buber-Archiv der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem zugrunde. Der Band soll als Grundlage einer noch zu schreibenden intellektuellen Biographie Bubers dienen, deren vornehmstes Ziel es wäre, ihren Gegenstand allen Idealisierungen zu entwinden. Zugleich bietet er Material, um das geistige Panorama des deutschen Judentums von 1890 bis 1925 in wichtigen Teilen besser erkennen zu können.

2. Juvenilia Den Anfang machen die Juvenilia. Der Entschluß, sie trotz ihrer Unreife aufzunehmen, ist nicht allein der Pflicht zur Vollständigkeit geschuldet, und auch wenn sie nicht im strengen Sinn zu den philosophischen und kulturkritischen Schriften gehören, so helfen sie doch, Bubers intellektuelle Entwicklung besser zu verstehen. Liest man, was er zu seiner Bar Mitzwa vortrug, dann erhält man einen Einblick in sein Denken zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt, obwohl vieles der Konvention der religiösen Feier geschuldet ist. Ähnliches gilt für die zweite hier veröffentlichte Rede, die bislang in der Forschung überhaupt nicht beachtet worden ist. Buber hatte sie für einen Freund ein Jahr später gehalten, bemerkenswerterweise auf Polnisch. Beide Arbeiten verdeutlichen sein Verhältnis zur Tradition und enthalten Überlegungen zur Bedeutung der Nation, Komplexe, die ihn zeitlebens beschäftigen werden. Genauer betrachtet, weisen sie einige Eigenheiten auf. So bediente sich Buber in der Bar Mitzwa-Rede bei der Wiedergabe der Schriftzitate auf Deutsch keiner der gängigen Übersetzungen. Besonders deutlich wird das

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beim Gottesnamen, den er unterschiedlich wiedergibt. Er verwendete für das Tetragrammaton JHWH nicht durchgängig das von Mendelssohn geprägte »der Ewige«, sondern manchmal auch »der Herr«. 27 Im hebräischen Text verzichtete er hingegen ganz auf die Schreibung des Gottesnamens zugunsten einer bestimmten, in frommen Kreisen üblichen Substitution. Hier schrieb man, um auch die übliche Aussprache Adonai, »mein Herr«, für das Tetragrammaton nicht gedankenlos, sondern nur im Gebet zu unternehmen, einzig den hebräischen Buchstaben dalet, den man Adoschem las. Zwar war ha-Schem, »der Name«, gemeint, aus Gründen der lautlichen Annäherung an Adonai entschied man sich aber für jene Aussprache. Traditionellerweise besteht die Bar Mitzwa-Rede in einer Auslegung der Haftara, des Prophetenabschnitts, der auf die Lesung der Tora folgt. Bubers Feier gestaltete sich aber anders, denn er sprach über Hos 2,21 f., jene Verse des Propheten, die einem zusätzlichen Gebet zu den traditionellen Segenssprüchen über die Tefillin (Gebetsriemen) entnommen sind. Es wird an einer bestimmten Stelle des Tefillinlegens zum Morgengebet an den Wochentagen rezitiert, nämlich dann, wenn linker Arm und linke Hand, die mit den Riemen belegt und in die Nähe des Herzens gelegt sind, Zeichen für die hebräischen Buchstaben schin, dalet, jud und so den Gottesnamen schaddai, »Allmächtiger«, bilden. Den Brauch hatte der polnische Kabbalist Nathan Neta ben Schlomo (1585-1633) begründet, und er war in seiner Heimat weit verbreitet. 28 Gleichwohl würde man dem Dreizehnjährigen zuviel Weisheit zutrauen, behauptete man, er hätte bewußt etwas von der volkstümlichen Mystik in der Lemberger Synagoge präsentiert, in der seine Bar Mitzwa stattfand. In der Hauptsache wurde sie vom jüdischen Bürgertum besucht, das mit kabbalistischen Finessen noch weniger vertraut war als der junge Buber. In seiner Rede bezog er sich aber nicht nur auf die Bibel. »Der in der eigentlichen Orthodoxie auch heute noch bei dieser Gelegenheit übliche religionsgesetzliche Vortrag (›Drascha‹) des religiös mündig gewordenen Knaben ist wohl nicht einmal als eine entfernte Möglichkeit erwogen worden«. 29 Ebenso großen Raum wie Tora, Propheten, Proverbia und Psalmen nahm ein Gedicht Friedrich Schillers (1759-1805) ein, jenes 27. Vgl. F. Rosenzweig, Der Ewige, S. 183: der Gottesname ›der Ewige‹ »ist, soviel ich sehe, von Mendelssohn ins Judentum eingeführt. Die älteren jüdischdeutschen Bibelübersetzungen […] sagen […] ›Gott‹; das anscheinend so naheliegende ›der Herr‹ vermeiden auch sie.« 28. Ich danke Shlomo Zucker (Jerusalem) für seine Auskunft zur Bedeutung dieser Verse. 29. Simon, S. 28.

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Dichters, der vorbildhaft auf die hebräische Dichtung der jüdischen Aufklärer gewirkt hatte und für das gebildete deutschsprachige Judentum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – sowohl für Neu-Orthodoxe als auch für Reformorientierte und später Zionisten – einen geradzu kanonischen Rang besaß. Gershom Scholem hat diesen Sachverhalt zusammengefaßt und so beschrieben: »Die Bedeutung, die Friedrich Schiller für die Beziehung der Juden zu Deutschland gehabt hat, ist schwer zu ermessen und von den Deutschen selber selten gewürdigt worden. Schiller, der Sprecher des reinen Menschentums, der Pathetiker der höchsten Ideale der Menschheit, hat für Generationen von Juden in und fast noch mehr außerhalb von Deutschland das repräsentiert, was sie als deutsch empfanden oder empfinden wollten, selbst dann noch, als diese Sprache in Deutschland selbst, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, schon hohl klang. Die Begegnung mit Friedrich Schiller war für viele Juden realer als die mit den empirischen Deutschen. Hier fanden sie, was sie am glühendsten suchten. Die deutsche Romantik hat vielen Juden etwas bedeutet, Schiller allen. Er war ein Faktor im Glauben der Juden an die Menschheit. Schiller war der sichtbarste, eindrucksvollste und tönendste Anlaß zu den idealistischen Selbsttäuschungen, zu denen die Beziehung der Juden zu den Deutschen geführt hat. Hier war das Programm, das dem neuen Juden, der seine Selbstsicherheit als Jude verloren hatte, alles zu verheißen schien, was er suchte, und so fand er keine falschen Töne darin, weil das die Musik war, die ihn in der Tiefe ansprach. Auf Schiller, der zu den Juden niemals unvermittelt sprach, haben die Juden in der Tat geantwortet, und in dem Scheitern dieses Dialoges ist vielleicht eines der Geheimnisse des Scheiterns dieser Beziehung überhaupt enthalten. Denn Schiller, an den sich ihre Liebe so leidenschaftlich geheftet hat, war ja kein Beliebiger, er war wirklich der Nationaldichter der Deutschen und wurde in der Zeit von 1800 bis 1900 als solcher von den Deutschen empfunden, so daß die Juden hier nicht, wie das oft genug vorgekommen ist, sich an eine falsche Adresse gewandt haben. […] Die Begeisterung der Juden für Schiller ist den späteren Deutschen nur noch komisch oder rührend erschienen. Selten regte sich (nicht ganz abwesend) in dem einen oder anderen ein Gefühl dafür, daß hier wirklich einmal gemeinsamer Boden für vieles hätte gegeben sein können.«30

Anderes weist der polnische Vortrag auf. Buber begann ihn mit einem Wort des Propheten Micha (Mi 5,6 f.) über den Messias aus dem Haus David. Den zweiten zitierten Vers vermied man unter Liberalen gerne, konnte er doch als Angriff gegenüber Nichtjuden verstanden werden. 31 Buber sprach von Nationen und ihren Werten, wenn auch nicht argu30. G. Scholem, Juden und Deutsche, S. 30 f. (Hervorhebung im Original). Ich danke Paul Mendes-Flohr für den Hinweis auf diese Stelle. 31. Vgl. Kleine Schul- und Haus-Bibel, S. 130.

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mentativ, sondern akklamatorisch, wobei er die Bibelverse ganz selbstverständlich mit einem Gedicht des jungen Adam Mickiewicz (1798-1855) verknüpfte, der in seiner Heimat ein Klassiker war. Es stellte die Hymne des gescheiterten Aufstandes von 1830/31 dar, der gegen die repressive Politik des russischen Oberherrn Kongreßpolens, Zar Nikolaus I., geführt worden war. Bubers Verhältnis zu Polen war vielschichtig und kompliziert. Während er aus seinen Gymnasialjahren in Lemberg nur von einer Gleichgültigkeit der Nationen gegeneinander zu berichten wußte, soll er in seiner Leipziger Studienzeit polnischen Sozialisten nahe gestanden haben. »Auf einer Geheimkonferenz polnischer Studenten, an der Delegierte aus drei Kaiserreichen teilnahmen« – unter denen das Land seit mehr als hundert Jahren aufgeteilt war –, »hielt er einen mit Beifall aufgenommenen Vortrag.« 32 Bubers Haltung zum dortigen Judentum wandelte sich, vor allem was die nicht assimilierten Gruppen in Dörfern und Kleinstädten anging, erst in späteren Jahren ins Positive, hatte er doch die westjüdische Ablehnung ostjüdische Bräuche und Lebensweise stark verinnerlicht. 33 In seiner Studentenzeit »war er noch voll des üblen jüdischen Antisemitismus; den Ausdruck ›echt jüdisch‹ konnte man aus seinem Munde oft vernehmen.«34 Dagegen erklärte er später, als das polnische Judentum für ihn lebendige Tradition schlechthin verkörperte: »Ich bin ein polnischer Jude, zwar aus einer Familie von Aufklärern, aber in der empfänglichen Zeit des Knabenalters hat eine chassidische Atmosphäre ihren Einfluß auf mich ausgeübt.« 35 Mickiewicz galt im übrigen als einer der wichtigsten Vertreter eines christlichen Messianismus, den die römische Amtskirche mißbilligte, weil er ihr als zu sehr auf Polen beschränkt erschien. 36 Auf ihn kam Buber kurz nach der Staatsgründung Israels noch einmal zu sprechen. Aus Anlaß des 150. Geburtstags des Dichters erinnerte er in einer Rede an der Hebräischen Universität Jerusalem daran, daß dessen Gedanken »einen wichtigen Platz in der Geschichte der modernen nationalen Idee einnehmen«.37 Gerade wegen seiner Gegnerschaft gegen jeden nationalen Egoismus habe Mickiewicz »an die Bestimmung der Völker« geglaubt und sei auch von 32. Eliasberg, S. 4. 33. A. a. O.: »Er wuchs in dem Milieu der in seichter Salonbildung aufgehenden, das Jüdische im Grunde ihres Herzens verachtenden Bourgeoisie auf.« 34. A. a. O. Vgl. Simon, S. 32, der auf RGA, S. 173 f. verweist. 35. M. Buber, Gog und Magog, S. 234. 36. Zum Messianismus von Mickiewicz, vgl. B. Markiewicz, Gott und das Volk, S. 881885. 37. M. Buber, Zur Geschichte der nationalen Idee, S. 320.

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der Notwendigkeit überzeugt gewesen, »die Völker auf ihre Bestimmung hin zu erziehen«.38 Um eine Klärung dessen, was Nationalismus und Nationalität bedeuten, bemühte sich Buber zu wiederholten Malen, die Rede von 1892 stellt nur das früheste Beispiel dar. So hielt er im November 1902 auf einer Versammlung der Verbände der jüdischen Studentenschaft in Wien einen Vortrag »Über Begriff und Wesen der Nationalität«. 39 Den zweiten Jahrgang des Juden eröffnete er mit »Unser Nationalismus«, einem Artikel, den er auch in die zweite Folge des Sammelbands Jüdische Bewegung aufnahm. Schließlich legte er seine reife Position das erste Mal und in Umrissen in der Rede auf dem 12. Zionisten-Kongreß vom 1.-14. September 1920 in Karlsbad dar. 40 Der junge Buber läßt sich keinem religiösen Lager des Judentums genau zuordnen. Gewiß stellen ihn Schiller und Mickiewicz, die explizit neben Bibel und rabbinischer Literatur angeführt werden, in einen liberalen und säkularen Zusammenhang. Wichtiger erscheint aber, daß es sich bei ihnen um die prototypischen Dichter von Jugend und Freiheit in Deutschland und Polen handelte. Wohl darum wurden christliche Anklänge von Buber übergangen oder in Kauf genommen, so vor allem im polnischen Vortrag. In ihm herrscht der schwärmerische Ton eines Aufbruchs vor, begünstigt durch den Wegfall des rituellen Rahmens und verstärkt durch das französische Zitat aus einem Gedicht Victor Hugos (1802-1885). Unter den verschiedenen Aspekten der Liebe, als deren Sänger Mickiewicz gilt, werden ausdrücklich die zu Gott und zum Volk, vor allem aber die gegenüber Freunden und sogar Feinden genannt. Das begegnet schon in der Bar Mitzwa-Rede und nimmt eine antijüdische Polemik des Christentums auf: den Vorwurf, im Judentum herrsche Gesetz über Liebe und Zorn über Gnade. Mit der rabbinischen Lehre der Eigenschaften Gottes, der middot, wies der junge Buber die Anschuldigung so souverän wie entschieden zurück. In seiner Reife sollte er auf diese Debatte der Sache nach zurückkommen.41

38. Ebd., S. 323. 39. Vgl. M. Cohn/M. Catanne, Martin Buber, S. 12. Der Vortrag selbst muß als verloren gelten. 40. Vgl. M. Buber, Nationalismus, sowie andere, der in Ein Land und zwei Völker versammelten Texte. 41. Vgl. M. Buber, Zwei Glaubensweisen, S. 156-158.

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3. Wiener Literaten Buber kam im Herbst 1896 zum Studium in seine Geburtsstadt, nach Wien. Im Rückblick erklärte er: »Die Vorlesungen jener zwei Semester, auch die bedeutender Gelehrte[r], haben auf mich nicht bestimmend eingewirkt«. 42 Hingegen faszinierte ihn »das Burgtheater, in das ich mich oft, zuweilen Tag um Tag, nach mehrstündigem ›Anstellen‹ drei Treppen hoch stürzte, um einen Platz in der obersten Galerie zu erbeuten«.43 Man darf annehmen, daß er nach den Besuchen jenes »Gymnasium der Erwachsenen« – wie der Wiener Schriftsteller Raoul Auernheimer (1876-1948), ein Verwandter Theodor Herzls (1860-1904), es nannte – eines der zahlreichen, in Fußnähe gelegenen Literatencafes frequentierte. 44 Dort saßen an den Nebentischen auch die Autoren, deren Stücke er gesehen hatte und über die er die erste Arbeit schrieb, die von ihm überhaupt veröffentlicht worden ist. Auf Polnisch verfaßt, handelt sie von den Dichtern des sogenannten Jungen Wien, von denen wiederum Auernheimer ironisch meinte, »das Wienerische, das sie untereinander und mit der Welt verband, bestand genau genommen nur darin, daß sie samt und sonders bei S. Fischer in Berlin verlegten«.45 Bubers Artikel zeigt eine erstaunliche Reife. Er fällte seine künstlerischen Urteile sicher und ohne Zögern, man wird ihnen größtenteils auch heute noch zustimmen. Abgesehen von seiner Rolle als Kritiker hatte er zu den von ihm Porträtierten auch eine jeweils sehr verschiedene persönliche Haltung. Wirklich nahe stand er nur Hugo von Hofmannsthal (1874-1929). Der im Artikel genannte Brief an ihn ist zwar nicht erhalten, aber an anderer Stelle seines Werks berichtet Buber folgendes: »Als Neunzehnjähriger in Wien studierend, erwarb ich das eben erschienene erste Heft einer Zeitschrift, ›Wiener Rundschau‹ genannt. Darin stand ein Gedicht, Hugo von Hofmannsthal hieß der Verfasser, und es begann mit den Worten ›Den Erben laß verschwenden‹. Ich setzte mich auf eine Bank im Volksgarten und las. Ein Schauder (nichts Genußähnliches, wahrhaftig ein ›heiliger Schauder‹) überkam mich: diese Verse da waren jetzt, vor kurzem geschrieben worden! Bald danach erfuhr ich, daß der Dichter nur vier Jahre älter war als ich. Es war meine erste Erfahrung des durchdringend Gleichzeitigen. Von der Stunde, die ich bald danach mit Hofmannsthal in Rodaun, bis zu der, die ich mit dem wunderbar Geschlichteten, Todnahen, in Alt-Aussee verbrachte, blieb er für mich der Verfasser jenes – 42. M. Buber, AF, S. 11. 43. Ebd. Zur Bedeutung des Burgtheaters im Wien des Fin de siècle, vgl. E. Timms, Karl Kraus, S. 46-50. 44. R. Auernheimer, Das Wirtshaus zur verlorenen Zeit, S. 53. 45. Ebd., S. 89. Zu einer umfassenden Dokumentation dieser Dichter, vgl. JW.

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zauberhaften und verzaubernden, aber gewiß nicht seines bedeutendsten – Gedichts.« 46

Über das Berichtete hinaus gab es mehrere Begegnungen. 1905 lud Buber Hofmannsthal zur Mitarbeit an der von ihm herausgegebenen sozialpsychologischen Sammlung Die Gesellschaft ein, zu der es aber, trotz dessen prinzipieller Bereitschaft, nie gekommen ist. 47 Aber man blieb im Kontakt, wobei der von 1926 an geführte Gedankenaustausch über Hofmannsthals Drama Der Turm einen Höhepunkt darstellt. 48 Im selben Jahr schrieb dieser an seinen Verleger über eine Arbeit, die die Form eines Briefs haben und im Inselschiff erscheinen sollte: »Den Brief möchte ich an einen ungenannten nur etwa mit einem Anfangsbuchstaben zu bezeichnenden Altersgenossen richten, etwa an einen halb imaginären Martin Buber.« 49 Er existiert nur als Entwurf.50 Über die Bekanntschaft mit Peter Altenberg weiß man wenig. Von ihr findet sich eine Spur im späteren Bericht von Ahron Eliasberg (18791937), eines Cousins und Kommilitonen Bubers aus der Zeit an der Universität Leipzig. Dieser habe, erfährt man, »das neueste Werk des Dichters mit Widmung und Begleitbrief« besessen und »eifrig Propaganda« für den damals in Deutschland noch Unbekannten betrieben.51 Von einer bei aller vorgetragenen Kritik doch großen Sympathie zeugt auch der polnische Artikel. Buber schreibt dort unter anderem: »Und wenn wir aus bestimmten Zügen ein Bild des Dichters zu erschaffen vermögen, mit dem Gesicht eines Tartars und dem Herzen eines Kindes, dann strömt von dieser Figur so viel Wärme über uns herein, daß die Essays, scheinbar glatt und eisig, die sonnigen Farben des Lebens annehmen.«52 Dieses Urteil ist erstaunlich, führte doch Altenberg einen vergleichsweise ganz unbürgerlichen Lebensstil, der Buber zurückgestoßen haben müßte: er besaß keine eigene Wohnung, sondern logierte in einem Zimmer im Gra46. M. Buber, Auswahl deutscher Verse, S. 143. Es handelt sich um das Gedicht »Lebenslied«, vgl. H. v. Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 63. In diesen Jahren entdeckte Buber überhaupt die zeitgenössischen Dichter, vgl. ders., Über Stefan George, S. 3 (= 115): »In meinem achtzehnten Jahr erfuhr ich beim Lesen des Gedichts ›Der Tag des Hirten‹, daß in dieser, in meiner Zeit ein Dichter lebt.« 47. Vgl. M. Buber, B I, S. 232 (Hofmannsthal an B., 17. 7. 1905), S. 234 (an Hofmannsthal, 24. 2. 1906), S. 235 f. (Hofmannsthal an B., 11. 3. 1906) und S. 236-238 (an Hofmannsthal, 15. 3. 1906). 48. Vgl. H. v. Hofmannsthal/M. Buber, Briefe. 49. H. v. Hofmannsthal, Briefwechsel mit dem Insel-Verlag, S. 982 f. (Hofmannsthal an A. Kippenberg, 27. 4. 1926). 50. Vgl. H. v. Hofmannsthal, Brief an einen Gleichaltrigen, Sämtliche Werke, Bd. 31, S. 212-215, 513-519. 51. Eliasberg, S. 2. 52. Vgl. in diesem Band, S. 126.

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ben-Hotel, stand mit Prostituierten in engem Kontakt und experimentierte mit Drogen. 53 Wie kein anderer Wiener Dichter schien er die Spannungen seiner Zeit in einem bohemienhaften Leben verkörpern und nicht nur im Werk ausdrücken zu wollen. Hermann Bahr (1863-1934) gegenüber besaß Buber eine ambivalente Haltung. Ob er von dessen antisemitischen und deutschnationalen Aktivitäten in der ersten Hälfte der achtziger Jahre aber überhaupt wußte, erscheint fraglich. 54 Er nahm in ihm den Décadent wahr und bewunderte ihn für sein ausgeprägtes Sensorium, das ihn das Aufkommen von Neuheiten und künstlerischen Moden geradezu erahnen ließ. 55 Wohl blieb er nicht ganz ohne Vorbehalt, schließlich galt Bahr als das Musterbild des »Literaten«. Daß dieser nach der Jahrhundertwende selbst zur Religion seiner Herkunft, dem barocken Katholizismus, zurückgekehrt war, hätte sie einander näher bringen können. Ein persönlicher Kontakt zwischen beiden ist nicht nachweisbar. Arthur Schnitzler (1862-1931) begegnete Buber hingegen mit abnehmendem Interesse. Zwar hatte er ihn in dem vorliegenden Artikel als einzigen von den vier Besprochenen als Künstler bezeichnet. 56 Dann aber verschwand er aus seinem Werk völlig. Werner Kraft hat eine Bemerkung Bubers aus dem Jahr 1962 überliefert, die Licht auf diesen Sachverhalt wirft. »Der Verlag S. Fischer hat Buber Schnitzlers Dramen zugeschickt. Er hat darin geblättert. Er sagt, es sei so, wie wenn eine Sache vor Jahren acht Kilo gewogen hat, und nun wiegt sie nur noch vier. […] Buber sagt, verglichen mit den Dramen Hauptmanns sei in denen Schnitzlers überhaupt kein Schweigen.« 57 Was Buber damals an den Wiener Autoren fasziniert haben mochte, kann man exemplarisch an einem Fall betrachten: an jenem Buch, das er Eliasberg zufolge von Peter Altenberg persönlich nach Leipzig zugesandt erhielt. Gemeint ist wohl dessen zweite Sammlung von Skizzen und Glossen, Ashantee, im Frühjahr 1897 bei S. Fischer erschienen.58 Sie war von einem Wiener Großereignis inspiriert worden. »Im ›Wiener Thiergarten‹ am Praterschüttel wird […] 1896 die ethnologische Ausstellung Die afrikanische Goldküste und ihre Bewohner eröffnet, mit dem Kurztitel Aschanti (10. Juli bis 19. Oktober 1896). Ein afrikanisches Dorf wird nachge53. Ich danke Robert Wistrich (Jerusalem) für den Hinweis. Zu Altenbergs Lebensstil, vgl. A. Barker/L. Lensing, Peter Altenberg, S. 25-47. 54. Zu diesen, vgl. D. Daviau, Der Mann von Übermorgen, S. 46-69, 251-255. 55. Vgl. in diesem Band, S. 120. 56. Vgl. in diesem Band, S. 127. 57. W. Kraft, Gespräche mit Martin Buber, S. 109 (26. 11. 1962). 58. Vgl. P. Altenberg, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 231-270, 359 f.

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stellt, mit totem und lebendem Inventar; erst 70, dann 120 Schwarze jeden Alters, darunter ganze Familien, gehen vor den Augen eines zahlenden Publikums Alltagsverrichtungen nach, kochen, stellen Schmuck für den Verkauf an das Publikum her und führen zu festgelegten Zeiten rituelle Tänze und Kampfspiele vor.« 59 Die Wiener schienen von dieser Veranstaltung so bewegt worden zu sein, daß sie den Namen des Stammes in ihre Umgangssprache aufnahmen und ihn bis heute als Bezeichnung für gebrannte Erdnüsse verwenden. Auch Schriftsteller reagierten auf dieses Sichtbarwerden des »Wilden« und dem Auftritt seiner Repräsentanten inmitten der Zivilisation. In ihnen wollten sie erblicken, was sie selbst wähnten überwunden, aber auch verloren zu haben. Deutlich wird dies etwa in »Der Menschengarten«, einem Artikel, den Theodor Herzl für die Neue Freie Presse in seiner Eigenschaft als Feuilletonredakteur und aus Anlaß des erneuten Besuchs der Truppe im April 1897 verfaßte. Ihm erschienen die ausgestellten Aschanti in einer weiten Perspektive. »Der Mensch ist da vor uns im Garten aufgetaucht. Es sind Menschen der Urzeit, wenn sie auch mit uns zugleich über die Erde wandeln. Alles ist immer da. Echte Urzeitmenschen, kenntlich an ihrer Einfalt und Grausamkeit, an ihrer Wildheit, die nur Angst ist, an ihrem Werkzeug, ihrer kindlichen Kunst und ihrem Glauben. Sie stehen erst am Anfang unserer Geschichte, und an ihnen sehen wir, wo wir doch schon halten, wie viel wir schon wissen vom Guten und vom Bösen.«60 Den Hintergrund von Herzls Bericht bildet die Paradieserzählung aus Gen 2 f., und in ihn eingetragen ist die erfolgreiche Entwicklungsgeschichte des Menschen. Freilich ging in der Bibel mit der erlangten Erkenntnis von Gut und Böse auch der Erwerb der Sterblichkeit einher. Auch Herzl traf beim Verlassen des »Thiergartens« die Melancholie menschlicher Endlichkeit, zugleich aber die pneumatisch beglaubigte Erkenntnis von Gott als Herrn über Raum und Zeit. »So weht durch diesen Sommertag ein Hauch aus dem Ewigen. Warme Düfte steigen von der Erde auf, Tierlaute schallen verworren aus der Ferne, und wir müssen darüber sinnen, wie die Menschen ihren schönen Garten Eden immer verlieren, und wie er dennoch immer da ist.« 61 Weniger auf eine religiöse Tradition sich berufend und darum unverstellter fasziniert, begegnete Altenberg den Aschanti. Er bestaunte sie nicht wie die Mehrzahl der Wiener oder nahm sie zum Anlaß einer gat59. W. Michler, Darwinismus und Literatur, S. 351-395: 351, vgl. A. Barker, Telegrammstil der Seele, S. 110-125, 360-362. 60. T. Herzl, Der Menschengarten, S. 158, vgl. W. Michler, a. a. O., S. 368 f. 61. T. Herzl, ebd., S. 160.

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tungsgeschichtlichen Meditation wie Herzl, sondern projizierte auf sie sein Unbehagen an der Kultur Europas, die ihm ihrerseits als barbarisch erschien. 62 Als Stammgast in den Hütten schien er den Habitués der Salons, von denen er selbst einer war, nun gefährlich zu werden. 63 Altenberg versuchte sich auch in Odji, jener Sprache, in der ihm »der ganze Mensch ausgedrückt im Laute« erschien. 64 Dabei gelangen ihm »avantgardistische[] Lautexperimente«, Beispiele eines Dadaismus avant la lettre. 65 Sein Buch widmete er »[m]einen schwarzen Freundinnen, den unvergeßlichen ›Paradies-Menschen‹«, von denen zwei barbusig auf dem Titelblatt abgebildet waren. 66 Buber, der die Truppe entweder kurz nach seiner Ankunft in Wien zu Beginn des Wintersemesters 1896/97, wahrscheinlicher aber bei ihrem zweiten Besuch gesehen haben könnte, erhielt Ashantee ein halbes Jahr nach seinem Erscheinen, möglicherweise als Dank für die Zusendung von »Zur Wiener Literatur«. Daß er für Altenberg dann – wie Eliasberg berichtete – »eifrig Propaganda« betrieb, mag darin begründet sein, daß er nicht mehr nur die »altösterreichischen Menschen, die nichts erleben können, […] mit einer unbeschreiblichen Güte dar[gestellt]« fand – so Bahr über Altenbergs Erstling Wie ich es sehe. 67 Buber erblickte in dem neuen Werk nun auch Wesen, die fähig erschienen, das in der Kultur erstarrte Leben zu erneuern. Ohnehin hat er selbst in seinem Artikel davon 62. Ähnliches hat auch die zeitgenössische Kritik erkannt, vgl. M. Messer, Peter Altenberg und sein neues Buch »Ashantee«, S. 722 f.: »Es wird hier zum erstenmal in künstlerischer Form, aus persönlichen Erlebnissen heraus das Problematische der Cultur gezeigt und vor Allem die Lüge zerstört, dass Cultur und Menschlichkeit identische Begriffe seien. […] Dies scheint mir die philosophische Bedeutung der Ashanteeskizzen zu sein: Ihr belasteten Menschen der Cultur, die ihr gegen euch selbst und gegen euere Gesellschaft wahr zu sein fürchtet und von unnöthigen Fesseln zu Sclaven herabgedrückt seid, werdet leicht, frei und wahrhaft wie diese ›Paradiesesmenschen‹«. 63. Vgl. P. Altenberg, Gesammelte Werke, Bd. I, S. 245: »Warum wollen Sie immer verletzten, Peter, an den Pranger stellen, guillotinieren?«. 64. Vgl. ebd., S. 239. 65. A. Barker, Telegrammstil der Seele, S. 116, vgl. P. Altenberg, Gesammelte Werke, Bd. I, S. 250 f. 66. Ebd., S. 359. Zum Titelblatt, vgl. die Abbildung bei H. C. Kosler, Peter Altenberg, S. 129. A. Barker, Telegrammstil der Seele, S. 110, vermutet zurecht, daß die Ausstellung der Aschanti auch deshalb solchen Zulauf fand, weil dort »nackte Wilde« zu sehen waren. Vgl. ebd. S. 124: »Ashantee war als erstes von Altenbergs Büchern vergriffen, das Aschanti-Material tauchte aber bald wieder in der überarbeiteten Fassung von Wie ich es sehe von 1904 auf.« 67. H. Bahr, Ein neuer Dichter, S. 589. Vgl. auch die Interpretation von A. Barker, a. a. O., S. 111, der Buber als von Altenbergs umfassender Liebe begeistert findet, vgl. in diesem Band, S. 124: »eine grund- und grenzenlose Liebe zur ganzen Welt« als Altenbergs »qualité maîtresse«.

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gesprochen, bei dem Wiener Dichter, der »den Heiligenschein des Apostels« besitze, zeige sich der »Wunsch nach großen Revolutionen, überschwenglichen Hoffnungen, eine Sehnsucht nach einer ›neuen Rasse‹ von Übermenschen, deren Herannahen wir beschleunigen sollten«. 68 Die Verwirklichung des von Friedrich Nietzsche (1844-1900) inspirierten Programms sah er zu dieser Zeit von Altenberg zumindest vorbereitet. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sollte Buber selbst noch einmal versuchen, es im »Menschentypus« des Orientalen einzulösen. Er kam dabei freilich ohne eine direkte Anspielung auf Nietzsche aus. 69 Sein neuer Held, der dem Okzident fremde Orientale, weist jedoch eine große Nähe zu denjenen auf, die, wie zuvor die Aschanti, zur »schönen Bewegung« fähig sind und so »das stürmische, üppige, überfließende Leben« repräsentieren, wie er es in seiner Kritik an Altenberg 1897 genannt hatte. 70 Der Orientale vermag es, zwischen sich als einzelnem und der Welt zu vermitteln, um Totalität zu gewinnen. Durch ihn geht »die Bewegung der Welt […], die er mit dem Gesicht wie mit den andern Sinnen aufnimmt und die sich in ihm fortpflanzt.«71

4. Studium und Lehrer Welchen Einfluß die Studienjahre für Bubers persönliche und geistige Reifung hatten, ist nur schwer zu entscheiden. Fest steht, daß er schon damals zu beeindrucken verstand und dies unter anderem durch sein Auftreten vermochte. Margarete Susman (1872-1966), die ihn »[i]n einem Privatseminar [Georg] Simmels« kennenlernte, »als er noch nicht berühmt, sondern ein äußerst empfänglicher junger Mann war«, berichtet, ihr »erster Eindruck beim Anblick dieses zarten, schmächtigen Menschen war: das ist kein Mensch, das ist reiner Geist«. 72 Ähnliches erzählte Juda Magnes (1877-1948), als er aus Anlaß von Bubers 70. Geburtstag einen so ironischen wie respektvollen Bericht jener Jahre gab. »Ich sah 68. Vgl. in diesem Band, S. 125. Als »[e]in Lichtbringer und Leuchtender, ein Dichter und Prophet der kommenden Menschheit« war Altenberg von dem bereits genannten Wiener Kritiker Max Messer bezeichnet worden, vgl. ders., Peter Altenberg und sein neues Buch »Ashantee«, S. 725. Messers Artikel erschien am 1. Juni 1897 in der Wiener Rundschau, zwei Wochen vor demjenigen Bubers. Daß Buber zu jener Zeit die Zeitschrift las, geht aus einer seiner Äußerungen hervor, vgl. ders., Auswahl deutscher Verse, S. 143. 69. M. Buber, Vom Geist des Judentums, S. 11, 13 (= RGA, S. 71, 72 = JuJ, S. 47, 48). 70. Vgl. in diesem Band, S. 125. 71. M. Buber, Vom Geist des Judentums, S. 13 (= RGA, S. 72 = JuJ, S. 48). 72. M. Susman, Ich habe viele Leben gelebt, S. 78.

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Sie zum erstenmal im September 1900/01, als ich die Vorlesungen von Professor Simmel an der Universität Berlin belegt hatte. Die Zahl der Hörer war so groß, daß man die Vorlesungen in einen der größten Hörsäle verlegen mußte. Obwohl der Saal bis auf den letzten Platz voll war, kamen Sie an der Spitze einer Gruppe von Jugendlichen – Burschen und besonders auch Mädchen – durch eine Nebentür herein, und Sie setzten sich in die erste Reihe, die offenbar für Sie reserviert war. Ihr schwarzer Bart, Ihr gemessener Schritt, Ihre Art, an der Spitze der Gruppe wie ein Zaddik vor seinen Chassidim zu gehen, veranlaßten mich, den neben mir sitzenden Studenten – einen blonden Arier – zu fragen, wer Sie seien, und seine Antwort lautete, dieser Jude sei der Stifter einer neuen religiösen Sekte.« 73 Buber scheute auch nicht davor zurück, in kritische Auseinandersetzung mit Professoren zu treten. So erinnerte sich Siegfried Jacobsohn (1881-1926), »wie in einem Privatissimum« bei Max Dessoir (18671947) im Sommersemester 1898 an der Berliner Universität »nach einander Monty Jacobs [(1875-1945)] und Martin Buber aufstanden und ihm schonungslos nachwiesen, daß er eine halbe Stunde lang die falschesten psychologischen Beobachtungen angestellt habe.«74 Überhaupt ist festgestellt worden, daß »unter den typischen Grundgestalten einer Jugend der Lehrer« fehlt, so jedenfalls in Bubers autobiographischen Fragmenten. 75 Nach einer akademischen Figur, die für ihn diesen Rang besessen haben könnte, wird man aufs erste vergebens suchen.76 Sein häufiger Universitätswechsel hatte daran aber keinen Anteil, gehörte er doch damals zu den Gepflogenheiten von Studenten aus wohlhabendem Haus. Seine Studienorte besaßen einen guten Ruf. So war am Ende des 19. Jahrhunderts Leipzig die größte deutsche Universität, während Berlin und Wien durch ihr hauptstädtisches Ambiente ebenso sehr wie durch viele namhafte Lehrer lockten. Durch die erhaltenen Abgangszeugnisse und Kollegienbücher – im Anhang hier erstmals vollständig veröffentlicht – kann weitgehend rekonstruiert werden, welche universitären Veranstaltungen Buber überhaupt besuchte. Man ist so in der Lage, zumindest einige der um ihn entstandenen biographischen Legenden aufzuklären, etwa die, er habe »vor allem 73. 74. 75. 76.

M. Buber, B III, S. 165 (Magnes an B., 8. 2. 1948). S. Jacobsohn, Alter Commilitone, S. 227. Schaeder, S. 25, vgl. Kohn, S. 22 f. Am ehesten haben Achad Haam und A. D. Gordon diese Rolle erfüllt. Zu Bubers Würdigung von Achad Haam, vgl. M. Buber, Ein geistiges Zentrum, ders., Der Wägende, ders., Vertrauen, ders., Achad-Haam-Gedenkrede in Berlin, ders., AchadHaam-Gedenkrede in Basel, ders., Die Lehre vom Zentrum, zu der von Gordon, vgl. ders., Der wahre Lehrer, zu seiner Auffassung des Lehrers schlechthin, vgl. E. Simon, Erzieher, S. 322-324.

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in seinem ersten Studentenjahr in Wien bei Wickhoff und Riegl Kunstgeschichte studiert.« 77 Aus den Unterlagen geht hervor, daß er zu dieser Zeit, im Wintersemester 1896/97 und im Sommersemester 1897, bei keinem der beiden überhaupt gehört hatte. Eine Veranstaltung von Franz Wickhoff (1853-1909) besuchte er erstmals im Wintersemester 1901/02, während er bei Alois Riegl (1858-1905) nie wirklich studiert zu haben scheint. Weil sie aber die beiden Ordinarien in Kunstgeschichte waren, mußte Buber bei ihnen einen Teil seiner Rigorosen ablegen. Bei seinem Doktorvater Friedrich Jodl (1849-1914) hörte er im Sommersemester 1897 und Wintersemester 1901/02. Eine Veranstaltung des Zweitgutachters Laurenz Müllner (1848-1911), eines katholischen Priesters, der auf die Philosophische Fakultät übergewechselt war, besuchte er erstmals im genannten Wintersemester. Auch darum macht die Zusammensetzung seines Prüfungskollegiums den Eindruck der Zufälligkeit. Rein statistisch gesehen, hörte er in Wien am häufigsten einen Schüler von Ernst Mach (1838-1916) und späteren Nachfolger auf dessen Lehrkanzel, Adolf Stöhr (1855-1921), mit zwei Veranstaltungen im Wintersemester 1896/97 und einer im Wintersemester 1901/02. Ohnehin zählen Empiriokritizisten und Positivisten zu den Dozenten, die er regelmäßig besuchte. Aus den von Buber belegten Veranstaltungen gewinnt man den Eindruck, daß er mit dem Stand der Geistes- und Sozialwissenschaften seiner Zeit bestens vertraut war. In seinen Schriften macht er, gerade wegen aller in ihnen aufscheinenden Kenntnisse, den Eindruck des Generalisten und gebildeten Dilettanten. Dieser Umstand hätte ihn in heftigen Konflikt mit Wickhoff und Riegl bringen müssen. Die Gründungsväter der Wiener Schule der Kunstgeschichte zeichneten sich durch exakte Philologie und Quellenforschung aus. Bloße Connaisseure und gebildete Laien suchten sie von dem Fach fernzuhalten. 78 Einen Reflex von Bubers Distanz zum akademischen Betrieb findet man noch in einem Schreiben an Hugo Bergmann aus den Dreißiger Jahren anläßlich des Versuchs, ihn nach Jerusalem an die Hebräische Universität zu holen. Gegenüber dem Schüler und Freund, der damals deren Rektor war, erklärte er: »Sie müssen bedenken, daß ich kein Universitätsmensch bin. Daß ich – nachdem ich als junger Mensch die fast fertige Habilitationsschrift ad acta gelegt und als Vierzigjähriger ein ehrenreiches Ordinariat ausgeschlagen hatte – den Frankfurter Ruf annahm, hing mit meinem Verhältnis zu Franz Rosenzweig auf eine Weise zusammen, die ich als tragisch empfinden muß; es hatte den Charakter des Opfers und die Entlassung daher den der Lösung.« 79 Buber 77. M. Buber, B II, S. 187 A. 6. 78. Vgl. J. Schlosser, Franz Wickhoff, S. 193 f. 79. M. Buber, B II, S. 589 (an Bergmann, 16. 4. 1936). Gemeint ist eine Habilitation in

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hatte 1923 auf Bitten des Freundes, dessen schwere Krankheit damals begann, an seiner statt den Lehrauftrag für jüdische Religionslehre und jüdische Ethik an der Universität Frankfurt übernommen. Im Sommer 1930 zum Honorarprofessor für Religionswissenschaft ernannt, wurde er im Sommersemester 1933 von den nationalsozialistischen Studenten boykottiert und im folgenden Semester schließlich offiziell »beurlaubt«. Danach erscheint sein Name nicht mehr im Vorlesungsverzeichnis. 80 In einem Brief Anfang der fünfziger Jahre gab Buber noch eine andere Auskunft über seine Lehrjahre. Gegenüber seinem Biographen Maurice Friedman erklärte er: »Simmel und Dilthey waren meine Lehrer. Sie haben in den Jahren 1898-1904 mein Denken stark beeinflußt, hatten aber meines Wissens keinerlei Einfluß auf die Ich-Du-Philosophie.« 81 Die Buberforschung hat sich dieser Aussage weitgehend angeschlossen, und anhand des Archivmaterials muß man ihr zustimmen.82 Buber belegte Veranstaltungen von Georg Simmel in einer für ihn großen Häufigkeit sowohl im Sommersemester 1898 als auch in den Wintersemestern 1899/1900 und 1900/01. Wilhelm Dilthey (1833-1911) hörte er hingegen nur im Wintersemester 1899/1900, doch finden sich in erhaltenen Notizen zur Dissertation Exzerpte aus seinen geistesgeschichtlichen Schriften. 83 Auch wird er in »Jüdische Renaissance« (1900) erwähnt, einer wichtigen frühen Arbeit. 84 Ohnehin ist der Begriff »Erlebnis«, der im Denken des jungen Buber eminente Bedeutung hat, als solcher der Philosophie Diltheys entnommen, die die Realität des menschlichen Wesens durch miterlebende Erfahrung erfassen will. 85

80. 81. 82. 83. 84. 85.

Kunstgeschichte, die Buber 1905/06 abbrach – vermutlich weil Alois Riegl gestorben war. Zu den Einzelheiten sind bisher keine Dokumente gefunden worden. Zum Angebot eines Ordinariats an der Univ. Gießen, vgl. W. Kraft, Gespräche mit Martin Buber, S. 139 f. (21. 3. 1965). In dem an der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek aufbewahrten Exemplar Scholems vermerkt dieser in einer Glosse, daß der Ruf von Göttingen aus ergangen sei. Zur Lehrtätigkeit an der Univ. Frankfurt, vgl. R. van de Sandt, Martin Buber an der Universität Frankfurt am Main, W. Schottroff, Martin Buber an der Universität Frankfurt, P. Mendes-Flohr, Buber’s Rhetoric, S. 1-3 (dort auch die Überlegung, ob nicht Königtum Gottes von Buber als Habilitationsschrift geplant war, auch wenn es zu einer solchen nie gekommen ist). Vgl. W. Schottroff, a. a. O., S. 75. M. Buber, B III, S. 290 (an Friedman, 11. 8. 1951). Vgl. Kohn, S. 23. 59, Schaeder, S. 25 (Dilthey als »der große, ihm gemäße Lehrer«), Mendes-Flohr, S. 7-13. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/bet 7. Die Exzerpte stammen aus Aufsätzen Diltheys, die später in Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation aufgenommen wurden. Vgl. M. Buber, Jüdische Renaissance, S. 10. Vgl. P. Mendes-Flohr, Buber’s Rhetoric, S. 15-18.

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Bekannt ist auch, daß Buber später von Simmel wichtige religionstheoretische Anregungen übernahm, etwa die Unterscheidung von »Religion« und »Religiosität«. 86 Mit ihr wollte dieser deutlich machen, daß das, was er »Religiosität« nannte, »als seelische Wirklichkeit ja kein fertiges Ding, keine feste Substanz, sondern ein lebendiger Prozeß« sei, der sich institutionell verfestige und so erst zur »Religion« werde. 87 Dann bilde er »ein Reich des Objektiven«, wobei »die Religiosität die Religion« geschaffen habe. 88 In seiner Rede von 1914, »Jüdische Religiosität«, machte Buber von dieser Unterscheidung ausgiebig Gebrauch. 89 Er trug sie zudem in einen Generationenkonflikt ein. »Es ist also Religiosität das schaffende, Religion das organisierende Prinzip; Religiosität beginnt neu mit jedem jungen Menschen, den das Geheimnis erschüttert, Religion will ihn in ihr ein für allemal stabiliertes Gefüge einzwingen; Religiosität meint Aktivität – ein elementares Sichinverhältnissetzen zum Absoluten –, Religion meint Passivität – ein Aufsichnehmen des überlieferten Gesetzes; Religiosität hat nur ihr Ziel, Religion hat Zwecke; aus Religiosität stehen die Söhne wider die Väter auf, um ihren selbeignen Gott zu finden, aus Religion verdammen die Väter die Söhne, wie sie sich ihren Gott nicht auferlegen ließen; Religion bedeutet Erhaltung, Religiosität bedeutet Erneuerung.« 90 Mit Simmel, der bei allem Ruhm »an der damaligen Berliner Universität […] ein Außenseiter« war, blieb Buber über die Studienzeit hinaus in engerem Kontakt. 91 Er wurde von diesem nach Kräften unterstützt und mit Sympathie gefördert. Buber selbst gewann Simmel 1906 zur Mitarbeit an der Gesellschaft, in der die erste Fassung von Die Religion erschien. 92 Sein Vorhaben, ihn sogar zur Übernahme der Herausgeberschaft zu bewegen, lehnte dieser aber ab. 93 Daß Simmel sich »an die Mannigfaltigkeit der Phänomene [verlor], deren einwohnend geistiges Moment er 86. 87. 88. 89. 90. 91.

92. 93.

Vgl. H. Kreß, Religiöse Ethik und dialogisches Denken, S. 101-116. G. Simmel, Zur Soziologie der Religion, S. 284. G. Simmel, Die Religion [1906], S. 54. Vgl. B I, S. 359 (an Rappeport, 6. 5. 1914): »ich habe in Prag meinen fünften, vorläufig letzten und wichtigsten Vortrag gehalten«. M. Buber, Vom Geist des Judentums, S. 51 f. (= RGA, S. 104 f. = JuJ, S. 66 f.). M. Landmann, Georg Simmel und Stefan George, S. 147. Vgl. G. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S. 83: »Einmal zog ich mir den Zorn Bubers und seiner Frau zu, die mir sonst wohlgesinnt war (und blieb), als ich beim Kaffee eine vorlaute, abfällige Bemerkung über Georg Simmel machte, der im Hause Buber sehr viel galt.« Zu einer persönlichen Würdigung Simmels durch Buber, vgl. Buch des Dankes, S. 223 f. (aufgezeichnet von M. Landmann 1951). Zur Entstehungsgeschichte des Bandes, vgl. G. Simmel, Die Religion [1912], S. 410415. Vgl. M. Buber, B I, S. 234 (Simmel an B., 20. 11. 1905).

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herausschürfte und die er verglich«, dürfte den Jüngeren fasziniert haben.94 Zugleich wurde dies Buber aber auch als eigene Gefährdung bewußt. Wohl darum hat er ihm in einer kleineren Arbeit, »Leistung und Dasein« (1914), mit der Figur des Professors ein ambivalentes literarisches Denkmal gesetzt. 95 Aber auch Simmel hat Buber gewürdigt und als Hommage eine chassidische Geschichte in die überarbeitete Fassung seiner Religion aufgenommen. 96 Nähe und Distanz im Denken beider können aber nirgends besser erkannt werden als an ihren Überlegungen zur Bedeutung des Gesprächs. Was gemeinhin als solches gilt, ist für den reifen Buber zumeist Geschwätz und Gerede. »Die Hauptvoraussetzung zur Entstehung eines echten Gesprächs ist, daß jeder seinen Partner als diesen, als eben diesen Menschen meint. Ich werde seiner inne, werde dessen inne, daß er anders, wesenhaft anders ist als ich, in dieser bestimmten ihm eigentümlichen einmaligen Weise wesenhaft anders als ich, und ich nehme den Menschen an, den ich wahrgenommen habe, so daß ich mein Wort in allem Ernst an ihn, eben als ihn, richten kann.«97 Dadurch erst entstünde eine wirkliche Beziehung, die jede bloße Erfahrung übersteigt. »Das Du begegnet mir. Aber ich trete in die unmittelbare Beziehung zu ihm. So ist die Beziehung Erwähltwerden und Erwählen, Passion und Aktion in einem.«98 Während das Gespräch hier in einem Bereich angesiedelt wird, den üblicherweise die Religionen einnehmen, und es folgerichtig auch mit religiösem Vokabular beschrieben wird, stellt es für Simmel die »Kunst des Sich-Unterhaltens« dar. Denn »im rein geselligen Gespräch ist sein Stoff nur noch der unentbehrliche Träger der Reize, die der lebendige Wechseltausch der Rede als solcher entfaltet. Alle die Formen, mit denen dieser Tausch sich verwirklicht […] haben ihre Bedeutung in sich selbst, das heißt in dem Reize des Beziehungsspieles, das sie, bindend und lösend, siegend und unterliegend, gebend und nehmend, zwischen den Individuen stiften«. 99 Das Gespräch erscheint bei Simmel als erotisches Spiel und ist, als höchster Ausdruck der Geselligkeit, zugleich Inbegriff jener »ideale[n] soziologische[n] Welt«, in der einzig »eine Demokratie 94. Ebd., S. 148. 95. Vgl. M. Buber, B II, S. 382 (an Gerson, 4. 9. 1930): »Lesen Sie übrigens in dem Dialog ›Leistung und Dasein‹, was ich Simmel (der ist gemeint) zu mir über Buchwirkung sagen lasse.« Vgl. in diesem Band, S. 267. Die Aussagen des Professors sind stark an Nietzsche orientiert, vgl. ders., Menschliches-Allzumenschliches [1878], KGW IV. 2, S. 173. 96. Vgl. G. Simmel, Die Religion [1912], S. 99. 97. M. Buber, Elemente des Zwischenmenschlichen, S. 283 (=W I, S. 277). 98. M. Buber, IuD, S. 15 (=W I, S. 85). 99. G. Simmel, Grundfragen der Soziologie, S. 115.

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der Gleichberechtigten ohne Reibung möglich ist«. 100 Allerdings handelt es sich hier um »eine künstliche Welt«, deren Bewohner »das ganz Persönliche« weglassen müssen – gerade das, worauf später Buber seinen Einsatz richten wird. Doch werden die Reize des »lebendigen Wechseltauschs der Rede« von manchen ihrer Teilnehmerinnen tatsächlich auch verkörpert. Eine solche Inkarnation sei nur in dieser Kunstwelt möglich: »eine Dame würde in einem wirklich persönlichen, intim freundschaftlichen Beisammensein mit einem oder wenigen Männern nicht so dekolletiert erscheinen mögen, wie sie es ganz unbefangen in einer großen Gesellschaft tut«. 101 Simmels urbane Philosophie war von Bubers neureligiösem Denken durch jene Welt getrennt, die im Ersten Weltkrieg unterging.

5. Philosophische Einflüsse Welchen klassischen Philosophen er sein Interesse widmete, läßt sich einigermaßen genau bestimmen. Unter ihnen muß man Arthur Schopenhauer (1788-1860) als ersten nennen, auch weil zu seiner Philosophie eine akademische Arbeit aus Bubers Hand existiert. Er galt in dessen Studienjahren als derjenige, der die Philosophie von Plato (428-348 v. Chr.) in die Gegenwart vermittelte und das Erbe von Immanuel Kant (17241804) verwaltete, aber beides entscheidend erweiterte. Nicht zuletzt durch seinen Einfluß auf Nietzsche wirkte er epochal. Für die damals junge Generation stellte sein tragischer Pessimismus die Korrektur des parareligiösen Fortschrittsglaubens der Zeit dar. Schopenhauer erhob Randgebiete der Philosophie zu zentralen Gegenständen und führte die religiösen Traditionen Indiens einem gebildeten Publikum mit nachhaltiger Wirkung vor. Tat tvam asi, »das bist du«, die hinduistische Formel erlösender Selbsterkenntnis, wurde all denen, die durch Lektüre Lebenshilfe zu erlangen hofften, zum Gebot. 102 Die Maxime erinnert zwar an die delphische Inschrift gnothi sauton, »erkenne dich selbst«. Man konnte sie aber so verstehen – und hat dies auch getan –, daß in ihr Existenz als solche jeder möglichen Erkenntnisleistung als gleichberechtigt zur Seite gestellt wird. Aber es waren Kant und Nietzsche, die Buber in seiner Jugend besonders beeindruckten und sogar existentiell ergriffen. Mit fünfzehn habe er 100. Ebd., S. 111. 101. Ebd., S. 111 vgl. S. 109. 102. Vgl. M. Buber, B I, S. 149 (P. Buber an B., 16./17. 8. 1899: Zitat der Formel).

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die Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik gelesen, was in der »Frage nach der Zeit«, die ihn quälte, »eine große beruhigende Wirkung auf mich [ausübte]«. 103 Im Alter von siebzehn Jahren (1895) »bemächtigte sich meiner das andere Buch, das zwar ebenfalls das Werk eines Philosophen, aber kein philosophisches war: Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹. Ich sage: ›bemächtigte sich meiner‹; denn hier trat mir nicht eine Lehre schlicht und gelassen entgegen, sondern ein gewollter und gekonnter – großartig gewollter und großartig gekonnter – Vortrag stürzte auf mich zu und über mich her. Dieses Buch, vom Verfasser als das größte Geschenk bezeichnet, das der Menschheit bisher gemacht worden sei, hat auf mich nicht in der Weise einer Gabe, sondern in der Weise des Überfalls und der Freiheitsberaubung gewirkt, und es hat lang gedauert, bis ich mich loszumachen vermocht habe.«104 In den Jahren der Begeisterung für Nietzsche begann Buber sogar, den Zarathustra ins Polnische zu übersetzen. Er macht sich eben an den zweiten Teil, »als ich den Brief eines namhaften polnischen Autors erhielt, der ebenfalls mehrere Abschnitte des Buches übertragen hatte und mir vorschlug, die Arbeit gemeinsam zu machen. Ich habe es vorgezogen, zu seinen Gunsten zu verzichten.« 105 Es existieren zwei Arbeiten Bubers zu Nietzsche. Die spätere, ein Nachruf, steht, was ihre Bedeutung für sein geistiges Porträt jener Jahre angeht, deutlich hinter der früheren, einem handschriftlichen Manuskript, das hier erstmals veröffentlicht wird. Um 1896/97 entstanden, erweist es sich als Frucht einer Jugend, der Nietzsche bereits zum Modephilosophen geworden war, hatte seine Rezeption doch ein halbes Jahrzehnt zuvor eingesetzt. In Feuilletons, Broschüren und Zeitschriften breit vorgetragen, war Philosophie so zu einem Medienereignis geworden. 106 Daß sie nur der

103. M. Buber, AF, S. 9, vgl. ders., Das Problem des Menschen, S. 39-41. 104. M. Buber, AF, S. 10. Zu Nietzsches Selbstkommentar, vgl. Ecce Homo [1889], KGW, VI.3, S. 257: »Innerhalb meiner Schriften steht für sich mein Zarathustra. Ich habe mit ihm der Menschheit das grösste Geschenk gemacht, das ihr bisher gemacht worden ist. Dies Buch, mit einer Stimme über Jahrtausende hinweg, ist nicht nur das höchste Buch, das es giebt, das eigentliche Höhenluft-Buch – die ganze Thatsache Mensch liegt in ungeheurer Ferne unter ihm – es ist auch das tiefste, das aus dem innersten Reichthum der Wahrheit heraus geborene, ein unerschöpflicher Brunnen, in den kein Eimer hinabsteigt, ohne mit Gold und Güte gefüllt heraufzukommen.« 105. M. Buber, AF, S. 34 Anm. 3. 106. Zur Nietzsche-Rezeption von 1889 bis 1891, vgl. R. F. Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist, S. 74-104. Gerahmt von der Entdeckung durch Detlev von Liliencron und der durch Stefan George, finden dort publizistische Äußerungen zu Nietzsche von u. a. folgenden Autoren Erwähnung: Ola Hansson, Leo Berg, Georg Brandes, Joseph Diner, Heinrich Hart, Lou Andreas-Salomé und Kurt Eisner.

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Geistesaristokratie zugänglich sei, wie man behauptete, tat ihrer massenhaften Verbreitung verständlicherweise keinen Abbruch. Buber besaß eine gute Kenntnis von Nietzsches Schriften, las aber auch Literatur über ihn, etwa den Essay von Stanislaw Przybyszewski (18681927), Zur Psychologie des Individuums. 1892 in Berlin erschienen und eine Anverwandlung Nietzsches an das eigene Denken, wird darin erklärt: »Rausch ist die Kunst ihrem Wesen, ihrer Entstehung nach und Rausch muß sie hervorrufen, sonst haben wir sie nicht nötig«, und daß »von den beiden Rauschkünstlern, Chopin und Nietzsche, […] die neue Kunst ausgehen« würde. 107 Rausch und Kunst bilden auch bei Buber Stichworte seiner Interpretation. 108 Aber stärker als an Przybyszewski maß er sich am dänischen Literaturhistoriker Georg Brandes (1842-1927). Dieser hatte, angeregt durch Lou Andreas-Salomé (1861-1937), als erster eine breitere Öffentlichkeit mit Nietzsches Denken bekannt gemacht und fand mit seinem Essay über dessen »Aristokratischen Radicalismus« weite Verbreitung. 109 Auf Deutsch im April 1890 in der Deutschen Rundschau erschienen, bezog er sich auf ihn als »auf den Kritiker der Moral, auf den Feind aller Heuchelei« und auf den Psychologen. 110 Versehen mit einer »Nachschrift« wurde er 1893 in der Freien Bühne wieder veröffentlicht und ein Jahr später in Menschen und Werke aufgenommen, eine Sammlung literaturwissenschaftlicher Essays von Brandes. Buber hatte ihn in dieser, wahrscheinlicher aber in der 2., um Ausführungen zu Peter Gast ergänzten Ausgabe und jedenfalls gründlich gelesen, zitierte er ihn doch öfter, mitunter kritisch, manchmal verdeckt und in Paraphrase. 111 107. S. Przybyszewski, Zur Psychologie des Individuums, S. 120 f., vgl. F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung c189], KGW VI. 3, S. 110–112. Przybyszewski wird von Buber einmal ohne Namensnennung zitiert, vgl. in diesem Band, S. 111. 108. Vgl. ebd., S. 110, 112, 116. 109. In Deutschland war sein Aufsatz nicht der erste über Nietzsche überhaupt. Dieser Ruhm kommt einer Arbeit von Ola Hansson zu: »Friedrich Nietzsche. Die Umrißlinien seines Systems und seiner Persönlichkeit. Kritischer Entwurf« war schon im Herbstheft 1889 von Unsere Zeit erschienen, wohl auch weil Brandes’ Übersetzerin Laura Marholm ihre Arbeit äußerst schleppend erledigte. Allerdings war sie auch Hanssons Frau. Daraus entstand ein heftiger, von diesem mit antisemitischen Tönen geführter Disput, vgl. A. Fambrini, Ola Hansson und Georg Brandes, S. 422-427 (vgl. S. 422 die Berichtigung an Krummel, S. 76, daß Hanssons Aufsatz im Herbst–, nicht im Februarheft von Unsere Zeit erschienen war) und E. Gloßmann, Therapeut und Waffenbruder, S. 92 f. (zugunsten Hansson). Zu Hanssons Aufsatz in überarbeiteter Form, vgl. ders., Friedrich Nietzsche, S. 7-54. 110. A. Fambrini, a. a. O., S. 427. 111. Vgl. in diesem Band, S. 106 (Zitat und Paraphrase), S. 107 (Paraphrase), S. 113 (Paraphrase), S. 114 (Paraphrase), S. 115 (Paraphrase), S. 116 (Kritik). Zu den verschiedenen Fassungen von Brandes’ Aufsatz, vgl. R. F. Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist, S. 84 f.

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Man gewinnt den Eindruck, er habe ihn gleichsam als Widerpart benötigt, um eigene Gedanken besser formulieren und schärfen zu können. Zwar nahm er Nietzsche nicht durch die Brille von Brandes wahr, doch hielt er es für wichtig, sich expressis verbis von dessen gleichsam naturalistischer Interpretation abzusetzen. Davon zeugt vor allem die Begeisterung für den Zarathustra, der nicht nur der Arbeit den Titel gab, sondern auch das stilistische Vorbild ist. Daß Buber aber Nietzsche nicht nur imitierte, sondern auch produktiv machen konnte, war an dem oben diskutierten Abschnitt aus »Zur Wiener Literatur« schon erkennbar geworden. Die dort geäußerte »Sehnsucht nach einer ›neuen Rasse‹ von Übermenschen, deren Herannahen wir beschleunigen sollten«, blieb auch in den folgenden Jahren das vorherrschende Gefühl.112 Freilich wurde es entscheidend modifiziert, nämlich judaisiert, sodaß sich das Projekt jetzt in der Hauptsache auf die jüdische Wiedergeburt bezog. Darum finden sich in den frühen zionistischen Schriften überall Spuren Nietzsches. In ihnen fließt das Pathos der Erneuerung mit einer aristokratischen Verachtung des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl zusammen. »Wie traurig hört sich das schöne Wort ›Glück‹ aus zahnlosem Munde an!» 113 Bubers Arbeiten bis 1904/05 hallen insgesamt in einem großen Maß vom Wunsch nach einem heroischen Leben und dessen Aufgehen im Opfer wider – vergleichbares liest man erst wieder zur Zeit des Ersten Weltkriegs. So erklärte er: »Wenn ich für mein Volk zu wählen hätte zwischen einem behaglichen, unfruchtbaren Glück, wie es in alten Zeiten manchem seiner Nachbarn zuteil geworden war, und einem schönen Tode in letzter Anspannung des Lebens, ich müßte diesen wählen. Denn er würde, und sei es auch nur einen Augenblick lang, etwas Göttliches schaffen, jenes aber nur etwas Allzumenschliches.«114 Im Tonfall, am deutlichsten im letzten antiklimaktischen Ausdruck, ist eine Nähe zu und eine begriffliche Anspielung auf Nietzsche mit Händen zu greifen. Eine vorsichtige Kritik an ihm findet man zuerst in der letzten der Drei Reden über das Judentum (1911). Buber klagte dort, daß dieser, in dem »die Sehnsucht nach einem neuen heroischen Leben« stark war, »dennoch sich dem Evolutionsdogma nicht zu entziehen vermochte«. 115 Daß er aber selbst in dem Nachruf auf Nietzsche für die Evolution gesprochen hatte, schien nun vergessen zu sein. 116 112. Vgl. in diesem Band, S. 125. 113. M. Buber, Wege des Zionismus, S. 41. 114. Ebd., S. 41 f. Herzl fand den Text, der als Artikel Ende 1901 in der Welt erschien, »[h]errlich«, vgl. M. Buber, B I, S. 170 (Herzl an B., 20. 12. 1901). 115. M. Buber, DR, S. 60 f. (= RGA, S. 38 = JuJ, S. 28). 116. Vgl. in diesem Band, S. 151.

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Seinen hauptsächlichen Einwand gegen dessen Denken erhob Buber aber zum ersten Mal in einer Rede von 1937. Die Behauptung vom Tod Gottes wäre »in einer unsere Zeit kennzeichnenden Weise furchtbar falsch«. 117 Sie stelle nämlich ein Mißverständnis des Bilderverbots dar. »Die Bilder stürzen, aber die Stimme verstummt nicht. ›Stimme in Reden hört ihr, aber keine Gestalt seht ihr, – Stimme allein‹ (V. Mos 4,12)«.118 In eine andere Richtung zielt dann die Kritik, die Werner Kraft mitteilt. »Er sagte, wie sehr ihm in seiner Jugend die Lektüre des Zarathustra geschadet habe. Er wurde heftig gegen die Nachahmung darin nach dem Maßstab heiliger Schriften. Dagegen lobte er seine Prosa und rühmte trotz sachlicher Ablehnung die ›Genealogie der Moral‹. Ich wies auf Nietzsches Einsamkeit hin, in welcher ein Mensch sich wohl überschreien könne. Er sagte, alle großen Philosophen von Plato bis Kant seien einsam gewesen, aber still.« 119

6. Zionismus Buber war im Sommer 1898 nach der Lektüre Achad Haams (1856-1927) Zionist geworden. 120 Er gründete, gemeinsam mit Eliasberg, im Winter desselben Jahres in Leipzig eine zionistische Ortsgruppe – für die er Herzl vergeblich zu einem Vortrag einlud – und nach Berliner Vorbild einen jüdischen Studentenverein, die V. J. St. Leipzig, deren erster Chargierter er war. 121 In der jungen zionistischen Bewegung machte er schnell Karriere, ohne jedoch zum engeren Kreis der Führung zu gehören. Chaim Weiz117. M. Buber, Die Vorurteile der Jugend, S. 84 (= JuJ, S. 720: »gräßlich« für »furchtbar«). Ich danke Juliane Jacobi (Potsdam) für den Hinweis auf diesen Text. 118. Ebd., S. 85 (= JuJ, S. 720: Bibelzitat von Buber anders übersetzt). 119. W. Kraft, Gespräche mit Martin Buber, S. 40 (8. 1. 1959). Bemerkenwerterweise hatte Buber die Genealogie der Moral auch schon in seinem Jugendwerk hochgeschätzt, vgl. in diesem Band S.105: »das Beste«. 120. Vgl. Eliasberg, S. 4. Achad Haam verstand den Zionismus als Mittel zur Errichtung eines geistigen Zentrums des Judentums und war, vom 1. Zionistischen Kongreß an, ein Kritiker Herzls. Seine in Al Paraschat Derakhim (dt. Am Scheideweg) gesammelten hebräischen Aufsätze erschienen in deutscher Übersetzung 1905 bzw. 1913/16 im Jüdischen Verlag. Zu Achad Haam überhaupt, vgl. Zipperstein, Elusive Prophet. Zu einer exemplarischen Untersuchung von Bubers geistigem Profil als Zionist, vgl. M. Urban, In Search of a ›Narrative Anthology‹. 121. Vgl. Eliasberg, S. 5, Kohn, S. 24. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/alef 6 (Kopie eines Nachdrucks eines von Buber verfaßten Aufrufs der V. J. St. Leipzig aus dem Gründungsjahr). Mit ihm sollten Erstsemester »gekeilt« werden: »Die Vereinigung Jüdischer Studierender zu Leipzig bezweckt die Hebung des jüdischen Selbstbewusstseins durch Zusammenschluss der jüdischen Studenten, durch Verbreitung der Ken[n]tnisse in jüdischer Geschichte und Literatur und durch Stärkung der Körperkraft und Gewandtheit.« Zur Einladung an Herzl, vgl. M. Buber, B I, S. 146 f. (an Herzl, 6. 1. 1899) und T. Herzl, BuT, Bd. 5, S. 44 (an B., 6. 1. 1899).

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mann (1874-1952) lud ihn im Herbst 1899 in die Schweiz ein, weil er sich von ihm als Redner Unterstützung bei der Gründung der Ha-Schachar (Der Morgenröte), einer zionistischen Gesellschaft von Exilrussen, erhoffte. 122 Kurz davor hatte Buber bereits am 3. Zionistischen Kongreß in Basel (15.-18. 8. 1899) als Referent des »Agitationsausschusses« teilgenommen.123 Im Winter 1900/01 zählte er zu den Mitbegründern der Sektion für jüdische Kunst und Wissenschaft der Berliner Zionistischen Vereinigung und war später in einem ähnlichem Kreis auch in Wien aktiv. 124 »Damit beginnt der ›Kulturzionismus‹, zunächst noch Achad-Ha’Amscher Prägung, im Westen erstmalig Fuß zu fassen, und zugleich ist der Keim für die zionistische Opposition gelegt.« 125 Mit seinen Mitstreitern plante Buber die Errichtung einer Jungjüdischen Bühne, die der Freien Bühne von Otto Brahm (1856-1912) in Berlin nachgebildet war. 126 Als Verein hätte sie die Zensur besser umgehen können. Auf dem 5. Zionistischen Kongreß, der vom 26.-30. Dezember 1901 erneut in Basel tagte, hielt Buber sein berühmtes Referat über jüdische Kunst. Er wich darin vom offiziellen Programm ab, das sich im wesentlichen politischen Aufgaben widmete, kritisierte Führungsfiguren wie Max Nordau (1849-1923) und machte sich für eine »[ä]sthetische Erziehung des Volkes« stark. 127 Die »jüdische Renaissance« sollte auch eine kulturelle Erneuerung darstellen und »[n]icht das Programm einer Partei, sondern das ungeschriebene Programm einer Bewegung« werden. 128 Die Faszination an der Renaissance teilte Buber noch mit der älteren Generation, etwa mit Ludwig Geiger (1848-1919), dem Berliner Ordinarius für Deutsche Literatur und Kulturgeschichte, der von Jacob Burckhardt (18181897) sogar als Herausgeber künftiger Auflagen seiner Die Cultur der Re122. Vgl. C. Weizmann, Memoiren, S. 82, Friedman, S. 56 f. 123. Vgl. Kohn, S. 25, Schaeder, S. 193, Schmidt, S. 56-58. Zu Bubers Ausführungen, vgl. ders., Referat [I], S. 191: der Agitationsausschuß solle nach außen und nach innen wirken, denn »Agitation heißt Bewegung mitteilen, es heißt aber auch Bewegung erhalten und kräftigen.« 124. Vgl. Kohn, S. 38 f. 125. Simon, S. 53. 126. Vgl. M. Buber, Eine jungjüdische Bühne, S. 11. Brahm eröffnete die von ihm mitgegründete Freie Bühne mit Ibsens Gespenster. Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang erregte noch im selben Jahr einen großen Skandal. Sein Theater wurde zur Spielstätte der Naturalisten und ihrer Erfolge. 127. M. Buber, Referat [II], S. 167 (= Jüdische Kunst [Nr. 4], S. 8), vgl. Kohn, S. 41 f., Schmidt, S. 58-61. Noch nachträglich sorgte das Referat für Verstimmung, wurde es doch so fehlerhaft gesetzt, daß es darüber zu einer Auseinandersetzung zwischen Buber und Herzl kam, vgl. T. Herzl, BuT, Bd. 6, S. 432 (an B., 22. 2. 1902), 787 (Kommentar). 128. M. Buber, Jüdische Renaissance, S. 13, vgl. Kohn, S. 52-54, C. Ujma, Political versus Cultural Zionism.

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naissance in Italien eingesetzt worden war. 129 Allerdings glich Buber auch schon jenem »Reisetypus«, den Aby Warburg (1866-1929) »Übermenschen in den Osterferien« nannte, »mit Zarathustra in der Tasche seines Lodenmantels,« dem »neue[r] Lebensmut einrauscht zum Kampf ums Dasein, selbst gegen die Obrigkeit«. 130 Wirklich erblickte Buber in der »große[n] Zeit des Quattrocento« das Ideal einer Bewegung, die ihre Mitglieder mit sich vorwärtsträgt, freilich um den Preis wachsender Entmächtigung und schließlicher, rauschhafter Bewußtlosigkeit. 131 Unterstützt wurde die Forderung einer geistigen Wiedergeburt des Judentums von einer Gruppe junger Intellektueller, der sogenannten Demokratischen Fraktion, die sich selbst als »Avantgarde des Zionismus« verstand. 132 Schon im Vorfeld war es zu Spannungen mit den »Vätern« um Theodor Herzl gekommen.133 Auf dem Kongreß selbst wurden, nachdem die »Jungen« unter Protest den Saal verlassen hatten, die Anträge des Kulturausschusses angenommen und eine »ständige Cultur-Commission« eingerichtet, der unter anderem Buber angehörte. 134 Einzig denjenigen auf finanzielle Unterstützung für einen Jüdischen Verlag lehnte man ab. Aber auch ohne sie wurde dieser 1902 in Berlin gegründet und mit 129. L. Geiger gab Burckhardts Buch von der 3. (1877) bis zur 12. Auflage (1919) heraus. Zu Geiger, vgl. H.-D. Holzhausen, Ludwig Geiger. 130. Diese Charakteristik stammt aus dem Zusammenhang des sogenannten »Nymphenfragments« (1900/01), vgl. Gombrich, Aby Warburg, S. 141-164: 147. Zu diesem selbst, vgl. S. Weigel, Aby Warburgs »Göttin im Exil«. 131. M. Buber, Jüdische Renaissance, S. 9. Zur Bewegung schlechthin, vgl. ders., Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung, S. 76 f.: die Bewegung als »ein starker und mit jedem Tag wachsender Helfer«, dem bestimmte Tätigkeiten zugeschrieben werden. Zur genauen Bestimmung dieses in der Figur der Bewegung statthabenden Subjektwechsels und seiner politischen Folgen, vgl. K. Heinrich, Sucht und Sog. 132. B. Feiwel, Strömungen im Zionismus, S. 694. Die wichtigsten Repräsentanten der Gruppe außer Buber waren B. Feiwel, E. M. Lilien, L. Motzkin, A. Nossig, D. Trietsch und C. Weizmann. Sie umfaßte v. a. russische Studenten, die unter der Führung von Motzkin und Weizmann eine Trennung von Zionismus und Religion forderten. Zur Charakterisierung der Fraktion durch einen ihrer Führer, vgl. C. Weizmann, Memoiren, S. 83-88. 133. In ihrem Verlauf hatte Buber seine Tätigkeit als Redakteur der Welt, des vom Actions-Comitee herausgegebenen Zentralorgans der Zionistischen Bewegung, jedenfalls noch nicht aufgegeben. Noch im Oktober war er ihr Leiter, vgl. T. Herzl, BuT, Bd. 6, S. 614 (Herzl an Ephraim F. Waschitz, 12. 10. 1902). Wann und warum sich Buber dann tatsächlich zu diesem Schritt entschloß, ist in der Forschung umstritten oder wenig beachtet. Kohn, S. 41 f., und R. Weltsch, Einleitung, S. xix, geben keine Gründe an, Schaeder, S. 194, und Schmidt, S. 89, verlegen ihn zeitlich nach hinten und verstehen ihn als Konsequenz entweder des Baseler Kongresses (Schaeder) oder der Hinwendung zur Chassidismusforschung (Schmidt), Friedman übergeht ihn völlig. 134. Zur Kulturkommission, vgl. T. Herzl, BuT, Bd. 6, S. 413 (an Achad Haam, 27. 1. 1902) und S. 781 (Kommentar).

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dem Jüdischen Almanach 5663 (so die Jahreszahl nach dem jüdischen Kalender) eröffnet, als dessen Herausgeber Berthold Feiwel (1875-1937) und Ephraim Moses Lilien (1874-1925) firmierten. Buber steuerte für ihn den Aufsatz »Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung« sowie Gedichte bei, die an Heine erinnern. 135 Eines von ihnen, »Die Magier«, wurde Gegenstand einer Parodie im Schlemiel, einem Illustrierten Jüdischen Witzblatt, das in erster Folge 1903 bis 1905 in Berlin im Verlag von Leo Winz (1876-1952) erschien. 136 Durchwegs in Sympathie mit dem Zionismus, wurde dort unter anderem das Pathos seiner jüngeren Repräsentanten aufs Korn genommen. So endete die Ridikülisierung Bubers in der Rubrik »Nach berühmten Mustern«, betitelt »Des Magiers Tod«, mit den Versen: »Das Schweigen starrte, da des Meisters Wort / Wie sturmbewegte Flammenzunge stieg: / ›Wer nicht gelebt, der lebt auch nimmer fort, / Wenn er gestorben.‹ Und die Runde schwieg.« 137 Ungeachtet dessen, daß der Almanach ein großer Erfolg wurde, stand Buber dem fertigen Produkt ambivalent gegenüber. An Landauer schrieb er: »Auch den Almanach schicke ich Ihnen morgen. Ich habe es bisher deshalb nicht gethan, weil das Buch als Ganzes gar nicht mein Buch ist, in keinem Sinne – Manches daran wirkt fast schmerzhaft auf mich. Wenn Sie aber Interesse dafür haben, so werden Sie ja schon auszuscheiden wissen. Von mir finden Sie auch ein paar Ihnen bekannte Kleinigkeiten darin, die ich lieber diesem Bande als einer Zeitschrift gegeben habe.«138 Bei der Arbeit selbst hatte Buber – etwa zu Herzl, den er um einen anderen als den zugesagten Beitrag bat – noch von »unserem Almanach« und »unserem Buch« gesprochen.139 Bald schien er aber seinen Einfluß auf die endgültige Gestaltung verloren zu haben. Weitere Pläne der Fraktion, die auf eine eigene Zeitschrift, Der Jude, und die Errichtung einer Jüdischen Hochschule zielten, scheiterten.140 135. Bei diesen handelt es sich um »Der Dämon«, den Auszug aus einem lyrischen Drama, und um »Der Jünger« sowie »Die Magier«, »zwei Gedichte aus dem Cyclus ›Geist der Herr‹«, vgl. B. Feiwel/E. M. Lilien, Jüdischer Almanach 5663, S. 162 f.; 168 (= Nachlese S. 18 f.). 136. Schlemiel, Nr. 9 vom 1. 9. 1904, S. 79. 137. Ebd. Bubers Gedicht hatte mit folgenden Worten »ein[es] gekrönte[n] Mann[s]« in einer Runde von Magiern geendet: »Der sprach, und jedes Herzens Schlag erstarb: / ›Vor aller Macht ist mir der Drang geblieben / Nach einem Menschen, den ich möchte lieben. / Denn alle Macht ist tot.‹ Das Wort erstarb.«, vgl. ders., Die Magier, S. 168 (= 19). Der Titel der Rubrik im Schlemiel, »Nach berühmten Mustern«, ist im übrigen einem Band von Parodien Fritz Mauthners (1878) entlehnt. 138. Arc. Ms. Var. 350/62,1 (an Landauer, 6. 2. 1903). 139. M. Buber, B I, S. 175 (an Herzl, 24. 7. 1902). Herzl lehnte die Bitte übrigens ab, vgl. B I, S. 176 f. (Herzl an B., 10. 8. 1902). 140. Vgl. M. Buber/C. Weizman, Der Jude, dies./B. Feiwel, Eine jüdische Hochschule.

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Unter veränderten Umständen konnten sie erst 1916 und 1918 bzw. 1925 verwirklicht werden. Schließlich kam es zwischen den immer stärker sich befehdenden Gruppen der »Alten« und der »Jungen« zum Eklat, der sich an Herzls Roman Altneuland (1902) und dessen Kritik durch Achad Haam entzündete. 141 Ironischerweise war gerade das Schlußkapitel daraus im Jüdischen Almanach erschienen. Nach längeren und quälenden Streitigkeiten brachen Buber und Herzl im Mai 1903 endgültig. 142 Sein Rückzug von Aktivitäten als zionistischer Funktionär, nicht vom Zionismus selbst, erfolgte freilich erst am Jahreswechsel und hatte im wesentlichen ganz andere Gründe: die Enttäuschung über das Scheitern der erwähnten Vorhaben sowie den Entschluß, die Promotion endlich abzuschließen, war sein Prüfungsverfahren doch im November 1903 eröffnet worden. 143 Für diese Jahre des offiziellen Engagements zog Schaeder folgende Bilanz: »Nach seinem Anschluß an die zionistische Bewegung (1898) war Buber als Kulturkritiker und in seiner Überbetonung der schöpferischen Leistung ein Anhänger Nietzsches im nationaljüdischen Bereich: es ging ihm zunächst darum, das in der Enge des Ghettolebens verkümmerte Volkstum zu Sinnenfreude und ungebrochenem Lebensgefühl zu erwekken, ihm nach Jahrhunderten der Erstarrung die ›schöpferische Kulturkraft‹ wiederzugewinnen. Wenn in seinen ersten zionistischen Aufsätzen von ›Selbsterlösung‹, von ›Auferstehung‹ und ›Erlösung‹ der Nation die Rede ist, so klingt in dieser Sprache der pseudoreligiöse Prophetismus Nietzsches nach.« 144 Was Bubers Nietzsche-Rezeption angeht, so wird man Schaeders Urteil bereitwillig zustimmen, zeugt doch schon sein vorzionistisches Zarathustra-Manuskript von dessen Einfluß. Ihre Einschätzung vom jüdischen Leben im Exil ist allerdings problematischer, weil selbst ganz der Sichtweise des jungen Buber verpflichtet. Jenes galt ihm, 141. Vgl. Achad Haam, Altneuland, mit der Kritik, Herzls Utopie fehle es an allem spezifisch Jüdischen, vgl. Kohn, S. 44 f., B. Schäfer, Zur Rolle der »Demokratischen Fraktion«. 142. Vgl. M. Buber, B I, S. 192-201 (Herzl an B., 14. 5. [= T. Herzl, BuT, Bd. 7, S. 114], an Herzl, 18. 5., Herzl an B., 20. 5. [= T. Herzl, BuT, Bd. 7, S. 123], an Herzl, 21. 5., Herzl an B., 23. 5. [= T. Herzl, BuT, Bd. 7, S. 128 f.], an Herzl, 26. 5., Herzl an B., 28. 5. [= T. Herzl, BuT, Bd. 7, S. 135 f.], an Herzl, 29. 5. 1903). Zu Bubers sich verändernder Einschätzung Herzls in seinen Schriften, vgl. E. Simon, S. 53-63, Schmidt, S. 79-85. 143. Vgl. Buber, B I, S. 225 (an Weizmann, 27. 12. 1903). Zur Eröffnung des Verfahrens am 6. 11. 1903, vgl. Arc. Ms. Var. 350/alef 3b. Zu Buber als Zionist in den Jahren 1904/05, vgl. A. Ruppin, Briefe, Tagebcher, Erinnerungen, S. 131, 134. 144. Schaeder, S. 56. Sie zitiert aus M. Buber, Jüdische Renaissance, S. 9 (Auferstehung), S. 12 (Erlösung). Hinzuzufügen wären die Begriffe der »Erneuerung« und der »Wiedergeburt«, vgl. ebd., S. 10, 12, 15.

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wie Scholem genauer gezeigt hat, als Verneinung einer legitimen jüdischen Lebensform und als Entfremdung vom ursprünglichen Judentum. »Die Verneinung dessen, was das Judentum im Exil war, und die Aktualisierung ›latenter Energien‹ und Eigenschaften, die seit der biblischen Zeit ›in den Qualen der Diaspora verstummt sind‹, liegen ihm am Herzen. Die alten Eigenschaften sollen ›unserm modernen Leben in dessen Formen wiedergeschenkt werden. Auch hier keine Rückkehr; ein Neuschaffen aus uraltem Material‹.« 145 In der zweiten der Drei Reden über das Judentum erschien Buber aber das Leben in der Zerstreuung als exemplarisch für die geistige Zerstreuung des Menschen schlechthin. »Es ist eine Grundtatsache der psychischen Dynamik, daß die Vielfältigkeit seiner Seele dem Menschen immer wieder als Zweiheit erscheint, ja man kann, da in der Welt des Bewußtseins Erscheinen und Sein dasselbe bedeuten, sagen, daß sie immer wieder die Form der Zweiheit annimmt.« 146 Dagegen strebe das Judentum nach Einheit, auch weil in ihm diese anthropologische Grundform am stärksten vorherrsche. Es sei sogar dessen Aufgabe, die Forderung danach für die Menschheit insgesamt zu erheben. Mit dem Ende des allgemeinen Exils werde eine Welt ohne Zweiheit verkündet, »eine Gotteswelt, die im Leben des Einzelnen und im Leben der Gemeinschaft verwirklicht werden will: die Welt der Einheit.« 147 Schließlich beleuchtete Buber diese Figuren noch von einer anderen Seite, wenn er in der 1921 verfaßten Vorrede zur Gesamtausgabe der Reden über das Judentum (1923) verschiedene Formen der Theophanie unterschied, die an das Judentum im Laufe seiner Geschichte ergangen seien. »Die Theophanie, die das befreite Volk zur Landnahme rüstet, geschieht in niederfahrender Gewalt, und das irdische Ereignis, Blitz und Bergesfeuer, erscheint im Zeichen der Bewegung von ›oben‹ nach ›unten‹, in der Transzendenz des Worts. Aber es gibt eine Theophanie des Exils, des Nimmerverworfenseins in der Schmach und Erniedrigung; nicht aus der Wolke zuckt da die Offenbarung herab, aus den niedern Dingen sel145. G. Scholem, Martin Bubers Auffassung des Judentums, S. 144, vgl. S. 143-146. Scholem zitiert aus M. Buber, Jüdische Renaissance, freilich nicht immer genau, vgl. dort S. 12 f.: »Den Kampf gegen die armselige Episode ›Assimilation‹, der zuletzt in ein wortreiches und inhaltsarmes Geplänkel ausgeartet ist, soll ein Kampf gegen tiefere und mächtigere Zerstörungskräfte ablösen. Dieser soll latente Energien in tätige umsetzen, Eigenschaften unseres Stammes, die sich in seiner Selbständigkeitsgeschichte geäußert haben, um in den Qualen der Diaspora zu verstummen, unserem modernen Leben in dessen Form wiederschenken. Auch hier keine Rückkehr; ein Neuschaffen aus uraltem Material.« (Hervorhebung M. T.) 146. M. Buber, DR, S. 40 (= RGA, S. 22 = JuJ, S. 20 f.). 147. Ebd., S. 56 (= RGA, S. 23 = JuJ, S. 27).

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ber, im Verströmen der Alltage flüstert sie uns an, ganz nah, ganz hüben ist sie lebendig, mitverbannt, mitharrend wohnt die Schechina bei uns, unser Leiden heilt und heiligt sich an der Immanenz des Worts. Das ist die Geschichte Israels, wie es die Geschichte der menschlichen Person ist, aber es ist wohl die Geschichte der Welt, das von ihr, was wir bisher zu lesen und zu schreiben bekommen haben.«148 In dieser Darstellung der Unerlöstheit der Welt und der in ihr doch geschehenden Offenbarung mischt sich der theologische Expressionismus der ersten Nachkriegsjahre, wie ihn Karl Barth in seinem zweiten Römerbrief-Kommentar von 1921 christlicherseits vertrat, mit Bubers Interpretation des Chassidismus. 149 Dabei wird die katastrophische Gestalt der Theophanie durch die Gewißheit der Erwählung ausgeglichen, als deren Garant die Schechina erscheint, die »Einwohnung« Gottes in Heiligtum und Gemeinde, zugleich auch seine weibliche Potenz, wie sie die Spekulationen der Kabbalisten über sein Wesen bestimmten. 150 Schließlich ist die Geschichte des Judentums die Geschichte der Welt, in der die »Immanenz des Worts« seiner Transzendenz begegnet.

7. Gegenkultur Buber verkehrte während der Zeit seines zweiten Studienaufenthaltes in Berlin (Herbst 1899 – Frühjahr 1901) auch in literarischen und lebensreformerischen Kreisen, wie sie in jenen Jahren in der Metropole des Hohenzollern Reichs häufig zu finden waren. Sie stellten die Plattform für jene »Prediger des äußersten Individualismus« dar, die die Großstädte ebenso sehr haßten, wie sie selbst »grade dem Großstädter als die Verkünder und Erlöser seiner unbefriedigtsten Sehnsucht erscheinen.«151 Abgestoßen von Enge und Getriebe der Stadt, schloß sich Buber 1900 der Gruppe an, die die Brüder Heinrich (1855-1906) und Julius Hart (1859-1930) um sich bildeten. Sie suchten ihre Ideen eines »Leben[s] der Reinheit im Lichte« in einer Gemeinschaft vor den Toren Berlins zu verwirklichen.152 148. M. Buber, RGA, S. xiii (= JuJ, S. 5 f.). 149. Vgl. K. Barth, Der Römerbrief, S. 5 f. (dort wird das Offenbarungsgeschehen, freilich auf Christus bezogen, in die Metaphorik des Bombardements gekleidet). 150. Vgl. G. Scholem, Schechina. 151. G. Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S. 130. 152. H. u. J. Hart, Das Reich der Erfüllung, S. 12. Zu ihnen und der Neuen Gemeinschaft, vgl. G. Cepl-Kaufmann/R. Kauffeldt, Berlin-Friedrichshagen (mit Kurzbiographien der Mitglieder) und HbV, S. 112-126 (Friedrichshagener Dichterkreis) und S. 358371 (Die Neue Gemeinschaft).

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Den sogenannten Friedrichshagener Dichterkreis, der »d[ie]jenigen naturalistischen Schriftsteller und sozialistischen Redakteure« umfaßte, »die ab 1890 ins ländlich idyllische Friedrichshagen am Müggelsee, einem vor der Eingemeindung zu Großberlin 1921 zum Kreis Niederbarnim gehörenden Dorf im Südosten Berlins, zogen«, und »eine Art kulturrevolutionäre Schaltzentrale der naturalistischen Generation« darstellte, sollten die Brüder Hart in eine Art Orden überführen. 153 Nicht mehr das Publikum von Arbeiterbildungsvereinen, sondern die Mitglieder der nunmehrigen Neuen Gemeinschaft waren selbst die »zu Erlösenden«.154 Traf man sich zuerst spontan in Lokalen oder privat und lud zu Vorträgen an diverse Veranstaltungsorte ein, so bezog man im Februar 1901 ein Gemeinschaftsheim in Berlin-Wilmersdorf, Uhlandstraße 144, und gründete schließlich, im März 1902, »eine Haus- und Lebensgemeinschaft in Schlachtensee«, wiederum in einem Vorort Berlins.155 Der freiere und ungezwungenere Umgang miteinander wurde freilich seinerseits ritualisiert und gleichsam nach urchristlichen Formen gestaltet: »An die Stelle von steifer Höflichkeit sollte eine – nach Möglichkeit alle Mitglieder und Gäste einbeziehende – ›Herzlichkeit‹ und Gefühlsbetontheit treten, ein ›warmer Händedruck‹ nach einem gelungenen Vortrag (so Landauer), Umarmung oder Kuß waren wichtige Gesten und Erkennungszeichen der Gruppe. Die gemeinsamen Mahlzeiten, die in der Anfangsphase in den Wohnungen einzelner Mitglieder, später im Gemeinschaftsheim eingenommen wurden, hießen denn auch bezeichnenderweise ›Liebesmahle‹.«156 Die Harts verstanden sich als »Gott-Künstler« und huldigten einem idealistischen und mystischen Monismus der »Überwindung der Gegensätze«. 157 Ihr Programm trugen sie in paradoxen Formeln vor. »Jede Einheit ist stets zugleich eine Vielheit, und jede Vielheit ist stets zugleich auch eine Einheit. Alles Gleiche ist ein Ungleiches, – Ein und dasselbe stets ein Verschiedenes; alles Gute ist ein Böses, alles Recht ein Unrecht.« 158 Sie

153. HbV, S. 112 f. 154. Ebd., S. 359. 155. Ebd., S. 358. Zum Bestand der Neuen Gemeinschaft an sich, vgl. ebd.: »Der Konstitutionsprozeß verläuft allmählich und ist auf das Frühjahr 1900 zu datieren. […] Auch der Auflösungsprozeß der Gruppe erfolgt nicht abrupt. Im Spätherbst (etwa im Nov[ember]) 1904 stellt die N[eue ]G[emeinschaft] ihre Aktivitäten (Lesungen, Versammlungsabende) ein.« 156. Ebd., S. 362. 157. H. u. J. Hart, Das Reich der Erfüllung, S. 61, 10. Zur Kritik, vgl. G. Landauer, Skepsis und Mystik, S. 61-82. 158. H. u. J. Hart, Das Reich der Erfüllung, S. 18.

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erklärten: »Für den Erleuchteten gibt es keinen Widerstreit zwischen Welt und Ich, Ich und Anderen, Egoismus und Altruismus; für ihn ergiebt sich in jedem Einzelfall die Synthese von selbst.«159 Vor diesem Kreis hielt Buber 1901 im Berliner Architektenhaus in der Wilhelmstraße 92-93 zwei Vorträge, »Über Jakob Böhme« (9. März) und »Alte und neue Gemeinschaft« (24. März). 160 Sollte das Programm der Selbsterlösung in und mit einer Gemeinschaft als solches auch Bubers lebenslange Faszination bleiben, so hatten seine Aktivitäten hier nur episodischen Charakter. Immerhin schloß er aber die für ihn so wichtige Freundschaft mit Gustav Landauer. Dessen Vortrag, »Durch Absonderung zur Gemeinschaft«, ebenfalls vor der Neuen Gemeinschaft gehalten, beeindruckte Buber ungemein. 161 Tatsächlich führte er zu dieser Zeit und auf Jahre hinaus das Leben eines Bohemien und Literaten. So berichtete etwa der spätere Psychoanalytiker Viktor Tausk (1879-1919), der sich 1905 bis 1908 seinerseits als Schriftsteller in Berlin durchzubringen suchte, welchen »tiefen Eindruck« Martin Buber auf ihn mache, »den er jeden Montag im Kaffeehaus trifft«. 162 Wie sehr dieser selbst aber auch mit seiner ganzen Existenz mitunter haderte, zeigt ein Brief an seine Lebensgefährtin und spätere Frau, Paula Winkler (1877-1958), vom Sommer 1901. »Vor allem ist es mir in einer unwiderstehlichen Weise offenbar geworden, daß ich mich mit aller Kraft zusammennehmen und in den nächsten Monaten, oder vielmehr Wochen etwas leisten muß, sonst verliere ich noch den Rest meiner künstlerischen Initiative, und ohne die ist alles Können wie ein Vogel ohne Kraft zum Aufschwingen; was mag es dem nützen, daß er ›fliegen kann‹ ? Du weißt, daß ich kein extensives Talent habe, da muß die Hand straff sein. […] Du mußt verstehen, Liebste, daß dies eine Sache auf Leben und Tod ist. Es handelt sich einfach um meine Kunst: wenn ich mich gehen lasse, verkomme ich – das steht fest; dann kann ich mich als Pri-

159. Ebd., S. 80 f. 160. Vgl. Kohn, S. 28-30, Mendes-Flohr, S. 63 f., Friedman, S. 77-81. Der Böhme-Vortrag – der in HbV, S. 365 irrtümlich mit »Jakob Bolting und wir« wiedergegeben wird – stellt, bei aller Eigenständigkeit, eine Vorarbeit zur Dissertation dar, vgl. Schaeder, S. 37-43. »Alte und neue Gemeinschaft« blieb zu Lebzeiten unveröffentlicht, gab aber Siegfried Jacobson »Anlaß zu einer rühmenden Besprechung in der Welt am Montag« (Kohn, S. 29 f.). 161. Zur Freundschaft von Landauer und Buber, vgl. Kohn, S. 29-35, Schaeder, S. 211217, dies., Biographischer Abriß, S. 61-68, Mendes-Flohr, S. 70, 93-95. Zu Landauers Wirken in der Neuen Gemeinschaft, vgl. G. Landauer/F. Mauthner, Briefwechsel, S. 384 f. A. 2. 162. M. Tausk, Wer war Viktor Tausk?, S. 515 (Zitat aus einem Brief von Viktor an Martha Tausk, 13. 7. 1906).

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vatdozent und überhaupt als anständiger Mensch weiter entwickeln; mit dem Machen von lebendigen Dingen ist es zu Ende.«163 Bubers damaliges literarisches Schaffen fand bei seiner Familie keine Gegenliebe – ebensowenig wie das zionistische Engagement –, hatte beides doch zu einer weitgehenden Vernachlässigung des Studiums geführt. Vor allem die Großeltern, die ihn gemeinsam mit dem Vater finanziell unterstützten, mußte er von Zeit zu Zeit beruhigen. 164 Weil er aber bald schon selbst Frau und Kinder zu versorgen hatte und ihn Geldsorgen ständig quälten, war er zum Abfassen von Beiträgen für Zeitungen und Zeitschriften genötigt. 165 Anfangs förderte ihn Herzl, sodaß Arbeiten Bubers nicht nur in der zionistischen Welt, sondern auch im Feuilleton der Neuen Freien Presse erscheinen konnten. 166 Von ihnen sind »Feste des Lebens«, »Zwei Bücher nordischer Frauen« und »Die Abenteuer des kleinen Walther« hier wiederabgedruckt. Die journalistischen Arbeiten jener Jahre stellen gleichsam den Seitenzweig seiner Zusammenarbeit mit Herzl dar. Auch von ihnen führt ein Weg zum Verständnis von beider Verhältnis. Nicht ganz bedeutungslos ist dabei auch, bei welchen Büchern es zu keiner Rezension kam, trotzdem eine solche zwischen Herzl und Buber im Gespräch gewesen war. So ist »über das seltsame neue Buch Maeterlincks ›la vie des abeilles‹«, das zu besprechen Buber sich anbot, nichts erschienen.167 Herzl seinerseits bat ein knappes Jahr später um »eine Recension der Dolorosa-Gedichte«, Confirmo te chrysmate 168 . Ihre Verfasserin, Maria Eichhorn (1879-?), die unter dem Pseudonym »Dolorosa« publizierte und im Berliner Literatenkreis Die Kommenden verkehrte, erregte im allgemeinen Aufsehen wegen des erotischen Inhalts ihrer Werke. 169 163. M. Buber, B I, S. 159 (an P. Buber, 26. 7. 1901). 164. Vgl. M. Buber, B I, S. 151 f. (an A. Buber, 27. 12. 1899). Um auch weiter Geld von seiner Familie zu bekommen, führte Buber 1903 sogar einen Prozeß, vgl. Arc. Ms.Var. 350/62,8 (an Landauer, 1. 7. 1903): »Allerdings steht es um die 200 M nicht gut. Es wird mir nämlich auch mit der grössten Mühe nicht möglich sein, sie aufzubringen. Ich selbst habe sie nicht, da ich nur über ein recht geringfügiges Monatseinkommen verfüge und um das Kapital einen ziemlich complicirten Process gegen meine Familie führe«, und B I, 207 (an Landauer, 2. 8. 1903). 165. Noch Mitte 1908 fehlte es ihm an Geld in erschreckender Weise, vgl. Arc. Ms. Var. 350/62a, 30 und 32 (an Landauer, 21. 4. und 23. 5. 1908). 166. Zur Kritik, die Karl Kraus an Herzls Förderung literarischer Talente übte, vgl. G. Krieghofer, The Case of Kraus versus Herzl, S. 118 f. Herzl seinerseits war mit der Nötigung, als Journalist zu arbeiten, häufig unzufrieden. 167. M. Buber, B I, S. 159 (an Herzl, 28. 7. 1901). Wahrscheinlich handelte es sich um die deutsche Übersetzung von Maeterlincks Essayband, der als Das Leben der Bienen im Diederichs Verlag, Leipzig 1901 erschienen war. 168. T. Herzl, BuT, Bd. 6, S. 528 (an B., 21. 5. 1902). 169. Vgl. E. Mühsam, Unpolitische Erinnerungen, S. 47, der von »nymphomanen und ma-

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Buber hat diese Besprechung nie geschrieben. Gleichwohl schien er für Herzl, den Feuilletonredakteur der Neuen Freien Presse, als zuständig für die Literatur von Boheme, Frauenemanzipation und Lebensreform gegolten zu haben. Tatsächlich bewegte sich Buber zu dieser Zeit unter Intellektuellen und Literaten, deren Treffpunkt das Kaffeehaus und deren gemeinsames Merkmal, außer ihrer Jugend, ein radikaler Chic war, in den Zionismus und Nietzscheanismus, Dekadenz und Emanzipation der Geschlechter, Sozialismus und monastisches Geistesleben als durchaus gleichberechtigte Teile einflossen. Dem Journalismus als Form des Broterwerbs auch positive Seiten abzugewinnen, war man im Haus Buber bemüht, selbst wenn er offensichtlich nur die Tätigkeit eines »Literaten« darstellte. 170 So schrieb Paula an Martin Buber 1901 über seine Rezension der Abenteuer des kleinen Walther: »Dein Artikel über Multatuli hat mich ehrlich entzückt. Es ist Dir vieles wunderbar gelungen, vor allem das am Anfang über Multatuli selbst. Schön ist auch der Absatz. ›Es ist nicht das, was die Leute Liebe nennen …‹ Und der nächste von Eros und Psyche. Sehr fein und zart die Würdigung Spohrs. Du darfst zufrieden sein. Auch die Zitate hast Du gut ausgewählt.« 171 Es handelt sich wirklich um ein Gespräch unter Kollegen, nicht nur um eines unter Liebenden, denn Paula Buber (geb. Winkler) veröffentlichte selbst Erzählungen und Romane unter dem Pseudonym »Georg Munk«. Die »Philozionistin« – als die sie sich selbst in einem Artikel bezeichnen sollte –, von Emanzipationswünschen bewegt, »zäh, genial, unbedenklich«, lernte Buber im Sommer 1899 in Zürich kennen.172 Sie konvertierte zum Judentum, geheiratet wurde später in Deutschland. In der Öffentlichkeit stand Paula in Martins Schatten. Daß sie an der Abfassung der beiden ersten chassidischen Bücher jedoch in einem starken Maß beteiligt war und das poetische Verständnis ihres Gatten mitgeprägt hat, verdiente eine eingehende Untersuchung. 173

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sochistischen Exhibitionismen«, aber von der Dolorosa immerhin auch als von einer der »Tagessensationen von damals« spricht. Ganz ablehnend ist dagegen die zeitgenössische Literaturgeschichte, vgl. A. Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit, S. 300302: »die schamlose Lyrik der perversen Verse«, »[d]iese Gesänge von Halbjungfrauen sind geradezu eine Parodie auf weibliches Empfinden« u. a. Für den heutigen Geschmack handelt es sich um eher harmlose Auslassungen. Für die Sozialgeschichte der deutschsprachigen Literatur um 1900 ist der Gegensatz zwischen »Dichter« und »Literat« grundlegend. Dieser bildete den »im späten Kaiserreich dominierenden Intellektuellentypus«, vgl. G. Hübinger, »Journalist« und »Literat«, S. 104. M. Buber, B I, S. 168 (P. Winkler an B., 19. 10. 1901). Vgl. P. Winkler, Betrachtungen. Zum Porträt der jungen Frau, vgl. Th. Lessing, Einmal und nie wieder, S. 365–369: 366. Nur für die Endphase der Arbeit ist Paula Bubers Mitarbeit an Die Legende des

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8. Wachsender Erfolg Ein halbes Jahr nach dem Ende des offiziellen zionistischen Engagements promovierte Buber am 19. Juli 1904 mit der Arbeit Beiträge zur Geschichte des Individuationsproblems (Nikolaus von Cues und Jakob Böhme) und der Ablegung der Rigorosen, der mündlichen »strengen Prüfungen«, an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien. 174 Weil dies nur kurz nach dem Tod Herzls geschah, könnte man den Studienabschluß – wäre diese zeitliche Koinzidenz mehr als schicksalhafter Zufall – auch als Ausdruck dessen verstehen, daß Buber aus dem Schatten der Väter zu treten gewillt war und so daran denken konnte, auch den Konflikt mit ihnen zu beenden.175 Nun galt es die Aktivitäten der Jugend zu bündeln und den Weg ins Freie einzuschlagen. Doch blieb Buber, trotz erfolgreichen Universitätsabschlusses, in mehrfacher Hinsicht orientierungslos. Weder wußte er, wo er sich mit seiner Familie niederlassen, noch welche Tätigkeit er ausüben sollte. Da sprang die Großmutter, Adele Buber, unterstützend bei und finanzierte einen einjährigen Aufenthalt in Florenz, gleichsam zur Besinnung und Entscheidung. Tatsächlich stellte dieser einen der Wendepunkte in Bubers Leben dar. 176 Ab Winter 1905/06 arbeitete – nachdem, wie es scheint, der Plan einer Habilitation in Kunstgeschichte schon frühzeitig fallengelassen worden war – das Ehepaar in Florenz gemeinsam an den ersten chassidischen Büchern, Die Geschichten des Rabbi Nachman und Die Legende des Baalschem, freien Kompilationen von Überlieferungen jüdischer Mystiker im Osteuropa des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. 177 Durch sie hatte er sich

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Baalschem bisher dokumentiert, vgl. M. Buber, B I, S. 249-252 (an P. Winkler 1. 12., o. D. [Anfang Dezember], 6. 12. und o. D. [Ende Dezember 1906]). Für weitere Hinweise, vgl. G. Schaeder, Biographischer Abriß, S. 38 f. Zwei Exemplare der Promotionsschrift befinden sich im MBA, vgl. Arc. Ms. Var. 350/alef 2 (handschriftliches Manuskript) und 350/alef 2a (maschinschriftliches Manuskript). Sie ist bisher nur auszugsweise veröffentlicht worden, vgl. F. Rosenzweig, Aus Bubers Dissertation. Die Promotion wurde insgesamt mit der vor dem Durchfallen schlechtesten Zensur, »rite«, bewertet, vgl. Arc. Ms. Var. 350/alef 5 (Promotionsurkunde). Zur Nachricht über den Tod Herzls, vgl. M. Buber, B I, S. 227 (an P. Buber, 6. 7. 1904). Zu Florenz um 1900, vgl. E. Gombrich, Aby Warburg, S. 129 f. Bubers Florentiner Aufenthalt hat in der Forschung bisher wenig Beachtung gefunden, steht er doch im Schatten der zeitgleichen Entdeckung des Chassidismus. Zu Hinweisen, vgl. Kohn, S. 309 f. (auszugsweiser Abdruck mehrerer, nicht in B aufgenommener Briefe über Florenz, die dort vollzogene Rückwendung zum Judentum und deren literarische Umsetzung). Ausgestattet wurde der Rabbi Nachman von dem Graphiker Emil R. Weiss. Zu dem Band, vgl. P. Mendes-Flohr, Nachwort.

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doch nicht ganz von Vätern und Traditionen getrennt, denn Salomon Buber (1827-1906), der Großvater, erstellte seinerseits noch heute gültige Editionen von Midraschim, die Märchen und Legenden, aber auch Schriftauslegung und theologische Spekulation aus Altertum, rabbinischer Zeit und Mittelalter beinhalten. Er war dabei allerdings eher einer philologischen Askese und nicht einem künstlerischen Gestaltungswillen verpflichtet. Dennoch tat er dies durchaus mit dem Willen, das zeitgenössische Judentum spirituell zu erneuern. Auch darum widmete sein Enkel ihm, »dem letzten Meister der alten Haskala«, sein erstes Buch überhaupt, den Erstling der chassidischen Forschungen, Die Geschichten des Rabbi Nachman. 178 Neben diesen Arbeiten zur jüdischen Tradition setzte Buber seine im Frühjahr 1905 begonnenen Bemühungen fort, Beiträger für »eine Sammlung von Studien zur sozialen Psychologie« zu werben, die er unter dem Titel Die Gesellschaft bei der Literarischen Anstalt Rütten & Loening herausgab, deren literarischer Leiter er später, von 1909-1913, sein sollte und die er bis 1917 beriet. 179 Das Programm der Sammlung umriß er im Geleitwort so: »Das Problem, von dem sie beherrscht ist, ist das Problem des Zwischenmenschlichen. Ihr Stoffgebiet ist das Zusammenleben von Menschen in allen seinen Formen, Gebilden und Aktionen. Die Anschauungsweise, die in ihr wirkt, ist die sozialpsychologische.« 180 Besonders in der Betonung des Zwischenmenschlichen ist ein Element aus Bubers späterem Denken vorgebildet. Die Gesellschaft war eine erfolgreiche Reihe, von der zwischen 1906 und 1912 insgesamt vierzig Hefte erschienen. Von seinen Autoren verlangte Buber »den tiefsten Erkenntnisblick und die höchste Macht der Gestaltung.« 181 Er betonte: »Ich muß daher darauf bedacht sein, neben jenen wenigen Wissenschaftlern, die genügende Freiheit und genügendes künstlerisches Können besitzen, diejenigen Schriftsteller heranzuziehen, die das Miteinanderleben und Aufeinanderwirken von Menschen zum Gegenstande ihres dichterischen Werkes gemacht haben.«182 Es gelang ihm, diesen hohen Anspruch einzulösen, wobei ihn Georg Simmel tatkräftig unterstützte. 178. M. Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, S. 5: »Meinem Großvater Salomon Buber, dem letzten Meister der alten Haskala, bringe ich dieses Werk der Chassidut dar in Ehrfurcht und Liebe«. 179. Zu Bubers Tätigkeit im Verlag, vgl. C. Wurm, 150 Jahre Rütten & Loening, S. 83-101, 227. Zur Arbeit an Die Gesellschaft, vgl. Kohn, S. 89, 310-313, Mendes-Flohr, S. 111130, E. Wiehn, Zu Martin Bubers Sammlung Die Gesellschaft. 180. M. Buber, Geleitwort zur Sammlung, S. 191. 181. M. Buber, B I, S. 230 (an Stehr, 20. 5. 1905). 182. Ebd., S. 230 f.

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Eigene Schriften zu verfassen, vor allem solche philosophischen und kulturkritischen Inhalts, unterließ Buber nach seiner Promotion für einige Jahre. Zwei Essays zum italienischen Theater und eine Notiz zu einer Arbeit von Rudolf Borchardt (1877–1945) bilden die Ausnahmen.183 Seinen weitgehenden Rückzug aus der Öffentlichkeit, vor allem von 1904 bis 1906, nutzte er zur Orientierung, zu Suche und Sammlung. In den in Italien verbrachten Jahren entdeckte er den Chassidismus neu, was seine Beschäftigung mit der Mystik konkreter machte und ihn selbst wieder mit jüdischen Lehren verband. Auch im eigenen Urteil erschien dies als maßgebend, weil ihm nun die Tradition »zum tragenden Grund des eigenen Denkens gedieh«. 184 Buber wandte sich damals aber auch den religiösen und weisheitlichen Traditionen Indiens und Chinas zu. Er konnte sich dabei auf Bücher stützen, die bei Rütten & Loening verlegt worden waren, so Kokoro (1905) von Lafcadio Hearn (1850-1904), mit einem Vorwort von Hofmannsthal, sowie Der Pilger Kamanita und Das Weib des Vollendeten (beide 1907) von Karl Gjellerup (1857-1919).185 Zu Bubers Beschäftigung mit Hinduismus und Buddhismus finden sich verstreute Äußerungen, auch wurde der später in Ereignisse und Begegnungen aufgenommene Aufsatz über Buddha »im Sommer 1907« verfaßt.186 1910 veröffentlichte er, als erstes Werk in einer Reihe von Editionen religionsphilosophischer und mythischer Texte, Reden und Gleichnisse des Tschuang Tse. 187 Das dafür verfaßte Nachwort nahm er später unter dem Titel »Die Lehre vom Tao« in seine Werke auf. 188 Es ist dort neben Daniel die einzige Arbeit der Frühzeit. Innerhalb des deutschen Judentums, aber auch in der gebildeten Welt erwarb sich Buber in diesen Jahren einen Namen: einmal durch seine Tätigkeit bei Rütten & Loening, die sowohl die Herausgeberschaft der Gesellschaft als auch die Gestaltung des literarischen Programms umfaßte. 183. »Die Duse in Florenz« und »Drei Rollen Novellis« erschienen in Die Schaubühne, »Das Buch Joram« – zu einer Arbeit von Rudolf Borchardt – in Die Zukunft, vgl. M. Buber, dass., S. 71: »›Besprechen‹ will ich dieses Buch, das ich schon, als es ein Privatdruck war, gekannt und geliebt habe, nicht. Es erscheint mir als aller Analyse entrückt«. Die drei Texte werden aus sachlichen Gründen in spätere Bände der MBW aufgenommen. 184. M. Buber, AF, S. 29. 185. Vgl. C. Wurm, a. a. O, S. 94-96. 186. Vgl. M. Buber, B I, S. 238 (an Hofmannsthal, 15. 3. 1906) und S. 253 (an Diederichs, 21. 2. 1907). Zur Datierung des »Buddha«, vgl. in diesem Band, S. 247. 187. Die anderen sind Chinesische Geister- und Liebesgeschichten (1911), Kalewala. Das Nationalepos der Finnen (1914) und Die vier Zweige des Mabinogi. Ein keltisches Sagenbuch (1914). 188. Vgl. M. Buber, W I, S. 1021-1051. Die Arbeit selbst ist schon davor wiederholt in Sammlungen von Bubers Schriften abgedruckt worden.

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Auf sein positives Urteil hin erschienen dort Werke junger Autoren wie Kamerad Fleming (1911) von Alfons Paquet (1881-1944) und Die böse Unschuld (1913) von Oskar Baum (1883-1941) – beides Autoren, die Buber später auch persönlich nahestanden –, aber auch den im Deutschen Bauernkrieg angesiedelten Roman Utz Urbach (1913) des Österreichers Hermann Graedner (1878-1956) und Südafrikanische Novellen (1913) von Hans Grimm (1875-1859), die beide später überzeugte Nazis wurden, zu der Zeit aber Vertreter einer Literatur waren, die der Moderne skeptisch bis feindlich gegenüberstand.189 Die ersten beiden Bände von Die Sagen der Juden (1913 und 1914) von Micha Josef Berdyczewski (1865-1921) sollten bei Rütten & Loening ebenfalls unter Bubers Ägide verlegt werden.190 Schließlich erschien dort »[e]ine Serie von Rußlandbücher«, für die als Übersetzerin Fega Frisch (1878-1964) gewonnen werden konnte, die Frau Efraim Frischs (1873-1942), des späteren Herausgebers von Der Neue Merkur. 191 Daneben wuchs Bubers Erfolg durch seine ersten Chassidica – ebenfalls bei Rütten & Loening – und schließlich durch die Ekstatischen Konfessionen, die im Diederichs Verlag herauskamen. Neben Werken namhafter Zeitgenossen wie Maurice Maeterlinck (1862–1949) und Anton Tschechov wurde dort eine »neumystisch, neuromantisch oder neuidealistisch die bürgerliche Gesellschaft kulturell transzendierende Literatur« verlegt. 192 Diederichs selbst verstand sich als »neue[r] Typus des Verlegers«, weil »alle schöpferische Produktion einen Organisator« brauche. 193 Als solcher schuf er für das wilhelminische Bildungsbürgertum kulturelle Ereignisse, die dessen »transzendentale Obdachlosigkeit« lindern sollten. 194 Dafür »entwarf er ein forsches Programm, das er bei allen wechselnden Zugriffen auf neue ideenpolitische Konjunkturlagen bis zu seinem Tod 1930 beibehielt. ›Ich habe den kühnen Plan, ich möchte einen Versammlungsort moderner Geister haben. […] Parole: Entwicklungsethik, Sozialaristokratie, gegen den Materialismus zur Romantik und zu neuer Renaissance. Auch für Mystik habe ich sehr viel übrig.‹« 195 Dieses Pro189. 190. 191. 192.

Vgl. C. Wurm, a. a. O., 99 f. und 92 f. Ebd., S. 91 f. Ebd., S. 97 f. G. Hübinger, Eugen Diederichs’ Bemühungen, S. 259. Zu Diedrichs und seinem Unternehmen, vgl. jetzt ders., Versammlungsort moderner Geister, und J. H. Ulbricht/ M. G. Werner, Romantik, Revolution und Reform. 193. E. Diederichs, Der Verleger als Organisator, S. 36. 194. G. Lukács, Die Theorie des Romans, S. 23 f.: gegenüber dem Epos sei »die Form des Romans […] ein Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit«. 195. G. Hübinger, »Journalist« und »Literat«, S. 104. Das Zitat stammt aus einem Brief von Diederichs an Avenarius, 1. 9. 1896.

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gramm dürfte Buber zur Mitarbeit bewogen haben, trotz des Umstandes, daß »[g]erade im Projekt der Neubelebung mystischer Traditionen durch Diederichs und die Jenaer Verlagsautoren […] herbe antijudaistische Töne wie beim späten Nietzsche unüberhörbar« sind. 196 So führte er mit Diederichs seit 1903 Gespräche über »meinen Plan eines Sammelwerkes über europäische Mystik« sowie ein »Schaffen als Erlösung« bzw. »Evolution und Revolution« betiteltes Werk. 197 Nur das erste Vorhaben wurde später verwirklicht. Die Ekstatischen Konfessionen, an denen Landauer im Stillen bei der Quellensuche und der Übersetzung von Texten aus dem Mittelhochdeutschen mitgearbeitet hatte, wurden ein großer Erfolg und stellten einen »Höhepunkt der mystischen Literatur« dar, »mit der sich der Verlag seinen Namen gemacht hatte.« 198 Freilich war das Interesse an der Mystik um 1900 tief der Sinnsuche von Intellektuellen geschuldet, die auf die Krisen der Moderne mit einem vehementen Erlösungsbedürfnis antworteten. Buber selbst hatte in den letzten Jahren vor und während des Ersten Weltkriegs nicht nur in literarischen Kreisen und unter Intellektuellen Einfluß, er übte auch auf die jüdische Jugend eine große Anziehung aus. So erklärte sein späterer Schwiegersohn Ludwig Strauß (1892-1953), dabei Bubers Wirkung mit der Nietzsches vergleichend, 1916 bei der Lektüre von Die Jüdische Bewegung: »Ich empfand wieder beim Lesen, wie sehr Sie über alle Gedanken und Inhalte hinaus durch die Botschaft Ihrer Bücher die Atmosphäre unseres Lebens bestimmt haben, so daß ein junger Jude, der nichts von Ihnen gelesen hat, doch schon von dem, was aus Ihren Worten jüdisches Gemeingut geworden ist, die selbstverständliche Freiheit des Blicks empfangen muß.« 199 Buber galt dieser Jugend als Fachmann für das Ostjudentum, das die Kinder von weitgehend an die deutsche Kultur Assimilierten als Tradition einer vermeintlich »voraufklärerischen ›Volksweisheit‹« und als unverfälschte Lebensweise begriffen. 200 196. J. H. Ulbricht, Theologie deutsch, S. 164, vgl. ders., Durch »deutsche Religion« zu »neuer Renaissance«. 197. Vgl. M. Buber, B I, S. 186 (an Landauer, 10. 2. 1903) und S. 253 f. (an Diederichs, 21. 2. 1907). Zu dem nicht zustande gekommenen Buch, vgl. ders., Ein geistiges Zentrum, S. 80: »Auf einen dritten Einwand allgemeiner Art, der ein Eingreifen in die ›Evolution‹ für zwecklos, ja unmöglich erklärt, kann ich hier nicht näher eingehen.« Nur in der Erstveröffentlichung gibt es Sp. 664 dazu folgende Fußnote: »Dies soll in einer 1903 erscheinenden ›Evolution und Revolution im modernen Judentum‹ betitelten Arbeit geschehen.« 198. G. Hübinger, »Journalist« und »Literat«, S. 105. Zu Landauers Mitarbeit, vgl. den im MBA vorhandenen Briefwechsel zwischen ihm und Buber für das Jahr 1908. 199. BBS, S. 39 (Strauß an B., 20. 3. 1916). 200. P. Mendes-Flohr, Fin de Siècle Orientalism, S. 85. Zu diesem Komplex insgesamt vgl. S. Aschheim, Brothers and Strangers.

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Noch vor dem Ersten Weltkrieg, durch den sie als Soldaten polnische, russische und ukrainische Juden in ihren tatsächlichen Lebensverhältnissen sehen sollten, war es ihnen zum Faszinosum geworden. Ihre Begeisterung brachte sie ebenso in Konflikt mit den Eltern, wie es der Zionismus tat. So erinnerte sich Buber in den sechziger Jahren an »die Feindschaft zwischen Ostjuden und Westjuden in Deutschland und Österreich von 1900 bis 1914«.201 Auch deshalb stellten sich die jungen Leute die Frage, »[w]ie setzt sich selbst bei den Westjuden gerade der Rest des jüdischen Wesens in Eigenes um«. 202 Mit diesen Worten lud Leo Herrmann (1888-1951), der damalige Obmann des Vereins jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Buber zu einem Vortrag ein. Kontake zwischen ihm und dessen »Aktiven« bestanden seit 1901, vermittelt durch Hugo Bergmann, und bereits 1903 hatte er vor kleinem Kreis über »Judentum und Renaissance« gesprochen.203 Am 20. Januar 1909 hielt Buber in Prag dann den mit Herrmann vereinbarten Vortrag »Der Sinn des Judentums«, der die Keimzelle der ersten der epochalen Drei Reden über das Judentum bildete. 204 Mit ihm wurde er endgültig zu einer Berühmtheit innerhalb der jüdischen Jugendbewegung. Einen weiteren Höhepunkt seiner Wirkung stellte das von den Pragern herausgegebene Sammelbuch Vom Judentum (1913) dar, in dem er mit einer weiteren Rede, »Der Mythos der Juden«, vertreten war. 205

9. Constantin Brunner Daraus entstand auch Konkurrenz, wie man exemplarisch an dem Plagiatsvorwurf durch den Kreis um Constantin Brunner (1862-1937) und der daraus resultierenden Debatte beobachten kann. Der heute weit201. W. Kraft, Gespräche mit Martin Buber, S. 104 (9. 5. 1962), mit einer Kritik an Hofmannsthal. 202. M. Buber, B I, S. 269 (Herrmann an B., 14. 11. 1908). 203. Vgl. H. Tramer, Die Dreivölkerstadt Prag, S. 159 f. Zum Vortrag von 1903, vgl. P. Mendes-Flohr, Fin de Siècle Orientalism, S. 84. 124 Anm. 46. 204. Der Vortrag ist Ende April veröffentlicht worden, vgl. M. Buber, Der Sinn des Judentums. Zu einem Bericht über sein erstes Auftreten in Prag, vgl. L. Herrmann, Aus Tagebuchblättern, S. 158 f., H. Tramer, Die Dreivölkerstadt Prag, S. 161 f. Bubers Vortrag ging der von Felix Salten voran, den Abschluß bildete die Rezitation von Gedichten Richard Beer-Hofmanns und des Prager Dichters Hugo Salus. In der Zeit der Vorbereitung hatte Buber bei Landauer angefragt, ob sich dessen Frau, Hedwig Lachmann, einverstanden erklärte, wenn bei dieser Gelegenheit auch ein Gedicht von ihr zum Vortrag käme, vgl. Arc. Ms. Var. 350/62a, 50 (an Landauer, 7. 12. 1908). 205. Der Text der Rede ist mehrfach wiederabgedruckt. Zu einem Rückblick auf die Wirkung des Sammelbands, vgl. R. Weltsch, Erinnerungen an ein vergessenes Buch.

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gehend vergessene Philosoph und Privatgelehrte war zu seiner Zeit einer derjenigen, die sich um eine Erneuerung des Judentums bemühten. 206 Er tat dies auf eine paradoxe Weise, empfahl er doch das vollständige Aufgehen der Juden in der deutschen Kultur, freilich ohne vorherige Taufe. Den Zionismus lehnte er rigoros ab. In seinem Hauptwerk, Die Lehre von den Geistigen und vom Volke, das 1908, auf Vermittlung von Landauer, in Berlin im Verlag von Karl Schnabel erschien, legte er eine systematische Darstellung seiner Philosophie vor. 207 Darin unterschied er drei Modi menschlichen Denkens, die sogenannten »Fakultäten«: »Praktischer Verstand«, »Geist – der synonym mit Gott sei – und »Analogon« oder »Aberglaube«. Der Geist wäre mit der Wahrheit identisch. Er würde einzig durch Spinozas und Brunners Lehre vertreten, sodaß auch nur deren Anhänger die »Geistigen« darstellten. Alle anderen stünden unter der Macht des »Analogon«, weil sie den Geist nur nachahmten und ihn so verfälschten. Religion, Metaphysik und Moral bedrückten sie. Brunners Lehre versprach hingegen ihren Adepten die Befreiung in Kunst, Philosophie und Liebe bzw. echter Mystik. Ohne in einem engeren persönlichen Kontakt zu stehen, schickten Brunner und Buber einander ihre Werke oder ließen sich über sie informieren. Jedenfalls verfolgten sie genau das Schaffen des anderen. Landauer erfüllte dabei die wichtige Funktion des Mittlers, war er doch mit beiden befreundet. 208 »Ist Brunners Buch schon erschienen«, wurde er von Buber gefragt, der seiner Frau ein andermal stolz berichtete: »Übri206. Zur zeitgenössischen Rezeption, vgl. G. Landauer, Die Lehre von den Geistigen und vom Volke, E. Altkirch, Constantin Brunner. Zu Würdigungen Brunners aus jüngerer Zeit, vgl. F. Ritter, Constantin Brunner und seine Stellung zur Judenfrage (von einem Anhänger und darum apologetisch geschrieben), H. Matthes, Constantin Brunner. 207. Von Landauer selbst waren dort 1903 Meister Eckharts mystische Schriften erschienen. 1904-06 arbeitete er in der »Verlagsbuchhandlung Karl Schnabel, vormals Axel Juncker«, vgl. Landauer/Mauthner, Briefwechsel, S. 99 (an Mauthner, 22. 7. 1904) und S. 146-148 (an Mauthner, 3. 10. und 6. 10. 1906). Zu einer anschaulichen Schilderung seiner Tätigkeit, vgl. A. Walz, Hedwig Lachmann, S. 295 f. Landauer blieb auch nach seinem Ausscheiden mit dem Unternehmen verbunden. Zu seinem Engagement für Brunners Werk, das schon Jahre vor dem Erscheinen fertig vorlag, vgl. Landauer/Mauthner, Briefwechsel, S. 136 f. (an Mauthner, 1. 6. 1906) und Landauer, LGB, I, S. 131 (an Brunner, 18. 1. 1905). 208. Vgl. G. Landauer, LGB I, S. 218 (an Faas-Hardegger, 20. 10. 1908): »Dieser Freund übrigens, Constantin Brunner, hat jüngst den ersten Band eines sehr wichtigen, weitreichenden philosophischen Werkes geschrieben […] Ich habe drei solche Menschen, die mir geistig und menschlich sehr nahe sind; der nächste ist Fritz Mauthner, der die Sprachkritik geschrieben hat, viel älter als ich, aber ich bin ihm seit bald zwanzig Jahren treulich verbunden; er lebt jetzt in Freiburg und ich sehe ihn nur einmal im Jahr. Und außer diesem Brunner noch Martin Buber, der uns die wunderbaren jüdischen Märchen und Legenden (aus der Tradition polnisch-jüdischer My-

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gens hat Landauer bei Brunners aus dem Nachman vorgelesen (›Meister des Gebetes‹) und schreibt mir darüber: ›Tiefste Freude, Erschütterung und Staunen war der Effekt. Ist aber auch herrlich.‹« 209 Landauer selbst schien diese Aufgabe nicht ungerne übernommen zu haben, auch wenn er dabei kaum erfolgreich war. Als er Buber schrieb: »Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen: Ich habe drei Baalschem-Legenden Brunner vorgelesen und großen Eindruck erzielt. Ich soll sie fragen, ob Sie die ›Fabeln des Maggid aus Dubnow‹ kennen, die sehr schön, aber nicht mystisch sein sollen«, antwortete ihm dieser: »Die ›Fabeln‹ des M. v. D. (richtiger: Gleichnisse) sind interessant, aber nur historisch und literarisch; ich habe zu diesem jüdischen Moral-Rationalismus ein mehr negatives Verhältnis«, und dann korrigierte ihn Buber noch: »übrigens: Dubno, nicht Dubnow«. 210 Einer von Brunners Anhängern, der nicht weiter identifizierbare A. M., begann im Frühling 1912 eine publizistische Fehde mit Buber. Er schickte der Redaktion von Ost und West einen Aufsatz, in dem die Drei Reden über das Judentum zum Anlaß genommen wurden, um eine Abhängigkeit ihres Verfassers von Brunner zu behaupten. A. M. erklärte, dessen grundsätzliche Ideen seien hier stillschweigend übernommen worden, und kam zu dem Schluß: »Ohne Brunner ist Buber nicht verständlich«. 211 In der auf den Vorwurf folgenden Auseinandersetzung wurde Buber von Landauer nachdrücklich unterstützt, der inzwischen mit Brunner gebrochen hatte. An Neujahr 1910 schien es zu einer Auseinandersetzung zwischen beiden gekommen zu sein, wovon ein scharfer Brief Landauers zeugt. 212

209. 210. 211. 212.

stiker des achtzehnten Jahrhunderts) vom Baalschem und vom Rabbi Nachman gedichtet hat.« M. Buber, B I, S. 246 (an Landauer, 26. 7. 1906) und S. 252 (an P. Buber, Dezember 1906, der hier angesprochene Brief ist nicht erhalten). Arc. Ms. Var. 350/61.1, 15 (Landauer an B., 22. 2. 1908) und 350/62a, 24 (an Landauer, 23. 2. 1908). A. M., Constantin Brunner und Martin Buber, Sp. 332. Vgl. G. Landauer, LGB I, S. 282-285: 284 (an Brunner, 2. 1. 1910): »und wer sich nicht auf meinen Boden begibt, soll zwar mit mir reden, weil er mein Freund ist und es innig gut meint; aber er kann dann leider nicht mit mir reden, weil er das Anfänglichste nicht versteht. Er redet zu mir, als ob ich ein Philanthrop wäre; und er müßte zu mir als zu einem Dichter reden. Ich dichte, lieber Freund; ich dichte an meinem Volk. Dieses Volk ist nun eben eine von meinen Sachen, und ich verstehe darunter weder die Gemeinschaft der Geistigen, gegen die ich vorerst rebellisch gestimmt bin, obwohl ich bereit bin, zu hören, noch gewiß das, was Du ›Volk‹ nennst. Ich nehme die Gefahr auf mich, Dir Üblichkeiten zu erregen; ich meine zwar, daß das, was ich Volk nenne, auch nicht das Übliche ist; aber vielleicht ist es für Dich doch etwas von Übel. Das ist dann eben nicht zu ändern.« Hanna Delf, eine genaue Kennerin Landauers, gibt 1911 als das Jahr des Bruchs zwischen Brunner und Landauer an, vgl. Landauer/Mauthner, Briefwechsel, S. 406 Anm. 20.

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Daß dieser Buber beim Verfassen der Erwiderung eingehend beraten hatte, zeigt ein erhaltener Brief vom 10. März 1912. Landauer schöpfte darin nicht nur aus einer genauen Kenntnis von Brunners Werk, sondern nahm auch für das Judentum und dessen Verständnis durch Buber Partei: »Noch stärker als Sie getan, sollten Sie betonen, daß die Juden eben Ihr Volk sind, aber für Sie nicht das geistige Volk eines Volklosen; und daran anschließend sollten Sie erwähnen, wie lange es her ist, daß Sie immer wieder, in Schriften und Reden und auf Kongressen, die jüdische Bewegung (zionistisch) von der Äusserlichkeit weg auf die Erneuerung des Geistes bringen wollten.« 213 Angriff und Replik erschienen schließlich gemeinsam im Aprilheft von Ost und West. Erwiesen sich die Vorwürfe, die A. M. gegenüber Buber erhoben hatte, auch als falsch, so standen sich dieser und Brunner, bei allen Unterschieden, in ihren Ansichten doch näher, als man gemeinhin vermutet. So schätzten beide Jesus hoch, den Brunner, allerdings in seiner Gestalt als Christus, »das absolute mystische Genie« und Buber einen Vertreter des echten »Ur-Judentums« nannte. 214 Freilich bemühte sich Buber in der Folge stärker um eine Abgrenzung von Ansichten Brunners. So erklärte er in »Das Gestaltende«, indem er seine Rede vom Geist und dem Gegensatz zweier Prinzipien näher erläuterte: »Ich bitte Sie aber, dies nicht so aufzufassen, als ob, um die Terminologie eines bedeutenden Zeit- und Stammesgenossen, Constantin Brunner, zu gebrauchen, unter dem einen Prinzip die ›Geistigen‹, unter dem anderen das ›Volk‹ zu verstehen wäre. Ich halte diese Terminologie und den dialektischen Radikalismus, der sie geschaffen hat, für einen Irrtum. […] Der Gegensatz, von dem ich spreche, ist denn auch in seinem letzten Grunde für mich kein zwischenmenschlicher, sondern ein Gegensatz in jeder einzelnen Menschenseele, und der große Kampf, der sich in der Geschichte vollzieht, ist nur die Projektion eines sich in der Person vollziehenden in das Leben der Gemeinschaft.« 215 Bemerkenswert ist aber auch, welche Stellungnahmen Brunner und Buber jeweils in der sogenannten »Judenfrage« bezogen. Buber meinte in der ersten seiner Drei Reden über das Judentum »das Blut als die tiefste Machtschicht der Seele« bestimmen zu können.216 Zugleich erklärte er: »Wir wollen und dürfen uns bewußt sein, daß wir in einem prägnanteren Sinne als irgendein anderes Volk der Kultur eine Mischung sind. Aber wir 213. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/61.3, 2 (Landauer an B., 10. 3. 1912). 214. C. Brunner, Unser Christus, S. 131, M. Buber, DR, S. 82 (= RGA, S. 52 = JuJ, S. 37). 215. M. Buber, Das Gestaltende, S. 206 f. Es handelt sich hier um Ausführungen Bubers nach einem Vortrag Landauers 1912 in Berlin, vgl. ebd., S. 205. 216. M. Buber, DR, S. 22 (= RGA, S. 11 = JuJ, S. 14).

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wollen nicht die Sklaven, sondern die Herren dieser Mischung sein.« 217 Walter Benjamin hat dergleichen als »Blut- und Erlebnisargumentation« scharf kritisiert, während Ernst Simon erklärte, daß Buber das Blut »nicht rassisch verstanden, sondern als Symbol der geistigen Volkspersönlichkeit« aufgefaßt wissen wollte. 218 Wirklich ist »Blut« von ihm metaphorisch gemeint, und doch hat er sich durch die Wahl der rhetorischen Figur in die Nachbarschaft einer biologistischen Denkweise begeben, wenn er sie letztlich auch nicht geteilt hat. Seine defensive Haltung erscheint als Ausdruck der Ohnmacht, das Monopol der Deutung zu brechen. Zur »Judenfrage« als solcher meldete sich auch Brunner zu Wort, ohne direkt von Buber dazu angeregt worden zu sein. Daß er es im Juden tat, der von diesem herausgegebenen Zeitschrift, hatte seinen Grund in ihrer hervorragenden Stellung innerhalb der jüdischen Publizistik Deutschlands. Im Spätsommer 1917 erschien dort ein Vorabdruck eines Abschnitts seines Buchs Der Judenhaß und die Juden. Darin ging Brunner auf die Rassenfrage ein, eine Domäne, die von Antisemiten besetzt gehalten wurde und die ein Jude nur als Apologet betreten konnte. In dem Artikel heißt es: »Es gibt keine reinen Rassen, und auch die jüdische kann nur die verhältnismäßig reinste unter unsern Rassen genannt werden. Die aber ist sie tatsächlich geblieben. […] Die jüdische ist unter den Rassen die zentrale Rasse, welche mit ihrer physischen Äußerlichkeit die Mitte hält zwischen den Menschheitstypen, die Unterschiedenheit aller an sich tragend und dadurch von allen verschieden; und auch hinsichtlich der Geistigkeit nimmt die jüdische Rasse eine zentrale Stellung ein und hat die stärkste Wirkung auf die übrigen Menschheitsrassen ausgeübt.« 219 Brunner unternahm hier den Versuch einer Entschärfung des antisemitischen Diskurses. Er ließ sich auf ihn ein, um ihn aber ins Positive zu wenden, indem er die Zentralstellung der »jüdischen Rasse« behauptete.

10. Daniel Daniel mag man heute nur noch unter Anstrengung und mit einem sich einstellenden Gefühl von Peinlichkeit lesen können, ein Umstand, den wiederum Ernst Simon präzise so ausdrückte: »Vergangen ist ein Gutteil dessen, was Bubers frühen Ruhm ausmachte.« 220 Denn ganz anders reagierten die Leserinnen und Leser vor allem der jüdischen Jugendbewe217. 218. 219. 220.

M. Buber, DR, S. 26 f. (= RGA, S. 13 = JuJ, S. 16). G. Scholem, Walter Benjamin, S. 41, E. Simon, Martin Bubers lebendiges Erbe, S. 20. C. Brunner, Die jüdische Rasse, S. 299. E. Simon, Erbe, S. 17.

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gung. Für sie inaugurierte Daniel jenen Kult des Erlebnisses, den der junge Scholem »aesthetische Ekstase« nannte. 221 Freilich distanzierte sich Buber selbst schon früh von dieser Rezeption seines Buchs, etwa wenn er Max Brod (1884-1968) gegenüber die Bedeutung der »Verwirklichung«, des Schlüsselbegriffs seines Denkens zu dieser Zeit, näher erklärte und in seinem Werk verortete. »Verwirklichung ist keineswegs Ekstase. In der Ekstase erlebt der Mensch die Seele ([Ekstatische] Konfessionen XII unten bis XIII Mitte [= S. 80 f.]), in der Verwirklichung die Welt (Daniel [S.] 71 f.). […] In der Verwirklichung sind Erkenntnis und Ethos verschmolzen: der Mensch kann die Welt nur erkennen, indem er sie tut (Dan[iel S.] 114 oben, vgl. [Reden und Gleichnisse des] Tschuang-Tse [S.] 110 [= 94]: ›Die Erkenntnis des Vollendeten ist nicht in seinem Denken, sondern in seinem Tun‹).« 222 Im Daniel selbst heißt es dazu: »Realisierung bezieht jeden Vorgang auf nichts als auf seinen eignen Gehalt und bildet ihn gerade darum zu einem Signum des Ewigen.« 223 Indem sie keinen Bezug auf etwas anderes mehr herstellt und keine Vermittlung mehr leistet, wird die realisierende Tat zum Zeichen des Göttlichen – wenn man den von Buber gebrauchten Ausdruck »Signum des Ewigen« auch auf einen der Gottesnamen des deutschen Judentums seit der Aufklärung bezieht. Dann freilich ist der Mensch selbst gottesgleich geworden, ein Schluß, den das Motto aus Johannes Scotus Eriugena (um 810– um 877) nahelegt, das Buber Daniel vorangestellt, freilich bei dessen Wiederabdruck in den Werken gestrichen hat. Hugo Bergmann faßte die Bedeutung des Buchs rückblickend so zusammen: »Die Welt war vor der ›realisierenden‹ Tat ein Wirbel: jetzt ruht sie um die realisierende ›Richtung‹, die ihr der Mensch aus sich heraus gibt. Das Geheimnis der Welt entdeckt sich mir durch den verwirklichenden Menschen.«224 Seine Repräsentanten sind Held und Dichter, Weiser und Prophet. Als ihre mythischen Ahnherrn erscheinen im Daniel Orpheus und Elia, Freyr und Henoch, wußte Buber seine Darstellung doch kultur- und religionsgeschichtlich zu fundieren. So verarbeitete er die Lektüre von James Frazer (1854-1941), Der Goldene Zweig, gleichsam dem mythologischen Steinbruch des Fin de Siècle, erwähnte, zumindest in seinen Entwürfen, Johann Jakob Bachofen (1815-1887), den Entdecker des Mutterrechts, und konnte sich auf Berichte des deutschen Missionars Carl Strehlow (1870-1922) über die Stämme Zentral221. 222. 223. 224.

Vgl. G. Scholem, Briefe 1, S. 43 (an S. Lehmann, 4. 10. 1916). M. Buber, B I, S. 350 f. (an Brod, 6. 12. 1913). In diesem Band, S. 213. H. Bergmann, Martin Buber und die Mystik, S. 267.

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australiens beziehen.225 Auch durchzieht das Buch insgesamt eine dionysische Atmosphäre – ohne daß darum Nietzsche der direkte Stichwortgeber wäre –, ist doch von Verwandlung und Tod, von Wiedergeburt und Mysterium die Rede. Jüdische Tradition selbst findet sich nur noch in verstreuten Spuren, verweht von einem Zeitgeist, dem die Religionen insgesamt als Bestandteile eines kulturellen Kanons gelten – in dieser Hinsicht erweist sich der sonst so altmodische Daniel als ein höchst aktuelles Phänomen. Die weitgehende Abwesenheit von Jüdischem wurde übrigens kaum wirklich als problematisch wahrgenommen. So führte Landauer in seinem Aufsatz über Buber, nachdem er ihn als »den heroischen Juden« charakterisiert hatte, »der im Maßstab unsrer Zeit und als ein erst Beginnender, dessen Wachstum wir noch erleben sollen, uns repräsentiert, was die Propheten waren«, weiter aus: »Das konnte man ahnen nach manchen der Legenden, aus der und jener Stelle der »Drei Reden«; man erfährt es jetzt aus dem Buche: »Daniel. Gespräche von der Verwirklichung.« 226 In dieser Perspektive erschiene Bubers Titelheld vielleicht nicht als letzter Prophet, wohl aber als wichtiger Repräsentant göttlich inspirierter Rede. Ähnlich erklärte »der Dekan der philosophischen Fakultät der Sorbonne bei der Verleihung des Ehrendoktors, […] Buber habe zweimal Gestalten der Bibel dargestellt: Daniel und Moses.« 227 Indes war er der Suggestion des Titels erlegen, in dem er den Namen des Ahnherrn der Apokalyptiker wiedererkannte. Mag Buber auf ihn auch nicht bewußt angespielt haben, so ist doch denkbar, daß die Wahl des ansonst rätselhaften Titels durch die Figur des biblischen Visionärs zumindest angeregt war. Die im Daniel vorgetragenen Gedanken muß man zu den »philosophischen Modeströmungen unserer Zeit« rechnen, die der Freiburger Neukantianer Heinrich Rickert (1863-1936) in seiner Philosophie des Lebens darzustellen unternahm und deren Inhalt er so umriß: »Schon jetzt muß trotz der Beziehung auf einen Grundgedanken« – eben den des Lebens – »das Bild der modernen Lebensphilosophie bunt genug sein, um nicht einseitig zu erscheinen. In seinem Lebensrahmen ist Platz für sehr heterogene Bestrebungen. Schöpferische Lebensschwungkraft und heilige 225. Zu Frazer vgl. in diesem Band, S. 224 f., zu Bachofen, S. 320 = Arc. Ms. Var. 350/bet 8 (den Inhaltsentwurf für Daniel und seine Fortsetzung), zu Strehlow, S. 231. 226. G. Landauer, Martin Buber, S. 99 (= 166). Man muß freilich berücksichtigen, daß der Text unmittelbar nach Fertigstellung des Daniel geschrieben wurde, an dem Landauer beratend mitgearbeitet hatte. 227. W. Kraft, Gespräche mit Martin Buber, S. 48 (18. 2. 1959). Hier wird es allerdings als Beweis dafür genommen, »daß dieser Redner das ›Daniel‹ betitelte Buch nicht gelesen hat, denn es hat nichts mit dem biblischen Daniel zu tun.« Vgl. P. Mendes-Flohr, Buber’s Rhetoric, S. 19

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Passivität des stillen Erlebens, das alles Schaffen verneint, französischer élan und russische Mystik mit bewußt unproduktiver Beschaulichkeit, hoffnungsfreudiger Lebensoptimismus des evolutionistisch gerichteten Uebermenschentums und graue Verzweiflung an der Fortentwicklung des abendländischen Kulturlebens, antiwissenschaftliches Lebensprophetentum und strenge Wissenschaftlichkeit der Lebensschau, metaphysische Vertiefung in das Jenseits des Weltwesens und höchst diesseitiger pragmatischer Utilitarismus – sie alle gehen zusammen in diesem west-östlichen Lebensgebilde, das Europa durchquert.« 228 Genauer noch erscheint Daniel als Musterexempel einer neureligiösen Schöpfung: als die Keimzelle einer »Intellektuellen-Religion«. 229 In diesem Sinne hat das Buch dann auch auf die jüdische Jugendbewegung gewirkt. Aber auch seine Komposition und sein Stil erregten Aufmerksamkeit. In einem Brief äußerte sich Landauer über das erste »Gespräch von der Richtung«, das er erhalten und gelesen hatte, so enthusiastisch wie genau. Vor allem stellte er, wie nebenbei, auch Überlegungen zu einer Sprachphilosophie an. »Mein lieber Freund, Sie haben mir eine große Freude gemacht. Ich gestehe, als ich die Blätter aufschlug und mein Blick auf Titel und ersten Absatz fiel, war mein Gedanke: O weh, Analogien! Sie wissen, da bin ich bis zur Härte streng und will mich nicht durch Bilder verblüffen und nicht durch Gemüt verführen lassen. Aber es ist nichts von alledem; es ist alles ganz rein und aus einem Reich, wo die Analogie nicht hinkommt und der Einfall keine Stätte hat. Ich rede in diesem Augenblick nicht vom Inhalt; einmal, weil Sie wissen, dann, weil ich wohl die Verzahnungen merke, die zum Ganzen führen, und erst vom Ganzen reden will. Aber ich will Ihnen sagen: Sie erreichen mit diesem Werk, dessen Probe ich hier vor mir habe, was Nietzsche mit dem Zarathustra und den Dithyramben nicht erreicht hat. In diesen Kundgebungen Nietzsches nämlich sind immer zwei beisammen: einmal die Sache, die sich ausspricht, und dann die Person, die über diese Sachsprache pathetische Erschütterung zeigt. Wie in Goethes und E. T. A. Hoffmanns oder Jean Pauls erzählender Prosa zwei sind: die Sachrede und der Sprecher, der nicht einmal immer ein Sprecher bleibt, der manchmal ein Schmuser wird. Bei Kleist aber, dem Einzigen, ist Eines: die Sache spricht, als ob nur die seiende Sache wäre, wo doch in Wahrheit nur Sprache einer Seele ist. Dieses Große finde ich nun in diesem Stück Ihres Werkes: das Pathos der Sache in der Gestalt der Sprache, die so gestaltet ist, daß sie zugleich ganz Sprache des Sprechenden und ganz sprechende Sprache ist. Sie haben in diesem Werk von der Zweiheit eben das erreicht, wovon das Werk handelt. Denn was ich nicht kenne, kann nicht anders sein als dieses Stück, da Sie kein anderer sind. Und ich darf Sie bitten, Ihrer Frau die Hand zu drücken und mir 228. H. Rickert, Die Philosophie des Lebens, S. 33. 229. Zu deren Begriff und Gehalt, vgl. H. G. Kippenberg, Intellektuellen-Religion.

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recht bald die andern Stücke zu schicken, die Sie mir versprochen haben. Meine Frau hat gelesen wie ich.« 230

Nicht »Einfall«, sondern »Wissen«, nicht »Sachrede«, sondern »sprechende Sprache« – in diese Gegensätze faßte Landauer seine Begeisterung. Gemeint war, daß, entgegen der allgemeinen Dinghaftigkeit der Rede, hier »Sprache der Seele« sei, in der »die Sache spricht, als ob nur die seiende Sache wäre«. Derart erscheine »das Pathos der Sache in der Gestalt der Sprache«. Diese Interpretation negiert jede Distanz und Vermittlung, die nur »Zweiheit« wäre, und überspringt den Unterschied zwischen Gegenstand und Sprecher. Wenn so Instanzen getilgt und Widerstände zum Verschwinden gebracht werden, vereinigen sich Sache und Seele in einer Gestalt als wahrhaft Seiende. In der Sprechweise der abendländischen Metaphysik ausgedrückt, sind sie »nicht Nichts« und damit dem Tod entronnen. Sie partizipieren am Heilsversprechen, das die Religionen so ausdrücken: »Habt keine Angst!« Denn Tod und Zerstreuung sind überwunden. Verständlicherweise hat Buber auf Landauers Lob mit großer Freude reagiert und dem Freund weitere Teile des Buchs versprochen.231 So esoterisch die im Daniel vorgetragenen Überlegungen auch zu sein scheinen, so sehr wenden sie sich doch bewußt an ein größeres Publikum, um die gleichsam exoterische Seite eines Denken zum Ausdruck zu bringen, das sich nicht mit seiner Wirkung auf die jüdische Jugend allein bescheiden will. Die Reduzierung von Tradition auf bloße Elemente des Bildungsguts stellt den dafür zu entrichtenden Preis dar. So konnte die Darstellung selbst, trotz der gewählten Form des Dialogs, elaboriert und um äußerste Kunstfertigkeit bemüht bleiben. Dieses scheinbare Paradox, die Allgemeinheit des Inhalts und die Exklusivität der Form, garantierte den Erfolg des Buchs. Die starke Verdichtung und Abstraktion der Gespräche, zudem noch ihr kunstvoller, allem Alltäglichen enthobener und bemüht dichterischer Ton, stellten eine besondere Attraktion für Leser dar, die das Erlebnis auch in Bibliotheken und Lesehallen suchten. Darin erwies sich 230. M. Buber, B I, S. 306 f. (Landauer an B., 25. 7. 1912) = G. Landauer, LGB I, S. 411. Landauer hat diese Überlegungen fast wörtlich in seinen Buberaufsatz übernommen, vgl. ders., Martin Buber, S. 102 f. (= 168). Zu Bubers Hochschätzung für Kleist, in der er mit Landauer übereinstimmt und die er möglicherweise von ihm übernommen hat, vgl. M. Buber, Die Bibel als Erzähler [I], S. 188: »nur ein deutscher Dichter berichtet Vorgänge so, daß sie wirklich wahrnehmbar werden: nämlich Kleist.« Der Abschnitt aus diesem Vortrag von 1927 fehlt in späteren Fassungen, vgl. M. Buber, Leitwortstil in der Erzählung des Pentateuch = Die Bibel als Erzähler [II]. 231. M. Buber, B I, S. 307 (an Landauer, 30. 7. 1912). Buber kündigt hier das »Gespräch über der Stadt« an. »Weiteres Manuskript wird jetzt in Berlin abgeschrieben; sobald ich die Abschrift habe, schicke ich sie Ihnen.«

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Daniel als Nietzsches Zarathustra ebenbürtig. Überlegen war er ihm, gerade was die initiatorische Erfahrung angeht, die die Lektüre bewirkte, zwar nicht – auch wenn Landauer dies erklärte, freilich sein Urteil anders begründend. Denn gerade in Bubers Stil erblickte er eine Schwäche, die ihm genauer als Opakheit der Darstellung erschien. So schrieb er nach Erhalt des zweiten Dialogs: »Lieber Buber, auch dieses Stück hat mir sehr, sehr gefallen und zugesprochen. Ich habe ein paar kleine, stilistische Fragen, ob der Ausdruck nicht noch besser werden könnte, ich habe die Stellen mit Bleistift beziffert, in der Meinung, ich müßte hier bemerken, was ich meine; aber ich sehe, es erklärt sich alles von selbst; nur eine Bemerkung wichtigerer Art habe ich, die sich aufs Ganze bezieht, aber an 5) anschließen kann. Ich sehe ja wohl, daß ein anderer Dialog von Orientieren und Realisieren handeln und die Terminologie klären wird. Auch vermisse ich nicht die Klarheit der Ausdrucksweise; wohl aber meine ich, Sie müßten noch etwas dafür tun, daß wir Leser stärker, unmittelbarer und mehr von Anfang an im Gefühl umfassen, was ›Orientieren‹ ist. Sie müßten also noch für einige Konkretheit, Anschaulichkeit, Lebendigkeit sorgen. Wir sind ja einig darüber, nicht wahr, daß man dadurch, daß man sich im Abstrakten hält, aus der Welt des ›Orientierens‹ nicht herauskommt; es fehlt mir da noch Eindringlichkeit und Gewalt. Sie müssen immer bedenken, wie lange all diese Dinge in Ihnen leben und wie viel aus der Vorgeschichte Ihrer Gedanken für Sie Gefühl und Inhalt gibt; das alles müssen Sie jetzt durch Kunst und Konzentration uns geben. Auch haben Sie – diese Kleinigkeit ist nicht unwichtig – eine für die gesprochene Rede sehr richtige Abneigung gegen die Partikeln, die der Rede eine zu verstandesgemäße Deutlichkeit geben; aber für das geschriebene Wort sind sie manchmal als Ersatz der Betonung oder Gebot der Betonung nötig«. 232

Noch nach Lektüre eines weiteren Manuskripts, des Dialogs »Vom Theater«, bemerkte Landauer zur Vagheit mancher Begriffe Bubers: »Ihr Gespräch hat im ganzen und in vielem Einzelnen wahr und schön zu mir gesprochen. Aber auch für die Darstellung dieser wichtigen Dinge könnten Sie, glaube ich, noch etwas tun. Ich urteile nicht nach dem Leser, der so oder so beschaffen sein mag, sondern nach mir selbst, wenn ich sage: nicht alles, was Sie sagen, kann der Leser unmittelbar erfassen; es ist hie und da nur ein graues, verschwimmendes Fühlen und dazu ein Bemühen, fertige Termini sich selber lebendig zu machen. Da ist z. B. von Austragung, Umfassung, Verwandlung die Rede, schnell hintereinander, wie etwa in der Schule von Deklination und Konjugation gesprochen wird. Aber ein bißchen komme ich mir wie der Schüler vor, der zum Unglück in früheren Stunden gefehlt hat und der deutlich aus dem sicheren Tonfall hört, das sind feste Rubriken, an denen nicht zu tasten ist, aber er hat kein Erlebnis und Beispiel dafür und soll doch mit und weiter. Es ist dies eine Eigenheit Ihres Geistes, auf die ich Sie schon manchmal hinwies: Sie verarbeiten etwas in sich, 232. M. Buber, B I, S. 308 f. (Landauer an B., 10. 8. 1912) = G. Landauer, LGB I, S. 412.

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bis es eine gewisse Rundheit und Abgeschlossenheit hat, und teilen dann den Weg zu den Ergebnissen nicht mit.« 233

Es war dies wirklich auch eine Kritik späterer Leser. So klagte Hermann Bahr, bei aller Sympathie sowohl für Daniel als auch für seinen Autor: »Mir ist das Buch seit Wochen ein lieber Gefährte, so einer, dem man so gern zuhört, weil man dabei sich selbst zu hören meint; […] Solange ich jedes Gespräch als Musik auf mich einwirken ließ, schwoll ich von Gedanken. Sobald ich einen einzelnen Satz genau zu befragen unternahm, ward ich irre. Ich mußte manchen erst dreimal, mußte ihn viermal lesen, bevor ich ihn recht zu verstehen begann.«234 Allerdings gab es auch Kritiker, die gerade darin die ersehnte Einheit von Inhalt und Form erkennen wollten, von der auch Landauer in seinem ersten Brief sprach, und wirklich begeistert waren. So schrieb Oskar Baum im Literarischen Echo bekenntnishaft: »Ja, ich glaube, daß in der Melodie dieser biegsamen Sprache, in ihrem tönenden Fluß, in diesen Versen, die die ihnen innewohnenden Gesetze des eigenen Zeitmaßes mit auf die Welt gebracht haben, ganz ebenso die Ideen ausgedrückt sind wie in der Bedeutung der Worte. Man kann bloß dem Tonfall lauschen und muß die Absichten des Autors mit seinem Herzen verstehen. Und darauf kommt es Martin Buber auch an.« 235 Ähnlich äußerten sich Max Brod, Margarete Susman und Felix Weltsch. 236 Von der Lektüre eines Vorabdrucks eines Teils von Daniel in der Zukunft berichtete Landauer in einem denkwürdigen Brief, in dem er gleichsam die Summe seiner Auseinandersetzung zog: »Lieber Buber, den Dialog in der ›Zukunft‹ habe ich freudig noch einmal gelesen; er hat stark, rein und im einzelnen wie neu auf mich gewirkt […] Ich bin dabei Margarete Susmans Buch zu lesen. Schwer zu sagen, welche Freude ich habe. Daß sich mir dieser Eindruck mit dem Ihrer Dialoge verbindet, brauche ich nicht zu sagen. Denn das ist ein[e] ganz große Freude, die mir jetzt wird! da und dort in der Welt ein paar Menschen zu wissen, die von tief innen her zu einem gehören. Man schleppt pietätvoll, liebevoll ein paar Jugendfreundschaften mit und überall ist Kluft. Da ist es ein Segen, wenn in der Einsamkeit der Reife die Gleichen zu einem kommen. Meine Frau empfindet es wie ich. Wir haben schöne Tage mit Bendemanns [Margarete Susman und ihr Mann] verbracht und freuen uns, daß Sie auch heimkommen wollen. Übrigens: daß Brunner dieses Glück über die gleichgewachsenen Selbständigen nicht 233. M. Buber, B I, S. 310 f. (Landauer an B., 9. 9. 1912) = G. Landauer, LGB I, S. 414 f. Ob Buber auf die Kritik antwortete, ist nicht überliefert. Jedenfalls kommt er in seinen nächsten Briefen nicht darauf zu sprechen. 234. H. Bahr, Expressionismus, S. 42 f. 235. O. Baum, Martin Bubers neue Dichtung, S. 236. 236. Vgl. M. Brod, Vom neuen Irrationalismus, M. Susman, Von der Verwirklichung, F. Weltsch, Daniel und die Wissenschaft.

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kennt, sondern die Starken mißtrauisch egozentrisch beschnüffelt und die Schwachen an sich zieht, ist das wahrhafte signum reprobationis, das er trägt.« 237

Mendes-Flohr hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich in Daniel eine Denkfigur des reifen Buber vorweggenommen findet, die er bei der Arbeit an seiner Verdeutschung der Schrift weiterentwickelte: der »Wunsch, in einer poetischen und eindringlichen Form die Direktheit und Unmittelbarkeit der Rede zu erfassen, was er später ›die Gesprochenheit der Sprache‹ nannte«. 238 Auch kehrt der Unterschied zwischen »Orientieren« und »Realisieren«, der als gleichsam erkenntnistheoretisches Postulat das Buch insgesamt durchzieht, im Werk der Reife wieder. Im Daniel wurde erklärt, »daß es ein doppeltes Verhalten des Menschen zu seinem Erleben gibt: das Orientieren oder Einstellen und das Realisieren oder Verwirklichen. Was du tuend und duldend, schaffend und genießend erlebst, kannst du um deiner Zwecke willen in den Zusammenhang der Erfahrung einreihen oder um seiner selbst willen in seiner eigenen Kraft und Helligkeit erfassen.«239 Was Buber hier in der »preziöse[n] und überladene[n] Ausdrucksweise« der Zehner Jahre vortrug, kleidete er in Ich und Du in eine philosophisch abgeklärte Sprache, die aber existentiell hochaufgeladen war und vor Bedeutung zu bersten schien. 240 »Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. Die Haltung des Menschen ist zwiefältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen kann. Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du. Das andere Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es. […] Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung.« 241 Nach Ernst Simon sei Daniel »die einzige ekstatische Konfession, die [Buber] selbst verfaßte und die für ihn ein Ausdruck seiner damaligen Existenz war.« 242 Tatsächlich findet man in den Materialien zu dem Buch, die im Martin Buber-Archiv aufbewahrt werden, den programmatischen Satz: »Das Biographische mit dem Dialogischen vereinigen«. 243 Dann kann man aber in der titelgebenden Figur nicht die Gestalt des Apokalyp237. Arc. Ms. Var. 350/61.3, 14 (Landauer an B., 17. 9. 1912). Susman kannte Landauer – im Unterschied zu Buber – erst seit kurzem. Bei ihrem Buch handelt es sich um Vom Sinn der Liebe (1912). Landauer schrieb ihr darüber einen begeisterten Brief, vgl. G. Landauer, LGB I, S. 418 f. (an Susman, 21. 9. 1912). 238. P. Mendes-Flohr, Buber’s Rhetoric, S. 14 (Zitat aus M. Buber, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, S. 8 f.). 239. In diesem Band, S. 192 f. 240. Kohn, S. 306. 241. M. Buber, IuD, S. 7 f. (= W I, S. 79 f.) 242. E. Simon, Erbe, S. 21, vgl. M. Susman, Von der Verwirklichung. 243. Arc. Ms. Var. 350/8a.

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tikers der Bibel, sondern ein idealisiertes Selbstporträt des Autors erkennen. Daniel erschiene als ein gebildeter junger Jude, der sich vitalistischen Anschauungen und religionshistorischen Herleitungen deshalb hingibt, um in der Fülle der Kultur entdecken zu können, was ihm heimische Lehre und hergebrachter Ritus nicht mehr geben können: Individualität und Gemeinschaft. Auch darum sind die Gespräche von einer Faszination am Erlebnis schlechthin getragen, in der sich Nietzsche-Lektüre, Lebensphilosophie und Jugendbewegung mischen, zugleich aber eine um Kunstfertigkeit bemühte Darstellungsform angestrebt wird. Der Realisierende »kennt die Gefahr und wird ihr begegnen, wenn sie es fordert; er hat ein kräftiges Handgelenk und versteht sich zu wehren; aber was wäre das Leben, wenn es nicht überall ans Äußerste ginge und umzuschlagen drohte? Die Schrift des Lebens ist so unsäglich schön zu lesen, weil uns der Tod über die Schulter schaut.« 244 Den Erfolg des Daniel konnte Buber nicht fortsetzen. Ereignisse und Begegnungen, die ursprünglich als zweiter Band geplant waren, erschienen gegen Kriegsende als Sammlung bloß einzelner, nicht zusammengehöriger Teile. Es fehlte ein Leitbegriff, der sie durchzog. Verfolgt man den Entstehungsprozeß dieses Buchs, so gewinnt man auch den Eindruck, sein Autor habe selbst um dessen endgültige Form gerungen, schließlich aber, ohne sie erreicht zu haben, eher desinteressiert ein Konvolut von Aufsätzen auf den Markt gebracht. Selbst unter Freunden und Anhängern fand es eine schlechte Aufnahme. So trug etwa Ludwig Strauß, der noch Daniel als »unendlich beglückend« empfunden hatte, eine strenge Kritik vor. 245 In ihr trachtete er, die Dichtung von den nur literarischen Äußerungen zu sondern. »Die ›Ereignisse und Begegnungen‹, die mir schon in Zeitschriften nicht immer geglückt schienen, sind allerdings als Buch, glaube ich, noch weniger möglich. So viel Schönes in manchen dieser Stücke ist (besonders im Altarbild und dem Dämon und von den begrifflicheren besonders in den Helden), so wenig ist doch irgendwo eine harmonische Gestalt erreicht. Die feuilletonistischen Beiklänge (etwa im Gespräch mit dem Monisten – insbesondere das Spiel mit den erratenen Einwürfen) stehen Ihnen nicht natürlich an. Und wenn je in Ihren Schriften Pathos und Konzentration die Sprache überlastet haben, dann vor allem hier. Diese wenigen Stücke finden nicht Halt aneinander und werden kein Ganzes. Ich wünschte mir ein Gespräch mit 244. In diesem Band, S. 210. Vgl. F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft [1887], KGW V. 2, S. 206 f. 245. BBS, S. 19 (Strauß an B., 6. 8. 1913). Zu dessen Lektüre von Daniel, vgl. noch ebd., S. 39 (an B., 20. 3. 1916). Positiv zu Ereignisse und Begegnungen äußerte sich hingegen Oskar Baum, Rezension.

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Ihnen über das Sprachliche auch in Ihren gelegentlichen publizistischen Äußerungen, die mir alle durch ein nicht ganz einverleibtes rhetorisches Element beeinträchtigt scheinen.« 246 Mit Schärfe und Spott äußerte sich hingegen der junge Scholem über die Arbeiten Bubers aus dieser Zeit. Er verfaßte eine Kritik in Form einer Rundschrift an Freunde aus der jüdischen Jugendbewegung. »Die neuesten Taten, Leistungen, Ereignisse und Begegnungen des Martin Buber im Insel Verlag. Selbiger hat immer mal wieder seine Begegnungen, die sich in den ›Weißen Blättern‹ u. s. w. mit Gott, der Welt, Frank Wedekind, dem Leib, Grünewalds Altar und einigen anderen Dingen ereignet haben, in einem Buch vereinigt. Das ist paradox nur für den, der das Rezept nicht kennt, das sich im ›Daniel‹ befindet. Aber der Daniel ist Gold aus Ophir gegen dieses Geschwätz aus einer Hölle, von der noch Dante nichts ahnte. […] Wie die armen Irrsinnigen jedes Papier, das ihnen in die Hand kommt, mit ihren Schriften bedecken, so scheint Buber das Schweigen nicht ertragen zu können: es muß alles aufgesetzt werden, glossiert, verdanielt, verwirklicht. Ist er wirklich nicht mehr zu retten? Sollte sich hier als furchtbares Beispiel [Anmerkung Scholem: gegen das noch ein Rathenau nichtssagend wäre] der Geist gegen sich selbst gekehrt haben, so daß unter dem Schimmer mystischer Rhetorik die raffinierte Technik eines Verlagsdirektors mit größerer Präzision arbeitet als die rationalistischste Rechenmaschine. […] Die phantasieloseste Abstraktion, das theorieloseste Geschwätz, der resonanzloseste Mystizismus [Anmerkung Scholem: der sich zur Mystik verhält wie der Psychologismus zur Psychologie] konnten sich keine bessere Residenz erwählen, als den lebenden Leichnam eines Menschen, der über das Erlebnis seiner eigenen Bedeutung gestolpert ist. Es ist sehr traurig.« 247

11. Der Forte-Kreis Unmittelbar vor Kriegsbeginn wurde Buber Mitglied einer höchst widersprüchlichen intellektuellen Vereinigung, des Forte-Kreises. Rückblikkend hat er diese Gruppe so charakterisiert: »Im Juni 1914 kamen in Potsdam acht Menschen – Poul Bjerre [(1876-1964)], Henri Borel [(1869-1933)], Martin Buber, Theodor Däubler [(1876-1934)], Frederik van Eeden [(1860-1932)], Erich Gutkind [(1877-1965)], Gustav Landauer und Florens Christian Rang [(1864-1924)] – zusammen, um in dreitägiger Besprechung die Bildung eines Kreises vorzubereiten, der, die Einung der Menschheitsvölker vertretend, sie in entscheidender Stunde 246. Ebd., S. 56 (Strauß an B., 17. 12. 1917). 247. G. Scholem, Briefe 1, S. 121 f. (an E. Brauer, 3. 11. 1917), vgl. ders., Briefe an Werner Kraft, S. 49 f. (undatiert).

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zu autoritativem Ausdruck zu bringen vermöchte. Briefwechsel darüber war auch mit einigen anderen geführt worden, so mit Romain Rolland [(1866-1944)], der verhindert war, an der Zusammenkunft teilzunehmen.«248 Was die hier Versammelten bezweckten – zu denen als interessierte Figuren am Rande auch Wassily Kandinsky (1866-1944) und Walther Rathenau (1867-1922) zählten –, beschrieb Scholem seinerseits in seinen Jugenderinnerungen so: »Es handelte sich um eine kleine Gruppe von Männern […], die ein oder zwei Jahre vor dem Weltkrieg den Gedanken gefaßt hatten, der kaum glaublich scheint […]: daß es einer kleinen Gruppe von Menschen, die eine gewisse Zeit zusammen aus dem reinen Geist leben und ohne jede Zurückhaltung in einen schöpferischen Gedankenaustausch, ja mehr, in eine pneumatische Gemeinschaft treten würden, vielleicht gelingen könne, um es esoterisch aber doch deutlich zu sagen, die Welt aus den Angeln zu heben und die europäische Kultur an ihren Wurzeln zu verändern.« 249 Nüchterner ist der Forte-Kreis »eine Gruppe von acht geistesaristokratisch orientierten Intellektuellen verschiedener europäischer Länder« genannt worden, »die sich angesichts der kritischen Zuspitzung der letzten Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges zusammenfanden, um mit den Mitteln der Utopie über die Moderne nachzudenken, deren katastrophische Folgen sie bereits ahnten.« 250 In Potsdam kam es Pfingsten 1914 zu jenem denkwürdigen ersten und zugleich einzigen Treffen dieses internationalen »Ordens des Geistes«. 251 Die Euphorie, die dort herrschte, beschrieb Buber Jahre später so: »Die Unterredungen waren von jener Rückhaltlosigkeit getragen, deren substantielle Fruchtbarkeit ich kaum je so stark erfahren habe: sie wirkte auf alle Teilnehmer so, daß das Fiktive zerfiel und jedes Wort Tatsache war.« 252 Liest man den unmittelbar nach Potsdam verfaßten Bericht eines anderen Teilnehmers, so wird man in dem Eindruck bestärkt, dort habe eine religiöse Neugründung stattgefunden. Florens Christian Rang, eine wichtige Figur des Forte-Kreises, schrieb an Richard Dehmel (18631920), den er als Neumitglied werben wollte, unter anderem: »Menschen haben dort mit solcher Begier, entweder den andern von sich abzuschleu-

248. G. Landauer, LGB, II, S. 1 f. Anm. 1 (Kommentar Bubers). 249. G. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S. 88. 250. C. Holste, Der Forte-Kreis, S. 2. Zum Potsdamer Treffen, vgl. S. 32-41. Zu einer neueren umfassenden Darstellung, vgl. R. Faber/C. Holste, Der Potsdamer ForteKreis. 251. Memoranden und Pläne zur Stiftung eines solchen befinden sich in Arc. Ms. Var 350/zajn 46 (Kopien aus dem Frederik-van-Eeden-Archiv, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Amsterdam). 252. M. Buber, Zwiesprache, S. 145 (=W I, S. 177).

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dern oder restlos mit ihm übereinzukommen, sich die Aufrichtigkeiten der Ehrlichkeit angetan, dass sie wie mit Messern und Zähnen sich angefallen haben – um um Gotteswillen nichts Brüchiges miteindringen zu lassen. Wir haben uns unsere Blös[s]e preisgegeben, unsere Scham und Herzfasern zum Einsatz gebracht«. 253 Im selben Schreiben gab er auch eine Beschreibung des Kreises, wobei er das unterschiedliche »Erlebnis einer Einheit, die höher ist als wir Einzelnen in Summa«, gewahrt wissen wollte: »Eeden, der ihn einberief, stand scheinbar zum Schluss fast an der Peripherie: er der Fahnenträger, wie ich ihm sagte, aber wir tragen die Musketen. Martin Buber, Theodor Däubler und ich wissen uns zusammengeschlossen und haben die Hände vereint an den Pflug gelegt, dass wir sie, ohne unser Leben zu schädigen, nicht zurückziehen könnten. Ein schwedischer Arzt Dr. Bjerre steht uns sehr nahe. Gustav Landauer scheint ebenfalls in diesen Ring der Unbedingten zu treten. Ein Dr. Borel, Holländer und Vermittler ostasiatischer Philosophie, ein Freund van Eeden’s, hat mich persönlich sehr sympathisch berührt. Ein jüngerer Freund Eeden’s, sein Adjutant sozusagen, dazu aber sein Helfer in das Verständnis von Metaphysik, Erich Gutkind, hat in letzter Stunde sein Kleinliches unter sich getan und wird seinen Mann stehn. Und Eeden steht doch nicht an der Peripherie, sondern ebensowohl im Zentrum: er bleibt die Fahne, um die man sich sammelt: er allein hat die Kraft, Innerliche und Äusserliche an einander zu binden und auch Menschen der internationalen Geschäftswelt und angelsächsische Seelen heranzuziehen. Denn jetzt heisst’s: heranziehn! was den Zug spüren mag! Die Zeugung ist geschehn; keine Angst mehr, dass das Leben durch Zutritt erdrückt werden könnte, sondern umgekehrt: Nahrungs- und Wachstums-Zutritt muss sein.« 254

Darauf antwortete Dehmel: »Lieber Rang! Ich bin Ende letzter Woche von einer norwegischen Reise zurückgekehrt, während der ich mir keine Post nachschicken ließ, und habe nur mit Mühe und Pein eure redseligen neomessianischen Gründungsprojekte von A bis Z durchlesen können. Auf meiner Reise hörte ich Sturzwellen brausen, Wasserfälle dröhnen, Waldbrände brodeln, Gewitterwolken und Felssblöcke krachen und die Sonne in meinem Blut rumoren; in allen diesen Geräuschen war Tat, unabweisbar sich fortpflanzende Tat. Aus euerm überschwänglichen Wortrausch höre ich blos die Untätigkeit seufzen, die sich gerne betäterätätigen möchte, wüßte sie nur den Weg und das Ziel; und deshalb seufzt sie bezeichnenderweise in einem schauderhaften Deutsch. Da ist viel vom guten Willen die Rede, von der Einheit, der Wahrheit, der Wesenhaftigkeit und andern mystischen Abstraktionen; aber welches Gute gewollt

253. Arc. Ms. Var. 350/zajn 46 (Rang an Dehmel, 23./30. 6. 1914), vgl. L. Jäger, Messianische Kritik, S. 51 f. 254. Ebd. (bei Jäger ausgelassen).

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werden soll, auf was für wesentliche Wahrheiten hin ihr euch selbst und Andre einigen wollt, davon kri[e]gt man kein Jota zu hören«. 255

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs begann der Kreis zu zerfallen, »die holländischen und skandinavischen Teilnehmer – Landauer stand ihnen nahe – neigten dem Pazifismus zu; Buber, Gutkind und vor allem Rang wurden von der deutschen Kriegsbegeisterung der ersten Wochen ergriffen.«256 Dieser, der noch unmittelbar vor Kriegsbeginn van Eeden verzweifelt um die Einberufung des Forte-Kreises bat – als könnte dadurch das Blutvergießen vermieden werden – meldete sich, trotz fortgeschrittenen Alters, als Freiwilliger und wurde für den Dienst in der Etappe akzeptiert. 257 Van Eeden blieb dagegen Pazifist und kritisierte vor allem den deutschen Einmarsch in das neutrale Belgien in zwei Rundschreiben an die Mitglieder des Forte-Kreises, sogenannten »Kreisbriefen«, vom 10. August und 19. September 1914.258 Er legte auch einen »Offenen Brief an unsere deutschen Freunde« bei, der in der niederländischen Wochenschrift De Amsterdammer am 6. September 1914 erschienen war. Van Eeden ließ ihn in einem Schrei über die Geschehnisse von Löwen gipfeln: »Löwen, das wundervolle Löwen ist verwüstet worden, und die Bevölkerung hingeschlachtet oder vertrieben. Verwüstet durch die deutsche Armee, die ja die Kultur gegen den russischen Barbarismus verteidigen soll!« 259 Rang reagierte schon auf den ersten Brief und den Artikel äußerst gereizt und schrieb Buber: »Ich erhielt von van Eeden außer dem allgemeinen Brief, der auch Sie überrascht und betrübt hat, noch einen zweiten eigenen, der auch im Ton sich vergriff und von einer Holländerei des Geistes zeugt, die aus dem Donner der Weltgeschichte nur die Störung der Bürgerruhe hört. Begleitet war der Brief von der Zusendung eines Zeitungsartikels, in dem den Deutschen – angeblich von einem Deutschen – die allgemeine Verachtung ausgesprochen wurde. Eeden ist für mich ein erledigter Mann und ich betrachte ihn nicht mehr zu unserem Kreise gehörig.« 260 In dem persönlichen Brief, der Rang so in Rage brachte, hatte van Eeden als Antwort auf einen Brief vom 20. August unter anderem 255. Arc. Ms. Var. 350/zajn 46 (Dehmel an Rang, 21. 7. 1914), vgl. C. Holste, Der ForteKreis, S. 294 (Auszüge). 256. L. Jäger, Messianische Kritik, S. 53 f. 257. Arc. Ms. Var. 350/zajn 46 (Rang an van Eeden, 31. 7. 1914). 258. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/zajn 46 (van Eden an den Forte-Kreis, 10. 8. und 19. 9. 1914). 259. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/zajn 46. Zum deutschen »Strafgericht« in Löwen, als in der Nacht vom 26. 8. 1914 mehrere hundert Zivilisten erschossen und die Universitätsbibliothek zerstört wurden, vgl. W. Schivelbusch, Die Bibliothek von Löwen, S. 15-19. 260. M. Buber, B I, S. 366 f. (Rang an B., 18. 9. 1914).

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geschrieben: »Lieber Freund, Sie haben einen patriotischen Rausch, Sie sind betrunken. […] Unter diesen Umständen wäre es vielleicht besser, mit jeder Antwort zu warten, bis Sie ausgeschlafen haben. Wenn der Kreis einmal wieder nach dem Kriege zusammenkommt, so werden Sie sich da zu verantworten haben.«261 Aber sogar Landauer, der den Krieg strikt ablehnte, war von dem Zeitungsartikel van Eedens irritiert. Er antwortete ihm: »Zu den ›deutschen Freunden‹, an die sich der von Ihnen übersandte ›Offene Brief‹ wendet, gehöre ich nicht.« 262 Nachdem van Eeden ihm recht gegeben hatte, schrieb er darüber beglückt an Buber: »Mir bleibt van Eeden, trotz mancher Schiefheiten und Beeinflussungen vom Milieu, denen auch er nicht entgeht, in dem Ernst seiner Verzweiflung sehr lieb; und ich freue mich, daß ich ihm in einer Zeit ein Trost sein kann. Ich habe gestern etwas abrupt abbrechen müssen, wir wollen uns bald wiedersehen.«263 Offensichtlich war es zwischen ihm und Buber zu Meinungsverschiedenheiten über Forte-Kreis und Krieg gekommen.264 Auch was van Eeden anging, differierte beider Sicht in beträchtlichem Maß. Buber antwortete spät auf Rundschreiben und Artikel, wobei er seinerseits einen Brief beilegte – 1915 sollte er in überarbeiteter Form unter dem Titel »Bewegung« im Neuen Merkur veröffentlicht werden –, der »vor mehr als zwei Wochen« verfaßt worden »und dann, weil meine Frau schwer erkrankte, liegen geblieben« war. 265 Weil Buber das aber erst Mitte Oktober tat, vermutet Mendes-Flohr mit Recht, daß darin nicht der einzige Grund für sein Zögern lag. Offensichtlich war er sich länger nicht darüber im klaren, was er van Eeden überhaupt antworten wollte. 266 Dieser erwiderte seinerseits auf Bubers Zusendung mit einer Postkarte, auf der das von ihm bewohnte Haus seiner Kolonie »Walden« bei Bussum zu sehen ist: »Lieber Buber, ich höre dass Ihre Frau ernstlich erkrankt ist. Schreiben Sie mir doch wenn es besser geht und die Gefahr vorüber. Ich möchte Ihren Brief beantworten, will es aber nicht tun ehe Sie aus den schlimmsten Sorgen sind. Mit bestem Gruss Ihr getreuer F.v. E«. 267 An den Forte-Kreis insgesamt wandte sich van Eeden wieder am 21. November. Man darf vermuten, daß er folgendes vor allem an die 261. 262. 263. 264. 265.

Brief van Eeden an Rang, 27. 8. 1914, zitiert nach: C. Holste, Der Forte-Kreis, S. 48. G. Landauer, LGB II, S. 3 (an van Eeden, 22. 9. 1914). Arc. Ms. Var. 350/61.4,7 (Landauer an B., 29. 9. 1914). Vgl. Arc. Ms. Var. 350/61.4,8 (Landauer an B., 10. 10. 1914). M. Buber, B I, S. 373 (an van Eeden, 16. 10. 1914). Die Kopie in Arc. Ms. Var. 350/ zajn 46 datierte Buber später handschriftlich auf Anfang September. 266. Mendes-Flohr, S. 166 Anm. 11. 267. Arc. Ms. Var. 350/184,5 (Van Eeden an B., 25. 10. 1914).

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Adresse der Deutschen schrieb: »Ich verkenne nichts von allem Grossen und Gewaltigen was dieser Krieg ans Licht gebracht hat. Für mich ist es aber alles nur Verheissung. Es zeigt nur neue, nie geglaubte Möglichkeiten an. Die bis jetzt nicht verwirklicht sind. Eben weil es an Freiheit und Gerechtigkeit dabei fehlt, und weil zugleich auch Hass und Beschränkung, bis zur Verblödung und Verdummung, sich sogar in den Allerbesten gezeigt haben.«268 Landauer antwortete ihm: »Wollen Sie wirklich noch einen Kreisbrief schreiben? Ich finde, diese Briefschreiberei stiftet mehr Verwirrung und Erregung als Klarheit und Besänftigung. Nötig wäre – jetzt – eine persönliche Begegnung der ursprünglichen Acht. Diesen Antrag an den Kreis stellen jetzt Buber und ich; sie werden dieses Schriftstück wohl in den nächsten Tagen erhalten.« 269 Zu diesem Treffen sollte es jedoch nicht mehr kommen. 270 Der Forte-Kreis hatte de facto mit dem ersten Kriegswinter aufgehört zu existieren, wenn auch erst Gustav Landauer ihm im Sommer 1915 mit einer Erwiderung an Borel ein anständiges Begräbnis verschaffte. 271

12. Der Kriegsbuber Was Ausdrucksweise und Denkfiguren angeht, stehen Daniel, Inbegriff von Bubers Philosophie um 1913, und sein Auftreten im Forte-Kreis, Ort ihrer erhofften Verwirklichung, in einer engen Verbindung zu den Arbeiten der ersten Kriegsjahre. Mendes-Flohr hat als erster darauf hingewiesen.272 Die Faszination für Erlebnis und Gefahr konnte vermeintlich hier ihre erhoffte Befriedigung finden. Besonders was den Forte-Kreis angeht, wird diese Nähe an einem Beispiel deutlich. Der letzte Absatz des aus Tagebuchaufzeichnungen hervorgegangenen, ursprünglich titellosen Aufsatzes, der im September 1914 im Zeit-Echo erschien und verändert als »Richtung soll kommen!» im März 1915 in den Masken wiederabgedruckt wurde, hat eine fast wörtliche Entsprechung in einem undatierten handschriftlichen Manuskript, das sich im Martin Buber-Archiv befindet und in den Zusammenhang des Forte-Kreises gehört. 273 Im Fre268. Arc. Ms. Var. 350/zajn 46. 269. G. Landauer, LGB II, S. 14 (an van Eeden, 27. 11. 1914). Zum angesprochenen Brief von ihm und Buber, vgl. M. Buber, B I, S. 382-384 (B. und Landauer an den ForteKreis, Ende November 1914) = G. Landauer, LGB II, S. 14-16. 270. Vgl. M. Buber, B I, S. 384 f. (Van Eeden an B., 4. 12. 1914) sowie C. Holste, Der ForteKreis, S. 51. 271. Vgl. G. Landauer, LGB II, S. 71-82 (an den Forte-Kreis, 22. 8. 1915). 272. Mendes-Flohr, S. 132. 273. Arc. Ms. Var. 350/zajn 46.

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derik-van-Eeden-Archiv der Universitätsbibliothek Amsterdam existiert ein damit eng verwandtes anderes Manuskript, das März 1914 datiert ist. Beide bilden die Vorlage für Bubers Beitrag zum Almanach der Neuen Jugend auf das Jahr 1917. Der hier diskutierte Abschnitt ist dort freilich nicht enthalten, ebensowenig wie in der Amsterdamer Version. Daraus kann man schließen, daß jener, weil er hier fehlt, sich aber in den Texten der Kriegszeit findet, nach März und vor Mitte September 1914 verfaßt wurde. Darum ist er aber nicht notwendigerweise ein Produkt der ersten Kriegswochen. So kommt in ihm die Vokabel »Krieg« überhaupt nicht vor. In den Überlegungen des Forte-Kreises ist er jedoch tief verwurzelt, und von dessen Teilnehmern schien auch Buber im Krieg einen Anlaß gefunden zu haben, sich wirklich zu »betäterätätigen« – um mit Dehmel zu sprechen. Diese Zusammenhänge zeigen den »Kriegsbuber«, wie man den Verfasser der Schriften der ersten Kriegsjahre zu nennen sich angewöhnt hat, zwar nicht in einem ganz neuen Licht. 274 Sie machen aber deutlich, in einer wie starken Kontinuität er zum Denken der Vorkriegszeit steht. Die Begriffe und Figuren der Kriegsschriften sind in Friedenszeiten geprägt und entworfen worden. Gewiß war Buber zu Beginn des Kriegs in eine geistige und moralische Krise geraten. Sie wollte er durch enthemmten Patriotismus lösen, wovon die Texte ein beredtes Zeugnis ablegen. Von einer deutschnationalen und bellizistischen Begeisterung befallen, wie viele andere liberale und linke Intellektuelle auch, ließ Buber sein ganzes Denken im Kriegserlebnis und in der Hoffnung auf eine aus ihm geborene Bewegung der Erneuerung zusammenschießen, die er in einer religiösen Tonlage vortrug. Heutigen Lesern, vor allem in Deutschland, ist dergleichen fremd geworden. Umso mehr muß man, will man darüber urteilen, Fairness walten lassen, ungeachtet des sich einstellenden Befremdens. Nur eine Minderheit der akademischen, intellektuellen und künstlerischen Prominenz vermochte es, sich des Furors zu entschlagen. 275 Hugo Ball (1886-1927) zählte nach kurzer Begeisterung zu ihr, vor allem aber Gustav Landauer, der die Opposition gegen den Krieg auch Freunden wie Mauthner und Buber gegenüber vertrat. Liest man genauer, erfährt man aber auch, wieviele junge Männer nicht Soldaten sein wollten. Walter Benjamin, Georg Lukács (1885-1971) und Gershom Scholem sind nur 274. Zu diesem Ausdruck als Bezeichnung für den Bellizisten Buber, vgl. erstmals Mendes-Flohr, S. 135. 275. Vgl. K. Flasch, Die geistige Mobilmachung, P. Mendes-Flohr, The »Kriegserlebnis« and Jewish Consciousness, die Aufsätze in W. J. Mommsen/E. Müller-Luckner, Kultur und Krieg und E. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden.

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die prominentesten unter ihnen.276 Bernhard Reichenbach (1888-1975), ein damaliger Freund Benjamins, erklärte im Rückblick: »Das schwerste Erlebnis, in das wir damals gestürzt wurden, war dieses plötzliche Bewußtsein der Isolierung von der großen Mehrzahl«.277 Aber nicht nur die Menge, sondern auch viele Professoren und Intellektuelle waren vom angeblich »geopolitisch begründeten Tragizismus der deutschen Situation« wie gebannt.278 Bubers Lehrer, Georg Simmel, etwa schrieb im November 1914 an Margarete Susman: »Wir kämpfen mit unseren Körpern sozusagen um den Körper von Deutschland. Allein er ist eben der Körper der Seele von Deutschland. Gewiß liegt mir, als Individuum, nur an meiner Seele und den idealen Werten, die sie trägt; allein wenn ein Rowdy mich überfällt, so kämpfe ich dennoch, mit Einsatz aller meiner Kräfte, um meinen Körper mit ihm, obgleich dieser Körper mir ziemlich gleichgültig ist; aber ohne ihn kann die Seele, die mir nicht gleichgültig ist, eben nicht existieren. Was jetzt bedroht ist, ist der Körper von Deutschland, ohne den seine Seele nicht existieren kann. Wir kämpfen sozusagen weder um die Seele noch um die Idee, sondern darum, daß diese Seele und diese Idee in der Form der Wirklichkeit leben können. […] In einer logisch freilich nicht recht ausdrückbaren Art ist das Ganze und das Einzelne überhaupt nicht mehr geschieden, Deutschlands Leben und Verderben ist unmittelbar mein eigenes Leben und Verderben. […] Und dann ist noch anderes dabei, was überhaupt nicht begründet und gerechtfertigt werden kann: ich liebe Deutschland, wie man einen Menschen liebt und das eigene Sein und Haben für ihn einsetzt und es nicht ertragen könnte, daß er zugrunde geht. Solche Liebe hat mit keiner ratio, mit keiner ›Idee‹ zu tun, sondern lebt in einer völlig anderen Schicht, sie ist schlechthin eine Tatsache des Seins, in ihrem eigentümlichen Festigkeitsmaße nur vergleichbar der Tatsache des Sittengesetzes wie Kant und Fichte es vorstellten.«279

Kampf um den »Körper von Deutschland, ohne den seine Seele nicht existieren kann«, getragen von einer gewaltigen Liebe – »ich liebe Deutschland, wie man einen Menschen liebt« –, diese Bekenntnisse verdeutlichen die Rationalisierung einer höchst aufgewühlten emotionalen Befindlichkeit selbst der Klügsten. Zugleich stellen sie aber auch, zumindest was die kollektiven Phantasmen angeht, die sie beinhalten, einen Aspekt des apokalyptischen Endkampfs mit dem Grauen und der Zerstörung dar, die gleichsam die dunkle Seite messianischer Hoffnungen von Judentum und Christentum ausmachen. 276. Vgl. G. Scholem, Walter Benjamin, S. 27 f., G. Lukács, Briefwechsel, S. 359 (an Jaspers, 9. 9. 1915), G. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S. 65 f. 277. Zit. in: Walter Benjamin, S. 47. 278. K. Flasch, Die geistige Mobilmachung, S. 61. 279. G. Simmel, Brief an Margarete Susman, S. 309 f. (Hervorhebung im Original).

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In einem berühmten Vortrag auf der Eranos-Tagung 1959, »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«, erklärte Scholem: »unter dem Aspekt der Halacha erscheint das Judentum als ein wohlgeordnetes Haus, und es ist eine tiefe Wahrheit, daß ein wohlgeordnetes Haus ein gefährlich Ding ist. In dieses Haus dringt von der messianischen Apokalyptik her etwas ein, was ich vielleicht am besten als einen anarchischen Luftzug bezeichnen möchte. Hier ist ein Fenster offen, durch das Winde hineinwehen, von denen nicht ganz ausgemacht ist, was sie mit sich bringen«. 280 In diesem pneumatischen Bild sollte die messianische Befreiung in ihren Auswirkungen auf das Judentum beschrieben werden, wie sie sich, mögliche Katastrophen entbindend, auch immer zutrüge. Zumindest könne sie, dessen war Scholem sich sicher, bis zur »Verwandlung und Krise der Tradition« führen. 281 Geschähe dies, so würde die Tora ihr »noch nicht entdecktes Gesicht reiner Positivität enthüllen«, und »[a]n die Stelle der nationalen und politischen Utopie tritt, ohne sie eigentlich zu abrogieren, aber als nun sich öffnender Kern, die mystische Utopie.« 282 Wenngleich sich die Erlösung »in der Öffentlichkeit vollzieht, auf dem Schauplatz der Geschichte und im Medium der Gesellschaft«, interessierte sich Scholem für ihre Auswirkungen auf das Leben der Völker nur en passant. 283 Für Buber stellte hingegen der Messianismus, »die am tiefsten originale Idee des Judentums«, auch »die Idee der absoluten Zukunft« dar, »die aller Realität der Vergangenheit und Gegenwart gegenübersteht als das wahre und vollkommene Leben«, denn mit ihr »hat der Jude sich unterfangen, ein Haus für die Menschheit zu bauen, ein Haus des wahren Lebens.«284 Der messianische Aufbau, den Buber für die Menschheit insgesamt erhoffte, sollte im Spätsommer und Herbst 1914 jedoch falschen Plänen folgen, wie man an diversen Briefstellen erkennen kann. In der ersten Septemberhälfte erklärte Buber gegenüber Ernst Elijahu Rappeport (1889-1952) noch ganz allgemein: »Die Zeit ist freilich wunderschön, mit der Gewalt ihrer Wirklichkeit und mit dieser ihrer Forderung an jeden von uns.« 285 Am Monatsende schrieb er an den ins Feld einrückenden Hans Kohn (1891-1971) nach Prag schließlich einen vor Bellizismus schier berstenden Brief: 280. 281. 282. 283. 284.

G. Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee, S. 45. G. Scholem, Die Krise der Tradition, S. 175. G. Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee, S. 50. Ebd., S. 7, vgl. S. 17 (»der Endkampf zwischen Israel und den Heiden«). M. Buber, DR, S. 91 (= RGA, S. 58 = JuJ, S. 41). Es gibt in diesen Überlegungen eine Nähe zu H. Cohens Vorstellung von der »messianischen Menschheit«, vgl. ders., Religion und Zionismus, S. 323 f. 285. M. Buber, B I, S. 365 (an Rappeport, 10. 9. 1914).

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»Was Sie mir von der Stimmung sagen, hat mich einigermaßen enttäuscht. Hier ist es ganz anders: nie ist mir der Begriff ›Volk‹ so zur Realität geworden wie in diesen Wochen. Auch unter den Juden herrscht fast durchweg ein ernstes großes Gefühl. In der Millionenschar derer, die sich freiwillig meldeten, waren Karl Wolfskehl [(1869-1948)] und Friedrich Gundolf [(1880-1931)]; dieser ist auch genommen worden. Ich selbst habe leider gar keine Aussicht verwendet zu werden; aber ich versuche auf meine Weise mitzutun. […] Für jeden, der in dieser Zeit sich aufsparen will, gilt das Wort des Evangelium Johannis: ›Wer sein Leben liebt, wird es verlieren.‹ Richten Sie Robert [Weltsch (1891-1982)] und den anderen Freunden unsre Grüße aus und seien Sie selbst von uns allen herzlich gegrüßt. Glück auf den Weg! Wenn wir Juden doch fühlten, ganz durchfühlten, was dies uns bedeutet: daß wir unsern alten Schild Nicht mit Gewalt sondern mit Geist [Sach 4,6] nicht mehr brauchen, da Kraft und Geist nun eins werden sollen. Incipit vita nova!« 286

Bubers Enthusiasmus ist zwar von einer Vorstellung getragen, die damals gleichsam epidemisch zum Ausbruch kam: daß es jetzt ein Volk in Deutschland gebe, ungeachtet aller realen gesellschaftlichen Unterschiede. Auch ist seine Kriegsbegeisterung besonders mit Bildung befrachtet. Der lateinische Ausruf am Ende erinnert an denjenigen Nietzsches, »Incipit tragoedia«, aber auch an Vorstellungen der Wiedergeburt und des Neuanfangs, die Dante für die europäische Literatur kanonisch gemacht hat. 287 Vor allem aber bewegte sich Buber in religiösen Bildern, indem er zwei Bibelstellen messianischen Inhalts paraphrasierte, einmal von Jesu bevorstehender Verherrlichung (Joh 12, 25), dann aus einer der Verheißungen über Serubbabel (Sach 4, 6), freilich mit verändertem Wortlaut, denn beim Propheten ist vom »Geist Gottes« die Rede. 288 Die Stelle aus dem Johannesevangelium setzte er auch an des Ende von »Pescara, an einem Augustmorgen«, seiner ersten Veröffentlichung im Krieg. 289 Bezeichnenderweise stammen die Zitate aus beiden Testamenten, als wäre, da nun das deutsche Volk eins sei, auch der endzeitliche Heilsbringer von Juden und Christen einer. Diese Mischung von Bildung, Religion, Kriegspropaganda und Einheitseuphorie kennzeichnen Bubers öffentliche Äußerungen dieser Zeit insgesamt, so auch das Kriegsgedicht, das er Willy Stehr (1896-1915) widmete, dem ältesten Sohn des schlesischen Dichters Hermann Stehr (1864-1940), mit dem er gut bekannt war und sich in den ersten Kriegs286. M. Buber, B I, S. 370 f. (an Kohn, 30. 9. 1914). 287. Vgl. F. Niezsche, Die frhliche Wissenschaft, KGW V. 2, S. 14 u. ö. Dieser Aufruf findet sich öfter am Ende von Briefen, denen er dann besonderes Gewicht verleihen soll, vgl. M. Buber, B I, S. 542 (an Rappeport, 27. 10. 1918). 288. Vgl. E. Simon, Geleitwort, S. 16, der in seiner Interpretation aber einen anderen Schwerpunkt setzt. 289. Vgl. in diesem Band, S. 278.

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monaten eng verbunden fühlte. Nachdem der Junge gefallen war, kondulierte er den Eltern immer noch mit patriotisch überhöhten Worten: »Ich bringe es nicht übers Herz, Sie in diesem Augenblick durch einen Besuch in Ihrem Schmerze zu stören, empfinde aber doch das tiefe Bedürfnis, Ihnen zu sagen, dass ich mit ganzer Seele miterlebe, was Ihnen und den Ihren an grossem Leid widerfahren ist. Wir haben ihn, den jungen Helden, der Ihnen genommen worden ist, ja alle herzlich lieb gehabt und ich kann aus eignem Gefühl ermessen, was dieser Verlust den Seinen bedeutete. Aber ich weiss auch, dass über Ihren Häuptern wie über denen der Hunderttausende, die das gleiche Los betroffen hat, ein gewaltiger und wundersamer Trost schwebt: mit ihrem Schicksal ist das Schicksal des Vaterlandes unlöslich verwoben, das neue, grosse Deutschland ersteht aus diesem Blut und diesen Tränen. Wie bei den Griechen die geweihte Schar der bewaffneten Jünglinge genannt wurde, die in den Zeiten höchster Not hinauszog, sich eine neue Heimat zu suchen, so werden uns fortan die Jünglinge heissen, die sich heute der Deutschen Sache dargebracht haben: der heilige Frühling. Ihr Opfertod schafft aus der alten Heimat eine neue, und deren Geschlechter werden es ihnen ewig gedenken. Diese teuren jungen Leben sind die Grundsteine, auf denen der Bau der deutschen Zukunft, und das heisst: der Menschheitszukunft errichtet wird. Möge diese erhabene Gewissheit Ihr Herzeleid lindern! Ihr Ihnen treu ergebener«.290

Stehr dankte, auch im Namen seiner Frau, und schrieb: »Mein lieber Buber, ach, weißt Du, wenn das Herz alles einsähe, was ihm der Geist sagt, daß er es an der Seele erfahren hat, ginge alles ganz leicht. Aber zu Zeiten werden unsere tiefsten Erkenntnisse uns recht schwer und zu der Trauer kommt noch eine andere, daß man lange nicht mehr so zuckend, so leidenschaftlich trauern kann als sonst. Doch ich weiß, das sind nur schwarz-dunkle Wolken, die dem Stillen eher verschwinden. Nimm meinen und meiner Frau herzlichsten Dank für Dein getreues Beimirstehen, Dein Hermann Stehr«. 291 Gegenüber dem Schriftsteller Alfons Paquet (1881-1944) kam Buber auch auf die Stellung der Juden zum Krieg zu sprechen. Jener hatte in seinen Büchern, in denen er mit großer Sympathie über die zionistischen Siedlungen in Palästina berichtete, unter anderem erklärt: »Zu den Folgen des blutigen Streites, den wir plötzlich um unseres deutschen Daseins willen führen müssen, gehört für uns, in denen das Herz Europas schlägt, die Herstellung eines innigen Verhältnisses zum Morgenland. Es ist eine Wiederherstellung; der Traum der Staufer in einem jugendlich verwandelten Geschlecht. Einst soll aus den reifen Kräften des Westens das uralte Asien, das Mutterland, den Glanz

290. Arc. Ms. Var. 350/764.I, 6 (an Stehr, undatierter Entwurf, Unterschrift fehlt). 291. Arc. Ms. Var. 350/764,5 (Stehr an B., 9. 7. 1915).

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seiner Größe, seiner Schönheit, seiner Geistesmacht erneuern. Für uns Europäer ist die gewaltige Landscholle, deren boräische Halbinsel wir bewohnen, die Heimat alles geistigen Lichts, aller Versenkung in das Geheimnis unseres Wohnens hier auf Erden, die Landschaft der Länder. Palästina ist von ihr ein kleiner Teil. Aber diesem schmalen und kurzen Boden zwischen Wüste und Meer sind wir besonders nah durch die Wurzeln des Glaubens und durch sein eigenes Volk, das wie ein Teil des unsrigen in unserer Mitte wohnt.« 292

Paquets Ausführungen hier berührten sich eng mit Überlegungen Bubers. In einer Prager Rede von 1912, die 1915 in Der Neue Merkur erschien – sie sollte Landauers Ärger erregen – und die für die Buchveröffentlichung im Folgejahr umgearbeitet wurde (sie erhielt einen neuen Titel, »Der Geist des Orients und das Judentum«), erklärte er vom »Grundprinzip des Orients«, es habe »in dem kleinsten und spätesten« seiner Völker, »an der räumlichen Scheide zwischen Morgen- und Abendland gesiedelt und an der zeitlichen Scheide zwischen Blüte des Morgenlands und Blüte des Abendlands sich erschließend, […] eine Wendung erfahren, welche das Geschick der Menschheit für die bis zu uns reichende Epoche entschieden hat.« 293 Gemeint ist das Judentum, das »[d]urch die Inbrunst seiner Forderung der Umkehr und durch die Inbrunst seines Glaubens an die Macht und Herrlichkeit der Umkehr, durch seine neue Magie, die Magie der Entscheidung, […] den Okzident für die Lehre des Orients gewonnen« hat. 294 Die Debatte über das Orientalische am Judentum und das Ostjudentum als solches wurde während des Kriegs auch in Bubers Zeitschrift Der Jude geführt. Bis zu seinem Ende aus wirtschaftlichen Gründen 1924 sollten dort ost- und westjüdische Stimmen gleichermaßen zu Wort kommen, um so »alle ›lebendigen Kräfte‹ des Judentums« zu sammeln.295 Daß man innerhalb des Ostjudentums auch für die Mittelmächte werben wollte – oder es zumindest diesen Anschein hatte –, mochte deutschen Vorstellungen entsprochen haben.296 Es war jedenfalls ein Grund, daß die Zeitschrift, nach anfänglichem Zögern, überhaupt lizensiert wurde und erscheinen konnte. 297 Freilich gab es dort auch Beiträge, die sich an Überlegungen zu einer solchen Allianz überhaupt nicht beteiligten, son292. 293. 294. 295.

A. Paquet, In Palästina, S. 2. M. Buber, Vom Geist des Judentums, S. 20 (= RGA, S. 77 f. = JuJ, S. 51 f.). Ebd., S. 29 (= RGA, S. 84 = JuJ, S. 56). M. Buber, B I, S. 429 (Brod an B., 2. 5. 1916), vgl. S. Cresti, Aporien der jüdischen Identität, S. 253. Zu einer Darstellung dieser Zeitschrift insgesamt, vgl. E. Lappin, Der Jude. 296. Vgl. G. Schaeder, Biographischer Abriß, S. 48 f. 297. Vgl. E. Gottgetreu, Martin Bubers »Jude«, S. 18.

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dern sich mehr an der Angst der Deutschen vor einer möglichen Einwanderung armer russischer und galizischer Juden stießen, wie es vor allem Gustav Landauer tat. In »Ostjuden und Deutsches Reich« forderte er »ein Fremdenrecht«, keine »Ausnahmegesetze gegen völlig Rechtlose«. 298 Obwohl der Aufsatz schon im Dezember 1915 vorlag und für das erste Heft des Juden geplant war, konnte er wegen Schwierigkeiten mit der Zensur erst im Oktober 1916 erscheinen.299 Die Leser nahmen die Zeitschrift begeistert auf, wie ein Brief von Franz Rosenzweig an die Eltern zeigt. »Seht Ihr eigentlich manchmal den Buberschen ›Juden‹ an, wenn ich ihn zurückschicke? Es ist doch etwas Großes, daß hier endlich einmal eine jüdische Veröffentlichung da ist, die man ohne ständiges Schamgefühl wegen Affektiertheit, Verlogenheit und fürs-Parkett-Reden ansehen kann.«300 Im ersten Heft des Juden erschien auch von Paquet ein Artikel, in dem das Verhältnis der Deutschen zu den Juden und das der deutschen Juden zu den Ostjuden erwogen wurde. Bevor er zu einer aus heutiger Sicht höchst verwunderlichen Prognose kam, erklärte er, die entscheidende Frage der Zukunft sei »gläubig oder nicht gläubig; und davon wird letzten Endes alles abhängen, auch die Wahl der Bundesgenossen aus den großen Heerlagern der Welt. Aber in einem solchen Zwiespalt wird auch ein Volk seine Wurzeln tiefer treiben müssen; ein Volk von durchaus orientalischer Affinität wird sie nur in einer orientalischen Zukunft finden können, zumal ja auch die Zukunft Europas nicht amerikanistisch, sondern orientalistisch sein wird.« 301

13. Ernüchterung Im Mai 1916 geriet Bubers Kriegsenthusiasmus in eine tiefe Krise, die ihn auf zunehmende Distanz zur offiziellen Politik gehen ließ. Einen entscheidenden Einfluß übte dabei ein Brief aus, den ihm Landauer nach einem Besuch in Heppenheim schrieb, wohin der Freund mit seiner Familie im Frühjahr 1916 gezogen war. In ihm reagierte er auf diverse Veröffentlichungen Bubers mit großer Empörung. Landauer warf ihm »Ästhetizismus und Formalismus« vor und sprach ihm jedes Recht ab, »über die politischen Ereignisse der Gegenwart, die man den Weltkrieg 298. G. Landauer, Ostjuden und Deutsches Reich, S. 186. 299. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/62d, 27 (an Landauer, 17. 12. 1915) und M. Buber, B I, S. 413415 (an Landauer, 24. 12. 1915) und S. 415 f. (Landauer an B., Weihnachten 1915) = G. Landauer, LGB II, S. 115 f. 300. F. Rosenzweig, Gesammelte Schriften I.1, S. 217 (an die Eltern, 4. 9. 1916). 301. A. Paquet, Gedanken zum jetzigen Problem, S. 24 f.

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nennt, öffentlich mitzureden und diese Wirrnisse in Ihre schönen und weisen Allgemeinheiten einzuordnen: es kommt dabei völlig Unzulängliches und Empörendes heraus.« 302 Seine Kritik entzündete sich an einer Aussage in Bubers »Der Geist des Orients und das Judentum«, in der »Sie neben den Griechen der Perikleischen Zeit oder den Italiener des Trecento ›den Deutschen unserer Tage‹ stellen, unter Ausschluß der Deutschen früherer Zeiten und unter Ausschluß aller anderen Nationen.« 303 So zählte Buber den aktuellen Krieg zu den Gipfelpunkten abendländischer Geschichte, wobei er es nicht so genau nahm, zwischen einer Epoche des Aufbruchs, wie dem Trecento, und einer der Reife, wie dem klassischen Zeitalter Athens, zu unterscheiden. 304 Daran lag auch Landauer nichts, ging es ihm doch um keine historische Debatte, sondern um den Vorwurf der Kriegspropaganda. »Mitten in diesem Kriege und im Zusammenhang mit der Kriegspolitik Deutschland abzusondern von allen anderen europäischen Staaten, diesen ihre Schuld an den Völkern des Orients vorzuhalten, Deutschland als einzig berufene Erlösernation hinzustellen, ohne Einschränkung, ohne Hinweis darauf, wie Deutschland in den letzten Jahrzehnten mit Eroberungskolonisation nachzuholen bemüht war, was es aus äußeren Gründen versäumt hatte – –›Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter u. s. w., u. s. w. –‹, das ist Kriegspolitik, ist Offiziosentum.« 305 Buber habe sich also von einer, man ist versucht zu sagen: messianischen Größe, blenden lassen, in der »Deutschland als einzig berufene Erlösernation« erschien. Wenn er damit im deutschen Judentum auch nicht allein stand, so nimmt das Landauers scharfer Kritik nichts von ihrer Berechtigung. 306 Buber hatte in einer Rede an Chanukka 1914 vor der Berliner Zionistischen Vereinigung, die in der Losung zum ersten Heft des Juden auszugsweise wiederabgedruckt worden war, folgendes erklärt: »Jetzt aber hat der Jude in dem katastrophalen Vorgang, den er in den Völkern miterlebte, bestürzend und erleuchtend das große Leben der Gemeinschaft entdeckt. 302. M. Buber, B I, S. 434 (Landauer an B., 12. 5. 1916). 303. A. a. O. Zum Zitat, das Landauer kritisierte, vgl. M. Buber, Vom Geist des Judentums, S. 11. In späteren Ausgaben änderte Buber »den Deutschen unserer Tage« in »den Deutschen des Jahrhunderts Goethe«, vgl. ders., RGA, S. 71 (= JuJ, S. 47). 304. In einem Aufsatz von 1900 hat er noch das Quattrocento als »Krone der Geschichtszeiten« gefeiert, vgl. M. Buber, Jüdische Renaissance, S. 11. 305. M. Buber, B I, S. 434 (Landauer an B., 12. 5. 1916). 306. So wollte etwa H. Cohen »in der Einheit, die der deutsche Geist in seiner Wissenschaft und seinem Staate darstellt, den Weg der Vorsehung zur Erreichung des messianischen Zieles« erkennen, vgl. ders., Antwort auf das offene Schreiben, S. 340. Zur jüdischen Begeisterung am Krieg, vgl. R. Horwitz, Voices of Opposition, S. 233-35, zu dessen Deutung durch jüdische Denker, vgl. K. Flasch, Die geistige Mobilmachung, S. 305-352 und E. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden, S. 86–101.

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Und es hat ihn erfaßt. Er blieb nicht Atom; er wurde mitgerissen; er schloß sich glühend der Gemeinschaft an, die ihm so ihr Leben offenbarte, – der Gemeinschaft, die ihn in diesem Augenblick am stärksten brauchte. Wird ihn das der Gemeinschaft, die ihn in der Ewigkeit braucht, der tiefen Gemeinschaft seines Blutes und seiner Art weiter entfremden? Ich glaube, daß es ihn ihr wiederbringen wird. Gemeinschaftsgefühl ist in ihm erglommen, er fühlte in sich etwas entbrennen, wovor aller Nutzzweck zusammenfiel, er erlebte den Zusammenhang.« 307 Landauer brachte Bubers Ausführungen auf die Formel »Nur überhaupt Gemeinschaft« – »[u]nd eben das nenne ich ästhetisch und formalistisch«. 308 Denn »irgendwie hätte zum mindesten erkannt werden müssen, daß unter den Hunderttausenden von Juden, sagen wir 23 bis 37 wären, die nicht aus Gefühl der übermäßigen Pflicht, nicht in leidenschaftlichem Verlangen in diesen Krieg gezogen wurden. Und wenn Sie das aus äußeren Gründen nicht konnten, dann hätten Sie, meine ich, nicht reden dürfen.«309 Daß freie Meinungsäußerung in Kriegszeiten schwierig war, hatte Landauer selbst erfahren, hielt doch im Mai 1915 die Zensur »Ostjuden und Deutsches Reich«, seinen für den Juden verfaßten Aufsatz, immer noch zurück. Auf diesen scharfen Brief antwortete Buber nicht. Erst mehr als einen Monat später schrieb er, sichtlich verletzt, aber wohl auch ermutigt durch eine Ansichtskarte, die ihm Landauer von einer Wanderung mit »herzlichen Grüßen« schickte: »Es ist mir in den letzten Wochen körperlich nicht sehr gut gegangen, so dass ich meine Pflichtarbeit nur eben zu leisten vermochte und die zu einer Fortsetzung unseres Gesprächs erforderliche Konzentration nicht aufbrachte […] Aber ich hoffe bald für ein paar Tage nach Berlin kommen zu können, und dann können wir das Gespräch mündlich fortsetzen.«310 Dazu kam es möglicherweise Anfang Juli, als Buber wegen der Teilnahme an einer Tagung in die Hauptstadt reiste. Mit Ausnahme zweier Postkarten, die Buber nach Hermsdorf schrieb, um die näheren Umstände des Besuchs zu vereinbaren, existieren davon keine Dokumente. 311 Dennoch scheint es zu einer Versöhnung gekommen zu sein, denn Landauer ging im nächsten erhaltenen Brief von August auf den Konflikt nicht mehr ein, sondern äußerte sich ganz euphorisch über 307. M. Buber, Die Tempelweihe, S. 241, vgl. ders., Die Losung, S. 2 (ohne Hervorhebung). 308. M. Buber, B I, S. 436 (Landauer an B., 12. 5. 1916). 309. Ebd., S. 436 f. 310. Arc. Ms. Var. 350/61.5, 8 (Landauer an B., 11. 6. 1916) und 62e, 7 (an Landauer, 25. 6. 1916). 311. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/62e, 7a und 7b (an Landauer, 2. 7. und 7. 7. 1916).

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den Juden und versprach seine Mitarbeit. 312 Dagegen hatte er im Brief von Mai noch erklärt: »Ein Blatt, das veröffentlicht, veröffentlichen darf, was Habsburg, Hohenzollern und die damit verbundenen Interessegruppen gerne hören, das Entgegengesetzte aber nicht, kann nicht mein Blatt sein.«313 Bubers Gesinnungswandel erfuhr freilich im Spätherbst 1916 eine unerwartete Unterstützung, als der preußische Kriegsminister die berüchtigte »Judenzählung« anordnete. 314 In ihr sollte festgestellt werden, wieviele Juden in den einzelnen Teilen der Armee ihren Dienst versahen. Das Unternehmen konnte leicht für antisemitische Propaganda benutzt werden und war wohl auch aus solchen Motiven überhaupt begonnen worden. Es ließ Hoffnungen wie die Bubers, die Juden hätten nun endlich teil am »großen Leben der Gemeinschaft«, als Illusion erscheinen. Schließlich koinzidierten diese Geschehnisse auch mit der allgemeinen »Ideenwende von 1916/17«, die eine »Demobilisierung der Geister« unter »eher national gesinnt[en] konservativen Liberalen« auslöste und die Kriegsbegeisterung abklingen ließ. 315 Eine Folge der Abkehr Bubers von jeder Kriegspropaganda stellt der kurze, in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte Aufruf »Was ist zu tun?» dar. Sein Autor hielt ihn selbst für eine Arbeit von Gewicht, nahm er sie doch in spätere Sammlungen seiner Werke auf. Zugleich kam mit ihr das kulturkritische und philosophische Frühwerk an sein Ende, weil hier die erste konsequente Abkehr von Erlebnismystik und Kriegsbegeisterung in der Öffentlichkeit erfolgte. In einer Art Rechenschaft erklärte Buber von Arbeiten aus dieser Zeit, sie müßten »als eine Klärung und nicht als eine Bekehrung« verstanden werden. 316 Deutlicher äußerte er sich in dem Vorwort zum zweiten Band der Jüdischen Bewegung »Unter meinen Aufzeichnungen finde ich, vom 14. September 1914 datiert, den Satz: ›Das Furchtbare, das geschieht, hat für mich einen dreifachen Zuspruch: Die Befreiung des mitteleuropäischen Menschen zur Öffentlichkeit, die Erweckung des russischen Menschen zum bauenden Leben, die Rettung Vorderasiens für eine semitische Regeneration.‹ Ich habe erst später erkannt, daß jeder dieser Vorgänge dem Wesen unserer Zeit ge312. Vgl. M. Buber, B I, S. 451 (Landauer an B., 22. 8. 1916). 313. M. Buber, B I, S. 437 (Landauer an B., 12. 5. 1916). 314. Zu ihr und den Folgen, vgl. W. Angress, The German Army’s »Judenzählung«, E. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, S. 527–555. 315. K. Flasch, Die geistige Mobilmachung, S. 279-289: 285, 284. 316. M. Buber, RGA, S. ix (= JuJ, S. 3). Vgl. ders., Zwiesprache, S. 157–159 (=W I, S. 186 f.), wo diese Bekehrung am »Religiösen« gezeigt wird. Zugleich verändert sich auch Bubers Vokabular, aus dem das »Erlebnis« ganz verschwindet.

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mäß und der atmosphärischen Situation, in der er sich vollzieht, zufolge eine neue schwere Problematik hervorbringen muß.« 317 Sie zu lösen, widmete er sich in seinen Werken der Folgezeit, an deren Anfang dieser Artikel steht. Veranlaßt war er auch durch die sich zuspitzende Situation im revolutionären München und durch Landauers Beteiligung an diesen Vorgängen. Dieser befand sich seit dem Tod seiner Frau, Hedwig Lachmann, im Februar 1918 im bayerischen Schwaben. Von dort aus nahm er an den Entwicklungen in der Landeshauptstadt regen Anteil und wirkte in den Beratungen der Revolutionäre mit. Im Februar 1919 verbrachte auch Buber eine Woche in München, wo er ein Treffen jüdischer Sozialisten vorbereiten wollte. 318 Bei der Rückkehr einen Tag nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner berichtete er von seinem »steten Verkehr mit den revolutionären Führern« in einem Brief. »Die innersten menschlichen Probleme der Revolution waren rückhaltlos erörtert worden, ich hatte in das Geschehen hineingefragt und geantwortet, und es ereigneten sich Nachtstunden von einer apokalyptischen Schwere, darin mitten in einer Diskussion das Schweigen beredt und die Zukunft deutlicher wurde als die Gegenwart. Dabei war es den Allermeisten nur ein neues Getriebe, und es war mir vor ihnen zuweilen wie der Kassandra zumute. Eisner hatte ich in die Dämonie seiner zwiegespaltenen Judenseele hineingesehen, das Verhängnis strahlte aus seiner Glätte hervor, er war gezeichnet. Landauer wahrte sich mit äußerster Anstrengung der Seele den Glauben an ihn und deckte ihn, ein Schildträger von erschütternder Selbstverleugnung. Das ganze eine namenlose jüdische Tragödie.« 319

Trotz Eisners Tod wurde Landauer in der ersten und ganz kurzlebigen Räterepublik (7.-13. April 1919) sogar Mitglied der Regierung. Seinem Freund Mauthner gegenüber erklärte er in einem Brief: »Die Bayerische Räterepublik hat mir das Vergnügen gemacht, meinen heutigen Geburtstag zum Nationalfeiertag zu machen. Ich bin nun Beauftragter für Volksaufklärung; Unterricht, Wissenschaft, Künste und noch einiges. Läßt man mir ein paar Wochen Zeit, so hoffe ich etwas zu leisten; aber leicht möglich, daß es nur ein paar Tage sind, und dann war es ein Traum.« 320 Landauer »stand in jenen Tagen im Zenit seines politischen Einflusses.«321 317. M. Buber, Vorwort, S. 5. 318. Vgl. M. Buber, B II, S. 27 (an M. Spitzer, 19. 1. 1919): »Eine (nichtöffentliche) Konferenz soll voraussichtlich in der zweiten Februarwoche in München stattfinden«. Als Termin für das eigentliche Treffen schlug man Ostern vor, vgl. B II, S. 30 (L. Strauß an B., 27. 2.) = BBS, S. 67, und S. 31 (N. Goldmann an B., 14. 3. 1919). Letztlich konnte es aber wegen der Niederschlagung der Revolution nicht stattfinden. 319. M. Buber, B II, S. 29 (an L. Strauß, 22. 2. 1919) = BBS, S. 66. 320. G. Landauer/F. Mauthner, Briefwechsel, S. 364 (an Mauthner, 7. 4. 1919). 321. N. Seitz, Gustav Landauer und die Münchener Räterepublik, S. 270.

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Nachdem die kommunistischen Führer der am 14. 4. ausgerufenen zweiten Räterepublik sein aus Pflichtgefühl gemachtes Angebot zur weiteren Mitarbeit zurückgewiesen hatten, lebte er jedoch zurückgezogen bei der Witwe Eisners. Buber war über die Entwicklung in München höchst alarmiert und plante ein Komitee zur eventuellen Rettung des Freundes, das aus Prominenten bestehen sollte, die mit diesem persönlich enger verbunden waren. In einem Brief an Auguste Hauschner, eine Cousine Mauthners, benannte er dafür, außer sie und sich selbst, noch Richard Dehmel, Albert Einstein, Louise Dumont, Fritz Mauthner, Alfred Mombert und Margarete Susman als mögliche Mitglieder. 322 Mauthner selbst erklärte sich in einem Schreiben an Buber auch zur Teilnahme bereit. Vorerst konnte er ihn sogar beruhigen, hätte er doch erfahren, Landauer wäre vorläufig nicht in Gefahr. Er fügte hinzu: »Ich nehme an, daß wir in der Sache ganz einig sind: Rettung womöglich der wertvollen und so lieben Person von G. L., ohne seine Politik gut zu heißen. […] Sehr traurig, daß just der Idealismus seines Kreises – von einigen mir verdächtigen Russen gar nicht zu reden – eine neue Welle des Antisemitismus über Deutschland stürmen lassen wird.« 323 Eine Woche später wurde Landauer wirklich denunziert, von gegenrevolutionären Milizen gefangengenommen und am 2. Mai 1919 erschlagen.

14. Florens Christian Rang Die beiden letzten hier aufgenommenen Arbeiten sind aus Verpflichtungen gegenüber Freunden erwachsen und auf Anfrage entstanden. Zumindest die Zuschrift an Florens Christian Rang hat freilich mehr als nur den Charakter einer Gelegenheitsarbeit und verdient Aufmerksamkeit. Zwischen ihm und Buber war im Sommer 1921 eine enge Freundschaft entstanden, die dieser unter anderem dadurch würdigte, daß er Königtum Gottes (1932), die Erörterung der Theokratie, die als erster Band einer Studie zum Messianismus der Untersuchung der biblischen Zeugnisse galt, mit folgender Widmung versah: »den Freunden die mir geholfen haben die Schrift zu lesen Florens Christian Rang und Franz Rosenzweig«. 324 Den einen von ihnen beschrieb Scholem so: »Rang war ein un322. Vgl. Briefe an Auguste Hauschner, S. 185 (15. 4. 1919). 323. M. Buber, B II, S. 36 (Mauthner an B., Ostersonntag 1919). Zu Bubers Antwort, vgl. ebd., S. 37 (an Mauthner, 22. 4. 1919). 324. M. Buber, Königtum Gottes, S. v (= W II, S. 487). Das Vorhaben insgesamt stand unter dem Titel »Das Kommende. Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des

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bändiger und stürmischer, eruptiver Mensch. Ungeduldig und das Äußerste auch in der Lebensführung fordernd, war er letzten Endes ein gnostischer Christ.« 325 Die beiden Freunde sammelten um sich den sogenannten Frankfurter Kreis, dessen erste Spuren sich in einem Brief Rangs vom 13. August 1921 finden.326 Er stellte »eine Verbindung von Menschen« dar, »die von ihren religiösen Überzeugungen her politische und soziale Wirksamkeit anstrebten. Sie stand dem religiösen Sozialismus nahe, hielt aber Distanz zu dessen marxistisch inspiriertem Flügel. Zum Kern der Gruppe gehörten neben Rang und Buber der Gießener Anglist Theodor Spira [1885– 1961], der Frankfurter Publizist Alfons Paquet (beide Quäker), der Katholik Ernst Michel [1899–1964], der am Aufbau der Frankfurter ›Akademie der Arbeit‹ beteiligt war, und der Philosoph Hermann Herrigel [1888–1973]. Der Marburger Neukantianer Paul Natorp [1854–1924] nahm gelegentlich teil«. 327 Zu ihnen gesellte sich noch Walter Benjamin. Nach vorbereitender Korrespondenz und Gesprächen traf man sich erstmals am 12. März 1923 in Gießen.328 Dort wurde Rang beauftragt, ein Konzept zur philosophischen Durchdringung der Probleme der Nachkriegspolitik auszuarbeiten, wobei er sich auch der Frage möglicher Reparationsleistungen Deutschlands zugunsten der Kriegsgegner widmen wollte. Dabei sollte er mit den anderen Teilnehmern in engem Kontakt stehen. Über die Form, in der dies zu geschehen habe, herrschte jedoch Uneinigkeit. So schrieb Benjamin: »[Ü]berall in Berlin hört mans wispern von Deinem und Bubers Kommen […] Vor ein paar Tagen bekam ich das Protokoll. Daß dieses vervielfältigt und versandt wird, wußte ich garnicht und offen zu reden – warum es geschieht, ist mir nicht einleuchtend. Ist doch das einzig Wesentliche solcher Zusammenkunft wie der in Gießen, das lebende Wort von Mund zu Mund auf so primitive Weise nicht festzuhalten. Und streift man mit dieser Promulgationsform nicht an so Vieles, was man zu vermeiden gedachte, indem die Verbreitung dieser Protokolle ja bald auf

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messianischen Glaubens«. Von ihm sind nur noch Teile des zweiten Bands erschienen, vgl. Der Gesalbte, W II, S. 725–845, 1233 (bibliographischer Nachweis). G. Scholem, Walter Benjamin, S. 147 f. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/606,11 (Rang an B., 13. 8. 1921). L. Jäger, Messianische Kritik, S. 147. Zum Treffen in Gießen, vgl. Arc. Ms. Var. 350/606,28 (Rang an B., 9. 2. 1923), 606,25 (Rang an B., 18. 3. 1923), 606.1,30 (Rang an B., 21. 3. 1923), W. Benjamin, Gesammelte Briefe 2, S. 316 f. (an Rang, 24. 2. 1923), 320-325 (an Rang, 1. 3., 6. 3., 13. 3. und 23. 3. 1923), M. Buber, B II, S. 161 (an Rosenzweig, 14. 3. 1923: dort ist freilich davon nur en passant die Rede). Zur Entstehung des Kreises, vgl. L. Jäger, Messianische Kritik, S. 148-150 (Rangs Briefe an Buber hier nicht erwähnt).

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unkontrollierbaren Wegen vor sich gehen wird. So waren mindest meine Äußerungen in Gießen nicht gemeint – ich scheue in dergleichen Dingen diese Art der Öffentlichkeit, aus Überzeugung. Soll auch von dieser Gießner Zusammenkunft das Protokoll vervielfältigt werden, so bitte ich Dich sehr, was mich angeht es bei der Konstatierung meiner Anwesenheit bewenden zu lassen – ohnedies habe ich nicht viel Belangreiches geäußert soviel ich mich erinnere.« 329

Aktiver in der Mitarbeit war hingegen Buber. Hätten ihn auch Benjamins Äußerungen über die Unmöglichkeit, das »lebende Wort« in seinem Lauf »von Mund zu Mund« zu fixieren, beeindruckt, so erwies er sich doch als in intellektuellen Gruppen und ihren Praktiken ungleich geübter. Benjamin ging zu dem Vorhaben auf größere Distanz, ungeachtet seiner Hochschätzung von Rang. Ende Mai kam es zu weiteren Treffen von Mitgliedern des Kreises in Gießen und Frankfurt. Als deren Konsequenz bat Rang Buber, bei der Verlagssuche zu helfen, aber er schrieb auch Grundsätzliches von seiner im Entstehen begriffenen Schrift. Sie »ist in sehr ruhigem Tone gehalten u[nd] für das große Publikum (im guten Sinn des Worts) geschrieben, aber nicht als ob nicht diesem das Beste gebührte; sie geht nach allen meinen Kräften in die Tiefe der Dinge und untersucht sowohl den Grundfehler unserer bisherigen Stellung zur Reparation wie die Folgen einer Abwendung von ihm in einer Weise, der das Prädikat ›philosophisch‹ zu teil werden mag. Denn ohne diese Tiefe der Erörterung bleibt die Sache gefühlig.« 330 Ohnehin hatte sich der Charakter der übernommenen Aufgabe Rang gleichsam unter den Händen verwandelt. Sie sollte zu einem Buch anwachsen, zur Deutschen Bauhütte. In seinem Brief fuhr er fort: »[A]us dieser Art der Anlage meiner Schrift ergibt sich für uns Beteiligte ein Neues: die Schrift kann nicht den Anspruch erheben, in dieser ihrer Gedanken ›Arbeit‹, in diesen philosophischen Entwicklungen, unsere, sondern nur meine Auffassung zu geben. Andererseits kann als Zustimmung zu ihrem Gehalte nicht gelten eine Zustimmung blos zu den praktischen Schritten, die sie schließlich vorschlägt. So liegt die eigentliche Zustimmung – als eine dritte Art – sozusagen hinter der Szene und bezieht sich nicht weder auf das Praktische noch auf das Theoretische in jenem philosophischen Sinn, sondern auf die QEWRIA im metaphysischen, im mystischen Sinn. Nur insoweit hier Gemeinschaft vorhanden ist, ist unser Bund echt. Diese Schrift also ist davon ein Eck- u. Prüfstein, und mit ganzer Gewalt erhebt sich die Frage: sind wir wirklich tief eins, oder sind die verschiedenen Glieder dennoch in der Tiefe unverbunden – in der letzten Tiefe dieser aus ihr quellenden Not, ein Wort zu sagen? Nur die Schrift selbst und die Aufnahme, die sie im Kreis findet, 329. W. Benjamin, Gesammelte Briefe 2, S. 328 f. (an Rang, 2. 4. 1923). Offensichtlich war man in Gießen noch einmal zusammengekommen. 330. Arc. Ms. Var. 350/606.1,38 (Rang an B., 13. 6. 1923).

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kann hier Antwort ergeben. [A]ber in der Tat fordern wir hier nicht weniger von uns als Selbstgericht, Einlegung der Sonde in unser innerstes Wollen. Weniger dürfen wir als ›Zuschriften‹ nicht fordern zu einer Schrift, die auch nicht weniger sein darf. Ist diese letzte Verbundenheit aber da, dann kann im Vorletzten und gar Vorvorletzten, im philos[ophisch] theoretischen und im praktischen freieste Verschiedenheit walten. [… U]nser ›Buch‹ ist kein Buch, außer in fortwährend neuer Bewährung.« 331

An Hofmannsthal schrieb Rang: »So wollen Sie sich nicht wundern, wenn Sie in – ich hoffe: nicht langer – Zeit (es brennt mir auf der Seele) eine politische Broschüre von mir empfangen, in der ich versuche, zugleich philosophisch und praktisch, Weg zu bahnen zu einer deutschen politischen Ehrlichkeit solcher Art, daß sie eben beides ist: politisch und ehrlich, geschäftlich-nüchtern und gewissenhaft-wahr. Und die den einzelnen Deutschen in Anspruch nimmt, nicht Forderungen an die Allgemeinheit stellt, und doch ihn nicht außer ihr stellt, sondern so, daß er als Einzelner zum Staatsleben handelt. Der Titel wahrscheinlich: ›Mögliche Gerechtigkeit Deutschlands gegen Belgien und Frankreich‹. Wahrscheinlich werden Zuschriften einiger Gesinnungsgenossen beigedruckt (ich stehe da in einem bestimmten Kreis). Der Sache nach kommen dafür nur Reichsdeutsche in Betracht.« 332 Auch Buber erhielt im Sommer Nachricht über Rangs Schrift, »daß ich sie vor drei Wochen den Frankfurtern zur Hälfte vorgelesen und zur anderen Hälfte referiert habe. Inzwischen ist sie weiter gereift und wird dieser Tage will’s Gott definitiv druckfertig, bis auf die ›Zuschriften‹ !« 333 Mit ihnen waren Äußerungen der anderen Mitglieder des Kreises gemeint, die in die Schrift Aufnahme finden sollten. Im Herbst und Winter erhielten alle das Manuskript zur Lektüre zugesandt, und am 4. 12. dankte Rang Buber für seine Zuschrift. 334 Das Buch selbst erschien Anfang 1924. In ihm wurde, auf eine sehr protestantische Weise, das Gewissen befragt, dem man auch in der Politik zu gehorchen habe. Es gebot, »wir Deutschen sind ersatzpflichtig für das, was wir selbst in Belgien und Frankreich zerstört haben.«335 Dabei dachte Rang weniger an finanzielle Entschädigung, sondern an ganz unmittelbare Hilfe beim 331. Arc. Ms. Var. 350/606.1,38. 332. H. v. Hofmannsthal/F. C. Rang, Briefwechsel, S. 430 (Rang an Hofmannsthal, 25. 6. 1923). 333. Arc. Ms. Var. 350/606.1,41 (Rang an B., 22. 8. 1923). 334. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/606.1, 42 (Rang an B., 20./23. 9. 1923) und 606.1, 44 (Rang an B., 4. 12. 1923). Insgesamt erschienen, außer der Zuschrift von Buber, noch die von A. Paquet, E. Michel, K. Hildebrandt, W. Benjamin, T. Spira und O. Erdmann, vgl. F. C. Rang, Deutsche Bauhütte, S. 180-188. 335. Ebd., S. 15.

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Wiederaufbau, die am besten durch Arbeit oder zumindest durch Bereitstellen von Material zu geschehen habe. In seinen Überlegungen zeichnete er eine Philosophie des Opfers, kraft dessen das Reich Gottes erlangt werden könne: »wer das Weh sich tut, das sein Gewissen befiehlt, wird der Wohltäter«. 336

15. Fazit Bubers Mitarbeit an diesem Vorhaben zeigt, daß er seine Aktivitäten in einer religiösen Sphäre zu unternehmen gewillt war, wie es in den Zwanziger Jahren dann auch geschah. 1925 erschien der erste Band seiner und Franz Rosenzweigs Verdeutschung der Schrift, ein Jahr später der erste Jahrgang der Zeitschrift Die Kreatur, die er gemeinsam mit dem katholischen, zu dieser Zeit aber exkommunizierten Kirchengeschichtler Joseph Wittig (1879-1949) und mit dem Mediziner Viktor von Weizsäcker (1886-1957), einem Protestanten, als »Grüße aus den Exilen« drei Jahre lang herausgab. 337 Zur Entscheidung, aus Weltkrieg und Revolution auch Konsequenzen für das eigene Denken gezogen zu haben, mag passen, daß der Leitakkord jenes Texts, der am Übergang vom Frühwerk zu dem der Reife steht, »Was ist zu tun?«, von einem Bibelzitat gebildet wird: »Du sollst dich nicht enthalten«. Allerdings erscheint Dtn 22, 3 – darauf hat Ernst Simon aufmerksam gemacht – »in der Bibel nicht als eine allgemeine Lebensregel, sondern als eine Motivation speziellen Verhaltens«.338 Dem biblischen Gebrauch entsprechen Aussagen im Daniel, in denen, aller jugendbewegten Buntheit und jugenstilhaften Extravaganz zum Trotz, doch eine konkrete Lebenssituation als Ort der Realisierung gefordert wurde, wenngleich dieser immer im Reich des Erlebnisses liegen mußte. Jürgen Habermas hat darin einen »gleichsam antizipierten Existentialismus« erblickt, »der sich an die letzte Phase der jüdischen Mystik anschließt«. 339 Deren revolutionärer Gehalt, aber auch die rauschhaften Formen, die diese wie jede Mystik annehmen konnte, schien nach Jahrzehnten religiöser und künstlerischer Gegenentwürfe, aber auch nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, philosophisch befriedet zu sein. Ob sich Buber aber tatsächlich von der erlebnishaften Seite der Mystik in der ersten Hälfte der Zwanziger Jahre trennte und nur ihren Gehalten im Sinne einer erweiterten Theorie der Erkenntnis treu blieb, kann nun 336. 337. 338. 339.

Ebd., S. 168 f.: 169. Die Kreatur 1, S. 1 (redaktionelles Vorwort der Herausgeber). E. Simon, Sechzig Jahre gegen den Strom, S. 134 (an B., 30. 8. 1948). J. Habermas, Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen, S. 41.

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durch eine Sicht auf das Frühwerk besser entschieden werden. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg stellte die Beschäftigung mit der Mystik für ihn und seinesgleichen einen Prozeß der Individualisierung dar, der in der sich formierenden autoritären Massengesellschaft einem Ringen um den Ausdruck des Lebendigen gleichkam und sich selbst in der entfremdetsten Form des Schreibens, in journalistischen Gelegenheitsarbeiten, niederschlug. Buber wollte so ein Reservoir von Kräften schaffen, die für das Projekt einer geistigen Gemeinschaft benötigt wurden. Das Judentum stellte dabei eine Möglichkeit ihrer Verwirklichung dar, eine andere konnte ein internationaler Orden wie der Forte-Kreis, wiederum ein anderer die Gruppe religiöser Sozialisten um ihn und Rang sein. Georg Simmel, Bubers bedeutender akademischer Lehrer, hatte in einem Vortrag im Krieg zu dergleichen Unternehmen den Vorbehalt geäußert, daß in der »überkonfessionelle[n] Mystik« der Lebensreformer »die religiöse Seele ihr Leben ganz unmittelbar ausleben« will, »sei es, daß sie ohne Vermittlung eines irgendwie geformten Dogmas, sozusagen nackt und allein, vor ihrem Gotte steht, sei es, daß sogar die Gottesvorstellung noch als Starrheit und Hemmung empfunden wird und die Seele nur ihr eigenstes, metaphysisches, in keinerlei Glaubensform mehr gegossenes Leben als eigentlich religiös empfindet.«340 Dieser Verwandlung der Religion in »eine Art […], wie das Leben selbst sich vollzieht«, wohnt allerdings eine doppelte Bewegung inne. 341 Wenn das Leben selbst geheiligt wird, indem es eine rituelle Stilisierung erfährt und ein Bekenntnis verkörpern soll, tritt es nicht nur das Erbe der Religion an, das im Profanen aufgehen und verschwendet werden könnte. Vielmehr findet in ihm auch die Ambivalenz des Heiligen einen Ort. Höchste Güter des Heils, aber auch dämonische Mächte der Zerstörung werden dann nicht mehr in einer jenseitigen, göttlichen Instanz angesiedelt oder von religiösen Virtuosen repräsentativ für eine Gemeinde vorgeführt, sondern dem Einzelnen aufgelastet, der sie täglich an sich und den Seinen exekutieren muß. Daraus läßt sich die Gewaltsamkeit von Begriffen schon aus Bubers Vorkriegsjahren, nicht erst der Kriegszeit erklären, die in einer überladenen Sprache nur mühsam gebändigt wird. Zur Zeit der beginnenden Proteste gegen die westdeutsche formierte Gesellschaft der Sechziger Jahre, im 1964 erschienenen Jargon der Eigentlichkeit, wollte Theodor W. Adorno (1903-1969) Bubers Denkbewegung an einem genauen religionsphilosophischen Punkt situiert wissen. »Seitdem Martin Buber den Kierkegaardschen Begriff des Existentiellen von 340. G. Simmel, Die Krisis der Kultur, S. 44. 341. G. Simmel, Der Konflikt der modernen Kultur, S. 202.

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dessen Christologie abspaltete und zu einer Haltung schlechthin fixierte, herrscht die Neigung, den metaphysischen Gehalt vorzustellen als an die sogenannte Beziehung von Ich und Du gebunden. Er wird an die Unmittelbarkeit des Lebens überwiesen«.342 Um allerdings Jesus ins Judentum zurückzuholen, mußte Buber in einem Scheideprozeß die Figur des Christus zum Verschwinden bringen, zugleich aber die Existenz selbst religiös aufladen, wenn er nicht eine andere Form der Vermittlung suchen wollte. Aber gerade darauf hatte er im Daniel verzichtet und dagegen das ganze Pathos der Einheit gesetzt, die verwirklicht wird. So hatte er, im Unterschied zu Adorno, Religion nicht nur als Erkenntnismittel, sondern auch als praktische Lebenshilfe weiter anerkannt. Man kann am Denken des jungen Buber beobachten, wie sich Akzente verschieben, wie das, was in der jüdischen Tradition das gemeinsame Gebet in der Synagoge zu leisten verstand, zuerst in die Ekstase der Mystik gekleidet, dann in die Verwirklichung des Erlebnisses verwandelt, nach dem Krieg schließlich im Pathos des Gesprächs erkannt und als elementare Begegnung gedeutet wurde. Buber erwies sich nach 1919 als traditioneller religiös, als er es vordem war. Auf »seiner unermüdlichen Suche nach Zuständen unmittelbarer charismatischer Erfahrung in der Geschichte« – wie ein entfernter Schüler, Jacob Taubes (1923-1987), der letzte expressionistische Denker des deutschen Judentums, in einem Beitrag zu einem Band über Buber schrieb – schien er zuletzt in der Bibel heimisch geworden zu sein. 343 Indem er sie aber verdeutschte und dies auf eine eigentümliche Weise tat, die das Deutsche sich selbst entfremdete und hebraisierte, schuf er sich einen neuen geistigen Ort, in dem Religion und Leben, die Antipoden der Jugend, zusammenkamen. Darin wurde er zwar nicht zum ba‘al teschuva, zu dem Mann, der umkehrt zur Tradition der Väter, immerhin aber zu einer anderen wichtigen Figur der jüdischen Geistesgeschichte. Franz Rosenzweig titulierte ihn in einem Brief »den ehrfürchtigen Apikores«, den Epikuräer und Häretiker par excellence. Doch »jeder Mensch braucht zwei Lehrer«: einen, der in der Tradition selbst lebt, und einen anderen, der sie verwandelt und sogar zu überschreiten vermag. 344

342. T. W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 17. 343. J. Taubes, Martin Buber und die Geschichtsphilosophie, S. 412. 344. M. Buber, B II, S. 115 (Rosenzweig an B., 19. 8. 1922) = F. Rosenzweig, Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 811.

Rede gehalten von Martin Buber an seiner »Barmizwah«-Feier am 8. Februar 18911

Hochgeehrte Versammlung! In den Segenssprüchen über die Tefillin befindet sich der Satz (:pufe [Hos] 2,21 [f.]:) “d va vpdjf enfmab jl Yjvutaf :wjmhtbf dohbf iqumbf sdrb jl Yjvutaf »Ich habe dich mir angelobt in Tugend und Gerechtigkeit, in Milde und Barmherzigkeit; ich habe dich mir angelobt in Treue und Wahrhaftigkeit, auf daß du Gott erkennst.«2 – ** * In diesem Satze liegt eine große Macht, aber auch eine hohe Schönheit. Tugend und Recht, Liebe u[nd] Erbarmen, Glaube u[nd] Gotteserkenntnis, bilden zusammen ein großes, hehres Licht. Sie leiten den Jüngling, sie lehren ihn das Gute zu thun, das Böse zu hassen, wenn er sie befolgt, so sind sie seine höchsten Zierden. Der Jüngling, der sie im Herzen hat, wird nie auf dem Pfade des Guten straucheln, nie wird er ihn verlassen. Er wird nie den Lockungen der Bösen Folge leisten; sein Herz wird er immer rein und schuldfrei bewahren. Und auch später, wenn er zum Manne herangereift, in das stürmische Leben eintritt, wird er sie nicht vergessen, er wird ihrer nicht nur in den Widerwärtigkeiten, welche ihm im Leben widerfahren, gedenken, aber er wird sie auch am Höhepunkte seines Glückes im Herzen bewahren. Und auch einst als Greis wird er an sein vergangenes Leben zurückdenken, wie er sie stets treu befolgt; es wird ih[m] wohl ums Herz sein und er wird erkennen, daß sie ihm nur Gutes gebracht haben und daß er durch sie reichlich belohnt ward. Er wird sie seinen Kindern u[nd] Enkeln anempfehlen, auf daß sie sie üben u[nd] dadurch wie er eines fröhlichen und sorgenfreien Greisenalters genießen mögen. Tugend und Gerechtigkeit, Liebe und Barmherzigkeit, Treue, Glaube 1. 2.

Originaltitel. Es handelt sich um die Verse, die beim Anlegen der tefillin (Gebetsriemen) gesprochen werden.

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und Gotteserkenntnis, brüderlich aneinandergereiht, o wie schön seid ihr!

I. An ihrer Spitze steht die Tugend, von der einst Schiller gesagt hat: [Und d]ie Tugend, sie ist kein leerer Schall, Der Mensch kann sie üben im Leben, Und sollt’ er [auch] straucheln überall, Er kann nach der göttlichen streben, Und was kein Verstand der Verständigen sieht, Dies übet in Einfalt ein kindlich Gemüth[.] 3

(jlum [Prov] 8, 20:) Ylea esdr htab »Auf dem Pfade der Tugend will ich wandeln[«.] Ja, jetzt, wo ich die Knabenjahre hinter mir lasse, jetzt wo ich in das Jünglingsalter, wo ich gleichsam in ein neues Leben trete, jetzt erneuere ich den Entschluß, den ich schon in meinen Knabenjahren gefaßt habe und der jetzt erst recht zur Geltung kommt: »Auf dem Pfade der Tugend will ich wandeln«[.] (jlum [Prov] 11, 18) vma tku esdr ptgf »Wer Tugend säet, der erwirbt sich ein[en] wahren Lohn[«.] Der tugendhafte Mensch, der das Laster flucht, den Lockungen der Sünden widersteht, nur der Tugend nachgeht, der erwirbt sich einen sicheren Lohn. Die Tugend ist ein unvergängliches, ewiges Licht, mit einer glänzenden Strahlenkrone ist sie umgeben. Von ihr kann man sagen: (jlum [Prov] 31, 18) etn eljlb ebkj al »Auch in der tiefsten Nacht verlischt ihr Licht nicht«[.] In der düsteren, sternlosen Nacht der Barbarei, des moralischen Verfalls, da leuchtet doch in den verstockten Herzen ein Funke von Gefühl für das Schöne und Gute auf, und diesen erweckt die Tugend und facht ihn an. Tugend sei da nunmehr mein Losungswort; sie soll mich führen, auf ihrem Pfade will ich wandeln. 3.

F. Schiller, Die Worte des Glaubens [1798], Verse 13-18, Bd. 1, S. 215.

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II. Und nun kommt die Reihe an das Recht, an die Gerechtigkeit. (wjtbd [Dtn] 1,17:) afe wjelal iqume »Das Gericht, das Recht, das ist von Gott.« Ja, das Recht ist etwas Göttliches, es rührt von einer göttlichen Inspiration her. Das Recht wurde von den Juden im Namen Gottes gesprochen; der richterliche Ausspruch wurde für heilig gehalten, die Richter wurden als Verkünder der göttlichen Gerechtigkeit wjela genannt;4 »das Recht ist Gottes.« Jede Beugung des Rechtes ist daher eine Entweihung des göttlichen Namens; jeder Angriff auf das Recht erscheint als ein Angriff auf die Heiligkeit der Gottheit. (wjlev [Ps] 111, 7:) fjdfsq lk wjnman vqumf vma fjdj jupm »Gottes Händewerk ist Recht und Wahrheit, alle seine Gesetze sind daher wahr u[nd] ewig«[.] Unsere Weisen sagen: das Siegel Gottes ist vma, »Wahrheit«. 5 Das Recht ist die Wahrheit und diese sind mit dem Frieden eng verbunden; diese drei bilden ein einziges Ganzes. »Auf dreien Sachen steht die Welt: auf Wahrheit, Recht und Friede«, sagen die Talmudisten. 6 Als Beweis, wie innig drei verbunden sind, kann auch ein Satz in Zacharia gelten: (ejtkg [Sach] 8,16:) wkjtpub fiqu wflu iqumf vma »Nach der Wahrheit und zum Frieden sprechet das Recht in eueren Thoren.« Aber Recht ist auch die Liebe, denn die beiden Eigenschaften, welche unsere Weisen Gott zusprechen, nämlich: [,]xjde vdm u[nd] wjwhte vdm 4. 5.

6.

Vgl. Ex 22, 27. Buber spielt hier auch auf die Bedeutung des Gottesnamen Elohim an, der in der Tradition auf die »Strenge Gottes« (middat ha-din) bezogen wird. Die hebräische Bezeichnung für den Richter ist üblicherweise dajan. b Joma 69b, vgl. Der Babylonische Talmud, Bd. 3, S. 191: »Da fiel ihnen ein Zettel vom Himmel herunter, auf dem geschrieben stand: Wahrheit. R. Hanina sagte: Hieraus zu entnehmen, daß ›Wahrheit‹ das Siegel des Heiligen, gepriesen sei er, ist.« Der biblische und rabbinische Begriff emet bedeutet nicht (theologische oder andere) »Wahrheit«, sondern »Treue«, »Verläßlichkeit«. Abot 1,18, vgl. Der Babylonische Talmud, Bd. 9, S. 667: »R. Šimón B. Gamliél sagte: Auf dreierlei hat die Welt Bestand, auf Recht, Wahrheit und Frieden, denn es heißt [Sach 8,16]: nach Wahrheit, Recht und Frieden richtet in euren Toren.«

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»strengste Gerechtigkeit« und »innigstes Erbarmen«, sind doch keine Gegensätze, sondern im Gegentheile innig in einander verflochten. 7 Denn die beiden Eigenschaften verbindet die Liebe, die Liebe Gottes zu den Menschen. Liebe ist der Geist, welcher die Rechtslehre Israel’s belebt, welcher seine ganze Religion umweht.

III. Liebe ist aber auch Milde und Barmherzigkeit, auf welche nun die Rede kommt. Unsere Religion befiehlt Liebe und Erbarmen für den Fremden wie für den Einheimischen, Milde und Barmherzigkeit für alle Geschöpfe Gottes. (:atsjf [Lev] 19,18:) Yfmk Yptl vbeaf »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«8 Die Nächstenliebe umfaßt alle Menschen als Brüder, als im Ebenbilde Gottes geschaffen. Es gibt daher in der Nächstenliebe nur das Verhältniß der Menschen als Brüder ohne Unterschied der Geburt, des Rangs, des Volks, u[nd] des Glaubens. Welcher Unterschied zwischen dem jüdischen Manne, dessen Religion die Gleichheit aller Menschen vor Gott ausspricht, und den Griechen u[nd] Römern, die noch viele Jahrhunderte später alle anderen Völker »Barbaren« nannten. Aber die jüdische Religion beschränkt sich nicht auf das Gebot der Nächstenliebe, sondern sie gebietet Liebe selbst gegen den Feind. Dieser Gedanke wird in der Bibel wie auch im Talmud mehrmals ausgesprochen. Ich habe schon früher erwähnt, daß unsere Religion das Gebot der Liebe auch auf die Thiere, ja auch auf die unorganischen Geschöpfe ausdehnt: So heißt es in den Psalmen:

7. 8.

Im rabbinischen Judentum werden sie als die beiden wichtigsten Aspekte Gottes begriffen, die um einen ständigen Ausgleich bemüht sind, vgl. BerR 12,15. Auf der Seite des Menschen entspricht ihnen Gottesliebe und Gottesfurcht. In Lev 19,3 wird die Regel auch auf den im Land ansäßigen Fremden (ger) ausgedehnt, vgl. Dtn 10,19. In b Schab 31a wird das Liebesgebot zur Goldenen Regel, vgl. Der Babylonische Talmud, Bd. 1, S. 52.: »Abermals ereignete es sich, daß ein Nichtjude vor Šammaj trat und zu ihm sprach: mache mich zum Proselyten unter der Bedingung, daß du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Fuße stehe. Da stieß er ihn fort mit der Elle, die er in der Hand hatte. Darauf kam er zu Hillel und dieser machte ihn zum Proselyten und sprach zu ihm: Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora und alles andere ist nur die Erklärung; geh und lerne sie!«

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(:wjlev [Ps] 145, 9:) fjupm lk lp fjmhtf lkl “d bfi »Der Ewige ist gut gegen Alle, seine Barmherzigkeit erstreckt sich auf alle seine Geschöpfe.« Darum sollen auch wir allen Geschöpfen Gottes Erbarmen erweisen, da wir trachten sollen, Gott immer ähnlicher zu werden.

IV. Wir sollen auch Gott erkennen lernen, denn die Gotteserkenntnis erhebt den Menschen. Wir sollen erkennen, daß wie Schiller sagt: »[Und e]in Gott ist, ein heiliger Wille lebt, Wie auch der menschliche wanke; Hoch über der Zeit und dem Raume webt, Lebendig der höchste Gedanke.« 9

Eins kann man dem Judenthum nicht absprechen, die Gotteserkenntnis. Das Heidenthum hatte in seiner Götterlehre die Gottesidee nach den Gebilden der Phantasie entwickelt und dargestellt; sein Zweck war, nur auf das Gemü[th] zu wirken, die Vernunft hatte da keine Stätte. In der Philosophie hatte man den entgegengesetzten Weg eingeschlagen, man hatte die Gottesidee blos nach der Vernunft gebildet, und dem menschlichen Gemüthe keine Rechnung getragen. Das Judenthum hingegen hat bei der Bildung seiner Gottesidee beiden, sowohl der Vernunft wie auch dem Gemüthe Rechnung getragen. Und so hat es gegen die Göttergestalten der Heidenwelt, gegen die Mißgeburten der Phantasie, die Lehren von der Geistigkeit, Ewigkeit, Einheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes aufgestellt, gegen die Grundsätze der Philosophie aber die Lehren von der Offenbarung, Weltregierung, Weltregieren Gottes und dessen Liebe zu den Menschen. Eng mit der Gotteserkenntnis verbunden ist die Gottesfurcht. Ihr dient im Judenthum nicht die Beengung, die Vernichtung jedes Selbstgefühles und Selbstbewußtseins als Grund, sondern im Gegentheile der freie Blick der eigenen Erkenntnis, das große Aufschauen des Menschengeistes in seiner Selbsterschaffung, Selbstdurchdringung und Selbstüberzeugung. –

9.

F. Schiller, Worte, Verse 19-22, Bd. 1, S. 215.

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V. Ich habe noch ein Wort zu sagen von der Treue, u[nd] drücke es so aus: Unverbrüchliche Treue meinen Vorsätzen, die ich an diesem Tage fasse nach dem Bibelworte. (:wjtbd [Dtn] 23, 24:) tfmuv Yjvqu arfm »Den Ausspruch meiner Lippen will ich behüten und treu vollziehen, was ich in dieser Stunde gelobe.« Und ich wi[e]derhole die Vorsätze und ich spreche aus die Gelöbnisse, von welchen unsere Weisen sagen, daß sie die Grundfeste der Vernunft sind und daß sie gleichsam unser Sehnen nach der höheren unsichtbaren Geisterwelt bekunden, ich spreche sie aus und sage: (jlum [Prov] 8, 20:) iqum vfbjvn Yfvb Ylea esdr htab »Auf dem Pfade der Tugend will ich wandeln, fortschreiten auf der Lichtbahn des Rechts und der Wahrheit.« ** * Dieses mein sehnlichstes Wünschen, mein innigstes Hoffen und Verlangen, mögest du, o Gott, in deiner Liebe und Gnade mir erfüllen und mir Kraft und Beistand verleihen, daß ich die Hoffnung, welche meine theuren Eltern und Großeltern, die voll Liebe und Treue mich bis hieher geführt und geleitet haben, in mich setzen, verwirkliche, daß ich zu ihrer Ehre und Freude, wie zu meinem Heile, an Weisheit und Tugend immer mehr zunehme, immer besser, reiner und vollkommener werde auf Erden! Amen.

»Glaube, Hoffnung, Liebe« (Ewige Jugend)

Liebe Versammlung und zuerst vor allem du, Festtagskind: ujal efsj al tua bup jlp wjbjbtk “d vam lik wjbt wjmp btsb bspj vjtau ejef :wda jnbl lh" alf wa tua xar jtdpb tjqkk tpj vfmebb ejtak wjbt vjmp btsb wjfcb bspj vjtau ejef 1 :ljrm xjaf Ptif wmtf tbp »Es werden auch die Uebrigen aus Jakob unter vielen Völkern sein, wie ein Thau vom Herrn; und wie die Tröpflein aufs Gras, das auf Niemand harret, noch auf Menschen wartet. Ja, die Uebrigen aus Jakob werden unter den Heiden bei vielen Völkern sein, wie ein Löwe unter den Thieren im Walde, wie ein junger Löwe unter einer Heerde Schafe, welchem Niemand wehren kann, wenn er da durch gehet, zertritt und zerreißet.« 2

Dieses zweifache Bild Israels beschreibt in klarer, jedoch symbolischer Weise ewige Jugend, die ich und alle Menschen, die hier anwesend sind, dir heute von ganzem Herzen wünschen, wenn du [an der Schwelle] zum großen und wichtigen Abschnitt deines Lebens stehst, an der sich Kindheit und Jugend, Vergangenheit und Gegenwart zusammenschließen und sich gleichsam die Hände schütteln. Diese ewige Jugend wird in den Worten Jesajas verkündet, in dem großen Gedanken: 3

:fqp" alf fklj fpc" alf frftj wjtunk tba flpj hk fqjlhj “d jfsj

»Aber die auf den Herrn harren, kri[e]gen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen, und nicht matt werden, daß sie wandeln, und nicht müde werden.«

Diese ewige Jugend ist kein leerer Traum, im Gegenteil. Sie besteht zum einen aus einer ständigen Erhebung des Geistes, aus einem wagenden Mut, der nicht einmal einen schwachen Alten im Stich läßt, aus Kämpfen und Zusammenstößen mit dem Bösen, und aus der frohen Erwartung, die so1. 2. 3.

[Anm. Buber:] Micha [Mi] 5,6f. Um Zeitgenossenschaft annähernd erreichen zu können, werden die Bibelzitate hier und im folgenden wiedergegeben nach: Die Heiligen Schriften des Alten Testaments hebräisch und deutsch. [Anm. Buber:] Jez [Jes] 40,31.

gar die Schläfen des Alters krönt. Diese ewige Jugend, porträtiert im Bild des Löwen, besteht zum anderen auch aus endloser Liebe, aus einer brennenden Leidenschaft für alle schönen und erhabenen Dinge, für alle Leiden und Freuden des Lebens, die uns mit dem heißen Blut der Jugend erfüllen. Diese ewige Jugend, so schön beschrieben im Bild von Tau und Regen. Ich werde einige Worte sagen, um dir zu zeigen, wie du in diese Höhe steigen und dort für immer bleiben kannst. Laß drei Worte dich auf diesen Pfad führen, die Worte, die die polnische Nation führen: Hoffnung, Liebe, Glaube! 4

I. Hoffnung Doch du, Jugend, mit Entzücken Schweb’ empor bis an die Sterne, Und erfass’ mit hellen Blicken Alle Welten nah’ und ferne! Dort wohin kein Blick des Menschen reicht, Trage dich die Phantasie, die hehre. Jugend! Adlern deine Sehkraft gleicht, Und dem Donner deines Armes Schwere! Jugend! Anders ist dein Streben, Als dasjen’ge jener Blinden: Dich erfreut nur dann das Leben, Wenn du’s theilst mit Gleichgesinnten.5

Die sind die Worte des Sängers der Liebe. Ewige Jugend, die wir wollen, ist ein Flug auf den Flügeln des Geistes; was aber ist Jugend? Jugend – sie ist Eifer, Erhebung der Seele, ein rückhaltloser Flug; frohe Hoffnung, frischeres und frischeres Aufsteigen, [«]entrücket ird’scher Müh’[«] 6 ! Das ist bleibende Jugend! Und wo sie nicht existiert, dort welkt die Jugend schnell. Denn jugendvolle Schönheit welkt in wenigen Jahren, Stärke ist so leicht zerbrochen, Leidenschaften verschlingen sich selbst, 4. 5.

6.

Vgl. 1Kor 13,13: »Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten ist die Liebe.« A. Mickiewicz, Ode an die Jugend [1820], Verse 13-16, 51-54, 29-32, in: Mickiewicz’ poetische Meisterwerke, S. 253-255: 253 f. [Anm. Buber:] Diese Verse werden in falscher Reihenfolge zitiert, weil sich Verse 1-8 [= 13-16; 51-54] auf den ersten, Verse 912 [= 29-32] auf den zweiten Teil der Rede beziehen. Ebd., Vers 6.

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»Glaube, Hoffnung, Liebe«

Leichtsinn endet in Traurigkeit und Entmutigung, und Füße werden schon beim ersten Lauf matt. Und schau! Das ist nicht Jugend, das ist welkes, schreckliches Alter. Das ist nicht »Adlern deine Sehkraft gleicht«, nicht »entrücket ird’scher Müh’«, nicht das heilige Feuer des Eifers, sondern nur ein Funke, der in beinahe erloschener Asche von Leidenschaft leuchtet. Aber die Jugend des Geistes wird für dich in unbezähmter Stärke bleiben, in überfließender Frische und Freude, bis in die letzten Jahre, wenn du die jugendlichen, ewigen Ideale in deiner beseelten Liebe bewahrst, wenn du ein geistiges Leben führst, das keiner, nicht einmal die zerstörerische Zeit dir nehmen kann, wenn du von der Quelle des Geistes trinkst, aus der immer neue Jugend hervorquillt, wenn du nicht den lebendigen Gott der Wahrheit aufgibst für die Götzen von Nichtigkeit und Schalheit.

II. Liebe C’est Dieu qui mit l’amour au bout de toute chose. L’amour en qui tout vit, l’amour en qui tout pose. L’amour, c’est la vie. (Victor Hugo, Chants du crépuscule) 7 [»]Gott gibt Liebe in alles. Die Liebe, aus der alles lebt, die Liebe, auf der alles ruht. Die Liebe ist das Leben.[«]

Denn dieser Eifer kann sich eines Tage auch erschöpfen und abnützen, wenn er nicht zu gleicher Zeit auch der Eifer der Liebe ist, der niemals verschwindet, der uns immer verjüngt, der nicht aufhört und abnimmt im Alter, sondern im Gegenteil immer sanfter, reiner und vollkommener wird. 8 Liebe ist der Geist, der die Religion Israels umweht und belebt. Es ist nicht nur Liebe zum ganzen Volk als zu Brüdern, wie es im wichtigsten Gebot ausgedrückt wird: »du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«9 , sondern auch zu den unvernünftigen Tieren 10 und sogar zu den unbelebten Pflanzen. 11 Aber der Gipfel der Liebe ist die Liebe zu den Fein7. V. Hugo, Les chants du crépuscule [1835], S. 21. [Hier, la nuit d’été, qui nous prêtait ses voiles,] Verse 25 f., 31, in: œuvres poétiques, Bd. 1, S. 873 f.: 874. 8. [Anm. Buber:] Der folgende Satz ist aus meiner am 8. Februar 1891 gehaltenen Rede [d. i. Bubers Bar Mitzwa – Rede, vgl. in diesem Band S. 93-98] genommen und leicht abgeändert worden[, vgl. in diesem Band S. 96: »Liebe ist der Geist, welcher die Rechtslehre Israel’s belebt, welcher seine ganze Religion umweht.«]. 9. [Anm. Buber] [Lev 19,18]. 10. [Anm. Buber:] 5 Mos [Dtn] 22,6; 25,4 [dreschender Ochse]. 11. [Anm. Buber:] 5 Mos [Dtn] 20,19.

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»Glaube, Hoffnung, Liebe«

den! Zu vergeben und sogar zu deinen Feinden und Gegnern gütig zu sein, zu jenen, die dich verletzten, einem gestürzten Feind die Hand zur Hilfe mit einem Herz voller Liebe zu reichen, sodaß er seine Wut vergißt und sein eisiges Herz an deinem Herz wärmt – das ist die höchste Liebe. Solche eine Liebe, verbunden mit Liebe zu allem, was schön und gut ist, macht einen Menschen vornehm und vollkommen, wärmt sein Herz, öffnet seinen Sinn, reinigt seinen Blick. Sie erschöpft sich nie. Augen der Liebe schließen sich niemals zum Schlaf, selbst wenn der Lebensabend gekommen ist und sich die letzte Nacht nähert! Sie ist wie Tau und Regen, die uns Tag und Nacht beleben!

III. Glaube Und du wirst diese ewige Liebe erlangen, wenn du sie von Gott schöpfst, von der Quelle allen Lebens, allen Lichts und aller Liebe, wie geschrieben steht in den Worten des Propheten, den ich anführte: »aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler«; wenn du seinen heiligen Lehren gemäß lebst, seine Moralgebote hältst, wenn du an den Triumph des Guten glaubst, sogar wenn es zu scheitern scheint, wenn alles um uns sich verdunkelt und die sichere Grundlage des Lebens schrumpft, wenn sich unsere liebsten Hoffnungen als Illusion erweisen, wenn unsere treuesten Freunde uns verlassen, wenn du selbst dann deine Hoffnungen auf Gott setzt, ihm vertraust und zu ihm betest. Wenn du für immer in deinem Herzen seine heiligen Bestimmungen hältst, die hoch und unveränderlich sind, über den Wechsel der Zeiten gestellt, wenn du seine erlösenden Gebote ausführst, wenn du dich selbst erneuerst und nährst von diesem himmlischen Tau, dann werden die Worte Gottes, des Mittelpunktes von allem, in deinem Herzen klingen: pnref doh vbeaf iqum vfup wa jk Ymm utfd “d emf bfi em vda Yl djce 12 :Yjela wp vkl »Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten, und Liebe üben, und demüthig sein vor deinem Gott.«

Amen. Ich schrieb es am Tag des 13. und 14. November 1892. Ich schrieb es wieder am Tag des 15. November. 12. [Anm. Buber:] Micha [Mi] 6,8. Nach dem Verständnis der Rabbinen stellt dieser Vers eine mögliche Quintessenz der 613 mitzwot dar, vgl. b Mak 24a.

Zarathustra

Meinen zukünftigen Freunden »Euch, den kühnen Suchern, Versuchern, und wer je sich mit listigen Segeln auf furchtbare Meere einschiffte, – euch, den Räthsel-Trunkenen, den Zwielicht-Frohen, deren Seele mit Flöten zu jedem Irr-Schlunde gelockt wird: – denn nicht wollt ihr mit feiger Hand einem Faden nachtasten; und, wo ihr errathen könnt, da hasst ihr es, zu erschliessen – euch allein erzähle ich das Räthsel, das ich sah, – das Gesicht des Einsamsten.« 1

Und dies Eine vor Allem: sollte Euch einmal ein Buch über Friedrich Nietzsche zu Gesichte kommen mit meinem Namen auf dem Titelblatte, so wisset: dies ist die Einleitung dazu und die Anleitung zum Verstehen. Es ist mir eigen, über einen jeden in seiner Sprache zu reden, und wenn ich über Eines Harmonie singe, so will ich es auch noch in seinem R[h]ythmus thun. So verzeiht mir denn die Un-Art dieser ZarathustraKlänge, oh meine Freunde! Und auch das Eine noch: meinen Zweck. Ach wer ausser euch sollte einer Krankheitsgeschichte mit all ihrer Genesung und Erlösung zuhören wollen, zuhören können mit eigenem, innerem, lustvollem Erleben? Wer ausser euch mit mir – Blut lachen? So höret denn diese Ohrenbeichte, diese Thorenbeichte, oh ihr Gefährten Zarathustra’s, ihr »guten Europäer«! 2 »Kein Entschuld’gen! Kein Verzeihen! Gönnt ihr Frohen, Herzens-Freien diesem unvernünft’gen Buche 1. 2.

F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, Teil 1-3, Chemnitz 1883/84, Teil 4, Leipzig 1885 = KGW VI.1, S. 193. F. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft (»la gaya scienza«), Neue Ausgabe mit einem Anhange: Lieder des Prinzen Vogelfrei, Leipzig 1887, = KGW, V. 2, S. 11-335: 312 f.: »Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach gemischt, als ›moderne Menschen‹, und folglich wenig versucht, an jener verlogenen RassenSelbstbewunderung und Unzucht teilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt und die bei dem Volke des ›historischen Sinns‹ zwiefach falsch und unanständig anmuthet. Wir sind, mit einem Wort – und es soll unser Ehrenwort sein! – gute Europäer, die Erben Europa’s, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes[.]«, vgl. S. 282.

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Ohr und Herz und Unterkunft! Glaubt mir, Freunde, nicht zum Fluche ward mir meine Unvernunft!« 3

Zuerst einige Worte, damit Ordnung in die Sache komme: dann werde ich ja keine Ordnung mehr kennen können. Vor Allem also: ihr habt »Schopenhauer als Erzieher« gelesen, denn sonst kennt ihr Nietzsche nicht. 4 Und herausgelesen habt ihr, dass man sich einen »Erzieher« suchen müsse, wenn man von all der Flitterbildung, von all den Raubeinflüssen zu seinem Selbst gelangen wolle. Und auch »Vom Baum am Berge« kennet ihr, eins der wärmsten Dinge im Zarathustra. »Dieser Baum steht einsam hier am Gebirge; er wuchs hoch hinweg über Mensch und Thier. Und wenn er reden wollte, er würde Niemanden haben, der ihn verstünde: so hoch wuchs er. Nun wartet er und wartet, – worauf wartet er doch? Er wohnt dem Sitze der Wolken zu nahe: er wartet wohl auf den ersten Blitz?« 5 Nach dieser Prognose wollet ihr wohl etwas von der Krankheit hören: Frevel wär’s und eitle Vermessenheit, euch nicht auch dies aus Zarathustra vorzulesen. »Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief, feierlich: es war der Geist der Schwere, – durch ihn fallen alle Dinge.« 6 Oh Zarathustra, du fröhlicher Wirbelwindtänzer, des hast du selber vergessen. Als du die alten Werthschätzungen auf den Kopf stelltest und dann neue Tafeln vor uns legtest und sagtest: Diese Herrenmoral: die sei euch wahr! Und du wusstest doch, dass alle Wahrheit Schein und Herdentäuschung ist; oder wolltest du selbst – Hirt werden? Aber auch mich packte dein Teufel mit seinen breiten, erdigen Krallen: mir hiess er System. Einzwängen wollte ich deinen tanzenden Leicht- und Dichtsinn in leichengraue Theorien. Das war meine Krankheit: nicht glaubte ich an d i ch, ich glaubte dir. Noch war mir deine Gestalt nicht erschienen. Und wie ich litt – wehe aller Leidensbeschreibung, oh meine Freunde; doch zuletzt erlöste ich mich von meiner Krankheit, und nach deinem Rezepte, du alter Erlösungsgegner und Erlösungsschauspieler! Habe ich es euch nicht leicht gemacht zu zu s ehen, meine Zuhörer?

3. 4. 5. 6.

F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, Chemnitz 1878, 2 1879, Leipzig 3 1886 = Teil I: KGW IV. 2, S. 1-380, Teil II: KGW IV. 3, S. 1342, »Unter Freunden 2«: IV. 2., S. 380. F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen [1872-1874], Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, Chemnitz 1874 = KGW III.1, S. 331-423. Zarathustra, KGW VI.1, S. 47-50: 48. Ebd., S. 45.

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»Er wohnt dem Sitze der Wolken zu nahe: er wartet wohl auf den ersten Blitz?« Wie eine Offenbarung kam es über mich, wie ein herrlicher, herrischer Eichensturm aus lichtreiner hellenischer Wolke, – ach, und noch ich selbst war in diesem Entwurzler –, jene »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«. 7 Ja, noch ist es ein Anfang, und wahrlich auch – überleget es –, ei ne Gebu r t d er Tra gö d i e a u s d em Gei s te d er Mu s i k, aber bald, dünkt es mich, werde ich den Labyrinthfaden verlieren müssen. Denn wie ein riesenhaftes, von ungeschaffenem Lichte durchzucktes Chaos kam es über mich, ein d[iony]sisches Dithyrambenlachen, eine kindliche Hochlust, Höhenlust, »ein erstes Ja-Sagen«. 8 Ein Tanzesahnen kam über mich, das riss mich empor in die tiefschwarzen Abgründe. Und auch Apollo und alles apollinische lernte ich vergessen, und Lionardo und Goethe und Böcklin. Ich erkannte mein Hellas der weissen, vollkommenen Leiber nicht mehr in diesen wirren, verwirrenden Bacchanten-Verzückungen und Zerfleischungen. Das Buch machte mich zum Anhänger Nietzsche’s, zum kranken Anhänger. Und es gehört noch lange nicht zum Besten – für das Beste halte ich nicht »Jenseits« und auch nicht das Zarathustra-Gedicht (das Grösste!), sondern ein weniger beachtetes: »Zur Genealogie der Moral«, das Nietzsche aber (»Der Fall Wagner« 2. A[nm.]. S. 56.) seinen Prüfstein, für das, was zu ihm gehört, genannt hat; 9 und auch mir erscheint es so, obwohl ich schon kaum mehr zu Jemandem gehöre: denn es ist darin Nietzsche’s Selbst, sein reines Metall, am besten, am geklärtesten ausgedrückt. Damals aber las ich das Buch noch nicht, wenn ich auch fühlte, was N[ietzsche] selbst von Schopenhauer sagt: »von diesem Mann werde ich jede Zeile lesen«, sobald ich die erste gelesen habe. 10 Ein Wort aber in der »Geburt« machte mir Kopfzerbrechen: »Wagner«, den Nietzsche neben – Aischylos stellte. Von Wagner kannte ich damals noch weniger als heute, – und das will 7. F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie [aus dem Geiste der Musik, Leipzig 1872] Oder: Griechenthum und Pessimismus, Leipzig 1874 = KGW III.1, S. 3-152. 8. Dionysos, griech. Gott des Weines, des Theaters und des Rausches, wird im Dithyrambos, einem Chorlied, besungen und verehrt. Nach Nietzsches Sicht steht er Apollo gegenüber so wie das Wilde und Leidvolle dem Maßvollen und Schönen. Vgl. Geburt, KGW III.1, S. 21 f. 9. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Leipzig 1886 = KGW VI.2, S. 1-255, ders., Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, Leipzig 1887 = KGW VI.2, S. 257-430, ders., Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, Leipzig 1888 = KGW VI.3, S. 1-47: 46 Anm. 10. Schopenhauer, KGW III.1, S. 342: »Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, dass sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat.«

was heissen –, und ebenso oberflächlich wie alle Musik; aber die Eindrücke, die ich von ihm erhalten hatte und die ich noch zu erhalten – fürchtete, konnte ich mir ungefähr so zusammenfassen und »symbolisiren«: ein unendliches, nervöses Ohrenbrausen, das etwa die Abtheilung eines Stücks von meinem Ich bedeutete (vgl. Binet, »Les altérations de la personnalité«), oder, ernstlich gesprochen, mittelalterliche Klostergebräuche, asketische Erlösungsarbeiten, wie Knierutschen, Rückenzerfetzen, und wie die Dinge heissen.11 Und da hatte ich eine Art Apotheose dieser Teufelsgeschichten vor mir; das war es, was mir mehr als aller »Grundgedanke« widerstrebte, was mich so ärgerte, dass ich zu nichts Reiferem, sondern zu dem Nächsten: den »Unzeitgemässen Betrachtungen« griff. Das Werk ist mir bis jetzt, mit einziger Ausnahme des Titels, etwas Unsympathisches geblieben, von der Polemik gegen David Strauss angefangen (dem ich übrigens aus Ärger über alle »Aufklärung« herzlich unhold war) bis zu der Polemik für Richard Wagner in Bayreuth. 12 Bei der letzteren ahnte ich schon, was mir zur erlösenden Gewissheit werden sollte: die Vogelhaftigkeit Zarathustra’s, den Parsifal, der schwärende Geist der Schwere, von seinem einstigen Standpunkt bis zum »Fall Wagner« abstossen konnte und musste. Aber wie gesagt; die Wagnerei ärgerte mich. Und so las ich auch eine Zeitlang nichts von Nietzsche. Dann führte mich jedoch mein böses Gewissen zu Vorsatz-Erinnerung und zu Zarathustra. Wisst ihr, oh meine Freunde, was das heisst Zarathustra lesen lernen, Zarathustra lieben und leben lernen? Wer von euch das nicht erfahren hat, der hat auch nicht an Nietzsche gelitten, der ist auch nicht an ihm genesen. Ich habe auch von Georg Brandes, einem von den »guten Europäern«, gehört, Zarathustra sei ein Buch für Diejenigen, welche die nur Gedanken enthaltenden Werke Nietzsche’s nicht zu bewältigen vermögen; 13 aber was liegt mir jetzt an »Denjenigen« und selbst an dem grossen Kapellmeister des Nordens, wenn ich vor mir eine so herrliche Lyrik des Denkens habe. Lyrik des Denkens – verstehet mir doch dieses 11. A. Binet, Les altérations de la personnalité, Paris 1892. 12. F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, Leipzig 1873 = KGW III.1, S. 153-238, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben = KGW III.1, S. 239-330, Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, Leipzig 1874,Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth, Chemnitz 1876 = KGW IV. 1, S. 1-82. 13. Vgl. G. Brandes, Friedrich Nietzsche, S. 191: »Aber es ist ein Buch für Diejenigen, welche die nur Gedanken enthaltenden Werke Nietzsche’s nicht zu bewältigen vermögen; es enthält alle seine Grundgedanken in rhetorisch-dichterischer Form.« In der Nachschrift von 1873 zitiert Brandes aus einem Brief Nietzsches, vgl. ebd., S. 213 (Nietzsche an Brandes, 2. 12. 1887): »ein solcher guter Europäer und Cultur-Missionär wie Sie es sind«.

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Wort. Leset doch noch einmal die Lynceus-Episode in dem prächtigen alten, nebelbärtigen zweiten Faust, und ihr werdet unter der Lyrik des Empfindens eine herrlich Goethe’sche Lyrik des Denkens finden mit Symbolen von Thurmwächter-Genies (siehe Zarathustra) und Hellasschöne. 14 Aber damals erfassten, umfassten mich Zarathustra’s Ideen mit süssen, schauer- und lustvollen Ketten, die mich emporzogen und herabschleuderten und jauchzen machten und melancholiren. Warum? allzu erinnerungs-mühselig wäre es, euch alle Elemente hervorzurufen, die damals Zarathustra entgegenflogen, wie junge, kaum flügge gewordenen Vögel der nährenden Mutter. Doch will ich es versuchen. Ich war nie Ultra-Positivist. Es war in mir immer eine geraume Dosis Romantik, eine Art Künstlerwille, sich einen Gott zu schaffen, Zeus Kronion, Ideal, Übermensch; Ich – ; – Prometheus unbound; Peer Gynt; Schönheitskultur. 15 Und noch unzählige andere Elemente: eine tiefe, fanatische Leidenschaft für das griechische Ideal; ein meerhaftes, strandloses Selbstbewusstsein, Selbst-Unbewusstsein, voller Sonnenhelle und titanischer Wahn-Paroxysmen; ein wütiger Hass gegen die ganze ekelgeschwängerte Luft, in der ich lebte; eine grimmige Abneigung gegen die officielle Moral, die officielle Bildung, das conventionelle Lächeln, Weineln und Wörteln; Tigerlüste, die nach oben stürmten; Verachtung, ekelvolle Verachtung alles Katholicismus und Asketismus; kurz: eine junge, überströmende dionysische Kraft, welche singen wollte, fliegen, lachen, zerschmettern, bauen, – Luftschlösser bauen. Und so kam es, dass ich an Nietzsche, dass ich Nietzsche glauben musste, der so sonnenhaft das ausdrückte, was in mir schlummernd nach Licht und Erwachen rief. Ich glaubte an die »neuen« Werthschätzungen von Gut und Böse, an die starke urwüchsige Herrenmoral, an das dionysische Künstlerideal, an das ganze unsystematische System dieses aristokratischen Radikalismus, das doch nur Anschauung und nicht Überzeugung, nur Farbe und nicht Ton werden durfte. Mir aber war es damals mein Leben. So weit war ich gekommen im Selbst-suchen, – ach, ich war eben im Begriffe es zu verlieren. Und dann begann ich zu kranken an allen diesen fremden Tafeln, sie drückten mich nieder, schmerzten mich, hemmten mir den Athem. Und alle Krankheiten sind eng mit einander verwachsen: eine jede hat noch hundert andere im Gefolge. Und doch, wenn ich auch noch jetzt 14. J. W. Goethe, Faust, Der Tragödie Zweiter Teil, Verse 9192-9355, Bd. 18.1, S. 103351: 255-260. 15. Das Beiwort »Kronion« weist auf die Herkunft des Zeus als Sohn des Kronos (= »Kronide«). H. Ibsen, Peer Gynt [1867], P. B. Shelley, Prometheus Unbound [1820]. Die Vignette eines entfesselten Prometheus schmückt auch das Titelblatt der Erstausgabe der Geburt der Tragödie, vgl. KGW III.1, S. 17.

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krank bin, ach und wie todeskrank; ich bedauere nichts: ich will mich zu Tode-lachen. »Wer auf den höchsten Bergen steigt, der lacht über alle Trauer-Spiele und Trauer-Ernste.« 16 Dies Eine habe ich von Dir leben gelernt, oh Zarathustra: so lache ich noch über die Todeszuckungen meiner Verzweiflung. Ihr verstehet mich nicht, oh meine Freunde; so lachet mir doch über euer Unverständnis, – denn sonst müsstet ihr weinen. Oder wollet ihr verstehen, so lernt doch etwas Wahnsinn von mir; so singet doch mit mir das Ja-und-Amen-Lied Zarathustra’s und sein siebentes Siegel: »Wenn ich je stille Himmel über mir ausspannte und mit eigenen Flügeln in eigne Himmel flog: Wenn ich spielend in tiefen Licht-Fernen schwamm[,] und meiner Freiheit VogelWeisheit kam: –. – so aber spricht Vogel-Weisheit: »Siehe, es giebt kein Oben, kein Unten! Wirf dich umher, hinaus, zurück, du Leichter! Singe! sprich nicht mehr! –, sind alle Worte nicht für die Schweren gemacht? Lügen dem Leichten nicht alle Worte! Singe! sprich nicht mehr!« – Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, – dem Ring der Wiederkunft? Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder möchte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit! Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!« 17

Und wahrlich, meine Freunde, das ist Friedrich Nietzsche’s siebentes Siegel. Und dieser sein »abgründlichster Gedanke« von der ewigen Wiederkunft ist doch auch nur Dichtung. Die Kombinationen der Materie müssen sich erschöpfen, also sich wiederholen meinte er damit; konnte da Jemand anders als ein Dichter die Unendlichkeit der Materie – vergessen? Wie sagtest du doch, du feiner Dichter, Erdichter: »Alles Unvergängliche – das ist nur ein Gleichnis. Und die Dichter lügen zuviel.« 18 Ich liebe dich, Friedrich Nietzsche, du freier, frischer, froher, du allzumenschlicher Dichter und Erdichter; wie ich den alten Baumeister, den alten Schornsteinfeger, Schornsteinritzenjäger Henrik liebe:19 ich liebe den Künstler in euch und den Psychologen, – ihr verzeiht mir wohl diese Synonyma, – aber den Tendenzler in euch, den Moralisten (oder

16. 17. 18. 19.

Zarathustra, KGW VI.1, S. 45. Ebd., S. 287. Ebd., S. 159. H. Ibsen, Baumeister Solness [1892]. Die Titelfigur ist als Herrenmensch Nietzsches gezeichnet.

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»Immoralisten«, was nur Leseart ist), den verkenne ich, denn ich habe mit ihm Nichts zu schaffen, es sei denn als Psycholog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Und jetzt sollte eine Genesungs-Geschichte folgen; aber auf die müsset ihr noch warten, und ihr habet ja Zeit genug dazu, ihr meine – künftigen Freunde! Denn ich habe es euch gesagt, wie todeskrank, langsamen Todes krank ich bin; wer könnte da an eine Genesung denken? Und müde bin ich, fiebermüde, wie Zarathustra allein mit seiner stillsten Stunde.

Nietzsche-Aphorismen (Aus älteren Papieren) Dank sei ihm, dass er unsere Zeit einen neuen Pessimismus gelehrt: statt des alten Schopenhauer-Epigonismus einen neuen, dionysischen, der die elende Welt, die Erkannte, freudig umfängt; Dank, dass er in uns eine neue Lust zum Leben geweckt hat, einen verfeinerten, verstärkten, bejahten Willen zur Macht; und Dank, dass er der Erste war, der nach langer Zeit wieder einmal Nektar einschänkte, Trank für Edelleute. Künstler war er; er wollte mehr sein. »Die Versuchung, welche den Künstler so leicht und so begreiflicherweise befällt, auch einmal über die gerade ihm verbotene Wiese zu gehen und in der Wissenschaft ein Wort mitzusprechen«, so nannte er es bei Schiller. 20 Für wen Zarathustra ein Lebens-Ereignis sein kann? Wer in sich das eingeborene Nietzsche-Verstehen hat? Meine Antwort – eine stolze, hochmütige, aristokratische Antwort: »Die Sensitiven«. Ich habe da eben einen Plan für eine psychologische Essays-Sammlung, die diesen Titel führen dürfte. (Etwa Shelley, Stendhal, Slowacki, Poë, Baudelaire, Nietzsche, d’Annunzio). Daher definire ich mir jetzt diese Männer. Sie, welche die Welt nicht »idealisirten«, sondern selbst idealisirt in alle Dinge etwas von ihrer zweiten Welt einlegten, die Menschen der verfeinertsten Sinne und der zersetzbarsten Nerven, die dionysischen Lust- und Weh-Verknüpfer, die »Fermenterreger der Menschheit«, die Unbefriedigten, die Überfeinen und Überempfindlichen; die Künstler par excellence, die in alle Räthsel und Wirrnisse der Form mit ihrem Oberlicht-Auge eindrangen, die Psy20. Menschliches II, KGW IV. 3, S. 243.

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chologen par excellence, die das grosse, unbekannte, überreiche PsycheLeben erforschen, welches von der dünnen, für die grosse Menge allzustarren, Lavaschicht unseres Bewusstseins bedeckt, sich den Blicken aller nur flüchtig und verschwindend leicht in unseren Reflex-Bewegungen manifestiert, wie der rauchende Vulkan. Für Sie ist Zarathustra gedichtet; – für diese Menschen des Rausches und der Betäubung. Aber sind vielleicht auch diese meine Worte, diese exstatischen Worte, nur für sie geschrieben? Nietzsche: eine Übergangsart zu einer neuen Kunst; – ich hoffe nicht mehr einst sagen zu dürfen: zu einer neuen Kultur. Nietzsche, der über die Wagnerische Erlösung so vielfach spottete, hatte selbst ein Leben voll solcher »Erlösungen« und »Befreiungen«. Hier will ich nicht von der vielberührten Befreiung von dem Schopenhauer-Wagnerschen Joche und ähnlichen Tyrannengewalten (s. fast alle Nietzscheschen Vorreden), sondern von dieser unbekannten, zu der er sich auch nie bekannt hätte, dem »Übermenschen«.21 Es war eine Befreiung vom Ekel und als solche ein Spielzeug. Und er soll daran geglaubt haben? Oder »glaubte« er überhaupt an irgend etwas von dem, was er sagte, und wenn, was zwingend ist anzunehmen, durfte er dies, er, der Künstler-Skeptiker? Nietzsche: eine breite und hohe Stufe, aber eine magnetische, welche den Fuss nicht weiterlässt. Oder soll ich sagen, ihr meine Herren Gegenredner: »eine magnetisirte«? Nietzsche: eine nothwendige, masernartige Krankheit, bei der es heisst: je früher, desto besser. Man sollte an ihm krank werden wollen, denn nur durch eine derartige Genesung kann man zu sich selbst gelangen. Aber unsere Heutigen haben selten Mut dazu: sie besitzen zu wenig Ich, um nicht dessen Verlust fürchten zu müssen. Nietzschescher Calembourg22 : Wer an Zarathustra Manches »absurd« findet, würde wohl nur einen Absud von Nietzsche vertragen können. »Erbärmliches Behagen« – ein gar loses Losungswort. 23 21. Vgl. Zarathustra, KGW VI.1, S. 8 f. u. ö. 22. »Calembourg«, ein auf Gleichklang beruhendes Wortspiel (von frz. »calembour«). 23. Zarathustra, KGW VI.1, S. 9 f.

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»Wo Chopin aufhört, setzt Nietzsche an.« 24 Diesen Satz schreibe ich hier ab. Er verdiente es hundertfach, an erster Stelle zu stehen. Ciselierstyl: Nietzsche’s Aphorismen. Mit einem x-ten Sinne fühle ich, wenn ich sie lese, die Feinheit des Marmors (viel mehr italienische als deutsche Sprache: Carrara) wie die Eleganz und Subtilität der Linien. Ich liebe das. »Meine Vorfahren« nenne ich die Sensitiven. Mehr Ehrfurcht liegt darin als Ehrung oder Furcht. – (Das Kind spricht). Je tiefer eine Lehre ist, desto tiefer und breiter der Abgrund zwischen den geistigen Führern und den »Thatmenschen«25 , welche sie praktisch verwerthen. Auf der einen Seite Stirner und Nietzsche, auf der anderen die Anarchisten, welche Nietzsche in seltsamer Verkennung der politischen Zustände und seiner selbst neben die verhassten Socialisten hinstellt und sie Hunde schimpft. 26 Sie waren ihm auch zu wenig geistig: trotz aller Lobreden auf den Leib war Nietzsche reiner Intellekt. In fast allen Bemerkungen über Philosophen, Künstler, freie Geister liegt bei Nietzsche etwas tief Persönliches, in vielen überdies eine meist unbewusste Anspielung auf sich selbst, sei es als Klage, Lobpreisung, Ironie, Zurechtstellung. Er konnte sich nie von seiner Individualität loslösen. »Das Lachen sprach ich heilig« ein herrlicher, herrischer Satz. 27 Es thut mir Leid, dass die Beantwortung der Frage, wie viel im Zarathustra Autobiographie ist, der Zukunft angehört. Nietzsche auf die Kunst übertragen: L’art pour la vie, im höheren, Barrès’schen Sinne. Ein eigenartiger Fortschritt gegen das »l’art pour l’art«. Aber es wird noch mehr als dieses missverstanden werden: von den Isten, besonders den Massisten. Nietzsche hasste alles Englische: der grosse Rassen-Urstreit. Leider war er nicht genug Slave um nicht ein wenig blond und metaphysisch, id est deutsch zu werden. 24. 25. 26. 27.

S. Przybyszewski, Zur Psychologie des Individuums. I. Chopin und Nietzsche, S. 112. [Anm. Buber:] die eigentlichen Thatmenschen sind jene. Jenseits, KGW VI.2, S. 127. Geburt, KGW III.1, S. 16 = Zarathustra, KGW VI.1, S. 364.

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Das Décadence-Problem ist eine grosse, beträchtlich komische, Mystifikation, überdies eine gegenseitige. 28 Es war nämlich zu allen Zeiten Brauch, seine Gegner mit einem selbsterfundenen Schlagworte zu benennen. In dem vorliegenden Fall schufen sich die Getroffenen aus ihrer Noth eine Tugend und nannten sich stolz décadents, mit diesem Namen etwa wie die niederländischen gueux der Eltern-Kultur den aufgefangenen Handschuh ins Gesicht zurückschleudernd. 29 Ad maiorem gloriam der Lachenden erstand nun gegen die décadents eine neue, jüngste Partei; die Nietzschesche, hatte aber das Missgeschick, bei den alten Herren von Nr. 1. kein Wohlgefallen anzutreffen, wodurch sie durch eine artige »Entartungs«-Kombination zu den obenerwähnten schlimmen Buben geworfen wurden. So kam es, dass die Jünger Zarathustra’s den alten SchreibHähnen das grosse Wort recht ungelassen zuschleuderten, dass diese, die von staatswegen anerkannten »Epigonen« die eigentlichen décadents seien, und die von ihnen abgetragene, zerknüllte Kultur seien die Unterzeichneten aufzufrischen berufen. Wenn es mir nicht um meinen herzlieben, missbrauchten Nietzsche Leid thäte, würde ich das Ganze für ein ganz niedliches Blindekuh-Schauspiel ansehen, bei dem sich Alle die Augen verbunden hätten … Gegenseitig … Was an der Décadence wahr ist, nicht an der heutigen, sondern an der grossen Décadence der Menschen-Historie, hat niemand so tief erforscht wie Nietzsche: ihm hiess sie Abstumpfung, Abtödtung der Instinkte, deren Bejahung, Belebung er verlangte. Über dies auch alle Rache und Beschämung, was man nachlesen muss. Es ist eine rechte Lust, in der Zeit solcher Diametralen Antipoden, wie Nietzsche und Tolstoi, zu leben. Den Skepticismus künstlerisch verklärt und zugleich geklärt zu haben, gehört zu Nietzsches grossen ungewollten Verdiensten. Er verband mit dieser – kaum Philosophie zu nennenden – Lehre eine Art Ich-Romantik und bildete aus Beiden, sich des »Ich« als Bindungsglied bedienend, einen harmonischen Rausch, während Schopenhauer eine (in Bezug auf Ursprung) ähnliche Romantik mit seinem Rationalismus zu einem Etwas verquickte, das uns Ja-Menschen, uns Hier-und-Heute-Menschen, wenn nicht unsympathisch, so doch recht fremdartig berühren muss. 28. Vgl. Fall Wagner, KGW VI.3, S. 3: »Was mich am tiefsten beschäftigt hat, das ist in der That das Problem der décadence.« 29. Gueux, frz. »Bettler, Lumpen«. Selbstbezeichnung der Kämpfer für die Unabhängigkeit der Niederlande von Spanien im 16. Jh.

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Die Nerven-Sensationen neu-schaffender Menschen theilen sich verwandt angelegten Naturen durch eine natürlich unbestimmbare AetherVibration mit: ich habe es an Nietzsche erfahren, bevor ich ein Buch von ihm gelesen hatte. Aber weil ich das nicht definiren kann, werdet ihr es wohl nicht glauben, ihr Erd-Gläubigen. Zu irdisch, zu irden seid ihr dazu. In Nietzsches Lobsprüchen auf die Kraft liegt oft ein Sehnen nach ihr, nicht eine Befriedigung daran. Er wurde zu sehr von Frauen erzogen. 30 Wie ein Raketen-Mensch meist von Ruhe, ein Versteckt-Kranker von Gesundheit spricht, so sprach er von der Kraft. »Wille zur Macht« – denn das war ja sein eigenes Leben auch. 31 Aber was für eine seltene Tugend, dass er aus der Noth keine Tugend machte! Die verschiedenen Bücher Nietzsches sind nur dann ganz verständlich, wenn man sich die Gebirgslandschaften vergegenwärtigt, in denen er damals lebte. Man muss die »Lebensmaximen« Schopenhauers mit den in Nietzsche’s Werken verstreuten vergleichen, um die tiefere Verschiedenheit beider zu erkennen. Man muß von Nietzsche abfallen, um ihn l i ebg ew i nnen zu können. In diesen Worten liegt viel, wenn nicht Alles. Ein Hauptzweck Nietzsche’s (ausser der Hebung des höheren Menschen und der Vermehrung der geistigen Fruchtbarkeit in jedem Sinne): die Erweckung des grossen Misstrauens. Ich lese immer wieder das Gespräch zwischen Pyrrhon und dem Alten in »Menschliches, Allzumenschliches«.32 Pyrrhon-Nietzsche (mir gilt »der Alte« für Schopenhauer, wie auch in Zarathustra »Der alte Weise« und in den Vorträgen über unsere Bildungsanstalten »der alte Philosoph«) deutet seinen Plan an, in den Menschen das Misstrauen gegen Alles und Jedes zu erwecken, gegen seine eigenen Worte, gegen sein eigenes Schweigen. 33 Und in grossen Zeit-Abständen würden aus all dem ausgeworfenen Kehricht kleine Wahrheits30. Vgl. Brandes, Nietzsche, S. 164: »Es gab ursprünglich viel Weibliches, viel Passives in seiner Natur. Er lebte auch lange nur von Frauen umgeben.« 31. Vgl. Genealogie, KGW VI.2, S. 164 u. ö. 32. Menschliches II, KGW IV. 3, S. 283 f. 33. Im Zarathustra ist wohl »der alte Wahrsager« gemeint. Vgl. F. Nietzsche, Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs öffentliche Vorträge [1872], KGW III.2, S. 133-244.

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Körner aufgelesen werden, je eins; und einst würden sie gesäet werden, und ihre Ernte verdiente den Namen Wahrheit. Und nicht die Übermensch-Träumereien, sondern dieser mühselige Weg zur Wahrheit ist Nietzsche’s wahrer, grosser Idealismus. Nur hier kann die »Revolution des Menschengeistes« liegen, welche der andere grosse Anarchist, Henrik Ibsen, anbahnte. 34 Wer bedürfte ihrer aber so wie unsere Zeit, die sich wie ihr Kultur-Vater, ein sanftmütiger, irregeführter Prophet, nur mit einem Stolze, der grösser ist als seine Bescheidenheit, brüstet: Ich bin die Wahrheit. Unsere Zeit, in der fast keiner eine Wahrheit aus sich zu schaffen vermag, der Kleine ipsa natura oder aus Furcht vor Verketzerung, der Grosse – aber habet ihr deren mehr als Zwei gesehen? Unsere Axiome kann man an den Fingern abzählen, aber wir nennen jede Hypothese, deren Knäuel von uns abgewickelt wurde (oder verwickelt) – Axiom. O Pyrrhon! Einen Charakterzug habe ich mit Nietzsche gemein: Ich liebe es, alle Kultur und Kunst, besonders aber deren grosse Individualitäten in eins von den beiden Schlagwörter einzukisten: Hellenismus und Christentum, wobei unter letzterem selbstverständlich die Lehre Buddha’s gemeint ist; 35 ebenso einem von dem einen Lager einen von dem anderen entgegenzustellen. Wo (in der Moderne) die beiden Worte nicht zureichen, greife ich zu Individualismus und Demokratismus. Welche von den Anschauungen mir verwandt und enp at hi s ch sind, brauche ich wohl nicht darzulegen. »Hüte dich vor den Fliegen des Marktes«: das gilt für Nietzsche. 36 Denn den haben sie jetzt regelrecht zerstochen, dass er wie ein eifergerötheter Scholastiker oder wie ein angeschwollener englischer Systematiker oder gar wie ein ehrlicher deutscher Bier-Metaphysiker aussieht. Die Schuldigen sind die Affen-Anhänger: Peter Gast, Fritz Kögel & Consorten. Wer Maurice Barrès kennt, wird nicht zweifeln, dass die morgige Kunst von Nietzsche abhängig ist. Das können nur die Pariser: nämlich nach den Tolstoianern Rod und Margueritte. An den Parisern wird Buckle 34. Vgl. H. Ibsen, Brief an G. Brandes 20. 12. 1870, zitiert in: G. Brandes, Henrik Ibsen, S. 493: »Um was es sich handelt, das ist das Revoltiren des Menschengeistes« = H. Ibsen, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 154-156: 156 (»Revolutionierung des Menschengeistes«). 35. Vgl. Genealogie, KGW VI.2, S. 264. 36. Vgl. Zarathustra, KGW VI.1, S. 61-64: »Von den Fliegen des Marktes, vgl. S. 63: »Also hüte dich vor den Kleinen!»

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zum Narren. Und alle Fortschrittler. Sie haben ein Leben wie die Frau: ein rythmisches, auf- und niederwogendes. Von den Parisern, den grossen Idee-Parisern, hat Nietzsche viel gelernt: von Montaigne und Stendhal in erster Reihe, dann von Chamfort, La Rochefoucault, Vauvenargues, Fontenelle, ja selbst von dem Christen Pascal; nicht zuletzt auch von Bizet und anderen Musik-Parisern. Väterlicherseits stammt er von Slaven: das Ererbte bekommen wir oft genug zu sehen; aber es würde mir eine seltene Genugthuung bereiten, wenn man unter den Ahnen seiner Mutter einen Romanen finden würde. Seine nächsten Vorfahren waren wie bekannt Pfarrer; von ihnen hat er wohl das Brandische. – Ja, wieviel man an ihm herum-taineisiren könnte! 37 Prosit den Anderen! Mir ist Nietzsche das Beste, das ein Mensch Einem sein kann: Trost und Lust-Erweckung. Er regt in mir die Gedanken an, die allein mich emporhalten in den modergrauen, vampyrartigen, blutaussaugenden Abendstunden, die katzenartig herbeischleichen und die Krallen mir athemhemmend in die Brust graben. Er hat mich gelehrt, freudig-gross zu sein im »Guten« wie im »Bösen«. Höheres habe ich nie gelernt. Ein Unglück für Nietzsche’s Lehre ist es, dass er anfängt, Mode-Philosoph zu werden. Was alles die jungen Hamletchen von heute aus ihm herauslesen, natürlich für ihren Hausbedarf; wie sie sich spreizen mit ihren Mache-Individualitäten, an denen nichts individuell ist. Selbst-Schaffen, nicht nur Selbst-Schwatzen, meine Herren Collegen! Und die lieben guten Backfischchen fangen sich schon auch an für Nietzsche zu interessieren, wie anno dazumal für Darwin; haben sich wohl an der Wollust-Angel Zarathustra’s festgebissen, die lieben guten Backfischchen! Marlitt und Nietzsche auf einem Tisch! ich habe die prächtigste Lust, das Lumpenpack in Stücke zu reissen! Diesen Letzten sollen sie mir aber nicht verleiden! Schopenhauer aber stand in jenem Augenblick am Höchsten, als seine erste Auflage als Makulatur verkauft wurde. 38 Wer Nietzsche nicht ganz durchleben kann, sollte ihn bei Seite legen. Den gewissenhaften Menschen, der das thäte, würde ich schätzen wie keinen anderen.

37. Anspielung auf den frz. Philosophen H. Taine. 38. Vgl. Brandes, Nietzsche, S. 149: »Schopenhauer war bekanntlich bis in seine letzten Lebensjahre ein ganz einsamer Mann. Keiner verstand ihn, keiner las ihn. Der grösste Theil der ersten Auflage seines Werkes: ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹ musste als Maculatur verkauft werden.«

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Wer an Nietzsche nicht krank wird, sollte wie der Traubenfuchs sagen: Ich mag ihn nicht, Ich bin zu gesund für ihn. Nietzsche gebraucht den Ausdruck »Moral als Widernatur«. 39 Aber »Gesundheit als Widernatur« – das ist die geheime Losung aller KünstlerSensitiven: als Künstler sind sie es nämlich gewohnt, aus ihrer Krankheit sich einen Gott zu schaffen. Ich liebe die Sensitiven und fühle mich ihnen verwandt; – was sage ich damit? Höchst wahrscheinlich ist es, dass der alte Hellenismus kaum etwas davon hatte, was ihm Nietzsche beilegt, wenn er auch unbestritten die formschönste Zeit der »Welt«-Geschichte bleibt. Nietzsches Idealgriechentum war eine selbstherrliche, dionysische Rausch-Kultur, ein lustvoller Lebensanschauungs-Pessimismus, eine Nacktheitsgrösse ohne Feigenblätter, eine sich-gott-fühlende Antheilnahme am Werke des Schaffens; und was davon konnte, durfte wahr sein? Einige Worte über den als heiter anerkannten Nietzsche-Essay, von Georg Brandes, dem »Entdecker« Nietzsche’s, einen Essay, von dem gesagt wurde, dass er über Nietzsche – über Nietzsche geschrieben ist. Ich kann diesem allzu-ganzen Urtheile nicht einmal halb zustimmen, was mit meiner bewundernden Sympathie für Brandes in keinerlei Widerspruch steht. In dem Nachtrage zu dem Essay stehen die tief-wahren Worte, welche ich mehrmals hervorgehoben habe: »Reifere Leser werden Nietzsche nicht mit dem Hintergedanken studiren, seine Ansichten annehmen, noch weniger mit dem, für sie Propaganda machen zu wollen; es ist ihnen sogar verhältnismässig unwichtig, ob eine grössere oder geringere Zahl seiner Sätze als widerlegbar zu betrachten sind. Sie fühlen die Befriedigung, eine ureigene, mächtige Persönlichkeit getroffen zu haben.«40 Aber wie stimmen dazu die absprechenden Worte über »Zarathustra«, in welchem Werke sich uns doch die Künstler-Individualität Nietzsche’s am stärksten zu erkennen giebt? Und wie stimmt dazu der ganze Essay, der Manches von Nietzsche’s Anschauungen (wenn auch nicht umfassend), Nichts aber von seiner Psychologie, nur Weniges von seiner Kunst sagt? Es ist etwas von seichten Gewässern in diesem Aufsatze, und ich steige lieber in schmutzige.

39. F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, Leipzig 1889 = KGW VI.3, S. 49-157: 76 (Kapitelüberschrift). 40. G. Brandes, Nietzsche, S. 209 f.

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»Nietzsche gegen Wagner« – das ist die eigentliche Frage der heutigen Kunst. 41

41. Vgl. F. Nietzsche, Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen, Leipzig 1889 = KGW VI.3, S. 411-445.

Zur Wiener Literatur

Die herausragenden Gestalten der Gruppe junger Schriftsteller, die gemeinhin als »Jung-Wien« bezeichnet wird, sind Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Peter Altenberg und Arthur Schnitzler. 1 Bei ihnen allen findet man diese herrliche, rein Wienerische Synthese von Leichtigkeit, Melancholie und Träumerei, die man in den Walzern von Strauss, den Gemälden von Makart, den Komödien von Raimund und den Skulpturen von Tilgner wiederfindet. 2 Bei ihnen allen begegnet man diesem typisch Wienerischen Fehlen des heroischen, revolutionären Elements.3 Sie sprechen davon, in ihrer Arbeit eine »individuelle, unverwechselbare Wiener Kultur« erschaffen zu wollen, aber in Wirklichkeit machen sie lediglich die bestehende Kultur auf sich selbst aufmerksam und verleihen ihr auf diese Weise eine sinnvollere Intensität. In der Geistesgeschichte Wiens nehmen sie einen Platz ein, der demjenigen des Gianbattista Tiepolo gleicht, der »das Gewissen Venedigs« genannt wurde. Über ihn sagt Maurice Barrès: »In ihm hörte die venezianische Seele auf … zu schaffen, betrachtete sich selbst und begann, sich selbst zu erkennen.«4

1. 2.

3. 4.

Zur »Jung-Wien« zählten noch R. Beer-Hofmann und F. Salten. Zu einer Gesamtdarstellung, und Quellensammlung, vgl. JW. Die Genannten waren die repräsentativen Künstler des offiziellen Wien der Jahrhundertwende. Vgl. H. Bahr, »[Nachruf auf] Victor Tilgner«, in: Renaissance, S. 238244: »daß er nach Johann Strauß der wienerischeste Künstler unserer Zeit gewesen ist« (S. 238), »[k]ein Künstler ist seit Makart unserem Herzen näher gewesen« (S. 240). Vgl. H. Bahr, »Das junge Oesterreich«, in: Studien zur Kritik der Moderne, S. 73-96: 75: »Das ›junge Oesterreich‹ ist nicht revolutionär.« Bei dieser Gruppe handelt es sich um das Junge Wien, vgl. JW I, S. xxxiiif. Buber zitiert aus dem 2. Teil von Barrès’ Trilogie Un homme libre, vgl. M. Barrès, Le Culte du Moi, S. 280: »Celui-là, Tiepolo, est la conscience de Vénise. En lui l’Ame vénetienne […] s’arrêta de créer; elle se contempla et se connut.« Das Zitat ist – wie alle ursprünglich fremdsprachlichen im Text – von Buber selbst ins Polnische übersetzt worden.

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I. »Enthusiast und Don Juan aller künstlerischen Formen, der jede genießen, was sie gewährt, aus ihr ziehen, und sie dann wieder verlassen will.« (Bahr, »Studien«) 5

Herrmann Bahr ist die führende Persönlichkeit dieser jungen Wiener Autoren. Er ist mit Brandes verglichen worden; obgleich er dem dänischen Meister in Tatkraft und Unabhängigkeit weit unterlegen ist, besitzt er Brandes’ Begabung, junge Talente zu erwecken und sie zu stärken. 6 Dank ihm haben die verschiedenen Personen, von denen ich spreche, dieses Band verspürt, das sie vereint. Von den vielen Menschen, die heute das Leben wie ein Künstler sehen und empfinden, die ihre Einsicht mit Schönheit darzustellen vermögen, deren Kunst aber nie tonangebend, sondern lediglich dekorativ sein wird, weil es ihnen an kreativem Element mangelt, scheint Bahr mir die interessanteste und originellste Gestalt zu sein. Man suche bei ihm nicht nach einem gleichbleibenden Element, das sein Leben in eine Ganzheit bringen würde; jede seiner »Phasen« widerspricht der vorhergehenden. Er hat sich all die Strömungen unserer Zeit zu Herzen genommen, für jede von ihnen der Reihe nach ein passendes und aussagekräftiges Wort gefunden und hat dies ohne Ringen und ohne angestrengtes Suchen getan. Aber kaum hatte er etwas verkündet, ließ er auch schon davon ab und wandte sich etwas zu, das neu hervor sproß, das darauf wartete, ans Licht zu gelangen. Bahr ist einer derjenigen, die ihrer Zeit voraus sind, aber seine »Zeit« ist immer gerade der Moment, in dem er das eine oder andere verkündet, und auch dem soeben Verkündeten ist er in einem weiteren Moment schon voraus. Von jedem »Heute« kann er die künstlerische Mode, die morgen regieren wird, ablesen, so daß er zum Apostel einer noch ungeborenen Losung wird. Aber sein apostolisches Amt dauert nur solange an, bis der Leitspruch Anhänger findet. 7 Er selbst weist selbstverständlich keine Entwicklung auf; alle seine Bewußtseinszustände (»Seelenstände«)8 sind gleichwertig und alle sind auf gleichbleibend beispielhafte Weise in seinen Schriften zum Ausdruck gelangt. Dieser Mann, der den gewünschten Ruhm mit solch eigentümlichen Mitteln erlangt, kann durch einige 5. 6. 7. 8.

Im Original deutsch. H. Bahr, Studien zur Kritik der Moderne, S. 94 spricht von sich selbst. Brandes machte als erster eine breitere Leserschaft mit der Philosophie Kierkegaards und der Nietzsches bekannt und war ein Förderer Ibsens. Vgl. H. Bahr, »Das junge Oesterreich«, S. 91-96. Im Original deutsch.

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wenige Bekenntnisse, die in seinem Werk verstreut sind, verstanden werden. Er zitiert sehr oft einen Satz von Constant, den er zu Beginn einer seiner besten Arbeiten, »Russische Reise«, anführt: »La meilleure qualité que le ciel m’ait donné[e], c’est celle de m’amuser de moi-même«. 9 Dieses »s’amuser de soi-même« verdeutlicht uns Bahr; dies ist der Grund, warum er sich als einen Seiltänzer bezeichnet, einen geistigen Akrobaten; dies ist der Grund, warum er immer nach frischer Nahrung für seine Nerven sucht; dies ist der Grund, warum er »jeden Tag ein neues Ich wie eine neue Krawatte trägt«; schließlich ist dies der Grund, warum er »den ganzen Umfang dieser weiten Epoche« umfassen möchte, ohne tiefer zu graben. Seine Individualität ist in Wirklichkeit ein gänzlicher Mangel an Individualität; sein Stil besteht in einem vollständigen Mangel eines einheitlichen Stils, der in all seinen Arbeiten vorherrschen würde. Dies ist der Grund, warum, in den Augen derjenigen, die mit klarer Sicht und blutigen Herzens das Leid unserer Zeit studieren, Bahr eine höhere, allgemeine Bedeutung annimmt, wie der Genfer Amiel, wie Marie Bashkirtsev. 10 In ihm haben die Wesenszüge des zeitgenössischen Geisteslebens in Europa – die Abwesenheit von Einheit und Harmonie, Impotenz, Sterilität, Mattigkeit, eine breite aber oberflächliche Neugier – einen lebendigen und erschütternden Ausdruck gefunden. Bahrs bezeichnendste Werke sind »Die Mutter«, ein Drama über die Neurasthenie, das, trotz seines geschickten Aufbaus zur Erzeugung eines starken Effekts, äußerst schmerzhaft, erdrückend und unkünstlerisch ist; 11 »Dora«, in dem der Autor sein eigenes Porträt auf eine interessante Weise zeichnet; 12 »Russische Reise«, ein wahrhaft treffendes Werk, zuweilen sogar tiefgründig, an vielen Stellen großartig geschrieben, aber dennoch das Gefühl von Überdruß und Übermaß hinterlassend; »Studien zur Kritik der Moderne«13 , seine beste Arbeit, voller scharfer Beobachtungen und starker Bilder, ein Werk, das einen bedeutenden Einfluß auf die heutige Literatur ausgeübt hat; schließlich »Renaissance«, eine neue Sammlung von Aufsätzen, die wunderschöne Worte über die Ruhe und 9. »Die beste Eigenschaft, die der Himmel mir gab, ist die, daß ich mich über mich selbst amüsiere«. B. Constants Adolphe [1816] liest und exzerpiert Bahr ausgiebig während einer Spanienreise im Winter 1889/90, vgl. H. Bahr, Tagebücher, Bd. 1, S. 230, 247, 297, 308. Das Zitat ist eines der zwei Motti von H. Bahr, Russische Reise, Dresden/Leipzig 1891. 10. H. F. Amiel, Fragments d’un journal intime, 2 Bde., Genf 1884, M. Bashkirtseff, Journal, 2 Bde., Paris 1887. 11. H. Bahr, Die Mutter, Berlin 1891. 12. H. Bahr, Dora, Berlin 1893. 13. Buber übersetzt den Titel verdeutlichend mit »Studien zur Kritik der modernen Kunst«.

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die Reife, über Goethe und die Selbst-Bildung enthält. Bei jedem, der sich nicht dessen bewußt ist, daß dies lediglich eine neue »Phase« darstellt, wird das Buch die Täuschung hervorrufen, daß es von einem starken, männlichen, selbstbewußten Geist erschaffen worden sei, der nach vielen Kämpfen sein eigenes S elbs t , seinen eigenen Stil und seine edelmütige Sicht aufs Leben gefunden habe. So groß ist sein schriftstellerisches Talent, so filigran ist seine Fähigkeit, seine Leser in die Irre zu führen und zu hypnotisieren, geschmiedet.

II. »Was weiss ich denn vom Menschenleben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ich hab mich so an Künstliches verloren, Dass ich die Sonne sah aus todten Augen Und nicht mehr hörte, als durch todte Ohren.« (Hofmannsthal, »Der Thor und der Tod«) 14

Hugo von Hofmannsthal ist ein junger Mann, ein sehr junger Mann aus einer adligen Familie, der beinahe kein Wissen vom Außenleben, dessen Kämpfen und Qualen, besitzt, aber dessen Innenleben reich und mysteriös ist. Er selbst empfindet, wie fremd ihm die Außenwelt, wie wenig er im herkömmlichen Sinne des Wortes »gelebt« hat. »Mein Leben?«, schrieb er mir zu Beginn dieses Jahres. »Ich weiß nicht viel mehr darüber, als daß ich 1874 in Wien geboren wurde.« 15 Man könnte ebenso gut auf ihn beziehen, was er in dem gleichen Brief über einen verwandten Dichter, Stefan George, sagt: »der beste Teil seines Lebens, ein Teil, der sehr viel wichtiger ist als das sogenannte aktive Leben, ist in seiner Dichtung enthalten.« 16 In Hofmannsthals Dichtung gibt es ein einziges Bestreben: Er möchte das Wesen des Lebens ergründen und erklären, desjenigen Lebens, das er, in sich selbst eingeschlossen, nur intuitiv kennt. Aber was uns zu seiner Dichtung hinzieht und an ihr festhält, ist ihre Form, eine derartig seltene Form, so diamanten, so majestätisch, daß niemand anders heute an ihn heranreicht, außer Gabriele d’Annunzio, an dessen Prosa Hofmannsthals melodiöse, rhythmische Prosa erinnert. Wie d’Annunzio, so debütierte auch Hoffmannsthal im Alter von siebzehn Jahren bereits als reife Person. 14. Im Original deutsch. Loris [= H. v. Hofmannsthal], Der Thor und der Tod, [in: Moderner Musenalmanach auf das Jahr 1894, hrsg. von O. J. Bierbaum, München [1894], [25]-43 =] Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 61-80: 64; 66 (Verse 55; 121-123). 15. Der Brief ist nicht erhalten, das Zitat wurde aus dem Polnischen übersetzt. 16. George war ein Freund und Förderer des jungen Hofmannsthal.

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Seine ersten Arbeiten, die unter dem Pseudonym »Loris« veröffentlicht wurden, waren Kritiken von Bourgets »Physiologie der Liebe« und Bahrs »Die Mutter«.17 Diese zwei psychologischen Meisterwerke zeugen beide von einer schrecklich frühen Reife und einer weichen, unmännlichen Mattigkeit. Seither sind Hofmannsthals Arbeiten von Zeit zu Zeit in Zeitschriften erschienen. Jede von ihnen war ein Kleinod, aber jede enthielt dieselbe Reife, der Entwicklung unfähig, und dieselbe Mattigkeit. Während der italienische Dichter selbst diese eigentümlich Reife irgendwie überwand, indem er sich beständig neue, höhere Ziele setzte, gelangt Hofmannsthal nie über sich selbst hinaus, kämpft nie für sein Ich; alles, was sich in ihm entfaltet sind äußere Dinge, nämlich Ansichten, Form; seine Seele bleibt stets unverändert, die zarte, müde Seele eines Aristokraten, der vom Leben nicht gekostet hat und der nichts mehr von ihm verlangt. In seiner Dichtung finden wir selten den Ausdruck eines Gefühls; es gibt zumeist geistige Themen, denen sich der Dichter beinahe verzweifelt nähert, ohne einen starken Glauben an die Möglichkeit, sie zu lösen. Wie Bahr besitzt er einen außergewöhnlich subtilen Sinn für minutiöse psychische Nuancen, für die schwankenden Erscheinungen des Nervenlebens. Und wie Bahr tastet er nicht nach Worten; jeder Gedanke kleidet sich ihm in ganzen, edlen Worten. Dennoch hat Hofmannsthal etwas, das Bahr nicht besitzt: die heilige Aufrichtigkeit und Würde eines modernen Adepten von Homer, der für den großen Epos unserer Zeit Kadenzen sammelt. Er hat Augenblicke, in denen es in der Tat scheint, als schaute er ins Herz des Universums und entnähme daraus dunkle, prophetische Lektionen. Nebst seiner Dichtung besitzen wir eine gewisse Anzahl von Kritiken, die von Hofmannsthal geschrieben wurden. Diese sind um so origineller und wichtiger, weil sie nur die internen, geistigen Elemente eines Werkes einfangen. Die beste darunter ist die wahrlich klassische Deutung von d’Annunzios Roman »Le vergini delle rocce«.18 Danach gibt es seinen in Versen verfaßten Ein-Akter »Gestern«, in welchem der Träumer Andrea auf dem Hintergrund der späten Renaissance erscheint, die in schimmernden Bildern dargestellt wird. Sein Lehrsatz ist es, das Gewesene zu vergessen, den gegenwärtigen Augenblick zu verherrlichen, die absichtliche Unbeständigkeit zu vergöttern. Aber das Leben lehrt ihn die 17. P. Bourget, Physiologie de l’amour moderne, Paris 1891, vgl. »Zur Physiologie der modernen Liebe«, [Die Moderne 1, Nr. 2/3 vom 8. 2. 1891, S. 46-49 =] Gesammelte Werke. Prosa I, Frankfurt a. M. 1956, S. 7-13. Zu Bahrs Mutter, vgl. »Die Mutter«, [Moderne Rundschau 3, 2. Heft vom 15. 4. 1891, S. 75-77 =] Prosa I, S. 15-21. 18. [H. v. Hofmannsthal], »Der neue Roman von d’Annunzio«, [Die Zeit 6, Nr. 67 vom 11. 1. 1896, S. 25-27 =] Prosa I, S. 233-241.

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schmerzhafte Lektion, daß das Gestern in unseren Seelen ist und das wir ihm nicht entkommen können; wir können nicht für den gegenwärtigen Augenblick leben, weil unser Leben eins ist, alle Augenblicke miteinander verbunden sind und aufeinander einwirken. Dieser stolze »Lebenskünstler« muß bekennen: »Und heute – gestern ist ein leeres Wort. Was einmal war, das lebt auch ewig fort.« 19 Hofmannsthals tiefgründigste und wahrhaftigste Arbeit ist »Der Thor und der Tod«, ein Gedicht, das den Namen »eine Legende unserer Seele« verdient hat. Claudio, ein junger Adelsmann, erkennt in seiner letzten Stunde die Nutzlosigkeit und Eitelkeit seiner eigenen Vergangenheit, die er in Gesellschaft seines eigenen Ich verbracht hatte. Er wird gewahr, daß er trotz der Erlesenheit und Vielfältigkeit seines geistigen Lebens, überhaupt nicht gelebt hat, da er das Leben nur von seinem Bereich außerhalb davon betrachtet und sich nie darin verloren hat. Er hat nie andere am Überfluß seiner Seele teilhaben lassen, seinen Geist nie mit dem der anderen in der Liebe verquickt. Dann erscheint die Gestalt des Todes vor ihm, um seine Mutter, seine Geliebte, seinen Freund aus dem Grab herbeizurufen. Sie enthüllen ihm das Leben, daß er erlebt hätte, wenn er mit ihnen gefühlt hätte, sie geliebt hätte. Claudio dankt dem Tod für diese große letzte Stunde, die ihm mehr gegeben hat als all die vergangenen Jahre, und er stirbt in süßer Verzückung.

III. »Ich bin ein Sucher, ein Nicht-Finder, ein RuheStörer, ein Bewegung-Bringer.« (Altenberg, »Wie ich es sehe«) 20

Peter Altenberg, dessen Arbeit »Wie ich es sehe« einen solchen Aufruhr in Europa erregte, und der, wie jede starke Persönlichkeit, von einigen Menschen verspottet wird, während anderen ihn zum Himmel loben, gehört zu einer anderen Welt als Bahr und Hofmannsthal. Seine »qualité maîtresse«, die Eigenschaft, die ihn groß und kraftvoll macht, ist die Liebe, eine grund- und grenzenlose Liebe für die ganze Welt, für lebendige und tote Wesen, für spielende Kinder, für frische Rosen, für melancholische Tiere und für untergehende Sonnen. Was immer er sieht, beschenkt er 19. Theophil Morren [= H. v. Hofmannsthal], Gestern. Studie in einem Akt in Reimen, [Moderne Rundschau 4, 2. Heft vom 15. 10. 1891, S. 49-54 u. 3. Heft vom 1. 11. 1891, S. 87-92 =] Sämtliche Werke, Bd. 3., S. 5-35: 35 (Verse 627 f.). 20. Im Original deutsch, vgl. P. Altenberg, Wie ich es sehe, Berlin 1896, S. 162 [= Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 138].

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mit seiner Liebe; es ist, als ob er das Leuchten seiner Seele über alle Erscheinungen strömen ließe, und dann, wenn sie in seinem Licht erstrahlen, betrachtet er sie mit großem Gefallen. Eine derartige Liebe ist ein Gefühl, das Bahr und Hoffmansthal nicht haben und nicht haben können, aber – dies ist die eigentümliche und traurige Sache – Altenberg möchte wie sie sein. Er sieht in ihrem fahlen Leben etwas Schönes und imitiert sie. Er strebt danach, seine Liebe zu verbergen, er täuscht Mattigkeit, Kraftlosigkeit und Dekadenz vor, er nimmt den ironischen Ton des Salons an, der leicht und nachsichtig lächelt, aber kein volles, göttliches Lachen kennt. Altenberg kennt hingegen dieses göttliche Lachen, kennt den Zorn, der so zerstörerisch wie ein Orkan sein kann, und Leidenschaft, die wie ein Samum brennt.21 Er war ursprünglich eine dieser Dantischen Seelen, die die ganze Welt mit einem klaren und vorwurfsvollen Auge betrachten. Aber unsere Zeiten, welche die Menschen klein und schwach machen, haben diese schöne Seele verbogen und den Heiligenschein des Apostels von seiner Stirn genommen. Mit einiger Berechtigung könnte man von Altenberg sagen, was Krasinski einmal in einem Brief mit weniger Berechtigung über Goethe sagte: daß er ein Feigling war, weil er in seinen Werken nicht all seine Qual und all seine Leidenschaft darbot. 22 Aber wir, die ein Kunstwerk als etwas betrachten, das den Geist desjenigen ausdrückt, der es geschaffen hat, und versuchen, die Ganzheit dieses Geistes gleichermaßen aus dem sichtbaren und sich im Werk manifestierenden sowie aus dem versteckten und unterdrückten zu verstehen, wir lesen aus Altenbergs Essays viel mehr als das, was in ihnen geschrieben steht. Wir lesen all jene Gefühle, die in den Tiefen seiner Seele schlummern; inmitten der Ruhe dieser Gedichte lesen wir die Bewunderung für das stürmische, üppige, überfließende Leben; in ihrer vorgetäuschten Resignation lesen wir den Wunsch nach großen Revolutionen, überschwenglichen Hoffnungen, eine Sehnsucht nach einer »neuen Rasse« von Übermenschen, deren Herannahen wir beschleunigen sollten; in ihrer vorgetäuschten Abwesenheit des Gefühls lesen wir eine leidenschaftliche universelle Liebe für Engel und Gewürm. Der Kritiker in uns mag die flüchtige und unsichere Art dieser Essays, ihren unbeständigen und unordentlichen Stil mißbilligen. Aber der Künstler in uns wird den Verehrer der »schönen Bewegung« schätzen, und der Mensch steht demütig vor diesem Mann, der die ganze Natur mit seiner Liebe umfangen hat. Die Bestandteile unseres S elbs t stimmen in einem überein: daß hier vor uns 21. Samum, arab. »heißer Wüstenwind«. 22. Der polnische Dichter Krasinski schwankte Goethe gegenüber »zwischen Begeisterung und Abneigung« (Goethe-Handbuch, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 1998, S. 1177).

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ein Individuum steht, einer derjenigen, die in sich etwas neues und persönliches tragen, einer derjenigen, die der Sauerteig der Menschheit sind. Die einzigen Schriften, die bisher von Altenberg erschienen sind, ist eine Sammlung von Aufsätzen, »Wie ich es sehe«. Diese sind kleine Geschichten aus dem Alltagsleben, aber jedes alltägliche Phänomen, sogar jede Bewegung der Atome eröffnet dem Autor eine Sicht auf die ewigen Gesetze der geistigen Welt. Er beschreibt zum Beispiel, wie das Cello in einem Septett Beethovens spielt: »Das Cello singt da in ganz reiner Freude vor sich hin, es tanzt fast, ja es tanzt wie die kleinen Mädchen, die sich die Schürzen halten, auf den Wiesen tanzen. Dann aber breitet das Cello plötzlich ein Paar Flügel aus und schwingt sich in die Sterne …« 23 Oder er beschreibt, wie ein Tänzer sich bewegt: »Wo ist die Bewegung hingekommen, die überall ist, wo etwas Schönes wird?! Die Schwalben zum Beispiel, die Leoparden, die Dichter – ! Die Griechen liefen und die Erde rennt wie rasend um die Sonne und um sich. Darum ist das Alles schön. Auch das Wasser rennt, fliegt. Und wenn es nicht fliegt, wird es ein Sumpf. Wir aber sind schwerfällige Wesen – – –.« 24 Und so ist es immer; wir fühlen jedesmal, daß uns die Seele jedes Dings offenbart wird. Folglich erzeugen die Bilder, die Altenberg vor uns ausbreitet, einen ganz anderen Eindruck als wenn sie von der Hand des Realisten gezeichnet wären. Sie werfen Fragen auf, die wir uns oft in einsamen Stunden gestellt haben; sie enthüllen die tiefsten Geheimnisse unserer eigenen Seelen. In ihnen allen steht die Figur des Autors im Vordergrund. Und wenn wir aus bestimmten Zügen ein Bild des Dichters zu erschaffen vermögen, mit dem Gesicht eines Tartars und dem Herzen eines Kindes, dann strömt von dieser Figur so viel Wärme über uns herein, daß die Essays, scheinbar glatt und eisig, die sonnigen Farben des Lebens annehmen.

IV. »Und das macht mir das Leben so vielfältig und wandlungsreich, dass mir eine Farbe die ganze Welt verändert.« (Schnitzler, »Anatol«) 25

Wenn wir diese drei Schriftsteller zu Typen erheben, dann können wir Bahr als einen Literaten bezeichnen. Das heißt, ein Mann, der die Welt 23. Altenberg, S. 70 [= 57]. 24. Altenberg, S. 84 [= 69]. 25. Im Original deutsch, vgl. A. Schnitzler, Anatol, [Berlin 1893, S. 61 =] Gesammelte Werke 2.I, S. 9-106: 46.

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subjektiv sieht, sie als ein Feld für sich selbst und seine Entwicklungen betrachtet, als eine Ansammlung von sowohl geeigneten Themen und Augen und Ohren, die seine Betrachtungen zu diesen Themen wahrnehmen können. Wir können Hofmannsthal als einen Dichter bezeichnen (das deutsche Wort »Dichter« 26 gibt die Nuance besser wieder als das griechische »Macher« 27 ), das heißt, einen Träumer, der über die Dissonanz zwischen der äußeren Welt und seinem geistigen Leben trauert, weil seine Seele hier keine Heimat findet und sich danach sehnt. Wir können Altenberg als einen Denker bezeichnen, der diese Dissonanz überwindet, indem er die Welt als universellen Stoff sieht, der in eine Unendlichkeit von Leben fließt. Sein Geist schöpft aus diesem Stoff die geheimen Gesetze ihrer Existenz. Wenn wir jedoch von Schnitzler sprechen, kommt ein Wort über unsere Lippen: Künstler. Bahr zeigt zweifellos größeres Geschick; Hofmannsthal eine schönere Form; Altenberg tiefere Gedanken; und alle drei einen weiteren Horizont. Dennoch kann man sie nicht als Künstler bezeichnen. Es fehlt ihnen etwas Undefinierbares, das wir, nicht sehr genau, als das kreative Element bezeichnen. Schnitzler ist auch einer derjenigen, die man stärker liebt als bewundert, weil seine Werke in uns die Erinnerung an die Tage unserer Lieben und Liebschaften wecken. Vergessene Gestalten stehen in einem neuen Licht, das heller als jemals zuvor scheint; vergessene Augenblicke nehmen eine neue Existenz in uns an, oft so bewegend und schön wie damals, als wir sie erlebten, dennoch in das Land der Kunst emporgehoben, wo unsere leidenschaftlichen Küsse und bitteren Tränen sich einer Bewußtwerdung der Täuschung und der Verstellung unterziehen. Hofmannsthal hat eines von Schnitzlers Werken als »Frühgereift und zart und traurig, / Die Komödie unsrer Seele« bezeichnet. 28 Dies ist, was alle seine Werke sind. Ihre Haupteigenschaft ist, daß jedes unserer Gefühle, jedes Verlangen, jede Leidenschaft in einer milden und gezähmten Form vorgeführt wird, so daß wir nie die Überzeugung verlieren, daß all diese Leidenschaften nichts als eine schöne Täuschung sind. Diese Fähigkeit, den Leser beständig in einem rein ästhetischen Zustand zu bewahren, ist so durch und durch griechisch, daß wir bewundernd suchen, und uns fragen, ob jemand anders in unserer »Epoche« sie in solcher Vollkommenheit besitzt. Zweifellos fehlen Schnitzler die Stimmen der Bronze und des Feuers, aber es wurde ihm die Kraft gegeben, die bei26. Im Original deutsch. 27. Vgl. Plato, Symposion, 205bc. 28. H. v. Hofmannsthal, »Prolog zu dem Buch ›Anatol‹«, [in: A. Schnitzler, Gesammelte Werke 2.I, S. 11 f. = H. v. Hofmannsthal,] Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 24 f.: 25 (Verse 59 f.).

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den in einer Einheit zu verbinden, die wir Wirklichkeit nennen und die wir Täuschung nennen. Dies ist der Grund, warum wir ihn mit dem Namen des Künstlers grüßen, diesem viel mißbrauchten Namen wieder seinen ehemaligen Ruhm und seine einstige Seltenheit zurückgeben. Für ihn existiert die Dissonanz zwischen der äußeren und der inneren Welt überhaupt nicht. Er wischt die Grenze zwischen ihnen aus, atmet die Natur in sich ein und bringt sich selbst der Natur dar. Über alles läßt er die süße Harmonie fließen, die er seiner Seele entnommen hat. Von Schnitzlers Werken scheinen mir die hervorragendsten, obgleich nicht die perfektesten, die folgenden zu sein: »Anatol«; in allen sieben Szenen ist der Protagonist ein »leichtherziger Melancholiker« und neben ihm sind Frauen und ein Freund, welche die Rolle des griechischen Chors spielen. Die Gattung dieses Buches ist recht verschieden von derjenigen, der französischen causeries, mit denen es verglichen worden ist. Diese Pariser Plaudereien sind flüchtig; sie amüsieren, sie ziehen einen in den Bann, aber sie lassen im Herzen nichts zurück. Aber »Anatol« fesselt und hält gefangen; Bilder daraus formen sich im Gedächtnis und kehren oft wieder, evozieren jedesmal den gleichen süßen Zustand »leichtherziger Melancholie«. »Anatol« besitzt einige der Eigenschaften dieser großen, monumentalen Werke, die wie »Werther« oder »Childe Herold« die kranken und feinen Seelen einer bestimmten Ära heraufbeschwören. 29 Leider löst die Abwesenheit starker, leidenschaftlicher Töne in uns das Gefühl aus, daß viele Dinge ungesagt geblieben sind. Zwei von Schnitzlers späteren Werken weisen eine vollkommenere Form auf, aber besitzen nicht die allgemeine Wichtigkeit von »Anatol«: »Liebelei«, eine Tragödie der weiblichen Seele, ein Werk, das in seiner tiefen Einfachheit schön ist. 30 »Liebelei« wird von einem allzu unwirksamen Schluß verdorben, ist technisch nicht ganz befriedigend und ist dennoch aufgrund der einen Gestalt der Christine, die warm, frisch und einnehmend wie kaum eine andere Gestalt in der zeitgenössischen Literatur ist, unsterblich. Und es gibt »Sterben«, dessen Titel einen Vergleich mit »Tod« von Dombrowski nahelegt.31 Letzteres Werk ist hauptsächlich eine großartige Psychologie eines Individuums, eine meisterhafte Verdichtung der gesamten Vergangenheit eines Patienten in wenige Augenblicke der Erinnerung, eine Beschreibung seines Leidens, seines Ringens, seiner Hoffnungen und Verzweiflung im Sterbebett, die nur ihm allein 29. J. W. Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, Leipzig 1774, G. Byron, Childe Harold’s Pilgrimage, London 1812-1818. 30. A. Schnitzler, Liebelei, [Berlin 1895 =] Gesammelte Werke 2.I, S. 205-267. 31. A. Schnitzler, Sterben, [Berlin 1894 =] Gesammelte Werke 1.I, S. 9-117. I. Donbrowski, Der Tod, [1896] (= Smieri [1892]).

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gehören. In Schnitzlers Werk ist die Einzigartigkeit des Individuums beinahe völlig ausgelöscht. Es ist nicht Cajus, sondern der Mensch im allgemeinen, der Mensch, der stirbt. Die grausamste Gestalt, die der Selbsterhaltungsinstinkt vor dem Tod in der Gattung des Homo sapiens annehmen kann, wird von der sicheren, aber dennoch weichen und sanftmütigen Hand des Künstlers enthüllt – des Künstlers, dessen Kraft uns selbst in seinen geringsten Geschichten in Entzücken versetzt. Von diesen sind insbesondere zwei echte Perlen: »Ein Abschied« und »Die Frau des Weisen«.32 Ihre ehrbarste Eigenschaft ist die wunderbare Verquickung der gewaltsamsten Gefühle und der tiefgründigsten Mysterien mit den scheinbar leeren Ereignissen des Alltags, auf eine Weise, die uns an Ibsens beste Stücke erinnert. 33

32. A. Schnitzler, »Ein Abschied«, [Neue Deutsche Rundschau 7, 2. Heft, 1896, =] Gesammelte Werke 1.I, S. 130-151 und »Die Frau des Weisen«, [Die Zeit 10, Nr. 118120 vom 2., 9. u. 16. 1. 1897 =] ebd., S. 262-277. 33. Henrik Ibsen kam Anfang April 1891 zur Premiere eines seiner Stücke nach Wien. Die Moderne Rundschau berichtete darüber ausführlich, vgl. JW I, S. lxii.

Zu Schopenhauers Lehre vom Erhabenen

1. Historische Entwicklung In der Entwicklung der Lehre vom Gefühl des Erhabenen lassen sich zwei parallelgehende Betrachtungsweisen unterscheiden. Die eine, welche man die monistische nennen kann, scheidet die Begriffe des Schönen und des Erhabenen nicht streng von einander, sondern hält beide für Erscheinungsformen derselben ästhetischen Kategorie und die ihnen entsprechenden Gefühle für nicht wesentlich verschieden; die andere, dualistische, trennt die beiden Begriffe und führt sie auf verschiedene psychische Quellen zurück. Schon im Altertum sehen wir neben Plotin, der einerseits das Erhabene in seinen Schriften gar nicht erwähnt, andererseits aber unter den Beispielen für das Schöne mehrere Naturerscheinungen anführt, die wir heute entschieden erhaben nennen würden, den »Philologen« 1 Longin, der dem Erhabenen eine geistvolle und interessante Schrift widmet, in welcher er die Merkmale, welche die beiden Gefühle von einander unterscheiden, nachdrücklich hervorhebt. 2 Schon in Longinus’ Schrift »Per½ ˜vou@« ist als vornehmstes Unterscheidungsmerkmal das sturmgleiche, übermächtige Eindringen des Erhabenen auf die Seele angegeben.3 Es überwältigt den Menschen, ohne dass er ihm Widerstand leisten könnte; nicht überredet fügt man sich ihm, sondern willenlos muss man sich seiner Gewalt hingeben; »e—ge t mþn piqann £@ tÞ pollÞ ¥y3 m…n, ta‰ta dþ, dunastefflan ka½ bfflan ˝macon prosyffronta pant@ ep€nw to‰ ⁄krowmffnou kaqfflstatai«. 4 Es trifft wie ein Blitzschlag (dfflkhn skhpto‰ p€nta die1. 2.

3.

4.

[Anm. Buber:] »yillogo@ mþn ¡ Lggino@, yilsoyo@ dþ o'dam@«, Plotinus [= Porphyrius, Leben Plotins, S. 14, 19 f.]. Vgl. Plotin, Enneaden 1. Buch, Abschnitt 6 (»Über das Schöne«) und 5. Buch, Abschnitt 8 (»Über die geistige Schönheit«). 1. Buch, Abschnitt 6,1 ist von dem nächtlichen Blitz und den Sternen die Rede. Letztlich wird aber »die innere Schönheit« der Seele als Ausdruck der im Irdischen sichtbaren Idee betont, vgl. ebd., 5. Buch, Abschnitt 8, 2. Der Verfasser der Schrift Perì Hpsous, »Vom Erhabenen«, ist unbekannt, wird aber, wegen einer Angabe am Titelblatt der einzig erhaltenen Handschrift, »(Pseudo-)Longin(us)« genannt. Datiert wird das Werk in das 2. Drittel des 1. Jh. n. Chr, vgl. Longin, Vom Erhabenen, S. 135 f. Longin, Abschnitt 1 (4): »[es] hängt [aber] die Wirkung des Überzeugenden meist von uns ab, während das Großartige unwiderstehliche Macht und Gewalt ausübt und jeglichen Hörer überwältigt«.

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yrhsen). 5 Die Seele wird durch das Erhabene angespannt und mit einer gewissen Art von Edelmut (megalaucffla; Walter, »Geschichte der Aesthetik im Altertum, übersetzt »Selbstschätzung«) belebt, als wenn sie selbst gethan hätte, was sie hört (£@ a't¼ gennffisasa ˆper ˇkousen). 6 Das Subiect erweitert also seine Individualität in dem Grade, dass sie Alles umfasst und so mit dem Obiecte verschmilzt. Man wird an Goethes Wort über das Erhabene (in den Briefen aus der Schweiz) erinnert: »Der Mensch glaubt verloren zu haben, er hat aber gewonnen. Was er an Wollust verliert, gewinnt er an innerem Wachstum.« 7 Durch dies »Weltauge«Werden des Individuums werden alle individuellen Gegensätze ausgeglichen und das Erhabene muss daher immer und Allen gefallen.8 – Auch auf das Unendliche als Quelle des Erhabenen weist Longinus hin. Er führt die wundervollen Worte Homers an: »ˆsson d3 ƒeroeidþ@ ⁄n¼r —den ¤fqalmo…sin[,] `meno@ ¥n skopi–», leÐsswn ¥p½ o—nopa pnton, tsson ¥piqrðskousi qen ¢vhcffe@ —ppoi[.] 9

u[nd] bemerkt, der Dichter messe den Sprung der Rosse mit einem kosmischen Maasse (kosmik† diastffimati) und man sehe es: für einen zweiten wird die Welt keinen Raum mehr haben.10 Infolge einer in unsere Seelen gelegten Liebe zum Überweltlichen, eines Strebens alle Schranken zu durchbrechen und zu durchfliegen, genüge der menschlichen Vernunft die ganze Welt nicht, sondern die Gedanken schweiften selbst noch über die alles umfassenden Grenzen hinaus. Dem Zuge dieser Gedanken folgend, vergessen wir, dass wir Menschen, d. h. schwache, beschränkte Menschen sind, und behalten nur das in unserer Natur im Auge, was uns zur Würde der Götter erhebt. (xxxv. xxxvi. 1.) 11 Mit dem Verfalle der Aesthetik geräth auch die Lehre vom Erhabenen in Vergessenheit, besonders die dualistische Theorie, als die auf tiefer5. Ebd.: [alles] wie ein plötzlich zuckender Blitz durchteilt. 6. Longin, Abschnitt 7 (2): »als hätte sie selbst geschaffen, was sie hörte«. J. Walter, Die Geschichte der Aesthetik im Altertum, S. 840. 7. J. W. Goethe, Briefe aus der Schweiz, zweyte Abteilung [1779], Bd. 2.2, S. 595-647: 596. 8. »Weltauge« bedeutet ein »weltaufgeschlossenes, allumfassendes Auge« (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 28, München 1984, Sp. 1540). Buber übernimmt den Ausdruck von A. Schopenhauer, vgl. ders., Bd. 1: Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 253: »als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge«. 9. Longin, Abschnitt 9 (5): »Weit wie ein Mann die luftige Ferne durchspäht mit den Augen, Der von hoher Warte hinaus aufs dunkle Meer sieht, So weit greifen im Sprung die wiehernden Pferde der Götter« (= Homer, Ilias 5. Buch, Verse 770-772). 10. Ebd.: »mit der Weltweite«. 11. Longin, Abschnitt 35-36 (1).

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gehenden psychologischen Voraussetzungen beruhende. Erst im 18. Jahrhundert wird sie durch den berühmten Parlamentsredner Edmund Burke in seiner Schrift »A philosophical inquiry into the origin of our ideas of the sublime and beautiful« (1757) wieder aufgenommen.12 Er stellt vor Allem die Forderung auf, dass die Gefühle des Schönen und des Erhabenen von verschiedenen Grundkräften der Seele abzuleiten seien, und führt das erstere auf den Geselligkeitstrieb, das Letztere auf den Selbsterhaltungstrieb zurück. Die Quelle des Erhabenen müssen die stärksten »Bewegungen« sein, deren die Seele fähig ist, diese aber sind die durch die Vorstellung von Schmerz erzeugten, welche (darin erinnert Burke schon an einen Grundgedanken Schopenhauers) weit mächtiger sind als die, welche die Vorstellung der Lust mit sich bringt. Daher ist besonders geeignet, das Gefühl des Erhabenen hervorzurufen, »whatever is fitter in any sort to excite the ideas of pain and danger«. 13 Sowohl Schmerz aber als [auch] Gefahr sind unfähig, uns zu gefallen, wenn sie auf uns zu nahe eindringen, und sind dann »bloss und durchaus schrecklich«, in gewisser Entfernung jedoch und »mit gewissen Einschränkungen können sie ergötzen«, nämlich wenn wir die Vorstellung von Schmerz und Gefahr haben, ohne uns selbst in einem schmerzlichen oder gefahrvollen Zustande zu befinden.14 Dieses Gefühl der Sicherheit wird später von Kant betont, wenn er hervorhebt, dass die Natur, als Gegenstand der Furcht betrachtet, nur insofern erhaben ist, als wir uns dabei in Sicherheit befinden.15 Wir werden sehen, in welche Widersprüche sich Schopenhauer durch Fallenlassen dieses Momentes verwickelt hat. – Das Wohlgefallen nun, welches aus der Summe der erwähnten Gefühle entspringt, ist, wie Burke weiter ausführt, nicht eine ungemischte Freude (»unmixed delight«), sondern »blended with no small uneasiness.«16 Das Erhabene wirkt zuerst niederdrückend auf uns, um uns dann durch eine seltsame Gefühlswendung über die Depression zu erheben. Dies erinnert an die Kantsche Definition des Gefühls des Erhabenen als »einer Lust, welche nur indirecte entspringt, nämlich so, dass sie durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkeren Ergiessung derselben erzeugt wird.« 17 Die psychologischen Widersprüche der Burke’schen Theorie hat Robert Zimmermann (»Aesthetik«, Bd. I., S. 265 ff.) einge12. E. Burke, A Philosophical Inquiry [=Philosophische Untersuchungen]. 13. E. Burke, S. 39 [= 52: »Alles, was auf einige Weise geschickt ist, die Vorstellungen von Schmerz und Gefahr zu erregen«]. 14. E. Burke, S. 40 [= 53]. 15. Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft [1790] = KdU, S. 261 f. 16. E. Burke, S. 46 [= 65: »Es ist nicht reines lauteres Vergnügen, das wir dabei genießen, sondern mit einer merklichen Unruhe vermischtes Vergnügen«]. 17. KdU, S. 245.

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hend besprochen. 18 Ungeachtet dieser Widersprüche übte sie auf die Folgezeit, vornehmlich auch auf Kant, der sie »überaus schön« findet, und Schiller einen grossen Einfluss aus. 19 – Das Bedeutendste aber in Burke’s Schrift ist derjenige Teil derselben, der bisher von den Historikern der Aesthetik am wenigsten beachtet wurde, dessen Nachwirkungen jedoch bei Kant und Schopenhauer sehr deutlich sind: die Betrachtungen über das Gefühl des Unendlichen als Erhabenheitsgefühl.20 Wir finden hier schon die Erklärung des scheinbar Unendlichen aus der Beschränktheit unserer Sinne und der Aufeinanderfolge von Teilen eines grossen Gegenstandes in einer so unbestimmten Zahl, dass die Einbildungskraft durch nichts aufgehalten wird, diese Reihe noch weiter fortzusetzen; vor Allem aber die Ableitung des Unendlichkeitsbegriffs aus den Principien der Continuität und Homogenität (»succession and uniformity of parts are what constitu[t]e the artificial infinite« II. 9) und die Entwicklung dieser Prinzipien in völlig modernem Sinne. 21 Gleichzeitig erörtert Mendelssohn eine andere Seite desselben Gegenstandes. »Das Unendliche«, sagt er (Werke Bd. III. S. 32), »das wir zwar als ein Ganzes betrachten, aber nicht umfassen können, erregt eine vermischte Empfindung von Lust und Unlust. Die Grösse des Gegenstandes gewährt uns Lust, aber unser Unvermögen, seine Grenzen zu umfassen, vermischt diese Lust mit einiger Bitterkeit, die sie desto reizender macht.« 22 Das Gefühl der Lust erklärt Mendelssohn aus einer erhöhten Beschäftigung unserer Vorstellungsthätigkeit. Die verstreuten Anregungen dieser Männer und ihrer Nachfolger (wie 18. 19. 20. 21.

R. Zimmermann, Aesthetik, S. 258-273 (zu Burke insgesamt). KdU, S. 277. E. Burke, S. 73 f. [= 113 ff.], vgl. KdU, S. 254-256. E. Burke, S. 74 [= 115: »Succeßion und Einförmigkeit der Theile ist das, woraus das künstlich unendliche besteht«]. 22. M. Mendelssohn, Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen [1771], in: Sämmtliche Werke, 3. Bd., Ofen 1819, S. 1-82: 32 [= Jubiläumsausgabe Bd. 1, Stuttgart/Bad Cannstadt 1971, S. 381-424: 398]: »Das Unermeßliche, das wir zwar als ein Ganzes betrachten, aber nicht umfassen können, erregt gleichfalls eine vermischte Empfindung von Lust und Unlust, die Anfangs ein Schauern, und wenn wir es zu betrachten fortfahren, eine Art von Schwindel erregt. Diese Unermeßlichkeit mag in einer ausgedehnten, oder unausgedehnten, in einer stetigen, oder unstetigen Größe bestehen; die Empfindung ist in allen diesen Fällen die nehmliche. Das große Weltmeer, eine weit ausgedehnte Ebene, das unzehlbare Heer der Sterne, die Ewigkeit der Zeit, jede Höhe oder Tiefe, die uns ermüdet, ein großes Genie, große Tugenden, die wir bewundern, aber nicht erreichen können, wer kann diese ohne Schauern anblicken, wer ohne angenehmes Schwindeln zu betrachten fortfahren? Diese Empfindung ist von Lust und Unlust zusammengesetzt. Die Größe des Gegenstandes gewähret uns Lust, aber unser Unvermögen, seine Grenzen zu umfassen, vermischt diese Lust mit einiger Bitterkeit, die sie desto reizender machet.«

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Eberhard, Jerusalem, Hugh Blair) fasst Kant in seiner »Kritik der Urteilskraft« zusammen.23 Das, was in uns das Gefühl des Erhabenen erregt, erscheint nach ihm »zweckwidrig für unsere Urteilskraft, unangemessen unserem Darstellungsvermögen und gleichsam gewaltthätig für die Einbildungskraft« und bereitet daher Unlust; 24 zugleich weckt es aber auch Lust »aus der Übereinstimmung eben dieses Urteils der Unangemessenheit des grössten sinnlichen Vermögens mit Vernunftideen.«25 Es ist also die überlegene Grösse des eigenen Subiects als Vernunftwesens, welche Wohlgefallen erregt. – Kant unterscheidet das Mathematisch-Erhabene, dessen Maasstab unsere Anschauung und Einbildungskraft ist, das sich daher auf unsre »Intelligenz« bezieht, und das Dynamisch-Erhabene, dessen Maasstab unsere Widerstandskraft ist, das sich daher auf unsren Willen bezieht. Das Mathematisch-Erhabene ist das, »mit welchem in Vergleichung alles Andere klein ist«; 26 es erweckt ein Lustgefühl durch die Gegenwärtigkeit der Vernunftidee des Unermesslichen als einer Grösse, welche auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweist, das jeden Maasstab der Sinne übertrifft. Im Dynamisch-Erhabenen erscheint die Natur als furchterregende Macht, gegen die kein Widerstand möglich ist, der gegenüber wir uns aber zugleich durch unsere moralische Unabhängigkeit überlegen und daher über sie erhoben fühlen. Im Ganzen kann man daher erhaben das nennen, was durch den Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar und notwendig gefällt, weil wir uns zwar als Sinnenwesen vernichtet fühlen und ohnmächtig verschwinden, uns aber andererseits als »übersinnliche, intelligible, vernünftige oder rein moralische« Wesen erkennen. »Erhaben ist, was uns erhebt«, d. h. unsere Vernunft über unsere Sinnlichkeit erhebt. 27 Weil aber hier »das sinnliche Vermögen überwältigt und niedergeworfen« wird, um das übersinnliche zu erheben und aufzurichten, ist das Gefühl des Erhabenen, welches so aus einem raschen Wechsel von Unlust und Lust besteht, eine bei weitem stärkere Gemütsbewegung als das Gefühl des Schönen. Auch ruht, wie aus dem Gesagten hervorgeht, das Erhabene fast ausschliesslich 23. Johann August Eberhard, Theorie des Denkens und Empfindens, Berlin 1776, Karl Wilhelm Jerusalem, Philosophische Aufsätze, hrsg.von G. E. Lessing, Braunschweig 1776, Hugh E. Blair, Lectures on Rhetoric and Belles-lettres, Philadelphia 1784. Zum Erhabenen in KdU, vgl. S. 244-278. 24. KdU, S. 245. 25. KdU, S. 257. 26. KdU, S. 250. 27. Vgl. KdU, S. 256: »Wer wollte auch ungestalte Gebirgsmassen, in wilder Unordnung über einander gethürmt, mit ihren Eispyramiden, oder die düstere tobende See u. s. w. erhaben nennen? Aber das Gemüth fühlt sich in seiner eigenen Beurtheilung gehoben«.

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im Subiecte und wird erst »durch eine gewisse Subreption« ins Obiect verlegt.28 Die Gedanken Kants werden von Schiller weiter ausgeführt. Wir zittern vor einer furchtbaren Macht und fühlen uns doch zugleich erhaben, weil wir uns bewusst werden, dass wir auch selbst als ein Opfer dieser Macht für unser freies Selbst, für die Autonomie unserer Willensbestimmungen nichts zu fürchten haben werden. Wir fühlen uns beim Genuss des Erhabenen frei, »weil die sinnlichen Triebe hier gar keinen Einfluss auf uns haben, weil der Geist hier handelt, als ob er unter keinen anderen, als seinen eigenen Gesetzen stünde.« 29 Das Gefühl des Erhabenen ist aus Wehsein und Frohsein zusammengesetzt; daraus geht hervor, dass wir in zwei verschiedenen Verhältnissen zu ihm stehen, dass also die Gesetze der Natur nicht notwendig auch die unsrigen sind und dass wir »ein selbständiges Principium in uns haben, welches von allen sinnlichen Regungen unabhängig ist.« 30 Schiller nimmt die Kantsche Einteilung auf, indem er ein Theoretisch-Erhabenes, das aus der feindlichen Beziehung des Gegenstandes zu unserer Fassungskraft, mithin zu unserem Vorstellungstriebe, und ein Praktisch-Erhabenes, das aus der feindlichen Beziehung des Gegenstandes zu unserer Lebenskraft, zu unserem Selbsterhaltungstriebe entsteht. Wir erliegen an dem Versuch, uns von dem ersten eine Vorstellung zu machen. Wir erliegen an dem Versuch, uns der Gewalt des zweiten zu widersetzen. Der sichere Gedanke an die Vernünftigkeit und Unzerstörbarkeit unseres Wesens bleibt uns gewahrt, und er bedeutet einen Triumph, der uns über alle Niederlagen unserer Sinnlichkeit hinaushebt. Schopenhauers Ideen schliessen sich unmittelbar an die Kants und Schillers an.

2. Schopenhauers Theorie Schopenhauer erklärt das Erhabene aus seiner allgemeinen ästhetischen Theorie heraus, indem er jedoch die Grundauffassung und Systematik seiner Vorgänger im Wesentlichen beibehält.31 Das Gefü hl 32 des Schönen wird in uns geweckt, wenn die Gegenstän28. KdU, S. 257 (Subreption = Verwechslung). 29. F. Schiller, Über das Erhabene [1801], Bd. 5, S. 792-808: 796: »wir fühlen uns frei beim Erhabenen, weil die sinnlichen Triebe auf die Gesetzgebung der Vernunft keinen Einfluß haben, weil der Geist hier handelt, als ob er unter keinen andern als seinen eigenen Gesetzen stünde.« (S. 268) 30. A. a. O. 31. Vgl. Schopenhauer, Bd. 1, S. 265-279. 32. [Anm. Buber:] Das Wort »Gefühl« findet sich an d[er] betreffenden Stelle bei

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de unserer reinen und willenlosen Contemplation entgegenkommen, d. h. leicht zu Repräsentanten ihrer Ideen werden. Wenn dagegen diese Gegenstände zu unserem Willen und seiner Obiectität, unserem Leibe, in einem feindlichen, drohenden Verhältnis stehen und die Anschauung sich mit vollem Bewusstsein und gewaltsam von diesem Verhältnis abwendet, sich über die Relationen des Gegenstandes zum eignen Individuum erhebt, um sich der reinen Ideen-Erkenntnis hinzugeben, erfüllt uns das Gefühl des Erhabenen, und indem wir es auf die veranlassenden Obiecte übertragen, nennen wir auch diese erhaben. Das feindliche Verhältnis des erhabenen Gegenstandes zu unserem Lebenswillen erinnert an Schillers Erklärung des Praktisch-(Dynamisch-)Erhabenen, in dem die Natur als Obiect der Empfindung in Widerspruch mit unserem Erhaltungstriebe erscheine, und kann in der That nur auf diese Form des Erhabenen, nicht auch auf das Mathematisch-Erhabene, wie Schopenhauer meint, bezogen werden. – Während beim Schönen das reine Erkennen leicht und ohne Kampf die Alleinherrschaft in uns gewinnt, so dass der Wille ohne Widerstand und ohne dass eine Erinnerung an ihn zurückbliebe, verschwindet, gelangen wir beim Erhabenen zu diesem Aufgehen des Subiects im Obiect erst durch »ein bewusstes und gewaltsames Losreissen von den als ungünstig erkannten Beziehungen desselben Obiects zum Willen.«33 Die Erhebung des reinen Erkennens über den Willen wird mit Bewusstsein gewonnen und erhalten und ist daher »von einer steten Erinnerung an den Willen begleitet«, und zwar nicht an das beschränkte Hoffen und Wünschen des Individuums, sondern an das grosse menschliche Wollen überhaupt. 34 In der Einteilung des Erhabenen hält Schopenhauer sich an Kant, wie er denn selbst zugiebt, die »allgemeine Methode der Untersuchung« Kant entnommen zu haben.35 Das Mathematisch-Erhabene entsteht dadurch, dass wir uns vor einer unermesslichen Grösse zu Nichts verkleinert fühlen und doch diese Unendlichkeit als unsere Vorstellung und unser Subiect als den »notwendigen, bedingenden Träger aller Welten und Zeiten« erkennen;36 das Dynamisch-Erhabene dadurch, dass das Individuum

33. 34. 35. 36.

Sch[openhauer] in diesem Sinne gebraucht: »so lange ist es bloss das Schöne, was auf uns wirkt, und Gefü hl der Schönheit, was erregt ist (I. S. 272); ebenso I. S. 272 f. »was also das Gefühl des Erhabenen von dem des Schönen unterscheidet«. Schopenhauer, Bd. 1, S. 273. A. a. O. Als Zitat nicht nachweisbar, aber vgl. Schopenhauer, Bd. 1, S. 277: »Kants Bemerkungen und seine richtige Eintheilung beibehaltend, obgleich wir in der Erklärung des innern Wesens jenes Eindrucks ganz von ihm abweichen«. A. a. O.: »Modifikationen des einigen Subjekts des reinen Erkennens, […] welches der nothwendige, der bedingende Träger aller Welten und aller Zeiten ist.«

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einer es bedrohenden ungeheuren Macht gegenüber sich als hinfällige hilflose Willenserscheinung fühlt, zugleich aber als ewiges in Ruhe beharrendes Subiect des Erkennens, »frei und fremd allem Wollen und allen Nöten«, und daher unzerstörbar. 37 Während jedoch bei Kant und Schiller das, was uns das lustbetonte Gefühl unserer Sicherheit verleiht, einerseits unsere Vernunft ist, durch die wir denken können, was die Sinne nicht mehr fassen und der Verstand nicht mehr begreift, andererseits unsere moralische Kraft und Freiheit, durch die wir wollen können, was die Triebe verabscheuen, und verwerfen, was sie begehren, verblasst bei Schopenhauer die schöne lichtvolle Sicherheit des vernünftigen und moralischen Individuums zu einer Sicherheit des erkennenden Subiects, oder richtiger zu einer schemenhaften, wesenlosen Sicherheit des ins Obiect aufgegangenen, daher subiectlosen Erkennens. Kant unterscheidet das Erhabene vom Schönen viel schärfer als Schopenhauer. Die Obiecte des Erhabenen sind nach ihm ganz andere als die des Schönen; bei letzteren ist das Wohlgefallen mit der Vorstellung der Qualität, bei ersteren mit der Vorstellung der Quantität verbunden;38 das Schöne ist der Form nach subiectiv zweckmässig und erweckt eine directe positive Lust, das Erhabene ist der Form nach zweckwidrig und erweckt eine indirecte negative Lust. Da Schopenhauer nur negative Lust, d. i. Befreiung vom Willen, kennt, verlegt er sie auch in das Gefühl des Schönen, verwirft Kants andere Unterscheidungsmerkmale und gelangt so dazu, dass als einzige Trennungsursache beider Gebiete die Bedrohlichkeit zurückbleibt, welche aber, wie wir sehen werden, keine notwendige Eigenschaft des Erhabenen ist. Mehr nähert sich Schopenhauer der Unterscheidung Schillers, der ja auch einmal von dem »Kampf der Intelligenz mit dem Leiden der sinnlichen Natur«, obgleich (selbstverständlich) in ganz anderem Sinne, spricht. 39 Bei dem Schönen, sagt Schiller, stimmen Vernunft und Sinnlichkeit zusammen; wir fühlen uns frei, weil die sinnlichen Triebe mit dem Gesetz der Vernunft harmoniren. Beim Erhabenen hingegen stimmen Vernunft und Sinnlichkeit nicht zusammen und eben in diesem Widerspruch zwischen beiden liegt der Zauber, womit es unser Gemüt ergreift; der physische und der moralische Mensch werden von einander geschieden und wir fühlen uns frei, weil die sinnlichen Triebe auf die Ge37. A. a. O. 38. Vgl. R. Zimmermann, Aesthetik, S. 402: »Das Wohlgefallen ist beim Schönen mit der Vorstellung der Qualität, beim Erhabenen dagegen mit jener der Quantität verbunden.« 39. F. Schiller, Über das Pathetische [1793], Bd. 5, S. 512-537: 522.

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setzgebung der Vernunft keinen Einfluss haben. Hier ist es also die Erhebung des Intellekts über die Sinnlichkeit, welche das wesentliche Unterscheidungsmerkmal bildet. (Von einer Erhebung über den Willen kann bei Schiller natürlich keine Rede sein, da er den Willen vielmehr neben dem Bewusstsein als das besondere Prärogativ des Menschen auffasst.) Da nun aber Schopenhauer erklärt, »moralischen Reflexionen« keinen Anteil an der Erklärung des Erhabenen zugestehen zu wollen, nimmt er sich die letzte Möglichkeit einer folgerichtigen Deutung des Erhabenen aus dem Kampfe zweier Elemente im betrachtenden Subiect. 40

3. Widersprüche Es würde über die Aufgabe dieses Versuchs hinausgehen, die allgemeinen Fragen zu erörtern, welche sich beim allgemeinen Studium der Schopenhauerschen Aesthetik aufwerfen; wie z. B.: Besteht ästhetischer Genuss wirklich in einer völlig willenlosen oder vielmehr in einer bloss interesselosen Contemplation? Kann eine Befreiung von allem Individuellen von einem Gefühl der Lust begleitet sein, da doch Gefühle das eigentlich Individuelle ausmachen, oder ist nicht vielmehr eine solche Befreiung als jenseits von Lust und Unlust liegend zu denken? – und andere verwandte Fragen. Die ihnen zu Grunde liegende Idee dürfte jedoch auch für unseren engeren Zweck wichtig sein. Es ist dies die Annahme eines »reinen, willenlosen und zeitlosen« Erkennens, welcher zwar manche normale und anormale Erscheinungen des psychischen Lebens zum Teil entsprechen, die aber in dem weiten Sinne, in dem sie Schopenhauer aufstellt, ein undenkbarer Begriff ist, der sich mit sich selbst, mit den aus ihm abgeleiteten Folgerungen und mit der Erfahrung nicht in Einklang bringen lässt. 41 Indem Schopenhauer, wie wir gesehen haben, fremde und verschiedenartige Ideen-Elemente aufnahm und dieser Annahme anzupassen suchte, entstanden die mannigfaltigen Widersprüche, welche in seiner Lehre vom Erhabenen enthalten sind. Als schöne Gegenstände bezeichnet Schopenhauer diejenigen, welche durch »die Bedeutsamkeit und Deutlichkeit ihrer Formen« uns in den ästhetischen Zustand versetzen. 42 Nach dieser Definition fährt er fort: »Wenn nun aber eben jene Gegenstände, deren bedeutsame Gestalten uns zu ihrer reinen Contemplation einladen, gegen den menschlichen 40. Schopenhauer, Bd. 1, S. 277. 41. Schopenhauer, Bd. 1, S. 269. 42. Schopenhauer, Bd. 1, S. 272.

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Willen überhaupt … ein feindliches Verhältnis haben, … nennt man den solchen Zustand veranlassenden Gegenstand erhaben.«43 Voraussetzung also für die Erhabenheit eines Gegenstandes ist eine bedeutsame und deutliche Form. Dies widerspricht aber nicht bloss unserer Erfahrung, sondern auch den meisten von Schopenhauer angeführten Beispielen, denn eine einsame Wüstengegend oder eine in Nacht getauchte Gewitterlandschaft oder die Nacht selber, welche gar »an sich erhaben«44 sein soll (Nachlass, ed. Grisebach IV. 388.), sind ohne Zweifel formlos; 45 noch formloser wohl ist das Gebrüll der geöffneten Wasserleitung des Canal du Languedoc, von dem Schopenhauer in seinen Vorlesungen (Nachlass IV. 389.) erzählte, hier werde das Gefühl des Erhabenen »durch einen bloss hörbaren Gegenstand, ohne alles Sichtbare veranlasst«, und zwar »im höchsten Grade«. 46 Schon Kant hatte ja betont, dass das Erhabene »auch an einem formlosen Gegenstande zu finden« ist. 47 – Überdies sieht man aber aus diesen Beispielen, dass die Obiecte des Erhabenen mit den Obiecten des Schönen keineswegs identisch und, wie Schopenhauer meint, nur infolge der durch »zufällige« (nicht zur Idee gehörende) Bedingungen verursachten Bedrohung unseres Willens verschieden sind. 48 43. A. a. O.: »Wenn nun aber eben jene Gegenstände, deren bedeutsame Gestalten uns zu ihrer reinen Kontemplation einladen, gegen den menschlichen Willen überhaupt, wie er in seiner Objektität, dem menschlichen Leibe, sich darstellt, ein feindliches Verhältniß haben, ihm entgegen sind, durch ihre allen Widerstand aufhebende Uebermacht ihn bedrohen, oder vor ihrer unermeßlichen Größe ihn bis zum Nichts verkleinern; der Betrachter aber dennoch nicht auf dieses sich aufdringende feindliche Verhältniß zu seinem Willen seine Aufmerksamkeit richtet; sondern, obwohl es wahrnehmend und anerkennend, sich mit Bewußtseyn davon abwendet, indem er sich von seinem Willen und dessen Verhältnissen gewaltsam losreißt und allein der Erkenntniß hingegeben, eben jene dem Willen furchtbaren Gegenstände als reines willensloses Subjekt des Erkennens ruhig kontemplirt, ihre jeder Relation fremde Idee allein auffassend, daher gerne bei ihrer Betrachtung weilend, folglich eben dadurch über sich selbst, seine Person, sein Wollen und alles Wollen hinausgehoben wird: – dann erfüllt ihn das Gefühl des Erhabenen, er ist im Zustand der Erhebung, und deshalb nennt man auch den solchen Zustand veranlassenden Gegenstand erhaben.« 44. [Anm. Buber:] Diese Bezeichnung »an sich erhaben« steht in Widerstreit mit Schopenhauers Lehre, dass kein Obiect an sich erhaben ist, sondern es nur durch Verlegung des subiectiven Gefühls in dasselbe wird. 45. Arthur Schopenhauer’s handschriftlicher Nachlaß, hrsg.von E. Grisebach, Leipzig o. J., Bd. 4: Neue Paralipomena, S. 388: »Die Nacht ist an sich erhaben.« 46. Ebd., S. 389: »So stellt sich dann das Gefühl des Erhabenen im höchsten Grade ein: dieses Mal durch einen bloß hörbaren Gegenstand, ohne alles Sichtbare veranlaßt.« 47. KdU, S. 244. 48. Vgl. Schopenhauer, Bd. 1, S. 273 f.: »Denn da [das Gefühl des Erhabenen] mit dem des Schönen in der Hauptbestimmung, dem reinen, willensfreien Erkennen und der mit demselben nothwendig eintretenden Erkenntniß der außer aller durch den Satz

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Schopenhauer nimmt ferner an, dass die erhabenen Obiecte immer ein feindliches Verhältnis zu unserem Willen haben, indem sie entweder »durch ihre allen Widerstand aufhebende Übermacht ihn bedrohen, oder vor ihrer unermesslichen Grösse ihn bis zum Nichts verkleinern« und adoptirt die Kantsche Unterscheidung des Dynamisch- und Mathematisch-Erhabenen.49 Aber es gelingt ihm nicht, diese Unterscheidung in seine allgemeine Anschauung folgerichtig einzufügen. Kant bezog nur das Dynamisch-Erhabene auf unsern Willen, das Mathematisch-Erhabene hingegen auf unsere Anschauung. Schopenhauer selbst giebt zu, dass z. B. der gestirnte Himmel nur mit seiner scheinbaren, nicht mit seiner wahren Grösse auf den Menschen wirkt (dies hatte schon Burke auseinandergesetzt) und ihm daher bloss als ein sehr hohes und weites Gewölbe erscheint. Dann muss aber auch das Individuum sich nicht mehr vor seiner Unendlichkeit bis zum Nichts verkleinert fühlen. Freilich, da alle Grösse relativ ist, fühlt es sich im Vergleich mit dieser wundergrossen Kuppel recht klein; da aber Schopenhauer unter dem menschlichen Willen im Wesentlichen nicht den Willen zur Macht und Grösse, 50 sondern den blossen Willen zum Dasein, zur individuellen Existenz versteht, ist der Wille durch dieses Gefühl der eigenen Kleinheit nicht bedroht. Gegen das »Gespenst unserer eigenen Nichtigkeit« erhebt sich nun, wie Schopenhauer meint, »das unmittelbare Bewusstsein, dass alle diese Welten ja nur in unserer Vorstellung dasind«. 51 Ich glaube: ein solches unmittelbares Bewusstsein ist erst auf einer sehr hohen philosophischen Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes möglich und es mischte sich wohl nichts davon in das Entzücken ein, mit welchem ein feingebildeter Grieche der Perikleischen Zeit eine grossartige Naturerscheinung betrachtet, wie nichts davon in dem Gefühl enthalten ist, das einem Schweizer Hirten beim Anblick der riesenhaften, vom Sonnenaufgang roten Berge die Brust schwellt. Nach Schopenhauer müssten alle erhabenen Gegenstände unseren Willen bedrohen. Dies ist aber durchaus nicht der Fall. Wenn wir den des Grundes bestimmten Relation stehenden Ideen, Eines ist und nur durch einen Zusatz, nämlich die Erhebung über das erkannte feindliche Verhältniß eben des kontemplirten Objekts zum Willen überhaupt, sich vom Gefühl des Schönen unterscheidet; so entstehen, je nachdem dieser Zusatz stark, laut, dringend, nah, oder nur schwach, fern, bloß angedeutet ist, mehrere Grade des Erhabenen, ja Uebergänge des Schönen zum Erhabenen.« 49. Schopenhauer, Bd. 1, S. 272. 50. [Anm. Buber:] Der »Wille zur Macht« Nietzsches kann sich durch eine ihn derart überragende Grösse in seinem Streben bedroht fühlen, nicht aber der »Wille zum Dasein« Schopenhauers. 51. Schopenhauer, Bd. 1, S. 277.

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Moses des Michelangelo betrachten oder die neunte Symphonie hören, durchbebt uns das Gefühl des Erhabenen, ohne dass diese Kunstwerke in irgend einem feindlichen Verhältnis zu unserem Willen stünden. Übrigens führt Schopenhauer selbst im 2. Bande seines Hauptwerkes (Grisebach, S. 440 f.) ein merkwürdiges Beispiel gegen seine eigne Theorie an: den Mond. Er nennt ihn erhaben, weil er ohne alle Beziehung zu unserem irdischen Treiben seine Bahnen durchläuft, »Alles sieht, aber an nichts Anteil nimmt«. 52 Dies stimmt zwar zu Schopenhauers Definition des erhabenen menschlichen Charakters, aber nicht zu seiner Definition des Erhabenen in der Natur. Ist der Mond mathematisch- oder dynamischerhaben? Wodurch bedroht er unseren Willen? Und findet in uns wirklich, wenn wir ihn anschauen, »ein bewusstes und gewaltsames Losreissen« des reinen Erkennens von den Beziehungen des Obiects zum Willen statt? 53 Dieses Losreissen selbst schliesst einen neuen Widerspruch ein. Schopenhauer gebraucht den Begriff des Losreissens vom Wollen an anderer Stelle (I. 267.) für die ästhetische Anschauung überhaupt, während er hier in ihm den Unterschied zwischen dem Schönen und dem Erhabenen erblickt. 54 Vor Allem aber ist Losreissen nur als eine Anstrengung, mithin als Willensthätigkeit denkbar und wir gerathen in den sonderbaren Conflict hinein, dass der Intellekt sich vom Willen mit Hilfe des Willens befreien soll. Das Losreissen ist ausserdem durch nichts motivirt. Der Betrachter, sagt Schopenhauer, richtet nicht auf das sich aufdringende feindliche Verhältnis seine Aufmerksamkeit, sondern wendet sich, obwohl es wahrnehmend und anerkennend, mit Bewusstsein davon ab. Dass aber nicht etwa eine bloss vorgestellte, sondern eine wirkliche Gefahr gemeint ist, wiederholt Schopenhauer ausdrücklich (Nachlass III. 70.): »Auch in dem Augenblikke der wirklichen Gefahr und des Unterganges kann unser Bewusstsein zum Erhabenen emporsteigen«.55 Das Sich-abwenden von der Gefahr ist durch nichts begründet. Wir begreifen nicht, wodurch der Betrachter dazu veranlasst werden soll, da ihm doch natürlicherweise in solchem Augenblicke die Selbsterhaltung wertvoller erscheint als der ästhetische Genuss und er seine Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit einer Rettung als auf die »jeder Relation fremde Idee« des bedrohenden Obiects richtet. 56 So fasst 52. Schopenhauer, Bd. 2, S. 436. 53. Schopenhauer, Bd. 1, S. 273. 54. Vgl. Schopenhauer, Bd. 1, S. 267: »Denn in dem Augenblick, wo wir, vom Wollen losgerissen, uns dem reinen willenlosen Erkennen hingegeben haben«. 55. Schopenhauer, Nachlaß, Bd. 3: Philosophische Anmerkungen, S. 70. 56. Schopenhauer, Bd. 1, S. 272.

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auch Schiller die Frage auf (Neue Thalia, 1793, III. Stück): »Entweder darf das furchtbare Obiect seine Macht gar nicht gegen uns richten, oder wenn dies geschieht, so muss unser Geist frei bleiben, indem unsere Sinnlichkeit überwältigt wird. Dieser letzte Fall ist aber höchst selten und erfordert eine Erhebung der menschlichen Natur, die kaum in einem menschlichen Subiect als möglich gedacht werden kann. Denn da, wo wir uns wirklich in Gefahr befinden, wo wir selbst der Gegenstand einer feindseligen Naturmacht sind, da ist es um die ästhetische Beurteilung geschehen. So erhaben ein Meersturm vom Ufer betrachtet sein mag, so wenig mögen die, welche sich auf dem Schiff befinden, das durch denselben zertrümmert wird, aufgelegt sein, dieses ästhetische Urteil darüber zu fällen«.57 Der bedeutsamste Widerspruch jedoch offenbart sich in der Behauptung Schopenhauers, dass die Erhebung über den Willen nicht nur mit Bewusstsein gewonnen, sondern auch mit Bewusstsein erhalten werden müsse und daher von einer steten Erinnerung an den Willen begleitet sei. Nun wurde aber der Betrachter über sich selbst und seine Person hinausgehoben und gieng im Obiect auf, »als ob der Gegenstand allein da wäre, ohne Jemand, der ihn wahrnimmt«; 58 man konnte nicht mehr »den Anschauenden von der Anschauung trennen«; »das Subiect ist der Gegenstand selbst geworden«.59 Ist da noch das Bewusstsein einer Erhebung, die Erinnerung an den Willen möglich? Bei Kant bleibt, wenn »der Einzelne mitten im Sturm der Sinnlichkeit ein Vermögen in sich gewahrt, das weit über alles Sinnliche hinausliegt«, die Einheit des Subiects erhalten. 60 Schopenhauer hingegen trennt empirisches, im Banne des Individuellen befangenes, und reines, alle Individualität ausschliessendes Subiect so scharf von einander, nimmt eine so völlige »Duplicität des Bewusstseins« (I. 276.) an, dass dieses absolute Allgemein-Subiect zum Nicht-Subiect, zu einem subiectlosen Allsein wird, in dem das Bewusstsein einer Erhebung, die doch im Individuum vor sich gieng, die Erinnerung an den Willen, der das Wesen des Individuums war, (als notwendig individuelle Elemente) undenkbar sind. Der von Schopenhauer behaupteten Willenlosigkeit des erkennenden Subiects widerspricht seine eigene Schilderung dieses Subiects. Wir haben gesehen, wie z. B. das »Losreissen« eine Willensfunction involvirt. Nicht 57. 58. 59. 60.

F. Schiller, Vom Erhabenen [1793], Bd. 5, S. 489-512: 496. Schopenhauer, Bd. 1, S. 244. A. a. O. R. Zimmermann, Aesthetik, S. 660: »In der Kantischen Erklärung macht es das Hauptgewicht aus, dass der Einzelne mitten im Sturm der Sinnlichkeit ein Vermögen in sich gewahrt, das weit über alles Sinnliche hinausliegt, dass er sich als Einzelner zugleich und doch mit dem Ueberempirischen Eins fühlt.«

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genug daran: das reine, die obiective Welt abspiegelnde Subiect soll »obwohl von keinem Wollen angespornt, aus eigenem Triebe in höchster Spannung und Thätigkeit« sein (II. 439.) Trieb, Spannung, Thätigkeit; eine deutlichere Sprache des Willens kann man sich nicht vorstellen. Und noch eine andere Rolle soll der Wille in diesem willenlosen ästhetischen Sein spielen; denn was den Zustand der Ideen-Erkenntnis herbei fü hr t , »müssen innere physiologische Vorgänge sein, welche die Thätigkeit des Gehirns reinigen und erhöhen«61 (II. 438), also Vorgänge im Leibe, der doch die unmittelbare Obiectität des Willens ist. Um zu zeigen, dass auch in den Beispielen selbst – ohne Beziehung auf die Theorie – Widersprüche enthalten sind, hebe ich einen Fall heraus. In seinen Betrachtungen zur Aesthetik der Architektur (II. 488.) meint Schopenhauer: »Unser Wohlgefallen an Gothischen Werken beruht ganz gewiss grössten Teils auf Gedankenassociationen und historischen Erinnerungen, also auf einem der Kunst fremden Gefühl«. An einer anderen Stelle (Nachlass, ed. Grisebach, IV. 390/91) zeigt er aber, wie gerade bei Bauwerken und Ruinen Ideenassociationen und historische Erinnerungen das rein ästhetische Gefühl des Erhabenen in unserer Seele wecken und bilden. Obzwar Schopenhauer im Allgemeinen in seiner Erklärung des Erhabenen sich der dualistischen Theorie anschliesst, giebt es doch Stellen in seinen Schriften, aus denen hervorgeht, dass seine Ansichten über das Erhabene auch in dieser Beziehung schwankend waren. So finden wir in einem nachgelassenen Manuscripthefte Schopenhauers, das aus dem Jahre 1813 stammt (und nicht, wie Seidl, »Zur Geschichte des Erhabenheitsbegriffes seit Kant« S. 25, meint, zu den späteren Ausführungen des Philosophen gehört 62 ), folgende Bemerkungen, welche zum Teil im Geiste der von ihm so verachteten nachkantischen Metaphysiker gehalten sind (Nachlass III. 77 ff.): »Kants Erklärung des Erhabenen ist richtig und vortrefflich; nur kennt er das bessre Bewusstsein allein als moralische Triebfeder und führt also immer Alles dahin zurück. – Seine Erklärung des Schönen hingegen ist falsch. Das Schöne ist eine Gattung des Erhabenen, oder besser das Erhabene eine Gattung des Schönen, nämlich das Extrem des Schönen, wo sich die theoretische Negation der zeitlichen Welt und 61. [Anm. Buber:] Diese causale Auffassung erinnert beinahe an Burke’s bekannte physiologische Erklärung des Erhabenen[, 136 = 223]: »alsdann seien diese Bewegungen, da sie die feineren und gröberen Gefässe von beschwerlichen und gefährlichen Verstopfungen reinigen, im Stande, angenehme Empfindungen zu erregen«. 62. [Anm. Buber:] Von dieser Meinung ausgehend spricht [Arthur ]Seidl[, Zur Geschichte des Erhabenheitsbegriffs seit Kant, Leipzig 1889, 25] davon, dass diese Aphorismen »merkwürdigerweise das Erhabene dem Schönen w i ed e r annähern.«

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Affirmation der ewigen, welche durchaus das Wesen aller Schönheit ist (wie die praktische Negation und Affirmation jener beiden Asketik und Tugend sind), auf die unmittelbarste, ja fast handgreifliche Weise ausspricht.« 63 Und weiter: »So viel glaube ich ausgemacht zu haben, dass das Schöne mit dem Erhabenen Eins ist.« 64 Während Schopenhauer also in seinem Hauptwerke das Erhabene vom Schönen nachdrücklich trennt, fliessen ihm hier beide Begriffe in Eins zusammen; dieses Einssein ist übrigens psychologisch unrichtig, wie die neueren psychophysiologischen Forschungen nachweisen (Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 4. Aufl., II. Bd. 249). 65 In demselben Manuscripthefte findet sich eine Bemerkung über den Zustand der Contemplation, durch den »das bessre Bewusstsein frei wird«: er sei desto vollkommener, »je kräftiger Sinne und Verstand einen gegenwärtigen Gegenstand auffassen, während dabei die Vernunft, als das Vermögen des discursiven Denkens, gänzlich pausiert.« 66 In dem »kräftigen« Auffassen liegt eine neuer Beweis gegen die Willenlosigkeit des ästhetischen Zustands. Die Rolle, welche Schopenhauer schon hier der »fatalen Vernunft« 67 zuweist, könnte glauben machen, dass er Kants Erklärung des Erhabenen schon völlig verworfen hat. Dem ist aber nicht so. Ungefähr gleichzeitig ruft er aus: »Wie ist was er [Kant] vom Erhabenen sagt so wahr und schön!« 68 , spricht von der »Verwandtschaft des mo63. Schopenhauer, Nachlaß, Bd. 3, S. 77 f. 64. Ebd., S. 83. 65. Vgl. W. Wundt, Grundzüge der Physiologischen Psychologie, 2. Bd., S. 245-254 (14. Kapitel: Aesthetische Elementargefühle), S. 249 f.: »Indem wir die nähere Begriffsbestimmung dieser Formen des Gefallens der Aesthetik überlassen, sei hier nur auf die psychologisch bedeutsamen Bezi e hu ng e n d e rs elben zu d e n si nnli che n Ge fü hlen u nd Affe cten hingewiesen. Dass ein Hintergrund sinnlicher Gefühle jede ästhetische Wirkung in größerer oder geringerer Stärke begleitet, wurde schon mehrfach hervorgehoben. […] Das Erhabene hat als sinnlichen Hintergrund energische Spannungsempfindungen, indem wir die Spannung unserer Muskeln nach der Kraft des Eindrucks zu steigern suchen. Wo das Erhabene zum Ungeheuren anwächst, da verengern sich reflectorisch die Hautgefäße und bewirken so die sinnliche Empfindung des Schauderns, mit der sich zugleich leise der Affect der Furcht combinirt. Darin ist die Hinneigung des Erhabenen zu Unlustgefühlen angedeutet, die es auch als ästhetisches Gefühl schon enthält, insofern in ihm eben die Grenze maßvoller Verbindung der Vorstellungen erreicht oder sogar überschritten wird.« 66. Schopenhauer, Nachlaß, Bd. 3, S. 83 Anm. 67. [Anm. Buber:] In denselben Glossen zu Kants Kritik der Urteilskraft, in denen Schopenhauer von der »fatalen Vernunft« spricht, bemerkt er: »Das sittliche Gefühl erfordert Begriffe und lässt sich nur durch sehr bestimmte praktische Ve r nunft be g r i f fe allgemein mitteilen.« [Nachlaß, Bd. 3, S. 70, Hervorhebung MB] 68. Schopenhauer, Nachlaß, Bd. 3, S. 69: »Wie ist was er vom Erhabenen sagt so wahr und schön! Nur Einiges in seiner Sprache und die fatale Vernunft ist zu übersehen. – Hätte er doch eingesehen, daß auch das Schöne nur ein mittelbar Erhabnes ist!«

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ralischen Gefühls mit der ästhetischen Urteilskraft« und giebt sogar zu, dass Lust am Erhabenen »nur mittelst des Moralgesetzes Jedem anzusinnen« ist. (Nachlass III. 70.)

4. Das Ethisch-Erhabene Schopenhauer überträgt seine Erklärung des Erhabenen auch auf das Ethische. Der erhabene Charakter wird von ihm, seinem Systeme gemäss, als ein rein passiver dargestellt, als ein ruhig anschauender Geist, der zu der Aussenwelt in kein innigeres Verhältnis treten will; er erkennt ohne Mitleid und Mitfreude die Fehler und die Vorzüge der Menschen, ihren Schmerz und ihr Glück, »ohne nähere Verbindung mit ihnen zu wünschen«.69 Nach dieser Definition müssten wir Montaigne als erhabenen Charakter preisen, keineswegs aber Sokrates oder Christus. Bei Kant wird zwar die Affektlosigkeit erhaben genannt, er versteht jedoch darunter »ein seinen unwandelbaren Grundsätzen nachdrücklich nachgehendes Gemüt«, was etwas ganz anderes ist als das apathische Individuum Schopenhauers.70 Freilich spricht Kant von einem Erhabenen der Absonderung von aller Gesellschaft, aber nur in dem Sinne, dass ein Mann sich selbst genug ist, d. h. sehr geringe Bedürfnisse hat und daher eine Unterstützung von Seiten der Menschen beinahe völlig entbehren kann, ohne doch ungesellig zu sein, d. h. die Gesellschaft zu fliehen. (Auch scheint mir trotz dieser Einschränkung die Behauptung nicht in Einklang mit Kants 71 ethischer Lehre zu sein). Daneben aber nennt Kant auch den Enthusiasmus, und mehr noch die Affekte »von der wackeren Art«, die das Bewusstsein unserer Kräfte, jeden Widerstand zu überwinden, rege machen, erhaben.72 Schiller unterscheidet das Erhabene der Fassung, welches dem erhabenen Charakter Schopenhauers entspricht, aber nicht in der Teilnahmslosigkeit den Mitmenschen gegenüber, sondern in der Unabhängigkeit vom Schicksal besteht, und das Erhabene der Handlung, das darin beruht, »dass das Leiden eines Menschen auf seine moralische Beschaffenheit nicht nur keinen Einfluss hat, sondern vielmehr umgekehrt das Werk 69. Schopenhauer, Bd. 1, S. 279. 70. KdU, S. 272. 71. [Anm. Buber:] »Sich selbst genug sein, mithin Gesellschaft nicht bedürfen« (Kritik d. Urteilskraft[, 275]). »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (Kritik d. prakt. Vernunft [, 30])[.] 72. KdU, S. 272.

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seines moralischen Charakters ist«, dass ein Individuum also, dem von Schopenhauer geschilderten sehr unähnlich, aus Achtung für eine altruistische Pflicht das Leiden freiwillig erwählt. 73 Der von Schopenhauer entworfenen Charakterskizze gegenüber müssen wir fragen: Ist das noch überhaupt Charakter zu nennen? Entsteht nicht Charakter notwendig aus dem Verhältnis eines Menschen zu seinen Mitmenschen? Und kann man davon noch reden, wenn ein solches Verhältnis gar nicht existirt? Ein erhabener Charakter ist auch der von Schopenhauer angeführte Horatio nicht. 74 Aber er hat unsere Sympathie und unsere Bewunderung, weil er Hamlet so still und so tief und so über allen Tod hinaus liebt. Den Lehren Kants und Schillers gegenüber bedeutet Schopenhauers Erhabenheitstheorie wohl keinen Fortschritt. Jene definirten das Erhabene als ein Kraft- und Freiheitsgefühl; indem Schopenhauer nur das letztere beibehielt und es aller Subiectivität beraubte, verflüchtigte er es zu einem unbestimmten und widerspruchsvollen Begriffe, der nichts Gemeinsames mehr hat mit unserem wirklichen Gefühl des Erhabenen, welches darin besteht, dass wir uns für Augenblicke zu einer das Durchschnittsvermögen unserer Lebenstage weit überschreitenden Macht erheben und dass dieses Bewusstsein uns mit einem subiectiven und positiven Frohsein erfüllt.

73. F. Schiller, Über das Pathetische, S. 527 f. 74. Vgl. Schopenhauer, Bd. 1, S. 279: »Denn du warst stets als hättest, [/] Indem dich Alles traf, du nichts zu leiden: Des Schicksals Schläge und Geschenke hast [/] Mit gleichem Dank du hingenommen usw.« (Shakespeare, Hamlet, 3. Akt, 2. Szene, Verse 69-71: Hamlet zu Horatio).

Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte

Es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, die in keine Klassifikation einbezogen und mit keinem Gruppennamen bezeichnet werden können, denn jede Benennung thut ihnen Zwang an: man fühlt bei jedem Namen, dass gerade das Wesentliche an ihnen nicht ausgedrückt wurde. Allzu viele Lebenssphären schneiden sich in ihnen, für allzu verschiedenartige Ahnungen und Dämmerungen sind sie das Aussprechen und die Morgenröte, als dass man sie mit vielen anderen in ei ne Begriffskammer sperren könnte. Sie sind gross und undefinierbar wie das Leben selbst, dessen Apostel sie sind. Sie scheinen eine neue künftige Entwicklungsform der menschlichen Art anzukündigen. Sie gehen in ihrem Wesen über unsere Sprache hinaus. Sie gehen in ihrer Sehnsucht über unsere Kraft hinaus. Ihnen ist Friedrich Nietzsche anzureihen. Ist er »Philosoph«? Er hat keinen einheitlich gefügten Gedankenbau aufgestellt. Ist er Künstler? Er hat keine Gestalten geschaffen. Ist er Psycholog? Sein tiefstes Wissen ist das um die Zu ku nft der Seelen. Ist er Dichter? Nur dann, wenn wir an die Dichter denken, wie sie einstmals gewesen sein sollen: »Seher, die uns etwas von dem Möglichen erzählen,« die uns »von den zukünftigen Tugenden etwas vorausempfinden lassen.«1 Ist er der Stifter einer neuen Gemeinschaft? Viele stehen auf in seinem Namen, aber sie kommen nicht zusammen, denn Jeder findet einen anderen Stern auf diesem segnenden Nachthimmel, seinen eigenen, und nur diesen einen, und Jeder verdankt ihm nicht allgemeine Erkenntnisse von der Art jener, welche die Menschen vereinigen, sondern die Auslösung seiner eigensten Kraft; nicht sich mitzuteilen und seine Gedanken zu propagieren war seine tiefste Absicht, sondern aus Jedem das Persönliche und Produktive, die verborgensten Schätze seiner Individualität herauszulocken und in bewegende Energie zu wandeln; Steigerung der allgemeinen Fruchbarkeit, so nannte er selbst den innersten Sinn seines Wirkens. Aber er ist doch keiner von den Anregern, den sokratischen Menschen, deren Bestes sich erst in den Nachkommen ihres Geistes offenbart. Er ist Schöpfer. Nie zuvor in unserem Zeitalter sind für die schmerzhaftesten Geheimnisse und für die wildesten Träume der geistigen Menschen so 1.

F. Nietzsche, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, Chemnitz 1881 (NA mit einer einführenden Vorrede Leipzig 1887) = KGW V. 1, S. 325 f.

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Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte

reiche und volle Worte geprägt worden. Ideale, die ehedem nur in der dünnen abgeklärten Luft der höchsten Bergesgipfel wohnen konnten, sind durch ihn in das menschliche Getriebe und in dessen arme, aus den leiblichen Nöten des Primitiven entstandene Sprache eingetreten und sie sind dabei nur leuchtender und wunderbarer geworden. Wie ein Bildhauer seine Hand, in der ein gewisser Formbefehl zittert, auf den weichen gestaltlosen Modellirthon legt, so legte dieser Abgesandte des Lebens seine begnadete Hand auf das Sehnen, Suchen und Ringen unserer Zeit, und es wurde zum Bildwerke. Denn er war ein Abgesandter des Lebens. Ein Apostel, vielleicht auch nur ein Täufer und Rufer. Was er verkündete, war nicht sein eigenes Sein, sondern seine Sehnsucht. Das ist von seinen Kritikern oft genug gesagt worden (er selbst spricht es häufig aus: »Dort wo unsere Mängel liegen, ergeht sich unsere Schwärmerei«). 2 Uns macht ihn diese goldene Kraft seines Wunsches, die aus dem, was er ni cht war, ein Wirkliches schuf, nur liebenswerter. Dass der Kranke eine neue Gesundheit lehrte (»eine stärkere, gewitztere, zähere, verwegenere, lustigere«) 3 , dass der stille, dem Schauen der innersten Dinge hingegebene Gedanken-Poet den Willen zur Macht und eine Wiedergeburt des Instinktlebens verherrlichte, das erscheint uns wie die Krystallisierung unserer eigenen Tragik und wir lernen ihn lieben wie einen nahen und fernen Freund, den leidenden Freund, der wie wir des Brotes und der Arznei bedarf, den schaffenden Freund, der immer eine fertige Welt zu verschenken hat. Er ist in einer Zeit der Kleinheit gekommen. Klein geworden waren die Beziehungen des Menschen zur Welt, erbärmlich klein und im tiefsten Kern faul das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zum eigenen Werden. Er kämpfte mit der feinsten und edelsten Klinge des Jahrhunderts gegen die herrschende Metaphysik und Moral, denn er sah in ihnen Werkzeuge und Symptome des niedergehenden Lebens. Er deckte die schwächliche Verlogenheit unserer Werte und Wahrheiten auf. Aber seines erhobenen Schwertes Spitze glänzte schon purpurn vom Sonnenaufgang. Er fand frische, keimkräftige Samenkörner in alten Königsgräbern; aus toten Kulturen raffte er Elemente neuer Formationen ans Licht. In der wirren unfruchtbaren Geschäftigkeit der Gegenwart sammelte er das Echte und Zeugungsfähige. Er errichtete vor unseren Augen die Bildsäule des heroischen Menschen, der sich selber schafft und über sich selber hinaus. An Stelle eines dürren und lendenlahmen Altruismus setzte er den Egoismus der eigenen Entwicklung und die schenkende Tugend, an Stelle des 2. 3.

Ebd., KGW V. 1, S. 248 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KGW V. 2, S. 318.

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Mitleidens die Mitfreude und das Mitthun. Die Anbeter des Jenseits lehrte er den hohen Sinn der Erde und des menschlichen Leibes. Dem Ideale eines behaglichen und schmerzlosen Lebens stellte er das Leben in Sturm und Gefahren entgegen, dessen kraftvolle Schönheit durch den Schmerz nur gesteigert wird. Statt des Glückes der größten Zahl lehrte er die Hervorbringung grosser Menschen und grosser Werke als den Zweck der Menschheit. Dem Gotte des Weltbeginnes brachte er einen großen Widersacher: den werdenden Gott, an dessen Entwicklung wir mitschaffen können, das geahnte Ergebnis künftiger Evolutionen. – Als er ging, war das Leben größer und lebenswerter geworden.

Feste des Lebens Ein Bekenntnis

Feste, leuchtend wie die junge Sonne und sehnsüchtig wie die Flut, uralte, ewig erste, unsterblich, ich liebe Euch! Einst wandte ich mich ab von Euch wie ein Kind von der Mutter, der es sich entwachsen glaubt, müde des Gleichförmigen und nach Abenteuern verlangend. Wie die Dichtung eines Gebetes waret Ihr, deren Worte das Kind wie eine Formel hersagt, lässig, des Sinnes unkundig und von Spielen träumend. Da gieng ich von Euch. Nun kehre ich zu Euch zurück wie ein Kind zur Mutter, deren unerschöpfliche Schönheit sich ihm in einem gesegneten Augenblicke offenbart, wie ein Kind zur Mutter, die Welten schenkt und keinen Dank begehrt. Nun kehre ich zu Euch zurück wie ein Kind zum Dichter-Gebete, dessen Verse sich ihm erschliessen wie Blütenknospen. Gebet und Erbetenes seid Ihr mir. In Euch bete ich – zu meinem Volke. Und ich bete für Euch. I Weil ich weiss, was meines Volkes Zukunft will, weil ich die unsichtbare Wende seines Geschickes kenne, bete ich zu meinem Volke für Euch II , wie man zu einem Gotte betet – dass er am Leben bleibe. O, Götternamen und Göttersprüche! Alles gilt mir meines Blutstammes Schönheit und Glück. Und ich weiss: die kann er nur gewinnen in seinem Volksthum. Und ich weiss: ein Volk, das keine Heimat hat, muss durch ein lebendiges Band von gemeinsamem, bedeutungsvollem Erleben die heimatliche Einheit ersetzt sehen, wenn es ein Volk bleiben soll. Rein geistige Güter sind kein solches Band: man sieht sie nicht, hat kein Bild von ihnen, hält sie nicht. Organische Einheit kommt nur von sichtbaren, greifbaren Dingen, die in das ursprüngliche Sinnenleben des Volkes sich stark hineinweben und eine heimatliche Stimmung, ein volksthümliches Wesen erzeugen. So, nur so entstehen Gefühle der Zusammengehörigkeit, Thaten der Volksbefreiung. Feindlich anstürmendes Schicksal mag sie zuletzt auslösen, werden und wachsen können sie nur in der stillen, warmen Atmosphäre der Volkssitten, unter der milden Sonne der alten, ewig neuen Feste. I II

JB: um Euch. JB: um Euch

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Feste des Lebens

Darum liebe ich Euch, Feste meines Volkes! Nicht weil Euch ihm ein Gott befahl. Ich habe gelernt, ehrfurchtsvoll beiseite zu treten, wenn himmlische Satzungen des Weges einherschreiten. Aber ich liebe Euch, weil mein Volk sich selbst befehlen muss, Euch zu wahren. I Euch – nicht als sinnlose Ceremonien, sondern als sinnvolles Bilderschaffen, als Umsetzen der alten Erinnerungen, der alten Freuden und Martern in Kunstwerke des Lebens. Die grossen Schicksale gehen durch die Jahrhunderte, um endlich auszuströmen in dieses concentrierte zweite, symbolische Erleben: die Festtage. In Euch, Feste meines Volkes, spricht sich die einheitliche Seele der Todten und der Lebenden aus, und die Volksseele kann durch Euch, in Euch geschaut und geliebt, die schlummernden Keime wecken. Ihr seid ihr Körper, und sie wirkt durch Euch, weil nur Körperliches unmittelbar wirken kann; aber Seele bleibt sie und Seele ist der letzte Sinn ihres Thuns. Und so schöpft sie aus dem Leibe, den sie sich geschaffen hat, ewig neues Leben. Wie der Künstler aus dem Stoff der Erde sichtbare Werke schafft, in die er sein Seelenerleben legt und die im Empfangenden wieder zu Seelenerleben werden. Sitten sind Volkskunst, wie Lieder und Tänze, »allheilig dem, der ihre Seele sucht«.1 Darum liebe ich Euch, Feste meines Volkes, wie ein Kind seine Mutter liebt. Und will zu Euren Füssen sitzen und Euren Mären lauschen und schauen, wie Euch in unseren Tagen eine neue Weihe wird und ein neuer Glanz: wie der lebendige Aehrenkranz der Auferstehung auf Euer Haupt gelegt wird und Euer Angesicht sich verwandelt. Und will von Euren Händen das Geschenk der Kraft nehmen, die Schönheit wird, und das Geschenk der Heiligkeit, die nicht hinter den Wolken ihren Sitz sucht, sondern im Wogen des Erdentages, und das Geschenk der Reife, die Unendlichkeiten in ihrem Schosse trägt und sich doch geruhig im Gegebenen auslebt. Und will hinausgehen und Euer Reich verkünden. ** * Euch aber, Ihr Braven, Uebereifrigen, Kurzsichtigen, die ihr immer die Sache des »Fortschritts« gefährdet sehet, wenn ein Traum von grosser Le1.

Vgl. Cant 3,1–4.

I

JB: um Euch zu wahren.

Feste des Lebens

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benskunst auftaucht, Euch sei es gesagt, dass ich nicht zurückgehen will, sondern – über Euch hinaus. Denn während ich zu den alten Festen zurückkehre, sind sie neu geworden. Nun komme ich nicht zu starren Denkmälern schützender Tradition, sondern zu jungen Weihegärten eines jungen Volkes. Nicht zu Festen todter Vergangenheit, sondern zu Festen lebendiger Zukunft. Dies ist meinem Volke vorbehalten: das Werdende zu feiern, das künftige Erringen, die geahnte Wiedergeburt, das Jahresleben der wiedergewonnenen Fruchterde, die Geschichte des Halmes und des Weinstockes; Feste zum Gedächtnisse der Bauern, die noch nicht geboren sind, Feste, deren alte Formen neuer Inhalt und Wert belebt, Feste, in denen schon neue Formen wie Olivenzweige durch die Dämmerung glühen, Feste, welche die Geschichte des neuen Judenlandes an die Geschichte des alten knüpfen, Feste, die das g anze Schicksal einer Volksseele erzählen.

Kultur und Zivilisation Einige Gedanken zu diesem Thema

Mit dem Worte »Kultur« wird in unserer Zeit ein arger Mißbrauch getrieben. Ueber manchem Worte edler Abkunft waltet dieses traurige Schicksal, daß es im Munde der Vielen verdorben wird. So wird Goethes »Bildung«, die eine starke und schöne Entfaltung der Persönlichkeit, eine stille Harmonisierung aller Kräfte und eine vornehme Einheit des Stils in allen Lebensäußerungen eines Menschen bedeutet, heute nur allzuoft als eine bunte Anhäufung von unorganischen, gedankenlos zusammengelesenen Kenntnissen verstanden. So wird auch das Wort »Kultur« gegenwärtig nicht selten seines stolzen und gebieterischen Sinnes beraubt und zu einem Sammelnamen für die sogenannten »Errungenschaften der Neuzeit« herabgedrückt. Zeitungen, Konversationslexika, Straßenbahnen und Musikautomaten gelten als Zeichen und Triumphe der modernen Kultur. Die große Menge der Zeitgenossen, die eine gewisse Abneigung gegen Reinheit des Denkens und klare Umgrenzung der Begriffe hat, pflegt Kultur und Zivilisation, diese beiden von Grund aus verschiedenen Hauptformen der Menschheitsentwicklung – Gegensätze, deren einstige Versöhnung die Besten unserer Zeit erst erhoffen können – nicht wesentlich von einander zu unterscheiden. Es darf daher wohl noch einmal darauf hingewiesen werden, daß Kultur etwas durchaus Eigenartiges, von eigenen Gesetzen Beherrschtes ist. Er halt u ng und Erlei chter u ng des Lebens sind die letzten Absichten der Zivilisation; aber an der Erhö hu ng und Vered lu ng des Lebens schafft die Kultur. Die Zivilisation arbeitet am Nützlichen und nach dem Gesetze des kleinsten Kraftaufwandes, das heißt: sie will möglichst weite Pläne mit möglichst geringen Mitteln verwirklichen; aber die Werke der Kultur werden nicht nach ihrem Nutzen, sondern nach ihrer Schönheit geschätzt, und Schönheit ist immer der Ausdruck eines Ueberschusses. Kultur ist gebändigte Fülle, Seelen-Ueberfluß, der Form wird. Sie verschwendet, während Zivilisation sparen muß. Die Arbeiter dieser setzen sich Ziele und erreichen sie; aber die Meister der Kultur schaffen über ihren Willen hinaus: ein Neues, Unvorhergesehenes entsteht unter ihren Händen und wird mächtiger als sie; Anderes und Größeres erlangen sie, als sie geträumt hatten; ihr Werk ist nicht wie ein Gebild von Menschenhand, sondern wie ein neugeborenes Wesen, aus einem dunklen Reiche heraufgewachsen, kei-

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nem bestehenden Dinge vergleichbar, wie die Verheißung einer neuen Art zu leben. Kultur bringt Einzigartiges und Unersetzliches hervor; jedes ihrer Werke trägt das Zeichen der Notwendigkeit, daß es gerade von d i es em Menschen und zu d i es er Zeit erschaffen wurde. So wirkt sie auch individualisierend, sie drängt das Persönliche zu vollerem Ausleben, auch da, wo eine ausgereifte Kultur einen gewissen Zwang auf die Lebensgewohnheiten der Einzelnen ausübt; denn die Wirkung dieser teilweisen Uniformierung ist meistens die, daß der Einzelne seinen Drang nach Persönlichkeit nicht mehr durch lautes Sich-Abheben von den Anderen, sondern auf viel feinere und tiefere Art befriedigt. In der großen Weimar-Zeit gibt gerade die hohe und in sich gefestigte Durchbildung der höfischen und bürgerlichen Sitten die Grundlage für eine freie und selbstherrliche Bethätigung der Persönlichkeit ab. Dieser wesentliche Unterschied muß betont werden. Für die Zivilisation sind die Einzelnen nur Durchgangspunkt und Werkzeug, für die Kultur sind sie Schöpfer und Quelle; und andererseits strebt die Zivilisation immer Zwecke der Allgemeinheit an, während die Kultur auch in der Gesellschaft nur den Einzelnen sucht. Also steht im Mittelpunkte der Kulturentwicklung, als ihre Sonne, ihr Sinn und ihre Sehnsucht, sie bestimmend und von ihr bestimmt, der Einzelne, d. h. das Einmalige, das nicht in allgemeinen Regeln und Begriffen seine Erklärung und seinen Ausdruck findet. Kultur kann sich daher nicht in breitem Strome stetig fortbewegen, wie die Zivilisation, die in unaufhaltsamem Gange immer neue Mittel der Lebenserleichterung an die alten reiht und auch in Zeiten des Kulturniederganges für die wachsende Bequemlichkeit des Lebens sorgt. Die Kultur entwickelt sich in Gegensätzen und ohne ununterbrochenen Zusammenhang, sie gehört stets einer bestimmten Zeit an, mit deren bildnerischer Eigenart sie entsteht und vergeht. So kommt z. B. die Renaissance herauf, als eine Wiedergeburt des ganzen Menschen. Das Geheimnis des Neuen, der reiche Sinn des Entdeckers, das freie Leben der Wagnisse und der überströmenden Schaffenslust beherrschen das Zeitalter. Und in der Seele des einzelnen Menschen, in der Struktur der gesellschaftlichen Wechselbeziehungen, in der künstlerischen Geburt von Werken und Werten, in den ewigen Kreisen des Kosmos, in den letzten Rätseln allen Seins – überall werden neue Länder entdeckt, wird neue Kultur geschaffen. Aber sobald jene Seelenmächte zerbröckeln, zerbricht auch diese Kultur. Sie geht in das Geistesleben der Menschheit ein, das Grab und ewige Auferstehung ist. Goethe gebraucht manchmal die Worte »Bildung« und »Kultur« im

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gleichen Sinne. Und in der That bedeuten beide, daß ein Seelenmaterial, Mensch oder Zeit, sich zu einem Kunstwerk durchgestaltet und daß Charakter und Wert des Lebens immer mehr nicht durch das ungeleitete Losstürmen der Kräfte, sondern durch ihre Harmonisierung erhöht werden. Und beide bedeuten eine in sich geschlossene Entwicklung, die den Gesetzen des Werdens unterworfen ist. Die Frage, ob diese oder jene Zeit Kultur habe, darf hiernach niemals bedingungslos verneint werden. Doch gibt es Zeiten der Kulturreife und solche der Kulturkeime. Die ersten tragen ein fest ausgebildetes Gepräge, das oft schon die starren Formen annimmt, welche den nahen Tod verkünden; das zur Lebenserhöhung Erzeugte dient nun der Aufhebung des Lebens. Die andern sind von überströmendem Feuer erfüllt, das in Kampf und Sehnsucht wogt und alle Formen sprengt; die Harmonisierung bereitet sich erst vor, noch glüht und webt die hohe Fruchtbarkeit der Gegensätze. Aber Ernteland und Ackerland begegnen sich in der Zeit; und überall sehen wir jene Epochen der Gärung und des Ueberganges, zu denen auch unsere gehört. »Die alten Stämme des Waldes zerbrachen, aber immer wuchs ein neuer Wald wieder: zu jeder Zeit gab es eine verwesende und eine werdende Welt.« 1 In dem Wirrwarr unserer Tage kündigt sich eine Epoche der Kulturkeime immer stärker und farbenreicher an. Unter uns sind Menschen erstanden, die zur Zeit, da die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt ist und neues Leben aus der Erde bricht, den Geist und das lebendige Feuer verkünden und der werdenden Zukunft den Weg bereiten. In ihren Werken offenbaren sich uns neue Kräfte, neue Arten zu sehen und zu schaffen, neue Geburten, neue Entwicklungen.

1.

F. Nietzsche, Der Wille zur Macht [1901] = Nachgelassene Fragmente Sommer 1880 4 [212], KGW V. 1, S. 483.

Zwei Bücher nordischer Frauen 1

Der Zufall hat sie mir nebeneinander auf den Tisch gelegt. Aber sie haben viel Gemeinsames. Sie sind vor Allem beide von Skandinavierinnen geschrieben. Und in beiden ist der herbe Duft und der langsame, verschwiegene Ernst, der den schaffenden nordischen Frauen eigen ist. Jener geruhige Ernst, der die Dinge nach ihrer Wesensart reifen läßt und nicht vorgreifen mag. Und doch sind diese beiden Bücher selbst nicht ausgereift. Es gibt nämlich eine Reife des Buches, die von der seiner Theile gänzlich unabhängig ist: sie entspricht dem, was man bei einem Menschen Bildung, bei einem Volke Cultur nennt. Ein Buch ist ausgereift, wenn es eine Harmonie und ein Organismus ist, wenn alle seine Elemente sich zu ei nem großen Sinne vereinigt haben. Diese beiden Werke, die heute vor mir liegen, sind es nicht. Und wir wundern uns darüber. Denn jede dieser Frauen hatte uns kurze Zeit vorher ein Buch gegeben, das so tief durchgebildet war, daß sein Eindruck wie der einer monumentalen Plastik in unseren Seelen blieb. Ich meine den »Gösta Berling« der Selma Lagerlöf und die »Essays« der Ellen K[e]y. 2 »Gösta Berling« ist eine echte Saga, und eine Saga der echten Gegenwart. Nichts ist hineingelogen, und doch ist Alles stark und groß. Das macht: es war ein Auge da, dem die Gnade gegeben wurde, das Wesentliche an allen Dingen zu schauen, und eine Hand, der es gelang, es herauszumeißeln. Das Wesentliche aber ist immer stark und groß. Dann war aber auch die Macht da, die gestalteten Momente zu Einem Werke zu binden, oder vielmehr das eine Werk war von Anbeginn da und löste sich nicht mehr auf. »Gösta Berling« ist der erste cycli s che Roman großen Styles in der modernen Literatur. Man kann ihn als eine Sammlung von Erzählungen auffassen; aber sie gehören zu einander wie die Sätze einer symphonischen Dichtung. Und ebenso ist es mit den »Essays«; man genießt sie im Lesen, wie man die schönen Zweige eines reichen Baumes im Schauen genießt: immer behält man den mächtigen mütterlichen Stamm im Auge, aus dem sie hervorgewachsen sind. Dieselbe edle, klare Weisheit ist in ihnen allen, dieselbe Gluth der Verkündigung und dieselbe Formgewalt. 1. 2.

[Anm. Buber:] Ellen Key: »Die Wenigen und die Vielen«. Neue Essays. [Berlin 1901.] Selma Lagerlöf: »[Die] Wunder des Antichrist.« Roman. [Mainz 1899.] S. Lagerlöf, Gösta Berling. Erzählungen aus dem alten Wermland, Leipzig 1896, E. Key, Essays, Berlin 1899.

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Die beiden Bücher, die uns heute beschäftigen, sind ganz anderer Art. Sie fallen auseinander. Es sind prächtige Sachen und heimlich süße Sachen darin, aber als Ganzes sind sie kein Kunstwerk und kein Organismus. Man sieht im Lesen, wie sie entstanden sind: alle Mühe und allen Kampf des Werdens fühlt man ihnen an. Das stört. Denn man empfängt ein Werk dann am reinsten, wenn man es ganz losgelöst von dessen Schöpfer empfängt, wenn man an ihn gar nicht zu denken braucht und dem Gebild: selbst ohne alle Nebenbeziehungen lauschen kann, außerhalb solches Empfindens ist mancher Kunstgenuß möglich – man liebt die Persönlichkeit, man bewundert die Technik – aber kein rein ästhetischer. Diese zwei Bücher aber bringt uns gerade dies Störende doch auch wieder näher. Wir nehmen sie nicht mehr wie jene andern in wortloser Dankbarkeit als etwas Fertiges, in sich Geschlossenes und aus sich selbst Verständliches hin; wir nehmen sie hin wie eine selbstgefertigte Liebesgabe aus der Hand einer Freundin: wir schätzen die Schönheiten des Geschenkes, aber wir lernen auch seine Fehler lieben, weil auch sie uns etwas von der Seele unserer Freundin zeigen und weil wir diese Seele lieben, wie sie ist. Das Buch der Ellen Key ist eine Sammlung von Essays, die aus sehr verschiedenen Zeiten stammen und sehr verschiedenen Werth besitzen. Sie sind ungeschickt zusammengestellt, und so mag an jenem Eindrucke der Unfertigkeit die Hauptschuld wo[h]l der Uebersetzer tragen, dem dieses Buch a ls s o lches weniger als das erste geglückt ist. Neben älteren Arbeiten, in denen, wie namentlich in der über »die Reaction gegen die Frauenfrage« (1886), die eigene Anschauung und der eigene Styl noch gegen manches Fremde und Halberworbene anzukämpfen haben, sehen wir so volle goldene Lebensfrüchte, wie die Gedankendichtung »Vom Lauschen« (1899), die zum Wahrsten und Edelsten gehört, was ein Mensch dem anderen Menschen in unserer Zeit zu sagen hat. 3 Diese Ungleichheit zwingt uns, wenn wir den Ideengehalt des Buches zusammenfassen wollen, immer wieder auf die erste Essays-Sammlung zurückzugreifen, in der wir, wie in einem vollkommenen Gedichte, kein Wort missen möchten, so bedeutsam und vollwerthig ist jedes von ihnen. Ellen Key erzählt einmal von einem Wüstenwanderer, der in der Stille der Nacht von seinem Wegweiser gefragt wurde, ob er nicht schwere Seufzer höre. »Wer sollte seufzen?« fragte der Wanderer. »Die Wüste,« antwortete der Wegweiser, »die Wüste ist es, die aus Sehnsucht seufzt, ein Rasenland zu werden.« 4 Die Sehnsucht einer culturlosen, chaotischen 3. 4.

Für die beiden genannten Arbeiten, vgl. E. Key, in: Die Wenigen, S. 189-210, 231250. E. Key, Die Wenigen und die Vielen [1895], in: ebd., S. 9-72: 72: »Ich möchte meinen

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Menschheit nach einer neuen Cultur ist gemeint. Aus dieser Sehnsucht allein, als ihre Botin und Künderin, ist Ellen Key zu verstehen. Sie sieht Alles, was in dieser Zeit der tausend Fragen und der tausend Hoffnungen, in der wir leben, nach einem Dasein in großer Kraft und Schönheit, nach einer stolzen Freiheit von Persönlichkeit und Schaffen und doch wieder auch nach einer neuen beseligenden Bindung verlangt, und sie sagt es. Sie gehört nicht zu jenen weltumspannenden Ersten, die groß wie das Schicksal sind und die Axt den Bäumen an die Wurzel legen, zu jenen tragischen Propheten, die an ihrer Prophetie zu Grunde gehen, und als deren Größter unserer Zeit Friedrich Nietzsche erschienen ist. Die neuen Keime sind schon aufgeschossen. Ellen Key sagt Dinge, die schon in den Seelen Vieler da sind. Aber sie sagt sie einheitlich und mit einer synthetischen Kraft des Glaubens, die nur dem Weibe eigen ist. Ihre Aufgabe ist die einer Frau: was an vielen Orten in stiller Gluth begonnen hat, zu sammeln und auszugestalten. Das aber, was begonnen hat, nennt sie CulturIdealismus. 5 Sie blickt auf Christenthum und Socialismus zurück. Sie hat beide mit ihrer ganzen Seele, mit der tiefen Inbrunst der nordischen Frau durchlebt, und sie ist weitergegangen. Zwei Idealismen, die nur ei ne Seite des Lebens, aber die in großem Lichte und in der Weihe des ganzen Lebens zeigen; darin besteht beider Werth und beider Unzulänglichkeit. Das Christenthum hat dem Bewußtsein der Menschheit die Wahrheit eingegraben: daß man sich selbst geben muß, um sich selbst zu finden; von der positiven Entwicklung der Persönlichkeit, die da sein muß, bevor man sich geben kann, wußte es wenig zu sagen. Der Socialismus will die Wahrheit, daß Jeder ein Recht auf Arbeit hat, durch eine Regelung der Production zu einer Gesetzmäßigkeit durchführen, in der Niemand arbeitslos werden kann; aber ihm fehlt die Erkenntniß, daß die höchsten Werthe des Lebens in jener unberechenbaren Production ruhen, die sich nicht regeln läßt, weil sie ganz von der Initiative des Einzelnen abhängig ist; nicht bloß das Recht Aller auf Arbeit, auch das Recht Weniger auf freies Schaffen ist anzuerkennen. So ist weder hier noch dort ein absolutes Menschheitsideal gegeben; denn ein solches kann nur von der höch-

5.

Gedankengang durch ein Bild zusammenfassen: Ein Wüstenwanderer wurde in der Stille«. Mit dem Wegweiser ist hier ausdrücklich der »Socialismus« gemeint. Vgl. E. Key, Culturveredelung, in: Essays, S. 39-76: 74: »Die menschliche Natur durchlebt eine Umwälzung, und der individuell bewusste moderne Mensch will in der Kunst einem neuen Ausdrucke seiner neuen Qual und seiner neuen Freuden begegnen, seines feineren Empfindens, seiner reicheren Mannigfaltigkeit. Die Gesellschaft durchlebt eine Umwälzung: der sozial bewusste moderne Mensch will starke Bejahungen seiner starken Forderungen finden. Ein neuer Culturidealismus – das ist es, was die Kritik des Einsamen verheisst.«

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sten Aufgipfelung der Menschheit, von ihrem Sinn und ihrer Sehnsucht ausgehen: von der schöpferischen Persönlichkeit und von deren Werken, die wir Cultur nennen. Denn Cultur ist nicht eigentlich der ganze materielle Apparat, der gemeinhin darunter verstanden wird, sondern erst die künstlerische Durchbildung und Veredelung dieses Materials im Leben. Culturidealismus heißt: eine neue Gesellschaft ersehnen, in der nicht die Schaffung von Kapital, sondern von Cultur das Ziel sein würde; in der Jeder nicht nach seinem Antheil an den Productionsmitteln, sondern nach seiner eigenen Productionskraft geschätzt würde; deren ganzes Streben wäre, Individualitäten zu züchten, die besonderen Kräfte zu entdecken und sie auf den Platz zu stellen, wo sie am wirksamsten werden. Und »jenes Volk wird ein Culturvolk, bei dem, während große schaffende Geister erstehen, auch die Vielen intensiv leben; bei dem sie Impulse von cultureller Bedeutung von den Wenigen empfangen und ihnen geben«.6 So steht im Mittelpunkt der Cultur, als ihr Ursprung und ihr Zweck, der Einzelne: das Individuum, das keinen Typus wiederholt und selbst nicht wiederholt werden kann. Die Entwicklung des Einzelnen zur Persönlichkeit ist die größte Culturfrage. Persönlichkeiten sind Menschen, die sich selbst leben, sich selbst dichten; die es wagen, auf eigene Faust zu denken und zu schaffen; die aber zugleich ihre Natur nur als den Grundstoff betrachten, aus dem sie die individuelle Harmonie der Kräfte herauszuarbeiten haben, »so wie die edel ebenmäßige Statue aus dem Marmorblock gemeißelt wird.« 7 Eine solche Persönlichkeit weiß freilich – im Gegensatze zu allen Altruismen – daß sie nur um ihrer selbst willen da ist, und daß es ihre Wesensaufgabe ist, aus ihrer Eigenheit zu machen, was irgend nur Starkes und Edles sich daraus machen läßt; aber sie fühlt auch, wie aller Wesen Entwicklung von Einer namenlosen Welle getragen wird und daß der Einzelne nicht anders als mit den Anderen und in den Anderen wachsen kann. Dieses Gefühl des eigenen Werdens und des kosmischen Zusammenhanges kann der Individualität der Zukunft ein neues moralisches Bewußtsein schenken, das alle Imperative aufheben würde; und der Zweck der Gesellschaft würde dadurch erfüllt werden, daß sie durch die ethische Selbstherrlichkeit der Individuen überwunden würde. Die Idee der Persönlichkeit führt Ellen Key in alle Culturwerthe ein. Was uns an diesem angewandten Individualismus als das Wesentliche erscheint, sind nicht neue Gesichtspunkte, die vielleicht nur in den Problemen von Weib und Ehe gebracht werden, sondern die Vollständigkeit der 6. 7.

E. Key, Die Wenigen, S. 52. E. Key, Selbstbehauptung und Selbstaufopferung [1893/94], in: ebd., S. 75-124: 81.

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Synthese, die geschlossene Ausnahmslosigkeit der Anwendung und die farbenfrische Lebendigkeit, mit der diese auf jedem einzelnen Gebiete zur Geltung kommt. Von dem Buche der Ellen Key zu dem der Selma Lagerlöf führt eine feine, heimliche Brücke. Man muß sie zu finden wissen. Dieser Roman »Wunder des Antichrist« ist als ein »christlicher« bezeichnet worden, und wenn die Classificatoren in deutschen Landen auf ein neues Ding ihre Etikette geklebt haben, die ihm Rang und Schublade zutheilt, dann ist es zumeist vergebliches Bemühen, sie loslösen zu wollen. In Wahrheit ist in diesem Buche das Christenthum nur Stoff, Stimmung und Hintergrund für die Darstellung von Persönlichkeiten. Und wie »Gösta Berling«, nur leiser und geheimnisartiger, huldigt es dem großen Menschen und der großen Leidenschaft. Es ist, wie ich schon sagte, nicht so einheitlich wie jenes, nicht in so monumentalen Linien gehalten, und darum strömt das Grundgefühl nicht so übermächtig zum Leser herüber. Aber immer wieder bricht die Liebe des Künstlers zur selbstherrlichen Persönlichkeit durch. In wenigen Worten, ganz flüchtig, wird einmal der Gedanke an William Morris geweckt, und man fühlt: das ist ein Held künftiger Epopoën. 8 Menschen des Alltags treten an, die nur als Typen zu sehen wir uns schon gewöhnt hatten: Straßenfänger, Puppenspieler, ja Kaufleute sogar und reiche Engländerinnen; und wenn man tiefer hineinschaut, ist Jeder eine Individualität mit dem individuellsten Schicksale. Christenthum und Socialismus kämpfen in dem Buche mit einander, aber was zuletzt aus dem Hin- und Herwogen in stillem sieghaften Glanze hervorgeht, ist nur die Liebe zweier ganzer Menschen. Aber auch Christenthum und Socialismus offenbaren sich in dem Werke nicht anders als dadurch, daß sie das Innerste und Persönlichste aus den Menschen herauslocken und zur Entfaltung bringen. Die liebende und schaffende Persönlichkeit ist für beide Frauen das Grundproblem der werdenden Zukunft: Christenthum und Socialismus sind für Beide die Grundprobleme der Vergangenheit und Gegenwart. Auch darin zeigt sich die Skandinavierin. Aber Ellen Key hat das Christenthum mehr ethisch, Selma Lagerlöf mehr ästhetisch erlebt. Die Erste hatte sich ihm mit der ganzen Inbrunst einer glaubensbedürftigen Seele 8.

Vgl. S. Lagerlöf, Antichrist, S. 152: »Nach England, nach England sollte er! Sie wollte ihn zu ihrem Freunde, dem großen Meister, senden, der die Kunst umzuschaffen suchte, zu ihm, der die Menschen lehren wollte, schönes Hausgeräthe, schöne Kircheneinrichtungen anzufertigen, der eine ganze schöne Welt schaffen wollte.« Vgl. ebd., S. 180: »›Ach … warum …? Sie wissen nicht,‹ fuhr er lachend fort, ›daß mein großer Meister in England selbst Sozialist war. Sie wissen nicht, daß er mich in diese Anschauungen eingeführt hat?‹«

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hingegeben, hatte dann in schweren Tagen gezweifelt und gerungen, um endlich erhobenen Hauptes und reinen Herzens mit neuer Lebensanschauung zu neuen Zielen weiterzugehen: die zweite hat das Christenthum als Dichterin mit allen seinen Gluthen und Bildern genossen, hat es nur als Kunstmoment ernst genommen und konnte daher darin verweilen, ohne ihm anzugehören. Ebenso bemerkenswerth ist die Verschiedenheit in der Art, wie sie den Gegensatz jener beiden Weltanschauungen auffassen. Beiden Frauen ist dieser Gegensatz der von Leben für den Himmel und Leben für die Erde, der des Reiches, das nur von jener Welt, und des Reiches, das nur von dieser Welt ist. Aber für Selma Lagerlöf lehrt der Socialismus, daß man hier g lü ckli ch werden kann und muß, während das Christenthum die wahre Seligkeit ins Jenseits verweist. Ellen Key gräbt tiefer: ihr sagt das Christenthum, daß der Einzelmensch sich erst drüben zur vollen Schönheit entfa lten könne, der Socialismus aber will in der Erde den einzigen Wurzelboden und die einzige Möglichkeit der Entwicklung sehen. Der Socialismus ist der »Antichrist« des Titels.9 Aber in seiner Darstellung haftet der Dichtung ein großer Mangel an. Seinem Auftreten fehlt darin alles Gewaltige und Hinreißende. Die Geburt Christi wird zu Anfang des Buches wie ein Wunder geschildert, die ganze Natur hält den Athem an: der Antichrist mußte wie mit allen Naturgewalten hereinbrechen. Davon ist nichts zu verspüren. Dem Werke fehlt der wilde, treibende Sturmeshauch. »Gösta Berling« war ein großes Zauberlied, aus Tönen der Geheimnisse zu Einer riesenhaften, unlösbaren Schicksalsmelodie gebunden; »Wunder des Antichrist« ist wie eine herrliche lange Reihe sehr schöner, aneinandergeknüpfter Verse. Von dem Inhalte möchte ich hier nichts erzählen. Das Buch gehört zu jenen reichen, sonnenvollen, die wie die große Liebe sind: man kann sie beurtheilen, man kann Ja und Nein zu ihnen sagen, aber man kann sie nicht erzählen: wer etwas von ihnen wissen will, muß sie selbst lesend erleben. Nur zwei Dinge will ich noch aus der Fülle herausgreifen, weil sie über das Werk selbst sprechen. Das Eine ist dies: Donna Micaela hatte viele Tage zu einem aus schwarzem Marmor ausgehauenen Bilde, das in einer dunklen Nische der Domkirche am Aetna stand und die schwarze Madonna genannt wurde, um die Erfüllung eines Lebenswunsches gebetet. Da wird an einem Festtage 9. Vgl. ebd., S. 28: »Aber der Mann, der während des Kampfes durch das Bild klug geworden war, begann der Welt eine neue Lehre zu verkünden, die der Sozialismus genannt wird, die aber das Antichristentum ist.«

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das Bilde aus der Nische herabgenommen und auf einen Altar gestellt. Und Micaela schaut und sieht: die, zu der sie gebetet hatte, ist gar keine Madonna; sie hat keine Krone auf, sondern einen Helm; sie hat kein Kind auf dem Arm, sondern einen Schild. Es ist eine Pallas Athene … 10 Und das Zweite sind die Worte, welche die uralte capitolinische Sybille zu Beginn des Buches in der Stunde der Geburt Christi von der äußersten Felsenspitze ihres Berges in die Welt hinausspricht: Hoch [oben] auf dem Capitol anbetet den Weltenerneu’rer, Christ oder Antichrist, doch nimmer sterbliche Menschen.11

Dies ist das Größte von Allem, was den zwei Büchern gemeinsam ist: der Cultus der Idee. Denn Werth und Weihe empfängt die Persönlichkeit doch nur von der Idee, die sich in ihr verkörpert.

10. Vgl. ebd., S. 111 f.: »Als aber Donna Micaela das Bild sah, wäre sie in Verzweiflung gerathen. Denn das Bild stellte gar keine Madonna dar. Nein, die zu, der sie gebetet hatte, wäre gar keine Madonna! Ach diese Schmach, diese Schmach! Es wäre ganz offenbar eine alte Göttin. Wer eine solche je gesehen hätte, könnte sich gar nicht irren. Sie hätte keine Krone auf, sondern einen Helm; sie hätte kein Kind auf dem Arm, sondern einen Schild. Es wäre eine Pallas Athene. Es wäre keine Madonna. Ach nein, ach nein!» 11. Vgl. ebd, S. 11.

Die Abenteuer des kleinen Walther 1

Woher kommt diesem Buche, das so wenig einheitlich ist und so voll von befremdlichen Reflexionen, das keine Ruhe und keine Abgeklärtheit kennt und von den allezeit überlegenen Kritikern für Alles eher denn für ein vollkommenes Kunstwerk erklärt wird, solche schöne und große Macht? Ich glaube, das liegt daran, daß es jenseits des Reiches steht, in dem der Dämon »Literatur«, der Feind des unmittelbaren Lebens, herrscht. Ein ganzer Mensch ist in dem Buche, ein Aufrechter, Unbedingter, und in jedem Satze glüht noch die Kraft der Hand, die ihn schrieb. In unserer Zeit, in der man die Persönlichkeiten nicht mehr als Statuen, sondern als Bündel ansieht, hat man sich gewöhnt, die Seele in Gebiete abzutheilen. Man pflegt zwischen dem, was Einer ist, und dem, was Einer macht, zwischen den Functionen des Lebens und denen des Schaffens einen dicken Grenzstrich zu ziehen, und man behält beinahe immer recht. Multatuli gegenüber darf man diese traurige Gewohnheit vergessen. Sein Schreiben ist eine von seinen Lebensäußerungen, nicht weniger und nicht mehr. Er verwahrt sich einmal in einem Briefe dagegen, daß über seine Schriftstellerei Gutes gesagt werde. Er mag nicht trennen. »Ich habe gearbeitet, gehandelt, gedacht und gelitten.« 2 Die Redensart von dem Buche, das ein Stück Leben ist, trifft für seine Werke zu. Jedes von ihnen ist einfach ein Stück vom Leben Multatuli’s. Und man kann keines empfangen, ohne in ihm des Mannes Leib und Blut zu empfangen. Das ist es, was diesen Büchern schier unvergleichbare Macht verleiht. Ich weiß in unserem Zeitalter nur ei nen Menschen, von dem man Gleiches sagen könnte. Das ist Walt Whitman. Die Beiden haben auch sonst Gemeinsames. Beide besaßen die unglaubliche Eigenthümlichkeit, zu sagen, was sie dachten, und zu thun, was sie sagten. Ein Ding, das heute schon Mancher im tiefsten Herzen als barbarisch bezeichnet. Und sie waren auch Beide Barbaren, titanische Barbaren. Sie waren von Jenen, die einer späteren Zeit zu Göttern werden. 1.

2.

[Anm. Buber:] Multatuli (Eduard Douwes Dekker): »Die Abenteuer des kleinen Walther.« Uebertragen aus dem Holländischen von Wilhelm Spohr[, mit Titelzeichnung von Fidus], Minden in Westfalen. J. C. C. Bruns’ Verlag. 1901[/02]. Zwei Bände. Der erste Band ist soeben erschienen, von dem zweiten liegen die Aushängebogen vor [= Neuausg. Köln 1999, hrsg. von Arnold Thünker]. Multatuli, Auswahl aus seinen Werken, hrsg. von Wilhelm Spohr, Minden 1899, S. 133.

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Die Abenteuer des kleinen Walther

Die Menge wagt es nicht, das Unbedingte zu denken, die Wenigen nicht, es zu sagen. Multatuli that das Unbedingte. Er lebte den »Volksfeind«, den Henrik Ibsen gedichtet hat. 3 Er sah: der Javaner wird mißhandelt. 4 Er schrie es hinaus. Er zertrat den Bestand seines Lebens, warf alle Sicherheit und Freude über Bord, um dem Javaner zu helfen. Er empfand eine »unsinnige Begier«, die Schmerzen der Welt zu tragen; er nahm sie auf sich, wo er nur konnte. Wie kein Anderer, liebte er seine Schmerzen: er wußte, daß aus ihnen sein Schaffen kam und das Umwälzen, das er seinen Beruf nannte. »Kleinmüthige!« läßt er Fancy, die Inspiratrix, in den »Minnebrieven«, zu Tine, seiner Gattin, sprechen. »Sahst du je einen Keim schießen aus unzerspittertem Samenkorn, sahst du je gebären ohne Weh?«5 Stets wagte er sich und all das Seine daran, irgend ein Lebewesen auf eine höhere Stufe des Daseins zu stellen. Er ging mit großem Schritt durch das Leben, immer zum Aeußersten bereit wie zu einem Feste, immer bereit, sich zu schenken und zu verschwenden. Er stand jenseits des Nutzzweckes und des Nutzgetriebes. Die kleine dumpfe Welt ist vom Nutzwillen besessen. Aber alles Starke und Umgestaltende, und Alles, was bisher neue Saaten weckte und Sonnenfeuer aus dem Steine schlug, dachte nicht an Nutzen, sondern an die Schönheit des Werkes. Diese große Art ist es, die aus Multatuli’s Sein in seine Bücher eingegangen ist und uns in ihnen beglückt, uns eine neue Auffassung des Lebens, eine neue Ehrfurcht, einen neuen Menschenglauben schenkt. Auch der kleine Walther Petersen, dessen Geschichte Multatuli erzählt, entwickelt sich jenseits des Nutzzweckes. Er träumt und handelt, sehnt sich und erlebt, sucht Abenteuer auf und wird mitgerissen, aber in alldem ist jenes Zweckmotiv völlig ausgeschaltet. Aber nicht zugunsten der wohlbekannten Roman-Idealität; die Mächte, deren Walten uns gezeigt wird, sind tiefe seelische Wirklichkeit. Ein strenggläubiger Utilitarier mag freilich die Möglichkeit solcher Entwicklung in Abrede stellen, etwa wie die der Bewegung eines Gegenstandes, der dem Gesetze der Schwere nicht unterworfen wäre. Uns aber ist ihre Betrachtung ein Genuß wie der Anblick geflügelter Wesen, die auserkoren sind, das Gesetz der Schwere ohne Kampf zu überwinden. Dieser Genuß bleibt nicht ungetrübt. Andere, nicht mehr innerlich persönliche, sondern äußere Kräfte wirken hem3. 4. 5.

In Ein Volksfeind [1883] kämpft der Held gegen den herrschenden Egoismus und die Korruption der Honoratioren seiner Stadt, freilich vergeblich, sodaß er am Ende als »Volksfeind« erscheint. Vgl. Multatuli, Liebesbriefe, Minden 1900, S. 14: »›Der Javaner wird misshandelt.‹ Ich werde dem ein Ende machen.« Ebd., S. 179: »Kleinmütige! Worüber beschwerst du dich? Worüber verwunderst du dich? Sahst du je einen Keim schiessen aus unzersplittertem Samenkorn? Sahst du je gebären ohne Weh?»

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mend und herabziehend. Die wunderbar reine, zum Höchsten geschaffene Natur des Knaben ist in eine dumpfe, kleinliche, schönheitsbare Umgebung hineingestellt. »Mein Vornehmen war,« sagt Multatuli in seiner naiven Weise, »im ›Walther‹ eine Schilderung von dem Streit zu geben zwischen hoch und niedrig, zwischen Seelenadel und Gemeinheit.«6 Es ist ein seltsamer Streit. Auf beiden Seiten weiß man nichts von ihm. In dem elenden Milieu weiß man nichts von den tausend Dolchstößen, die aus ihm heraus gegen die junge Seele geführt werden; sie weiß nichts von ihrer einzigen Waffe: dem Schilde ihrer unberührbaren Sehnsucht. Eine sonderbare Tragik von noch unerforschter Art bricht manchmal aus diesem Kampf heraus. Der kleine Walther wächst in dem philiströsesten Milieu auf, das je in einem Buche geschildert wurde. Aber seine stille Phantasie und die schöpferische Kraft seines Wunsches können nicht gefesselt werden. Er liest einen Räuberroman, und die Welt liegt vergoldet vor ihm, ganz erfüllt von großartigen Möglichkeiten, und er singt seinen Thatendurst in einem wilden Liede aus, das von Frauenraub und blutiger Rache, von zerstörten Schlössern und geplünderten Klöstern erzählt, und das er in seiner Seeleneinfalt als Beitrag zu einer Versconcurrenz in der Schule abgibt, in der sicheren Hoffnung, das Gedicht würde sicher dem Bürgermeister zugesendet werden, der dem Papst davon Kenntniß geben würde, worauf dieser Walther zu sich rufen würde, um ihn als Haupträuber anzustellen. Das träumt er sich auf seiner geliebten »Alten Brücke« aus, vor den beiden Mühlen, welche »Die Morgenstunde« und »Der Adler« heißen. Und dann träumt er sich auf ihre Flügel hin. Plötzlich beginnen sie zu singen, dann sind sie verschwunden, und Fancy steht vor ihm, die Fee jener Menschen, die wie Walther – und Multatuli – stets das ganz sind, was sie sind, und weitergehen, in welcher Richtung auch, als oberflächlich gesehen in der Macht der Eindrücke zu liegen schien, die sie zuerst dieser Richtung folgen ließ; 7 Fancy, die Fee der Lebensdichter; Fancy, vor der das Weltall offen liegt, wie ein aufgeschlagenes Buch, die kein Stoff einschließt, die kein Band gebunden hält; Fancy, die große Inspiratrix, die Seele der Dinge, die sich nur dem Träumer offenbart, der seinen Traum 6.

7.

Nicht nachweisbar, vgl. aber Vorwort des Herausgebers, in: Multatuli, Abenteuer, S. vii-xviii: ix: »denn Multatuli wollte geben – und er hat es gesungen! –, ›ein Heldengedicht, in dem er den Kampf schildern wollte des Guten im Menschen gegen die Bosheit, den Riesenkampf wahrer, heiliger Poesie gegen die Lügenprosa, die uns die Welt für Wahrheit giebt.‹« Multatuli, Abenteuer, S. 91 [= 100]: »Denn das eigenartige an Gemütern wie dem von Walther ist, dass sie ganz sind, was sie sind, und weiter gehen, in welcher Richtung auch, als oberflächlich gesehen in der Macht der Eindrücke, die sie zuerst diese Richtung folgen liess.«

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leben will, steht vor Walther und blickt ihn an mit demselben Blick ihrer großen Augen, mit dem sie vor langen Jahren Multatuli’s ganze Kinderseele in sich aufsog. Und sie erzählt ihm ein Märchen. Einst war eine Königin der Geister, die A-O hieß. Sie trug eine Halsschnur von Sternen, und eine Sonne war gesetzt in ihren Siegelring. Wenn sie ausging, stoben die Nebelflecken auf wie Staub, und mit einem Fächerschlag verjagte sie die Firmamente. Einmal waren zwei ihrer Kinder, Prinz Ypsilon und Prinzessin Omikron, unartig. Der Kleine verlor die Siriusse, die ihm zum Spielen gegeben waren, verlangte immer größeres Spielzeug, und als er bestraft wurde, sagte er etwas Unehrerbietiges über seine Mutter. Und seine Schwester, die gerade mit einem Kometen Fangball spielte, warf ihr Schlagbrettchen gegen das Weltall. Beides wurde nach dem Gesetze des Geisterreiches mit zeitlichem Verlust aller Würde bestraft. Ypsilon wurde ein Sandkorn; nach ein paar tausend Jahrhunderten wurde er zum Moospflänzchen befördert; nach gleicher Zeit zum Polypen, in welcher Eigenschaft er ein paar Welttheile baute; dann zur Garnele, zur Seeschlange, zum Mastodon, zum Elephanten und endlich – –. Aber nun müsse er brav aufpassen, um bald in seinen Rang als Prinz vom Geiste wieder eingesetzt zu werden. Indessen war Omikron zunächst ein Luftkügelchen geworden, dann ein Mondenstrahl, dann ein Duft, der das Weltall füllt, dann ein Falter, zuletzt ein Sternbild, und nun sah sie Walther, ihren Bruder, mit dem Auge des Nordsterns an. Er rief nach ihr, aber da war auch schon Fancy verschwunden … und da war die Brücke … da der Graben … und die Mühlen riefen wie gewöhnlich »Karre karre«. 8 Aber der »Zufall« hatte Walther geboren werden lassen in einem Kreise, wo er nicht verstanden … und also mißhandelt wurde. »Denn es ist eine von unseren Eigenthümlichkeiten, daß wir gern Jemanden mißhandeln, dessen Seele anders organisirt ist als die unsere«; wie das Kind, das die Bewegung der Uhr nicht versteht und nicht eher ruht, als bis es das von ihm nicht begriffene Räderwerk caput gedreht hat. 9 So wird der Knabe denn, als er heimkommt, »gestraft«, das heißt mißhandelt, diesmal für sein entsetzliches Lied, dessen untugendliche Art den Lehrer und die Familie des kleinen Verbrechers außer Fassung gebracht hat. Stundenlang steht nun Walther oft an dem Geländer seiner Brücke, sehnt sich nach Fancy und nach seiner so fernen Schwester, und horcht auf das Geklapper der Mühle. Aber sie erzählen ihm nichts, sie singen nicht, und es kommt keine Fancy, und sein flüsterndes Rufen nach Omi8. Vgl. ebd., S. 94-99 [= 103-108]. 9. Ebd., S. 92 [= 100].

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kron, sein großes Heimweh, sein süßes Verlangen »nach Hause« bleiben einsam und ungestillt. 10 In dem weiten stummen Traum, den er träumt, herrscht Verwirrung zwischen Sein und Nichtsein. Die nüchterne Wirklichkeit und seine Phantasie, »die Traum ebensosehr als Wirklichkeit war«, fließen ineinander und nach vergeblichem Bemühen, hellzusehen in seinem eigenen Herzen, fühlt er etwas wie Ermattung und Muthlosigkeit. 11 Er weiß gar wenig von Walther. »So wenig, daß Niemand weniger als er selbst imstand gewesen wäre, die Geschichte seines eigenen Herzens zu schreiben.«12 Und nun lernt er zufällig ein etwas älteres Mädchen kennen, Femke, die Tochter einer Waschfrau. Als er ihr Gesicht zum erstenmale sieht, erinnert es ihn an Fancy. »O, nun ist Alles gut …« Das sind die ersten Worte, die er ihr sagt; »nun d u da bist! Ich habe so nach dir verlangt.« 13 Es ist nicht das, was Menschen Liebe nennen. Und doch muß man an Stendhal’s Krystallisations-Gleichniß denken. In Hallein pflegen die Bergleute in die verlassenen Tiefen des Schachtes ein vom Winter entblättertes Zweiglein zu werfen; die salzigen Wasser kommen und umfeuchten es; nach zwei, drei Monaten findet man es wieder, mit glänzenden Krystallkugeln bedeckt. 14 Die Krystalle schlummern unsichtbar im Wasser; das Zweiglein hat sie herausgelockt. So ist es mit Walther’s Gefühlen, die in seiner Seele dunkel umherwogten, und der kleinen Femke. Seine stolze Sehnsucht schmiegt ihre Flügel an die Brust des guten erstaunten Mädchens. Und von der Stunde an träumt er von Femke, von ihren blauen Augen, von ihrer Freundlichkeit und von der Stimme, mit der sie gesagt hatte: Du bist ein lieber, lieber Junge … »Sollte sie es sein … Omikron?« dachte er. 15 Erschüttert vom Zwiespalt der Wahl zwischen Flucht und Genießen, zittert Psyche’s ermüdete Hand, welche die Lampe hält. Eros erwacht durch den Schmerz der Brandwunde. So erwacht die Liebe, wachgebrannt durch den Schmerz, der die Folge ist der ungeschickt gelenkten ersten Sehnsüchte der wagemuthigen Seele. 16 Dem Faust, der w i s s en will, wird Gretchen gezeigt. Die Antwort des Lebens auf die Sucht nach Erkenntnis ist die Liebe. Walther sagt nun seiner Freundin Alles, was er weiß, vor Allem die 10. Vgl. ebd., S. 113 [= 121]. 11. Ebd., S. 131 [= 138 f.]: »Er selbst wusste nicht mehr genau zu bestimmen, welche Bilder ihm durch nüchterne Wirklichkeit vorgezeichnet waren, welche durch seine Phantasie, die traun ebensosehr Wirklichkeit war.« 12. Ebd., S. 132 [= 139]. 13. Ebd., S. 136 [= 142]. 14. Vgl. Stendhal, Von der Liebe [1822], S. 29. 15. Multatuli, Abenteuer, S. 144 [= 151]. 16. Vgl. ebd., S. 148 [= 154].

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wunderschöne peruanische Geschichte von der Prinzessin Aztalpa und ihren Brüdern und Freiern Telasco und Kusko, die sich für einander aufopferten: jeder von Beiden wollte die Geliebte dem Anderen zuwenden. 17 Das Wissen, das er noch in äußeren Kenntnissen sieht, mischt sich immer wieder in seine Beziehungen zu Femke. Er theilt ihr Alles mit, was er gelernt und erfahren hat. Wo sein Wissen nicht reicht, will er sie zum Genossen seiner Unkunde machen. »Auch dann gäbe er ihr doch etwas, und sie würden etwas in Gemeinschaft besitzen. Es kam ihm entzückend vor, zusammen mit ihr etwas nicht zu wissen.«18 »Er war brennend neugierig auf Alles, was sie ihm zu sagen haben würde, da er es wahrscheinlich fand, daß auch sie ihr Leben hindurch all ihre Gefühle aufgespart hatte für ihren ersten Freund.« 19 Er träumt sich als Entdecker und Eroberer von Welttheilen, dann als König des eroberten afrikanischen Landes, und Femke als Königin. Aber wie sollte er es nur anlegen, denkt er, um nicht von seiner Mutter ausgeschimpft zu werden, wenn er auf seinen Zügen in das unermeßliche Binnenland einmal etwas länger ausbliebe, als die häusliche Zucht der Petersen erlaubt? Da er diese furchtbarste aller Schwierigkeiten nicht aus dem Wege räumen kann, springt er darüber hinweg und träumt weiter. Leider bereitet ihm Femke Enttäuschung. Sie bricht in Lachen aus, als das Kind ihr seine Königsträume erzählt. Aber dann übernimmt sie in Wirklichkeit Fancy’s Rolle: sie wird Inspiratrix, freilich in bescheidenem Maßstabe. Als Walther sie fragt, was er für sie thun kann, er, der sich so danach sehnt, etwas Großes zu thun, verlangt sie von ihm – daß er binnen drei Monaten der Erste in der Schule werde. Und er wird es. 20 Gleichzeitig kommt der »Ernst des Lebens« (er ist nun Sechzehn) über ihn. Man wählt einen Beruf für ihn. Er soll »in den Handel gehen«.21 Er thut es mit der Hingabe, mit der er Alles thut, er trägt seinen ganzen Schatz von Liebe und Poesie hinein. Das wird ihm arg gelohnt. Aber er wächst an den Bitterkeiten. Er lernt selbständig denken und handeln. Er beginnt sich langsam und unter tausend Kämpfen von dem Gotte und der Sittlichkeit seines Milieus, diesem Ballast seines Traumfluges, zu befreien. Und eine Weile träumt er so rein und schön wie nie zuvor. Ich kann mir nicht versagen, etwas aus diesen Träumen anzuführen. »Ach, Femken, ich bin so betrübt. Denkst du, daß ich wieder krank werde? Willst du dann zu mir kommen? Thu’ es nicht! Meine Mutter hält 17. 18. 19. 20. 21.

Vgl. ebd., S. 159-175 [= 165-181]. Ebd., S. 265 [= 268]. Ebd., S. 265 f. [= 268]. Vgl. ebd., S. 325; 327 [= 325 ; 327]. Vgl. ebd., S. 345 [= 345].

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nichts von dir … Thu’ es nicht, Femke! Lass mich sterben und frage nur die Nachbarn, wo ich begraben bin. Willst du dann des Abends auf mein Grab kommen? Einmal nur, einmal! Denn ich begreife wohl, daß du nicht öfters kommen kannst, wegen der Bleiche und wegen all deiner Arbeit, und wegen deiner Mutter, und wegen der Menschen, die es närrisch finden werden, wenn du nach dem Grab eines kleinen Jungen gucken kommst.« 22 Und dann: »Sag’, warum ruft Gott die Menschen nicht zu sich in voller Gesundheit? Warum kommt man mit allerlei Leiden in den Himmel? Ich möchte so gern ganz frisch sein, wenn ich Gott zum erstenmal sehe! Ich kann nicht glauben, daß ich die Augen niederschlagen würde, wie es in der Bibel steht! Warum sollte er das Ansehen so schwer machen! Es ist unfreundlich! Erst verlange ich nach ihm – um ihn allerlei zu frage, weißt du? – und wenn ich ihn dann endlich zu sehen krieg, sollte er mich zugleich blind glänzen? Femken, ich glaube es nicht! Und wenn es doch wahr ist … weißt du, was ich dann sagen werde? Dann werde ich sagen: Gott d azu bin ich nicht gestorben! Nicht d afü r kam ich in den Himmel! Es war dunkel in der Bettstelle, wo ich lag, und die Blumen quälten mich so, und ich begriff zuwenig, und nun ich endlich glücklich hier bin – im Himmel, weißt du, Femke – nun krieg ich nichts zu wissen, und Alles bleibt in gleicher Verwirrung, und nichts gehorcht meinem Willen, und statt daß ich Licht hier finde, das Helligkeit gibt, muß ich hier die Augen schließen vor einem Licht, das Alles ebenso dunkel macht wie in meiner Bettstelle … Ich thu’ es nicht, Femke. Ich thu’ es ni cht . Ich schlage meine Augen ni cht nieder! Und würde auch Gott sagen, daß ich unverschämt wäre, und daß ich darum nicht bleiben dürfte im Himmel, ich thu’ es ni cht ! Denn sieh’, warum wollte ich immer so gern bei Gott sein? Nun, grade um Alles zu w i s s en. Und wenn ich d as nicht kann … Ein jeder muß handeln nach seiner Ueberzeugung. Da s werde ich auch zu Gott sagen. Das werde ich ihm ganz gut sagen! – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Aber ich muß erst nochmal in den Handel.«23 Ja, er kommt in den Handel. Und er lernt das Schwerste thun: seine 22. Ebd., S. 419 [= 415]. 23. Ebd., S. 420 f. [= 416 f.; ausgelassen ist: »Ich will ihn fragen, warum er den Griechen nicht hilft. Och, Femke, sie kämpfen so! Und ich möchte so fürchterlich gern dabei sein.«]

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Die Abenteuer des kleinen Walther

nächstliegende Pflicht. Sein Traum wandelt sich, geht nach innen, wächst sich zu einem festen Verhältnisse zum Leben aus. Er lernt das Herrenthum dessen gewinnen, der seine nächstliegende Pflicht thut. Es ist nur ein Uebergang. Wir wissen nicht wohin. Aber wir verlassen ihn mit leuchtenden Augen. Erst aber leben wir seine Leiden »im Handel« mit. Auch dieses traurige Milieu ist wie früher das der Familie mit genialer Kraft gezeichnet. Aber über den Schwächen des Menschen werden die Schönheitsmöglichkeiten eines Berufs nicht vergessen, den Knut Hamsun als das Neuland verherrlichte. Und Walther steht anders darin: als der werdende Mann, der berufen ist, seine Welt umzugestalten. Die wunderlichsten Abenteuer begegnen ihn; Prinzessinnen nennen ihn Bruder, und Fancy erscheint ihm in neuer, märchenhaft schöner Gestalt. Er wird nicht klüger. Die Eigenschaft, die ihm mit Multatuli gemeinsam ist, stets Alles auf ei ne Karte zu setzen, ohne Reflexion, mit der großen Impulsivität dessen, der Alles, was er ist, ganz ist, ist unverlierbar. Aber er wird weiser. Dieses zweite Stadium seines Lebens erzähle ich nicht. Man muß es lesen. Und ich vermag auch nichts über das Buch zu sagen. Ich könnte nur wiederholen, was ich von Multatuli selbst gesagt habe. Es ist ein Stück von ihm. Das ist das höchste Lob. So bleibe ich ihm treu, der nicht wollte, daß man über seine Schriftstellerei Gutes sage. Dem Uebersetzer Ein Wort. 24 Seine Uebertragung der Hauptwerke Multatuli’s, die durch dieses Buch abgeschlossen wird, ist eine That. Er hat sein Leben zwei großen Dingen gewidmet: Multatuli und der Psyche des Kindes. In der Uebertragung der »Abenteuer des kleinen Walther« dient er Beiden zugleich. In der lieben, schlichten, ehrlichen Art, die ihm eigen ist.

24. Gemeint ist Wilhelm Spohr.

A. M. und Constantin Brunner

Es gehört zur Artung von Apostelnaturen zweiten Grades, dass sie alle Weisheit und alle Wahrheit der Welt im Meister offenbart und beschlossen finden; jeden guten Gedanken der Zeit muss er vorgedacht, jedes echte Wort der Zeit muss er vorgesprochen haben. Daraus erklärt sich das eigentümliche Gewerbe dieser Leute: wie es Ketzerriecher gab, so sind sie Jüngerriecher; sie schnüffeln nach verkappten Jüngern. Die ganze geistige Schöpfung der Zeit erscheint ihnen als ei n grosses Plagiat, und dieses Plagiat wollen sie aufdecken, Stück für Stück. So einer ist nun an mich geraten. Aber nicht zu seinem Glück. Denn er ist an einen geraten, der über ein Arsenal von Wirklichkeit verfügt, von dem er, der Apostel zweiten Grades, keine Ahnung gehabt hat; sonst hätte er sich wohl einen anderen Gegenstand erwählt. Ich will nun all das nennen, wovon A. M. keine Ahnung gehabt hat, als er seinen törichten Angriff niederschrieb: 1 1. Ke i n e Ahnung v on d e m Buc h, über d a s e r s c hr i e b. Er hatte so ganz und gar keine Ahnung von dem, was drin steht, dass er es falsch zitiert, – offenbar doch, ohne es zu merken. So behauptet er, ich ginge so weit, »tiefstes Menschentum« und »tiefstes Judentum« zu identifizieren, was nur Sinn habe unter der Voraussetzung, dass das jüdische Wesen das geistige Element in der heutigen Menschheit repräsentiere. Ich aber habe gesagt, habe von uns, den heutigen Juden, gesagt: »so meinen und wollen u ns erer S eele tiefstes Menschentum und u ns erer S eele tiefstes Judentum dasselbe«, also das Menschentum und das Judentum in uns, nicht das Menschentum und das Judentum an sich (was mir recht unsinnig schiene) sind gemeint; 2 und das hat seinen Sinn unter ganz anderen Voraussetzungen, als die A. M. anführt und die ich nicht teile; so viel mir das Judentum als mei n Volkstum, meines Volkes Geist gilt, auf dessen Erneuerung ich als auf die wesentliche Aufgabe im Gegensatz zu allen lediglich äusseren Restaurationsversuchen seit mehr als zwölf Jahren in Schrift und Rede, auf Kongressen und von Mensch zu 1. 2.

A. M., ein nicht weiter identifizierbarer Anhänger von Constantin Brunner, hatte in Ost und West den Vorwurf des Plagiats gegenüber Buber erhoben, vgl. ders., Constantin Brunner und Martin Buber. M. Buber, DR, S. 101 (= GA, S. 64 f. = JuJ, S. 45).

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Mensch immer wieder hingewiesen habe, so tief ich seiner besonderen Stellung und seiner besonderen Funktionen in der Allgemeinheit bewusst bin, die ich in dem gleichen Zeitabschnitt immer wieder dargelegt und begründet habe, so fern und fremd ist es mir, das Judentum als »das geistige Element in der heutigen Menschheit« anzusehen (eine Ueberheblichkeit, die ich übrigens bemerkenswerterweise in Brunners Buch nirgends angesprochen finde). 3 2. Ke i ne Ahnung v on d e m Me n s c he n, übe r d e n e r s c hr i eb. Denn er weiss nicht, dass ich von den Gedanken, in denen er Plagiate wittert, die wesentlichsten schon in den Jahren 1902-1905 mündlich (worüber Stenogramme bestehen) und schriftlich (zum Teil in Druckschriften 4 , zum Teil unter meinen Freunden abschriftlich verbreitet) ausgesprochen habe. Er könnte sich demgegenüber immerhin auf die abweichende Formulierung der »Reden« berufen. Aber diese Formulierung ist ausnahmslos einer grösseren Arbeit über das Judentum entnommen, von der die in Betracht kommenden Teile 5 bereits, wie die mit ihnen vertrauten Freunde bezeugen können, vorlagen, ehe Brunners Buch (1908) erschien. 6 Ich habe hernach manchmal bedauert, dass ich diese Bruchstücke damals dem oder jenem mitgeteilt habe; jetzt habe ich immerhin den Nutzen davon, mich nicht auf den Glauben berufen zu müssen, den mein eigenes Wort fordern darf. 3. Ke i ne Ahnung v on d e r Spra c he d es Ged a nke ns und i hre n Unters chied e n. Denn sonst hätte er das, was ich »das absolute Leben eines Volkes« nenne, nicht wohl mit dem verwechseln und zusammenwerfen können, was Brunner »das absolute Denken« nennt.7 Was ich meine und so genannt habe, ehe ich Brunners Buch kannte, hat mit dem, was er meint, kaum mehr als das Adjektiv gemeinsam. Ich stehe der Brunnerschen Lehre von den Geistigen und vom Volke, unbeschadet meiner Schätzung der Persönlichkeit ihres Urhebers, in den wichtigsten 3.

4. 5. 6. 7.

Vgl. A. M., Constantin Brunner und Martin Buber, S. 332: »Die Juden sind das geistige Volk in unsrer Kultur. Von diesem Satze Brunners geht Buber aus, auf ihn gründet er seine Darlegungen – er geht sogar so weit, ›tiefstes Menschentum‹ und ›tiefstes Judentum‹ zu identifizieren, was nur Sinn hat unter der Voraussetzung, dass das jüdische Wesen das geistige Element in der heutigen Menschheit repräsentiere.« [Anm. Buber:] Von »Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung« im »Jüdischen Almanach«, (1. Aufl. 1902) bis zur Einleitung zu den »Geschichten des Rabbi Nachman« (geschrieben im Dezember 1905, gedruckt im Sommer 1906). [Anm. Buber:] Niedergeschrieben 1906 und 1907. Constantin Brunner, Die Lehre von den Geistigen und vom Volke, Berlin 1908. Vgl. C. Brunner, Lehre, S. 5-24.

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Punkten ablehnend gegenüber, am entschiedensten in dem Punkt, auf den sich der Apostel beruft. Ich halte die Scheidung des Menschengeschlechts in zwei prinzipiell gesonderte Kategorien mit verschiedenartigem Denken für einen fundamentalen Irrtum, dem meine Anschauung einer polaren Dualität im einzelnen Denken gegensätzlich fernsteht. Brunners Absolutes ist ein Privilegium der »Geistigen«, mein Absolutes ist die Aufgabe, die jedem Einzelnen und jeder Gemeinschaft gestellt ist. Darum konnte ich «jed es schaffenden Volkes wahres Leben« sein absolutes nennen, wie es aus Brunners Gedankengang nie genannt werden könnte. 8 Darum konnte ich als die zu heilende Krankheit, als das zu überwindende Verhängnis des Judenvolkes bezeichnen, was aus Brunners Gedankengang als urnotwendig und unüberwindlich angesehen werden müsste: »dass sein absolutes und sein relatives Leben auseinanderfallen«.9 Darum konnte ich fordern, was aus Brunners Gedankengang nie gefordert werden könnte: »dass der Kampf um die Erfüllung d a s g anze Volk erfasse«.10 So verhält es sich mit dem Si nn der beiden Begriffe bei Brunner und bei mir. Und die Wo r te »absolut« und »relativ«, das Gemeingut aller Philosophie, wird A. M. doch wohl ebensowenig wie das Wort »geistig« als unantastbares Eigentum für seinen Meister in Anspruch nehmen wollen. – Es mag übrigens ein, dass nicht alle Terminologie meiner drei »Reden« dem gedanklich Ungebildeten unmittelbar verständlich ist; aber sie wird ihm nicht durch Brunners Buch, sondern durch die Darlegung meiner eigenen Ideen, um deren Vollendung willen ich auf die Vollendung des Buches über das Judentum vorerst verzichtet habe (vergl. das Vorwort der »Reden«), verständlich werden. 11 Und auch diese allgemeinen Ideen sind nicht so verhohlen geblieben, dass ich mich in der Oeffentlichkeit nicht auf sie berufen dürfte, sondern mehrere Freunde, die sie seit vielen Jahren aus stundenlangen, abendlangen Mitteilungen kennen, werden mir bezeugen können, dass hier ein System vorliegt, das in seiner Problemstellung und in seiner Methode, in seinem Aufbau und in seinen Formulierungen mit dem Brunnerschen Werk gar keine Aehnlichkeit hat, dessen Ausgang, Weg und Ziel ganz und gar andere sind als die Brunners und dessen längst fixierte Prinzi8. 9. 10. 11.

M. Buber, DR, S. 96 (= GA, S. 61 = JuJ, S. 43). M. Buber, DR, S. 98 (= GA, S. 63 = JuJ, S. 44). Ebd. Vgl. M. Buber, DR, S. 7 : »Ich […] wollte die Vollendung eines Buches über das Judentum abwarten, die mir damals nahe schien. Es hat sich mir seither erwiesen, daß es noch eine gute Weile dauern wird, bis das Buch zu seinem Ende kommt, ja daß ich zunächst aus seinem Banne treten muß, um wieder Raum und Freiheit zu gewinnen.« Dieses Buch ist nie erschienen.

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pien die Lektüre Brunners auch nicht um ein Haar zu verschieben, dessen längst fixierte Lehrsätze die Lektüre Brunners auch nicht um ein Jota zu verändern vermochte. 12 – Handelt es sich A. M. nicht um einen hartnäckigen, erkenntnisfremden Angriff im vermeintlichen Interesse seines Meisters, sondern verlangt es ihn ehrlich, die Wahrheit kennen zu lernen, so stehen ihm die Namen der hier und weiter oben erwähnten Personen – Namen, von denen ihm die meisten nicht ungeläufig sein dürften – zur Verfügung. – Um übrigens A. M.’s Sucht, Abhängigkeiten zu konstruieren, vollends ad absurdum zu führen, will ich hier einen Passus aus meinem oben erwähnten Aufsatz »Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung« (1902) zitieren. Er lautet: »Die Schaffenden sind die heimlichen Könige des Volkes. Sie regieren das unterirdische Schicksal des Volkes [das, was ich später – 1906 – »das absolute Leben des Volkes« nannte], von dem das äussere [das, was ich später – 1906 – »das relative Leben des Volkes« nannte] nur der sichtbare Widerschein ist. Man kann sie mit einiger Analogie-Berechtigung als die Ganglien bezeichnen, in denen sich das Erleben des Volkes einerseits in Aussprechen und sinnvolle Gestalt, andererseits in Handeln und Einwirken auf das eigene Geschick umsetzt. Das Volk ist der schwerfällige Körper, dem das Zentralorgan zugleich die Ausdrucksmöglichkeit und die Wahlmöglichkeit gibt.« 13 Ich verstand unter der Zweiteilung, von der in diesem Passus die Rede ist, etwas völlig anderes, als was Brunner meint, und das ganze Aperçu nimmt in meiner Gedankenentwicklung eine nebensächliche Stellung ein. Aber die äusserliche Aehnlichkeit mit Brunners Lehre fällt 12. [Anm. Buber:] Um auch hier, wenn auch nur beiläufig, eine Druckschrift anzuführen, empfehle ich auf Seite 86 und 90 meiner »Reden und Gleichnisse des TschuangTse« nachzulesen, was ich unter Einheit verstehe und w as i ch d a r unter ni cht ve rs tehe : dass ich darunter auch die (von A. M. fälschlich für Brunner monopolisierte) »Einheit des Geistes« ni cht verstehe. [Vgl. M. Buber, Nachwort, S. 86: »Lehre und Religion, beide sind nicht Teilmächte, wie Wissenschaft und Gesetz, sondern repräsentieren die Ganzheit des Lebens. Aber in der Lehre sind alle Gegensätze der Ganzheit in dem Einen aufgehoben wie die sieben Farben im weißen Licht; in der Religion sind sie zur Gemeinschaft verbunden wie die sieben Farben im Regenbogen.« Ebd., S. 90: »Der Logos des Johannesevangeliums, das bedeutsamerweise der sprachlichen Welt entnommene Symbol des Urdaseins, ist wie ein Wahrzeichen gegen die Übergriffe dieser Dialektik aufgerichtet. ›Das Wort‹ ist ›im Anfang‹, weil es die Einheit ist, die dialektisch zerlegt wird. Eben deswegen ist es der Mittler: weil es zu den Produkten der Zerlegung, etwa zu Gottheit und Menschheit, oder anders betrachtet zu ›Gott Vater‹ und dem ›Heiligen Geist‹, die Einheit stellt, die sie verbündet, die ursprüngliche, zerschiedene und fleischgeworden die Elemente wieder versöhnende Einheit. ›Das Wort‹ ist damit der Genosse jedes Menschenwortes, das ja auch nicht ein Inhalt ist, der eine Form angenommen hat, sondern eine Einheit, die in Inhalt und Form zerlegt wird «.] 13. M. Buber, Die Schaffenden, S. 23.

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in die Augen. Was wäre es, wenn nun einer von der Art des A. M., nur von anderer Parteiung, käme und nach dessen Beispiel aus dieser äusserlichen Aehnlichkeit meiner 1902 gedruckten Ausführungen mit den sechs Jahre später publizierten Brunnerschen Schlüsse zu ziehen versuchte? Es wäre ebenso absurd und ebenso verwerflich wie das, was A. M. getan hat. 4. Ke i ne Ahn ung v on d e r Ges c hi c ht e d e s D e nke ns . Denn sonst würde er wissen, dass es lange vor Brunner einen Denker gegeben hat, der – nach dem Vorgang einiger grossen deutschen Philosophen – »die Begriffe absolut und relativ bewusst und nachdrücklich zu den eigentlichen Trägern« nicht allein aller philosophischen Betrachtung, sondern allen geistigen Lebens gemacht hat: Sören Kierkegaard; und dem Sinn, in dem er sie gebrauchte, ist der, in dem ich sie aufnahm, verwandt. Und zu d i es em Einfluss (der jedoch keine Abhängigkeit bedeutet) habe ich mich in den fünfzehn Jahren, seit er zuerst auf mich wirkte, zu aller Zeit und mit aller Deutlichkeit bekannt.14 – Ferner würde, wenn er die Geschichte des Denkens kennte, A. M. sich vermutlich doch wohl nicht zu behaupten getrauen, nur durch Brunner erfahre man wirklich, was »absolute Einheit« und Sehnsucht danach bedeutet. So redet A. M. von der Uridee alles grossen Menschendenkens, die schon in den Upanischaden so stark und klar ausgesprochen ist, dass man nur zu lesen verstehen muss, um sie für immer zu besitzen. Aber A. M. versteht es offenbar nur, Constantin Brunner zu lesen. 5. Ke ine Ahnung e nd l ich v on Cons t a nt in Br unners e i g e ner St el l ung na hm e zu m e i ne n Geda nke n . Denn als ich Brunner 1910 die damals im Sonderabzug erschienene zweite meiner Reden, deren Gegenstand eben das Streben nach Einheit ist, und zugleich eine Arbeit eines jungen Freundes sandte, schrieb er mir über letztere: »Erstaunt war ich eigentlich, dass R., der mich also gelesen hatte, so gar nichts von mir gehabt hat; ers t au nt bi n i ch ü ber d as Glei che ü br i g ens au ch gegenü ber Ma r t i n Bu ber und Anderen«. 15 Constantin Brunner hat es richtig gesehen: i ch h abe ni ch ts vo n i hm geh abt , nichts als den 14. In Die Frage an den Einzelnen (1936) wird Buber freilich Kierkegaards Philosophie selbst einer Kritik unterziehen. 15. M. Buber, B I, S. 295 f. (Brunner an B., undatiert, vgl. aber S. 295, Anm. 1: »Wahrscheinlich 1911 nach Übersendung der ›Drei Reden über das Judentum‹ geschrieben«). Bei der »Arbeit eines jungen Freundes« handelt es sich um ein Manuskript von E. E. Rappeport, Die Familie als Element der Gemeinschaft, vgl. ebd., S. 284 (Rappeport an B., 4. 6. 1910) und S. 288 (an Rappeport, 21. 11. 1910).

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Eindruck seiner Persönlichkeit, – worüber ich zu anderer Stunde und an anderer Stelle zu reden haben werde. Constantin Brunner weiss, was A. M. nicht ahnt: wer ich bin. Constantin Brunner weiss, was A. M. nicht ahnt: dass ich von ihm unabhängig bin, wie er von mir. Constantin Brunner weiss, was A. M. nicht ahnt: dass ich es nicht fertig bringe, etwas zu denken, wozu ich nicht aus mir selbst gekommen bin, dass ich es nicht fertig bringe, etwas zu verkünden, was ich nicht aus mir selbst gedacht habe. Aber A. M. glaubt, Constantin Brunners geistiges Besitzrecht gegen mich verteidigen zu müssen, und vergeht sich dabei gegen Wahrheit und Anstand, sein Gesicht hinter zwei Anfangsbuchstaben bergend, die alles andere eher als einen wirklichen Menschennamen bedeuten mögen. Was soll ich mit diesem namenlosen, antlitzlosen Schriftsteller anfangen? Was kann ich mit ihm anderes anfangen, als ihn der Obhut dessen übergeben, dem er allem Anschein nach nicht namenlos ist: Constantin Brunners? Diesem also muss ich, – diesem darf ich, da ich wohl weiss, dass diesem ungewöhnlichen Menschen keine Zeit und keine Mühe zu viel ist, um persönlich auf Menschen zu wirken, etwas zumuten, wovon ich freilich für diesen besonderen Fall überzeugt bin, dass es eine recht schwere und umständliche Arbeit ist, und ihm sagen: Tun Sie, was ein Meister vor allem andern an seinen Jüngern tut, wodurch er vor allem andern seine Lehre an ihnen bewähren soll: erziehen Sie sie, das Echte und Eigene zu kennen und zu respektieren!

Daniel Gespräche von der Verwirklichung

Deus in creatura mirabili et ineffabili modo creatur. Scotus Eri[u]gena 1 I

Nach einem Abstieg, zu dem ich ohne Rast das Spätlicht eines vergehenden Tages hatte nutzen müssen, stand ich am Rande einer Wiese, nun des sicheren Weges gewiß, und ließ die Dämmerung auf mich niederkommen. Unbedürftig einer Stütze und doch willens, meinem Verweilen eine Bindung zu gewähren, drückte ich meinen Stab II gegen einen Eschenstamm. Da fühlte ich zwiefach meine Berührung des Wesens: hier, wo ich das Holz III hielt, und dort, wo es IV die Rinde traf. Scheinbar nur bei mir, fand ich dennoch dort, wo ich den Baum fand, mich selber. Damals erschien mir das Gespräch. Denn wie jener Stab ist die Rede des Menschen V . VI

Von der Richtung Gespräch in den BergenVII Daniel: Laß uns weitergehn. Ich habe keine Freude am Ausruhn, mitten im Gebirge. Man müßte aufrecht bleiben können, bergauf, bergab, bis 1. I II III IV V

Johannes Scotus Eriugena, Über die Einteilung der Natur, 3. Buch, Abschnitt 17: »Gott wird in der Kreatur auf wunderbare und unaussprechliche Weise geschaffen«.

Motto nur in EA, 2. u. 3. Aufl. W: die Spitze meines Stocks W: den Stock W: den Stab W: des Menschen, wo immer sie echte Rede, und das heißt: wahrhaft zugewandte Anrede ist. Hier, wo ich bin, wo Ganglien und Sprachwerkzeuge mir helfen, das Wort zu formen und zu entsenden, hier ›meine‹ ich ihn, an den ich es entsende, ich intendiere ihn, diesen einen unverwechselbaren Menschen. Aber auch dorthin, wo er ist, ward etwas von mir delegiert, etwas, das gar nicht substanzartig ist, wie jenes Beimirsein, sondern reine Vibration und ungreifbar. Das weilt dort, bei ihm, dem von mir gemeinten Menschen, und nimmt Teil am Empfangen meines Wortes. Ich umfasse ihn, an den ich mich wende. VI Vorbemerkung nur in EA und W. VII O: Gespräch in den Bergen. Von der Richtung, NB: Gespräch von der Richtung

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Daniel

man wieder im Tal und in der üblichen Ordnung steht. Wir setzen uns hier oben, und schon haben wir die Herrschaft der Fläche errichtet an einem Ort, wohin sie nie gelangen sollte. Es ist mir so, als verletzten wir den Sinn der Dinge. Ich schäme mich meines Körpers, der seine Steilheit nicht bewahren kann, bis es vollbracht ist. Die Felsen ragen wie ein Ruf, wie eine Anklage. Und eben erst waren sie meine Brüder. Die Frau: Aber fühlst du nicht im Aufstehn um so sturzhafter die Offenbarung, daß es dir gewährt ist zu steigen? Sind deine Kniekehlen nicht dreifach beglückt, sich wieder spannen zu dürfen? Wi ed er – das ist der große Jubel unseres Lebens. Wären wir nicht elende, in eine schale Dauer geworfene Geschöpfe, wenn wir nicht an jedem Morgen aus dem Abgrund des Schlafs wieder geboren würden? Daniel: Ja, das ist die Luft der Erde, die unentbehrliche. Weil wir nicht wie Ewige atmen können, die den einigen, richtungslosen Weltodem hauchen, machen wir uns aus dem Spiel des Ein und Aus eine kleine Wollust zurecht. Weil wir nicht schlaflos, lückenlos, schrankenlos, glühend ü ber aller Dauer kreisen können, vergnügen wir uns am Versinken und Erwachen. Weil wir nicht ins Raumlose steigen können – Die Frau: Ins Raumlose? Daniel: Ins Raumlose! Denn das ist es ja, was uns zum Steigen hebt und segnet: daß wir uns aus dem Bann des Richtungsbaus losmachen. Loszumachen scheinen, magst du sagen, aber ich kann mein Erlebnis nicht an einer gültigeren Wirklichkeit messen, das mir die gültigste von allen ist. Ich weiß noch, wie es sich mir das erstemal ergab. Was geschah? Ein Querbalken löste sich vom Kreuze des Raums, an das ich gebunden war, und schon waren auch meine Füße frei: frei stand ich in der Senkrechten, und die Senkrechte war ich. Denn jetzt erst fühlte ich in Wahrheit den Sinn meines aufgerichteten Leibes, meiner aufgerichteten Leibesseele. Ich hob meine Arme über meinem Haupte, dieses Aufgerichtete noch zu steigern, und schon schlug die Flamme von den Fersen zu den Fingernägeln empor, und keines Domes Strebepfeiler stand je so gereckten Lebens lebendig wie ich. Die Frau: Ich spüre es, und wie etwas in mir selber Schlummerndes, Träumendes, Daniel, was du da sagst. Aber wie magst du bei diesem Triumph des Raumdurchdringens an ein Steigen ins Raumlose denken? Daniel: Ist der Raum nicht die deutlichste Gestalt des großen Vorgangs, in dem das Eine von dem Vielen durchschnitten wird? Und ist dieser unser Weg nicht ein leidenschaftliches Bild des freien Ausharrens in dem Einen, des uns versagten? Gewiß: was ich erlebte, als ich erhoben zwischen Himmel und Erde stand, das war noch Raum und mußte es bleiben, aber abgeglänzt war

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darin ein Reich, in dem nichts ist als mein Selbst und seine Vollendung über ihm. Denn da war keine Breite, die meine Erhebung schnitt. Unverweht brannte die Fackel meiner Spannung zum Zenith, unabgelenkt stürzte der Blitz der Höhe auf mein Haupt, und irdisches vermischte sich mit himmlischem Feuer. Zusammengestürzt war das Gerüst der Richtungen, ich Aufgerichteter war allein mit meiner Richtung. Und damals erschien mir die Gnade, die den Getragenen zum Tragenden macht. Denn was ist es, daß wir uns ausgeliefert fühlen, da doch die Macht unseres Lebens bestätigt ist mit unsterblichen Siegeln? … Weißt du noch jenen Abend überm See? Die Frau: Unser Zimmer hing überm See. Das Ufer war unsichtbar. Wenn man hinaussah, stand man über dem Wasser; ja in der Luft, so war es, stand man über dem Wasser, wie eine Möwe im Wenden, wie ein Geist, der schwebend innehält und schaut. Ich lehnte am offnen Fenster im Abend … Daniel: Du lehntest am offnen Fenster im Abend, die kleinen Wellen des Sees spielten dir entgegen, und du spürtest die kleinen Wellen deines Blutes in einem mit ihnen, spürtest eine milde Wehmut und alle Sicherheit. Jetzt hattest du einen Nu lang die Augen weggehoben, du senktest sie halb gezwungen wieder, da war die Welt verwandelt: statt der vertrauten spielenden schwoll die schwere Flut der Nacht mit dem Grauen ihrer tausend Verzweiflungen zu dir empor, und die du eben noch die Herrin warst, dünktest dich verloren. Aber dann schautest du die Nacht an, wie vorhin den See, du schufst dich ihr mit Blick und Blut zum Gegenüber, du rissest aus der Unendlichkeit ihrer Richtungen die eine, die deine hervor und schlugst sie als Brücke aus deinem Kerne in den Kern der Nacht – da zerrann das Grauen, das große Wesen gab dir seinen Blick, und die Trauer darin war dir, der Verschwisterten, nicht schreckhafter als die Trauer in den Augen deines Hundes. Die unendlichen Richtungen, die unendlichen Spannungen, die unendlichen Gefühle verführen, erschüttern, entrechten uns. Da setze ich meine eingeborne Richtung zwischen sie, daß sie sich um sie schichten, wie die Geheimnisse der Nacht um die Stoßlinie deines Blickes, wie die Felsgebilde hier um die Senkrechte meines Leibes und meines klimmenden Schrittes. Die Wogen der Unendlichkeit, die Wellen, die zwischen je zwei der zahllosen Pole des Seienden gehen, durchwirren meinen Weg; unendlich ist ihre Zahl, und mein Weg ist einer, als meine Richtung; und dennoch ist ihre Allheit nur die Wagerechte, die meine Senkrechte schneidet, und dennoch hebe ich ihre Wirrnis von meinem Leben wie den Querbalken vom Kreuze. Und das mich trug, nun trage ich es: wie ich meinen Leib trage.

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Die Frau: Sprachen wir nicht eben noch vom Raum? Und nun ist es, als führten uns die Worte, die du sagst, ins Raumlose. Daniel: Die Worte, die w i r sagen. Denn ist deine Stimme, wenn du schweigst, nicht bei meinem Reden zu Gast? … Aber schon als wir vom Raum sprachen, sprachen wir ja von mehr als Raum. Sieh: wie vor das einfältige Wachen der vielfältige Schlaf, wie vor die einfältige Senkrechte die vielfältige Wagerechte, so ist vor das einfältige Eine das vielfältige Andere, vor das Erlebnis der Zusammenhang gesetzt. Die Frau: Aber ist nicht das Vielfältige die Mutter, das Einfältige der Sohn? Daniel: Wohl, aber du kommst zur Mutter nicht anders als durch den Sohn 2 – wenn du andern Weg gehst, verlierst du dich. Da wir nicht wie Ewige richtungslos zu leben vermögen, bleibt uns ins Ewige ein einziger Weg nur: unsere Richtung. Nicht über den Dingen, nicht um die Dinge, nicht zwischen den Dingen – in jedem Ding, in jedes Dinges Erlebnis öffnet sich dir die Pforte des Einen, wenn du den ZauberI mit dir bringst, der sie erschließt: die Vollkommenheit deiner Richtung. Die Frau: Du vergißt die Kraft! Daniel: Nein, denn die Richtung ist nur vollkommen, wenn sie mit Kraft erfüllt ist: Kraft, ganz das Erlebnis zu erleben. Kraft allein würde dir nur die Fülle, Richtung allein nur den Sinn des Erlebnisses geben – Richtungskraft läßt dich in seine Substanz, das ist in die Einheit selber dringen. So findest du, was auf der Spur des Zusammenhanges vergeblich gesucht wird. Sieh diese Zirbelkiefer an. Du magst ihre Eigenschaften mit denen andrer Zirbelkiefern, andrer Bäume, andrer Gewächse vergleichen, Gemeinsames und Ungemeinsames feststellen, du magst erkunden, woraus sie zusammengesetzt ist und wie sie geworden ist: das wird dir in der nützlichen Hilfswelt der Namen und Einteilungen, der Entstehungs- und Entwicklungsberichte nützlich sein, von der Wahrheit dieses Wesens erfährst du nichts. Und nun versuche dieser Zirbelkiefer selber zu nahen. Nicht mit der Kraft II des fühlenden Blickes allein – die könnte dir nur die Fülle eines Bildes III schenken: viel, nicht alles. Nicht mit der Richtung IV des aufnehmenden Geistes allein – die könnte dir nur den Sinn der lebenden 2.

Travestie des zweiten Teils von Joh 14,6: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.«

I II III IV

O: deinen Zauber O u. NB: mit Kraft O: Bildes, eine Stimmung O: mit Richtung

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Gestaltung I eröffnen: viel, nicht alles. Sondern mit all deiner gerichteten Kraft empfange den Baum, ergib dich ihm. Bis du seine Rinde wie deine Haut fühlst und das Abspringen eines Zweiges vom Stamm wie das Streben in deinen Muskeln; bis deine Füße wie Wurzeln haften und tasten und dein Scheitel sich wölbt wie eine lichtschwere Krone; bis du in den weichen blauen Zapfen deine Kinder erkennst; ja wahrlich bis du verwandelt bist. Aber auch in der Verwandlung ist deine Richtung bei dir, und durch sie erfährst du den Baum, daß du in ihm in die Einheit gelangst. Denn es zückt dich in dich zurück, die Verwandlung löst sich wie ein Nebel, und um deine Richtung bildet sich ein Wesen, der Baum, daß du seine Einheit, die Einheit erfährst. Schon ist er aus der Erde des Raumes in die Erde der Seele gepflanzt, schon redet er seine Heimlichkeit an dein Herz hin, schon gewahrst du das Mysterium des Wirklichen. War er nicht ein Baum unter Bäumen? Aber jetzt ist er der Baum des ewigen Lebens geworden. Die Frau: Wie aber, wo der Zusammenhang nicht das kunstreich gesponnene Netz der Weltkunde ist, sondern das tiefe ElementII selber: der Mutterschoß, in den wir uns aus den grausamen Gesetzen der Vereinzelung retten, das Schrankenlose, in das wir vom Strand der Begrenzungen tauchen müssen, um nicht am Widerspruch zu vergehn? Ist alle Ekstase nicht ein Aufgehen im Andern? Daniel: Von Dionysos als Zagreus wird gesagt, die Titanen hätten ihn durch ein Spiel an sich gelockt und ihn in Stücke gerissen und verschlungen. 3 Dieses Schicksal erfährt, wer sich mit ungerichteter Seele der Ekstase überantwortet. Die Gewalten des Chaos nehmen ihn hin, die Dämonie des Ungewordenen zersprengt seine Seele und schlingt sie ein. Ihm möchte ich das Bild des Orpheus gegenüberstellen, der mit der Lyra in das Land des Hades niedersteigt, nicht um ein Geliebtes wiederzugewinnenIII , sondern um bei Dionysos, der Hades ist, zu sterben und aufzuerstehen, die Handlung der Erneuerung vollziehend, darin jener Rhythmus des Atems und des Schlafes zum Sakrament verklärt ist. 4 Dies aber ist das Urbild3.

4. I II III

In diesem antiken griech. Mythos tritt Dionysos als ein Götterkind auf, das von den Titanen zum Spiel verlockt, dabei aber zerrissen und gefressen wird. Die Mörder werden zur Strafe von Zeus mit dem Blitz erschlagen. Aus ihrer Asche stammen die Menschen. Dieser Mythos war v. a. in Kreisen der Orphiker populär. Wiederentdeckt hat ihn Nietzsche in der Geburt der Tragödie. Orpheus, einer der Argonauten, ist v. a. der berühmteste Sänger der antiken griech. Mythen, der mit dem Spiel seiner Lyra sogar den Tod überwindet. Als er die verstorO: der Gestaltung O: die tiefe Wahrheit O erg. »– du weißt, Eurydike ist Scholiastenwerk –«, NB »du weißt, Eurydike ist dem alten Mythos fremd –«

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liche an Orpheus, daß er in den ekstatischen Tod mit der Lyra geht. Nicht verlockt: entschlossen, und mit der Lyra. Musik ist das reine Wort der gerichteten Seele. Hier ist nichts mehr von dem kunstreichen Zusammenhang aus gefesselten Polaritäten, in den die Erlebnisse eingereiht, eingezwängt werden, aber auch die gestaltlose Mischung und ihre Verlorenheit ist aus diesem Reiche verbannt. Hier waltet allein die gerichtete Seele. Sie setzt ihre eingeborne Richtung, setzt die Melodie in den Abgrund, und die Gewalten der Tiefe schichten sich um sie wie die »wilden Wesen« um den spielenden Orpheus … Du kommst zur Mutter nicht anders als durch den Sohn. Die Frau: So wäre denn Richtung der innere Gesang? Daniel: Daß die orphische, die entschlossene, die untertauchende und erneuert heimkehrende, die sterbende und werdende Seele die Magie ihres Gesanges hat, die sie unberührbar, sie in allen Toden unsterblich macht, das ist das Werk ihrer Richtung. Ja Richtung ist selber ganz und gar nichts anderes als Magie. Eine Seele betritt das Ufer der Welt. Sogleich stürzt der Wirbel des Geschehens über sie wie ein unendlicher Sandsturm, der sie zu vernichten droht. Sie spannt sich, ihm standzuhalten. Und sieh, darin entscheidet sich, welcher Art eine Seele ist: wie sie dem Wirbel standhält. Die eine sinnt nur auf Schutz. Die übergibt sich völlig den Erbmächten, den überlieferten Künsten der Selbstbewahrung, die ihre Sinne erziehn, statt des Wirbels eine geordnete, in den Rahmen der Erfahrungsgrundsätze gefaßte Welt wahrzunehmen, die ihren Willen erziehn, statt dem Wirbel einem geordneten System der Ursächlichkeiten und Zweckhaftigkeiten zu begegnen und sich ihm einzuordnen. Und in der Tat, dies i s t Schutz: denn der erstarrenden Seele ist auch die göttliche Gewalt des Wirbels erstarrt. Nicht so die andere. Sie findet kein Genügen an dem Schutz, den ihr die Erbmächte zuteilen. Sie läßt sie freilich bestehen, die Hilfswelt, in der allein sie mit den Menschen leben kann, sie nimmt sie an und erlernt ihre Gesetze. Aber tief in ihr wächst und dauert die Bereitschaft, dem nackten Wirbel entgegenzutreten. Womit ausgerüstet? Mit nichts anderm als mit der Magie ihrer Richtung, ihrer eigenen, eingebornen, einmaligen, ihr

bene Gattin Eurydike zurück an die Oberwelt führt, wendet er sich verbotenerweise nach ihr um, und sie muß wieder zu den Toten zurückkehren. Aus Gram darüber meidet er die Frauen und wird schließlich von den Mänaden zerrissen. Doch sein vom Körper getrenntes Haupt singt weiter. Mit Hades, dem Herrscher des Totenreichs, wird Dionysos von Heraklit gleichgesetzt (Fragment 15 Diels-Kranz). Zusammen mit Orpheus gilt er als Zentralfigur der antiken Mysterienkulte, die ihren Anhängern ein seliges Weiterleben nach dem Tod versprachen.

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und keiner andern zugehörenden Richtung. Und nun darf ich es ja in eine Wortbestimmung fassen, ohne fürchten zu müssen, deiner Vorstellung Zwang anzutun: Richtung ist jene Urspannung einer Menschenseele, die sie bewegt, jeweilig aus der Unendlichkeit des Möglichen dies und kein andres zu wählen und tuend zu verwirklichen. So streift denn die Seele das Netz der Richtungen, das Netz des Raumes und der Zeit, der Ursachen und der Zwecke, der Subjekte und der Gegenstände, sie streift das Netz der Richtungen ab und nimmt nichts mit als die Magie ihrer Richtung. Das ist die Kraft I , die die Seele in sich selber gefunden, auf die sie sich in sich selber besonnen, die sie aus sich selber gehoben hat. Und sieh, Liebe, nun bewährt sich die Macht der gerichteten Seele. Denn selig mag wohl der richtungslose Gott oder Dämon sein, der der Richtung nicht bedarf, und schön ist es, sich ihn zu denken, richtungslos atmend, richtungslos kreisend, ein richtungsloses Feuer; aber unselig ist der ungerichtete Mensch, der der Richtung bedarf und ihrer entbehren muß, der Unmächtige. Mächtig aber ist sie, die gerichtete Seele, da sie dem Wirbel II entgegentritt, in den Wirbel III eintritt. Und so ist ihre Macht, daß sie ihn bannt, ihn magisch bannt, also daß sie nackt im nackten steht und nicht vernichtet wird. Vielmehr ruht er um sie, wie die Scheide um das Schwert, wie die Erde um das Korn, wie die Mutter um das Kind. Und dann erkennt die Seele ihren Mutterschoß. Als es den Menschen gelungen war, das Geschehen in das Getriebe von Ursache und Wirkung einzuspannen, als das Getriebe fest gefügt stand und das kundig gefertigte IV Räderwerk seinen anbefohlnen Dienst tat, da nannten sie den Zug des Pendelgewichts, den unaufhaltsamen, Notwendigkeit; und sie entsetzten sich über die Notwendigkeit. Aber ich mag weder all den Fügungen der Menschennot zwischen Geburt und Grab, noch dem Schicksal alles ausgestreuten Lebens in der Welt, noch allem Widerspiel der Elemente, noch auch dem Gang der Sterne selber, nicht all diesem Erforschten und Eingestellten mag ich den Namen der Notwendigkeit gönnen, sondern einzig der gerichteten Seele. Denn wie sich die Magnetnadel aus allen Himmelsgegenden den Norden erwählt hat und wie sich mein Leib aus allen Haltungen die Senkrechte erwählt hat, so hat sich die Seele von Anbeginn aus der Fülle der Allmöglichkeit V ihre Richtung erwählt. Aber die Magnetnadel gehorcht, und jede muß das Gleiche weisen; und auch mein Leib gehorcht und kann nur an Spannung I II III IV V

O u. NB: Macht O: Wirbel des Wirklichen O: Wirbel des Wirklichen O: eingestellte O. ers. »Anbeginn – Allmöglichkeit« durch »Uranbeginn«.

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und Bewußtsein das allem Menschenleib Gebotene überleisten; aber die Seele gebietet, und hat nicht gehorchend erwählt, sondern gebietend, und sie weist nicht dahin, wo Norden ist, sondern da ist ihr Norden, wohin sie weist, und wohin sie weist, dahin kann von Ewigkeit zu Ewigkeit keine andre weisen. Und was die Zeiten des Menschengeschlechtes vermochten: einen Richtungsbau aufzurichten, daran die Natur sich den Menschensinnen ordnet, das übervermag die Seele; denn mit ihrer einen Richtung ruft sie die Wirklichkeit an und bannt sie – bannt sie um ihre Richtung: so daß sich die Wirklichkeit nicht ordnet, sondern offenbart und ergibt, und nicht den Sinnen und dem Verstand allein, sondern von Wesen zu Wesen und von Mutter zu Kind. So ist die gerichtete Seele die Notwendigkeit der Natur. Die Richtung aber ist die Notwendigkeit der Seele. Und ihr möchte ich hier I, zwischen den Felsen stehend, da mein Leib meiner Seele selig ist, weil ihre Richtung sich in seiner Richtung spiegelt, ein Preislied singen II – wenn ich es zustande brächte. Aber sie läßt sich ja nur in Taten, nicht in Worten sagen, und sie bekundet sich nur durch ihr Werk: sie, die mich am Morgen emporreißt III und in die Wüste treibt, die mich am Mittag heimsucht und zu den Lebendigen schickt, die am Abend meine Hand faßt und mich zu Gott geleitet: die hohe Herrin meiner All-Einsamkeit. Die Frau: … Gib mir deine Hand, Daniel. Daniel: Hier. Die Frau: … Was siehst du? Daniel: Meine Hand in deiner. Die Frau: Eine Wagerechte, nicht wahr? Daniel: Eine Wagerechte. Die Frau: Möchtest du sie – möchtest du den Querbalken wegheben? Daniel: Um nichts. Die Frau: Wie das? Daniel: Weil dies nicht der Zwang durch das Andere ist, den es zu bezwingen galt, sondern des Andern Erwählung: der Richtung heiliges Gespinst, das blühende Kreuz der Gemeinschaft. IV

I II III IV

O: Und hier O: möchte ich ein Loblied der Richtungen singen O u. NB: aufreißt O erg. »vollendet 13., durchges[ehen] 15. VII. 12«.

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Von der Wirklichkeit Gespräch über der Stadt I Ulrich: Wie die Stimmen der Stadt verrauschen! Diese kleine Strecke erst sind wir von ihr gewandert, und schon sind alle ihre Laute, die eben noch an uns emporspritzten, in den grossen Mischkrug der Ferne gefallen, und von allen Stürmen ihrer Hast ist uns dieses Rauschen geblieben, – fast ein Lied. Daniel: Ein Lied, Ulrich, ein Lied! Ja, sie zerrten und schrien wie kranke Hunde an der Kette, die zweckbesessenen Tausendmaltausend, sie tobten wider und durcheinander, und doch pochte in jeder Kehle, ungewußt, die Sehnsucht nach dem Lied, das sich jetzt nicht in ihnen, in unsern Ohren nur befreit. Es hat einen Augenblick gegeben, da ich es anders hörte: mitten im Taumel der Straße – nicht ein Spiel der Ferne, sondern das blutend Nahe, von der Sehnsucht der Sehnsüchtigen mir zugesungen. Ulrich: Ei nen Augenblick? Daniel: Weißt du nicht II , was der Augenblick dir trägt, den du sich erfüllen läßt, welche Flut von Leid und Licht? … Ich ging in der Menge und war auf nichts bedacht als ihr meine Seele so weit aufzutun, so Speicher und Verlasse zu entriegeln, daß darin Platz fände alles, was ich von dieser Menschen offenbarer und verborgner Not irgend gewahren könnte. Ich sprach in mir: Was kann ich an dir tun, die du um mich brausest ohne Ziel und mich anrührst ohne Wissen, namenlose Menge? Ich habe nicht die Macht dich zu heilen und habe nicht die Kunst dich zu trösten; und wenn ich dir mein Leben hinopferte, wäre nichts getan. Aber das vermag ich: dich aufzunehmen, deine zerstreute Pein in mir zu sammeln, die III Zerrissene in mir ganz zu machen – daß meine Seele dein Lied wird, du Liedlose. Und dieses Willens ging ich durch die Menge. Und da dieser Wille in mir wirklich wurde, geschah es mir, daß ich mich nicht mehr wußte, sondern ein Gewühl von Kräften, aufeinanderIV schlagend und aneinander vorbeistürzend ohne Maß und Weg; aber in der Mitte des Gewühls wohnte, Blut aus dem Wirrsal empfangend und in all seine Winkel entsendend, ein Herz, wie eines Menschen Herz. Und erst übermannte mich die Gegenwart des ungeformten und ungebändigten Körpers, daß ich meinen Dienst tat wie eine Pumpe, demütig und betäubt. Aber dann kam der Sinn wieder über mich, und ich vernahm aus jeder dieser Kräfte, I II III IV

O: Gespräch über der Stadt. Von Wirklichkeit und Verwirklichung, Z: Von Wirklichkeit und Verwirklichung O ers. »zugesungen – nicht,« durch »zugesungen. Weißt du,«. O u. Z: dich O: aneinander

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ja aus jeder dieser jagenden, zwecktollen Kräfte, aus den hungrigen und aus den lüsternen, aus den suchenden und aus den greifenden, aus jeder aufsteigend vernahm ich ein Singen. Ach, dieses fahle, flackrige, gespenstige Singen! Als ich es vernahm, wurde ich feig, mein Freund, feig vor würgendem Mitleid, und hatte keinen Willen mehr in mir als den einen, wieder ein Mensch zu sein und einen dieser Menschen bei der Hand zu fassen und ihm zu sagen: »Besinne dich, Bruder, daß deine Seele ein frei und gewaltiges Firmament ist, das nichts gewaltigen kann I .« Da warf ich mein Amt hin und schwor ab; und schon stand ich wieder in meinem Leibe, inmitten der Menge. Das aber war so, daß ich schwankte und was um mich war wie einen riesenhaften kreisenden Kreisel sah, und meine Lippen waren geschlagen. So stand ich, schwankend und stumm; und nachdem ich eine Weile gestanden hatte, ging ich nach Hause und setzte mich auf eine Bank im Garten, auf die braune Bank unter dem Ahorn, und war einsam in schlimmer Einsamkeit, wie nie zuvor … Viel später aber erst wurde mir offenbar, was ich in jenem Augenblick erkannt hatte. Ulrich: In jenem Augenblick? Wie konnte dir das so gewiß sein? Daniel: Du weißt sicherlich um das, was an einer Erkenntnis das Zeichen zu nennen ist. Du wachst an einem Morgen auf, oder du hältst auf einem Gange inne, und hast einen Gedanken in Händen, einen wissenden Gedanken, den du zum erstenmal siehst und der doch reif und fertig ist, als hättest du viele Zeit lang an ihm gebildet. Aber während du ihn betrachtest, merkst du, daß er ein Zeichen trägt: das ist ein GebildeII aus einem Ort und einem Augenblick und darin das Siegel eines Erlebnisses. Und du magst deine Erkenntnis im Heiligtum des Schweigens aufstellen oder sie auf dem Markt der Worte feilbieten, das Zeichen haftet daran. Ulrich: Und vielleicht ist es dies, was uns unsere Erkenntnisse als etwas Lebendes und Unzerstörbares empfinden läßt, auch wenn sie im Schweigen verwahrt werden … Aber was war es, Daniel, das du damals erkannt hast? Daniel: Wenn ich es dir so einfach sagen soll, wie ich es erkannt habe: Unwirklich bleibt, wer nicht verwirklicht. Ulrich: Du wirst es mir doch wohl vielfacher sagen müssen, wenn ich es recht verstehen soll. Daniel: Wir sprachen ja schon einmal davon, daß es ein doppeltes Verhalten des Menschen zu seinem Erleben gibt: das Orientieren oder Einstellen und das Realisieren oder Verwirklichen. Was du tuend und dulI II

O. ers. »das nichts gewaltigen kann« durch »ohn alle Bindung!« O u. Z: Gewinde

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dend, schaffend und genießend erlebst, kannst du um deiner Zwecke willen in den Zusammenhang der Erfahrung einreihen oder um seiner selbst willen in seiner eigenen Kraft und Helligkeit erfassen. Indem du es der Erfahrung einfügst, bearbeitest du es nach ihren Formen und Gesetzen. Es war nicht anders räumlich als der neue Himmel, den Johannes auf Patmos sah 5 ; du aber machst es zu einem Ding im Raume, versicherst es an seinem Ort, mit der Ziffer der Luftsäule über ihm und der Ziffer der Erdanziehung unter ihm, mit einer unabschüttelbar festen Beziehung zu jedem andern Punkte der Welt. Es war nicht anders zeitlich als der letzte, schon zwiefach gerichtete Blick des Sterbenden; du machst es zu einer Begebenheit in der Zeit, blätterst es zur Abfolge auf, wie ein Knabe eine Rosenknospe gewaltsam aufblättert, und schiebst es dann zwischen ein Vorher und ein Nachher, die es zerdrücken. Es war nicht anders ursächlich als die Majestät des ersten Traums; du zwängst es in eine Kette ein, wo es gerade so viel Sinn darstellt wie jedes andere Glied der Kette: ein Glied mit einem anderen Glied zu verbinden. Es war nicht anders gegenständlich, als Gott dem Menschen oder der Mensch Gott Gegenstand ist; du brichst es mitten entzwei, so daß du seinen Kern versehrstI , und nennst die Stücke mit überlegener Sicherheit II den Wahrnehmenden und das Wahrgenommene. Ist es aber in diese und ähnliche Gefüge und Getriebe richtig eingestellt worden, daß die Einstellungen zueinander stimmen und es in ihnen zu jeder Zeit wiedergefunden zu werden vermag, und kann der Abriß der Einstellungen in einem allgemein verständlichen Satz ausgesprochen werden, so wird dieser Satz gemeiniglich Wahrheit genannt. Und gewissermaßen mit Recht; denn auf Entdeckungsfahrten ist der Zweifel zu Hause; aber beim Ablesen einer Landkarte sind Wahrheit und Irrtum leicht festzustellen. Nur von Wirklichkeit sollte man bei alledem nicht reden. Ulrich: Wie, Daniel, so möchtest du behaupten, auch die Wissenschaft, die sich doch am Naturgeschehen und am zweckmäßigen Handeln bewährt, sei nicht durchaus auf der Wirklichkeit erbaut? Daniel: Das meine ich allerdings. Aber verstehe mich recht. Kunstreich erscheint mir der Zusammenhang der Erfahrung, jedoch nicht künstlich; als eine Bearbeitung des Erlebnisses erscheint sie mir, jedoch nicht als 5.

Vgl. Apk 21,1 f.: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.«

I II

O: versehrst und seine Seele mordest O: stolzem Betragen

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eine willkürliche. Hat sie doch all ihre Formen und Gesetze, ja ihr ganzes, von uralten Zwecken bestimmtes Dasein I aus nichts anderm als eben aus dem ewigen Erlebnis des Menschen gezogen, und was sie an Regelmäßigkeiten gestiftet hat, spiegelt tiefe rhythmische Züge des Erlebnisses, freilich nur sinnbildlich, wider. Und wie sollte ich diesen unüberblickbaren Bau der Wissenschaft und sein wundersames Werden nicht ehren? Wie könnte ich ihn hinwegwünschen, hinter ihn zurückwünschen, ohne mich an der Macht des Geistes zu vergehen? Denn überall, wo ein Wissen ansetzte, wo es begann, wo es schöpferisch war, war es nicht orientierend, sondern realisierend: Versenkung in das reine Erlebnis – und das so Gefundene wurde in das Bett der Einstellung übergeleitet. Und überall, wo das Orientierungswissen selbständig waltete, war es Raubwirtschaft, denn es geschah auf Kosten der mütterlichen, nährenden Säfte des Erlebnisses, die nur die Verwirklichung in Größeres als in einen kleinen Nutzen oder eine kleine Sicherheit umzusetzen vermag. Und diese Übermacht der Orientierung ist es, woran ich leide, wogegen ich mich empöre – um der Realisierung willen, die aus dem Erlebnis die Wirklichkeit schafft. Ulrich: So willst du denn unter Wirklichkeit nicht das elementare Material des Erlebens, sondern ein Werk der Seele verstehen? Daniel: Ein Werk der Seele wohl; aber bedenke, daß uns im Erlebnis nicht ein Material dargeboten wird, das wir formten und das von unserer Formung ablösbar, aus ihr ausschmelzbar wäre, sondern daß es in unserer Aktivität aufkeimt und wir aus dem fertigen Gewächs den Keim in keiner Weise mehr zu scheiden vermögen. Das Erlebnis ist uns zum Betrachten und Vergleichen nur in der Gestalt gegeben, die unsre Funktion, die orientierende oder die realisierende, aus ihm entfaltet hat; in seinem ungestalteten Wesen erleben wir es nur, aber wir besitzen es nicht. Zu unserm Wissen, zu unserm Gedächtnis, zu unsrer Besitzergreifung führen vom Erlebnis nur die zwei Brücken unserer Gestaltung, und wenn es über die Brücke kam, ist es – ob der Gang auch schneller war als der Weg des Lichts II – gestaltet; ist es zur Erfahrung oder zur Wirklichkeit geworden. Das Erlebnis ist unfaßbar wie ein Blitz oder ein Wasserfall oder das Zusammenschießen des Kristalls III ; Wirklichkeit dürfen wir es nicht nennen, da wir damit nicht zu schalten, es nicht hervorzuholen und zu betrachten vermögen. Aber noch viel weniger wollen wir dem Aufbau der Erfahrung den Namen der Wirklichkeit lassen. Ulrich: Was aber dünkt dich um den gemeinen Sprachgebrauch, dem I II III

O streicht »von – bestimmtes«. O u. Z streichen »ob – Lichts«. O: Wallen im Schmelztiegel

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die Wirklichkeit einfach die Gesamtheit des Wahrgenommenen und Wahrnehmungsmöglichen ist, die als das Existierende empfunden wird? I Daniel: Mich dünkt, daß wir ihn achten sollen, weil das Zusammenleben der Menschen auf ihm errichtet ist, und nicht nur darum. Und wir wollen ihn II wieder annehmen, sobald wir in das Gehege der Stadt zurückgekehrt sind, mit einer Einschränkung, wenn es dir dann so gut scheint, oder uneingeschränkt III . Jetzt aber … Ist es dir nicht oft aufgefallen, daß in einem Gedicht, Hölderlins etwa, ein Wort in einem gesteigerten Sinn verwendet wird, den der Sprachgebrauch nicht kennt? Ulrich: In einem Gedicht wohl. Daniel: Und sind Gedichte nicht schwingende Erkenntnis? So laß uns jetzt in einem Gedicht verweilen IV und Wirklichkeit das nennen, was in einem gesteigerten Sinn Wirklichkeit zu nennen ist. Und sei gewiß, daß dieser gesteigerte Sinn, dem wir jetzt eine Weile lang nachgehn wollen, ebensowenig Willkür ist, wie der gesteigerte Sinn des Wortes im Gedicht. Dieser aber kommt aus einer nicht minder tiefen Notwendigkeit und einem tieferen Recht als der Sprachgebrauch, der das ja selbst bekräftigt, indem er nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten dem Dichter botmäßig wird und seinen Sinn sich aneignet. Warum wohl? Weil jener gesteigerte Sinn Augenblicken gesteigerten Daseins, gesteigerten Menschentums, gesteigerter Erkenntnis entstammt. Sie sind es, die Sprache einsetzen, Sprache erneuern. Sie sind zu befragen, wenn wir im gesteigerten, im schöpferischen Sinn von Wirklichkeit und Verwirklichung reden wollen. Ulrich: Wie aber können wir sie befragen, die uns doch unzugänglich sind? V Daniel: Nicht unzugänglicher als dem Dichter der Held, den er kennt, weil er in der Welt sein Angesicht und seine Geste, in der Seele das vorfindet, was sich in Angesicht und Geste ausspricht … VI Vergegenwärtige dir einen Menschen, der sich erinnert. Ich meine nicht jene resignierte Lässigkeit, die die Türen des Vergangenen offen läßt und jedem eintretenden Schatten die gleiche bittersüße Aufmerksamkeit zuwendet; auch nicht jene angenommene Überlegenheit, die das Gewesene aufzählt wie die früheren Züge eines Spiels, in dem der entscheidende noch zu tun ist; I II III IV V VI

O u. Z ers. »die Gesamtheit – wird« durch »der als das Existierende empfundene Zusammenhang des Wahrgenommenen und Wahrnehmungsmöglichen [Z: ›Wahrnehmbaren‹] ist«. O: wollen ihn, wenn du willst, O streicht «, mit – uneingeschränkt«. O: jetzt eine Weile in einem Gedicht verharren Satz in O. gestrichen. Satz in O. gestrichen.

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aber auch jene treue und gedankenvolle Rechnung eines wahrhaften Menschen nicht, der über die Entscheidungen und Entscheidungslosigkeiten seines Lebens richtet. Ich meine die vor allen seltene, die erhöhte Stunde der großen Evokation, da den Beschwörenden sein gelebtes LebenI antritt als eine Gestalt. Sieh ihn vom Schauer des Ereignisses II hingenommen erst nur ganz die Ganze gewahren, sieh ihn sich fassen, seinen Blick regieren, schauen. Aus nichts anderm ist das Bild, das er schaut, gewoben als aus dem geheimnisvollen Stoff, den wir Zeit nennen, gelebte Zeit. Aus den Gesichtern gelebter Zeiten ist das heilige Antlitz gestaltet, und der Schauende erkennt sie, die sich im Stetigen wandeln nach dem Sinn des Lebens. Welche Zeiten, meinst du, wird er so wiedersehen? Die, in denen er sein Erlebnis in den erbgewohnten Zusammenhang der Mittelbarkeit III einstellte als ein Knecht des Fremden IV ? oder die, in denen er es auffing, wie der Ballspieler den Ball, sich mit gerafften Gliedern entgegenwerfend, auffängt; in denen er es umfaßte, wie der Ringer den entgegengespannten Leib, die ganze Kraft in den einen siegerringenden Muskel werfend, umfaßt; in denen er es vollbrachte, wie der Läufer seinen Weg, ihn mit dem einigen Schwung seiner Schritte erfüllend, vollbringt? Welche, welche erkennt er als die Wirklichkeit – die Stunden, in denen die Vielheit das Eine umschattete und schwächte, oder die, in denen das Eine in der ungeschmälerten Fülle seines Glanzes strahlte, weil es auf nichts anderes bezogen wurde als auf es selber? Ja, dies heißt verwirklichen: das Erlebnis auf nichts anderes beziehen als auf es selber. Und hier ist der Ort, wo sich die Kraft des Menschengeistes erweckt und sammelt und schöpferisch wird. Denn wo die Orientierung waltet, ist jene kluge Ökonomie daheim, deren Klugheit zum Himmel stinkt, weil sie nur spart und nicht erneuert. Wo aber der Fuß der Realisierung steht, da wird die Kraft aus den Tiefen gezogen und zusammengebracht und zum Wirken bewegt und am Werk erneuert. Wie den Ballspieler und den Ringer und den Läufer die Aufgabe beruft, aus seinem Leibe alle Gewalt zu holen und sie in die Tat zu gießen V , so tut das Erlebnis an dem Menschen, der es zu verwirklichen bereit ist. Denn das vermag er nur als ein Ganzer und Geeinigter. Und der, wo er nur in das System der Erfahrung einzureihen hatte, mit einem Teil bloß seines Wesens lebend sich mit dem All abfand, muß nun seines Wesens Allheit aufbringen, um einem einzigen Ding oder Vorgang standzuhalten. Da aber die Kraft sich solchermaßen dem Einen I II III IV V

O erg.: aus dem Dunkel. O: Augenblickes O: Gegebenheit O: Anderen O: verschmelzen

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dahingibt, wird sie an ihm schöpferisch, schafft sie in ihm, aus ihm die Wirklichkeit. Denn dies allein ist Wirklichkeit, was so erlebt ist. Und alle wirkende Wirklichkeit der Menschenwelt ist so erlebt, so erschaffen worden. Ulrich: So ist denn, was wir Schaffen nennen, nur die Äußerung des RealisierensI ? Und der schöpferische Mensch ist II der Realisierende? Daniel: Es ist verlockend, Ulrich, wenn man zwei Gewalten der Seele als verschieden erkannt hat, nun auch zwei verschiedene Menschenklassen zu konstruieren und der einen die eine, der andern die andre Gewalt als ihr unverrückbar ausschließliches Ureigentum zu verleihen. Aber ich kann mir unter einem schöpferischen Menschen nur einen vorstellen, in dem jenes echte Eisenerz, das jede, auch die elendeste Menschenseele birgt, über Rot- und Weißglut zu Stahl wird; nur einen, in dem der allen gemeinsame Geist sich ungehemmt in wirkender Folge vollendet. Und in ihm wie in allen lagert das Lebende neben dem Toten, nur daß des Lebenden sonnenhafte Macht dem Blick das Tote zu Staub zerflimmert; in ihm wie in allen grenzt Gewachsenes an Ersticktes, Freies an Verbogenes, Weisheit an Wahn – nur daß uns Mitlebenden kein anderes gilt, wenn der Stahl des Genies in der Luft aufblitzt und seine Streiche führt. Und so gibt es auch nicht eine realisierende, gibt es nicht eine orientierende Menschenart; ein nur realisierender müßte in den Gott vergehen, ein nur orientierender in das Nichts verkommen; sondern Realisierung und Orientierung wohnen nah beisammen, wie Zeugung und Schwangerschaft, wie Erkenntnis und Verbreitung, wie Erfindung und Verwertung. Wie im Leben der Gemeinschaft die erlangte Wirklichkeit doch immer wieder in den Zusammenhang der Erfahrung eingestellt werden muß, so folgen auch in dem Einzelnen auf Stunden der Verwirklichung Stunden der Einstellung und müssen folgen; ist doch die einsame Wirklichkeit, wie die höchste der Wonnen, so auch die schwerste der Lasten. Aber darin sprichst du wahr, daß dem der Name eines schöpferischen Menschen zukommt, der die III tätigste Kraft der Realisierung hat; in dem sich die realisierende Kraft der Seele so zum Werk gesammelt hat, daß sie Wirklichkeit für alle setzt. Seine realisierenden Stunden knüpfen sich zu einer Gipfelfolge des Ewigen, die aus der vergänglichen Auf- und Niederfolge seines Menschenlebens hervorleuchtet; aber auch in seinen Orientierungen lebt die Regung des Wirklichen fort. Denn was dem Menschen als Gattung eigen ist, ehe er sich von seinen Zwecken überwachsen läßt, I II III

O: das Schaffen eben nicht anderes als Verwirklichung O: kein anderer als O: der die grösste, die lebendigste, die

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dem Primitiven I , und was jedem einzelnen Menschen eigen ist, ehe er sich von seinen Zwecken überwachsen läßt, dem Kinde, das ist dem schöpferischen Menschen eigen: die ungebrochne Kraft der Realisierung. Nur daß sie beim Primitiven II und beim Kinde stark ist, weil die Fähigkeit des Orientierens noch nicht so weit reifte, daß sie sie aufzehren könnte; in der Genialität hingegen ist auch die reife Orientierung eingeschlossen, aber als eine abhängige und dienende Funktion. Der Primitive III und das Kind sind no ch, das Genie scho n der Wirklichkeit mächtig; jenen liegt ein Mondglanz auf der Stirn, wie die Spiegelung eines verschollenen Paradieses, es aber strahlt vom Feuer, das es dem Himmel geraubt hat; sie träumen Wirklichkeit, es wacht sie, der wache Turmwart der Erde. Und darum ist an ihm wie an keinem der innere Sinn der Realisierung offenbar: daß der Verwirklichende der wahrhaft Wirkliche ist. Denn wie die Dinge, die IV in seinem Erlebnis stehn, darin Wirklichkeit werden, so auch er selber. Ulrich: Die Dinge sind aber eben doch für den sie Realisierenden wirklich; für wen ist er wirklich? Daniel: Wir wollen es lieber gar nicht so bestimmen, daß die Dinge »für ihn« wirklich seien. Ist die Glut für das Eisen da oder das Eisen für die Glut oder gar beide nur für den Schmied? – gleichviel: wesenhaft geht der Stahl hervor und wirkt. Realisierendes Erleben schafft die wesenhafte Gestalt des Daseins, von der wir sprechen; was wir Dinge nennen und was wir Ich nennen, ist beides in diesem so Geschaffenen begriffen; beides findet hier seine Wirklichkeit; beides kann sie nur hier finden. Denn alles Erlebnis ist ein Traum von Verbundenheit; die Orientierung zerscheidet und entsondert, die Realisierung vollzieht und proklamiert sie. So ist alle Wirklichkeit erfüllte VerbundenheitV ; nichts Einzelnes ist in sich wirklich; alles Einzelne ist nur Voraussetzung. Die schöpferischen Stunden, handelnde und schauende, bildende und denkende, sind die verbindenden Stunden VI ; ein Verbundener ist der Held und der Weise, der Dichter und der Prophet; Kommunion heißt sein Mysterium, und er ist wirklich, weil er an dem Wirklichen teilhat, weil er in den Zeiten seiner Höhe VII eines Wirklichen Teil ist. Nicht ist ein Etwas für ihn wirklich, sondern mit ihm; aus seinem Erleben stieg Wirklichkeit auf, die ihn umfaßt. Wirklichkeit I II III IV V VI VII

O: Naturmenschen O: Naturmenschen O: Naturmensch O u. Z: [O: die], von ihm geschaut oder getan O ers. »Denn – Verbundenheit« durch« »Denn Wirklichkeit ist Verbindung«. O ers. »die verbindenden Stunden« durch »Verbundenheit«. O streicht »an – Höhe«.

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für wen? Für alle, weil aus ihr in alle der Same des Verwirklichens fällt? für ein Selbst, das uns erlebt und von uns nichts als unsre Wirklichkeit annimmt I ? für keinen? – gleichviel: sie ist, und ist nicht geringer, wenn sie vor keinem Auge ist. Ulrich: So ist denn doch der schöpferische Mensch ein Verschiedener und Auserwählter? Daniel: Nur eben so, daß in ihm gesammelt und werkhaft wirksam II erscheint, was in allen angelegt ist. In jedem Menschen wohnt, geübt oder niedergedrängt, die Macht, verbundenIII zu werden und in die Wirklichkeit einzutreten. Ja, manche gibt es, Stille und Ungekannte, die den Schöpferischen an realisierender Kraft gleichstehn und sie doch nicht in die Weite offenbaren; sei es, daß ihnen die Lust und Kunst der weitschwingenden Äußerung fehlt IV , sei es, daß sie aus einer Ehrfurcht vor der Gnade, die sich in ihnen niedergelassen hat, sich ein Leben im engen Kreise erwählen und nur den Nahen sichtbar werden, sei es, daß sie Abgewandte und Geweihte sind (denn auch der wahrhafte Eremit kann nicht ohne realisierende Kraft bestehn). Diese dürfen wir auf die Tafel, darauf die Namen der Schöpferischen stehen, als die Namenlosen schreiben; um ihrer Wirklichkeit V willen, weil Wirklichkeit herrlich ist, ob wir sie auch nur ahnen; aber auch um ihrer Wirkung willen, denn die Bahnen der Wirkung sind Geheimnis, und es wird uns oft in aller Stille kundgegeben, daß die Taten der Heimlichen größer sind als die Taten der Geltenden. Ulrich: Ist es nicht auch dir, Daniel, als seien dieser, von denen du sprichst, in unsrer Zeit nur wenige? Daniel: Der Realisierenden sind wenige in unsrer Zeit. Sie ist beflissen, sie durch die Leistenden zu ersetzen. Ulrich: Die Leistenden? Wen nennst du so? Daniel: Die wirken ohne zu sein; die geben was sie nicht haben; die siegen wo sie nicht kämpften; die Schoßkinder des Scheins. Sie scheuen die Realisierung von je oder haben ihr abgesagt, als sie von ihrer Jugend Abschied nahmen; aber sie tun oder machen Dinge, wie sie einst nur aus Realisierenden kamen, oder doch täuschend ähnliche; sie tun oder machen sie flink und mit Eleganz; sie fordern nicht wie jene, daß man mittue, sie begnügen sich, daß man sie anerkenne; wie könnte man sich ihnen versagen? Gott schuf einst die Welt in sechs Tagen; aber seither ha-

I II III IV V

O: annimmt, um sie zu einem noch höheren Grad des Daeins zu steigern? O ers. »werkhaft wirksam« durch »offenbar«. O: in Wirklichkeit verbunden Z streicht »sei – fehlt«. O: ihres Daseins

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ben wir die Technik des Schaffens erlernt; mit ihrer Hilfe macht Gottes Affe die Welt in einem Tage, und sie ist interessanter. Ulrich: Warum so bitter, Daniel? Laß sie doch laufen! Daniel: Soll ich gegen die Signatur dieser Zeit nicht bitter sein? Kennst du den Basileus nicht, der diese Satrapen eingesetzt hat? 6 Es ist derselbe, der in den Scharen der heutigen Menschen die Kraft der Realisierung erdrückt. Ihnen allen ist sie in irgendeiner Stärke, mit irgendeinem Antrieb eingeboren; und in ihnen allen gerät sie nicht zu ihrer Höhe, und wird gehemmt und zerstört und erniedrigt I . Es ist aber so, daß die Kraft der Realisierung von keiner irdischen Not oder Nötigung angetastet werden kann, sondern die einzige Gewalt, die sie zu befehden und zu bedrängen vermag, ist die Übermacht der Orientierung II . Und das ist die Übermacht, die sich im Blute unsrer Zeit eingenistet hat und ihre Wirklichkeit zersetzt, um ihr an deren Statt die eigene Brut, den Schein einzutun III . Denn vor allen andern Zeiten der Zivilisation ist unsere die Zeit, die nicht realisiert. Sieh diese Stadt, die unter uns verrauscht ist. Nun zerfließen auch die Umrisse in ihrem Bilde, und sie liegt unter dem Schleier der Abendferne, als ob sie schliefe. Aber auch in ihrem Schlaf werden sie die Fieber ihres Tages nicht verlassen, und ihre Träume sind wie Irrgänge in der Wüste. Sieh, sieh durch den Schleier: wie schön sie ist, wie stark – und wie siech. Denn sie ist dem Schein verfallen.IV Die Stadt, sagen wir – aber wir meinen ja nicht ihre Häuser und ihre Fabriken, ihre Ware und ihren Abfall, wir meinen ja diese Millionen von Menschen – nicht eine Zahl, Ulrich, vergiß die Zahl, nicht eine Menge, löse die Menge auf: diese alle einzelnen Menschen, nackt unter ihren Kleidern, blutend unter ihrer Haut, diese alle, deren entblößter Herzschlag vereint die vereinte Stimme ihrer Maschinen übertäuben würde. Diese Menschen sind verkürzt, Ulrich, verkürzt in dem Recht der Rechte, dem gnadenreichen Recht auf Wirklichkeit. 6.

Satrapen waren die vom Perserkönig eingesetzten Provinzgouverneure. Da Buber ihn hier aber mit einem griech. Begriff bezeichnet, spielt er möglicherweise auch auf gnostisches Gedankengut von der Herrschaft der Archonten an.

I

O ers. »Ulrich: Ist es – erniedrigt« durch »Dann aber sind da die andern, die unzähligen andern, die gehemmt sind. Ihnen allen ist die Fähigkeit des Verwirklichens eingeboren, wiewohl in sehr ungleicher Weise; aber in ihnen allen geräts nicht zu seiner Höhe, und dem einen werden seine wenigen, dem anderen seine vielen Stunden der Wirklichkeit gehindert oder verstört oder erschlagen.« O u. Z ers. »Orientierung« durch »Orientierungstendenz«. O ers. »zersetzt – einzutun« durch »aufsaugt«. O ers. »siech – verfallen« durch »siech in ihrer Schönheit und Stärke. Denn sie ist ihren Zwecken und ihrem zweckhaften Wissen verfallen.«

II III IV

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Sie haben Zwecke, und verstehen ihre Zwecke zu erreichen. Sie haben eine Umwelt, und wissen Bescheid in ihrer Umwelt. Sie haben auch Geistigkeit von mancherlei Art, und reden viel. Und all dies außerhalb des Wirklichen. Sie leben, und sie verwirklichen nicht, was sie leben. Ihr Erlebnis wird eingestellt, ohne erfaßt worden zu sein. Sie erfahren von ihm, welche Bestandteile es mit andern Erlebnissen gemeinsam habe, und sind orientiert. I Jedem von ihnen ruft es aus der Ewigkeit zu: »Sei!« Sie lächeln die Ewigkeit an und antwortenII : »Ich weiß Bescheid.« Ihre Hemmung III ist ihnen so weich an den Leib geschnitten, daß sie ihrer froh und stolz sind und nennen sie mit prächtigen und sinngeblähten Namen, als Kultur oder Religion oder Fortschritt oder Tradition oder Intellektualität: ach, tausend MaskenIV hat das Unwirkliche. Die Orientierung ist ihr Herr – die kugelrunde monistische oder die kegelspitze theologische oder auch nur die Walze der zweckmäßigen Empirie, die in allen Nöten hilft und aller Mühen enthebt. Im toten Licht der Orientierung verläuft ihr Schicksal, die berufen waren, erlebend lebendige Erleuchtung zu erfahren V und in ihr selber leuchtend zu werden. Als Unwirkliche wandeln sie, jagen sie, toben sie ihren Zwecken nach. Und wie die Feuersäulen eines bösen Demiurgen schreiten die Zwecke vor ihnen einher und narren sie: sie aber stürzen hinterdrein, aneinander vorbeirennend und vorbeigleitend wie ein gesetzloser Tanz von Gespenstern. 7 Ulrich: Aber ist wirklich unsre Zeit allein so beschaffen? Waren es nicht viele vor ihr? VI Daniel: Keine Zeit der Geschichte, Ulrich, konnte der niveaubildenden Kraft der Orientierung, der Einstellung, der Verwertung entraten. Aber immer standen die großen Herde der Realisierungen inmitten und spendeten Wärme, Bewegung, Selbsttätigkeit. Immer wurde die terra incognita geschaut VII , ehe sie gemessen, benannt und registriert wurde. Und war auch der Mensch längst von den Geistern seiner Zwecke überwachsen 7.

I II III

Travestie von Ex 13,21: »Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.«

O streicht »Ihr Erlebnis – orientiert«. O ers. »Sie – antworten« durch »und wenn eine Antwort, so antwortet er:« O: An jeden von ihnen ergeht die Forderung, wirklich zu werden, und jeder von ihnen ist gehemmt, sie nach seinem Maasse zu erfüllen und ihre Hemmung IV O: tausend Masken und tausend Namen V O: empfangen VI O streicht »Ulrich: – ihr?» VII O: geschaut und erlebt

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und von den riesenhaften umstellt I , in der Realisierung hatte er eine Dimension, vor deren Schwelle sie stehen blieben und auf die Befehle des wunderbaren Wanderers warteten. Aber es kam eine Zeit, die der Überfülle ihres Stoffes erlag. Das war die Zeit, da die Zwecke selbst umstellt worden waren von den Mitteln, zahllosen Gnomen II , von denen jeder sich nun wie ein kleiner Zweck gebärdete. Und dieser wimmelnden Mittelwelt stand die Seele gegenüber, mußte sich darin zurechtfinden, sich behaupten III , ihre Sicherheit bewahren. Wie konnte das geschehen? Durch die Realisierung, die, wie man ja wußte, voller Unsicherheit und Gefahr war, tiefsinnig und ohne Gewähr? Sollte dieses unendlich verwickelte Leben nur auf dem anstrengenden, zeit- und kraftverschwendenden Umweg der Realisierung bewältigt werden können? Mußte das nicht direkter und unbeschwerlicher mit der Orientierung allein zustande gebracht werden? Die feierte gerade die großen Triumphe der Naturerforschung, indem sie die Siege der Realisierung sich zuschrieb, wie der Seneschall im Märchen den schlafenden Drachentöter verdrängt. IV 8 Und so geschah, unschuldig und unverzeihlich, die Sünde wider den Geist. Geist ist Verwirklichung: Geeintheit der Seele, Ausschließlichkeit des Erlebens, Verbundenheit V . Aber diese Menschen sind in die Vielfältigkeit ihrer Zwecke, ihrer Mittel, ihrer Kenntnisse eingespannt – alles wird durch alles bestimmt, alles wird aus allem entschieden, alles wird auf alles bezogen, und darüber waltet die Sicherheit des Orientierenden, der Bescheid weiß. Ja, sie sind den Gefahren der Tiefe entronnen. Sich im Erlebnis sammeln? Sie sammeln ja auch in der Arbeit nur ihre Arbeitskraft, und es gerät; und ihr Vergnügen heißt Zerstreuung. Das Erlebnis in ihm selbst erfassen? Können sie doch seinen Inhalt auf ihrer Landkarte des Himmels und der Erde aufsuchen, mit Namen, Nachbarschaft, Länge 8.

Kinder- und Hausmärchen, S. 338-375 (»Die zwei Brüder«): 354 f. Die von Buber angeführte Episode des Drachentöters und seines untreuen Dieners ist in der Folklore weit verbreitet.

I II

O ers. »den Geistern – umstellt« durch »seinen Zwecken überholt«. O ers. »umstellt – Gnomen« durch »überholt worden waren von den zahllosen Mitteln«. O ers. »mußte – behaupten« durch »in all dem musste sich die Seele zurechtfinden, musste sich behaupten, musste«. O ers. »Mußte – verdrängt« durch »Genügte nicht dazu die Orientierung, die eben, die Siege der Realisierung sich zuschreibend, die grossen Triumphe der Naturforschung feierte wie der Seneschall im Märchen, der den Drachentöter einschläfert und die Königstochter gewinnt?» O ers. »Geeinheit – Verbundenheit« durch »Und verwirklichen heisst: sich geeint auf eines richten, dieses eine auf es selbst beziehen und so mit ihm zu einer Wirklichkeit verbunden werden.«

III IV

V

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und Breite! Zu einer Wirklichkeit verbunden werden? Sie wissen, daß man in dieser Welt mit dem Zerlegen weiter kommt als mit dem Verbinden, und was an Verbindung not tut, besorgen die zuverlässigen Retorten der Orientierung in einem mit. Ulrich: So viel von mir dir zustimmt, darin scheinst du mir übermäßig, daß du sprichst, als meintest du alle Menschen dieser Stadt, und doch kennst du manche und ahnst sicherlich mehrere, die – Daniel: Bin ich Jahwe und halte das strafende Feuer in Händen, daß ich mir die Gerechten vorzählen sollte? Oder soll es mir wohltun I , ihrer zu gedenken, da diese Stadt mit Unwirklichkeit geschlagen ist? Für die Stadt, für die Menge, für die unseligen Millionen schwillt II mein Herz und empört sich. Die Unwirklichen, die Unseligen! Könnten doch meine Arme sie in das Feuer III der Erneuerung tauchen und zu einer zweiten Geburt taufen! Könnte doch mein Mund das Lied erwecken, danach die Sehnsucht in jeder dieser Kehlen ungewußt pocht! Könnte ich doch diese Gespenster zur Wirklichkeit erlösen! Ulrich: Und bedenkst du, daß die Not und der Widerspruch, das Unrecht und der Unsinn der Zeit dann erst, wahrhaft erlebt, zur Wirklichkeit würden? Dann erst allen, wie heute den wenigen, die das große Grauen und das große Erbarmen kennen? Daß die Flut der Wirklichkeit die Dämme der Theorien, der Programme, der Parteiungen niederrisse und die innersten Seelen erschütterte? Daß der Realisierende zu allererst das Chaos realisieren müßte? IV Daniel: Ja, Ulrich! Und so nur könnte er anfangen, wieder anfangen. Denn es gibt in der Welt des Menschentums keinen andern Anfang als die Wirklichkeit. I

II III IV

O ers. »Sich – wohltun« durch »Wenn sie arbeiten, sammeln sie ihre Arbeitskraft, nicht ihr Wesen; und da ihnen auch dies schon lästig wird, nennen sie ihr Vergnügen »sich zerstreuen«. Wenn sie mit anderen beisammen sind, sehen sie nur Schemen um sich, die die Spiegel der Geltung in Händen tragen; denn die Geltung, die nichtigste Spielart der Orientierung, ist ihnen das köstlichste Gut und das vornehmste Mass. Und wenn sie einmal einsam sind, so einsam, dass sie keine Lust mehr zur Arbeit und keine Freude an der Geltung haben, dann fühlen sie sich leer und verstossen. [Absatz] Du meinst vielleicht, dass ich nur die ›Bürger‹ schildere. Aber wie viele ›Proletarier‹, meinst du, gibt es in dieser Stadt, die etwas anderes sind als verhinderte Bürger? [Absatz] Oder wollen wir die Gerechten zählen? Sollte es mich trösten«. O ers. »schwillt« durch »schreit«. O: Pneuma O ers. »Und – müßte« durch »So möchtest du, dass der Elende sein Elend realisiere? Dass er mit der Macht realisierender Erkenntnis seiner Not und Verwirrung inne werde? Würde er dann nicht wehrlos dem hereinbrechenden Chaos gegenüberstehen?»

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Ulrich: Wieder anfangen, Daniel? So würden wir doch dahinter zurückzugehen haben, was dieser seltsamen Zeit trotz allem ihre Größe gegeben hat? Daniel: Nein – sondern all das müßte, in neuen, unerhörten Kämpfen I , wahrhaft für die Wirklichkeit erobert werden. Was jetzt im Trugspiel der unheiligen Hast, in den Zerrspiegeln der Zweckhaftigkeit, im Scheinbau des Bescheidwissens und der falschen Sicherheit II sein gespenstisches Dasein hat, das soll – das muß, Ulrich, III wirkliches, gelebtes Leben werden. Und das ist Leben der Unmittelbarkeit und des Menschenbundes; denn wie die echte Einsamkeit, so ist die echte Gemeinschaft, die unmittelbareIV , denen allein erschlossen, die verwirklichend als Wirkliche leben.V

Von dem Sinn Gespräch im Garten VI Daniel: Rasch und jung wie des Unerwarteten Schritte hörte ich deine Schritte meiner Gartenmauer entlang – und unerwartet kommst du ja, Reinold: noch nie hast du mich am Morgen besucht. Du bist willkommen; das könnte ich in dieser Stunde nur wenigen sagen. Denn wie viele der Freunde möchten vor dem erwachenden Garten bestehn? Die Bäume verdammen, wer nicht aufrecht und gegenwärtig ist VII ; die Blumen richten, wer sich nicht auftut und der Sonne anheimgibt; und wer die Ruhe des Werdens nicht kennt, gegen den hebt sich jedes Gras wie ein Flammenschwert. Reinold: Zum erstenmal lobst du mich, Daniel. Oft habe ich daran gedacht, wie das sein würde, wenn du mich einmal lobtest, und wie ich dessen froh wäre. Und nun lobst du mich, und so sehr, und ich kann mich nicht freuen. Denn ich weiß, daß ich vor deinem Garten nicht bestehe. Ruhe des Werdens, sagst du – ich kenne keine Ruhe mehr. Sondern UnI II

O: Nöten und Kämpfen O ers. »Trugspiel – Sicherheit« durch »Trug des Bescheidwissens, in den verzerrten Spiegelungen der Zweckhaftigkeit, im Schein der falschen Sicherheit und der unheiligen Hast«. III O: Ulrich, denn es gilt dem Heil IV O u. Z ers. »Und – unmittelbare [Z: ›, denen allein erschlossen‹]« durch «: Leben des Schauens und Schaffens; und das ist Leben der Unmittelbarkeit und des echten Menschenbundes; denn wie die echte Einsamkeit, so ist die echte Gemeinschaft, die unmittelbare, nur denen offen«. V O erg. »diese Fassung voll[endet] 28., endgilt[ige] Fassung voll[endet] 31. VII. 12«. VI O: Gespräch im Garten. Vom heroischen Leben VII O: gewaltig steht

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rast und Irregang und die schlimme Bangigkeit, die sind meine Gesellen geworden. Daniel: Wie ist das an dich geraten, Reinold? Denn daß es dir ein Fremdes ist, das fühlst du ja wohl auch jetzt noch. Reinold: Daß ichs dir nur gestehe: um mit dir davon zu sprechen, bin ich gekommen. Nun ich aber dabei bin, schäme ich mich. Als ich ein Kind war, kam ich einmal zu meiner Mutter gelaufen und rief ihr zu, ich hätte einen Fisch gefangen; sie blickte zu mir auf, und ich sah erst jetzt, daß sie am Webstuhl saß; da wurde mir mein schöner Fisch ganz belanglos vor dem Geheimnis der erscheinenden und verschwindenden Fäden – und so oft ich seither daran zurückdachte, mußte ich mich schämen. Daniel: Sprich nur, du tust recht daran. Solang einer in der Ruhe seines Werdens ist, darf ihm das Du genügen, das er in sich selbst trägt. Kommt aber die Flut an ihn, dann ist es ihm Not und Beruf, sich das Du, zu dem er sprechen kann, in der Welt zu finden. Reinold: Du lasest uns einmal einen keltischen Gesang; da waren ein paar Verse, die mich so trafen, als hätte ich sie längst gekannt und vergessen: I

Nicht lange weilst du wandernd Im Land mit lebendem Herzen.9

Das war meine Kindheit, Daniel: das Land mit lebendem Herzen. Wie der warme Körper sein Herz hat, das alles Blut einsammelt und austeilt, und hier ist der Bewegung der Säfte Mitte und Einheit gesetzt, so hatte das Leben des Kindes ein Herz: es hatte einen unaussprechlichen, unaussprechlich wirklichen Sinn, der ihm Mitte und Einheit war. Einen Sinn, Daniel, einen einzigen, einigen Sinn. Und du mußt wissen, daß ich mich gar nicht versann, wie andre Kinder wohl tun; und doch war der Sinn bei mir. Er kam eben von nirgends her, er war da, und ich fühlte ihn, wie man sein Herz fühlt: da bist du, mir eingewachsen, Vertrautes, Abenteuerliches, kleine heimliche Sonne dieser wunderbaren Welt! Sinn, Sinn – die fallenden Sterne der Augustnächte hatten seiner nicht mehr und nicht weniger als die abgeschnittenen Haare, die ich an mir niederfallen sah; die engen, unermeßlichen Horizonte meines Raumes und meiner Zeit waren golden umrandet vom Sinn. Nichts Sinnloses geschah mir; wenn ich aus der Musik eines Traums ins Dunkel erwachte, hatte die Nacht meiner Mutter Arme und noch mütterlichere Worte als sie, und als eine 9.

Die Herkunft der Verse konnte nicht ermittelt werden. Buber beschäftigte sich in dieser Zeit auch mit keltischen Mythen, vgl. M. Buber, Mabinogi.

I

O: O Mongán, o Manamán,[Zeilensprung]

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schwere Krankheit mich befiel, waren die sonst Unsichtbaren bei mir zu Gast und die Scheibe, auf der ich gelebt hatte, rundete sich mir zur Sphäre. Und die Dinge, die Dinge, Daniel: die Konkavheit der Dinge war in meinen Sinnen; die Dinge schmiegten sich hinein, wie der Pfirsich in die hohle Hand. Alles Wesen und alles Ereignis stimmte, mehr und anders als eine Rechnung, mehr und anders als ein Lied stimmt; alles stimmte mir ein, alles stimmte sich zu, alles war aus sich selber einig gestimmt. Dabei sah mir das Leben gar nicht etwa friedfertig und verträglich aus; aber Härte und Schärfe, Streit und Mißgeschick waren wie die angesetzten Umwege in einem Spiel, das eben auch allerlei Umwege in seine Regeln einbezieht und gerade dadurch sinnvoll ist. So war ich sicher, Daniel, zehnjährig, zwölfjährig, sechzehnjährig sicherer in der Welt, als da ich meiner Mutter Milch trank; zehnjährig, zwölfjährig, sechzehnjährig mit der Sicherheit des Waltenden sicher. Und ich trat aus meiner Kindheit ohne aus meiner Sicherheit zu treten. Ich lernte die überhellen Zweiheiten des Lebens, Feindschaft und Liebe, kennen, und der Si nn erblich mir nicht: aus meiner Welt, nicht aus einer fremden kam mir der Feind, kam mir die Frau entgegen, und er war nicht der Widersacher, sie nicht die Versucherin, sondern beide mit mir durch Adern und Venen verwachsen, die in jenem Herzen, dem Sinn, mündeten. Und nicht gelind war ich dem einen, nicht gemächlich der andern, aber beiden mitten in Zorn und Verlangen urewiglich vertraut. So strömte und ruhte mein achtzehntes, mein zwanzigstes, mein dreiundzwanzigstes Jahr in der Sicherheit des Stimmenden und Waltenden. Ich war nicht mehr ein Kind, aber um mich spielte zu allen Stunden ein seliges Kind, meine Schwester, die Welt; und solange sie mir nah und ich ihr zugewandt war, konnte mich nichts gefährden. Andere als du möchten mich fragen, was denn seither »vorgefallen« sei. Aber du hast es uns einmal gesagt, daß nicht auf dem Schwung, sondern in der Senkung der Falten die Entscheidungen wohnen, und so wirst du mich verstehn. In diesem FrühjahrI kam ich auf der Heimreise aus dem Süden an einem Abend in Spezia an. Ich hatte die Nacht durch weiterfahren wollen, aber der Blick des Meeres war so stark, daß es mir töricht vorkam, ihm mit meiner Absicht trotzen zu wollen. Ich stieg aus, ging zum Hafen, nahm ein kleines Boot und ruderte hinaus. Es war Neumond, aber aus den Tiefen über mir brauste der Chor der südlichen Sterne auf mich nieder; mein Ruder schnitt dunkle Flut und verhohlenen Glanz; die Schrankenlosigkeit war das Bett meiner Seele, Himmel, Nacht und Meer ihre I

O: Im Frühherbst des vorigen Jahres

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Kissen. Es war eine der Stunden, in denen wir, was wir tun, nicht stärker mehr wissen, als was es um uns und mit uns tut. So wurde mir, als ich jetzt das Boot wandte und der Küste zukehrte, die Handlung meiner Hände kaum bewußt. Nun sah ich lässig auf – und erschrak. Alles, was ich eben noch besaß, war verschwunden. Aus stummer Unendlichkeit glotzte ein Heer von Irrlichtern in taube Unendlichkeit, drohend öffneten und schlossen sich rings um mich tausend feuchte Lippen in einem grausamen Lächeln, und in meinem Nacken wuchs, finster und fühlbar wie ein Verrat, die Gegenwart des nächtigen Wesens. Wo das Bett meiner Seele gewesen war, war das Nichts; verführt, verraten, verstoßen hing sie im Grauen der Nacht zwischen Meer und Himmel. Ich verstand nicht, aber ich spannte mich zur Wehr: ich bin da, ich bin da, rief ich, und du kannst mich nicht vernichten; und spürte Kraft in Schultern und Schenkeln zugleich, und griff, die Füße festgestemmt, mit den Rudern aus: zur Küste! Da fuhr I ein schriller Lichtstreif über ein Stück der Küste hin und riß es los. Schamlos stand es aus dem Dunkel herausgereckt und brüllte den Wahnsinn seiner Deutlichkeit über die Flut hinaus. Deutlichkeit – aber ich erkannte es nicht; frech und fremd sprang es aus der Nacht wie aus einem schwarzen Haustor. Und schon verschlang die Nacht es wieder; und einen Augenblick konnte ich mich fassen und w u ßte alles: den nahenden Sturm und den Kreuzer da drüben, der den Scheinwerfer spielen ließ. Aber als gleich darauf abermals der kalte Blitz ins Land schnitt, mochte mir mein Wissen nichts nutzen. Gespenstische Erdenbreiten lösten vor mir einander ab in einem sinnlosen Dienst; nicht wie Teile einer Küste, – wie gespenstische Schreie. Ich »wußte«, daß sie zusammenhingen, ein geschäftiges und freundliches Ländchen, und wußte das Schmatzen der Fischerkinder in ihren Wiegen und das Stampfen des Matrosentanzes in der Schenke; aber ich fü hlte keinen Zusammenhang, sondern Schreie, Schreie und dazwischen den Abgrund. Der Abgrund war zwischen Stück und Stück der Welt, zwischen Ding und Ding, zwischen Bild und Wesen, zwischen Welt und mir – wenn das Licht des Scheinwerfers kam. Und die Füße festgestemmt, mit arbeitenden Armen, auf die gewußte Küste zurudernd, umgellt von der gespenstischen Wahrheit, begehrte ich nach dem Trost wie der sterbende Christ nach Christi Leib, und meine betäubte Seele langte nach ihrem Sakrament, nach dem Si nn: – da war der Sinn geborsten, ein blutiger Riß ging mitten durch ihn. Und ich sah das Letzte: in mir, zuinnerst in mir selber war der Abgrund. Ich war auf ewig entzweit; nicht etwa in Geist und Körper, die waren so ineinander gefügt und gelöst wie je; aber in I

W: fuhr, mich zwingend den Kopf zu wenden, ein

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die tausendgestaltige, proteische Doppelheit des hellen Einen und des dunkeln Andern, mit dem ewigen Abgrund dazwischen. Da zerbrach meine letzte Sicherheit; preisgegeben betrat ich die Küste, und mir war, als beträte ich die Küste eines entstimmten, entbundenen Lebens. Hinter mir hob sich der Sturm übers Meer, vor mir lag das ruhige Land; aber mir war, als ginge ich nun aus dem letzten bangen Versteck der Ruhe in den harten Sturm hinein, der nie enden würde. Seither ist der Abgrund vor mir zu aller Zeit. Der namenlose, den alle namenhaften kundgeben. Und seltsam, Daniel: als ich die Sicherheit hatte, schienen mir zuweilen die Menschen unsicher in ihren Fragen und Zweifeln; aber nun ich meinen Grund verloren habe, stehen sie um mich in überlegnem Gleichgewicht wie die Nüchternen um den Berauschten. Und doch wissen sie um den Abgrund; aber sie wissen auch Bescheid. Und sie kargen nicht mit ihrem Bescheid. Da sind die Weltkundigen. Das ist der Abgrund zwischen den Dingen und dem Bewußtsein, sagen sie; und dieser Abgrund ist eine Illusion, denn das Bewußtsein ist eine Kraft unter Kräften, und alles ist eins. – Aber was frommt es mir, daß sie, was ich mit meinem Wesen erfahren habe, hinwegleugnen? Soll ich den Sturm meiner Erkenntnis einer Formel untertan machen, daß sie ihn prüfe und verwerfe? Soll die Wahrheit sich mir, statt an der Ganzheit meines ErlebnissesI , an einem fertigen Ausgleich bewähren? Und da sind die Gotteskundigen. Das ist der Abgrund zwischen dem Menschen und Gott, sagen sie; und der ist an einem bestimmten Ort, an einem bestimmten Tag für jeden ausgefüllt worden, der hinfort an diese Ausfüllung glaubt. – So ist er es für mich nicht, denn für mich müßte er jetzt und hier ausgefüllt werden, da ich ihn jetzt und hier schaue. Jetzt und hier ist Unendlichkeit und Ewigkeit wie nur irgendwo und irgendwann; und jetzt und hier ist der Abgrund. Und lieber will ich ihn an allen Tagen und in allen Träumen schauen und noch in der Stunde meines Sterbens, als meine Augen mit ihrer Salbe streichen und meiner Wahrheit blind werden. Und da sind die Geisteskundigen. Das ist der Abgrund zwischen der Idee und der Erfahrung, sagen sie; das ist der Abgrund, über den eine Brücke zu bauen unser Amt ist. Und sie bauen Brücken aus durchsichtigem Glanz, die schönsten der Welt. Aber der Gedanke allein kann sie betreten; unter jedem andern Schritt würden sie niederbrechen. Und es ist ja nicht mein Ged anke, was den Abgrund schaut, es ist mein Wes en: I

O: Erlebens

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dieses Ding aus Stein und Sturm und Flut und Flamme, dieses Ganze, Wuchtende, Schwingende – diese Substanz. Da steht sie, die Elementhafte, und lächelt die schönen Brücken an, auf denen ihr Kind, der Gedanke, tanzen darf. Und da sind die Geheimniskundigen. Das ist der Abgrund zwischen der Scheinwelt und der wahren Welt, sagen sie; den überfliegen wir mit unserm Geheimnis. Und wahrlich, sie haben ein Flugschiff, ein wunderliches, aus lauter Geheimnis gezimmert; das steigt tönend auf, steilgerad in die Luft. Sie nahmen mich mit, und es war mir wunderlich zumut, als müßte hinter all dem wichtigen Ernst doch nur ein Spielzeug stecken. Und so war es. Denn als wir wieder unten waren, sagten sie: Nun sind wir drüben. Das schien mir sonderbar, denn es war alles wie hüben. Und als ich recht zusah, merkte ich, daß wir am selben Fleck standen wie vorher. Da ging ich meines Wegs. – Und nun bin ich zu dir gekommen, Daniel: ob du mir sagen kannst, was ich tun soll. Daniel: Denk dir einen Wanderer, der in tiefer, wolkiger Nacht nach langem Irrweg in die äußerste Straße einer unbekannten Stadt kommt. Stunde um Stunde ist er in dem leeren Dunkel der Heide gegangen, keine Gegenwart um sich als die des dürren Gewächses; nun tritt er mitten in ein anderes Dunkel, eins, das bis an den Rand gefüllt ist mit fremdem, drohendem Leben. Die Häuser stehn wie vage Ungetüme mit starren Augen und tückisch gesperrtem Rachen, zwischen den Häusern streckt sich das Ungewisse, und die Lichter, die im nebligen Blickgrund flackern, sind unstet wie die Signale einer Mörderrotte. Kein Schritt ist in der Straße, kein Laut; aber treulos scheint ihr Schweigen und lauernd ihre Verlassenheit. Hinter dem verschwimmenden Sichtbaren, rings in der übervollen Unsichtbarkeit ballt sich, schiebt sich, wälzt sich die Gefahr. Und in dem geängstigten Herzen des Wanderers ist ein Verlangen mächtig – nach Sicherheit. Und weil er nach Sicherheit verlangt, bedarf er über alles andre dieses einen: sich auszukennen. Was ist das für eine Stadt? Wohin führt diese Straße? Wie komme ich aus diesem Unheimlichen da heraus? Sich auskennen – das ist der Schlüssel zu Rettung und Heil, ist Sicherheit selbst. Solcher Art ist das Verlangen derer, die, von dem Schauder des Schrankenlosen angefaßt oder von dem Blick des Widerspruchs getroffen, sich nur bewahren wollen. Ihr Wesen ist reif geworden zum Erkennen, das Mysterium hat sich ihnen geöffnet, aber sie rüsten sich nicht, ihm standzuhalten. Das Irrationale ängstigt sie; statt es zu reali s i eren, es mit der ganzen Kraft des Augenblicks ins Erlebnis aufzunehmen, trachten sie nur danach, ihre Sicherheit zu behüten. Alles Erleben mit ganzem Wesen

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und mit ungehemmter Gewalt meint Gefahr; denn es gibt kein Ding, kein Verhältnis, kein Geschehn in der Welt, das so erkannt nicht seine Untiefe offenbarte und alles Denken erschütternd den Bestand des Erkennenden bedrohte. Gefahr aber ist das, was sie zu meiden wünschen; sie wollen nicht um eitler Problematik willen ihre Haut zu Markte tragen. Sicherheit wollen sie; und Sicherheit ein für allemal. Wer in wahrhaftem, realisierendem Erkennen sein Leben lebt, muß ewig von neuem beginnen, ewig von neuem alles wagen; und so ist seine Wahrheit nicht ein Haben, sondern ein Werden. Sie aber wollen wissen, woran sie sind; wollen nicht unterwegs, sondern zu Hause sein; wollen versorgt und versichert sein; wollen eine solide Generalwahrheit haben, die sich nicht umschmeißen läßt; wollen sich nur auskennen; wollen sich nur in der Welt o r i en ti e ren, das heißt: sich in der Welt bewahren. So bauen sie ihre Arche oder lassen sie sich bauen, und nennen die Arche Welt-Anschauung, und verkleben nicht ihre Ritzen allein, sondern auch noch ihre Fenster mit Pech. Draußen aber sind die Gewässer der lebendigen Welt. Aber setze einen andern Wanderer an jenes Stelle und laß die gleiche Straße, die gleiche Stunde ihn umgeben. Er geht, er bleibt stehn, er wendet sich, mit weitgeöffneten Sinnen, mit aufgetanem Geist, willig und fest. Er begehrt nicht, sich auszukennen; wie könnte er von diesem hier je mehr als jetzt und so erfahren? Er begehrt nur, dieses hier, das wilde Dunkel, die fahlen Tiergesichter der Häuser und die taumligen Lichter in der Tiefe, so vollkommen zu erleben, daß es ihm zu Wirklichkeit und zu Botschaft werde. Was kann es ihm gelten, welche Stadt dies sei? Hier redet sie zu ihm in anderen Zungen als in der, in der es Namen gibt. Was bedeutet es ihm, wohin diese Straße führe? Jetzt ist er in ihr, wahrhaft in ihr, und mag nicht anderswo sein. Sie ist ihm nicht unheimlich; kündet das Unbestimmte nicht ebenso getreulich vom seienden Sein wie das Bestimmte, bezeugt das Tückische die heilige Gewalt nicht ebenso inbrünstig wie das Verläßliche? Er ist dem gepreßten Atem der Lauernden nicht weniger zugewandt als dem gleichmäßigen der Schlafenden. Er kennt die Gefahr und wird ihr begegnen, wenn sie es fordert; er hat ein kräftiges Handgelenk und versteht sich zu wehren; aber was wäre das Leben, wenn es nicht überall ans Äußerste ginge und umzuschlagen drohte? Die Schrift des Lebens ist so unsäglich schön zu lesen, weil uns der Tod über die Schulter schaut. Solcher Art ist der Weg dessen, der sich vermißt, nach seiner Kraft Realisierung zu üben. Er verlangt nicht nach der Sicherheit des Sichauskennens, das nur geraten kann, wenn das Erlebnis nicht bis zu seinem Grunde gelebt, wenn aus ihm nur die Fläche aufgenommen wird, die

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rationalisiert und eingereiht werden kann; er liebt die Gefahr und die unabgeleitete Wahrheit, die der Wagende aus den Tiefen schöpft. Er will nicht wissen, woran er sei; wie könnte er auch, da er ja nicht stetig am Gleichen ist, sondern ewig am Neuen; ewig am Äußersten; ewig an Gott, darf ich wohl sagen, da ja Gott dem Menschen sich nicht anders verwirklichen kann, denn als die innerste Gegenwart eines Erlebnisses, und ihm also nicht der Gleiche, sondern ewig der Neue, der Äußerste, der Gott dieses Erlebnisses ist. Die Orientierung, die sich als allumfassend gebärdet, ist durchaus gottlos, auch die des Theologen, der seinen Gott in die Kausalität, eine Hilfsformel der Orientierung, einstellt, und die des Spiritualisten, der sich in der »wahren Welt« auskennt und ihre Topographie entwirft; jede Religiosität entartet zu Religion und Kirche, wenn sie zu orientieren beginnt: wenn sie statt des Einen, das not tut, eine zu glaubende Übersicht des Dies- und Jenseits gibt und statt des Werdens das Haben, statt der Gefahr die Sicherheit verspricht. 10 Alle Sicherheit, die versprochen wird, alle Sicherheit, die verlangt und erworben wird, meint: sich bewahren. Das wird dem Gläubigen aller alten und neuen Kirchen verheißen und zugeteilt. Aber der die Gefahr liebt und Realisierung übt, will sich nicht bewahren, sondern sich verwirklichen. Er ist unbewahrt in der Welt, aber er ist nicht preisgegeben; denn nichts vermag ihn zu beirren. Er ist nicht zu Hause in der Welt, und ist doch allzeit daheim; denn jegliches Dinges Grund will ihn herbergen. Er besitzt die Welt nicht, und steht in ihrer Liebe; denn er verwirklicht alles Sein an seiner Wirklichkeit. Er weiß von keiner Sicherheit, und ist niemals ungewiß; denn er hat unverbrüchlich das zu eigen, davor alle Sicherheit nichtig und verblasen erscheint: die Richtung und den Sinn. Der Wanderer, der stehen blieb, war nicht orientiert und wollte es nicht sein; er wußte nicht, wie die Stadt hieß, die er betreten hatte, wie der Platz hieß, nach dem die Straße führte; aber als er weiter ging, zögerte sein Schritt nicht, und als er an einen Kreuzweg kam, wählte er mit unmittelbarem Entschluß, wie aus einem tiefen Gebot. Der die Richtung hat, weiß nicht Bescheid, wie der Wille in Ursache und Wirkung bestimmt sei, noch was man für Gut und Böse zu halten habe, noch daß es Entwicklung gebe, der man eingetan sei; aber wenn er handelt, tut er seine Tat und keine andere, wählt er sein Los und kein anderes, entscheidet er sich mit seinem Wesen. Der Sichere ist in dem Netz seines Orientierungssystems ver10. Der Gegensatz von Religion und Religiosität geht auf Georg Simmel zurück. Buber macht in jener Zeit davon ebenso häufigen Gebrauch wie von dem sprichwörtlich gewordenen und seinem Kontext entfremdeten Zitat aus der Maria- und MarthaGeschichte, vgl. Lk 10,42: »Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.«

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strickt; seine Handlung steht an ihrem Fleck in Welt und Zeit und hat nicht mehr Raum, als ihr der Fleck gewährt; sie ist vorn und hinten beschränkt von der Entwicklung, denn wie könnte er sich getrauen zu tun, wozu ihn die Entwicklung nicht autorisiert? Aber der die Richtung hat und Realisierung übt, dem ist die Tat nicht eingeschränkt in Ursächlichkeit und Entwicklung; frei fühlt er sich, als ein Freier handelt er; laß die Orientierenden seine Freiheit die Täuschung der Subjektivität nennen, laß sie die Bedingtheit seiner Tat nachweisen und ihre Entstehung beschreiben: alles läßt sich hinterher einstellen, was in seiner Wirklichkeit nicht eingestellt war, alle Revolution sieht den Nachkommenden wie Evolution aus. Ihm aber, der ewig von neuem beginnt, ist die Tat wie dem Primitiven der Zauber: wie die magische Handlung nicht in einer Kette der Abfolge hängt, sondern ein Weltvorgang mit ihr anhebt und aus ihr endet, wie da im Weg vom Wirkenden zum Bewirkten das Ganze sich ausspricht und der Ring sich schließt, so tut, der ewig von neuem beginnt, die Tat aus sich ins Sein als einen Akt des Erschaffens und eine Vollendung. Dies ist Richtung: die magische Gewalt des ungehemmt Handelnden, der sich verwirklichen will und seine Tat mit dem Wesen erwählt. Und darüber leuchtet der Stern Si nn und sendet seinen Strahl in alles Geschehen. Der Wanderer, der in der äußersten Straße stehen blieb und am Kreuzweg nicht zögerte, kam an einen Platz, der von Platanen umwachsen war; er setzte sich unter eine von ihnen und sah zum Himmel auf. In diesem Augenblick teilten sich die Wolken, und ein einsamer, sehr heller Stern erschien den Augen des Mannes, der ihn wie einen Bruder begrüßte. »All die Zeit warst du mir zugewandt«, sagte er, »und nun s ehe ich dich auch, Ferner und Befreundeter, immerdar Gegenwärtiger!« Und in dem Licht des Sterns erstand ihm in großer Wahrheit zeitlos beisammen all seine Wanderschaft, mitsamt der Heide und der Straße und diesem Platz zwischen den Platanen, tief lebendig im einigen Sinn, als ein Mythos des Wesens und eine Offenbarung. Der Si nn ist nicht wie die Arche der Sichbewahrenden, aus Planken gezimmert und mit verpichten Fugen, sondern einig beschaffen aus dem Stoff des Elements, wie der feurige Wagen, der den Elija entführte. 11 Man kann ihn nicht aus Erfahrungen irgendeiner Art zusammenklauben, noch läßt er sich lehren und übermitteln, sondern er ist der Seele 11. Vgl. II Reg 2,11: »Und als sie miteinander gingen und redeten, siehe, da kam ein feuriger Wagen mit feurigen Rossen, die schieden die beiden voneinander. Und Elia fuhr im Wetter gen Himmel.«

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ureigen beigegeben, entfaltet und bewährt zu werden an ihrem Erleben. Und wie dem Bildner, der einzig das Bild will, das Werk doch auch zum Ausspruch des Geistes und zur Urkunde seines Dämons gerät, so verklärt sich die Seele, die nichts will als wahrhaft aus dem Grunde leben und Wirklichkeit stiften, die erlebte Welt im Licht des Sinns zu einem heiligen Spiegel, darin die Zeichen des Urwesens erscheinen. Orientierung stellt alles Geschehn in Formeln, Regeln, Zusammenhänge ein, die in ihrem Bezirk nützlich sind, aber einem freieren abgeschnitten und unfruchtbar bleiben; Realisierung bezieht jeden Vorgang auf nichts als auf seinen eignen Gehalt und bildet ihn gerade dadurch zu einem Signum des Ewigen. Wie in seiner Tat, so ist, der in der Liebe der Welt steht, auch in seiner Erkenntnis dem Primitiven verwandt, dem Mythenschaffenden: wie im Mythos ein bedeutenderI Vorgang der Natur und der Menschheit, etwa das Leben des Helden, nicht in einen wißbaren Zusammenhang eingereiht, sondern als ein in sich selber Köstliches und Geweihtes bewahrt, mit dem Stolz aller Sphären geschmückt und als ein sinnvolles Sternbild an den Himmel des inneren Daseins erhoben wird, und wie es da in seiner hohen Einsamkeit zu einem Bildnis aller Geschicke und zu einem Siegel des geahnten Weltgeistes wird, so erkennt, der in der Liebe der Welt steht, nicht den Teil eines Zusammenhangs, sondern ein vollkommen Gefaßtes, in sich Gestaltetes, als ein Bildnis und ein Siegel allen Sinn Tragendes. Dies ist Sinn: die mythische Wahrheit des ungehemmt Erkennenden, der jeden Vorgang allein auf seinen Gehalt bezieht und ihn so zu einem Signum des Ewigen bildet. Er empfängt das ihm Widerfahrende als eine Botschaft, er tut das ihm Notwendige als einen Auftrag und eine Kundgebung. Und so hat er nach den Begriffen der Menschen kein Bild von der Welt; in Wahrheit hat er ein so unmittelbares wie das Tuch der Veronika: in seinem Leben.12 Er weiß die Welt nicht und weiß nicht, ob man sie wissen könne; aber verbürgt ist ihm das Unwißbare als ein in ihm und durch ihn Lebendes. Denn wie der Primitive, der in der Magie seine wesenhafte Tat, im Mythos seine wesenhafte Erkenntnis hat, als beider Bündnis und Feier das Mysterium begeht, darin er die Sonderheit besiegt und sich dem Gotte eint, so begeht, der die Richtung und den Sinn hat, ein ewig neues Mysterium in seinem realisierenden: Gott in allen Dingen verwirklichen12. Nach einer christlichen Legende des 4. Jh. reichte die blutflüssige Frau (Mt 9,20 ff.) oder Martha Jesus auf seinem Kreuzweg ein Schweißtuch, in dem seine Gesichtszüge getreu wiedergegeben sind: darum der (spätere) Name der Wohltäterin als Veronika = vera ikon, »wahres Abbild«. I

O: wesentlicher

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den Erleben. Denn Gott will verwirklicht werden, und alle Wirklichkeit ist Gottes Wirklichkeit, und es gibt keine Wirklichkeit als durch den Menschen, der sich und alles Sein verwirklicht. Dieses ist das Reich Gottes, Reinold: das Reich der Gefahr und des Wagnisses, des ewigen Beginnens und des ewigen Werdens, des aufgetanen Geistes und der tiefen Verwirklichung, das Reich der heiligen Unsicherheit. Sicherheit – so nanntest du den Atem deines ersten Lebens. Aber das war nicht die Sicherheit jener, die sich bewahren und sich auskennen. Das war die Sicherheit des Schlafwandlers. Kinder sind Schlafwandler in der Welt. Sie gehn durch alle Abgründe ungefährdet, denn sie sehen sie nicht. Traumhaft ist die Richtung bei ihnen, die ihre Schritte lenkt, traumhaft der Sinn, in dem sich ihnen alles erfüllt. Traumhaft realisieren sie ihr Erlebnis. Ihnen ist es vergönnt, ohne Wagnis zu realisieren, weil sie die innere Zweiheit nicht gewahren und daher auch alle Dinge sich ihnen unentzweit darbieten. Alles stimmt ihnen wie ein Reigen, und der Widerspruch selber spielt mit. Wenn Gott ihnen erscheinen will, muß er sich als fahrender Musikant verkleiden und ein närrisches Gesicht machen. Dann kommt die Stunde des Erwachens. Sie kann spät kommen. Es gibt Menschen, deren realisierende Kraft so groß ist, daß sie in ihrer ersten Gestalt, der traumhaften Einfalt, die Kindheit überdauert. Gleichviel: es geschieht, daß einer den Abgrund, den er unzählige Male durchschritten hat, unversehens zu seinen Füßen erblickt. Den Abgrund des Widerspruchs und des Gegensatzes: den Abgrund der tausendnamigen immanenten Dualität aller Dinge. Es ruft ihn aus der Tiefe an; und da erkennt er, daß es einem Abgrund in ihm selber antwortet, tausendnamig auch er: dem Abgrund der inneren Zweiheit. So erschrickt er. Und in seinem Schrecken stellt sich die Wahl ihm dar: wem er die Macht gebe, der Orientierung oder der Realisierung. Es geht nicht darum, daß er sich ungeteilt der einen überliefre: keine kann ohne die andre bestehn; es geht um die Herrschaft. Die Orientierung verspricht ihm die Sicherheit. I Die Realisierung hat nichts zu versprechen. Sie sagt: Wenn du mein werden willst, mußt du in diesen Abgrund niedersteigen. Was Wunder, wenn sich der Wählende der freundlicheren Herrin übergibt und der andern nur noch I

O: Sicherheit. Sie hat allerlei erprobte Mittel gegen Abgrund; das geringste unter ihnen ist die erstaunliche Landkarte der Welt, auf der sie alle verzeichnet und benannt sind, so dass man sie kennen und meiden kann; ein kunstreiches heisst universale Rationalität, das macht alle Abgründe zu Gründen – es wirkt freilich nur, wenn man nicht zu nahe an sie herantritt; von einigen andern weißt du zu berichten; auch der Geheimmittel gibt es mannigfaltige.

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hin und wieder, in den seltnen Stunden der Selbstbesinnung, einen wehmütigen Blick zuwirft? Du hast entschieden, Reinold, wem du nicht folgen willst. So hast du auch schon entschieden, wem du folgen willst. Du wußtest von je, was du tun sollst, und weißt es auch jetzt; denn die Richtung ist bei dir wie von je. Aber dies ist die Zeit, da ihre erste traumhafte Kraft zu Ende ist und ihre zweite, wache Kraft anheben will. Da steht sie zag und versonnen, als horche sie auf einen fernen Ruf. Doch daß du heute zu mir gesprochen hast, das ist ihr erster neuer Schritt. Nun kennt sie wieder ihren Weg. Geborsten erschien dir der Sinn, Reinold. Das ist, weil er sich erneuern will. In dem träumenden Herzen war ein wagendes beschlossen; das will nun auferstehn: will aus seinem Larvenleben zu einem beflügelten Leben erwachen. Im Licht des Sinns war dir die Zweiheit der Welt umfaßt; sie trat dir aus ihm; nun sollst du sie neu im auferstehenden Licht umfassen. So ist dir der Sinn wiedergeboren; und nichts kann ihn hinfort versehren. Traumhaft war bislang die Ruhe deines Werdens, und nun wurde sie verstört von Unrast und Irregang. Du mußt sie wiedergewinnen, und als eine Erwachte. Sie hatte leichte Füße und einen blumenhaften Blick und wußte nichts von Gefahr. Nun wirst du mit ihr hinausziehn und die Gefahren heimsuchen. Und von jedem Gang wird sie mit stärkeren Sehnen und festeren Augen kehren. Aber sei getrost: ihr Fuß wird den Tanz und ihr Blick die Liebkosung nicht verlernen. Gefahr, Gefahr, Gefahr: das ist fortan deine Bahn. »Gott und die Träume«, so geht ein Lied, Reinold, das Lied der seligen Frühe.13 Aber dein Spruch sei: Gott und die Gefahr. Denn die Gefahr ist die Pforte der tiefen Wirklichkeit, und Wirklichkeit ist der höchste Preis des Lebens und Gottes ewige Geburt. Und wenn mich die Dichter der Zeiten umträten und alle fragten mich: »Habe ich nicht das schönste Leben erdacht?« so würde ich antworten: Das schönste Leben, das erdacht wurde, ist das Leben des Ritters Don Quijote, der die Gefahr, wo er sie nicht fand, sich erschuf.14 Aber schöner noch ist das gelebte Leben dessen, der die Gefahr allerorten findet, wo sie zu finden ist; und sie ist allerorten zu finden. I Alles Schaffen steht am 13. Vgl. A. Mombert, Briefe, S. 219 (an B., 6. 6. 1913, Erläuterung): hier »zitiert Buber in veränderter Interpunktion Momberts Spruch: ›Gott. – Und die Träume.‹ aus de[m Gedichtzyklus ›Die‹] ›Schöpfung‹ (S. 220) [Minden 1902]«. 14. M. Cervantes, Der sinnreiche Don Quijote von der Mancha, Straßburg 1905. I

O erg. nach »finden« mit »Wenn du wahrhaft in der Welt erkennen willst, kannst du es tun in der Gefahr; denn nur durch sie dringst du zur Wirklichkeit vor. Und wenn du wahrhaft in der Welt handeln willst, kannst du es nur in der Gefahr; denn nur vor ihr eint sich die Gewalt zur schöpferischen Tat.«

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Rande des Seins; alles Schaffen ist Wagnis. Wer nicht seine Seele wagt, kann den Schöpfer nur äffen. Aufrecht und gewärtig, aufgetan und anheimgegeben, in der Ruhe deines Werdens lebe, Reinold, und liebe die Gefahr. Du hast keine Sicherheit in der Welt, aber du hast die Richtung und den Sinn, und Gott, der verwirklicht werden will, der Wagenden Gott ist dir allzeit nah. Und dies ist deine nä chs te Gefahr: steige in den Abgrund nieder! Realisiere ihn! Erkenne sein Wesen, die tausendnamige, namenlose Polarität alles Seins, zwischen Stück und Stück der Welt, zwischen Ding und Ding, zwischen Bild und Wesen, zwischen Welt und dir, zuinnerst in dir selber, allerorten, mit ihren schwingenden Spannungen und ihrer strömenden Gegenseitigkeit. Erkenne die Zeichen des Urwesens in ihr. Und erkenne, daß sie deine Aufgabe ist: Einheit zu schaffen aus deiner und aller Zweiheit, Einheit zu setzenI in die Welt; nicht Einheit der Mischung, wie sie der Sichere fabelt: vollendende Einheit aus Spannung und Strom, wie sie der polaren Erde taugt – daß Gottes des Verwirklichten Antlitz leuchte aus Spannung und Strom. Erkenne aber auch, daß diese die unendliche Aufgabe ist; und daß hier kein Einfürallemal gilt, sondern daß du ewig neu niedersteigen mußt in den wandlungsmächtigen Abgrund, ewig neu die Seele wagen, ewig neu angelobt der heiligen Unsicherheit. II

Von der Polarität Gespräch nach dem Theater III Leonhard: Hat das Stück dich so bewegt, Daniel? Wie du neben mir hergehst, in eine Stille eingetan, ist es mir, als kämen wir nicht desselben Wegs: ich wohl aus dem Theater, du aber aus Eleusis. Daniel: Aus dem Theater komme ich, Leonhard; und was mich bewegt und in eine Stille gesetzt hat, ist nichts andres als das Theater selber. Ich habe es heute zum erstenmal gesehen. Leonhard: Du scherzest. Daniel: Ist es dir nicht geschehn, daß du viele Jahre mit einem Menschen vertraut warst und hattest ihn in und neben dir, geläufig wie ein Wort, das du stets zur Hand hast und zu kennen glaubst, ob es dir auch nie beifiel, es zu betrachten IV – und an einem Abend, während die Lampe I II III IV

O ers. »setzen« durch »stiften«. O erg. »voll[endet] 4. IX. 12, ergänzt 5. IX.« O: Gespräch nach dem Theater. Von der Polarität O: neu zu sehen

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zwischen dir und ihm in einem neuen Winkel steht, siehst du ihn zum erstenmal: und das Wundern ergreift dich; denn in den Maßen und Verhältnissen des vertrauten Angesichts erkennst I du ein unauslotbares, botschaftsreiches Geheimnis – ein Grundmaß und Grundverhältnis des Lebens. Leonhard: Und so hast du heute das Theater gesehnII ? Daniel: Als ich hereinkam, war es eben dunkel geworden. Wie oft hatte ich schon in diesem Moment den Zuschauerraum betreten, und es hatte nur meinen Genuß vermehrt, daß ich niemand zu sehen brauchte, ehe das Spiel begann, und aus dem lockern Licht der Straße unmittelbar vor dieses strenge Licht, aus dem wilden Würfelspiel der Straße unmittelbar vor dieses regelkundige Brettspiel geriet. Diesmal war es anders. In der Finsternis faßte mich das Ereignis an. Eleusis, sagtest du – ja, so mag III , wenn die Lichter erloschen, den Geweihten widerfahren sein. 15 Und da ging der Vorhang auf. Leonhard: Dann begann aber eben doch das Stück – das Stück, das auch ich, nicht weit von dir sitzend, gesehn und gehört habe. Daniel: Das Stück? Ja, irgendwie auch das Stück; oder, wenn du willst, zunächst begann in der Tat nur das Stück. Es äußerte sich mir aber so, daß sich etwas vor mir in einer Art begab, die mir ungewohnt und erstaunlich schien. In einem Raum, der aus dem Zusammenhang des Raumes ausgehoben war und keine Verbindung mehr hatte, weder mit Oben noch mit Unten, weder mit Rechts noch mit Links, weder mit Hinten noch mit … ja doch, eine einzige eigentümliche Verbindung mit diesem Vorn, wo ich war. In einer Zeit, die aus dem Ablauf der Zeit losgelöst war und sich ohne Vor- und Nachher vollzog, und in jedem Augenblick so erfüllt von Trieb und Bedeutung, daß es mir vorkam, das Vor- und Nachher sei ausgeschöpft worden, um diese bauchigen Gefäße, die Augenblikke, zu füllen. Leonhard: Aber ringsum war doch, mit den Mitteln des Wirklichen angezeigt, der imaginäre Raum, aus dem die Menschen des Dramas ka15. Eleusis beherbergte seit früharchaischer Zeit den bedeutendsten Mysterienkult der griech. Antike. In die im Frühherbst gefeierten »Großen Mysterien« konnte sich jeder Mann und jede Frau einweihen lassen, wobei ihnen irdischer Reichtum, v. a. aber ein seliges Leben nach dem Tod versprochen wurde. Im Zentrum des Kults stand die mystische Schau der »beiden Göttinnen«, Demeter und ihrer von Hades geraubten und dann wiedergefundenen Tochter Persephone/Kore (»das Mädchen«), vgl. Homerischer Demeterhymnos (7. Jh. v. Chr.). I II III

O: Angesichts verborgen erkennst O: dich heute über das Theater gewundert O: so mag es

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men und in den sie zurückkehrten; und ins Drama wehte und stürmte, flüsterte und winkte das imaginäre Vorher, dieser Menschen früheres Leben! Daniel: So war es mir nicht. Vielmehr kamen sie, als sie mir erschienen; vom Rande des Seins, und wenn sie gingen, verklangen sie ins Leere, wie ein Ton verklingt. Sie meldeten mir nichts als einzig ihre Gegenwart. Und das taten sie mit der Präzision eines Schattens. Leonhard: Wie soll ich dich verstehn? Daniel: Sieh zu Boden, auf die Schatten der Bäume, wie sie sich über unsern Weg strecken. Hast du je in der Oberwelt der Bäume einen Zweig so umrissen, so deutlich, so begrifflich gesehen wie diese hier? Ist das nicht die ledige Zweighaftigkeit des Zweiges? Schatten – und zuerst sah ich, was ich heute im Theater sah, wie ein Schattenspiel: wie ein überdeutliches und doch noch irgendwie ungedeutetes Spiel. Der geistige Prolog fehlte mir; ich wußte und wußte doch nicht, was geschah. Es erging mir wie dem Jüngling in jener fingierten Streitfrage des Sopater. Weißt du es noch? Er hat geträumt, er sei zu Eleusis geweiht und sehe den heiligen Vorgang. I Erwacht sagt er einem Freunde, einem Geweihten, was er gesehen hat, und fragt ihn, ob es dem wirklichen Mysterium entspreche. Der Freund nickt. Hat er nun den heiligen Vorgang einem Ungeweihten verraten? Nein; denn den Träumer hatten die Göttinnen selber, Demeter und Kore, geweiht; und als Geweihter hatte er alles erfahren. Und doch wußte er nicht; denn er hatte die Stimme des Hierophanten nicht verstanden, und so blieb ihm der letzte Sinn der Symbole ungedeutet. 16 Plötzlich aber verstand ich die Stimme, die in mir sprach. Und so mit einem Male, als hätte sich die Bühne dieser Tage, vor der ich saß, in die christliche Mysterienbühne gewandelt, wo über der Menschenkammer die Throne des Himmels standen, unter ihr die Hölle das große Teufelsmaul aufriß und die Achse von Pol zu Pol durch das Herz des armen Sünders ging. Ja, was ich sah, war das Schauspiel der Zweiheit. Aber nicht Gut und Böse, alle Wertung war nur Gewand, sondern die Urzwei selber, Wesen und Gegenwesen, einander widersetzt und einander verbunden wie Pol mit Pol: polar widersetzt, polar verbunden, die freie Polarität des Menschengeistes. Dort draußen, in der Welt des lockern Lichtes, die ich verlassen hatte, als ich in dieses Reich des strengen eintrat, dort draußen 16. Vgl. Rhetorices Graeci, hrsg. von Walz, Bd. 8, S. 110-124. Es handelt sich um eine bis zur Absurdität getriebene rhetorische Übung der Kaiserzeit, die dem griech. Redner Sopater (wohl 4. Jh. n. Chr.) zugeschrieben wird. I

O: das heilige Drama.

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waren die Zwei umhüllt mit Mittelbarkeit und unkenntlich; aber hier standen sie nackt und göttergroß, nackt war ihre Gebärde, nackt ihre Stimme. Ein vermittelnder Chor von Gestalten umgab sie; aber aus den vermittelnden Kreisen traten sie nur noch deutlicher, unerreichbarer I hervor. Was sie taten, entfaltete nur, was sie waren; die Ströme, die zwischen ihnen hin und wider rannen, äußerten nur, milderten nicht die polare Kraft ihres Soseins; und was zwischen ihnen wahrhaft in der Mitte stand, war nichts Vermittelndes, sondern das Ich des Geistes, dessen urgeheime Zweiheit sie offenbarten. Leonhard: So stark wirkte das Stück auf dich? Daniel: Das Stück … ja, es war wohl das Stück. Leonhard: Es wurde mit ungewöhnlicher Kraft gespielt. Daniel: Ja, auch das Spiel … Aber damals wußte ich noch nichts von Stück und Spiel. Was mir damals in dem abgelösten Gebilde vorging, dem meine Sinne anhingen, war von so elementarer Art, daß ich keine Absicht, keine Leistung, keine Anordnung spürte, sondern des Geschehens, das sich mir so zuteilte, unmittelbar gewiß war. Die Zwei aber, die polaren Protagonisten, hatte mir ein Dämon – ja, wer doch die schweigsamen Namen der Dämonen wüßte! –nun denn, der Dämon des Theaters hatte sie mir groß gemacht. Die Kothurne des Mythos waren an ihre Füße geschnallt, aus ihrer Wechselrede dröhnte die Antiphonie der Ananke II . 17 Da standen sie, das tragische Paar, wie Kreon und Antigone, und hatten weder Recht noch Unrecht, weder Schuld noch Unschuld, hatten nichts als ihr Wesen, ihre Polarität, ihr Verhängnis. 18 Und mir vor ihnen wurde weltengroß zumute, als sei ich das Ich des Geistes, dessen urgeheime Zweiheit sie offenbarten. Schon aber war ich nicht mehr vor ihnen, sondern wahrhaft in ihrer Mitte, und die Ströme, die von Pol zu Pol rannen, rannen durch mein Herz. Dann fiel der Vorhang, die Lichter flammten auf – ein festlich wohlgesinntes Licht, geeignet, zwischen dem der Straße und jenem nun versunkenen zu vermitteln –, ich saß inmitten des Publikums und hatte es schwer, mich zurechtzufinden. 17. Der Kothurn war ein Schaftstiefel mit dicken Sohlen, der zum Kostüm der griech. Schauspieler gehörte. Ananke, griech. »Zwang«, in der Spätantike zu einer eigenen Göttin erhoben. 18. Sophokles, Antigone (aufgeführt um 442 v. Chr.). Kreon, der König von Theben, und seine Nichte Antigone sind die Antagonisten der Tragödie, in der jener die Staatsräson und diese die Familenpflicht vertritt, vgl. G. F. W. Hegel, Ästhetik, Bd. 1, S. 286 f., Bd. 2, S. 60, Bd. 3, S. 549 f. I II

O: bestimmter, unzugänglicher, eindeutiger O: des Schicksals

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Leonhard: Ich weiß … ich winkte dir zu, und du grüßtest zurück, aber als ob du mich nicht erkenntest. Daniel: Sicherlich erkannte ich dich nicht. Ich erkannte nichts als eben das Publikum; das aber wahrhaft und wunderlich. Ich hatte ja das, was der erste Akt meines Dramas war, nicht als einer der Zuschauer, sondern als ein heimlicher Hierophant erlebt;19 nun überraschte mich die Menge, deren Teil ich war, und füllte mich mit Staunen, als wäre ich ihr zum erstenmal gesellt. Diese Menschen hatten sich abgesondert und zusammengetan; sie hatten sich auf den einsamen Raum, auf die einsame Zeit dieser Bühne eingestellt und nahmen ihren Vorgang als etwas ihnen Zugeordnetes an; verschiednen Sinnes freilich, handlungserregt die einen, leistungskundig die andern, wenige nur in jener dynamischen Ganzheit des Mitseins, der Handlung und Leistung in einer mythischen Wirklichkeit wie Gleichnis und Voraussetzung untergehn; alle aber dem Geschehenden offen, dem Gleichmaß seines Schrittes mit dem Gleichmaß ihres Seelenschrittes antwortend und, ob mit hingegebnem, ob mit überlegnem Gefühl, ein Auferlegtes bewältigend. So glichen sie wahrhaft jener »vielen und unzählbaren Menge« zu Eleusis, der die Vermählung des Himmels und der Erde und die Geburt des Gottessohnes dargestellt wurde; und wenn sie das Dargestellte nicht »als eine I Erlösung betrachteten«, wenn ihre Haltung fast so profan war wie das Geschwätz ihres Zwischenaktes, sie waren doch, solange die Bühne sprach, Verbundene und eines Offenbarten Teilhaftige. Ihre Profanheit hielt mir nicht stand. Ich trug das Maß jener vollkommenen Polarität, in der ich vor einer Weile gestanden hatte, noch in mir wie das Maß einer Leidenschaft, das alles Brüchige und Gebrochne ringsum zur Unversehrtheit ergänzt, vielmehr in seiner Unversehrtheit erscheinen läßt. So wuchs meine Umgebung mir zur GemeindeII zusammen, der ich eingegliedert war. Und so, nicht mehr als Brennpunkt und Mitte, sondern als ein Eingegliederter erfuhr ich den zweiten Akt meines Dramas. Ich empfand, wie das Glied einer Madreporensiedlung empfinden mag, mit den Organen der Gemeinde;20 zugleich aber wurde mir dieses Ganze so einig gegenwärtig, wie ein einzelnes Wesen sich selber in seinem Bewußtsein gegenwärtig ist. So also fand ich es, fand ich mi ch jenem anderen Wesen, das sich auf der Bühne in sich bewegte und in sich un19. Hierophant von griech. »der das Heilige zeigt«, gemeint ist der Mysterienpriester. 20. Madreporen: Steinkorallen, die Riffe bilden. I II

O: ihre O: zur vollkommenen Gemeinde

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terredete, gegenüber. Denn ohne daß sich ihr innerer Zwiespalt milderte, ja dieweil er heftiger und ausladender geworden war, hatte auch jene polare Welt des Agons die Gestalt eines Wesens gewonnen. Es stand meinem Wir-Ich gegenüber, als der Sturm der Stille, der Wogenberg der Sandfläche, der Widerspruch dem Ausgleich. Aber in all seiner Vielfältigkeit erschien es nun doch als ein Wesen wie wir, von einem GesetzI bestimmt und zusammengehalten in seinem Widerspruch wie wir in unserm Ausgleich. Und so breiteten wir uns einander gegenüber, durch das strenge Licht der Rampe getrennt: Raum und Rahmen, Zeit und Szene, Ausgleich und Austragung II , Publikum und Tragödie – Wesen und Gegenwesen. Ja, Wesen und Gegenwesen! Denn beide standen in einer Polarität wie jene Zwei III auf der Bühne; nur undeutlicher war sie, weil, sie kreuzend und trübend, eine andre in ihr mitschwang, die ich wußte, ohne ihrer innezuwerden: die Polarität des »Scheins« und der »Wirklichkeit«. Wesen und Gegenwesen: aber sie waren nicht wider einander gesetzt wie die Zwei des Dramas, die nun in einer Einheit umschlossen erschienen; sie trugen ihre Polarität nicht aus wie jene. Sie verharrten jedes in seinem Beruf, das eine im Geschehen, das andere im Gewahren. Und dieses Gewahren schien mir nicht minder denkwürdig als jenes Geschehen. Denn es verhielt sich zu seinem Gegenstand nicht in jener wohlwollenden Neutralität, die der Betrachter gemeiniglich dem Betrachteten entgegenbringt. Vielmehr trug es seine Gegensätzlichkeit in sich, äußerte, betätigte sie irgendwie; und eben nicht einem Teil jenes in sich Entzweiten, sondern dem Ganzen gegenüber. Es nahm also nicht Partei; es war gleichsam selbst Partei, die jenen beiden wie eine Einheit entgegentrat IV . Aber welch eine seltsame Partei, die nichts als Wahrnehmung war! Oder doch noch mehr? Ja, es war noch etwas da: Bestätigung. Und zwar Bestätigung nicht des vermittelnden Chorwesens, das ja auf der Bühne mitgeschah, sondern des Widerspruchs, des Verhängnisses, der Entscheidung. Dort standen die Zwei in dem Grimm ihrer Beschaffenheit, dort wirkte sich das Schicksal zwischen ihnen aus, und hier saß das Publikum und bestätigte, bekräftigte, bejahte wahrnehmend das Schicksal: es wollte, was es erfuhr. Dieses Gewahren war eine Proklamation. Wo hatte ich doch schon dergleichen gesehn? Ich erinnerte mich: es I II III IV

O: einem inneren Gesetz O: Widerspruch O ers. »Denn – Zwei« durch »Denn Beide standen in einer nicht geringeren Polarität als jene«. O ers. »jenen – entgegentrat« durch »in ihrer Gegensätzlichkeit jene beiden vereinigte«.

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war ein rohes, frühgriechisches Vasenbild, das die Psychostasie zeigt. Zwei Helden im Kampf, und dahinter Hermes, die Seelen wägend. 21 So plump es gemalt ist, man sieht: er nimmt nicht Partei, aber sein Wille folgt der Entscheidung der Schalen; er will, was geschehen muß, und sein Wille ist eine Fanfare. Wie mir jedoch dieses Bild vor das Auge trat, durchschütterte mich der Unterschied. Ja, wenn auf der Bühne das tötende Messer sich hebt, zuckt das Herz dieses dunkeln Wesens, des Publikums, in der Spitze; aber es bebt zugleich in dem Fleisch, das den Stoß empfängt. Es gesellt sich dem Schicksal, das die Hand des Ödipus lenkt, und es wohnt in den geblendeten Augen. 22 Es schwingt in jeder Welle mit, die Lear seinem Wahnsinn zutreibt, und es kreist in der Pein des Königs, wahnsinnig wie er. 23 Und jetzt sah ich es auch klarer als zuvor: vor dem Großen hatten sie alle, die Handlungserregten und die Leistungskundigen, ein einziges gemeinsames Herz. Von den einen fiel die Derbheit ihrer Hingabe, von den andern die Scheinkraft ihrer Überlegenheit ab, sie wurden eins in dem Akt der Umfassung. Denn so durfte man es vielleicht nennen, was hier geschah. Ein Wesen steht seinem Gegenwesen gegenüber; es äußert, den Anprall des Schicksals begleitend, seine Polarität; zugleich aber wirkt I es sich in seinen Gegenpol hinüber und leidet dessen Leben mit ihm. Wie soll man es nennen, dieses BeisichbleibenII und Ausfahren, diese Angriffslust und Opferfreude, dieses bipolare Erleben? Ich sage Umfassung und weiß, daß ich zu wenig sage. Aber laß mir das Wort; denn wenn ich es ausspreche, habe ich eine andre Polarität im Sinn, und der Liebende ist mir gegenwärtig, der nicht seine ringende Lust allein, der auch der Geliebten blühende erlebt und das ihm Gegensätzlichste als das Ureigenste umfaßt. Aus diesem Gedanken rief mich der fallende Vorhang. Wieder überspielte mich das festlich wohlgesinnte Licht, und viele lose, gar nicht eingegliederte Menschen standen, gingen, liefen um mich herum. Ich stand auf, ich ging mit ihnen, da kamst du mir entgegen. Leonhard: Und als ich dir die Hand reichte, fragtest du mich: »Wunderst du dich nicht auch, Leonhard?« »Worüber denn?« sagte ich. Und du: 21. In den antiken griech. Mythen ist der Gott Hermes auch Führer der Seelen in die Unterwelt (Psychopomp). Als solcher kann er auch auf den Ausgang eines Kampfs warten, um die Seele des Gefallenen dorthin zu bringen. 22. Sophokles, Ödipus Tyrannos (aufgeführt um 428 v. Chr.) 23. W. Shakespeare, König Lear (erste bezeugte Aufführung 1606). I II

O: schleudert O: Verharren

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»Über das Theater …« und dabei lächeltest du. Dann sprachen wir von andern Dingen, aber ich merkte, daß nur dein freundliches Gefühl bei mir war und zu mir redete. Daniel: Ja … denn in dem Augenblick meines Aufstehns befiel mich, von ungefähr und mit einem Ernst, daß ich über mich lachen mußte, das Selbstverständlichste, das Einbezogenste, das Trivialste, das ich all die Zeit über gewußt und doch nicht gewußt hatte: daß dies Theater war. Daß in demselben Augenblick wie ich und die um mich auch diese Menschen auf der Bühne, die Schauspieler, viele lose, gar nicht eingegliederte Menschen, aufstanden, gingen, liefen, sich erholten und vorbereiteten. Daß sie heute in der Dämmerung aus ihren Häusern gekommen waren um zu spielen, wie wir aus unsern um zu schauen. Daß jenes Ganze, das eben noch gewesen war, das fiktive Leben eines Abends war, und dieses Stückhafte, das sich jetzt begab, das reale Leben der Generationen. Aber wie mir das so gegenwärtig wurde, war es auf einmal gar nicht mehr trivial, sondern sehr sonderbar und gedankenvoll. I Wie einer, der viele Jahre lang ein Haus hatte und sich seiner erfreute, ohne ihm nachzusinnen, und unversehens kommt es ihn an: »Das ist ein Haus«, und er lächelt – aber nun erst beginnt es seinem Sinn aufzugehn, was das ist: ein Haus; oder wie einer, der viele Jahre lang mit einer Frau lebte und Gemeinsamkeit mit ihr erfuhr, und unversehens kommt es ihn an: »Das ist eine Frau«, und er lächelt – aber nun erst beginnt es seinem Sinn aufzugehn, was das ist: eine Frau: – so empfand ich es. Denn was war dies hier für eine Wirklichkeit, das so locker und stückhaft mich umgab? Und was war jenes dort für ein Schein, das so streng und ganz mich gemahnte? Welches war die tiefere Wirklichkeit: der Akt oder der Zwischenakt? Und was war das für eine Macht, die die Menschen aus der gebrochnen, vermittelten, abgestumpften Polarität ihres Lebens vor die reine, starke, unmittelbare Polarität der Tragödie stellte? Und wer waren sie, die dieses Wesenhafte »spielten«? Was taten sie, wenn sie es spielten? Diese Fragen bedrängten mich, als ich mit dir sprach, und ich konnte nicht von ihnen loskommen. Ja, ich konnte es nicht wollen. So der Frage voll kehrte ich an meinen Platz zurück, und der dritte Akt meines Dramas hob an. Über die Bühne schritt, ich weiß nicht weshalb und wohin, ein Mädchen auf schlanken, braunen Füßen. Da geschah es seltsam an mir. Was sonst auf der Bühne war, verging, und ich sah, an die ich oft gedacht und die ich doch nie gesehen hatte: das Mädchen, das in indischen Dörfern

I

O: sehr nachdenklich.

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die Erntegöttin Gauri, Siwas Gemahlin, darstellt. 24 Ein Büschel der wilden Mimose wird ihr vorangetragen, sie geht auf schlanken, braunen Füßen durch alle Stuben des Hauses, und an der Schwelle jeder Stube empfängt sie die Frage: »Gauri, Gauri, woher bist du gekommen und was ist es, das du siehst?« Ich weiß nicht, was sie antwortet. Aber in der letzten Stube neigt sich die Herrin des Hauses vor ihr, bringt ihr süße Opferspeise dar und spricht: »Komm mit goldenen Füßen und bleibe für immer.« Leonhard: Ist das nicht, wie wenn der Myste zu Mithras spricht: »Bleibe mit mir in meiner Seele«?25 Daniel: Ja, so ist es. Aber Gauri wird d argestellt . Wie geht das zu? Dieses Mädchen I stellt Gauri dar. Leonhard: Doch nicht anders als eine Puppe, die eine Göttin darstellt. II Ob der Gläubige zur Bildsäule seines Gottes oder die indische Frau zu der lebenden Gauri-Puppe spricht, es ist gleicher Art; nur daß die Göttlichkeit der Bildsäule wohl stärker geglaubt wird als die des Mädchens. Daniel: Das mag sein; aber die Bildsäule hat, vermutlich, keine Bewußtheit. Was mich nachdenklich machte, war die Bewußtheit des Mädchens. Es stellt die Göttin dar. Freilich: es »spielt« sie nicht. Aber wird es in seinem lässigen Gefühl nicht doch irgendwie berührt? Wird seine Schläfe nicht von einem unverständlichen Hauch der Ver w and lu ng angeweht? Leonhard: Vielleicht. Aber es tut ja doch nichts, als was ihm zugewiesen ist. Daniel: Bist du dessen so sicher? Daß es nicht den Kopf ein wenig steiler hebt, die Finger nicht ein wenig dichter hält, die Knie nicht ein wenig straffer spannt III als sonst? Und ist je einem sterblichen Wesen anderes zugewiesen als ein Vieldeutiges, das es in seinem Tun einfach deuten muß? Aber mein Sinn blieb nicht bei Gauri stehn. Wieder von einem Vorgang der Bühne getroffen, wo eine Hochzeit begangen wurde, wanderte 24. Gauri, »die Weißliche«, Beiname Durgas, der Gattin des ind. Gottes Schiwa, ist unter diesem Aspekt Patronin der Hochzeit und stürzt sich im Mythos für ihren Mann ins Feuer. Ihr Opfertod wurde als Teil des Neujahrfests kultisch wiederholt, vgl. G. Frazer, The Golden Bough, Teil 2, S. 77 f. 25. Mithras, antiker Mysteriengott, dessen exklusiv männlicher Kult sich durch die römischen Soldaten (seine am meisten begeisterten Anhänger) über das ganze Imperium ausbreitete und der ein Weiterleben nach dem Tod versprach, das durch blutige Weihen und Dienst in der hierarchisch geordneten Mysteriengemeinschaft errungen werden konnte. I II III

O ers. »geht – Mädchen« durch »ging das zu? Dieses Mädchen, das ich sah«. O: darstellen mag. O ers. »steiler – spannt« durch »steifer hob, die Finger nicht ein wenig dichter hielt, die Knie nicht ein wenig straffer bog«.

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er gen Norden – oder vielmehr nicht so, er leerte wieder die Bühne und füllte sie mit einer uralten nordischen Begebenheit,I und auch sie sah ich erst jetzt. Wie den festlichen Umzug schwedischer Bauern, darin Freyrs Standbild mit der dem Gotte angetrauten allerschönsten Jungfrau durchs Land gefahren wird, ein Unbekannter durchbricht und den heiligen Wagen anreitet: dem Gotte gleich an Gestalt, Gebärde, Gewandung; er empfängt die Opfergaben des Volkes, vermählt sich der Priesterin, segnet das Land zur Fruchtbarkeit, – Gunnar Helming, ein Geächteter aus Norwegen. Er – spielte den Gott. 26 Leonhard: Ja, um die Treuen zu betrügen. So spielte Jakob den Esau. 27 Daniel: Meinst du, daß Jakob und Gunnar mit glatter Seele wie Krämer betrogen? Daß ihnen unter Tierfell und Gotteskleidern nicht der Schauder der Verwandlung den truggerüsteten Leib überrann? … Wieder aber, von dem Hochzeitsreigen der Szene gerufen,II stand ein neues Spiel vor mir: ich sah die Bakchen auf der Bühne. Nicht die euripideische Dichtung: das alte Dionysosspiel selber, das den Thiasos und die Vermählung, die Passion und die Auferstehung des Gottes darstellte und die Seelen so in ewige Bewegung schleuderte, daß heute noch ein groteskes Rudiment in thrakischen Dörfern fortlebt. Ich sah, vor den pferdohrigen Satyrn und den schlangengeschmückten Thyiaden sichtbar wie eine melodische Säule vor grobgestaltigen Pfeilern, den Jüngling, der auserwählt worden war und sich bereitet hatte, seinen Leib zum Leib des Heilbringers herzugeben.28 Licht und gelöst stand er gegen den dunkeln Rausch der Gefährten, sein Fuß stieß die Erde ab wie der Fuß eines jungen Stieres, die Ströme der Blässe und des Blutes mischten sich auf seiner Haut wie Wasser und Feuer, und wenn seine Wangen rot wurden, hatten sie des Mostes Farbe. In seinen Augen aber – die nicht Blick, nur seiendes Auge waren – wohnten die Verwandlungen, »zu Winden und Gewässern 26. Freyr, german. Gott der Fruchtbarkeit, der Gesundheit und des Reichtums, mythischer Urahn der schwed. Könige. Der Sage nach übernahm Gunnar Helmling, ein norwegischer Flüchtling, bei einer Prozession zu Ehren Freyrs den Platz seiner Effigie und sicherte seinerseits die Fruchtbarkeit des Landes, vgl. G. Frazer, The Golden Bough, Teil 2, S. 143 f. 27. Vgl. Gen 27,1-40. 28. Buber beschwört hier das dionysische Ambiente der antiken griech. Mythen, das traditionell in Thrakien (»außerhalb« Griechenlands) angesiedelt wurde. Zum Gefolge des Gotts gehörten die Satyrn, halbtierische, ihren Trieben ergebene Begleiter, ebenso wie die schwärmenden Frauen, die Thyaden oder Mänaden oder Bakchen. Die im Thiasos Vereinigten verehrten ihn in ekstatischer Raserei, wovon Euripides in den »Bakchen« (in Athen posthum aufgeführt) ein dichterisches Zeugnis ablegt. I II

O: Begebenheit, von der ich in demselben Buch gelesen hatte; O: Wieder aber stand

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und Sternen und der Geburt von Pflanzen und Tieren«, und seine freien Glieder vollzogen sie: von aller Bestimmtheit gelöst I wogten sie, standen strahlend im Raum, wurzelten und strebten. Ich erkannte mit heiligem Herzen den Heros der Seelen. Und er, der Jüngling, kunstreicher als II Gunnar Helming und gläubiger als III das Gauri-Mädchen – was war es, was ihm geschah: was war es, was in ihm geschah? Ruhte nicht auf ihm das Geheimnis der Magie, dem alle jungfräulichen Völker ergeben sind: wer sich in den Gott verwandelt, lebt das Leben, tut die Tat, wirkt das Werk des Gottes? Ver w i r k li chte er nicht den Gott in und mit seiner Seele wie in und mit seinem Leibe? Als mir das offenbar wurde, schwand das Gesicht, und ich sah wieder unentzweit den Vorgang des Theaters. Aber weniger noch als zuvor wollte mein Blick dessen Breite folgen. Er heftete sich an den einen der beiden Protagonisten, der jetzt abseits stand, an eine einsame Säule gelehnt, und mit verschränkten Armen den Hochzeitstaumel betrachtete. Es war ein hochwüchsiger Mann mit einem breiten Kinn und feinen Fingern. Ich schaute ihn lange und unverwandt IV an; etwas verhüllte mir sein Wesen; so liegen Wolken um einen Felsen, und eine schwache Sonne vermag sie nur zu zerreißen, nicht aufzulösen. Und plötzlich sah ich, nunmehr vollkommen klar und unverhüllt, zwei Wesen. Keiner der Zwei glich dem Mann, den ich eben noch angeschaut hatte; beide glichen ihm. Sie standen in zweierlei Licht; der eine in einem unirdischen, blitzend weißen, wie Gletscherschnee im Mittag, der andre in einem bläulich matten, wie herbstliche Hügel im Abenddunst. Der Blitzende hatte eine Stirn aus Kupfer und Augen aus Smaragden; sein Mund war fest wie eine Steinbrücke; seine Knie wölbten sich wie die Knie der Könige. Der Matte hatte eine Stirn aus Messing und Augen aus Opalen; sein Mund war gespannt wie ein Tanzseil; seine Knie strecktenV sich wie die Knie eines Schwimmers. Die Zwei standen einander gegenüber; in neuer Gestalt sah ich Pol und Gegenpol, Wesen und Gegenwesen – und so war ich ihrer inne, daß der Held zu dieser Stunde VI meinem Herzen nicht näher sein konnte als der Schauspieler. Denk dir einen Menschen, Leonhard, dem die Tat abbricht; der von ihr nur das Seelische lebt; dem jener namenlose Funke, jene Kinesis fehlt, durch die die Tat aus dem Erlebnis eines Einzelnen zu einem allen gegeI II III IV V VI

O: wehten und O: kunstreich wie O: gläubig wie O: starr O: streckten und bogen O: in diesem Augenblick

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benen Geschehen wird: ist er nicht dem Täter ähnlich und doch vor allen sein Widerpart? 29 Denn dieses Fragment der Tat, das er lebt, nimmt die Selbständigkeit eines Ganzen an; es täuscht seinem Gefühl eine Ganzheit vor I, weil es sein Gefühl sättigt; erst war es ihm in seiner Unvollständigkeit ein Spuk und ein Schrecken, jetzt wird es ihm das Brot des Lebens: es wird aus dem Fragment der Tat das Simulacrum der Tat. Die Tat steht wie ein Mal II auf den Kreuzwegen der Welt; das Simulacrum kommt und schwindet auf den Flächen der Seele. Die Tat taucht aus dem Dunkel auf und ist da; das Simulacrum wird vorgewußt und abgerichtet. Es gibt jedoch Menschen, in denen das unausgewirkte Dasein so stark nach Vollendung verlangt, daß keine Täuschung vorreicht; die zerbrechen an ihrem Widerspruch, oder das Simulacrum wird in ihnen schöpferisch III ; 30 sie ergänzen es – die Gaben ihres Leibes, ihrer Stimme, ihres Bewegungssystems erziehend und betätigend – durch Bilder IV, Darstellungen, Doppelgänger der Tat. Sie spielen die Kinesis; sie lösen sich im Spiel. Aber sie können dies nur, wenn sie sich verwandeln: dann segnet sie ihr Gott, der Lyaios V , er, der nur für Stunden und immer wieder nur für Stunden segnen kann.31 Leonhard: Aber gibt es nicht auch andre Arten und andre Wege? Daniel: Welcher Art und welches Weges auch VI , immer steht der große, der echte Schauspieler VII dem Helden gegenüber wie das Simulacrum der Tat, wie das Mögliche dem Wirklichen, wie das Vieldeutige dem Eindeutigen, wie das Schweifende dem Schreitenden: polar. Und diese Situation wäre vergiftet und verrucht, wenn er den GegensatzVIII zu schwächen versuchte; wenn er dem Helden nachschliche und nachäffte. Aber dies eben tut er nicht; sondern in aller Weihe der polaren Distanz steht er dem Helden gegenüber und – verwandelt sich in ihn. Das ist das Paradox des großen Schauspielers. In der Verwandlung gelöst, geläutert, verklärt verwirklicht er den Helden in immer neuer Erstmaligkeit mit seiner Seele wie mit seinem Leibe.

29. Kinesis, griech. »Bewegung«. 30. Simulacrum, lat. »Ebenbild«, »Abbild«. 31. Lyaios, griech. »der Lösende«, war eine Epiklese des Dionysos als Gott des Rausches. I II III IV V

O: fingiert seinem Gefühl eine Ganzheit O: wuchtend O: schöpferisch: sie verwirklichen es: O ers. »erziehend – Bilder« durch »steigernd, erziehend betätigend durch Bilder«. O ers. »lösen – Lyaios« durch »erlösen sich im Spiel. Aber sie können sich nur erlösen, wenn sie sich verwandeln: dann segnet sie Lyaios«. VI O: Wie auch seine Art und sein Weg ist VII O: der Schauspieler VIII O: die Polarität

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Leonhard: Du sagst: »der große Schauspieler«. So gilt, was du sagst, doch nicht für alle? Daniel: Der kleine, der falsche Schauspieler, dem die Kühnheit des Simulacrums fremd ist und der dem Helden gegenübersteht wie das Nichts dem Etwas, betastet ihn I mit den Sinnen; er sammelt die Rufe, die Mienen, die Gebärden des Helden; er durchzieht, durchspäht, durchgreift die Welt der Täter, um sein Material zu gewinnen; und dann stellt er daraus eine Maske zusammen. Aber der große Schauspieler betastet nicht, er verwandelt sich. Ob es nur die wagende Genialität seines Simulacrums ist, die ihm hilft; ob es ihn fördert, daß er in der Allmöglichkeit seiner Seele den Helden keimhaft besitzt II ; ob, wie ich es mir einmal träumte III , der Dämon eines frühern Lebens ihn gürtet und behelmt: der Spieler verwandelt sich in den Täter, der Versuchende in den Handelnden, die Welle in den Weg. Der große Schauspieler nimmt nicht Masken vor. In jener formenden Stunde, in der er seine Rolle entscheidend erlebt, dringt er sich verwandelnd, seine Seele aufgebend und wiedergewinnend, in das Zentrum seines Helden ein und enthebt ihm das Geheimnis der persönlichen Kinesis, die ihm eigentümliche Verbindung von Sinn und Tat. IV Nun hat er jene einzigen Laute und Gebärden: weil er das Element hat, das sie befiehlt und erzeugt. Er soll zürnen, und beugt sich vor, wirft seinen Schrei; und Laut und Gebärde sind nur in der Klangfarbe sein, ihre Substanz ist dem Menschen, den er spielt, und nur ihm eigen. Zürnte er? Er schlug den Sinn des Zornes in sich an, und die Tat des Zornes ertönte: weil er ihre Verbindung, die persönliche Kinesis, sich einverleibt hat. Leonhard: So erlebt denn der Schauspieler nicht die Erregungen, die er spielt? Daniel: Er erlebt ihr Gefühl nicht, aber er erlebt ihre Aktion. Und die Erregung, in der er steht, ist die s ei ne: die Erregung der Polarität, der Verwandlung. Alle hohe Erregung hat darin ihren Ursprung, daß eine Polarität erlebt, verwirklicht, vollstreckt wird. Polarität ist eine Aufgabe, die in mancherlei Weisen und auf mancherlei Wegen vollstreckt werden kann. Auf welchem immer dies geschieht – auf dem Weg der Austragung, auf dem Weg der Umfassung, auf dem Weg der Verwandlung –, I II III IV

O ers. »Leonhard: – ihn« durch »Ich sagte: der grosse Schauspieler. Denn der kleine betastet den Helden«. O: Ob es das Simulacrum ist, das ihm hilft, in der Allmöglichkeit seiner Seele den Helden keimhaft zu besitzen O: an jenem Abend träumte, als ich Rudolf Rittner den Florian Geyer darstellen sah O: Tat. Wie der Erkennende sich in seinen Gegenstand verwandeln muss, um ihm sein Geheimnis zu entheben, das von aussen unzugänglich ist; so der Schauspieler.

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jene hohe Erregung teilt sich dem Wagenden zu, die über Lust und Schmerz ist, der Seele teurer und heiliger als Lust und Schmerz. Auf welchem immer es geschieht. Es mag auf dem Weg der Austragung geschehen; das ist der Kampf, der von wahrhaft getreuen Menschen ausgetragen wird ob ihrer Begier nach der Einheit; ausgetragen wird handelnd – redend – schweigend: so schwieg Franz von Assisi, als der spanische Dominikus zu ihm sagte: »Bruder, ich wollte, daß deine Regel und meine eins würden«, und schlug die niedre Einheit aus um der hohen Einheit willen. 32 Oder es mag auf dem Weg der Umfassung geschehen; das ist die Liebe, in der ein wahrhaft gegenwärtiger Mensch die Wesen umfaßt, also daß er, in vollkommner Kraft bei sich selber verharrend, den Pfiff des Landstreichers aus dessen Lippen und den Blick des Narren aus dessen Augen lebt und, ehe er den Gifttrank nimmt, wie Sokrates das schöne Haar beklagt, das der junge Phaidon der Trauer um ihn opfern wird. 33 Oder es mag auf dem Weg der Verwandlung geschehen; das ist die Erkenntnis. Denn wie der Jüngling im Bakchenspiel sich in den Gott verwandelt und ihn verwirklicht, so verwandelt sich der Erkennende in die Welt und verwirklicht sie. Er kann ihr Geheimnis ihr mit den Sinnen nicht absehen, mit dem Denken nicht abfragen, er kann es ihr nur mit der Verwandlung entheben. Verwandelt vollzieht er mit der Bewegung seines Daseins die heimliche Bewegung der Welt: er lebt das Leben der Welt, er tut ihre Tat, er wirkt ihr Werk – und so erkennt er sie. Denn das Geheimnis der Welt ist die Kinesis des Unendlichen, die Verbindung von Sinn und Sein, und keiner kommt ihm nahe, der es betrachtet: der eine nur, der es tut; und dieser ist der Erkennende. Er vollstreckt die Polarität, in der er steht, indem er seinen Gegenpol verwirklicht: indem er den Sinn »findet«, wie der Bakche den Dionysos und der Schauspieler den Helden; das Simulacrum, das in ihm schöpferisch wurde, ist die Nachahmung des unbekannten Gottes – die Verwirklichung ist. So wird, wie durch den Kampf und durch die Liebe, durch die Erkenntnis, dieweil eine Zweiheit erfüllt wird, Einheit aus ihr gestiftet. I Als ich dessen inne geworden war II, merkte ich, daß ich nicht mehr auf die Bühne blickte. Ich hob die Augen: da stand jener hochwüchsige Mann und sah dem davonziehenden Hochzeitszuge nach, licht und gelöst.

32. Dominikaner und Franziskaner waren die ersten mittelalterlichen Bettelorden, von Papst Honorius III. wurden sie 1216 bzw. 1223 bestätigt. 33. Vgl. Plato, Phaidon, 89b. I II

O streicht ganzen Absatz. O: Als ich dies erkannt hatte

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Nichts verhüllte mir mehr sein Wesen; er war der Sohn des Wagnisses und der Polarität; und er war schön. Über diesem Bild fiel der Vorhang zum drittenmal. Ich lehnte mich zurück, ich war ruhig und dankbar. Und langsam trugen mich, während ich zurückgelehnt saß, die Flügel dieser richtungslosen Dankbarkeit durch die Welt des Theaters. Da sie aber hier keinen fand, der sie ganz hinnehmen konnte, mußte sie zuletzt das Theater lassen und ihren Flug in die Verborgenheit heben. Am Saum der Träume, wo Himmel und Erde sich berühren, entdeckte sie den einsamen Wandrer, dem sie galt ohne es zu wissen. Ich hatte seiner all die Zeit nicht gedacht, und doch war es sein Wort, das die Schauspieler sprachen, sein Geheiß, dem ihre Gesten folgten; rechtmäßig hatte sie Platon die Boten des Dichters genannt.34 Sein Wort – sein Geheiß – und doch: war es wahrhaft sein Werk, das hier vor mich gebracht worden war, oder I war es nicht vielmehr in eine andre Gattung, in ein andres Gesetz, in eine andre Ordnung übertragen worden? Hinwieder aber erschien mir gerade darin eine ErfüllungII urtiefer Intentionen; wie ja jeder Kunst Tendenzen innewohnen, deren Reife in dieser Kunst keinen Raum mehr findet und sich eine andre suchen oder erwecken muß. Alle Dichtung tendiert zum Drama. III Jedes lyrische Werk ist ein Gespräch, darin der Partner in einer übermenschlichen Sprache redet; was er sagt, ist des Dichters Geheimnis. Jedes epische Werk ist ein Gespräch, darin die Moiren mitreden;35 ihre Repliken uns zu deuten, ist des Dichters Aufgabe. Das Drama ist das reine Gespräch; alles Gefühl und alles Geschehn ist darin zum Gespräch geworden. Es steht an der Grenze seiner Kunst und weist auf seine Erfüllung und Aufhebung in jener andern hin, in der das Gespräch – gesprochen wird. Er, der Dichter, ist es, der den Schauspieler sprechen gemacht hat. Die Kraft des Dichters ist das Wort, die Kraft des Schauspielers ist die Gebärde; auch die Rede ist ihm nur eine Art der Gebärde, und eine späte. Denn bei den jungfräulichen Völkern sprechen sie nicht, die die göttliche Vermählung oder die göttliche Auferstehung darstellen: sie tanzen nur; die Eingebornen am Schwanenfluß in Australien sagten die tiefste Wahrheit ihrer Seelen aus, als sie das Sakrament des Abendmahls zum Befremden

34. Plato, Ion, 534e; 535a (die Dichter als Dolmetscher der Götter). 35. Moiren sind die Schicksalsmächte der antiken griech. Mythen. I II III

O: das hier vor mir gestanden hatte? Oder O: Vollendung O: ist ihrem Grund nach Drama.

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der Missionare I einen Tanz nannten. 36 Und auch zu Eleusis sprach nur der Hierophant: bis der Dichter kam und den Mund der Spieler für alle Zeit löste. So sah ich ihn, den Herrn des Wortes, der das Theater bewegt und es doch nie wahrhaft selbst betritt. Als das wohlgesinnte Licht erlosch und ich wußte: jetzt wird der Vorhang aufgehn, stand ich auf und ging leise hinaus. Leonhard: Wie, du hast den letzten Akt des Stückes nicht gesehn? Daniel: Ich habe den letzten Akt meines Dramas gesehen. – Aber wie hätte ich bleiben können? Ich war mit meinem Gedanken fortgegangen, an den Saum der Träume, zum Dichter; nun würde ich der Bühne zugewandt und abgezogen zugleich sein: hinter jedem Wort jedes Schauspielers, und dem meisterhaftesten noch, das gestenlose, unbetonte, unberührte, das karge und heimliche, das wesenstimmige Wort der Dichtung hören, dessen beschlossene Einfalt das prächtige Theater nur übertönen, das treue nur ausdeuten kann; und hinter dem Wort dieser Dichtung würde mir das unendliche Wort des ewigen Dichters rauschen, aber nicht dieses oder jenes und nicht aller, sondern d es Dichters: als den ich in dieser Stunde einzig noch suchen konnte und wollte, aber nicht hinter den Formen, sondern im einsamen Geist. So ging ich in den Garten hinaus, in dessenII mildes Dunkel der Mondbogen die Pfeile einer zarten Helligkeit sandte. Mich beglückte dieses reine Licht, das weder locker noch streng war, sondern rein wie der Blick eines Vogels. Hier konnte ich des Dichters gedenken. Von Henoch, der mit den Elohim wanderte, wird erzählt, er sei der Engel einer geworden, die ganz Auge und Flügel sind III . 37 So ist der Dichter. Alles an ihm nimmt die Dinge wahr, und alles an ihm fliegt den Dingen vorbei. IV Er ist ganz in dem Einen, das er erlebt, und ist doch schon und noch in all dem andern zugleich. Er kennt die Inbrunst des Verharrens wie der Maler und die Inbrunst des Schwebens wie der Musiker. Sei36. Zum Urteil australischer Stämme über die eigenen Kulthandlungen, die v. a. in dramatischen Darstellungen mit Gesang und Tanz bestehen, vgl. C. Strehlow, Die Aranda- und Loritja-Stämme in Zentral-Australien, S. 9: »Sie sehen solche Zeremonien als eine Art Gottesdienst an, wie die Christen ihre Religionsübungen; dies wurde mir sowohl von christlichen, als auch von heidnischen Eingeborenen beteuert.« 37. Henoch, bibl. Gestalt aus Gen 5,18 21-24. In der Hekhalotliteratur mit dem Engel Metatron identifiziert, vgl. 3Hen 4,2 f. (Metatron) 9,1-5 (Verwandlung). I II III IV

O ers. »zum Befremden der Missionare« durch »das ihnen die Missionare zu erklären suchten«. O: in dem die Lichter gelöscht waren und dessen O: erzählt, er sei ganz zu Auge und Flügel geworden O: vorbei; woran er vorbeifliegt, eben das nimmt er wahr.

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ne Sinne sind die stärksten Anker der Welt, und seine Seele der flüchtigste Kiel. Er trinkt ewig, wie der Dichter im Purgatorio, aus beiden Quellen: Lethes und Mnemosynes, die Dante Eunoe nennt.38 In neuer Betonung und Wirkung erscheint diese Zweiheit am Werden des Gedichts. Alles Tun der Menschen ist ja aus Schaffen und Zerstören gemischt, und jeder Täter muß, wissend oder nichtwissend, das Viele, das durch ihn entstehen möchte, verwerfen um des einen willen, das er erwählt; aber von keinem gilt dies in so vollkommnem Maße wie vom Dichter: weil er sich unablässig entscheidet. Dichten ist ein Wählen in der Unendlichkeit; und dieses Wählen ist kein Stöbern, kein Suchen, kein Sieben, sondern es ist ein Feuer, das tilgende und schmelzende Kraft hat. Jedes Wort des Dichters ist einig; und doch liegt um jedes ein Ring aus einer unfaßbaren Materie, der die Sphäre des unendlichen Vergehens abbildet; das ist die Spur der schmelzenden Feuerkraft. Er, den Platon den Boten des überpolaren Gottes nennt, ist nicht minder als dies der Bote der polaren Erde. 39 Wie in seinem Tun der Zweistrom, der in allem Lebendigen kreist, sich verdichtet und vergeistigt kundgibt, so regen sich in seinem Wesen befeuert und beflügelt alle Spannungen, in denen sich die Seele des Menschen aufbaut, und jeder Gegensatz, der anderwärts nur angelegt oder abgestumpft oder der Vermittlung zugänglich ist, steigert sich in ihm zur Polarität. Er kennt den Pol der Überkraft und den der Ohnmacht, den der Freiheit und den der Abhängigkeit, den der Vereinigung und den der Verlassenheit, den der Schuld und den der Reinheit, den der Form und den des Gestaltlosen: er erkennt sie alle in der Welt wieder, weil er sie in sich kennt. Von Indra, dem Götterdichter, der in seinem Liede Morgenröte, Sonne und Feuer fand, ist gesagt, wie der Radkranz die Speichen halte er alles umfaßt. 40 Vom Dichter kann gesagt werden, sein Herz sei die Nabe, in der die Speichen der Polaritäten zusammenlaufen; aber hier ist nicht Aufhebung, sondern Verbindung, nicht Indifferenz, sondern Fruchtbarkeit. I Der Dichter trägt die 38. Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie in deutschen Stanzen, S. 270: Fegefeuer 33. Gesang, Verse 122-127. 39. Vgl. Plato, Ion, 536a (die Dichter werden von den Musen auf je verschiedene Weise inspiriert). 40. Indra, ind. Gott, der als mythischer Krieger und Sänger sich am Somatrank berauscht und die Angehörigen der zweiten Kaste (adelige Krieger) repräsentiert. I

O ers. »ist nicht minder – Fruchtbarkeit« durch »wie Henoch der Bote der Glorie genannt worden ist, ist nicht minder als dies der Bote der polaren Erde. Wie in seiner Funktion der Zweistrom, der alles Lebendige aufbaut, sich verdichtet und vergeistigt kundgibt, so regen sich in ihm sublimiert und beflügelt alle Spannungen, die die Menschenseele konstruieren, und jeder Gegensatz, der anderwärts am Potentiellen sein Genügen hat, wird in ihm Aktualität, in seinen absoluten, polaren Charakter

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Gegensätze des Geistes, und sie sind in ihm fruchtbar. Denn er hat eine zwiefache große Liebe: die Liebe zur Welt, darin ihm alles, was er in sich selber als Extrem und Widerspruch erfährt, in der innigen Wahrheit der Farben und Töne als in einer wundersamen Versöhnung entgegenblüht, und die Liebe zum Wort, das, aus der tiefen Spannung früher Menschenträume geboren, an der tiefen Spannung suchender Menschengeschlechter gebildet, alle Spannung erlösen und übereinen kann. Welt und Wort: in der Liebe des Dichters kommen sie zueinander, in der Liebe des Dichters geht ihre Liebe auf, in ihrer Liebe werden alle Gegensätze fruchtbar. Fülle und Leere zeugen im Dichter, Schmerz und Freude zeugen im Dichter, Form und Gestaltloses zeugen im Dichter, Himmel und Erde zeugen im Dichter, Wort und Welt zeugen im Dichter I. D i e Welt sa gen: das schlägt die Regenbogenbrücke von Pol zu Pol. Alle Dichtung ist Gespräch: weil alle Dichtung Gestaltung einer Polarität ist. Der unvermittelten Polarität der Seele; das ist die lyrische Situation: der Dichter hat aus einem seiner Gegensatzpaare den einen Pol zum Absoluten erhoben und spricht ihn an, sich selbst dem andern Pol gleichsetzend. Oder der vermittelten Polarität der Welt; das ist die epische Situation: der Dichter ordnet sich seiner Liebe zur Welt unter, und die Welt steigt auf, wie sie der liebende Geist sich gegenüberstellt als die Versöhnung, darin auch die Moiren nicht schrecken. Oder der dramatischen: da wirft der Dichter seinen brennenden Widerspruch in die Welt, und sie steht in Flammen. Die Polarität, die der Mensch in sich selber erlebt, will Einheit. Und Einheit ist nun und nimmer etwas, was »da ist«; Einheit ist das, was ewig wird. Nicht aus der Welt: aus unsrer Tat kommt die Einheit. Der Dichter findet sie, wo Wort und Welt in ihm zeugen: in seinem Werk; da gründet er alle Zweiheit in Einheit. Aber aus jedem Werk erhebt sich ihm die Polarität von neuem: erneuert. Verjüngt, verschärft, vertieft beruft sie ihn zu neuer Tat. So ist der Dichter der Bote des Gottes und der Erde II und in zwei Sphä-

I II

gesteigert. Er kennt den Pol der Überkraft und den der Ohnmacht, den der Fülle und den der Leere, den der Bewegung und den des Stillstands, den der Herrschaft und den des Sklaventums, den der Vereinigung und den der Verlassenheit, den des Besitzes und den der Dürftigkeit, den des Schmerzes und den der Freude, den der Schuld und den der Heiligkeit, den der Gefangenschaft und den der Freiheit, den der Kunde und den des Unwissens, den der Form und den des Gestaltlosen, den des Lichtes und den der Finsternis, den des Kampfes und den des Friedens, den des Mannes und den des Weibes: er erkennt sie alle in der Welt wieder, weil er sie in sich kennt.« O ers. »aus der tiefen Spannung – zeugen im Dichter« durch »aus tiefer Spannung geboren, alle Spannung verklären und erlösen und übereinen kann.« O: Der lyrischen Polarität der Seele; oder der vermittelten P[olarität], der epischen der Welt; oder der dramatischen, die die Radikalität der Seele in die Welt projiziert.

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ren daheim. Feuerkraft ist seine Kraft; sie brennt im Widerspruch, und sie leuchtet in der Einheit. Wie Henoch, von dem eine Sage erzählt, er sei aus Fleisch zu Feuer gewandelt worden: seine Knochen sind glühende Kohlen, aber seine Wimpern Glanz des Firmaments. I 41

Von der Einheit Gespräch am Meer II Lukas: Heute jährt es sich, Daniel; und das ist der Ort, wo er in seine Barke stieg. Daniel: Erzähle mir, wie es geschah. Lukas: Ich hatte am Abend mit ihm gesprochen. Vielmehr: er hatte zu mir gesprochen. Er stand am Meer, das herbstlich grün und weiß wie heute war, und sah mit einem noch zärtlichern Blick als sonst auf das Wasser. Dann sagte er: »Nun ist die Mutter frei und nicht mehr der Sonne und des Himmels Magd und darf frei ihre eigenen Farben tragen.« Du mußt wissen, Daniel, daß er das Meer nie anders nannte als die Mutter. – Am nächsten Frühmorgen stieg er zur gewohnten Stunde in seine Barke. Der Strand war einsam; aber Kajetan, der damals in dem Turm da drüben wohnte, sah durchs Glas die Barke mit dem gelben Segel langsam wie immer hinausschwimmen. Es fiel ihm auf, daß Elias nicht wie sonst, auch wenn der Wind günstig war, vorgebeugt, sondern zurückgelehnt saß. Er ging hinunter und fragte den alten Ubaldo, was er vom Wind halte, dann kehrte er ins Haus zurück und bastelte eine gute Weile an einer neuen Geige, die er fast fertig hatte. Um ihretwillen war er so zeitig aufgestanden. Als er den Ton versuchte, wurde er unzufrieden, obwohl der Ton schön war; da fiel ihm die Barke wieder ein. Er lief ins Turmzimmer, stellte das Glas ein, sah sie, weit draußen. Elias kniete am Rand

41. Vgl. 3Hen 15,1 f..

I II

[Absatz] Die Polarität, die der Mensch zwischen sich und den Menschen, zwischen sich und der Natur, zwischen sich und den Mächten erlebt, will vollstreckt werden; durch Austragung oder durch Umfassung oder durch Verwandlung: durch Kampf, durch Liebe, durch Erkenntnis. Aber die Polarität, die der Mensch in sich selbst erlebt und der jene nun als ihm in die Welt projiziertes Sinnbild erscheint, will Einheit. Einheit ist aber nichts was »da ist«; Einheit ist das, was ewig wird. Die Einheit des Dichters ist das Werk. Es gestaltet Zweiheit und ist Einheit. [Absatz] So ist der Dichter der Bote der Erde und des Gottes. O: diese Fassung voll[endet] 12., endgilt[ige] Fassung voll[endet] 15. VIII. 12. O: Gespräch am Meer. Von Zweiheit und Einheit

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der Barke, vornübergeneigt, die Arme senkrecht gegen das Wasser gestreckt; seine beiden Hände strichen darüber hin, immer wieder, wie über Glieder eines geliebten Wesens. Kajetan sagte mir, er habe in jenem Augenblick an Empedokles denken müssen: mit solcher Bewegung der Hände habe er sich immer den Empedokles vorgestellt. Das traf ihn so, daß er wegschauen mußte. Als er wieder hinsah, war Elias nicht mehr in der Barke. Kajetan riß das Fenster auf, rief den Leuten unten etwas zu, das sie nicht verstanden, lief die Treppe hinab. Es dauerte nicht lang, ein Boot auszusenden; aber es dauerte sehr lange, bis sie den Leichnam fanden. Sie mühten sich umsonst, Leben in ihm zu erwecken. Daniel: Es ist dir nahe gegangen, als wäre dir ein Freund gestorben, und hast ihn doch kaum gekannt. Lukas: Wer könnte ihn gekannt haben? … Aber, Daniel, nie habe ich nach dem Tode eines Freundes das erfahren, was ich hier erfuhr. Von Trauer spürte ich nichts und nichts von einem Wunsch, daß er noch auf meiner Seite des Lebens weilen möchte. Vielmehr schien mir sein Sterben richtig und wohlgetan. Auch dachte ich nicht daran, daß er in meiner Welt fehle; nur daß er bislang irgendwo gefehlt habe und nun seinen Ort ausfülle. Die Wesenheit, aus der er einst gebrochen war, um sich in die bildende Macht zweier Menschenleiber einzubauen, war unvollständig geblieben bis zu diesem Augenblick, da er zurückkehrte; und nun trat er in sie ein und ergänzte sie wieder zu ihrem Dasein. Ergänzte? nein: erfüllte sie. Denn er trat in sie ein als ein Verwandelter. Dreißig Jahre Erdenlebens – ob es auch Geister geben mag, denen sie unmerklich bleiben, wie uns der Splitter einer Sekunde – sind eine Wahrheit, und wenn sie einen Menschen vollenden, sind sie die Wahrheit der Wahrheiten. Als ein Verwandelter, ein Vollendeter, ein zu verwandelnder Kraft Gereifter kehrte er zurück, berufen, die Mutter selber zu verwandeln. Das alte Mysterium I durchschütterte mich aus einer Gegenwart. War das Leben ein Reifen und der Tod der Eintritt in eine Sphäre göttlicher Tat, vor der die irdische nur als ein Gleichnis bestand? Aber von wem konnte dies gelten als allein von dem Vollendeten? Von jenen mythischen Wesen, die man Zellen nennt, wird erzählt, die meisten unsres Körpers vergingen und wenige nur würden zu Geschlechtszellen, denen die Fähigkeit des Fortlebens eignet; dürfen wir diese Deutung des Lebendigen als ein Sinnbild des Überlebendigen fassen: gibt es auch unter den Menschen Vergehende und zur Ewigkeit Reifende? Aber als ich dies dachte, war es mir plötzlich, als stünde ich in Elias’

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O: Geheimnis der Hymnen und Mysterien

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Barke und ließe ein Senkblei ins Wasser; und an meinem Gedanken erschien mir eine müßige Vermessenheit, eine Hybris unheiliger Phantasie. Ja, unheilig war es, vorwegzunehmen und eine Rüstung zu schmieden, da einer doch nur dann die Weisung seiner höchsten Stunden vollzog und sterbend wahrhaft sein Leben ausführte, wenn er nackt und ungerüstet, ohne Glauben und ohne Einbildung, einzig die Bereitschaft bewahrend, das bodenlose Dort betrat. – Dort, sagte ich mir, und da zuckte aus meinem eignen Wort der Widerspruch auf. Wie konnte ein Dort sein, wenn es nicht auch hier war? Wie konnte ich des Todes werden, wenn ich ihn nicht schon jetzt erlitt? Meine Existenz war keine rollende Kugel, die ich mir irgendwo aufgehalten oder beliebig weitergeworfen denken konnte; sie war das Lager, in dem zwei Fluten, aus entgegengesetzten Bezirken kommend, aufeinander zu und ineinander über strömten. Da war andres noch in mir als eine Kraft, die sich von dem Strich Geburt zu dem Strich Tod oder über ihn weg hinbewegte, da war auch eine Gegenkraft vom Tode zur Geburt, und jeder Augenblick, den ich Lebender erfuhr, war aus beider Mischung gewachsen – sie mischten sich wie Mann und Weib und schufen mein Sein, und ich stand nie im Strom, sondern allzeit in Strom und Widerstrom zugleich. Was ich kannte, war der Ablauf allein; aber was ich w ar, faßte Ablauf und Anlauf in einem. Eine Gewalt trug mich auf das Sterben zu, und ihren Flug nannte ich Zeit; aber ins Angesicht wehte mir ein fremder Wind, und seinen Flug wußte ich nicht zu nennen. Die Zwei, deren vages Bild, wie sie es in den scheuen Spiegel unsrer Sinne werfen, uns Werden und Vergehen heißt, die Zwei lösten einander nicht ab wie Aufbau und Niederbruch, sie lagen beieinander in unendlicher Umarmung, und jeder meiner Augenblicke war ihr Bett. Es war töricht, den Tod auf irgendeinen Moment des Aufhörens oder der Veränderung einschränken zu wollen; er war eine ewiggegenwärtige Macht und die Mutter des Seins. Das Leben zeugte das Sein, der Tod empfing und gebar es; das Leben streute seine Fülle aus, der Tod bewahrte, was er erhalten wollte. Und diese Gewißheit war nicht unheilig; sie war ja kein Sichsicherfühlen in irgendeiner Bestimmtheit, sondern das ungerüstete Vertrauen zum Unendlichen. Und diese Gewißheit, Daniel, hielt ich in mir wie das Bild dessen, der sie mir hinterließ. Aber seit ich wieder an diesem Strande bin und jedes gelbe Segel mir die Frage der Welt von neuem aufgibt, ist eine neue Unruhe in mich gekommen. Denn nun ist es mir Morgen um Morgen, als führe ich in Elias’ Barke hinaus; und die einst vor mir an den Polen des Himmels thronten, urfern einander, daß mein Blick nie beide zugleich zu fassen vermochte, die sitzen mir und einander ganz nah als Gefährten: mit vorgebeugter Stirn der Dämon des Lebens am Ruder, am Steuer mit

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zurückgeworfenem Nacken die Todeskere. 42 Und um deren Dasein zu wissen mir einst genug schien – jetzt, da sie mir vertraut wurden, sind sie mir ungeheuer und herzerregend geworden: weil ich mit ihnen fahre. Von Morgen zu Morgen höher steigt die Frage in mir, was das für ein Meer sei, auf dem wir fahren, sie und ich; was das für ein Meer sei, das uns geboren hat, sie und mich. Ich weiß, daß ich irgendwie selbst dieses Meer bin; aber dahin, wo ich es bin, kann ich nicht gelangen. Und doch, Elias ist dahin gelangt. Also wäre etwa gar das, was wir Sterben nennen, der Weg? Das zu meinen ist sinnlos; was das Leben nicht vollbrachte, schafft auch das Sterben nicht. Elias w ar angelangt; als er starb, sprach er nur das Seiende aus. Aber ich? Er ist fü r m i ch gestorben; wie fange ich es an, für ihn zu leben? Einst, als sie mir noch in Grenzen erschienen, die beiden, einander ablösend im Dienst oder Spiel, genügte mir ihre Zweiheit. Das Leben übergab mich dem Tode wie einen Brief, der von Eilläufer zu Eilläufer geht, das Leben warf mich dem Tode zu wie eine Fackel, die die Hand nur berührt, um weiterzufliegen. Gleichviel, ob der Empfänger des Briefes nah oder fern war, gleichviel, ob die Fackel ins Unendliche zog oder bald bei einem lässigen Spieler erlosch: es war einfach und gut von Leben zu Tod zu wandern, und ihre Doppelheit war ein letzter Bestand, hinter den zu schauen mich nicht gelüstete, weil er das Ende und die Weihe meiner Welt war. Anders ist es nun geworden. Da die beiden nicht mehr in Grenzen, sondern ineinander sind, da sie nicht mehr über mir, sondern in mir walten, kann mir ihre Wechselregung nicht genugtun; sie treibt mich, hinter sie in die tragende Einheit zu dringen. Wie sie in mir, durch mich arbeiten – ich lausche, ich gewahre, ich frage: wo ist das Gebot? Wohl weiß ich nun, daß sie vernichtend und gestaltend mein Sein schaffen, aus mir Tatsächlichem ein Wesenhaftes machen, und es fällt mir nicht bei, erfahren zu wollen, für welche Welt der Zeit oder der Ewigkeit, des Raumes oder des Geistes es bestimmt ist I . Aber die Einheit, die dieses Schaffen befiehlt und führt, sie, die Leben und Tod emporträgt in rechter und linker Hand, das heilige Meer will ich kennen. Was aus mir wird, will ich nicht fassen, aber mich verlangt zu schauen, was ich bin. Daniel: Laß mich dir eine Begebenheit aus meiner Jugend erzählen. Ich war siebzehn Jahre alt, als mir ein Mensch starb, den ich geliebt hatte. Der Tod legte sich mir um den Hals wie ein Lasso. Er fing mich 42. Ker, Pl. Keren, schwarze Todesdämonin der antiken griech. Mythen, die bei Homer hinter den Kämpfern auf den jeweils unterliegenden lauert. I

O: des Pleromas es bestimmt ist; man kann ja auch immer nur erfahren, was man verliert, das Gewinnen ist unerfahrbar

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ein wie der Christengott einen Sünder, der an Gottes Stelle büßen muß. Daß es das Sterben in der Welt gibt, war zu meiner Sünde geworden, für die ich Buße zu tun hatte. Ich konnte vor Vereinsamung keinen Schlaf annehmen und vor Ekel am Lebendigen keine Nahrung ertragen, – ich meinte, es geschehe zur Buße. Meine Familie, verstärkt durch Freunde und Ärzte, sah mir geschäftig und hilflos zu wie einem Wechselbalg. Nur mein Vater begegnete mir mit einem ruhigen, gesammelten Blick, der so stark war, daß er mein allen andern Wahrnehmungen unzugängliches Herz erreichte. Dieser stille, aber mit der Zukunft verbündete Mann war es denn auch, der bald den sonderbaren Entschluß faßte, durch den ich gerettet wurde: er schickte mich ganz allein in einen abgeschiednen Gebirgsort. Ich glaube, daß die große Zeit, die ich dort verlebte, einst in den Bildern meiner Sterbestunde wiederkehren wird. Der erste Tag im Angesicht der Berge zerbröckelte meine Torheit und warf sie in die Winde. Die blaue Glut der Himmelswölbung, der aufgetürmte Stolz der Erde und die Berührungen jenes unendlich freien Wesens, das wir Luft nennen und von dem uns in der Ebene nur ein Schatten zugeteilt ist, umgaben mich als eine wirkende Gottesmacht. Jetzt erst erkannte ich, daß ich abgetrennt war; jetzt erst fand ich mich vor der ewigen Mauer. Und zugleich wußte ich, daß ich zu meinem Toten nicht kommen konnte, auch nicht durch den Tod, daß er zu mir nicht kommen konnte, auch nicht durch die Geburt; denn auf einer andern Fläche als die verkündigten Wahrheiten sah ich die Taten der Welt. In dem Gefühl, das dieses Wissens voll war, lebte ich nun die Tage hin; ohne Trost, aber nicht mehr mich verlierend wie in der Buße, sondern mich gewinnend durch die Verzweiflung. Die Verzweiflung, Lukas, ist der höchste der Sendlinge Gottes; sie bereitet uns zu Geistern, die schaffen und entscheiden können. An einem Morgen war ich zu einer kleinen Alpe gestiegen, von der man auf einen ebenso kleinen, von Schrofen eingefaßten See niedersah. Dieser See nahm meinen ganzen Blick auf und hielt ihn wie ein magischer Kristall. Bald belud sich der hingegebene Blick mit meinen Kräften und meiner Bewegung. Ich fühlte erschlaffend, wie alles von mir in ihn ging; er wuchs, wie ich abnahm; und endlich zog auch die lebendige Gewalt der Trauer, meine Verwaisung, aus mir – ich war so wenig mehr verwaist wie ein neugeborenes Kind, dem die Mutter gestorben ist. So schlief ich ein. Noch wußte ich meinen Blick über der Tiefe schweben, dann entschwand auch dies vor dem zehrenden Nichts. Ich schlief im Zeitlosen, indes das Geschehen der Welt meine Stunden bemaß. Das erste, was ich erwachend spürte, war eine schauerartige, absurd eindringliche Frage nach dem See. Und doch – dies war meine nächste Wahrnehmung – doch sah ich; aber ich sah nichts Einzelnes mehr: ich

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blickte nicht. Die Selektionskraft des Blickes war von mir gegangen; ich sah alles als ein wolkiges Gebilde, in dem alle Sonderungen verrannen. Licht und Dunkel waren ineinander verstrickt, alle Gestalt war aus den Grenzen getreten und in alle Gestalt eingebrochen, die schillernden Schlangenknäuel der Farben umlagerten den gespenstischen Horizont. Vor der entformten Welt fliehend, neigte ich mich meinem Leibe zu und erkannte ihn als eine Insel in der Flut der Vermischungen. Sein festes Wesen ruhte mitten im Chaos grenzhaft und gestaltet, – und doch von allen Dingen am wunderlichsten in seinem Bestand erschüttert und entstellt. Statt der strömenden Einfalt des belebten Menschenbildes fand ich ein Zwiefältiges an mir: eine Hälfte von mir war Leben, die andre Sterben geworden; in beiden empfand ich nicht Zustände, sondern Mächte, hier Gebot der quellenden Blüte, dort Zwang des Vergehens. Und während durch die eine Schicht die Bewegung des Bildens brauste, zuckte durch die andre der Krampf der Zersetzung; beides aber so ins Äußerste gesteigert, daß mein Gefühl von mir darunter lag wie ein Amboß und die zwiefachen Hammerschläge erlitt. Und da, Lukas, am Äußersten, stand die Seele in mir auf. Nicht jene Scheinseele, die auf Erhaltung sinnt, sondern die wahrhaftige Wächterin, die Vollendung will. Sie erzitterte unter dem Abscheu meiner Spaltung und langte in die Welt, um mir Einheit zu bringen. Aber in aller Welt fand sie nur Mischung und Wirrsal, Einheit nicht. Da wurde mein Leib begeistert und tat die einfältige Tat: meine beiden Arme hoben sich, meine Hände beugten sich einander zu, meine Finger verschränkten sich, und über allem Grauen wölbte sich die gottesgewaltige Brücke. Da einte sich mein Leib, einte sich mir die Welt, der Blick kehrte entlastet in mich zurück: frei und ledig lag ich und sah den See an, der mich ansah. Und in gedoppelt einigen Blickes Geben und Empfangen erfuhr ich, daß ich nicht mehr abgetrennt war. Ich hatte die ewige Mauer, d i e Ma u er i n mi r, niedergerissen. Von Leben zu Tod – von Lebendem zu Totem flutete die tiefe Verbundenheit. Ich konnte zu meinem Toten nicht kommen, er nicht zu mir, aber wir waren verbunden wie Auge und See I : weil ich in mir verbunden war. In jener Stunde, Lukas, kam die Lehre zu mir: das Eine, das not tut. Sie kam zu mir stumm und verhohlen, wie das Samenkorn in die Erde, sie legte sich an meine Brust und blieb bei mir. Ich hatte sie fortan, aber ich wußte sie nicht. Auf allen Irrfahrten spürte ich ihre Gegenwart; aber ich wurde ihrer nicht inne und mußte von jeder Fahrt in eine neue ziehen. Bis ich in einer späten Stunde merkte, daß ich sie erfahren hatte; ohne daß anderes geschehen war, als daß ein Augenblick sich an einen AugenI

O: See. Denn – ich merkte es sogleich danach – ich sah den See nicht mehr

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blick fügte: gleichwie jetzt Blüte und aufgegangen ist, was eben noch Knospe und ganz bereitet war. Seither verstand ich, Lukas: wer wahrhaft die Welt erlebt, erlebt sie als Zweiheit. Er sieht sie weder mit jenem Nahblick des Weibes, der die kleine Vielheit eines umfriedeten Vordergrundes hegt, noch mit jenem Fernblick des Mannes, dem die Dinge in der Woge einer breiten Dynamis untergehn; er sieht sie mit dem Blick des Menschen: er faßt und scheidet, und löst aus den Spielen der Mannigfaltigkeit die wesenhafte Linie der Spannung hervor. Und diese Spannung zu bewältigen I ist seine Aufgabe. Die Zweiheit ist vielnamig und vielgestaltig; verschieden erkannt, ist sie an Umfang und Bedeutung verschieden; sie bleibt sich gleich in der Spannung. Alle Weisheit der Zeiten hat in der Zweiheit der Welt ihren Gegenstand; ihr Ausgang ist, sie zu erkennen, ihr Ziel, sie zu überwinden. Wie immer sie die beiden Gewalten nennt, die sie kündet – Geist und Materie, Form und Stoff, Sein und Werden, Vernunft und Wille, positives und negatives Element, oder mit irgendeinem der andern Namenpaare –, sie hat dies im Sinn, ihre Spannung zu bewältigen, ihre Zweiheit zu übereinen. Das versucht sie auf vielen Wegen; aber keiner ihrer Wege kann dem genugtun, der der Ganzheit seines Erlebens getreu ist. Das Verlangen nach Einheit ist der glühende Grund seiner Seele; aber er fühlt, daß er es erniedrigen würde, wenn er ihm zu Gefallen etwas von der Fülle seines Erlebens aufgäbe, und daß er ihm nur dann in Wahrheit botmäßig zu werden vermag, wenn er aus seiner Vollständigkeit ihm dient, aus seiner Vollständigkeit es zu erfüllen strebt, also daß er die erfahrene Zweiheit ungeschmälert in der Wucht ihrer Distanz bewahrt. Darum kann ihm keiner der Wege genügen, die die Weisheit der Zeiten geht. Das ist ihm nicht die rechte Einheit, um derentwillen er die gewaltige Stimme der Zweiheit übertäuben müßte; die Spannungen, die er im Sturm erfuhr, begehrt er nicht aufzuheben, sondern zu umfassen. Sie haben sein Leben mit dem Diagramm der Größe gezeichnet; nur an ihnen, aus ihnen, mit ihnen kann er zum Größten vordringen. Jeder der Wege, die die Weisheit der Zeiten geht und den Suchenden führt, ist ihm zum Irrweg geworden; jeden mußte er verlassen, weil er erkannte, daß er sich selber, das Geheimnis seines Erlebens, verlassen hat-

I

O ers. »die Welt – zu bewältigen« durch »das Allsein erlebt, erlebt es als Zweiheit: Er sieht es weder mit jenem Nahblick des Weibes, der die kleine Vielheit eines umfriedeten Vordergrundes hält und hegt, noch mit jenem Fernblick des Mannes, dem die Dinge in der Woge einer breiten Dynamis untergehn; er sieht sie mit dem Blick des Menschen: er faßt und scheidet, und löst aus den Spielen der Mannigfaltigkeit die wesenhafte Linie der Spannung hervor. Und diese Spannung«.

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te. Und so wandert er von Weg zu Weg, bis er in einer späten Stunde auf die einfältige Bahn seines Selbst gerät, die ihm bereitet ist. Ein Irrweg, Lukas, war ihm jene sublime Weisheit, die gebietet, die Welt der Zweiheit als die Welt des Scheins abzustreifen »wie eine Schlangenhaut« und in die Welt der Einheit einzukehren, oder sich vielmehr als in ihr stehend, als sie seiend zu erkennen. Denn der Getreue will die Einheit nicht als Weggewandter, nicht als Entwordener, will sie als eben dieser, die ganze Schwingung der Zweiheit durchlebender Mensch finden, der ihren furchtbaren Segen empfängt und erträgt. Was gilt es ihm hinfort, daß diese die Welt der Illusion sei? Er hat ihre Tiefen gemessen und darf sein Maß nicht länger verleugnen. Er will hinfort nicht weichen aus der schwankenden, tobenden, wirbelnden Welt der Entzweiung und des Widerspruchs; er will darin, mitten darin bestehn und sich vermessen, eben daraus Einheit zu schöpfen und zu schaffen. Er will nicht wieder in die Wüste, wo man bloß zu vernichten braucht, um zu finden; er will nicht vernichten, sondern erfüllen, und lieber dem Heil entsagen, als Satans Reich von ihm auszuschließen. Nicht hinter der Welt, in der Welt will seine Einheit gesucht werden, denn die er sucht, ist nicht Überwindung, sondern Vollendung, und wer vollendet, kann nichts auszulöschen, nichts abzuschwächen, nichts auszugleichen begehren. Und ein Irrweg, Lukas, war dem Getreuen auch jene gerechte Weisheit, die Zweiheit zur Einheit zusammendenkt. Ich meine die, deren lichter Sinn danach steht, die beiden Gewalten, gleichviel in welcher Form sie ihr erscheinen, zusammenzusehen als Seiten, als Gesichter, als Aspekte und über dem Abgrund der Zweiheit die Glorie der Identität erstrahlen zu lassen: auch sie tut dem Getreuen nicht genug. Denn wenn ich etwa weiß, daß Natur und Idee Erscheinungen einer einigen Wesenheit sind, ist sie mir dann unmittelbar als Einheit gegenwärtig, gegenwärtig mitten in der elementaren, mein festes Herz erschütternden Spannung von Natur und Idee? Oder wenn ich etwa weiß, daß Aktion und Passion Äußerungen eines einigen Grundvorgangs sind, kann er sich mir irgend geben und offenbaren entgegen der harten Gabe und Offenbarung jener Zwei, die mein schwebendes Leben umfahren wie Licht und Finsternis? Ich will sie ehren, spricht der Getreue, diese wahrhaft Denkenden, wie ich die wahrhaft Entwordenen ehre, und will nicht ihres Weges ziehen. Denn ihr Weg führt seitab von der klirrenden und ungebärdigen Heerstraße I , auf der ich lebe und jenseits deren ich Gott nicht annehmen will. Darum, Lukas, konnte dem Getreuen auch das Dritte nicht frommen: I

O ers. »ihres Weges – Heerstraße« durch »ihre Straße ziehen. Denn ihre Straße führt hinweg von der klirrenden und ungebärdigen Stätte«.

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jene innige Weisheit, die verkündet, daß der Erwachte alle Gegensätze und alle Antinomien in sich indifferenziere. Denn wie die Aufhebung und die GleichsetzungI , kann auch die Neutralität ihm nicht die Einheit sein. Wenn etwa das Sein der Welt als das eine Ende und das Nichtsein oder Werden der Welt als das andere Ende bezeichnet und die gelebte Wahrheit des Erwachten in die Mitte gesetzt wird, so mag dies wohl die Erlösung vom Leid bedeuten; aber wer die Enden und das schwingende Leid verliert, hat den Flug und den Gesang seines Lebens, das edle Material der vollendenden Einheit verloren. Sei ich ein Vogel, spricht der Getreue, so will ich nicht in meinem Bauche, sondern in meinen Flügeln und nicht in meinem Gleichgewicht, sondern in meinem Schwunge das Leben haben. Oder sei ich ein Glockenschwengel, so will ich meiner Seele inne werden, wenn ich tönend meiner Wände eine berühre, und nicht, wenn ich beiden widerstehe. Denn nicht im Ausgleich, sondern in der Austragung ist sein Ort, und wie köstlich ihm das Schweigen des Himmels ist, köstlicher noch ist ihm das Orgelspiel der Erde. Und doch, Lukas: jeder der drei Irrwege wirkte Wahrheit in dem Getreuen, jeder reifte eine Schicht der Lehre in ihm zum bewußten Sein. Der erste bestätigte in ihm das Streben nach Einheit, denn was er abgelöst schaute, verbürgte ihm die Erfüllung: was sich ihm in der gestaltlosen II Tiefe ergab, das wa r, und weil es war, mußte es ihm auch aus der gestalteten Weite aufsteigen; was sich ihm in der Einsammlung aufschloß, mußte sich ihm an der ausgestreuten Ganzheit seines Erlebens bewähren; zu dem er aus der Welt entworden war, zu ebendem mußte er in der Welt werden können – dann erst war es wahrhaft, was er suchte. Und da kam der zweite Weg und strahlte ihm Einheit über die Welt, band Macht an Macht und ließ sie aneinander haften wie Liebende, nein, wie die Höhlung des Bogens an seiner Wölbung haftet; aber so war es gekannt, gewußt, gedacht, und war nicht Wirklichkeit, denn es war nicht gelebt; aber Einheit mußte gelebt, mußte ver w i r kl i cht werden können. Der dritte Weg unternahm sie zu verwirklichen; an dem eignen Wesen wurde alle Zweiheit erprobt und mit der ganzen Haltung des Lebens in der Welt Einheit versucht; aber weil der Versuch nicht in der ausgespannten Schwingung, sondern in der Indifferenz geschah, war, was gewonnen wurde, nicht Einheit, von Allsein erfüllt, sondern die Unabhängigkeit des Nullpunkts; allunabhängig, nicht alleinig ist der Erwachte. Es kann die wahrhafte, vollendete Einheit nichts anderes sein als der über all sei-

I II

O: wie die Ungescheidenheit und die Identität W: gehaltlosen

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ner Spannung geeinte Mensch, an dem sich die Welt über all ihrer Spannung eint. Und nun soll ich dir erzählen, Lukas, wie die letzte Schicht der Lehre in mir reifte und wie die Lehre aufging. Da ist aber fast nichts mehr zu erzählen. Ich sagte es dir ja schon: ein Augenblick fügte sich an einen Augenblick. Ich ging an einem trüben Morgen auf der Landstraße, sah ein Stück Glimmer liegen, hob es auf und sah es lange an; der Tag war nicht mehr trüb, so viel Licht fing sich im Stein. Und plötzlich, als ich die Augen weghob, merkte ich es: ich hatte im Anschauen nichts gewußt von »Objekt« und »Subjekt«; in meiner Anschauung waren der Glimmer und »ich« eins gewesen; ich hatte in meiner Anschauung die Einheit gekostet. Ich sah ihn wieder an, die Einheit kehrte nicht zurück. Aber da brannte es in mir auf wie zum Schaffen; ich schloß die Augen, ich raffte meine Kraft ein, ich verband mich mit meinem Gegenstand, ich hob den Glimmer in das Reich des Seienden. Und da, Lukas, fühlte ich erst: Ich; da erst war Ich. Der Anschauende war noch nicht Ich gewesen; erst dieses hier, dieses Verbundene trug den Namen wie eine Krone. Nun empfand ich jene erste Einheit, wie ein Marmorbild den Block empfinden mag, daraus es geworden ist; sie war die Ungeschiedenheit, Ich war die Vereinigung. Noch verstand ich mich nicht; aber da durchblitzte mich das Gedächtnis, so hatte fünfzehn Menschenjahre zuvor mein Leib die einfältige Tat getan und, die Finger verschränkend, Leben und Tod zum Ich geeint. Die wahrhafte Einheit kann nicht gefunden, sie kann nur getan werden. Der tut sie, der die Einheit der Welt an der Einheit seiner Seele verwirklicht. So muß er zuvor die Spannung der Welt in seiner Seele als deren Spannung durchleben. Wann immer sich die lebendige Seele erlebt, erlebt I sie sich als Zweiheit. Ihre Einheit ist nur Name, ihre Vielheit ist nur Bild; in aller Bewegung, in allem Innewerden erlebt sie sich als Zweiheit, Spannung, Aufgabe. Erkennend und fühlend, handelnd und bewertend steht der Mensch in dem proteischen Phänomen der inneren Polarität, in dem immer der eine Pol ihm unmittelbar, der andre mittelbar gegenwärtig, der eine von ihm besessen, der andre gewußt wird. So ist in ihm die Spannung bereitet, die er zur Allspannung weiten soll. Die innere Polarität ist das Gefäß, das vom kleinsten Inhalt voll wird und doch den unendlichen zu fassen vermag: mit diesem füllt sie, wer die Einheit tun will. Er nimmt die Spannung der Welt auf sich, daß sie von seiner Seele als ihre eigne erlebt wird. Er nimmt etwa die Spannung von Geist und MaI

O: findet, findet

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terie auf sich, und die Seele erlebt weltweit die eigne Freiheit und die eigne Gebundenheit, die eigne Spontaneität I und die eigne Eingestelltheit, das eigne Tragen und das eigne Getragensein. Es ist ihr nicht mehr so, daß der eine Pol gegenwärtig, der andre nur gewußt ist, sondern an ihr geschieht als ein Zugleich die volle Polarität in ungedämpfter Helle und Kraft. Der Mensch nimmt die Spannung von Stoff und Form auf sich, und die Seele erlebt weltweit die eigne Wildheit und die eigne Bändigung, die eigne Fülle und die eigne Gestalt, das eigne Chaos und den eignen Kosmos. Sie faßt in sich das Tuende und das Leidende zugleich, und der Strom zwischen beiden, der sie durchströmt, ist der Strom der ewigen Gewalten. Der Mensch nimmt die Spannung von Sein und Werden auf sich, und die Seele erlebt weltweit die eigne Stille und die eigne Bewegung, die eigne Starrheit und den eignen Wirbel, die eigne Beständigkeit und die eigne Verwandlung. Die zwei Aspekte der großen Natur stehn miteinander am ausgespannten Himmel der lebendigen Seele. So erlebt die Welt ihre Zweiheit von innen: im Menschen, der die Einheit tun will. Er tut sie, da er die Spannung, die er auf sich genommen hat, in sich zusammenbildet: d a er II d a s Ich d i e s er S p a nnu ng e r we ck t . Es gibt wahrhaft kein Ich als das Ich einer Spannung: darin sie sich zusammenbildet. Kein Pol, keine Kraft, kein Ding – nur Polarität, nur Strom, nur Verbindung kann Ich werden. Sieh vor dich, Lukas: es ist Ebbe. Kann die Ebbe Ich sagen? Oder die Flut? Aber denke dem Meer einen Geist, der die Einheit von Ebbe und Flut in sich faßte: der könnte Ich sagen. Der Glimmer konnte es nicht, der ihn ansah, konnte es nicht; und die Ungeschiedenheit ihrer ersten Anschauung war nur Material. Aber da sich ihre Spannung zusammengebildet hatte, konnte es das Verbundene. Was wir gemeiniglich Ich nennen, ist Ausgangspunkt und Notbehelf, eine grammatikalische Tatsache. Aber das Ich der Spannung ist Werk und Wirklichkeit. Wir leben um so wirklicher, um so ichhafter, je größerer Spannung Ich wir verwirklichen. In dieses Maßes Aufstieg wird das Ich in uns. Weltspannung leben ist die hohe Probe unseres Seins. Freiheit und Gebundenheit in einem als Eignes erlebend, bringt die Seele das Ich hervor, das Freiheit und Gebundenheit als seine Funktionen umfängt. Die Schwingung von Fülle und Gestalt zeitlos vollziehend, ruft die Seele das Ich herauf, das Fülle und Gestalt als seine Glieder trägt. Beständigkeit und Verwandlung in Allgegenwart verbindend, erweckt die I II

O: Unmittelbarkeit O: da er in sich

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Seele das Ich, das Beständigkeit und Verwandlung als seine Gebärden besitzt. I Dieses Ich ist das Ich der Welt. In ihm erfüllt sich die Einheit. Dieses Ich ist das Unbedingte. Und dieses Ich ist eingestellt in ein Menschenleben. Das Menschenleben kann der Bedingtheit nicht entraten. Aber das Unbedingte steht unauslöschbar im Herzen der Welt geschrieben. Die Summe eines Lebens ist die Summe seiner Unbedingtheit. Die Macht eines Lebens ist die Macht seiner Einheit. Wer in der vollendeten Einheit seines Lebens stirbt, spricht das Ich aus, das nicht eingestellt: das die nackte Ewigkeit ist. Wir sprachen vom Tode, mein Freund Lukas; wir haben all die Zeit von nichts anderm gesprochen. Die Einheit, die Leben und Tod emporträgt in rechter und linker Hand, das heilige Meer willst du kennen. Du kannst es nicht anders, als wenn du die Spannung von Leben und Tod auf dich nimmst und Leben und Tod der Welt als dein Leben und deinen Tod durchlebst. Dann wird sich in dir das Ich dieser Spannung erwecken, das Unbedingte, die Einheit von Leben und Tod II . III

I II III

O: als seine Worte spricht. O: Dann wird sich in dir das ich dieser Spannung erwecken, die Einheit von Leben und Tod. Und du wirst das Unbedingte stiften, das über Leben und Tod ist O: voll[endet] 22. XI. 12.

Ereignisse und Begegnungen

Von den drei Teilen diese Buches ist der erste im Sommer 1907 geschrieben worden, der zweite in den Winter- und Frühlingsmonaten 1914, der dritte im Herbst desselben Jahres. I Die Burg II Buddha »Meine Tat ist mein Besitz, meine Tat ist mein Erbteil, meine Tat der Mutterleib, der mich gebiert. Meine Tat ist das Geschlecht, dem ich verwandt bin; meine Tat ist meine Zuflucht.« 1

Daß die großen Urworte unsrer Einkehr zu aller Zeit offenstehn, ist eine unausschöpfbare Tröstung im Menschenleben dieser Tage. Wenn uns die Macht des Abgeleiteten auf tausend flinken Pferdchen nachsprengt und mit ihren bunten Fahnen unsern Himmel verdeckt, mit dicken Staubwirbeln unsern Weg verwirrt, siehe die Burg der Gewaltigen vor uns: wir reiten hinein, die Schloßbrücke wird aufgezogen, wehrhaftes Ragen umgibt uns, und geschützt, umfriedet, in einsamer Gnade sind wir bei der Ewigkeit zu Gast. Freilich, eins tut not: daß wir uns von der »differenzierten Stellungnahme«, die uns eingewöhnt worden ist, losgemacht haben. Ist das unsre Art, die Dinge zu leben, daß wir ein »ästhetisches« oder ein »philosophisches« oder ein »religiöses« Verhältnis zu ihnen haben, dann bleiben wir draußen: vor uns selber wird die Brücke aufgezogen, und das wilde Heer nimmt uns mit. Wenn wir die Urworte, deren Einheit wir Buddha nennen, als Theorie nehmen, haben wir sie verloren. Was dann noch bei uns bleibt, ist der »Buddhismus«, eine Existenz unter Existenzen, mit einem Anfang und einer Ausdehnung in der Historie, mit einer These und einer Begründung in der Logik. Durch solche Gegenstände können wir nur ärmer werden 1.

H. Oldenberg, Buddha, S. 262.

I II

Vorbemerkung nur in EA u. 2. Aufl. Zwischentitel »Die Burg« nur in EA u. 2. Aufl.

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und bekommen einen Daseinsraum zugemessen, der uns nicht eingeboren war. Wir verschreiben dem Teufel unsre Unendlichkeit für einen Wunschsäckel voll interessanter Begriffskombinationen. Buddha ist übrigens auch historisch und logisch keine Theorie. Er erweitert den Bestand des Vedânta nicht um eine Idee, sondern um eine Tat. 2 Und er lehnt alle Positionen und Negationen ab, weißt alle Lösungen der Antinomien von sich, um des »Weges« willen. »Bekennt nun aber Herr Gotamo irgendeine Ansicht?« – »Eine Ansicht, Vacco, die kommt dem Vollendeten nicht zu.« 3 Und Potthapado der Pilger berichtet: »Auch ich, ihr Lieben, habe vom Asketen Gotamo keinen einzigen schlechthin gültigen Lehrsatz vortragen hören, als wie etwa: ›ewig ist die Welt‹ oder ›zeitlich ist die Welt‹ oder dergleichen mehr. Immerhin aber gibt der Asket Gotamo einen wirklichen, ehrlichen, echten Pfad an, der zurecht besteht, zurecht geregelt ist.« 4 So lehrte Sokrates, so Jesus. Dadurch aber eben scheiden wir uns von denen um Gotamo, denen um Sokrates, denen um Jesus: daß uns die Tat keine Lehre ist, daß uns die Tat das Unlehrbare, Unlernbare, die Parthenogenese der Seele ist. Und schieden wir uns nicht dadurch von jenen, dann wären wir nichts. Was uns aber Buddha ist, das teilt sich uns am reinsten in jener Rede der »Mittlern Sammlung« mit, die Brahmas Heimsuchung genannt wird. 5 Da wird erzählt, wie Gotamo in der Brahmawelt erscheint und den Gott überwindet, durch Erkenntnis. Brahma will ihm entschwinden und kann es nicht, er aber entschwindet dem Brahma. Sein Bewußtsein ist über dem des Gottes. So siegt er. »Eine andre, höhere Freiheit als diese gibt es nicht«, hatte Brahma von sich verkündet. 6 Hier ist die andre, höhere Freiheit. Gotamo hat getan, was der kennende Gott nicht tun kann: er hat erkannt. Seine Tat ist über der des Gottes. »Tausendfach ist die reiche Welt in deinen Willen eingewiegt«, so redet er zu Brahma. 7 Aber in seinen, Gotamos, Willen ist nichts mehr eingewiegt, er hat seinen Willen dem All entzogen: er hat abgesagt. Brahma ist verstrickt, Buddha ist frei. 2. 3. 4.

5. 6. 7.

Vedanta, wörtl. »Ende des Veda«, umfaßt die Upanishaden, die 800-600 v. Chr. entstandenen philosophisch-theologischen Traktate des Hinduismus. K. E. Neumann, Die Reden Gotamo Buddhos, Mittlere Sammlung, Bd. 2, S. 241. K. E. Neumann, Die Reden Gotamo Buddhos, Längere Sammlung, Bd. 1, S. 240. Vgl. M. Buber, Vom Geist des Judentums, S. 18 (= RGA, S. 76 = JuJ, S. 51): »von aller Lehre des Orients ist zu sagen, was ein Pilger von Buddha sagt: er habe nicht vorgetragen, ob die Welt ewig oder zeitlich sei, er habe einzig den Weg gelehrt. Auch Sokrates wollte den Weg und nicht das Wissen lehren; aber hier fehlt das Gefühl der oberen Lebenswahrheit«. K. E. Neumann, Mittlere Sammlung, Bd. 1, S. 507-517. Ebd., S. 508. Ebd., S. 512.

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Das ist der Prometheus der Inder, der ganz innerliche. 8 Er stürmt nicht, streitet nicht, er rührt keinen Fuß, streckt keine Hand aus. Unbewegt steht er vor dem Brahma und erkennt. Seine Tat hat keine Expansion im Raume und keinen Verlauf in der Zeit. Seine Tat ist der Ursächlichkeit des Weltgetriebes entrückt. Sie ist nicht bewirkt, ist aus dem Augenblick gewachsen, aus der Ewigkeit. Ihr folgt kein Leiden. Nichts folgt ihr. Sie ist getan. Wir scheiden uns von denen um Gotamo. Von ihm nicht. Und doch binden uns vergängliche Mächte. So sind wir, klein und groß, Sklaven der Zeit und Blutsbrüder des Höchsten. Das Buddha-Wort für die Parthenogenese der Seele ist: Wiederkehr. Die Mutter der Tat ist die Tat eines früheren Lebens. Das Erkennen Gotamos ist ein Sein. Als Gotamo von einem einstigen Opfer erzählt, spricht einer: »Der Asket Gotamo hat nicht gesagt: ›Das hab ich gehört‹ oder ›So dürfte es sein‹, sondern es hat eben der Asket Gotamo ›Das ist damals gewesen, so ist es damals gewesen‹, schlechthin gesprochen. Da ist mir, ihr Herren, der Gedanke gekommen: Gewiß ist der Asket Gotamo zu jener Zeit der König gewesen, Walteherr, der das Opfer geboten hat, oder ist der Oberpriester bei Hofe gewesen, der das Opfer dort vollzogen hat.« 9 Buddha schaut die Dinge, ist die Dinge, schaut die Welt, ist die Welt. Sein Verneinen, sein Absagen ist nichts als das vollendete, vollkommene Sein. I Es ist die erfüllte Tat. Asien spricht. Nicht die historisch-geographische Kategorie »Asien«. Es ist die Stimme, die uns in der Burg der Urworte empfängt. Sie unterweist nicht. Sie schützt, sie tröstet, sie heilt. Die Fahrt II Der Altar

Das ist der Altar des Geistes im Abendland, einst aufgerichtet durch den Meister Matthias Grünewald in einer Elsässischen Klosterkirche und jetzt in einer andern Elsässischen Klosterkirche zu schauen, aber allen Kirchen 8. 9. I II

Prometheus überlistet in den antiken griech. Mythen den Götterkönig Zeus und bringt den Menschen zivilisatorische Güter wie das Opferfleisch, das Feuer u. die Frau, vgl. Hesiod, Theogonie, Verse 535-616. K. E. Neumann, Längere Sammlung, Bd. 1, S. 176. B: vollkommene Sein. Das vollkommene Sein ist das Ende und die Seligkeit und seine eigene Grenze und das Nichts. Zwischentitel »Die Fahrt« nur in EA u. 2. Aufl.

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und aller Kirche I übermächtig wie das Wort des Meisters Eckhart, der zwei Jahrhunderte vor ihm in den Elsässischen Klöstern predigte. Diese beiden, Eckhart und Matthias, sind Brüder, und ihre Lehren sind verschwistert. Aber Grünewald lehrt in der Sprache des Farbenwunders, die keiner Deutscher vor oder nach ihm geredet hat. Das ist der Altar des Geistes im Abendland, und Kolmar ist groß wie Benares II . 10 Aber nur der Pilger, der in dieser Sprache berufen wurde, findet wahrhaften Einlaß. Wie alle großen alten Gebilde ist der Altar von unserer Zeit (in ihren ersten Tagen) auseinandergenommen worden. Als er noch ganz war, sah man ihn, da man zuerst vor ihn trat, geschlossen und auf den geschlossenen Flügeln die Kreuzigung. Auf diesem Bilde ist ein Christus mit siechem Marterleib und aufgereckten Fingern der angenagelten Hände vor die nacht der Welt gestellt und ihm zur Seite ein roter Täufer, der wie ein gigantischer Marktschreier auf ihn zeigt und seinen Spruch hersagt, und zur anderen Seite ein Jünger, schwankend und verweht wie ein Irrwisch, und vor diesem zwei Frauen, die zwei Frauen der Erde, die zwei Seelen der Erde, die stehende Maria und die knieende Magdalena. Mariens Augen sind zugetan, Magdalenens Augen sind geöffnet. Mariens fahle Hände sind starr ineinandergepreßt und ohne Einzelheit, Magdalenens blutdurchschimmerte Hände sind wild verschränkt, daß jeder Finger hervortritt wie ein junges Tier. Auf Marien entschwindet, was an Ärmeln, über der Brust, am Kleidsaum Farbe ist, vor dem ungeheueren, tödlichem Weiß des Mantels, der sie, eindeutig wie ein Leichentuch, umdeckt. An Magdalenen ist kein Fleckchen Leibes und Gewandes, aus dem nicht Farbe riefe und sänge; ihr hellrotes Kleid ist von tiefroter Schnur gegürtet, ein goldenes Gelb antwortet der strömenden Blondheit ihrer Haare, und noch der dunkle Schleier schillert. Sie ist der vielfältigen Farbigkeit angelobt wie Maria der einigen Farblosigkeit; aber ihre Buntheit ist nicht vom Sinn gebunden, und Mariens Weiße ist dem Leben entsondert. Diese Zwei sind die zwei Seelen, keine von beiden ist der Geist der Erde. Vor der Nacht der Welt leuchten sie zu Füßen des Gekreuzigten in verschiedner und doch verwandter Gebärde, als die Frage des Menschen. Dann öffnen sich die Flügel und stellen sich mit ihrer Rückwand zu 10. In Colmar befindet sich heute das Hauptwerk Grünewalds, der sogen. »Isenheimer Altar« (1512-16). Benares ist die heilige Stadt und der wichtigste Wallfahrtsort der Hindus. Wer dort stirbt und wessen Asche dann in den Ganges gestreut wird, erwirbt ein gutes Karma und hofft auf eine bessere Wiedergeburt. I II

H: allen Kirchen übermächtig H streicht »und – Benares«

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beiden Seiten der inneren. Das Herz des Altars blättert sich auf. Und so ist es zu lesen: Zur Linken die Verkündigung. Die Verkündigung der Antwort. In der Mitte die Geburt. Da glüht auf kristallnem Gebirge der Morgen der Welt, unter ihm sitzt die Jungfrau mit dem Kinde, und zu höchst darüber entstürzen der göttlichen Glorie die Engelscharen wie Samenstaub einer unendlichen Blüte. In der Glorie sind sie noch überfarben, geeint im sonnenhaften Licht, aber da sie niederwallen, im Zwischenreich des Werdens glänzt jeder als eine Farbe auf; und so knien und schweben sie musizierend links in dem Portal, jeder eine Farbe. »Denn das ist die letzte Materia, so ein Ding allein in ihm selbst stehet und jubilieret in seiner Exaltation.« Das ist das Wunder der Farbenwerdung, der Vielheitswerdung aus der Einheit: das erste Mysterium. Dieses Mysterium ist nur offenbart, nicht uns zugeteilt. Die überfarbne Glorie ist der Geist des Himmels, sie ist nicht der Geist der Erde, auf der sie sich nicht erschließt. Die Engel entstürzen ihr, aber sie schauen sie nicht. Wir vermögen nicht hinter der Vielheit die lebendige Einheit zu finden. Wenn wir die Farben hinwegtun, sehen wir nicht das Licht, sondern die Finsternis, mag sie auch berauschend und voller Verzückung sein. Wer den weißen Mantel umlegt, ist dem Leben entsondert; und er erfährt seine Wahrheit nur, solange er die Augen schließt. »Wir erkennen, daß Gott in seinem eigenen Wesen kein Wesen ist.« I Unsere Welt, die farbige Welt, ist die Welt. So wären wir denn der Vielfältigkeit ausgeliefert wie Magdalena? Wären, wenn wir uns von der Gewalt des Wirklichen nicht abkehren und die Fülle unseres Erlebens nicht verleugnen wollen, ausgestreut in die Dinge und in das Bedingte gebannt? So müßten wir ewig von Wesen zu Wesen und von Geschehen zu Geschehen irren, unfähig, ihrer aller Einheit zu umschlingen? Da lesen wir weiter: Zur Rechten die Auferstehung. Das ist Nacht und der Tag der Welt in einem: mitten im Sternenraum eine ungeheure, von Farbe wie von einem treibenden Saft geschwellte Sonne, von der lichtgelben Mitte über rote Strahlenkreise zum blauen Rand gedehnt, wer in das Dunkel greift, und darin, über aufgestürztem Grad und hingesunknen Wächtern steil emporsteigend, in einem Mantel aus erster Morgenröte, violetter Wetterwolke, Blitzesfeuer und hellstem Himmelsfernenblau der Auferstehende, Farbenbrand er selber vom Sonnenantlitz bis zu den demütigen Rosen der Füße. Was ist Magdalenens Buntheit vor seinem Weltenspektrum? Was ist Mariens weiße Einheit vor seiner allfarbenen? Er umschließt die Töne des I

Satz in H gestrichen.

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Seins in seinem eigenen Sinn, jeder Ton rein und gesteigert, alle verbunden unter dem Gesetz der weltbindenden Person. Sie schillern nicht, sie prangen in ihrem Selbst, um ein oberes Selbst gereiht, das sie alle, alle Farben und Engel und Wesen, aufgenommen hat und emporträgt. Das ist das Wunder der Glorienwerdung, der Einheitswerdung aus der Vielheit: das andre Mysterium. Dieses Mysterium ist uns selbeigen zugeteilt. Die allfarbne Glorie, die allwärts erschlossene, aufsteigende, die Glorie der Dinge ist der Geist der Erde. Das ist nicht der Jude Jeschua, wandelnd und lehrend zu seiner Zeit auf galiläischer Erde; es ist auch Jeschua; das ist nicht der eingeborne Logos, der aus seiner Zeitlosigkeit in die Zeit niedersteigt; es auch der Logos; – das ist der Mensch, der Mensch von Allzeit und Überall, von Jetzt und Hier, der sich zum Ich der Welt vollendet. Das ist der Mensch, der die Welt umfaßt und an ihrer Vielfältigkeit nicht vielfältig wird, vielmehr aus der Kraft seines Weltumfassens selber einig geworden ist, ein einig Tuender. Er liebt die Welt, er lehnt keine ihrer Farben ab, aber er kann keine aufnehmen, ehe sie rein und gesteigert ist. Er liebt die Welt, aber er kämpft um seine Unbedingtheit gegen alles bedingte. Er liebt die Welt zum Unbedingten hin, er trägt die Welt zu ihrem Selbst empor I. Er, der Einige, bildet die Welt zur Einheit. Unsere Welt, die farbige Welt, ist die Welt; aber sie ist es in ihrem Geheimnis, in ihrer – nicht ureinigen, sondern geeinten – Glorie; und die Glorie ist aus dem Werden und aus der Tat. Wir vermögen nicht hinter der Vielheit die lebendige Einheit zu finden. Wir vermögen aus der Vielheit die lebendige Einheit zu tun.

Mit einem Monisten

Ich lernte vor kurzem einen Monisten kennen. Ich merkte auf den ersten Blick, daß er ein vortrefflicher Mensch war. Das Vortrefflichsein scheint übrigens durch den Monismus wesentlich erleichtert zu werden. Wir andern haben nur Erschwerungen zu bieten. »Sie sind Mystiker«, sagte der Monist und sah mich mehr verzichtend als strafend an. So stelle ich mir einen Apoll vor, der es verschmäht, den Marsyas zu schinden. 11 Er unterließ sogar das Fragezeichen. Aber seine 11. In antiken griech. Mythen wird berichtet, der phryg. Silen Marsyas haben den Gott I

A setzt »Er – empor« in Anführungszeichen.

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Stimme war leutselig. Ja, er brachte es zustande, sublim und vortrefflich zugleich zu sein. »Nein, Rationalist«, sagte ich. Er geriet aus der schönen Haltung. »Wie … ich meinte …«, äußerte er. »Ja,« bekräftigte ich, « das ist die einzige meiner Weltansichten, der ich es erlaubt habe, sich zum Ismus zu verbreitern. Ich bin dafür, daß die Ratio alles aufnehme, alles bewältige, alles verarbeite. Nichts kann ihr widerstehen, nichts sich vor ihr verbergen. Ich finde das herrlich. I Nur keine halbe Arbeit, nur keine Neunzehntelarbeit! Nur nichts übersehen, nur nichts verschonen, nur nichts bestehen lassen! Sie hat nur dann etwas getan, wenn sie es vollständig getan hat. Sie macht sich an die Welt heran und macht sie zurecht. Ein Meisterstück der Zeiten, diese rationalisierte Welt! II Die Welt ohne Lücke und ohne Widerspruch! Die Welt als Syllogismus!« »Nein, aber … «, wandte er ein. »Ganz recht,« konzedierte ich, « Sie würden es anders formulieren, etwa: Die Welt als die vollständige Induktionsreihe. Es III kommt mir nicht darauf an; ich bin auf jeden Fall einverstanden. Wenn nur ganze Arbeit gemacht wird! Da gibt es freilich welche, die die Grenzen verwischen. Die mag ich nicht. Aber für Sie bin ich eingenommen. Sie sind mir nur noch, trotz allem, nicht vollständig genug. Sie lassenIV noch immer irgendwo verschämte Teleologien ein. Das sollte nicht sein. Wenn der Menschenwille restlos bestimmt ist, so ist es ganz gleichgültig, daß er dieses Bestimmtsein nicht überblickt, die Zukunft als von sich abhängig vorstellt und meint, nicht Durchgang, sondern Ursprung zu sein: in den Augen Ihres Ideals, des Betrachters der vollständigen Induktionsreihe, wäre er unfrei und muß es daher auch für Sie sein.« »Jedoch …«, rief er dazwischen. »Gewiß,« erwiderte ich, »die Moral … aber das kann meine Neigung für hemmungslosen Rationalismus nicht beeinflussen. Ich denke ihn mir als ein engmaschiges Netz, das alle Phänomene einfängt und dem keins wieder entschlüpfen kann. Gestehet nur der Seele keine Sonderstellung zu! ›Führt‹ sie ›zurück‹, bis sie nicht weiter zurück kann! Drückt sie an Apollo zu einem musikalischen Wettstreit herausgefordert. Von diesem wurde er mit List besiegt und geschunden, vgl. Apollodor 1, 24. I

II III IV

M ers. »Nichts – herrlich« durch »Nichts kann ihr widerstehen. Wie dürfte so ein lumpiges ›Ding‹ wagen, sich gegen ihren Anspruch zu empören? Sie kriegt sie alle unter. Und nichts kann sich vor ihr verbergen. Wo fände es ein Mauseloch, in das ihre Kategorien nicht hinabreichten? Sie klaubt sie alle, alle auf.« M: Welch ein Meisterstück! Die rationalisierte Welt! M: Bitte, es M: Wenn Sie vollständig wären, würde ich Hurrah schreien. Aber Sie lassen

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die Wand! Duldet nichts, was sich euren einreihenden Befehlen entziehen möchte! Ruhet nicht, ehe die Welt vor euren prüfenden Blicken steht wie eine wohlgeordnete Registratur! Dann habt ihr bewiesen, daß der Geist der Herr ist und daß er nur die erstbeste seiner Töchter auszusenden braucht, und sie bindet die Welt und den Vater dazu. So muß es immer von neuem geschehen, von Geschlecht zu Geschlecht. Bis er wieder den Finger hebt und alle Fesseln zerfallen und die Welt sich dehnt und die Zettel eurer Zettelkästen wild umherfliegen im spielenden Sturm.« »So also …«, konstatierte er ärgerlich. »Ja,« bestätigte ich und leugnete nichts. »Sie haben mich durchschaut. Wir brauchen auch gar nicht zu warten. Was im Menschenreich von einer Zeit zur anderen geschehen muß, geschieht allzeit von Augenblick zu Augenblick im Menschen. Wenn der Kreis gezogen ist, der reinliche Kreis der Weltbegreifbarkeit, und wenn alles eingebannt und alles Denken als Energieform und aller Wille als Kausalitätform entlarvt ist, dann schwingt Selbst, die heimliche Lerche, sich aus dem Kreise auf und tiriliert. Ihr hattet das Ich zerlegt und aufgeteilt, da schwebt es unberührt über euren Künsten, das unantastbare. Ihr mögt meine Seele als ein lockeres Aggregat von Empfindungen enthüllen: da rührt sie sich und fühlt emporgereckt den Glanz der Nacht oder ingrimmig die Not eines Kindes, und ist Kristall; und wenn sie schläft, fliegen all eure Formeln und Berechnungen wie Motten um ihren feurigen Traum. Ihr mögt die Elemente aufzeigen, aus denen ich bestehe, die Wandlungen, die an mir geschehen, die Gesetze, die mich zwingen: wenn ich ganz einmalige Gestalt mich zum Tun hebe und mich entscheide, bin ich Element, ich Wandlung, ich Gesetz, und die Blitze der Schöpfung zucken in meinen beginnenden Händen. Welcher Stoffe Verbindung, welcher Tiere Nachkomme, welcher Funktionen Knecht ich bin, das ist mir ersprießlich zu hören – und ist mir nichtig, wenn ich Unendliches zu denken, Unendliches zu schauen wage und ihm verwoben mich als Unendlichen erfahre. Daß es eine Zeit gab, da der Mensch nicht auf der Erde war, die Kunde nehme ich willig auf – und kenne ihre Sprache nicht mehr, wenn mir in der Flamme des erlebten Augenblicks die Ewigkeit entgegenschlägt; daß einst die Erde erkalten und der Mensch verschwinden wird, lasse ich mir gern erzählen – und habe es vergessen und vernichtet, wenn meine Tat hinaus ins uferlose Werden brandet. Das ist das glorreiche Paradox unseres Daseins, daß alle Begreifbarkeit der Welt nur ein Schemel ihrer Unbegreifbarkeit ist. Aber diese Unbegreifbarkeit hat eine neue, eine wundersame Erkenntnis zu spenden; die ist wie Adams, der sein Weib Chawa erkannte. 12 Was die 12. Chawa, hebr. für Eva, vgl. Gen 4,1, 25.

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kundigste und kunstreichste Verknüpfung von Begriffen versagt, das gewährt das demütige und getreue Erschauen, Erfassen, Erkennen irgendeines Dinges. Die Welt ist nicht begreifbar, aber sie ist umschlingbar: durch die Umschlingung eines ihrer Wesen. Jedes Ding und Wesen hat zwiefache Beschaffenheit: die passive, aufnehmbare, bearbeitbare, zerlegbare, vergleichbare, verknüpfbare, rationalisierbare, und die andre, die aktive, unaufnehmbare, unbearbeitbare, unzerlegbare, unvergleichbare, unverknüpfbare, unrationalisierbare. Diese ist das Gegenübergetretene, das Gestalthafte, das Schenkende in den Dingen. Wer ein Ding wahrhaft erlebte, daß dessen Selbst ihm entgegensprang und ihn umfing, hat darin die Welt erkannt.« »Sie sind also doch ein Mystiker«, sagte der Monist, als ich innehielt, und er lächelte. Weil er zu Wort gekommen war? Weil er recht behielt? Oder weil es einem Monisten lächern muß, wenn so ein Kerl sich nach weitläufiger Verstellung endlich doch als heilloser Reaktionär entpuppt? Oder überhaupt … ? Laßt uns nicht nach Motiven forschen und uns jedes Menschenlächelns, sofern es nicht geradezu boshaft ist, freuen. »Nein,« antwortete ich und sah ihn freundlich an, »da ich doch der Ratio einen Anspruch zubillige, den ihr der Mystiker verwehren muß. Und überdies fehlt es mir an Verneinung. Ich kann nur Zustände verneinen, aber nicht das winzigste Ding, Der Mystiker kriegt es wahrhaft oder scheinbar fertig, die ganze Welt, oder was er so nennt, alles, was ihm seine Sinne an Gegenwart und an Gedächtnis darreichen, auszurotten und hinwegzuschaffen, um mit neuen, entleibten Sinnen oder einer ganz übersinnigen Kraft zu seinem Gotte vorzudringen. Mich aber geht eben diese Welt, diese schmerzensreiche und köstliche Fülle all dessen, was ich sehe, höre, taste, ungeheuer an. Ich vermag von ihrer Wirklichkeit nichts hinwegzuwünschen, nein, nur noch steigern möchte ich diese Wirklichkeit. Denn was ist sie doch? Die Berührung zwischen den unsäglichen Kreisen der Dinge und den erlebenden Kräften meiner Sinne, die mehr und anderes sind als Ätherschwingung und Nervenstrom und Empfinden und Verknüpfen von Empfindungen, – die leibhafter Geist sind. Und die Wirklichkeit der erlebten Welt ist um so mächtiger, je mächtiger ich sie erlebe, – sie verwirkliche. Wirklichkeit ist keine feststehende Verfassung, sondern eine steigerungsfähige Größe. Ihr Grad ist funktionell abhängig von der Intensität unseres Erlebens. Es gibt eine gemeine Wirklichkeit, die hinreicht, damit die Dinge verglichen und eingereiht I werden. Aber ein anderes ist die große Wirklichkeit. Und wie könnte ich sie meiner Welt geben, als indem ich das Gesehene mit aller Kraft meines Lebens sehe, das I

M: klassifiziert

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Gehörte mit aller Kraft meines Lebens höre, das Getastete mit aller Kraft meines Lebens taste? Als indem ich mich über das erlebte Ding neige mit Inbrunst und Gewalt und die Schale der Passivität mit meinem Feuer schmelze, bis mir das Gegenübertretende, das Gestalthafte, das Schenkende des Dinges entgegenspringt und mich umfängt, daß ich darin die Welt erkenne? Wirkliche Welt – das ist offenbare, erkannte Welt. Und die Welt kann nicht anderswo erkannt werden als in den Dingen und nicht anders als mit dem tätigen Sinnengeist des Liebenden.« »Ja, dann …«, behauptete der Monist. »Nein, nein,« protestierte ich, »Sie irren sich: da ist ganz und gar kein Einvernehmen mit Ihren Lehrsätzen. Denn der Liebende, das ist einer, der jedes Ding, das erfaßt, beziehungslos erfaßt. Es fällt ihm nicht bei, das erlebte Ding in Relationen zu andern Dingen einzustellen, da ihm ja zu dieser Stunde kein andres lebt als dieses, dieses geliebte allein in der Welt, die Welt ausfüllend, es und die Welt einander ununterscheidbar deckend. Wo ihr mit flinken Fingern die Gemeinsamkeiten herausholt und in bereite Kategorien verteilt, schaut er traumgewaltigen und urwachen Herzens das Ungemeinsame. Und dieses ist die schenkende Gestalt, das Selbst des Dinges, das ihr in den reinlichen Kreis eurer Weltbegreifbarkeit nicht zu bannen vermögt. Was ihr aushebt und zusammenbringt, das ist ewig nur die Passivität der Dinge. Ihre Aktivität aber, ihre wirkende Wirklichkeit offenbart sich einzig dem Liebenden, der sie erkennt. Und so erkennt er die Welt. In den Zügen des Geliebten, dessen Selbst er verwirklicht, gewahrt er das rätselhafte Angesicht des Alls. Echte Kunst ist eines Liebenden Kunst. Der solche Kunst treibt, dem erscheint, da er ein Ding der Welt erlebt, die heimliche Gestalt des Dinges, die keinem vor ihm erschien, und auch er sieht sie nicht, sondern er fühlt ihren Umriß mit seinen Gliedern, und ein Herz schlägt an seinem Herzen. So lernt er die Herrlichkeit der Dinge, daß er sie sage und lobpreise und die Gestalt den Menschen offenbare. Echte Wissenschaft ist eines Liebenden Wissenschaft. Der solche Wissenschaft treibt, dem tritt, da er ein Ding der Welt erlebt, das heimliche Leben des Dinges gegenüber, das keinem vor ihm gegenübertrat, und gibt sich ihm anheim, und er erfährt es, gefüllt von Geschehen bis an den Rand seines Daseins. Sodann deutet er das Erfahrene in schlichten und fruchtbaren Begriffen und feiert das Einsame und Unvergleichbare, das ihm widerfuhr, durch ehrfürchtige I Redlichkeit. Echte Philosophie ist eines Liebenden Philosophie. Der solche Philosophie treibt, dem öffnet sich, da er ein Ding der Welt erlebt, der heimliche I

M: bedachtsame

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Sinn, das Gesetz des Dinges, das sich keinem vor ihm öffnete, und nicht wie ein Gegenstand, sondern als täte sich ihm der eigene Sinn, der Sinn all der Zeit seines Lebens und all der Geschicke und seines leidvollen und erhabenen Denkens Sinn, erschütternd auf. I So nimmt er das Gesetz des Dinges, das er vernommen hat, mit botsmäßiger und schöpferischer Seele an und setzt es als das Gesetz der Welt ein, und hat daran nicht vermessen getan, sondern würdig und getreu. Alle echte Tat ist eines Liebenden Tat. Alle echte Tat kommt aus der Berührung mit einem geliebten Ding und mündet im All. All echte Tat gründet aus der erlebten Einheit[,] Einheit in die Welt. Nicht eine Eigenschaft der Welt ist die Einheit, sondern ihre Aufgabe. Einheit aus der Welt zu bilden ist das unendliche Werk. Und um dieses Monismus willen, lieber Monist … « Er stand auf und reichte mir die Hand. Wir sahen einander an. Laßt uns an den Menschen glauben! Helden II

Hauptmanns Odysseus und Wedekinds Simson zeigen mir schärfer als je, wie die akklamierten Dichter der Zeit den Sinn ihrer Berufung vergessen. 13 Ich habe Hauptmann manches menschenselige Gefühl, Wedekind manches staunende Besinnen über die Grenzhaftigkeit und Übergrenzhaftigkeit des Menschen zu danken, aber ich will dankbar sein, wenn ich an sie als Personen denken darf: jetzt sind sie für mich nichts als Kundgebung – Kundgebung des schmerzlichsten Vorgangs. Dieser Odysseus und dieser Simson sind der Sphäre ihrer irrationalen Ganzheit entrissen, der eine in kausale, der andre in psychologische Wahrscheinlichkeit eingestellt, und Dichter haben das getan. Darüber hilft mir keine Erinnerung an frühere Gaben hinweg. Der homerische Held ist nicht »verständlich«, sondern wirklich. Seine Dichter, die zahllosen des Mythos und die letzterschienenen des epischen Berichts, haben die Wirklichkeit eines elementaren Menschen geschaut, 13. G. Hauptmann, Der Bogen des Odysseus, Berlin 1914 (Uraufführung Dt. Künstlertheater Berlin 17. 1. 1914), F. Wedekind, Simson oder Scham und Eifersucht, München 1914. I

II

M: »erschütternd auf. Und er, der also Erschütterte, merkt auf die Weisung und ruft an: »O du Ding, ein Ding der Welt, du maßloses ausgepanntes Ding, so rede zu mir!« Und er vernimmt es und weiß: »So ist das Sein, so wird das Werden, in diesem Ding wohnt der Sinn der Welt.« He: Der Held.

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als seine Zeitgenossen oder als in seinem Gedächtnis Erzogene, und haben sie gebildet, wie Dichter einer ungebrochenen Zeit bilden: indem sie den Helden Wunder erleben, Wunder tun ließen. Das Wunder ist die natürliche Sprache der naivsten Frömmigkeit, der Frömmigkeit zum Helden. Es bedeutet nicht, wie ein Heutiger es übertragen mag, eine Ausnahme vom Naturgesetz, sondern das Ursprüngliche und Gesetzgebende, das Tun des zentralen, des entscheidenden Menschen, wie es notwendigerweise dem Hingegebenen und Andächtigen erscheint. Was darin bildnerische Aussprache findet, ist das ungeheure Erlebnis der Führerschaft. Der Held tut nicht Übermenschliches, sondern die anderen tun Unterheldisches. Der Held ist das Maß der Dinge. Diese Anschauung mag als primitivkausal bezeichnet werden, man könnte sie auch vorkausal nennen, weil sie allem vorausgeht, was heute ursächliche Weltorientierung heißt. Diese hat ihre Entstehung in dem Trieb, sich dem Irrationalen gegenüber durch Wissen und Voraussehen der Zusammenhänge, durch Einteilung und Einrichtung des Geschehens zu behaupten; sie hat ihre bestimmende Entfaltung empfangen, als der Mensch stärker als die Andacht vor dem Helden die Begierde verspürte, nicht länger in dessen Hände gegeben zu sein, statt des heldischen das »allgemein-menschliche« Maß aufzurichten und an Stelle der elementaren, unbegreiflichen, als Wunder begeisternden Tat das zweckmäßige, verständige und verständliche Handeln zum richtunggebenden Gesetz zu machen. Nun erst wird der Held als Ausnahme, bald auch nicht mehr als Ausnahme angesehen. Es bildet sich die Weltbetrachtung aus, die alles Tun und alle Täter, und so auch den Helden, in das Getriebe der Ursachen und Wirkungen einreiht, ihn daraus erklären, ja, wenn sie es nur zu übersehen vermöchte, daraus berechnen zu können sich unterfängt. Ihr entgegen aber verharrt, an wehrhaftem Bewußtsein wachsend, die ursprüngliche, die mythische Anschauung. Wie sie das Geschehen der Welt als ein überkausal sinnvolles weiß, so erscheint ihr die Tat des Helden als eine gesteigerte Offenbarung des Weltsinns. Sie leitet sie nicht aus dem Getriebe der Ursächlichkeit ab, sondern erfaßt sie aus dem Willen des Göttlichen, sich zu verwirklichen. Sie erklärt den Helden nicht, sondern stellt sein Bildnis dar, das die irrationale Bedeutung, die undeutbare, nur eben darstellbare manifestiert. Ihr Träger ist der Dichter. Seine Berufung ist so tief gegründet, daß er sich, wie Homer, als den Zweck des Helden empfinden darf; denn im Helden wird der Sinn wirklich, aber im Mythos wird diese Wirklichkeit endgültig offenbar. Und es ist der Dichter, in dem der Mythos zum Worte wird. Die rationale Betrachtung des Helden mag um der Stiftung einer einheitlichen Weltorientierung willen berechtigt sein; von höherer Legitimi-

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tät ist die Frömmigkeit des Dichters. Er hat die riesenhafte Aufgabe, das heroische Wunder immer wieder lebendig zu machen, jederzeit von neuem, daß es nicht etwa als Ausnahme vom Naturgesetz, sondern als das Ursprüngliche und Gesetzgebende, das Tun des zentralen, des entscheidenden Menschen, daß es mit Hingabe und Andacht als die fundamentale Tatsache empfunden werde, die nicht aus den andern, sondern aus der die andern zu verstehen sind. Er muß der kompakten Rationalität seiner Zeit gewachsen sein, daß er sie berichtige, aber von ihr nicht wieder berichtigt werden könne. Er muß die Gewalt und die Würde einer inappellabeln Instanz haben. Er muß die Wirklichkeit seines Blickes so groß, so unzweifelbar vor den Blick der Menge einsetzen, daß ihr die Wahrheit ihrer Tage zum Trug und das scheinhafte Bild des Gedichts zur innern Wahrheit der Welt werde. Er darf die stoffliche Wucht des Wunders mindern, aber nur um es seelenhafter, nicht um es wahrscheinlicher zu machen; er darf das sichtbare Maß des Helden dem unsern annähern, aber nur um uns innerlicher zu überwältigen, nicht um uns den Glauben zu erleichtern. Er darf, er soll Kausalität geben, aber die seiner Vision, die in sich notwendig und sinnvoll zusammenhängend ist, nicht die des »historischen Verständnisses«. Hauptmann will den freiertötenden Odysseus wahrscheinlicher, glaubwürdiger machen; aber er ist nur nichtig geworden und aus einem Täter, dessen Rede selber Tat ist, ein Sprecher so langwieriger, ob auch wohlklingender Worte, daß ich ihm auch das klägliche bißchen Tat, das er zuletzt zu vollbringen vorgibt – daß er vier waffenlose, betrunkene Tröpfe I auf etliche Meter Entfernung abschießt – nicht glauben mag. Dieser Dichter hat einst den »Florian Geyer« geschrieben, ein Werk, in dem heroischer Atem weht; 14 aber die Erinnerung daran ist alles eher als Trost. Damals ließ er sich von einer Art des Sehens, die in unserer Zeit erstarkt ist (es ist eine große Art, die das Heldische im Volk verwurzelt und aus ihm aufkeimend sieht), anregen, er gestaltet sie; jetzt läßt er sich von der Unart, der Unkraft, dem »Verständlichmachenwollen«, das in unserer Zeit wuchert, bestimmen, er macht es mit. Die kompakte Rationalität der Zeit, die ihm schon in den »Immanuel Quint« hineinreden durfte, hat ihn hingenommen.15 Anders, aber nicht geringer vergeht sich Wedekind gegen den ewigen Sinn des Helden. Bei Hauptmann ist das heroische Wesen in seiner Bezie14. G. Hauptmann, Florian Geyer. Die Tragödie des Bauernkrieges, Berlin 1896 (Uraufführung Dt. Theater Berlin, 4. 1. 1896). 15. G. Hauptmann, Immanuel Quint. Der Narr in Christo, Berlin 1910. I

He: Kerle.

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hung zur Welt entstellt, bei Wedekind in seiner inneren Struktur. Hauptmanns Odysseus ist kausalisiert: er bringt nichts zustande, was nicht der normale Mensch nach den allgemein anerkannten energetischen Formeln zustande bringen kann; Wedekinds Simson ist psychologisiert: es geschieht nichts mit ihm, ohne daß er mit kundiger Selbstanalyse erforschte und mit pointierender Dialektik vortrüge, was er dabei empfindet und warum er es empfindet. Seine Taten werden durchaus der mythischen Überlieferung gemäß berichtet, sie sind nicht geschmälert worden, aber ihr Geist ist ihnen genommen, und statt seiner ist ihnen ein Geist angestückt worden, der um seine »Motive« Bescheid weiß und auch in der Terminologie beschlagen ist. Der biblische Held hat keine Psychologie. Der angeschaute Held hat keine Psychologie. Freilich, auch der unheldische Mensch stellt in jedem Augenblick eine Totalität dar, die unendlich mehr und wesentlich anders ist als die Summe ihrer »Teile«, d. h. der Produkte der psychologischen Analyse; auch ihn zerlegen ist irgendwo ein Unrecht. Aber er rechtfertigt es durch sein Dasein: weil er selber gelockert, disparat ist, weil in ihm selber, mag er noch so einfältig sein, ein Auseinander waltet. Des Helden Wesen jedoch ist in seiner Gestalt: in seiner fugenlosen Ganzheit, seiner stoßkräftigen Geschlossenheit; er hat sein Erleben mannigfach, leibhaft und einig, wie er sein Tun hat, aber er hat keine »Motive«; er ist vielfältig, aber wie ein Gedicht, nicht wie ein Wörterbuch; er weiß um die Blitze seiner Leidenschaften, aber nicht um die Elektrizität. An ihm vollzogen wird die psychologische Analyse zum Widerspruch: weil der Held die Offenbarung der Ganzheit ist. Der Dichter aber, der ihn so analysiert, sündigt wider den Geist; denn ihm, dem Dichter, war vom Geiste aufgegeben, die mythische Anschauung zu tragen und zu hüten. Er darf den Helden beschreiben, wie einen Baum; er darf ihn erzählen, wie ein Erdbeben; aber er darf ihn, den in seiner Einigkeit bestehenden, nicht als einen zerlegbaren Mechanismus vorführen. Der Held des Dichters darf sagen, was erfühlt, aber nicht, wie es zugeht, daß er es fühlt – denn sonst ist er, der wirklichste Mensch, ins Fiktiver hinabgesunken. Der Held des Dichters darf prahlen, darf lügen, aber er darf nicht jene selbstanalytische »Wahrheit« reden, welche die Zersetzung der Wirklichkeit ist. Die Helden sind die Gipfelungen und Knotungen des menschheitlichen Geschehens. In ihnen offenbart sich dem Menschen leuchtend und unmittelbar der Charakter der Unableitbarkeit und Unzerlegbarkeit, der allem Geiste innewohnt, aber sich einzig hier, in der zentralen Gestalt, vollkommen äußert. Doch der Trieb zum Ableiten und Zerlegen, den die von ihm Besessenen den Trieb zum Erkennen heißen (und wahrlich, er hat dessen Antlitz wie der Antichrist das Antlitz Christi hat), hält vor dem

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Ereignisse und Begegnungen

Helden nicht ein; ja, sich an diesem zu üben ist sein heftigster Genuß: wo könnte sich seine Lüsternheit so sättigen, wo könnte er so viel Wirklichkeit vernichten wie hier? Aber er ist betrogen. Wie in der Sage die lebendige Helena von den Göttern aus Troja entrückt wird und der Kampf um ein Schattenbild tobt, so ist es nicht der Held, sondern ein wesenloses Gespenst, um das sie sich bemühen.16 Bis die realisierenden Menschen, und unter ihnen der an Äußerung mächtigste, der Dichter, voran, den Trug besiegen, den Helden heimführen und in seine Herrschaft einsetzen. Wie aber, wenn der Dichter den Sinn seiner Berufung vergißt und an den Popanz glaubt?

Bruder Leib

Der Tänzer ist erkrankt. 17 Ich erfahre es, sinne ihm eine Weile nach, denke an etwas anderes, und plötzlich ereignet sich das Wunder der Gleichzeitigkeit an mir, als hätte ich nicht gelesen, sondern durch die Ferne gespürt: der in meinem Gedächtnis nur als ein Bild wohnte, den fühle ich nun aus der Tiefe seines leibhaften Lebens. Von dort aus fühle ich sein Kranksein, fühle einen entscheidenden Augenblick lang einen zornigen Trieb vom Rückenmark zu versagenden Muskeln fliegen. Und in diesem selben Augenblick überwältigt mich das Geheimnis des Tänzers. Ich lebe das unsägliche Werden der Bewegung. Ich habe Beethoven zum erstenmal verstanden, als mich mitten in dem pausenlosen Hinüber und Herüber eines dialektischen Gesprächs ein Ton, ein erinnerter Ton in die Wahrheit entführte, die sich nicht verfechten, die sich nur spielen läßt. So habe ich jetzt zum erstenmal den Tänzer verstanden.I ** *

16. Antiker griech. Mythos von Helena, der Tochter von Zeus und Leda, in dem erzählt wird, nicht sie selbst, sondern nur ihr Bild habe der getäuschte Paris nach Troja entführt, während sie selbst nach Ägypten entrückt wurde. Das Motiv des arch. Dichters Stesichoros hat Euripides zur Tragödie Helena (aufgeführt um 412 v. Chr.) ausgebaut. 17. Nach M. Friedman ist hier Vaclav Nijinski gemeint, der 1912/13 mit den »Ballets Russes« Weltruhm erlangte. Seine eruptive Darstellungskunst brach mit den tänzerischen Normen, aber auch mit den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit. I

Absatz in H gestrichen.

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Ereignisse und Begegnungen

In diesem Tänzer befreit sich die Geste des Menschen. Hier sind die spielende und die äußernde Gebärde, die im primitiven Tanz verbundenen, dann lang getrennten, wieder eins geworden. Aber die neue Bewegung des Tänzer ist anders geartet als jene; sie ist befreit. ** * Der Urmensch spielt: der Leib feiert seine Kraft. Die Gewalt des Überschusses und der Möglichkeit durchfährt ihn, alle Dinge um ihn regen sich schon wie seine Vorposten, die Luft schwirrt, als flögen tausend Pfeile, die Erde bebt, als liefen tausend wilde Pferde, und drin, in der Tiefe seines leibhaften Lebens tut sich ihm ein vulkanisches Werden an: und er schleudert die Arme, spreizt die Finger, vom Nacken zu den Sohlen schüttelt ihn ein singender Schrei. Der Urmensch äußert: der Leib berichtet das andringende Geschehen. Gereckt, gespannt empfängt er den Anprall der drohenden, der ungewissen, der werbenden Begebenheiten. Er hat im Wald ein großes buntes Tier gesehen, ein unbekanntes, das stand atmend still und warf den Feuerbrand seines Blickes auf ihn. Was will das Tier von ihm? Und er hat es irgendwie in sich, hat etwas von ihm mitgebracht, es schaudert ihn, das Bild brennt aus dem Sehen ins ganze Fleisch, brennt in die Tiefe seines leibhaften Lebens, und die Wandlung vollzieht sich, der Befehl faßt ihn an, er muß das Bild tun. Er ahmt das Tier nicht nach, er biegt nur die Brust nur zum Stillstand eines Sprungs, er dreht nur den Kopf zu einem Lauern, und er hat das Tier den Genossen, den Göttern, sich selber gemeldet. So gehen sie in die Menschheit ein, die spielende und die äußernde Gebärde, das Fürsichsein des Leibs und seine Geistigkeit. Jede baut sich ihre Welt in Seele und Gestalt, sie begegnen sich, wirken ineinander, aber vereinigen sich nicht. Neu verknüpft im Wiegenleben jedes Kindes, im Leben der Menschen gesondert, verbünden sie sich in der Kunst zum gemeinsamen Werk, aber sie vermählen sich nicht, – es sei denn in den urseltnen Wunderwesen, deren eines dieser Tänzer ist. Sein tanzender Leib ist ganz selbeigen und ganz geistdurchwaltet zugleich. Seine Geste faßt Spielgebärde und Ausdrucksgebärde in sich, aber beide von Grund aus verwandelt. ** *

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Ereignisse und Begegnungen

Das Spiel ist der Jubel des Möglichen. In aller anderen Bewegung des Menschen wird die Geste vom Reiz, dem er antwortet, oder vom Zweck, den er anstrebt, bestimmt. Im Spiel ist der Leib autonom, von Welt und Geist unabhängig. Was er da tut, wird ihm von nichts anderm geboten als von der Verfassung seines Augenblicks. Es ist sein Überschuß, der ihn bewegt, seine latente Gebärdenfülle, die ihn treibt, sie auszuschütten; um ihr gerecht zu werden, müßte er alle Bewegung, deren er fähig ist, auf einmal vollbringen, denn sie fordert von ihm nicht, wie Reiz und Zweck, die Wahl der entsprechenden, sondern die Auswirkung aller Bewegung. So schwingt um jede Geste, die er tut, gleichsam ein flimmernder Wirbel, das Mögliche. Der Mensch wird des ungeheuren I Antriebs Herr, er meistert ihn durch den Rhythmus und die Linie, er formt ihn durch Zucht des Ohrs und des Auges, die nunmehr das Mögliche ausscheiden und das »Schöne« befehlen, er schafft Konvention und Überlieferung, er bändigt die Fülle durch die Vorschrift. Aber die Herkunft läßt sich nicht verleugnen; das Element des Spiels, der Jubel des Möglichen bricht ihm wieder durch, und noch um den Schritt des erzogensten, beherrschtesten Tänzers schwingt, zumal wo er sich den Grenzen der Tradition enthebt, der flimmernde Wirbel des Möglichen, sichtbar in einem kaum merklichen Schwanken am Umriß der Bewegung. Nicht aber bei diesem Tänzer. Restlos losgeschält ist seine Gebärde vom Möglichen. Jede durchdringt den SehendenII mit dem gläubigen Gefühl ihrer Notwendigkeit. Keiner vermag eine Variante, eine noch so nuancenhaft zarte Abweichung zur Seite gedacht zu werden. Um keine spielt der unsichere Schimmer der Anderheit. Notwendigkeit! Keine Verknüpfung III von Reiz und Reaktion, von Zweck und Erfüllung kann solch eine erzeugen. Denn dort allüberall ist noch ein Außen, eine Spaltung, eine Zweiheit von Leib und Welt, von Leib und Geist. Hier aber offenbart sich die einige Notwendigkeit eines Menschenleibes, dieses Menschenleibes, der nur von sich selber bestimmt, aus sich selber regiert ist und in dem es doch keine Willkür des Spiels, nur Sinn, nur Wesenheit gibt. O der spielende Leib dieses Tänzers, dessen Spiel Notwendigkeit ist! IV ** * I II III IV

H: maßlosen H: Zuschauer He: Korrelation Satz in H gestrichen.

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Ereignisse und Begegnungen

Aber dieses Spiel ist auch Äußerung. Freilich, keine seiner Gebärden bedeutet etwas anderes als sich selber. Keine weist auf etwas hin, das außer ihr ist, einen Gegenstand, eine Beziehung, ein Gefühl, auf irgendetwas von alledem, was die Gebärden des Menschen zu meinen pflegen. Keine weißt über sich hinaus. Sie wollen nichts anderes sein als die Abwandlung dieses Leibes. Wie von der umschwingenden Möglichkeit, so ist die Geste des Tänzers von der mitschwingenden Bedeutung befreit. Sie ist rein und grenzenhaft in ihrer Form, sie ist einsam und frei. Sie erinnert an nichts als einzig an die vorangehende, sie kündigt nichts an als einzig die nachfolgende. Sie lockt nicht das Gedächtnis, nicht die Phantasie, nicht die Empfindsamkeit, sondern den Blick; sie beglückt nichts einzelnes an uns, sondern unser ganzes, im Blick gesammeltes Bewegungssystem, das seine freigelassenen Vollkommenheit schaut. Sie hat das Wesen der äußernden Bewegung, ihren Charakter in sich aufgenommen; aber er läßt sich aus ihr nicht lösen und isolieren. Und doch ist dieser Tanz eine Äußerung. Er wäre es nicht, wenn er nur die Summe seiner Momente wäre, aber er ist etwas anderes. Er hat eine Linie, die nicht im Raum, sondern in der Zeit ist. Sie realisiert sich in keinem der Augenblicke; sie realisiert sich in ihrer Folge und Verbundenheit. Die Gesten dieses Tänzers mögen einzeln noch so sehr entzücken, sie sind wesentlich bedeutsam nicht in ihrer Einzelheit. Keine fällt hin, jede strömt in die nächste, und die bildhaftesten Haltungen sind nicht Endpunkte, sondern Knotenpunkte der Bewegung, nur die letzte ist, gesteigert oder verschwiegen I , unüberbietbarer Beschluß. Der Tänzer zeichnet den Umriß seines Gebildes nicht in den Raum, sondern in die Zeit. Wer, ihm folgend, mit Blick und Leben diese Linie nachzuziehen vermag, erkennt ihre schöpferische Strenge und Tugend. Sie ist nicht aus Bildern gemacht, sie ist ein einheitliches Bild in der Zeit, eine Ganzheit, undeutbar, unübersetzbar, einmalig und beziehungslos, dennoch äußernd. Aber die Wahrheit, die sie äußert, ist nicht zu sagen, nur zu erleben.II So äußert das Sinnbild.

I II

H: verklingend H: erfahren.

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Ereignisse und Begegnungen

Die Mysterien verraten, heißt, wie in der Sprache der antiken Griechen, so in der einiger »wilden« Völker sie »auszutanzen«.18 ** * Was ist es, daß den Menschen lehrte, den Antrieb des Spiels durch Rhythmus und Linie zu meistern und den Tanz zu stiften? Die Gebärden der Äußerung in den Tanz zu verflechten und sie anders zu koordinieren, als es zur Aussprache not tat? Die entscheidende Kraft im Werden des Tanzes war nicht Spiel, nicht Äußerung, sondern was beide bannt, beiden Gesetze gab: Magie. Das ist die Antwort an das chaotisch und maßlos einstürmende Geschehen durch die gebundene, gesetzmäßige, maßhafte Bewegung, durch die Bewegung als Gestalt. »Geregeltes Wort, geordnete Bewegung, Zauberspruch und Zaubergeste zwingen das dämonische Element in Regel und Ordnung.« I Das Gebundene bindet. Das Gebundene ist die Tat der Götter; die Menschen, die es tun, wirken das Göttliche. II In diesem Tänzer kehrt der tiefe Ursprung wieder: Bewegung als Gestalt, magisch geformte Zeit. Er befähigt ihn, der allen Trieb des Spiels und der Äußerung zu verschmelzen vermag, das Spiel von der umschwingenden Möglichkeit, die Äußerung von der mitschwingenden Bedeutung zu befreien; er baut aus einem Menschen unseres Geschlechts Mal um Mal das Sinnbild auf. ** * Franziskus hat dich unter seinen Geschwistern nicht angerufen, Bruder Leib. Wie sollte er auch, der ganz in dir geeinigt mit den Aussätzigen von einer Schüssel aß und dem der Traum der Kreuzigung an seinem Fleische ausbrach? 19 Er stand nie erschauernd vor deinem Angesicht, du dientest ihm als er selber, und er brauchte deiner Kehle sein Lied nicht zu befehlen, da es in ihr geboren ward. Aber ich Verspäteter, Verfrühter, Ab18. Der kaiserzeitliche Begriff heißt exórchesthai, »austanzen«, vgl. Epiktet, Unterredungen, 3. Buch, 21. Kapitel, Abschnitt 13. 19. Vgl. Der Blütenkranz des heiligen Franciscus von Assisi, Jena/Leipzig 1905, S. 65 (Aussätzige), S. 144-198 (Stigmatisierung). I II

Satz in H gestrichen. Die beiden durch Semikolon getrennten Sätze in H gestrichen, BL ers. »wirken« durch »bewegen«.

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Ereignisse und Begegnungen

getrennter, ich schaue und rufe dich an, Bruder Leib, und lobe dich mehr als Sonne und Wind, du mir fremder, du mir wundersamer als Sonne und Wind. I

Leistung und Dasein

»Ein merkwürdiger und reizvoller Mensch, Ihr Freund,« sagte der Professor, »aber was macht er eigentlich? Ich meine … auf geistigem Gebiet?«20 »Auf geistigem Gebiet …,« antwortete ich, »hm … auf geistigem Gebiet … ist er nur da.« »Wie meinen Sie das?« »Ja, seine bürgerliche Beschäftigung ist ja nicht gerade sehr geistiger Art, und von seiner Muße kann man nicht wohl behaupten, daß er daraus etwas machte.« »Aber seine Gedanken?« »Er begnügt sich zumeist mit Vorstellungen. Wenn sie sich zu einem Gedanken verbinden und verdichten wollen, ist er ihnen gern behilflich und freut sich, wenn dabei etwas Wirkliches zustande kommt. Zuweilen teilt er auch, wie jetzt eben, im Gespräch von diesen hellen und erfüllten Gebilden mit.« »Schreibt er denn nicht?« »Oh, er hat mir einmal, fast widerwillig, eingestanden, daß er mitunter, von einer Zeit zur andern, wenn auch die Gedanken sich ihm zusammenschließen, einige Zeilen in ein stilles Buch einträgt, um, wie er sagt, das Gewonnene nunmehr von allem nur M ö g li chen auszuscheiden.« »Dann wird er wohl einmal etwas Zusammenfassendes veröffentlichen« »Ich glaube nicht, daß er dergleichen vorhat. Er hat gar nicht das Bedürfnis zu andern Menschen als zu den Freunden, die ihm das Leben – er vertraut dem Leben wie ein Knabe – zugeführt hat, in Beziehung zu treten. Er sagte einmal, die einzige Dimension, die die Wanderung unendlich lohne, sei die der Intensität.« »Warum aber reden Sie, seine Freunde, ihm nicht zu, daß er seine Gedanken zusammenfasse und der Allgemeinheit übermittle? Ich habe davon genug gehört, um mit Bestimmtheit sagen zu können, daß sie wertvoll sind.« 20. Nach Bubers eigener Auskunft hat Georg Simmel für diese Figur Pate gestanden, vgl. in diesem Band, S. 34, Anm. 95. I

H streicht »du mir fremder, du mir wundersamer als Sonne und Wind«.

Ereignisse und Begegnungen

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»Wir fühlen, daß seine Person das Zusammenfassende ist und daß nur sie es sein kann. Und daß wir seine Vitalität, die uns mehr gilt als alle Bücher, beeinträchtigen würden, wenn wir sie veranlaßten, sich in Kapseln einzuspeichern, statt sich in unsre Seelen zu gießen, die Lebendiges mit Lebendigem und Form mit neuer Form I vergelten. Grade daß er nichts von sich hergibt, alles nur herleiht, um es verwandelt wiederzubekommen, und daß alles Seine ihm sodann in jungen Gesichtern, in jungen Gebärden, in jungen Worten II entgegenblüht, macht die Seligkeit seiner Mitteilung aus, die immer neue Schichten in ihm aufruft und belebt, ja ihn Mal um Mal erneuert. In der Sicherheit unsrer Blicke, im Schwung unsrer Spiele, in der Opferkraft unsrer Unternehmungen liest er die feurige Schrift seiner verwandelten Worte. Als einer aus unsrem Kreise gestorben war, merkte ich, daß unser Freund ihn in einer unsterblichen Sphäre weiterlas.« »Aber die Welt – Sie vergessen die Welt! Sie sprechen, als ob das Buch ein Ende wäre, wo es doch nur ein Sprachrohr ist, das unsere Stimme in unbekannte Ohren und Herzen trägt. Ich schreibe, was mir eingegeben ist, ich werfe es aus allem Persönlichen hinaus, mitten in den Wirbel des Marktes, und er führt es in die Lesesäle und in die lampenbeleuchteten Stuben, wo Menschen, die ich nie gesehen habe und nie sehen werde, meine Worte vernehmen – und wohl auch gar verstehen. Ist das nicht eine wundersameIII Mischung von Person und Unpersönlichkeit? Es ist ein Ding, das Buch, das dort draußen wirkt und wirbt, und doch ist es auch ich, und ich selber fliege so mir entrückt in alle Welt, in ferne Häuser und vielleicht auch in ferne Geschlechter, Menschensinn erhöhend, erfreuend, erzürnend, wer weiß, immer irgendwie erziehend. Diese tausendfältige Reise, dieser Sieg über alle Grenzen des Einzelseins, dieser Bund mit dem Unbekannten, das ist – allstündlich vom Nichtigen mißbraucht und doch in Ewigkeit nicht entweiht – der vorbestimmte Weg des Denkers.« »Ich kenne diesen Weg, da ich doch selber zuweilen ein Buch veröffentliche, ich kenne seine Freuden und seine Schauder – ja, seine Schauder, denn es ist etwas Unheimliches, zu wissen, daß die Gespenster meiner Gedanken in den Träumen verworrnerIV und unreiner Menschen stehen, verworren V und unrein wie sie; aber auch seine Freuden – ich weiß noch, wie es mir das Herz bewegte, als mir ein alter Imker schrieb, er habe mein I II III IV V

H streicht »und Form mit neuer Form«. H streicht «, in jungen Worten«. H: bedeutsame L: vager L: vag

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Ereignisse und Begegnungen

Buch auf einer Bank seines Gartens, Tage und Wochen I lang in guten Nachmittagsstunden, vom Kommen der Apfelblüte bis zu ihrem Schwinden gelesen. Und ich will auch, um völlig gerecht zu sein, mich auf die großen und bildnerischen Gaben besinnen, die ich selbst den Büchern verdanke. Nun fühle ich ganz, was sie sind. Und doch – gewaltiger, heiliger als alle Schrift ist die Gegenwart eines Menschen, der nicht anders als unmittelbar da ist. Er wird nicht durch das Sprachrohr eines Buches zu jenem sonderbaren Kreis gleichzeitiger und nachgeborener Hörer reden, den der Schriftsteller die Welt nennt; aber er hat ohne Mittel, von Mund zu Ohr, ja schweigend und überwältigend von Angesicht zu Auge und hingerissener Seele geredet, in der Zauberfülle des Miteinanderseins, in den Momenten der Botschaft, zu einigen Menschen, die er seine Freunde nennt – und die nun des Geistes voll sind, weil er ihnen seine Hand auflegte. Solches wird nie II ein Buch bewirken – und wo es Ähnliches tut, dann ist der erste Ursprung dieses Buches in dem Leben eines Menschen, der nicht anders als unmittelbar da war.« »So sollten denn alle, die nicht zur Freundschaft eine solchen Menschen gehören, von seiner Lehre ausgeschlossen bleiben?« »Ganz und gar nicht, da die durch die Lehre ihres Freundes Verwandelten doch samt und sonders Apostel sind – auch wenn sie nichts davon, nicht einmal den Namen des Lehrenden verkünden: als so Gewordene, als Verwandelte sind sie Apostel durch ihr Dasein und was immer sie tun, es ist kraft des Wesens der Lehre, das sich darin ausspricht, Apostolat. In dem Leben der Freunde, in dem Leben aller, die ihnen begegnen und so in ferne Geschlechter pflanzt sich das Unmittelbare fort. Bücher aus Blut und Feuer sind die Freunde; jeder, den sie berühren, wird zu einem Buch aus Blut und Feuer.« III »Sie wollen also, wenn ich Sie recht verstehe, die Produktion gewissermaßen als eine niedrigere Stufe des Daseins ansehen?« »Vielmehr, ich sehe sie überhaupt nur dann als Dasein an, wenn sie in der Unmittelbarkeit eines gelebten Lebens wurzelt. Wenn der Mensch, den Sie den Produktiven nennen, der sich in Werken äußernde Mensch, dem sich nur in seinem Leben äußernden an Gewalt, an Heiligkeit nachsteht, so hat er doch, wofern er nur im Unmittelbaren gegründet ist, vor jenem die edle Kraft des Formwerdens voraus. Jener ist wie der Gott vor der Weltschöpfung, dieser wie der Gott, der sich zur Welt beschränkt. IV Aber denken Sie bei den sich zur Form beschränkenden Wesen, die ströI II III IV

H: eine Woche H: kaum je Die beiden durch Semikolon getrennten Sätze in H gestrichen. Satz in H gestrichen.

Ereignisse und Begegnungen

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mend lebendige Potenz fort, und statt des Gottes I steht ein maskengewandter Kobold, der sich nicht gestalten, sich nur als Gestalt verstellen kann. Nein, was ich vom unmittelbaren Menschen sagte, war nicht gegen den produktiven gesagt, sondern gegen den in unserer Zeit herrschenden Aberglauben, die Leistung sei das Kriterium der Menschenwertung. Aber illegitime Leistung, Leistung ohne Unmittelbarkeit ist kein Kriterium, weil sie keine Realität ist, sondern ein Blendwerk – und ich glaube an das unbedingte Auge, vor dem sie nicht einen Nu lang bestehen kann. Kriterium vermag einzig das zu sein, woraus die echte Leistung kommt: das Unmittelbare.« »Gewiß, der Mensch kann nur danach beurteilt werden, wie er ist. Aber gehört nicht, wie sein Tun, auch sein Machen mit zu seinem Sein?« »Ja, wenn es ein Organ, nein, wenn es eine Wucherung ist. Die Geschicklichkeit hat so überhand genommen, daß das Fiktive sich den Rang des Realsten anmaßen darf. Und die Überschätzung der Leistung, die unsere Zeit heimgesucht hat, ihr pantechnischer Blick ist zu so wahnwitziger Ausschließlichkeit gediehen, daß es schon Leistende gibt, die ihr Organ zur Wucherung entarten lassen, um der Forderung des Tages genug zu tun. Was die andern, die Betrüger von Geburt, niemals hatten, das geben sie preis: den Wurzelboden eines wahrhaft gelebten Lebens. Sie meinen, wollen, zuletzt enthalten sie nichts anders als Leistung. Zu einem natürlichen Hervorbringen in stufenhafter Auslese von Erlebnissen zu Gedanken, von Gedanken zu Worten, von Worten zur Schrift, von Schrift zu öffentlicher Mitteilung berufen, plagen sie sich ab, um alles Erleben zu öffentlicher Mitteilung zu verwerten, sie entsagen der Notwendigkeit und verschreiben sich der Willkür, Sie vergiften das Erlebnis, weil sie schon in seinem Werden das Machenwollen walten lassen. So schänden sie ihr Leben und werden um den Lohn ihrer Schande geprellt; denn wie sollten II sie anderes erzeugen als Künstliches und Bestandloses? Sie büßen beides ein, Leben und Werk, und das einzige, was sie ernten, ist der Beifall der leistungsseligen Zeitgenossen.« »Es will mir doch aber scheinen, das Machenwollen mische sich rechtmäßigerweise in das Erleben jedes produktiven Menschen. So ist der Maler der Mensch, der mit allen Sinnen malt: sein Sehen ist ein Malen, denn er sieht ein Ding nicht als einer, der es aufnimmt, sondern als einer, der es – zweidimensional gesteigert – m acht , und dieses Machen setzt nicht erst später ein, sondern schon in seinem Sehen; aber auch sein Hören, sein Riechen sind ein Malen, denn sie bereichern ihm nur die malerische I II

H: vor uns H: wollten

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Ereignisse und Begegnungen

«,Machbarkeit« des Dinges, sie geben ihm nicht bloße Reize, sondern Anreize. Ebenso ist der Dichter der Mensch, der mit allen Sinnen dichtet; in jedem seiner Erlebnisse kündigt sich schon die Form an, die es umprägen wird, sein Wahrnehmen schon ist ein Verwandeln der Dinge in Dichtbarkeiten, und jeder Eindruck stellt sich ihm schon im Werden als ein Ausdruck rhythmischer Gesetzmäßigkeiten dar.« »Dem ist wohl so. Aber dieses motorische Element, das Sie im Erleben des produktiven finden, ist kein Machenwollen, sondern ein Machenkönnen. Es ist die Formbarkeit des Erlebnisses, die auch für den nichtkünstlerischen Menschen in allem mitschwingt, was ihm widerfährt, und der er Folge gibt, sooft er ein Bild aus dem Strom des Empfindens hebt und es als ein einsames, abgegrenztes, in sich selber bedeutendes seinem Gedächtnis eintut. Bei dem schöpferischen Menschen ist diese Formbarkeit eine spezifische, auf die Sprache seiner besonderen Fähigkeit gerichtete; wenn sich darin eine Absicht äußert, so ist es die seines Genius, nicht die seiner Bewußtheit; das motorische Element seines Erlebens rührt dessen Ganzheit und Reinheit nicht an. Anders ist es, wenn er im Empfinden schon die Absicht der Ausnützung hegt. Dann verstört er das Erlebnis, verkrümmt dessen Wuchs und verdirbt die Säfte des Werdens, denn tauglich wachsen und gesunde Frucht tragen kann nur das Unwillkürliche. Wer so stark und formhaft erlebt, daß das Erfahrene sich zum Gebilde zusammenschließt, das hinausgestellt werden will, ist legitim, und es ist sein Beruf, nunmehr mit allem Bewußtsein seiner Kunst am Werk zu arbeiten. Aber wer die Fülle des Wahrnehmen nicht gewähren, die innere Auslese und Formwerdung nicht walten läßt, sondern in den Anbeginn seinen Zweck einstellt und danach disponiert, hat seinen Sinn, den über allen Zwecken ruhenden, verwirkt. Und wer den Menschen mit doppeltem Blick begegnet, dem offenen und zur Offenheit auffordernden des Mitlebenden und dem verhohlenen des zweckbewußten Beobachters, wer in der Menschlichkeit, in der Freundschaft, in der Liebe gespalten ist in einen, der sich dem Gefühl ergibt, und in einen andern, der schon dabei ist, es auszupressen, den wird kein Talent von dem Siechtum erlösen, das er über sich und sein Werk brachte, als er den Brunnen seines Lebens vergiftete.« »Sie möchten also das ethische Prinzip, das aus der Ästhetik zu verbannen uns endlich gelungen ist, wieder in sie einführen?« »Was aus der Ästhetik verbannt wurde, war eine zur Rhetorik entartete und dadurch unwahr gewordene Ideologie. So war es eine Eroberung sicheren Bodens, als man die Einsicht durchgesetzt hatte, ein Kunstwerk sei nicht nach seiner Beziehung zu Strebungen oder Gedanken, sondern nach seinen Qualitäten zu bewerten, zu billigen oder zu verwerfen. Jetzt

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erst dürfen wir, ohne Mißverständnis zu erregen, nach der größeren Einsicht langen: daß diese Billigung nur den Einlaß in den äußeren Ring gewährt, in dem inneren aber von je allein die Werke stehen, die den Sinn der Welt I gestaltet haben. Und ebenso war es Klärung und Festigung als man erkannte, daß die Bedeutung eines Künstlers nicht von seiner Moral abhängt; jetzt erst kann uns die tiefere Klärung erstehen, daß im inneren Werden Herrschaft und Entscheidung einzig dem Künstler zufällt, der seines Werkes würdig ist.« II

Der Dämon im Traum Doch nichts Ungeheuerer, als der Mensch.III 21

»Was siehst du?« fragte der Dämon im Traum. »Eine sehr lange Mauer,« sagte ich. »Das ist,« erklärte er, »die Grenzmauer zwischen dem Land der Dinge und dem Land der Gedanken. Auf dieser Mauer leben wir. Sie kommt dir schmal vor, nicht wahr, und nicht recht wohnlich? Aber für uns ist sie breit und bequem genug. Und wir haben eben auch unsere Heimatsgefühle. Ja, ich möchte mir erlauben zu vermuten, daß sie besser sind als eure, die ihr euch in beiden Ländern heimisch glaubt und es in keinem seid. Überhaupt ihr Menschen! Da tut ihr doch so, als sei diese Mauer nur eine Grenze und im übrigen gewissermaßen gar nicht da, und als könne man auf ihr weder hocken, wie ich jetzt eben drauf hocke, noch tanzen, wie du mich vor einem Augenblick drauf tanzen sahst. Daß ihr so törichtes Zeug meint, das kommt daher, weil ihr nichts von uns wißt. Und wenn man von uns nichts weiß, wie soll man da etwas von der Welt und gar von dem subtilsten ihrer Reiche, von dieser Mauer wissen? Ihr wißt nichts von uns. Ihr »ahnt« nur etwas. Ach, eure Ahnungen! Sie tun allem Seiendem Ekel an, Dingen und Gedanken und Dämonen. Da schießt so ein schleimiger Fangarm aus dem Dunkel an dich heran, an dir vorbei, pfui, Mensch, wie unappetitlich. Ich wollte doch lieber ein krasser

21. Sophokles, Antigone, Verse 332 f. (1. Chorlied). I II III

H: des Seins L: würdig ist: nicht durch Gefolgschaft irgendeiner Moral, aber durch ein echtes und unmittelbares Leben.« H streicht Motto.

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Ereignisse und Begegnungen

Baumstrunk sein, und nur das Nötige erfahren, als ein ahnungsvolles Wesen wie ihr. Ihr ahnt uns also. Aber wir wissen euch, bis auf den Grund und über den Grund hinaus. Wir wissen euch besser, als wir sonst etwas wissen, und in einer anderen Weise. Ihr seid uns aber auch wichtiger als sonst etwas. Ja, ich gestehe es ungern, wir sind geradezu auf euch angewiesen. Denn wir leben von euch. Wir können die Kraft der Welt nur aus euch aufnehmen. Wir können alle Dinge nur durch euch genießen, Euer Erlebnis ist unsere Speise, und wir haben keine andre. Je stärker ihr lebt, desto stärker genießen wir. Was ihr lebt, geht uns nicht tief an; gleich gilt uns an euch Jubel und Zorn, Sünde und Heiligkeit, Heldentum und Verzweiflung. Aber ob ihr es stark oder schwach lebt, darauf kommt es uns an. Eure Mäßigkeit I ist ein magerer Brocken und eure Mäßigung II ein harter, der im Halse stecken bleibt. Aber wo so ein Kerl sich über die Welt entsetzt und wider sie anrennt und all ihre Begütigungen überrast und an der Wand der großen Stumpfheit zerschellt – oder wo so ein Kerl sich ingrimmig verliebt und holt immer neue und neue Kräfte aus seiner Maßlosigkeit hervor und läßt sie zu Verliebtheit werden, bis er wie ein hundertfältiges Feuerrad um die geträumte Achse kreist und in einem seligen Rauche aufprasselt: da schwelgen, da gedeihen wir. Was ihr Inhalte nennt, das ist für uns nur eine bunte Abwechslung, eine angenehme Würze, nicht mehr. Es fällt uns nicht bei, einen Inhalt einem anderen vorzuziehen. Ob ihr Wollust oder Politik, Geschäft oder Barmherzigkeit mit Leidenschaft treibt, das betrifft unseren Genuß nicht, es spielt nur um ihn. Aber wie kräftig eure Leidenschaft ist, daran hangen wir. Ihr habt auch zu jedem Ja ein Nein und zu jedem Wert einen Unwert und Übergänge geschichtet von einem zum anderen, und das Ja nennt ihr gut und das Nein böse, oder umgekehrt, und kümmert euch sehr darum, ob eure Leidenschaft auf der Seite des Ja oder des Nein ist. Aber uns interessiert all das nicht allzu sehr. Die Gaukelei macht uns Spaß, aber ich versichere dir, daß wir einen würdigen und gemessenen Edelmut unserer Achtung nicht anders zu bezeigen vermögen, als daß wir ihn nicht anrühren. Nun mußt du aber nicht meinen, daß wir uns hier auf dieser Mauer vergnügen und behaglich zuwarten, was an erregter Menschengewalt zu uns aufsteigt. Da hätten wir ein karges Leben! Denn ihr seid gewohnt, den »Gang der Dinge« gewähren und die Möglichkeiten in euch Möglichkeit I II

H: Mäßigung H: Mäßigkeit

Ereignisse und Begegnungen

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bleiben zu lassen. Es ist anstrengend und unerquicklich, denkt ihr, alles aus sich herzugeben, und nicht einmal schön. So würdet ihr eure Chancen verschlafen, wenn wir nicht wären. Wir steigen zu euch nieder, wir werden zu Dingen oder zu Gedanken, um nicht aufzufallen, wir mischen uns unter euch und – wir ›versuchen‹ euch. Eine humoristische Ausdrucksweise! Erst versuchen wir die Speise, und wenn wir sie fad finden, machen wir uns an die ›Versuchung… damit die Speise schmackhaft wird. Wir hetzen eure Leidenschaft aus ihren Schlupfwinkeln auf. Wir blasen euer Fühlenkönnen zum Fühlen an. Wir aktualisieren euch. Natürlich um unsertwillen; aber gib mir zu, daß nebenbei was aus euch wird, während sonst –! Es gibt allerlei Leute unter euch, die sich einbilden, man werde nur zur Sünde versucht. Das liegt an ihnen, mein Lieber: weil sie eben keine andere Kunst in sich ruhen haben als zu dem, was sie Sünde nennen. Aber in Wahrheit sind wir gar nicht spezialisiert: wir wollen, daß eurer Potentia Actus werde, nichts weiter; auf eure Spitzfindigkeiten lassen wir uns nicht ein. Freilich, auch wir haben, ich darf es dir nicht verhehlen, unser schmerzliches Kapitel. Wir vertun uns in den Versuchungen. Menschen versuchen ist kein Kinderspiel. In jede neue Unternehmung springen wir kopfüber hinein, und sie verschlingt uns mit allem, was wir haben und vermögen. Wir können wohl sagen, daß wir uns selber einsetzen; das magst du so wörtlich verstehen, wie du willst, du wirst es immer noch nicht wörtlich genug verstanden haben. Nun ja, dann kommt der Genuß; aber auch der ist exklusiv und unerbittlich. Und wenn wir mit ihm fertig sind, sinken wir in uns zusammen. Das ist nicht wie euer Schlaf; es ist ein Zerstieben, Zersprühen, Weggewischtwerden. Es dauert, bis die Lust zu neuem Genuß über uns kommt und uns einsammelt. Da kannst du dir wohl denken, wie viel Zusammenhang in unserem Leben ist. Kaum daß von einem Abenteuer zum nächsten ein vages Bild im Gedächtnis verharrt! Wir fangen gleichsam immer wieder von neuem zu leben an; und es sieht ja auch immer wieder so aus, als ob es sich gewaltig verlohne, – aber das ist immerhin eine Streitfrage. Wir fangen also immer wieder gleichsam von neuem an, aber an einen richtigen Anfang unseres Lebens können wir uns nicht erinnern. Ja, es will mir ernstlich scheinen, als hätten wir das in der Tat nicht, was man einen richtigen Anfang nennen möchte. Zuweilen kommt mir ein dumpfes Gefühl, als sei ich immer schon dagewesen. Aber ein Ende haben wir, das ist gewiß. Einmal kommt ein letzter Genuß, der mich verschlingt und nicht wieder herausgibt. Und bis dahin – ! Wohl, es ist eine melancholische Glückseligkeit, ich kann es nicht leugnen.

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Und einmal hat es auch einen unter uns gegeben, der … Menschlein, ich will es dir erzählen, obgleich ich dir kaum den ganzen Verstand dafür zutraue, denn es ist eine Geschichte mit langen Wurzeln, – aber du hast eine gute Art, einen anzusehen, wie wenn du … gleichviel! Der also war unzufrieden. Er sehnte sich nach Zusammenhang. Augenblicke – es widerte ihn vor Augenblicken, wenn man nicht aus einem in den anderen aufrecht gehen konnte; aber da lag man und war weniger da als ein besoffener Mensch! Er wollte diesen närrischen Rhythmus von Macht und Hinfälligkeit nicht länger mitmachen. Nun mußt du nicht glauben, er hätte sich betragen wie eure berühmten Rebellen und irgendeinen Gott harangiert. 22 Als er gemerkt hatte, daß er nunmehr nicht länger mitmachen wollte, stand er auf und machte einen Schritt aus der Zeit hinaus. Drüben setzte er sich wieder hin. Da saß er nun und wurde von dem ganzen Spiel nicht mehr angerührt. Es gab keinen Genuß, aber auch keine Leere mehr – denn wo die Zeit nicht mehr pocht, da ist keine Leere, sondern die Gestalt der Stille. Und er, der unzufrieden gewesen war, wuchs an Kraft, an Bindung, an Dauer. Er setzte Sicherheit an wie Jahresringe. Die Macht wurde immer fester in ihm, bis er inneward, sie konnte nicht mehr erschlaffen. Nun war er ganz bei sich, und ihn dünkte, daß die Welt ganz bei ihm sei. Du hättest ihn sehen sollen, wie er in die Zeit zurücktrat! Er begann wieder die Menschen zu versuchen. Aber weil seine Kraft so groß geworden war, trieb jede seiner Versuchungen einen Menschen in sein Äußerstes. Ein Vermögen dieses Menschen wurde zum Äußersten gesteigert, ein Verlangen zum Äußersten gespannt. Und das Äußerste des Menschen, das ist, du weißt es ja wohl, ein wunderliches Ding. Man sagt, es gibt wenige Dinge, die so wunderlich sind. Das Äußerste des Menschen schafft. Das ist eine gefährliche Tätigkeit. Es schafft Art, Wesen, Unsterblichkeit. Es reißt den Menschen in Wahnsinn und Vernichtung, aber es schafft den äußersten Moment zur Ewigkeit um. Und es kann durch unseren Genuß nicht ausgeschöpft werden, seine tiefe Süßigkeit bleibt ungekostet, der ewig unzugängliche Rest. Er, der zurückgekehrt war, hätte diesen Rest zum Trotz genießen können, ehe er aus der Zeit getreten war. Nun konnte er es nicht mehr. Nun war unter den Händen der Stille etwas in ihm geworden, das größer war als der Genuß: er spürte das Unausschöpfbare sich gegenüber, er litt, er glühte. Er war nicht mehr der unzufriedene Herr wie zuvor, er war unselig und gebannt. Und er wurde immer unseliger, je höher auf der Leiter 22. Harang[u]ieren, vom frz. haranguer: eine langweilige, überflüssige Rede halten, jemanden mit einer Rede oder Unterhaltung langweilen.

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des Schöpferischen seine Versuchungen langten. Seine Kraft, seine Fähigkeit zum Genuß erlahmte nicht, sie wuchs noch von Mal zu Mal, ohne je zu erschlaffen; er ging aufrecht aus einem Abenteuer in das nächste; aber von Mal zu Mal fühlte er immer brennender den Rest. Immer läppischer erschien ihm der Genuß, der sich nur an der Intensität sättigen kann; immer gewaltiger verlangte es ihn nach dem Schauen. Den Rest fassen, die Qualität ergründen, sich des Schaffens bemächtigen, schauen! Aber schauen kann ein Dämon so wenig, wie er schaffen kann. Und während auf Erden das große Spiel meines Bruders ungeheure Verzückungen, ungeheure Triumphe, ungeheure Untergänge entzündete und die emporgetriebene Menschenseele ihre höchsten Taten tat, während ein riesenhaftes Brandopfer aus Aufruhr und Schönheit, Tyrannei und Gnade zum Versucher aufstieg, erkannte er: ›Was ich genieße, ist nicht das Wesen; das Wesen ist mir entrückt; das Wesen ist diesem kleinen Menschen gegeben, mit dem ich spiele; indem ich mit ihm spiele, rufe ich in ihm das Wesen empor, mache ich in ihm das Wesen lebendig.‹ Und es erwachte aus ihm: ›Ich will Mensch werden: Mensch, Spielzeug, Werk – ich will Unsterblichkeit – ich will die schaffende Seele!‹ Denn Unsterblichkeit, das merkte er, ist nichts anderes als die schaffende Seele.« Der Dämon in meinem Traum hatte sich verwandelt. Sein Grinsen war zu einem unbeholfenen Lächeln geworden, wie das erste Lächeln eines Menschenkindes, und seine erst schnarrende Stimme tönte nun wie die Stimme der Winzer, die ich einst die uralte Totenweise zu Worten eines Ernteliedes singen hörte. Da aber lockerte sich der Schlaf und die verschlungnen Welten entglitten einander. Der Augenblick I An das Gleichzeitige

Gewalt, einbrechende Gewalt des Gleichzeitigen! Einst saß ich in der stahlblauen Einsamkeit meiner Abende, da öffnete ich das Fenster, und herein geflogen kamst du, anzusehn wie ein mondfarbner Vogel, mit Furchtbarem und Süßem beladen, und ich fühlte: in diesem Augenblick … Die Zeiten entwichen ins Unfaßbare, aber den Raum, den Erdraum dieses Augenblicks legtest du wie ein Wollknäuel an meine Brust, und ich atmete die Träume fernster Wesen, Regungen unbekannter Kreaturen versammelten sich in meiner Kehle, und in meiI

Zwischentitel »Der Augenblick« nur in EA u. 2. Aufl.

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Ereignisse und Begegnungen

nem Blute mischten sich die Elemente der Seelen. Die Gegenwart war in mich getreten als eine Musik aus Spannung, Trieb und Aufschwung der Lebendigen, und der Unendlichkeit dieses Augenblicks standhaltend, wußte ich nicht, ob sie mich, ob ich sie regierte, nur daß sie gebunden, zu leibhafter Musik gebunden war. Dann aber wußte ich wieder: als ich mich zutiefst besinnend dich gehen hieß, Gewalt des Gleichzeitigen, und du hobst dich hinweg wie ein mondfarbner Vogel, mit entlasteten Flügeln, und ich schloß mein Fenster und fühlte den Glockenschlag »Alle Zeit« durch mein Herz gehen. Nun waren sie wieder bei mir, Laotse der Alte und der goldne Platon, und mit ihnen, verschwistert, die ganze Gegenwart. Und wie auf der Kreuzigung des Frate Angelico die Gläubigen vieler Zeitalter dem Ereignis beiwohnen und es kraft ihres Beisammenseins dem Verlauf nicht mehr angehört, so ist je und je, wo die Zeiten sich vereinigen, das Zeitlose nahe. Jetzt aber, jetzt schlägst du mein Fenster ein, jetzt stürzest du dich auf mich, Raubadler, Verhängnis, einbrechende I Gewalt des Gleichzeitigen, die Zeite entfliehen vor deinem Sausen, und du wirfst den Erdraum dieses Augenblicks wie einen Feuerbrand an meine Brust. Aus deinem Feuerbrand gießt sich das Geschehen in mein Blut, Stoßwucht und Starrkrampf, Ruf und Röcheln, und das Lächeln eines Mundes über dem zermalmtem Leibe. Wo werden sich diese zur Musik binden, wo, wo, in welchem Gelaß der Aeonen? Wo wohnt ihre Versöhnung, wo schläft ihr Gesang, wo birgt sich das Geheimnis des Meisters? Wie halte ich der Unendlichkeit dieses Augenblicks stand? – Aber nie wieder, o Augenblick, o einbrechende II Gewalt des Gleichzeitigen, nie werde ich dich gehen heißen. Du sollst bei mir bleiben und niemand soll dich verlöschen, sondern deines Feuers Beute und Fraß will ich sein alle Stunden meines Lebens. Aus deinem Feuer gebiert sich das Licht und nirgendwo gebiert sich das Licht denn aus deinem Feuer. Ich verbrenne an dir, aber ich verbrenne zu Licht. Werde ich die Seligkeit jenes Glockenschlags je vergessen? Aber ich verlange nie wieder nach ihr, nun dein Toben mich heimgesucht hat, du Unseliger! Mag, wo die Zeiten sich vereinigen, das Zeitlose nahe sein, ich habe gefunden, was größer ist, in der unerbittlichen Wahrheit des Augenblicks, der das Morgende tun heißt. Diese Wunden und diese Schreie, die du mir zugebracht hast, Gewalt des Gleichzeitigen, diese Wunden leuchten, diese Schreie predigen, und das irre Verhängnis hilft der ringenden Ewigkeit. I II

H: eindringende H: eindringende

Pescara, an einem Augustmorgen. Berlin, nach der Heimkehr I

Pescara, an einem Augustmorgen

Scheinbar wird uns von den Ereignissen die Ohnmacht des Geistes demonstriert, aber in Wahrheit können sie alle zuletzt nicht anders als dem Geist zu dienen. Heute Nacht weckten mich Kanonenschüsse vom Meer her, ich stand am Fenster über dem urweltlich stillen Strand und hörte das Rollen aus der ungewissen Ferne herüber, ich wußte nicht, »was« es war – ein Gefecht zwischen deutschen und englischen Schiffen? – nur daß es Vernichtung war, weithin nach allen Seiten Vernichtung, und – Reinigung des Geistes. Es riß mich aus meinen Grenzen, trug mich mitten in den Kampf, ich lebte einen Augenblick zerschmettert und befrei t . Und jetzt fühle ich immerzu das eine, daß der Geist all dies nicht über sich ergehen läßt: daß er all dies als seinen Weg zu sich meint und will. Er ist es, der in diese Taufe tritt. Und wir: als den flüchtigen Menschen, die sterben sehen und mitsterben, ist uns alles Grauen und die Todespein tausendfältig zugeteilt, aber als seine Glieder wissen wir uns von ihm geführt und durch und durch unsterblich.

Berlin, nach der Heimkehr

Berlin zeigt mir endlich sein Gesicht, ein menschliches und bedeutendes. Endlich gibt es seine Größe kund, die bisher hinter seiner Häßlichkeit verschwand; auch diese lernt man nun lieben, denn beide gehören zusammen. Wenn ich durch die Straßen gehe, erkenne ich, stärker wohl als ich es auf dem Schlachtfeld selber vermöchte, die dreifache gegenwärtige Wirklichkeit: die Pflugschar, das aufgewühlte Erdreich und den kommenden Samen. Ich sehe, tief unter allen Absichten und Aktionen und unendlich wirklicher als sie, die Bereitung. II Kinesis, Bewegung: so nannten Griechen den Übergang von der ruhen-

I II

R: Richtung soll kommen! Von Martin Buber. R streicht »Heute Nacht – die Bereitung«.

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den zur wirkenden Kraft, vom Seinkönnen zum Sein. 1 Das Zeitalter der Kinesis, in das wir getreten sind, hat nicht mit diesem Krieg begonnen, es wird in ihm nur manifest. Dies ist das Zeitalter, in dem die Seele des Menschen nicht mehr stockt und starrt, sondern sich ins Äußerste der Tat ausschwingt; in dem die Tat des Menschen nicht mehr von einem Getriebe vieler kleinen Zwecke eingepreßt ist, sondern ihre Freiheit und ihre Vollendung gewinnt im Opfer. Nicht wie der Wert benannt wird, dem das Opfer sich weiht, ist die innere Wahrheit des Ereignisses, sondern daß die Menschen für ihn sterben wollen. Nicht in ihrem Bekenntnis: in ihrer Hingabe gibt sich das Göttliche kund. Sie werfen das Vertraute, das Sichere, das Bedingte hin, um sich in den Abgrund des Unbedingten zu stürzen. Und eben dies, daß sie es tun, ist die Offenbarung des Unbedingten in einer Zeit, die von ihm verlassen schien. Dessen haben wir uns in den Schrecken und bittern Schmerzen dieses Tages zu freuen. Es ist eine furchtbare Gnade; es ist die Gnade der neuen Geburt. Auch wer den Krieg verdammt, darf sein Ohr dem Brausen der Kinesis nicht schließen. Unsere Sache ist, daß es über ihn hinaus anschwelle und die Gewalt des neuen Aeons werde – Verwirklichung. Die Menschen werden tiefer aufgerüttelt als sie selber merken, und was sie in diesem Krieg wiedergewinnen, die Rückhaltlosigkeit des tuenden Wesens, werden sie in ganz anderen Kriegen zu bewähren haben. Morgen – morgen haben wir die Richtung zu weisen. Richtung ohne Kinesis war lahm, aber Kinesis ohne Richtung ist blind. An uns wird es sein, sie sehend zu machen. Nach diesem Krieg beginnt die große Aufgabe, beginnt die hohe Zeit des Geistes. Bewegung ist, alle Grenzen überrennend; Richtung soll kommen. O ihr, denen sie kund ist – wenn ihr sie nicht kündetet! Noch waltet die Pflugschar ihres Werks; aber dann harrt das Land, in jeder Scholle erschüttert: Same soll fallen. O ihr Bewahrer des rechten Korns – wenn ihr nicht ausgingt es zu säen! Die Zeit des Opferns ist angebrochen; aber morgen soll das oberste Opfer geschehen, das ent schei d et . O ihr vom Geist Berufenen – wenn ihr es nicht darbrächtet! Euch mehr als allen, morgen aber mehr als heute gilt das Wort: Wer sein Leben liebt, wird es verlieren. 2

1. 2.

Vgl. Aristoteles, Physik, 201a-b. Joh 12,25.

Bücher, die jetzt und immer zu lesen sind

Um die Struktur und das Getriebe des Krieges zu überschauen: CLAUSEWITZ, VOM KRIEGE, das klassische deutsche Werk. 1 Um tiefer zu begreifen, was der Krieg mit der Menschenseele zu schaffen hat: MALORYS LA MORTE D’ARTHUR 2 , der schönste alte Kriegerroman, einfältig und unbeirrt, leuchtend von Abenteuer und Bewährung, das Bekenntnis des Rittertums in bildgewaltige Erzählung eingeschaffen. TOLSTOJS KRIEG UND FRIEDEN, der weiseste neue Kriegsroman, von zuverlässiger Menschlichkeit und schon durch die baumeisterliche Bindung von Nah- und Fernsicht unvergleichlich erzieherisch.3 STENDHALS LA CHARTREUSE DE PARME, der Roman der rückhaltslos handelnden Menschen, und darin die nüchtern-sublime Schilderung der Schlacht bei Waterloo aus dem Blick des ahnungslosen Kombattanten. 4 DE COSTERS ULENSPIEGEL, worin sich dem unbefangenen Erlebnis das schmerzenreichste Herz dieser Tage, das Herz Flanderns, im dauernden Sinn seiner Art und seines Schicksals auftut. 5 Um reiner zu erfassen, was der deutsche Krieg mit dem Geist des deutschen Menschen zu schaffen hat: HÖLDERLINS HYPERION, die größte dichterische Urkunde träumenden und kämpfenden Deutschtums. 6

1. 2.

3. 4. 5. 6.

C. v. Clausewitz, Vom Kriege, Berlin 1832-34. Sir T. Malory, Der Tod Arthurs (gedruckt 1485). [Anm. Buber:] Eine vortreffliche Übertragung (von Hedwig Lachmann) ist im Inselverlag erschienen [= Dies edle und freudenreiche Buch heisset Der Tod Arthurs, obzwar es handelt von Geburt, Leben und Taten des genannten Königs Arthur, 3 Bde., Leipzig 1918]. L. N. Tolstoj, Krieg und Frieden, Leipzig 1901. Stendhal, Die Kartause von Parma, Jena 1906. C. de Coster, Uilenspiegel und Lamme Goedzah, Leipzig 1910. F. Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, Tübingen 1797-99.

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KLEIST’S PRINZ FRIEDRICH VON HOMBURG, der edelste Versuch einer dichterischen Synthese und Verklärung preußischen Wesens.7 EIN BUCH ÜBER FRIEDRICH DEN GROSSEN (EYSSENHARDTS Sammlung 8 ist zu empfehlen) als die eherne Säule, daran das Gegenwärtige sich messen muß, um seinen Wuchs zu erweisen. FICHTES REDEN AN DIE DEUTSCHE NATION, die festeste Ideologie des Volkstums, zur Bestätigung und zur Warnung gleicherweise bedeutsam. 9 Um aber sich dahin entschwingen zu können, wo deutscher Geist von allem Krieg und aller Geschichte gelöst in seiner Vollendung ruht: MEISTER ECKHARTS PREDIGTEN UND TRAKTATE. 10

7. H. v. Kleist, Prinz Friedrich von Homburg, Berlin 1821. 8. [Anm. Buber:] Friedrich der Große. Denkwürdigkeiten aus seinem Leben (bei Grunow erschienen). [= Friedrich der Große, Denkwürdigkeiten aus seinem Leben nach seinen Schriften, seinem Briefwechsel und den Berichten seiner Zeitgenossen, zusammengestellt von Franz Eyssenhardt, Leipzig 1910, 2. Aufl. neubearb. u. ergänzt von Georg Winter.] 9. J. G. Fichte, Reden an die deutsche Nation, Berlin 1808. 10. Meister Eckeharts Schriften und Predigten, aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt und herausgegeben von Hermann Büttner, Bd. 1, Leipzig 1903, Bd. 2, Jena 1909. Meister Eckharts Mystische Schriften, in unsere Sprache übertragen von Gustav Landauer, Berlin 1903.

Bewegung Aus einem Brief an einen Holländer 1 I

1.

[Anm. Buber:] Geschrieben Mitte September. Es handelt sich um einen Brief an Frederik van Eeden.

I

B I: Lieber Dr. van Eeden – Wenn ich jetzt – ich finde erst jetzt die äußere und innere Muße dazu – darangehe, Ihre Briefe und Sendungen zu beantworten, so glaube ich, von einem Eingehen auf den gedruckten Artikel, den Sie mir zweimal schickten, absehen zu sollen. Was in dieser Zeit am gefährlichsten ist, sind nicht die Lügen, sondern die Teilwahrheiten. Der Artikel ist auf Teilwahrheiten aufgebaut. Man darf nicht von dem Bruch der belgischen Neutralität durch Deutschland reden und das nachweisliche Faktum verschweigen, daß Belgien mit Frankreich und England eine gegen Deutschland gerichtete Militärkonvention geschlossen hatte; man darf nicht in allgemeinen Wendungen von Löwen reden, ohne aufgrund sorgfältiger Tatsachenprüfung zu berichten, was geschehen ist, und warum es geschehen ist; man darf nicht von den Franctireurs reden, als ob sie lediglich die Freiheit ihres Landes verteidigt hätten, und dem Leser vorenthalten, daß (ich spreche nicht aus Zeitungen, sondern aus persönlichem Wissen, aber auch Sie und Ihre Freunde müßten es wissen) belgische Frauen sich damit vergnügt haben, verwundeten deutschen Soldaten die Augen auszustoßen und die von den Uniformen abgerissenen Knöpfe hineinzudrücken. Ich erhebe keine Anklage gegen das belgische Volk; ich bin dazu da, empörtes Volk zu verstehen, auch wenn es sich gegen alle Menschlichkeit vergeht; aber ich klage die an, die diese Empörung durch Lügennachrichten geschürt haben, und ich protestiere dagegen, daß, wo alle schuldig und unschuldig sind, Deutschlands Schuld und die Unschuld der andern proklamiert wird. Daß von deutscher Seite über die Gegner geschimpft wird, halte ich für verwerflich. Wer Partei ist, kann nicht Richter sein; er hat zu kämpfen, nicht zu urteilen; und das Kriegsgeschrei taugt nur in den Zeiten, da man noch an dessen magische Kraft glaubte. In unserer Zeit sollte es zu einer anständigen Kriegsführung gehören, die Legitimität des Feindes zu erkennen und anzuerkennen; den Feind herabsetzen heißt den eigenen Kampf herabsetzen. Aber es ist immerhin bemerkenswert, daß das deutsche Schimpfen sich in seiner Derbheit und Ränkelosigkeit geradezu kindlich ausnimmt, wenn man die ungeheuerliche Verleumdungsflut insbesondere der französischen, aber auch einiger englischen Blätter (ich lese, soweit als möglich, die Äußerungen aller interessierten Völker) daneben hält; hier ist eine Lust am Lügen, eine Lust am Erniedrigen des Feindes offenbar, die mich in meinem innersten Menschengefühl beleidigt. Ich sagte, es tue not, die Legitimität des Feindes zu erkennen und anzuerkennen. Allerdings ist dieser Anerkennung heute eine Grenze gesetzt. In diesem Krieg ist etwas Illegitimes: die eine Seite der kriegführenden Staaten ist zu einem höchst widernatürlichen Bund zusammengeschweißt. Das Bündnis zwischen freiheitlich organisierten Ländern wie England und Frankreich einerseits, und dem uneingeschränktesten Gewaltstaat der neueren Geschichte andererseits, ist eine Sünde gegen den Geist. Und da bringen Sie, Frederik van Eeden, es fertig zu behaupten, Deutschlands Gegner hätten die idealistische Devise einer Vernichtung der Gewaltherrschaft: Ruß-

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Bewegung

Ich schlage vor, von diesem dünnen und wesenlosen Schlagworte »Massensuggestion« I abzusehen, wenn man das betrachtet, was sich in dieser Zeit ereignet hat und ereignet. Von Deutschland kann ich aus eigner Anschauung sprechen, was Sie nicht können. Hier ist (es sei denn in etlichen sich repräsentativ gebärdenden Kreisen) II nichts zu merken von der unfreien Exaltation, die Sie voraussetzen; überall erweist sich eine gefaßte, opferbereite Entschlossenheit.III Auf dem Grunde der Herzen waltet, jedem unbefangen Blickenden offenbar, kein suggeriertes, sondern ein durchaus autonomes GefühlIV : der rückhaltlose Glaube an einen absoluten Wert, für den zu sterben die Erfüllung des Lebens bedeutet. An einen Wert, der nicht mit andern verglichen, nicht an andern gemessen werden kann, sondern aus eignem Recht und unabgrenzbar besteht. V Wer ein solches Gefühl für suggeriert hält, gleicht jenen Historiosophen, welche die Religion für eine Erfindung machtgieriger Priester erklären. Das, was

I II

III IV V

land ist das stärkste Bollwerk der Gewaltherrschaft in einer Welt, in der die Besten beginnen, das Postulat der Geistesherrschaft folgerichtig zu erkennen. Wenn es den in so widersinniger Weise Verbündeten gelänge, (und ich hoffe und glaube, daß es ihnen nicht gelingen wird, auch nicht mit der von Ihnen empfohlenen Hungermethode) Deutschland niederzuringen, so wäre Rußland, wäre das russische Staatsprinzip für die nächste Menschheitsepoche unerschütterlich befestigt: weil Rußland sich in seiner Verfassung von Europa nicht bestimmen läßt, weil seine Erneuerung nur von einer Erschütterung seines Bestandes zu erwarten ist; dann bliebe auch das russische Volk, das ich liebe, unfrei und in seinem Werk für die Menschheit gehemmt wie bisher. Wenn aber Deutschland ein großer Sieg über Rußland beschieden würde, so würde in Rußland die Freiheit einziehen – und dann würden auch die Teile Deutschlands, die eine freiheitliche Verfassung noch entbehren, sie erlangen; denn westlich von einem neugestalteten Rußland ist ein starres Preußen undenkbar. Daß die Staaten tun, was die Völker, wenn sie (äußerlich, aber vor allem auch innerlich) wahrhaft zu bestimmen fähig wären, nicht tun würden: daß sogar England sich mit Rußland verbündet, um seinen stärksten Konkurrenten zu schwächen, ist sündhaft, aber begreiflich. Aber daß Sie diesem Bündnis sein moralisches Aushängeschild, seine ›idealistische Devise‹ lassen, daß Sie die innere Unwahrheit, ja Sinnlosigkeit dieser Devise nicht sehen wollen, daß Sie nicht über den Augenblick hinausblicken und die kommende, die schwerste Bedrohung der Menschheit nicht wahrnehmen, das fällt mir schwer zu verstehen. Es sei denn, wenn ich daran denke, daß die Holländer ihre Unabhängigkeit von Deutschland bedroht glauben; dann wären Sie also mehr als mancher andere von einer Volksstimmung beeinflußt, oder, wie Sie es nennen, einer Massenpsychose unterworfen. B I: möchte allerdings vorziehen, von diesem etwas dünnen und wesenlosen Schlagwort ›Massenpsychose‹ überhaupt B I: In allen Kreisen, mit denen ich Fühlung habe, (es gibt freilich auch andersgeartete, die mehr bemerkbar sind, weil sie sich mehr vordrängen; aber repräsentativ sind sie deshalb wirklich nicht – ebensowenig wie die französischen Akademiker für Frankreich) ist B I: herrscht da eine ruhige, klare Entschlossenheit und Opferbereitschaft. B I: autonomes und elementares Gefühl B I: Die Millionenschar derer, die sich freiwillig zum Heere meldeten, ist nur eine Teiläußerung dieses Phänomens.

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Sie für den aktiven, suggerierenden Faktor halten, das ist selbst nur ein Organ, seine Tätigkeit nur eine Funktion jener elementaren, im Gefühl erlebten Wirklichkeit; wie der Priester nur ein Organ, sein Kultus nur eine Funktion der elementaren Religiosität des Menschentums ist. Gewiß, ein oft irreführendes Organ, nur Funktion, nichts weiter, und daher rektifizierbar, beherrschbar, abänderlich. I Sie würden mich sehr II mißverstehen, wenn Sie meine Worte so auffaßten, als ließe sich das Elementare, von dem ich spreche, durch einen Gegenstand definieren, etwa als Vaterlandsgefühl, Nationalgefühl oder dergleichen. Nur sein BewußtseinIII läßt sich durch einen Gegenstand definieren, das Element selbst nicht. Vielmehr bestätigt mir das Erlebnis dieser Zeit meine Grundanschauung: daß unser Zusammenhang mit dem Absoluten sich nicht in unserem Wissen, sondern in unserem Tun bekundet. Es IV erscheint im Menschen nicht als ein Was, sondern als ein Wie, nicht als etwas Denkbares, sondern als etwas Lebbares. Darum sind nicht d i e Menschen einander zuinnerstV nahe und verbunden, die die gleichen Absichten hegen, sondern die ihre – noch so verschiedenen – Absichten auf die gleiche Weise hegenVI ; nicht die das Gleiche bekennen, sondern die das, was sie bekennen, mit der gleichen Intensität, Ehrlichkeit, Direktheit betätigen VII . Was den entscheidenden Menschen von dem vorübergleitenden ewiglich abhebt, ist nicht, was er meint und will, sondern daß das, was er meint und will, nicht in seinem Gemüt steckenbleibt, sondern Ereignis wird. Diese Gewalt nenne ich (nach dem aristotelischen Ausdruck, der den Übergang vom Potentiellen zum Aktuellen, von der Möglichkeit zur Wirklichkeit bezeichnet) die Kinesis, die »Bewegung«. VIII In ihr bewährt, in ihr offenbart sich das Absolute. Jeder kann nur in seiner eigenen Bewegung IX , in seinem eigenen Verwirklichen den I

B I ers. »elementaren Religiosität – abänderlich« durch »(gewiß: ein oft irreführendes Organ, eine oft beeinträchtigte Funktion; aber doch nur Organ, nur Funktion, nichts weiter, und daher rektifizierbar, beherrschbar, abänderlich) der elementaren Religiosität des Menschentums ist. Das elementare Gefühl, von dem ich spreche, hat heute noch nicht seinen reinen Ausdruck, seine wahre Richtung gefunden; aber was jetzt mit den Deutschen geschieht, beweist, daß es endlich erwacht ist – und ich habe die Gewißheit, daß es nicht wieder einschlafen, sondern sich, richtungsbewußter und immer richtungsbewußter werdend, sein eigene Welt erschaffen wird.« II B I: durchaus III B I: die Richtung IV B I: bekundet.Wir erleben das Absolute nicht in dem, was wir erfahren, sondern in dem, was wir schaffen. Es V B I: transzendental VI B I: verwirklichen VII B I: usw. in Tat umsetzen VIII B I: die Kinesis. IX B I: Kinesis

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Gott erleben. Und wie mit den Menschen, ist es mit den Völkern und Zeitaltern. Sie sind entscheidend oder vorübergleitend je nach der Gewalt der Kinesis, die ihnen innewohnt. Die Kinesis eines Volkes, eines Zeitalters, einer großen Gemeinschaft, strömend durch die einzelnen Menschen, in denen sich die Gemeinschaft aufbaut, diese einzelnen Menschen begeisternd, bewegend, bestimmend, von ihnen als ihre eigene Erfüllung, als ihr Ereigniswerden erlebt, ruft jenes elementare Gefühl in ihnen auf, von dem ich spreche. Freilich kann damit, daß von einem Zeitalter gesagt wird, daß es die Kinesis habe, wahrlich noch nicht gesagt sein, daß dieses Zeitalter oder gar dieser Augenblick d as Rechte meine und wolle. Ohne sie kann nichts Wesenhaftes geschehen, aber ohne daß ihr die eine richtige Richtung (es gibt nur eine) gegeben wird, kann nicht das Rechte geschehen. Die eine Richtung immer neu im Gewirr der umgewirbelten Welt entdecken ist das magnetische Erlebnis des Geistes, sie weisen ist des Geistes eingeborener Beruf. Die Kinesis des Zeitalters, von der ich spreche, hat noch nicht ihre wahre Richtung, das elementare Gefühl, von dem ich spreche, hat noch nicht seine reine Erscheinung gefunden. Es besteht als eine Macht der Glaube an einen absoluten Wert, jedoch nicht das Wissen um ihn. Man kann aber wohl für einen Wert, den man nur fühlt, nicht kennt, sterben, man kann nicht für ihn leben. Aktives Leben ruht auf einer Erkenntnis, auf einer nicht intellektualen, einer organischen Erkenntnis: einem Finden. Der tiefen Gemeinschaft sich zu opfern vermag, wer sie ahnt und liebt; an ihr zu bauen nur, wer ihren Sinn weiß und ihn in die Wirklichkeit einsetzen will. Diesen Weg weisen heißt die Richtung weisen. Bewegung ohne Richtung ist blind, Richtung ohne Bewegung ist lahm. I Das war unser einsames Wollen bisher; weil die Kinesis schlief und wir I

B I ers. »Sie sind entscheidend – Bewegung ist lahm« durch »Wir hier in Deutschland haben es staunend und mitten im tausendfachen Grauen beglückt erkannt, daß wir in ein Zeitalter der Kinesis getreten sind. In ein Zeitalter, in dem die Seele des Menschen nicht mehr stockt und starrt, sondern sich ins Äußerste der Tat ausschwingt; in dem die Tat des Menschen nicht mehr von einem Getriebe vieler kleiner Zwecke eingepreßt ist, sondern ihre Freiheit und ihre Vollendung gewinnt im Opfer für einen absoluten Wert. Nicht wie das stammelnde, der Tat nachhinkende Begriffsvermögen diesen Wert nennt, ist die innere Wahrheit, die es zu erfassen gilt, sondern daß die Menschen für ihn sterben wollen. Nicht in ihrem Bekenntnis: in ihrer Hingabe gibt sich das Göttliche kund. Sie werfen das Vertraute, das Sichere, das bedingte hin, um sich in den Abgrund des Unbedingten zu stürzen. Und eben dies, daß sie es tun, ist die Offenbarung des Unbedingten in einer Zeit, die von ihm verlassen schien. Dessen haben wir uns in den Schrecken und bittern Schmerz dieses Krieges, und unsäglich über sie alle hinaus, zu freuen. Es ist eine furchtbare Gnade; es ist die Gnade der neuen Geburt.«

Bewegung

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sie nicht zu erwecken vermochten. Nun hat sie ein Stärkerer als wir, ein Namenloser, dem alles Namentragende, auch der Krieg, nur zum Sinnbild dient, erweckt; an uns wird es ein, sie sehend, sie richtungsbewußt zu machen. Und so wird I auch dies an uns sein: sie wach zu erhalten, ja sie immer wacher, immer heller, immer selbstbestimmender werden zu lassen. Das ist die große Aufgabe des Geistes, die nach diesem Krieg – die noch in diesem Krieg beginnt. Was ich Ihnen sage, ist gegen alle gesagt, die vermeinen, die Richtung dem Umkreis des Relativen entnehmen zu dürfen. Der führende Wert kann kein relativer sein. Sie äußern II sich dahin, Sie würden für die Schweiz gegen Holland kämpfen, weil jene »eine höhere Rechtsordnung« sei. Dieser krasse Relativismus III erscheint mir durchaus geistwidrig. Wer wahrhaft kämpft, kennt den Komparativ nicht; ihm geht es nicht um das »Höhere«, sondern um das Unbedingte. Sicherlich läßt es sich in einer »höheren Rechtsordnung« ungestörter, ungetrübter, ungehinderter leben; daß es sich für sie zu sterben lohnte, kann ich nicht finden – es sei denn für die Schweiz dem Schweizer, für den sie IV nicht eine höhere Rechtsordnung, sondern »das Vaterland«, das heißt die ihm sichtbare, erreichbare, umfaßbare Form des Absoluten ist (so stirbt der Revolutionär nicht für eine höhere Rechtsordnung, sondern für »die Freiheit«): Nur wer, mit dunklem oder lichtem Trieb, Gott V meint, wenn er Vaterland sagt, ist der Kämpfer. Aber wenden Sie nicht ein VI , das sei Subjektivismus, und es gäbe dann viele Götter oder Götzen VII , zwischen denen keine Entscheidung möglich wäre. Gott wartet in allen Dingen als ein Keim und ein Werdenkönnen, er wird verwirklicht durch die Inbrunst, mit der er erlebt wird, und er wird eingesetzt durch die Gewalt der Bewegung VIII . Das entscheidende Volk einer Epoche ist, gleichviel ob es im Kampf mit andern siegt oder besiegt wird, das Volk der größten Inbrunst,

I II

B I: sie sehend zu machen. Freilich wird B I ers. »Das ist die große – Sie äußern« durch »Nach diesem Krieg beginnt die große Aufgabe, beginnt die hohe Zeit des Geists. Aber die sich zutrauen, die Führer dieser kommenden Zeit zu werden, müssen vor allem mit ihrer ganzen Kraft erkennen, daß auch die Richtung nicht der Sphäre des Relativen entnommen werden kann. Der führende Wert kann kein relativer sein. Sie, Frederik van Eeden, äußern« III B I: Standpunkt eines krassen Relativismus IV B I ers. »für die Schweiz – für den sie« durch »dem Schweizer, für den die Schweiz«. V B I: sichtbare Form des Absoluten ist. Nur wer – – mit dunklem oder lichtem Trieb – – Gott VI B I: Aber sagen Sie nicht VII B I: viele Götter VIII B I: Kinesis.

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Bewegung

der stärksten Bewegung I : weil es seinen Gott zum Ereignis II vollendet. Das aber vermag es nicht zu beginnen, ehe es ihn sich gefunden hat. Und das heißt: ehe es in sich den Sinn, das Rechte, die wahrhafte Gemeinschaft gefunden hat; den Sinn, wie er sich in ihm bewegt, das Rechte, wie es aus ihm werden will, die wahre Gemeinschaft, wie sie in ihm vorgebildet ist. Dazu aber bedarf es der Wünschelrute, der magnetischen Gabe des Geistes – bedarf es der Richtung. III Die Richtung, sagte ich, kann nicht dem Umkreis IV des Relativen entnommen werden. Das Ziel heißt nicht eine höhere Rechtsordnung, sondern das wahrhafte Leben in und zwischen den Menschen. Die höhere Rechtsordnung ist dem Ziel nicht näher als die niedere; denn, wie der Weg des Einzelnen, so vollzieht sich der Weg der Gemeinschaft nicht in gradweisem Übergang, nicht im »Fortschritt«, sondern im Sprung, in der Wende, in der Wandlung. Der »Zöllner« ist dem Heil näher als der »Schriftgelehrte« V , denn er bedarf nur der Aufrüttelung, der Umschichtung, der andere ist in seiner Tugendhaftigkeit rettungslos verkrustet. »An dem Ort, wo die Umkehrenden stehen,« heißt es im Talmud, »vermögen die vollkommenen Gerechten nicht zu stehen.«2 Ich sehe im Herzen dieses Krieges die Entzündung einer großen Umkehr, von der ich heute noch nicht reden kann. »Das Weltall aber steuert der Blitz.«3

2. 3.

b Ber 34b. Vgl. Heraklit, Fragment 64 Diels-Kranz: »Alles steuert der Blitz.«

I II III IV V

B I: Kinesis B I: zur Wirklichkeit B I streicht »Das aber vermag – bedarf es der Richtung«. B I: der Sphäre B I: Pharisäer

Dem Fähnrich Willy Stehr ins Stammbuch

Krieg der Völker heißt des Blitzes Flamme, Doch aus dem sie brach, das Reich der Wolke Ist der Krieg tief drin in jedem Volke, Eingeboren jedem echten Stamme, Aber jetzt aufwallend an der Wende: Krieg der Freien mit den Eingewöhnten, Krieg der Wagenden mit den Versöhnten, Der im Anfang wider die im Ende. Wolke stieg aus Millionen Tropfen, Was im Volk sich ballt, ersteht aus allen, Die Entscheidungen des Krieges fallen Denen nach, die heut dein Herz durchklopfen.

Ein Dankeswort an Alfons Paquet

Wir schulden Alfons Paquet, einem weltsehenden und gottfühlenden, kühnen und wurzelhaften Mann, der in drei Schriften 1 Zeugnis für uns abgelegt hat, dreifachen Dank. Zum ersten: ihm, der mit Auge und Geist den Orient in seiner Wahrheit erfaßt hat (man lese seine Schilderung »Li« und seine Dichtung »Limo«), hat sein heller und tiefer Blick das Werden eines neuen, zum Orient heimgekehrten Judentums in Palästina gezeigt, und auch das Innerste daran, das Streben nach einer sieghaften Erneuerung des Am-Haarez, des »Landvolkes«, ist ihm nicht verborgen geblieben; was er sah, hat er redlich und beredt ausgesprochen.2 Zum zweiten: da er mit der Kraft seines Herzens, in der die parakletsgewärtige Gläubigkeit der Ahnengeschlechter fortlebt, erkannt hatte, daß jetzt und hier die Frage nach dem Sinn wieder und so heischend wie vor zweitausend Jahren aus der gehetzten und richtungslosen Menschenwelt aufsteigt, erkannte er nun auch, daß das Werden eines neuen Judentums in einem bedeutsamen und noch unformulierbaren Zusammenhang mit der Wiederkunft der Frage steht, und kündete mit getreuem Mund seine Erkenntnis. Und zum dritten: Deutscher nach Fichtes Sinn, Deutschtum als Aufgabe erlebend und bestimmend, schaut er mitten im Wirrsal dessen, was heute im Osten Europas geschieht, durch die Widersprüche des Augenblicks unbeirrt, eine Begegnung zweier Völker, eine verpflichtende Begegnung, und sagt es: heute sei vor der Weltgeschichte zum zweiten Mal, wie zum ersten Mal zur Zeit der Kreuzzüge, etwas wie Verantwortung für das Schicksal eines großen Teiles der Judenheit dem deutschen Volk übertragen worden. »Es bedarf eines tiefen Gedankens, eines großen Entschlusses, einer befreienden Tat.« 3

1. 2. 3.

[Anm. Buber:] In Palästina, Verlag von Eugen Diederichs, Jena 1915; Der Kaisergedanke, Rütten & Loening, Frankfurt a. M. 1915; Die jüdischen Kolonien in Palästina, Gustav Kiepenheuer, Weimar 1915. A. Paquet, Li oder Im Neuen Osten. Ein Reisebuch, Frankfurt a. M. 1912, ders., Limo, der große beständige Diener. Ein dramatisches Gedicht in 3 Aufzügen, Frankfurt a. M. 1913. A. Paquet, »Nachwort im Herbst 1915«, in: Die jüdischen Kolonien in Palästina, S. 35-42: 36.

Aus einem Rundschreiben von Ostern 1914 Springe um neue Bürger, Springe um Themis die schöne. (»Gesang der Kureten an den jungen Zeus«) I 1

Die einzige Macht, die einer richtungslosen Menschheit gegenüberzutreten vermag, ist die Macht der Richtung. In dem Zeitalter herrscht das Fiktive, das heißt: das aus Meinung und Rechnung II Lebende. Es gilt ihm entgegen die Autorität des Wirklichen als des aus dem Weltsinn Lebenden aufzurichten. Die Signatur des Fiktiven ist, daß jeder etwas anderes und keiner das Eine will. Das Fiktive kann sich nur in der Diaspora des Menschentums III behaupten. Wenn zehn Menschen das Eine wollen und sich vereinigen es zu tun, ist die Diaspora zu Ende. 2 Und jene alle, von denen jeder etwas anderes will, rühren den Planeten nicht um einen Zoll, aber die Zehn reißen ihn aus seiner Bahn: in ihre Richtung. Richtung ist Wahrheit nicht in Formeln, sondern im Willen. Bei ihr allein ist Entscheidung und Wende. IV Es genügt V das Eine und nichts als das Eine zu wollen, um das Fiktive zu erschüttern, es genügt das Wirkliche in seiner Autorität aufzurichten, um das Fiktive niederzuwerfen. Aber das bedeutet nicht, daß »es von selbst komme« VI , sondern aus der Wahrheit im Willen. Mischet die an »Geist« reichsten Leute des Zeitalters zusammen, lasset sie sich Wochen, Monate lang über die wesentlichen Fragen unterreden, und es wird nichts als »Geist« hervortreten VII , »Geist« zur Genüge, »Geist« zur Sättigung und Übersättigung, doch keine Entscheidung. VIII 1. 2.

I II III IV V VI VII VIII

In antiken griech. Mythen wird berichtet, daß auf Kreta junge, bewaffnete Männer, die sogen. »Kureten«, das Zeuskind schützend umtanzten. Die Zehnzahl ist möglicherweise eine Anspielung auf den minjan, das sind zehn männliche Beter im Mindestalter von 13 Jahren, durch die sich im Judentum eine Gemeinde erst konstituiert. FK u. FK* streichen Motto. FK*: das nicht aus dem Weltsinn FK u. FK*: Diaspora FK u. FK*: Wende. Aller Geist, der nicht Wahrheit im Willen ist, fördert das Fiktive. FK: Wu Wei, das bedeutet: es genügt FK: Aber Wu Wei bedeutet nicht, dass dies ›von selbst‹ komme FK*: herauskommen FK: Entscheidung (auch »Beschlüsse« sind nicht Entscheidung; Entscheidung ist, wodurch das Geschehen selbst entschieden wird, sie ist der bestimmende Vorgang im Geschehen), FK*: Entscheidung (»Beschlüsse« sind nicht Entscheidung; Entscheidung ist, wodurch das Geschehen selbst entschieden wird).

292

Aus einem Rundschreiben von Ostern 1914

Aber lasset einige Menschen zusammenkommen, die guten Willens, ganzen Willens sind, und lasset sie überformelhaft, lebendig erkennen, daß ihr Wille einer, d er eine ist, und sie werden entscheiden. Dieser Wille ist der wahre Geist, das Pneuma, das t rei bt . Das Werk der Aufrichtung aber ist kein Experiment, man kann es nicht nach Belieben versuchen, fallen lassen, wiederaufnehmen. Sondern was in diesem Zeichen begonnen wurde und in Nichtigkeit aufgeht, das gefährdet den Wurzelgrund, die tiefe Fruchtbarkeit der Krisis. I Was hier nicht gerät, zerstört. Der Antichrist ist der mißratene Paraklet. 3 Es gilt nicht den Versuch: es gilt den Sprung. II 3.

Paraklet, eine »Tröster« oder »Fürsprecher« genannte Macht, von der Jesus in einer seiner Abschiedsreden zu den Jüngern beim letzten Abendmahl spricht, vgl. Joh 14,16: »Und ich will den Vater bitten, und er wird euch einen andern Tröster geben, daß er bei euch sei in Ewigkeit«.

I II

FK*: Epoche. FK ers. letzten Absatz durch »Es darf daher eine eine wahrhafte Vereinigung, die die Diaspora beenden soll, nicht anders anheben, als mit einem Urkreis von Menschen, die sich in der Wahrheit ihres Willens als in ihrer Sache verbunden erkennen. Diese noch unaussprechliche aber im Wirken und Erkanntwerden eindeutige Wahrheit ist die normative Idee der künftigen Vereinigung. Die in der Wahrheit ihres Willens als in der Sache verbundenen Menschen bestimmen den Weg der Erweiterung und prägen die Regel der künftigen Vereinigung in ihrer ersten Form. Diese Regel wird dem Wesen der Aufgabe gemäss eher eine strenge als eine lockere sein müssen. Das Zusammensein darf nicht einer ›freien‹ Geselligkeit überantwortet werden, von deren Gnaden man das Werden einer Gemeinschaft erwartet. Geselligkeit ist jene Art des Menschenverkehrs, die in sich ihr Ende hat, sie kann nicht gemeinschaftsbildend wirken. Die erste Vereinigung muss als Keimzelle der künftigen von eben dem Strukturgesetz durchwaltet sein, das man für jene will. Man kann Verwirklichung nicht vorbereiten, man kann nur zu verwirklichen beginnen.« FK und FK* setzen fort mit »Nur wo Verwirklichung heute noch versagt [FK*: »heute unmöglich«] ist, wo sie nicht aus dem Willen sondern nur aus der Natur kommen kann, darf sie nicht vorgebildet [FK*: »präformiert«] werden wollen, weil auch der edelste surrogierte Wert der Konzeption des echten entgegen ist. Darum soll das monarchische Verhältnis [FK*: »Prinzip«] dem Augenblick seiner Erfüllung vorbehalten bleiben. Freilich ist die Herrschaft der grösseren Zahl im Reich des Wirklichen [FK*: »Herrschaft der Zahl hier«] unhaltbar. Es muss ein Drittes gewagt werden: die Spontaneität der Gemeinsamkeit, die Einstimmigkeit aus Berufung und Zusammenschluss. An diesem vermessensten Prinzip wird sich die Wahrheit des Willens zu bewähren haben.« FK* setzt danach fort mit »Bewegung ist, alle Grenzen überrennend; Richtung soll kommen. O ihr denen sie kund ist – wenn ihr sie nicht kündetet. Die Pflugschar waltet ihres Werks; aber dann harrt das Land, in jeder Scholle erschüttert: Same soll fallen. O ihr Bewahrer des rechten Korns! wenn ihr nicht ausgingt es zu säen! Die Zeit des Opferns ist angebrochen; aber morgen soll das oberste Opfer geschehen, das entscheidet. O ihr vom Geist Berufenen wenn ihr es nicht darbrächtet! Euch mehr als allen, morgen aber mehr noch als heute gilt euch das Wort: Wer sein Leben liebt wird es verlieren.«

Was ist zu tun?

Wer diese Frage stellt und damit meint: »Was hat man zu tun?« – für den gibt es keine Antwort. »Man« hat nichts zu tun, »Man« kann sich nicht helfen, mit »Man« ist nichts mehr anzufangen, mit »Man« geht es zu Ende. Wer sich damit genug tut, zu erklären oder zu erörtern oder zu fragen, was »Man« zu tun habe, redet und lebt ins Leere. Wer aber die Frage stellt, den Ernst einer Seele auf den Lippen und meint: »Was habe i ch zu tun?« – den nehmen Gefährten bei der Hand, die er nicht kannte und die ihm alsbald vertraut werden, und antworten (er lauscht, was Wundersames da kommen mag, und ist erstaunt, als nichts anderes folgt denn dies): »Du sollst dich nicht vorenthalten.«1 Die alte, ewige Antwort! Aber ihre Wahrheit ist wieder einmal neu und unberührt. Der Fragende sieht die Wahrheit an, und sein Staunen wird fruchtbar. Er nickt. Und sowie er nickt, fühlt er an seinen Handflächen stärker die Blutwärme des Miteinanderseins, und es redet um ihn, aber nun ist es ihm, als redete er selber: »Du sollst dich nicht vorenthalten.« Begriffsbebrillter unter Begriffsbebrillten, du, den alles, was dich lehrte, lehrte nicht Menschen sehen, sondern Bürger und Proletarier, Gebildete und Ungebildete, Volksgenossen und Volksfremde, Parteigenossen und Parteigegner, Glaubensgenossen und Glaubensfeinde, reiß die Brille ab, zertritt sie, sieh mit nacktem Aug’ das nackte Leben! Eingeschalter inmitten Eingeschalter, du eingetan in die Schalen, in die dich Gesellschaft, Staat, Kirche, Schule, Wirtschaft, öffentliche Meinung und dein eigner Hochmut gesteckt haben, Mittelbarer unter Mittelbaren, durchbrich deine Schalen, durchbrich noch die der andern, werde unmittelbar, rühre Mensch die Menschen an! Uralter Wust und Mulm ist zwischen Mensch und Mensch gehäuft. Sinngeborne Form entartet zu Konvention, Ehrfurcht zu Mißtrauen, Keuschheit der Mitteilung zu geizender Verschlossenheit. Mitunter tappen die Menschen im bangen Rausch auf einander zu – und verfehlen

1.

Dtn 22,3.

294

Was ist zu tun?

sich, denn der Mulmhaufe ist zwischen ihnen. Räumt ihn hinweg, du und du und du! Stellet Unmittelbarkeit, aus dem Sinn formende, ehrfürchtige, keusche Unmittelbarkeit zwischen den Menschen her! Du sollst dich nicht vorenthalten. Einsamer, zwei Einsamkeiten sind in deinem Leben verflochten. Nur eine sollst du ausrotten: das Sich-Verschließen, das Sich-Zurückziehen, das Sich-Gegenüberstellen – die Einsamkeit des Gemeinschaftsunfähigen. Die andere sollst du erst wahrlich gründen und festigen, das notwendige Immer-wieder-einsam-werden des Starken der seine Strahlen von Mal zu Mal, um neue Kraft zu sammeln, heimberufen muß in eine Einsamkeit, wo er in der Gemeinschaft des Gewesenen und Kommenden ruht und von ihr genährt wird, daß er in neuer Kraft zur Gemeinschaft des Seienden ausgehen kann. Zu ihr sollst du ausgehen lernen – ausgehen und dich nicht vorenthalten. Du sollst helfen. Jeder Mensch, der dir begegnet, bedarf der Seelenhilfe, jeder bedarf d ei ner Hilfe. Das ist das tausendfältige Ereignis jedes Augenblicks, daß Hilfsbedürftigkeit und Hilfsfähigkeit einander ausweichen, und so, daß sie nicht nur um einander, daß jede auch um sich selber nicht weiß; denn es ist Menschenart, den innersten Mangel und die innerste Gabe der eigenen Seele gleicherweise unbeachtet zu lassen, ob auch zuweilen ein[e] tiefe Stunde daran gemahnt. Du sollst in den andern die Hilfsbedürftigkeit, in dir die Hilfsfähigkeit erwecken. Auch wenn du selber bedürftig bist – und du bist es – kannst du andern helfen und, indem du es tust, dir selber. Wer das helfende Wort in sich aufruft, erfährt das Wort. Wer Halt gewährt, verstärkt in sich den Halt. Wer Trost spendet, vertieft in sich den Trost. Wer Heil kündet, dem offenbart sich das Heil.[«] Die Stimmen der Unbekannten, Vertrauten schweigen. Der Fragende besinnt den Spruch. Aber schon beginnen sie wieder, verwandelt, über ihn hinaus. »Und ihr: Du in der Burg deines Geistes Eingeschlossener, der niemand empfängt als wer das Einlaßwort kennt, im Vorenthalt Thronender, und Du, der mit den Mitverschworenen heimlichen Bundes das Zeichen der Erkennung tauscht, im Vorenthalt Wandelnder, die Zeit ist da, wo ihr Wort und Zeichen vergessen – oder versinken müßt! Denn nicht anders findet ihr das neue Wort und Zeichen, das die kommende Brandung bannt. Die Brandung, die ihr mit fertigem Wort benennet: Menge. Wer hat sie so groß gemacht, die Menge? Der sie haßte und der sie verachtete, den es vor ihr schauderte und den es vor ihr ekelte, ja jeder,

Was ist zu tun?

295

der sagte : »Menge!« – sie alle haben sie groß gemacht, daß sie nun aufbranden will zu euren Geistburgen und heimlichen Bünden. Aber es ist an der Zeit, und noch ist es an der Zeit für das Werk der Ueberwindung. Entmenget die Menge! Aus Menschen, der ohnmächtigen Verlassenheit preisgegebenen, aus ohnmächtiger Verlassenheit zusammengeschossenen Menschen ist das gestaltlose Wesen geworden – löst die Menschen aus ihm, bildet das Gestaltlose zu Gemeinden! Bricht den Vorenthalt, werft euch in die Brandung, reichet und ergreifet Hände, hebet, helfet, führet, bewährt Geist und Bund in der Probe des Abgrunds, entmenget die Menge! Etwelche sagen, es sei Kultur noch (wie einst) durch »Bändigung« zu bewahren. Es gibt keine zu bewahren. Und es gibt keine »Bändigung« mehr! Aber was aus der Flut hervorsteigen wird, darüber entscheidet, ob ihr euch als Samen wahrer Gemeinschaft in sie werft. Nicht mehr durch Ausschließung, nur noch durch Einbeziehung kann das Reich errichtet werden. Wenn es euch nicht mehr schaudert und nicht mehr ekelt, wenn ihr die Masse zu Menschen löst und auch noch das Herz der Rohen, der Süchtigen, der Meskinen mit eurer Liebe schlagt, dann und dann allein ist mitten im Ende der neue Anfang da. 2 Ihr zögert, ihr zweifelt – ihr wißt aus der Geschichte, daß jeder Entfesselung neue Fesselung die Antwort gibt? So fasset ihr noch nicht, daß die Geschichte nicht mehr gilt. Aber der Tag ist nicht fern, da die bescheidwissende Sicherheit in den Seelen zermalmt wird. Erkennet, ehe es zu spät ist!« Wieder schweigen die Stimmen. Aber nun beginnen sie nicht wieder. Schweigend wartet die Welt auf den Geist.

2.

Meskin, »mittelmäßig«.

Brief an Florens Christian Rang

Lieber Freund, Deine Schrift hat die befreiende Kraft, auch für den, der wie ich, Du weißt es, mancher darin geäußerten Ansicht nicht beistimmen kann. So sehe ich in den Menschenvölkern ebensowenig bloße Naturwesen wie in den Menschen, vielmehr wie in diesen Bürger zweier Reiche und zweierlei Gesetz untertan, somit keinem der zwei getreu. Damit fällt für mich vieles von dem hin, was Du von der Politik sagst; sie scheint mir wie alles Menschliche eine Sache der nie feststehenden, täglich neu zu ziehenden Grenzlinie zwischen Erlösung und Unerlöstheit der Welt, Liebesgeist und Gewaltnatur, Verwirklichung und Widerstand zu sein. Aber solchen Verschiedenheiten der Anschauung ist die Tatsache durchaus überlegen, daß der führende Gedanke Deiner Schrift uns – ich meine: alle, die ihm mit Ja antworten – aus der unwürdigen Situation der kritischen Passivität befreit. Auch jetzt noch, nach dieser zehnjährigen Schule, nahmen wir ja die Dinge, die Undinge, des Staates eben als die seinen unzufrieden und untätig hin, ließen das Übel geschehen, nicht ohne uns im Bedenken und Bereden dagegen aufzulehnen, aber ohne zu versuchen, unserer Auflehnung den uns gebotenen, den nicht mehr politischen, den personhaften, gewissensmäßigen, direkten Ausdruck zu geben. Wir sahen nur zweierlei: die Macht des politischen Treibens und Gegentreibens und außerhalb ihrer die Ohnmacht der Einzelnen und etwa ihrer Bünde, ihre Preisgegebenheit ohne eine Möglichkeit des Protestes, ihre Mitschuld ohne eine Möglichkeit der Reinigung. Wir trugen schwer an diesem Schicksal: und einzig das Gute war an unserer Haltung, daß wir die Last nicht abwarfen, nicht zu den »Geistigen« übergingen, die sich aus aller Verantwortung für den Staat gezogen hatten und, sofern es die vielfältigen täglichen Verflechtungen des privaten Elends mit in das allgemeine verstattete, es fertig brachten, heute noch, am Staat, in dem sie lebten, vorbeizuleben. Wir selber freilich gingen eben nicht daran, mit unserem Nichtvorbeileben Ernst zu machen. Aus unserem Entschluß zum Ernstmachen ist nun Deine Schrift hervorgegangen und sie weist uns den ersten, entscheidenden Schritt. Das ist der endgültige Verzicht, sich vor der Konkretheit des Anrufs, den das lebendige Gewissen an uns als an die Mitglieder eines tausendfach ins Übel verstrickten Gemeinwesens richtet, auf das unfaßbare Abstraktum des von uns unabhängigen bösen Staats herauszureden. Dieser Schritt bedeutet – für unsere Personen und von

298

Brief an Florens Christian Rang

ihnen aus, aber personhaft hebt ja alle Wirklichkeit des Geistes je und je an – die Erlösung des Staatsspuks zum leibhaften Menschenleben, die Brechung des Banns, der die gelebte Verantwortung der Einzelseele von der zum Scheinwesen entseelten der Allgemeinheit trennte. Wir vermeinen nicht, dem Gespenst dadurch beizukommen, daß wir von ihm wegsehen, noch dadurch, daß wir seine Macht über uns in Frage stellen. Wir nehmen den Staat auf uns. Wir wollen aus der politischen Schuld wieder eine sittliche, aus der fiktivierten Pflicht wieder eine wahre machen. Damit sagen wir aber auch, daß, soweit es an uns ist, die staatlichen Einrichtungen aus ihrer Neutralität und Fremdheit ins unmittelbar Personhafte eingewandelt werden sollen. Du weisest auf ein starkes Beispiel hin: die freiwillige Steuer, die durch Deine Schrift eröffnet wird, kündigt eine neue Art des Steuerns voraus – nicht mehr für das unbestimmte und unpersönliche »Gesamtbudget«, sondern für das Besondere, das vom Steuernden Gemeinte und gewollte. Aber wichtiger noch scheint mir ein anderes: diese unsre freiwillige Steuer soll nicht mehr aus den Händen der sie Leistenden in den Staatssäckel gelegt werden, der, selber schemenhaft, alle Hände der ihn bedienenden »Behörden« zu Schatten entkörpert, sondern in leibhafte Menschenhände – und diese sollen »Feindeshände« sein. Das heißt: wir brechen mit unserer Gewissenstat nicht durch die eigene Staatlichkeit allein. Ach, wir hüben und sie drüben, wir hocken ja nur in verschiedenen, benachbarten Abteilungen desselben Gefängnisses. Nun stehen wir auf, wir treten an die Mauer, wir heben unsere Hände über sie empor ins mauernlose Licht – laß uns hoffen, daß auch auf der andern Seite der Mauer Hände so aufgehoben werden, und, in vertretenden Personen sich bewegend, noch nicht befreit, aber in der Bereitung zum Geben und Nehmen die Verheißung der Freiheit kostend, die Menschenvölkerwesen einander berühren. Du weißt, was ich im Staat sehe: den »status«, den Stand, den sichtbar gewordenen jeweiligen Stand des Unverwirklichtseins des Gottesreichs – um die Menschen, zwischen den Menschen, in jedem Menschen. Nur indem wir ihn in all seiner Tatsächlichkeit auf uns nehmen, gehen wir aus ihm auf Gott zu. Dieses eine schon, mein lieber Freund, daß Du auf solche ein handelndes Aufsichnehmen hinzeigst, praktisch hinzeigst, – wären wir in keinem andern Bund miteinander, dieses eine machte mich zu Deinem Bundesgenossen. In Liebe Dein

Martin Buber

Geheimnis einer Einheit

Das an Stehr, was mich von je mich über ihn wundern machte und dieses Sichwundern nie in gelassener Bewundrung aufgehn ließ, so sehr ich ihn bewundre, – das Unvergleichliche I an ihm scheint mir zu sein, daß er ein echter Mystiker und ein echter Erzähler ist. Ich weiß keinen andern, in keiner Literatur, von dem das gälte. Der echte Mystiker – das ist das »und die Zeit wird nicht mehr sein« mitten in der Zeit. Die Letztheit des Stillestehns bricht auf und zerbricht die Zeitlichkeit. Nicht daß dem Mystiker die Dinge der Welt entschwänden, – er hat sich nicht von ihnen gewandt, sie sind noch in der Welt, aber sie sind nicht mehr in der Zeit, sie haben kein Schicksal, und so sind sie nur noch Gleichnisse, und ihre Welt ist nur noch Gleichnis – nicht Metapher, wirkliches Gleichnis: das Zeichen, das der Geist gibt, das augenfällige Zeichen; das ohrenfällige auch: auch was sie die Musik der Sphären genannt haben, ist ja nicht eine Folge von Tönen. Der echte Erzähler kann nichts brauchen, das nicht zur Begebenheit geworden ist, er achtet aller Kreatur, indem er sie in die Begebenheit zieht, und noch wenn er die veratmende Landschaft beschreibt, ist sie nur eine Wegwende der Begebenheit oder ihr Spiegel oder beides. Der Erzähler senkt – in stürzendem Schwung der eine, der andere mit leichter Fingerregung – alles was er berührt in die einhaltlosen Wasser der Zeit. (Das tut der Musiker nicht, der in allem Weg zum Ursprung zurückstrebt, er will die Zeit verkreisen, verewigen; der Erzähler will anderswohin, in die Veränderung, in das »Werk der Zeit«.) Das sind nicht vereinfachte Typen; die zwei Grundbewegungen des geistigen Herzens selber sind es, deren Zweiheit eben in der dieser zwei Menschenarten ihre volle Deutlichkeit gewinnt. Hätten wir Zeitlichen nicht die Gnade, uns im Zeitlosen einzusammeln, wir wären des Geists nicht teilhaftig; und hättenII wir nicht die Gnade, uns in die Zeit auszuströmen, unser Geist hätte nur Zeichen und keinen Gegenstand. Als Typus scheinen die Zwei einander auszuschließen; und doch ist dieser mit uns Lebende, Hermann Stehr, beides, und beides in probegerechter Echtheit. Er ist ein echter Mystiker, er gehört in die Reihe der versponnenen Schlesier, aus der uns Böhme und Johann Scheffler sichtI II

JG: Unvergeßliche JG streicht »wir wären des Geists nicht teilhaftig und hätten«.

300

Geheimnis einer Einheit

bar geworden sind. Und er ist ein echter Erzähler, er gehört in die unsterbliche Reihe. Aber er ist nicht beides nebeneinander, so daß seine Mystik nur als »Gehalt« in seine Erzählung einginge. Er – ich muß diese Wirklichkeit so paradox sagen, wie sie ist – erzählt das Zeitlose. Nicht etwa bloß jeweilig dessen Aufbrechen; sondern es geschieht, daß die Begebenheit, ohne an Dichtigkeit und Zuverlässigkeit zu verlieren, durchscheinend wird und in ihrem ganzen Verlauf das Andere, das nicht Verlaufende schauen läßt. Nicht erst am Ziel der Tage wird die Zeit nicht mehr sein. Die Herrlichkeit ihres Nichtseins, das durchaus Sein ist, strahlt mitten in der Zeit, in dieser unserer Zeit zwischen Geborenwerden und Sterben. Das lehrt uns von neuem Stehrs Erzählung. Aber das Wichtige ist, daß sie uns auch von neuem lehrt, aus welcher Kraft die Herrlichkeit aufstrahlt: nicht aus der erstaunlichen Kraft der Abgeschiedenheit – sie führt nur in den Zauber der Finsternis – sondern aus der weit erstaunlicheren, der über alles Begreifen wunderbaren Kraft der Liebe zur Welt. Das Reich ist mitten unter uns.

Anhang Aufstellung der von Buber 1896-1901 belegten Universitätsveranstaltungen Wintersemester 1896/97 – Universität Wien [Emil] Reich, Henrik Ibsen [Adolf] Stöhr, Psychologie [Ders.], Philosophie [Alexander Weil, Ritter von] Weilen, Geschichte des deutschen Dramas [Emil] Reich, Praktische Philosophie [Oskar] Walzel, Das junge Deutschland [Ders.], Übungen auf dem Gebiete der deutschen Romantik [Wilhelm] Jerusalem, Psychologie im Dienste des Sprachunterrichts

Sommersemester 1897 – Universität Wien [Friedrich] Jodl, Grundfragen der Logik [Alfred Frh. von] Berger, Das Wesen des dichterisch Schönen [Ernst] Mach, Über einige allgemeine Fragen der Naturwissenschaft [Michael] Gitlbauer, Demosthenes Oly[mp]ische Reden [Alfred Francis] Pribram, Geschichte der französischen Rev[o]lution

Wintersemester 1897/98 – Universität Leipzig [Wilhelm] Wundt, Geschichte der neueren Philosophie mit einer einleitender Übersicht üb[er] d[ie] Gesch[ichte] d[er] älteren Philosophie [Ders.], Völkerpsychologie (Psychol[ogie] d[er] Sprache, d[es] Mythus u[nd] d[er] Sitte) [Max] Heinze, Psychologie [Johannes] Volkelt, Aesthetik des Tragischen und Komischen [Paul] Flechsig, Psychiatrische Klinik 1 [Max] Heinze, Philosophisches Seminar: Erklärung von Kants Prolegomena [Paul] Barth, Philos[ophisches] Seminar: Einführung in d[ie] Philosophie ausgehend v[on] Schopenhauers »Welt als Wille u[nd] Vorstellung«

1.

Nicht testiert.

302

Anhang

[Wilhelm] Wundt, Psychologisches Laboratorium: Einführungscursus zur experimentellen Psychologie [Richard] v. Schubert-Soldern, Praktische Uebungen: Spinoza’s Ethik [Gustav] Störring, Colloquium über David Hume’s Versuch über den menschlichen Verstand

Sommersemester 1898 – Universität Berlin [Friedrich] Paulsen, Psychologie und Grundlage der Geisteswissenschaften [Georg] Simmel, Logik und Erkenntnistheorie [Ders.], Soziale Psychologie [Max] Dessoir, Ethik [Ders.], Aesthetik [Ders.], Geschichte der neueren Philosophie [Herman Friedrich] Grimm, Allgemeine Kunst- und Culturgeschichte des 19. Jahrhunderts [Reinhard] Kekule von Stradonitz, Geschichte der griechischen Skulpturen, I. Theil [Karl] Stumpf, Psychologische Uebungen E[rich] Schmidt, Das deutsche Volkslied [Rudolf] Lehmann, Experimentell-psychologisches Praktikum [Ulrich] von Wilamowitz-Moellendorff, Die Götter Griechenlands [Friedrich] Schumann, Psychologische Uebungen

Wintersemester 1898/99 – Universität Leipzig [Wilhelm] Wundt, Einleitung in die Philosophie u[nd] Logik [Ders.], Die Philosophie Kants und der Kantischen Schulen [Karl] Lamprecht, Deutsche Wirtschafts-, Social- und Verfassungsgeschichte der neueren u[nd] neuesten Zeit [Ders.], Grundzüge der deutschen Kulturgeschichte (Einführung in das Kulturverständnis der Gegenwart) [August] Schmarsow, Deutsch-niederländische Kunst- und Kulturgeschichte im Zeitalter der Renaissance [Ders.], Kunsthistorisches Seminar: Uebungen über italienische Plastik im 14. u[nd] 15. Jahrhundert [Paul] Barth, Ueber die Probleme der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsphilosophie [Ludwig] Pohle, Geschichte der Volkswirtschaftslehre [Wilhelm] Goetz, Kulturgeschichte der Renaissance in Italien 2 2.

Nicht testiert.

303

Anhang

Sommersemester 1899 – Universität Zürich [Heinrich] Herkner, Allgemeine Nationalökonomie [Ders.], Statistik u[nd] Gesellschaftslehre [Ders.], Volkswirtschaftliche Übungen [Justus] Gaule, Physiologie der Empfindung u[nd] Bewegung [Max] v. Frey, Physiologie der Sinne [?] Goldstein, Wirtschafts- und Sozialpolitik [Ders.], Wirtschafts- und Sozialpolitische Übungen [Rudolf] Martin, Grundzüge der Entwicklungsgeschichte des Menschen [Avram Jani] Eleutherop[o]ulos, Philosophische Diskussionen

Wintersemester 1899/1900 – Universität Berlin [Wilhelm] Dilthey, Allgemeine Geschichte der Philosophie [Ders.], Philosophische Übungen [Georg] Simmel, Philosophie des 19. Jahrhunderts [Ders.], Sociologie [Adolf] Wagner, Allgemeine Nationalökonomie [Gustav] Schmoller, Praktische Nationalökonomie

Sommersemester 1900 – Universität Berlin nichts belegt

Wintersemester 1900/01 – Universität Berlin [Georg] Simmel, Ethik und Sozialphilosophie [Ders.], Ästhetische Übungen

Sommersemester 1901 – Universität Wien nichts belegt

304

Anhang

Wintersemester 1901/02 [Laurenz] Müllner, Die Philosophie des Aristoteles [Friedrich] Jodl, Ueber die Philosophie Schopenhauers [Adolf] Stöhr, Spinoza und Spinozismus [Franz] Wickhoff, Albrecht Dürer Von diesem Semester an bis zur Promotion im Sommersemester 1904 hat Buber keine universitären Veranstaltungen mehr belegt.

Kommentar Bar Mitzwa – Rede

Erstdruck. Druckvorlage: handschriftliches Manuskript, datiert 8. 2. 1891, 5 S. Herkunftsort MBA Jüdische National- und Universitätsbibliothek Jerusalem, Arc. Ms. Var. 350/1a. Nach rabbinischem Recht ist ein Junge mit Vollendung des 13. Lebensjahres bar mitzwa, »Sohn des Gebots«, und so religiös und rechtlich mündig geworden, während für seine Taten bis dahin der Vater verantwortlich war. Von nun an steht er in der Pflicht, die ganze Halacha zu erfüllen, jene 613 religionsgesetzlichen Vorschriften, die die Rabbinen der Tora entnommen und ausgestaltet haben. Als vollberechtigtes Mitglied der Gemeinde wird er jetzt zum ersten Mal aufgerufen, in der Synagoge den Wochenabschnitt aus der Tora zu lesen. Auch bei Martin Buber ist dies am 13. Geburtstag in der Chorschul, der Synagoge des jüdischen Bürgertums Lembergs, geschehen. Dorthin sei er freilich nur gegangen, »wenn mein Vater mich meinem Großvater ›wegnahm‹; der pflegte mich nämlich in seine Klaus mitzunehmen, wo er, der Aufgeklärte, unter lauter Chassidim betete, – aus einem Gebetbuch voller Kawannot.« 1 Mit dem Großvater Salomon Buber, der »durch lange Jahre Vorsteher der israelitischen Kultusgemeinde in Lemberg« und ein bedeutender Midrasch-Forscher war, bewegte er sich also, zumindest was den Gottesdienst anging, in einem Milieu, das von Mystik und Volksfrömmigkeit geprägt war. 2 Dort sah er jenen auch selbst kawwana üben, die Andacht beim Gebet und bei der Gebotserfüllung, der die Kabbalisten eine besondere Bedeutung beimaßen, richtete sie sich doch auf den esoterischen Sinn der Worte und Taten. Abgesehen von den selbstverständlich auf Hebräisch gesprochenen Gebeten, hörte Buber an diesem Gebetsort Jiddisch, was sich auch in seiner Bezeichnung als »Klaus« widerspiegelt. In der wohlanständigen Chorschul hielt Buber seine Bar Mitzwa-Rede hingegen auf deutsch. »Glaube, Hoffnung, Liebe« (Ewige Jugend)

Erstdruck. Druckvorlage: handschriftliches Manuskript, datiert 13./14. 11. 1892, gezeichnet »Martin Buber«, 7 u. 1 S. Im Original: »Wiara, nad1. 2.

M. Buber, B II, S. 142 (an Rosenzweig, 1. 10. 1922). Kohn, S. 16 f.

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zieja, milosc. (Wieczna mlodosc)«. Herkunftsort MBA Jüdische National- und Universitätsbibliothek Jerusalem, Arc. Ms. Var. 350/1b. Aus dem Polnischen übersetzt von Pawel Maciejko. Was Anlaß und wer Adressat dieser auf polnisch gehaltenen Rede war, ist unbekannt. Zu ihrer Geschichte existieren keine Dokumente. Möglicherweise galt sie einem Freund aus dem polnischen K. K. Franz-Josefs-Gymnasium, das Buber in Lemberg besuchte, vielleicht sogar »meinem besten Freund; acht Jahre lang saßen wir in derselben Bank, er links, ich rechts«. 3 Die Rede könnte aus Anlaß von dessen bar mitzwa gehalten worden sein, wurde sie doch mit einem Zitat aus der Tora und einem homiletischen Kommentar darüber begonnen. Ein weiteres Indiz ist auch der Umstand, daß Buber im Vortrag eine Verbindung zur eigenen Feier herstellte. 4 Auch gibt es eine formale Ähnlichkeit zwischen beiden Reden. Wie dort die Verse des deutschen Nationaldichters Friedrich Schiller, so stehen hier die seines polnischen Pendants Adam Mickiewicz neben den Prophetenworten der Bibel. Wenn auch die vorliegende Rede selbst noch keine Distanzierung von jüdischer Religion und Tradition erkennen läßt, so muß die Entfremdung doch in dieser Zeit begonnen haben. Im Rückblick erklärte Buber, »mit vierzehn [d. i. 1892] habe ich aufgehört Tefillin zu legen«.5 Mit dem damals erfolgten Umzug ins Stadthaus seines Vaters schien auch der Einfluß des Großvaters erloschen.6 »Solang ich bei ihm lebte, war ich in den Wurzeln gefestigt, ob auch manche Fragen und Zweifel an mir rüttelten. Bald nachdem ich sein Haus verließ, nahm mich der Wirbel des Zeitalter hin.« 7 Von da bis zu seinem 20. Lebensjahr sei er »einer immer stärkeren Entfremdung von allem Jüdischen und einer immer tieferen Verbindung mit deutscher und europäischer Kultur und Kunst« erlegen.8 Er lebte »in beweglicher Fülle des Geistes, aber wie ohne Judentum, so auch ohne Menschlichkeit und ohne die Gegenwart des Göttlichen«.9 Sein Vater Carl war »ein Mann von Welt und Reichtum, der regelmäßig nach Wien und in die böhmischen Bäder reiste«, sich sonst aber seinen Phosphatgruben und den Gütern in Galizien widmete. 10 In späteren Jahren stand er der literarischen Produktion des Sohnes und auch der der 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

M. Buber, AF, S. 6. Um welchen Freund es sich handelt, ist unbekannt. Vgl. in diesem Band, S. 101. M. Buber, B II, S. 141 (an Rosenzweig 1. 10. 1922). Vgl. M. Buber, AF, S. 4. M. Buber, Mein Weg zum Chassidismus, S. 966. Simon, S. 28. M. Buber, Mein Weg zum Chassidismus, S. 966. G. Schaeder, Biographischer Abriß, S. 28.

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Schwiegertochter wohlwollend, aber ohne großes Verständnis gegenüber. 11 Die Beschäftigung mit der jüdischen Mystik lehnte er allerdings scharf ab, wie es unter liberalen Juden seiner Zeit üblich war. »Glücklich wäre ich, wenn Du Dich von den Chassidischen und Sohar-Sachen lossagen würdest, da selbe nur geistesverwüstend und unheilvoll einwirken und ist es schade, Deine Fähigkeiten auf so ein fruchtloses Thema zu verwenden und so viel Arbeit und Zeit, sich und der Welt nutzlos, zu verbrauchen.«12 Zarathustra

Erstdruck. Druckvorlage: handschriftliches Manuskript, 28 S., ohne Datum, Herkunftsort MBA Jüdische National- und Universitätsbibliothek Jerusalem, Arc. Ms.Var. 350/7b. Aus den Jugendjahren ist das vorliegende Manuskript mit Aufzeichnungen zu Friedrich Nietzsche erhalten. Sowohl in Arbeiten zu Buber als auch in solchen zur jüdischen Nietzsche-Rezeption wird es zitiert und diskutiert. 13 Seine Datierung ist schwierig. Mendes-Flohr – der einzige, der sich bisher überhaupt um seine zeitliche Einordnung bemühte – gibt aufgrund der Hinweise über Bubers Beschäftigung mit Nietzsche und aus inhaltlichen Kriterien die Zeit »zwischen 1898 und 1900« an. 14 Zu ersteren zählt neben der autobiographischen Angabe, den Zarathustra »in meinem siebzehnten Jahr« (1895) entdeckt zu haben, noch der Bericht von seinem Cousin und Leipziger Kommilitonen Ahron Eliasberg. 15 Buber habe ihm im Winter 1897/98 erzählt, »vor zwei bis drei Jahren war ich ein leidenschaftlicher Nietzscheaner, aber jetzt sehe ich in ihm nur noch …«. 16 Auch im Manuskripttext selbst erklärt Buber, er habe »eine Zeitlang nichts« von ihm gelesen, »die Wagnerei ärgerte mich«. 17 Wahr11. Vgl. M. Buber, B I, S. 305 (Carl an M. und P. Buber, 6. 7. 1912, über Paulas Die unechten Kinder Adams), S. 337 f. (Carl an B., 7. 6. 1913: S. 338: »Ich habe versucht, den Daniel zu verstehen, es ist mir leider nicht gelungen und sind mir eben die Bedenken aufgestiegen, daß Du auf Kosten Deiner Körperkräfte Dich geistig überarbeitest.«) 12. M. Buber, B I, S. 260 f. (Carl Buber an B., 6. 2. 1908). 13. Zu Bubers Nietzsche-Rezeption, vgl. Kohn, S. 21, 26 f., Schaeder, S. 17-22, MendesFlohr, S. 55-60, 88-91, ders., Zarathustras Apostel, M. Friedman, Begegnung auf dem schmalen Grad, S. 42-45. Zur jüdischen Nietzsche-Rezeption im allgemeinen, vgl. R. M. Lonsbach, Friedrich Nietzsche und die Juden, D. Bourel/J. Le Rider, De SilsMaria à Jérusalem, J. Golomb, Nietzsche und die Jüdische Kultur, W. Stegmaier/D. Krochmalnik, Jüdischer Nietzscheanismus. 14. Mendes-Flohr, S. 88. 15. M. Buber, AF, S. 8, vgl. 10. 16. Eliasberg, S. 2. 17. In diesem Band, S. 106.

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scheinlich handelt es sich hier um verschiedene Male der Abwendung von Nietzsche, die sich innerhalb dreier Jahre (1895-97) zutrugen und in denen Buber, von dem ihn begeisternden Autor irritiert, die Lektüre öfter unterbrach. Der im Manuskript geäußerte Ärger über Wagner kann nur ein beiläufiger gewesen sein, so daß er in der Bemerkung an Eliasberg gar nicht gemeint war. Auch erscheint diese selbst nicht als unbedingt überzeugend. Ihr Ton ist blasiert und zurückweisend. Hier hat ein Wunderkind – als das Buber von den Großeltern betrachtet wurde – dem jüngeren und ihn bewundernden Verwandten eine Lektion erteilt. Als weitere Gründe, daß das Manuskript erst nach dem Gespräch mit Eliasberg und dem Studienjahr 1897/98 entstanden sei, führt MendesFlohr Bubers »erhebliche Belesenheit in französischer und deutscher Literatur sowie philosophische Kenntnisse auf relativ hohem Niveau« ebenso wie den Umstand an, daß er »einige spezielle Ausdrücke aus dem Bereich der Psychologie« verwandte. 18 Von Bubers Rhetorik soll man sich jedoch nicht blenden lassen. Was er schreibt, macht insgesamt eher den Eindruck bloßer Lesefrüchte als den eines tiefen Verständnisses, und alle Autoren, die er anführt, findet man auch bei Nietzsche selbst erwähnt, Georg Brandes und Maurice Barrès einmal ausgenommen. Was die Datierung des Manuskripts angeht, verdient Barrès besondere Beachtung. Buber mag auf ihn durch die Lektüre von Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal aufmerksam geworden sein. 19 Im Aufsatz »Zur Wiener Literatur« zitiert Buber ihn kenntnisreich, wohingegen er ihn sonst nur noch im »Zarathustra«-Manuskript selbst nennt.20 Der Grund liegt vermutlich darin, daß Barrès im Verlauf der Dreyfus-Affäre, die seit dem Herbst 1897 Frankreich in zwei Lager spaltete, seinen antibourgeoisen Protest in einen militanten Nationalismus, Antisemitismus und Gallikanismus verwandelt hatte. Von da an war er für Buber nicht mehr zitierfähig, ungeachtet des Umstands, daß die Parteinahme für den Zionismus erst ein Jahr später erfolgte. Berücksichtigt man diese Einwände, muß Bubers Manuskript früher als bisher angenommen datiert werden. Es besteht aus zwei ungleichen Teilen. Der erste weist einen einheitlichen, in sich geschlossenen Charakter auf. Buber selbst nennt ihn »die Einleitung […] und die Anleitung

18. Mendes-Flohr, S. 88 f. 19. Vgl. in diesem Band, S. 119-124. Bahr hat seine, von Buber besprochenen Studien zur Kritik der Moderne (1894) Barrès gewidmet, Hofmannsthal die Trilogie Le Culte du Moi am 1. 10. 1891 in der Wiener Modernen Rundschau besprochen, vgl. JW I, S. 269-275. 20. Vgl. in diesem Band, S. 119 bzw. 111 und 114.

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zum Verstehen« eines künftigen Buchs über Nietzsche aus seiner Hand. 21 Im zweiten Teil werden Einfälle gesammelt, von denen man den Eindruck gewinnt, daß sie im Lauf der Zeit entstanden sind und notiert wurden. Er ist mit der Überschrift »Aus älteren Papieren« versehen.22 Er muß, weil dort Barrès genannt wird, zumindest in Teilen zur Zeit von dessen Lektüre durch Buber und also vor Herbst 1897 entstanden sein. Den ersten Teil wird man auch nicht viel später datieren. Insgesamt kommen am ehesten die Jahre 1896/97 in Betracht, die Zeit des Besuchs der Abschlußklasse und des Abiturs in Lemberg und die der ersten beiden Semester in Wien, wenn man sich denn entschließt, die Zeitangabe bei Eliasberg für ungenau zu halten. Dafür spricht auch, daß von zionistischen oder allgemein jüdischen Dingen, die Buber nach dessen Angaben erst im Sommer 1898 (wieder-)entdeckte, im ganzen Manuskript nicht die Rede ist. Zur Wiener Literatur

Deutscher Erstdruck. Druckvorlage: Z literatury wiedenskiej, in: Przeglad tygodniowy [zycia spolecznego, literatury i sztuk pieknych] = Wochenschau [für Gesellschaftsleben, Literatur und Schöne Künste] 32, Nr. 25 vom 19. 6. 1897, S. 297 f. und Nr. 27 vom 3. 8. 1897, S. 321 f., mit einer Porträtzeichnung Bahrs und einem Foto von Schnitzler, gezeichnet »Marcin Buber«. Aus dem Polnischen übersetzt von Dorthe Seifert in Zusammenarbeit mit Rivka Plesser, redigiert von Ashraf Noor und Pawel Maciejko. Auf eine Nachahmung des artifiziellen Tons der Jahrhundertwende wurde bewußt verzichtet. BB 1-4, MBB 1. Englische Übersetzung [mit Kommentar von William M. Johnston: »Martin Buber’s Literary Debut«], in: The German Quarterly 47, 1974, S. [557-]559-566. MBB 1380. Der Überblick über wichtige Vertreter der Literatengruppe Jung Wien ist Bubers erste Veröffentlichung überhaupt. 23 Erschienen in einer Warschauer Kulturzeitschrift, zählt sie zugleich zu den ersten Darstellungen, die über die aktuelle Literatur Wiens in polnischer Sprache verfaßt worden sind. Buber hat die Artikelserie im ersten Studienjahr (Wintersemester 1896/97 – Sommersemester 1897) an der Universität Wien geschrieben. In ihr zeigt er sich, wenngleich erst jüngst aus Galizien in die Hauptund Residenzstadt gekommen, nicht als ungebildeter Provinzler, sondern als junger Mann mit literarischem Interesse und erstaunlichem Urteils21. In diesem Band, S. 103. 22. In diesem Band, S. 109. 23. MBB zählt insgesamt 1416 Veröffentlichungen, endet allerdings 1978 und ist auch für die Zeit davor nicht vollständig.

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vermögen. Sie ist mehr stolzer Bericht an die Daheimgebliebenen als Versuch einer journalistischen Karriere in Polen. Besonders die Großmutter, die in den Kinderjahren die Mutter ersetzte, pflegte eine ausgiebige Lektüre und erscheint als heimliche Adressatin der Artikel. Sie zeigte dem Enkel »die Liebe […] zum echten Wort[,] so unmittelbar und so fromm«. 24 Schopenhauers Lehre vom Erhabenen

Erstdruck. Druckvorlage: handschriftliches Manuskript, ohne Datum, 26 S. Herkunftsort MBA Jüdische National- und Universitätsbibliothek Jerusalem, Arc. Ms. Var. 350/7a. In derselben Mappe befindet sich auch das Konzept der Arbeit (10 S.). Es weist leicht veränderte Kapitelüberschriften auf: »1. Historische Entwicklung der Lehre«, »2. Schopenhauers Theorie des Erhabenen«, »3. Die Widersprüche in Schopenhauers Theorie«, »4. Das Ethisch-Erhabene«. Inhaltlich mit der Endfassung weitgehend identisch, unterscheidet es sich von ihr vor allem in Kapitel 1 durch eine breitere Darstellung der Behandlung des Erhabenen in der Zeit zwischen Edmund Burke und Immanuel Kant. Das Manuskript stellt die einzige erhaltene Studienarbeit Bubers dar. Aufgrund des Titels läßt es sich in das Wintersemester 1897/98, die Zeit des ersten Aufenthalts an der Universität Leipzig datieren. Dort nahm Buber am philosophischen Seminar von Paul Barth (1858-1922) »Einführung in die Philosophie, ausgehend von Schopenhauer, ›Welt als Wille und Vorstellung‹« teil. 25 Der heute in Vergessenheit geratene Barth war an einer Verbindung von Geschichtsphilosophie und Soziologie interessiert. Buber scheint ihn geschätzt zu haben, hörte er doch in seinem zweiten Leipziger Semester (Wintersemester 1898/99) erneut bei ihm. Daß er von ihm aber bleibende Einflüsse erfuhr, wird man nicht behaupten können. Die Seminararbeit selbst zeigt eine Vertrautheit mit der philosophischen Tradition ganz allgemein wie auch mit dem Denken Schopenhauers im besonderen. Eine besondere Sympathie für dieses ist indes nicht zu erkennen.

24. M. Buber, AF, S. 5. 25. Vgl. in diesem Band, S. 301.

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Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte

Druckvorlage: Die Kunst im Leben. Organ der Kunstwissenschaftlichen Abteilung der Berliner Finkenschaft, hrsg. von Paul Eberhardt, Adolf Grabowsky, Karl Joseph Gross, 1, Heft 2, Dezember 1900, S. 13. BB 9, MBB 6. BB und MBA weisen eine erweiterte, russische Version in einer Berliner Exilantenzeitschrift, Zapal, »Der Westen«, aus. Die Quelle ist wohl die Biographie von Kohn, der sie so charakterisiert: »erster Aufsatz einer Aufsatzreihe: Wegbereiter der neuen Kultur. Mit einem von Buber geschriebenen einleitenden Aufsatz für die Aufsatzreihe.« 26 Bubers zweite Arbeit über Nietzsche ist ein Nachruf auf den Ende August Verstorbenen, erschienen in einer studentischen Zeitschrift, Kunst im Leben. Sie stellte das Organ der Kunstwissenschaftlichen Abteilung der Berliner Finkenschaft dar, einer studentischen Verbindung, in der man »(außer dem [schwarz-rot-goldenen] Band [über der Brust mit der Jahreszahl 1848]) keine ›Couleur‹ trug, also keine bunten Kappen, und die sich auch sonst nicht burschenschaftlich betätigte: keine Kneipen, keine ›Bestimmungsmensuren‹, keinerlei ›Komment‹«. 27 Zu ihren Mitgliedern zählten auch jene Juden, die weder deutschnational noch zionistisch waren. Buber selbst gehörte im Wintersemster 1900/01 zur V. J. St., der Vereinigung Jüdischer Studierender. 28 Sein Kontakt zur Finkenschaft – oder auch nur zu ihrer Kunstwissenschaftlichen Abteilung – resultierte aus Bekanntschaften, möglicherweise aus der zu Adolf Grabowsky (1880-1969), einem der Herausgeber. Dazu mag der Umstand geholfen haben, daß er genau zu dieser Zeit in der Berliner Zionistischen Vereinigung eine Sektion für jüdische Kunst und Wissenschaft mit ins Leben rief. 29 Für die Öffentlichkeit bestimmt, ist Bubers Arbeit nicht so sehr auf Identifikation angelegt wie das Zarathustra-Manuskript, sondern in einem ruhigeren und sachlicheren Ton verfaßt. Was ihren Inhalt angeht, so wirkt sie eigenständiger als dieses. In den Jahren, die zwischen den Texten liegen, hatte er Erfahrungen als Redner gemacht und dabei einen kontrollierteren Ausdruck gefunden. Freilich steht er noch weiter im Bann von

26. Kohn, S. 388, vgl. BB zu Nr. 9, MBB zu Nr. 6. Die Zeitschrift selbst ist in L’Émigration russe en Europe, der Standardbiographie der russischen Exilliteratur, nicht verzeichnet. 27. M. Brod, Streitbares Leben, S. 137 über das Prager Pendant. 28. Vgl. E. Rothschild, Meilensteine, S. 8, W. Gross, The Zionist Students’ Movement, S. 145. 29. Vgl. Kohn, S. 38 f., Simon, S. 53.

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Nietzsches Denken und dessen Figuren, was an den meisten seiner Arbeiten dieser Zeit beobachtet werden kann. Feste des Lebens

Druckvorlage: Die Welt 5, Nr. 9 vom 1. 3. 1901, S. 8 f. BB 17, MBB 13. Wiederabgedruckt in: JB I, S. 23-27. Englische Übersetzung, in: The First Buber, S. 18-20. Der mit Emphase geschriebene Artikel erschien in der Welt, dem Zentralorgan der Zionistischen Bewegung, noch bevor Buber im Sommer 1901 von Herzl zu ihrem leitenden Redakteur bestellt worden war. 30 Für sie hatte er schon andere Beiträge geliefert, so im November 1899 ein Gedicht, »Unseres Volkes Erwachen«. Anfang 1901 folgte die Programmschrift »Gegenwartsarbeit«. In ihr wird »das Wesen und die Seele der Bewegung in der Umgestaltung des Volkslebens, in der Erziehung einer wahrhaft neuen Generation, in der Entwicklung des jüdischen Stammes zu einer starken, einheitlichen, selbständigen, gesunden und reifen Gemeinschaft« erkannt. 31 »Feste des Lebens« schafft eine Verbindung zwischen Gedicht und Programm und macht die Eigenart von Bubers zionistischem Engagement besonders deutlich. In Gestalt eines persönlichen Bekenntnisses und in lyrischer Prosa verfaßt, soll der Artikel Propaganda, aber auch eine philosophische Theorie des Festes sein, in der der Gestus und die Ideen einer von Nietzsche inspirierten Lebensreform ihre Anwendung auf das Judentum finden. Sein Titel war von einer Broschüre inspiriert, die Peter Behrens (18681940) verfaßte, einer der Protagonisten des deutschen Jugendstils. In der zweiten Jahreshälfte 1900 erschien von ihm Feste des Lebens und der Kunst, über das (Reform-)Theater als »höchstem Kultursymbol« im Eugen Diederichs Verlag. 32 Behrens stattete für diesen Verlag auch selbst Bücher aus und arbeitete um 1900 an einer neuen Drucktype, denn »ein 30. Zur Bestellung, vgl. M. Buber, B I, S. 160-163 (Herzl an B., 7. 8., an Herzl, 11. 8., Herzl an B., 13. 8., an Herzl 15. 8. 1901), Kohn, S. 39. 31. M. Buber, JB I, S. 20. In der Erstfassung schließt sich an das Zitat unmittelbar folgende Erklärung: »Das heisst: in jenen Processen, deren vorläufig noch unzulänglicher Ausdruck die Losungsworte der ›Hebung‹ sind, die der Londoner Congress uns brachte« (Gegenwartsarbeit, S. 4). Daß Buber in JB den Bezug auf den offiziellen Zionismus strich – der seinerseits mit dem Begriff der »Hebung« aufklärerischem Vokabular verpflichtet war –, ist typisch für die Zeit nach dem Bruch mit Herzl. 32. Zu Behrens’ Publikation, vgl. die Briefe von Behrens an Diederichs, in: E. Diederichs Selbstzeugnisse und Briefe, S. 111-115. Zum Titelblatt der Broschüre, vgl. S. 84. Diederichs hatte seinen Verlag in Florenz gegründet, ihn aber in Leipzig und ab 1904 in Jena geführt.

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sehr ernster Stil in der Schrift für sehr ernste Bücher thut uns not. Dann werden wir auch in das tägliche Leben diesen schönen Stil hineintragen«. 33 Buber selbst konnte Behrens später als Umschlaggestalter für seine Reihe Die Gesellschaft gewinnen, die ab 1906 erschien, freilich nicht bei Diederichs. Geliefert wurden »[s]chlichte geschwungene Linien und Blüten-Vignetten«.34 Kultur und Zivilisation

Druckvorlage: Der Kunstwart, hrsg. von Ferdinand Avenarius, 14, Nr. 15/ 1, Mai 1901, S. 81-83. BB 24, MBB 21. Buber trat als Student in Verbindung mit etablierten Kreisen des wilhelminischen Bildungsbürgertums, die auf Reformen sinnten. Hier fand er Ideen, die er seinerseits für eine kulturelle Renaissance des Judentums fruchtbar machen konnte. Ein Zeichen dafür stellt die Veröffentlichung seiner Arbeit im Kunstwart dar, den Ferdinand Avenarius (1856-1923) herausgab. Dieser war, samt seinem Mitarbeiterstab, eine der »Säulen, auf denen der [Diederichs] Verlag in der Anfangszeit ruhte«. 35 Hier gedruckt zu werden, war für Buber eine Anerkennung auch außerhalb zionistischer Kreise. Der Kunstwart bildete die »Plattform für eine breitgefächerte Gebildeten-Reformbewegung im Wilhelminischen Deutschland […], die sich aus antikapitalistischer Kulturkritik und einem weitverbreiteten Unbehagen an interessenpolitischer Segmentierung der Gesellschaft speiste. Sie reagierte auf die ständisch orientierte Klassengesellschaft des Kaiserreichs mit einem geistesaristokratischen Gegenentwurf, verkündete einen neuen ethischen Idealismus als Bedingung für nationalkulturelle Identität, huldigte einem nationalen Sozialismus im Sinne einer darwinistisch grundierten Volksgemeinschaftsideologie und forderte einen kulturpolitisch definierten neuen Nationalismus ein.« 36 Zu diesem Programm paßt auch der Titel, den Buber der Arbeit gab. Der Gegensatz von Kultur und Zivilisation, als solcher von Kant stammend, wurde im Spätwilhelminismus als der zweier Gesellschaftsformationen begriffen. Allein seine Kultur unterscheide Deutschland von der Zivilisation des Westens, nämlich Englands und Frankreichs. Diese Behauptung führte sukzessive 33. E. Diederichs Selbstzeugnisse, S. 115 (Behrens an Diederichs, 24. 8. 1900). Zur Mitarbeit von Behrens, vgl. I. Heidler, Künstlerische Buchgestaltung im Eugen Diederichs Verlag, S. 182-184, 186. 34. Mendes-Flohr, S. 111. 35. S. Breuer, Kulturpessimist, S. 45. Die beiden anderen Säulen stellten die Autoren des literarischen Programms und die der Neuen Gemeinschaft dar, vgl. S. 45 f. 36. R. v. Bruch, Kunstwart und Dürerbund, S. 430.

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zu einer Immunisierung gegen die in der Französischen Revolution erhobenen Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Mit dem Ersten Weltkrieg wurden ihnen deutscherseits die »Ideen von 1914« gegenübergestellt. 37 Diesen Schritt vollzog Buber allerdings niemals, trotz aller anfänglichen Kriegsbegeisterung. Zwei Bücher nordischer Frauen

Druckvorlage: Neue Freie Presse vom 28. 7. 1901, Literaturblatt, S. 21-23. BB 35, MBB 33. Zu Bubers frühen journalistischen Arbeiten zählt auch diese Besprechung neuer Bücher von Ellen Key (1849-1926) und Selma Lagerlöf (18591940). In einem späteren Brief an Key nahm Buber eine ironische Distanz zu dieser Arbeit ein. »Bei dem Wort ›Besprechung‹ in Ihrem Brief fiel mir plötzlich ein, daß ich einmal, vor vielen Jahren, über sie geschrieben habe. Es hieß ›Zwei nordische Frauen‹, redete über Sie und Selma Lagerlöf und war in der Neuen Freien Presse abgedruckt. Ich glaube nicht, daß es viel getaugt hat. Ich war damals ein sehr junger Bursch und hatte mehr Ahnung als Richtung in mir.« 38 Bei diesem Urteil muß man freilich auch in Rechnung stellen, daß unter Schriftstellern Arbeiten für die Tagespresse schlecht angesehen waren. Der Kampf von Karl Kraus (1874-1936) gegen Hermann Bahr, den »Herren aus Linz«, und der Selbsthaß von Fritz Mauthner sind die bekanntesten Beispiele dafür. 39 Buber interessierte sich für die beiden schwedischen Autorinnen aus unterschiedlichen Gründen. Selma Lagerlöf, die schon mit ihrem Erstling, Gösta Berling (dt. 1896), Aufsehen erregt hatte, beeindruckte ihn als Schriftstellerin. Ihr betonter Subjektivismus und häufiger Gebrauch von Motiven der Volksliteratur, in ihrem Fall von isländischen Sagas, zogen ihn besonders an. Dies war nicht nur der in Deutschland seit 1890 grassierenden Skandinavienmode geschuldet, Bubers Interesse entsprach auch seinen Bemühungen um eine Poetik und Kompositionstechnik, in der traditionelle Gehalte und moderne Zwecke ineinander verflochten waren. 40 Ellen Key gehörte um die Jahrhundertwende zu den Protagonistinnen der Frauenbewegung und großen Reformpädagoginnen. Ihr Buch Das Jahrhundert des Kindes (1902) wurde »viel gelesen und machte 37. Vgl. H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, S. 173-238. 38. M. Buber, B I, S. 266 (an Key, 27. 9. 1908). 39. K. Kraus, Die demolirte Literatur, S. 271 u. ö. Vgl. G. Landauer/F. Mauthner, Briefwechsel, S. 98 (an Landauer, 28. 6. 1904). 40. Zur Skandinavienmode, vgl. J. Zernack, Der »Mythos vom Norden«, S. 211, zu Bubers Poetik, vgl. P. Mendes-Flohr, Buber’s Rhethoric.

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nach einem authentischen Bericht auf orthodoxe [jüdische] Frauen und Mädchen einen ›überwältigenden Eindruck‹«. 41 Zu ihr trat Buber später in eine nähere Beziehung, als er sie als Mitarbeiterin für seine sozialpsychologische Sammlung Die Gesellschaft gewann. In dieser Reihe erschien von ihr 1909 der Band Die Frauenbewegung. 42 Die Abenteuer des kleinen Walther

Druckvorlage: Neue Freie Presse vom 18. 10. 1901, Literaturblatt, S. 3133. BB 10, MBB 7. Es handelt sich um die Rezension eines Bandes des Niederländers Eduard Douwes Dekker, der sich Multatuli nannte. Heute für die Allgemeinheit fast vergessen, wurde er um die Jahrhundertwende viel gelesen. Sigmund Freud zählte seine »Briefe und Werke« sogar zu den »zehn guten Bücher[n]«, die 1907 bei einer Umfrage der Neuen Blätter für Literatur und Kunst ermittelt wurden. 43 Multatuli, der ehemalige Kolonialbeamte in Niederländisch-Indien, erwarb sich Ruhm durch scharfe Gesellschaftskritik. In vielem an Charles Dickens erinnernd, geißelte er die einfältige Bigotterie, die selbstzufriedene Hartherzigkeit und den alltäglichen Rassismus der Bewohner eines Landes, das sich selbst als Musterbeispiel für Demokratie und Toleranz verstand. Zugleich aber versetzte er den Leser in eine Welt des Traums und der Phantasie, die in scharfem Kontrast zu einer Gesellschaft stand, in der soziale Kälte herrschte. Für deutsche Leser hat ihn sein Übersetzer Wilhelm Spohr entdeckt, ein Mitglied der Neuen Gemeinschaft. 44 A. M. und Constantin Brunner

Druckvorlage: Ost und West, hrsg. von Leo Winz, 12, 1912, Aprilheft, Sp. 333-338. BB 111a, MBB 117. Zwischen der Abfassung des vorigen und dieses Texts liegen elf Jahre, in denen Buber in anderen Bereichen als in dem von Philosophie und Kul41. M. Breuer, Jüdische Orthodoxie, S. 252 (Zitat aus der Zeitschrift Israelit von 1907). 42. Zur Aufstellung der erschienenen Bände und ihrer Autoren, vgl. Mendes-Flohr, S. 115 f. und E. Wiehn, Zu Martin Bubers Sammlung Die Gesellschaft, S. 202. Außer Lou Andreas-Salomé, von der im selben Jahr Die Erotik erschien, war Key die einzige Frau, die an dem Vorhaben mitarbeitete. Zu späteren Kontakten zwischen ihr und Buber, vgl. M. Buber, B I, S. 536 f. (an Key, 21. 6. 1918: Plan eines Aufsatzes über Buber) und B II, S. 217 f. (an Key, 23. 3. 1925: Bitte um Unterstützung eines Manifests gegen den Militärdienst). 43. S. Freud, Briefe, S. 268 (an das Antiquariat Hinterberger, 1907). 44. Vgl. G. Cepl-Kaufmann/R. Kauffeldt, Berlin-Friedrichshagen, S. 411.

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turkritik gearbeitet hat. Der Artikel selbst stellt eine Kontroverse mit dem Kreis um Constantin Brunner dar. Dieser hatte als Journalist begonnen und war ein philosophischer Autodidakt, zog aber zahlreiche Anhänger an sich, die ihn blind verehrten. Vielleicht bezieht sich Scholems Äußerung, unter dem gängigen »Selbstbetrug« liberaler deutscher Juden sei der Brunners »am bösartigsten«, auch auf diese Form der Sektenbildung. 45 Einer der Anhänger Brunners, der nicht weiter identifizierbare A. M., richtete zu Jahresbeginn 1912 einen heftigen Angriff gegen Buber, den er in die Redaktion der Zeitschrift Ost und West sandte. Die Drei Reden über das Judentum zum Anlaß nehmend, beschuldigte er darin Buber des Plagiats. Ost und West war eine zu Jahrhundertanfang gegründete und vom Schriftsteller Leo Winz (1876-1952) herausgegebene Zeitschrift, die ein prozionistisches und antiassimilatorisches Programm aufwies. 46 Sie warb um Sympathie für das orientalische und östliche Judentum, durchaus auch mit den Methoden des Boulevard, war sie doch »bekanntlich die verbreitetste und angesehenste jüdische Zeitschrift der Welt«. 47 Aber auch namhafte Persönlichkeiten des deutschen und russischen Judentums arbeiteten regelmäßig mit. So waren kleinere Arbeiten Brunners in den beiden vorangegangenen Jahren dort erschienen.48 Buber kannte seinerseits Leo Winz, hatte er doch selbst bis 1905 in Ost und West publiziert und auf den Titelseiten der ersten Hefte sogar als ein an der Herausgabe Beteiligter firmiert. Allerdings stand er Winz mit Antipathie gegenüber, vielleicht weil dieser allzu sehr den Typ des Journalisten verkörperte, der mit Hilfe sensationeller Meldungen die Auflage zu steigern suchte. 49 Auch konkurrierte Winz mit Programmen der jungen zionistischen Avantgarde, etwa indem er 1902 den Kunstverlag Phönix gründete, in dem »jüdische Postkarten und Bilder jüdischen Inhalts nach Postkarten« erstmals verlegt wurden. 50 45. G. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S. 31. 46. Zu Ost und West, vgl. D. Brenner, Marketing Identities, der die Plagiatsaffäre aber nicht erwähnt und auch an einer intellektuellen Biographie Winz’ und seiner wichtigsten Mitarbeiter Benjamin Segel, Theodor Zlocisti und Arno Nadel nicht interessiert ist. 47. So Winz in einer Selbstdarstellung, vgl. Zionistische Zentralarchive Jerusalem, Nachlaß Winz A 136/101/1 (an Buck, 31. 12. 37). Ihr Status als »Organ der Alliance Israëlite Universelle« von 1905 bis 1915 sicherte Ost und West wirklich eine große Verbreitung. 48. Vgl. C. Brunner, Eine Spinoza-Gesellschaft? (eine Ankündigung seines Buchs Spinoza gegen Kant), und ders., Onkel Abraham und der Dieb (eine moralische Erzählung). 49. Vgl. M. Buber, B I, S. 197 (an Herzl, 26. 5. 1903): er habe Winz »aus persönlichen Gründen seit jeher gemieden«. 50. Nachlaß Winz A 136/101/1 (an Buck, 31. 12. 37).

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A. Ms. Artikel wurde Buber vor Abdruck von der Redaktion geschickt, um ihm Gelegenheit zu geben, gleich zu antworten, was er auch tat. 51 Beide Beiträge erschienen in der Aprilnummer von Ost und West. Daß Buber auch die Identität des Verfassers offengelegt wurde, ist ungewiß und wenig wahrscheinlich. In seinen Briefen findet sich kein Hinweis darauf. In Ost und West konnte man übrigens regelmäßig Beiträge finden, die gar nicht, mit Kürzeln oder Pseudonymen gezeichnet waren. Mitunter geschah dies, um den Verfasser zu schützen, etwa bei Berichten über das Schicksal russischer Juden, die von jemandem vor Ort geschrieben worden waren. Bisweilen unternahm Winz dergleichen aber auch auf eigene Faust, so im Fall des Nachrufs auf den berühmten Historiker und Bibliographen des Judentums, Moritz Steinschneider (1816-1907), den Simon Bernfeld (1860-1940) sogar auf Bestellung verfaßt hatte. 52 Als er gegen die Vorgangsweise der Redaktion protestierte, wurde ihm mitgeteilt, er habe bereits in der Welt einen Artikel zum Thema veröffentlicht und der Leser könne den Beitrag in Ost und West für einen bloßen Nachdruck dessen halten.53 Daniel

Druckvorlage: Daniel. Gespräche von der Verwirklichung, Leipzig: Insel Verlag 1913 [im folgenden: D]. BB 119, MBB 126. 2., leicht veränd. Aufl. 1919, 3. Aufl. 1922 (übernommen 1933 vom Schocken Verlag Berlin). Aufgenommen in: W I, S. 9-76. Übersetzungen ins Hebräische 1917 (BB 175, MBB 197), ins Niederländische 1947 (MBB 763), ins Englische 1964 (MBB 1247), ins Japanische 1969 (MBB 1326) und auszugsweise ins Französische 1951 (MBB 865). Im MBA befindet sich unter Arc. Ms. Var. 350/bet 8 ein Oktavheft [im folgenden: O], in das Buber den Text eingetragen und überarbeitet hat. Ihm sind Entwürfe für die Titel der einzelnen Abschnitte und für die Fortsetzung vorangestellt. Der Anfang der Arbeit an D läßt sich einigermaßen genau rekonstruieren. Im MBA wird auch eine Kladde [im folgenden: K] mit Notaten, Entwürfen und anderem Material aufbewahrt. 54 Dort findet sich in 51. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/62c,2 (an Landauer, 11. 3. 1912): Bitte um Rücksendung des »Aufsatzes von A. M., da ich ihn vielleicht am Dienstag mit der Korrektur vergleichen muss«. Bubers Artikel ist auf den 8. 3. 1912 datiert. 52. Vgl. Dr. S. Almoni, Moritz Steinschneider. 53. Vgl. Nachlaß Winz A 136/101/1 (Bernfeld an Winz, Winz an Bernfeld, 18. 2. 1907). 54. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/8a-d, u. a. das Programm zu einem Vortragsabend (Arc. Ms. Var. 350/8d), den Buber in der Berliner Secession, Kurfürstendamm 232, am 12. 3. 1916 hielt. Er las dort aus D das »Gespräch über der Stadt« und aus den noch

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einer Sammlung loser Blätter auch eines mit dem Titel »Erster Entwurf«. »Erster Entwurf (1909?) Zwiegespräch am Morgen Von Erlebnis und Erfahrung Von dem Schöpfungsakt Von gebundener Polarität Von der Befreiung Von freier Polarität Von der Erlösung Von den Hindurchgehenden und der Einheit Von der Mystik Vom Mythos Von der Magie« 55 Buber datierte den ersten Entwurf selbst auf 1909, offenbar nachträglich, mit Bleistift und einem Fragezeichen. Schenkt man dem Glauben, so lassen sich zwei wichtige Schlüsse ziehen. Zum einen hätte er schon zu diesem Zeitpunkt wichtige Begriffe seiner Philosophie entwickelt. Allerdings waren »Erlebnis«, »Einheit«, »Mystik« die Schlagwörter des neuen Denkens nach 1900. Zum anderen stünde D in großer Nähe zur ersten Prager Rede und der darin vorgenommenen Neubestimmung des Judentums. Tatsächlich kann man das Buch insgesamt als die Fortsetzung, und in mancher Hinsicht auch Weiterentwicklung, der in den Drei Reden angestellten Überlegungen begreifen, auch wenn beinahe alles spezifisch Jüdische ausgetragen und entfernt wurde. In O notierte Buber am Ende der jeweiligen Abschnitte auch die Daten ihrer Fertigstellung und Durchsicht. 56 Im folgenden werden sie mit den Überschriften aus D angeführt:

nicht als Buch erschienenen Ereignissen und Begegnungen den Abschnitt »Der Dämon im Traum«. Überhaupt hat Buber öfter aus D vorgelesen, vgl. M. Buber, B I, S. 320 (an Kohn, 19. 11. 1912: bei einem Abend der Bar Kochba will er den Abschnitt »Vom heroischen Leben« lesen). 55. Arc. Ms. Var. 350/8b. Auf den von Buber numerierten Zetteln – 106 an der Zahl – unternahm er Formulierungsversuche, erstellte aber auch Konzepte. 56. Arc. Ms. Var 350/bet 8.

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»Von der Richtung« – »vollendet 13., durchges[ehen] 15. VII. 12« »Von der Wirklichkeit« – »diese Fassung voll[endet] 28., endgilt[ige] Fassung voll[endet] 31. VII. 12« »Von dem Sinn« – »voll[endet] 4. IX. 12, ergänzt 5. IX.« »Von der Polarität« – »diese Fassung voll[endet] 12., endgilt[ige] Fassung voll[endet] 15. VIII. 12« »Von der Einheit« – »voll[endet] 22. XI. 12« Die ersten vier Abschnitte von D wurden also in dem relativ kurzen Zeitraum zweier Monate verfaßt. Anhand der Korrespondenz mit Landauer erfährt man auch einiges über die Arbeit am Text selbst. Für Buber wurde der Freund wieder zu einer großen Hilfe, wenn auch anders als bei den Ekstatischen Konfessionen oder im Plagiatstreit mit Brunner. Bevor die Familien in ihre jeweiligen Sommerfrischen aufbrachen – Bubers nach Riccione an der italienischen Adria, Landauers nach Krumbach im bayerischen Schwaben –, schrieb er : »Wenn ich recht verstehe, soll ich etwas von Ihrer Arbeit erhalten; darauf freue ich mich recht sehr.« 57 Landauer war der erste Leser und er las so wohlwollend wie genau. 58 Buber wußte dies auch zu schätzen. Man findet in K, eingetragen in ein kleines, längliches und schwarzglänzendes Notizbuch, unter anderem den Entwurf einer Würdigung: »An Land[auer]. Sie sind unter meinen Freunden der einzige, für den Daniel von je da war. So ist es mehr als der Ausdruck eines Gefühls, wenn ich diese erste Urkunde seines Lebens Ihnen zueigne.« 59 Bis in den Oktober hinein – ähnliches wird sich bei Durchsicht der Fahnen Ende 1912 und Anfang 1913 wiederholen – wurden in einem regen Verkehr Briefe und Manuskripte zwischen den Freuden gewechselt. Doch spendete Landauer in ihnen nicht nur Beifall, sondern er kritisierte auch und wurde um Rat gefragt. Anfang August, als Buber gerade am »Gespräch nach dem Theater« arbeitete, schickte er den bereits angekündigten »zweiten Dialog«, der »in besonderer Weise Ihnen gehört«, an Landauer und schrieb: »Ich möchte mich dann auch wegen der Anordnung des Buches (oder der Bücher?) mit Ihnen beraten; es ist ein neuer Entwurf hinzugekommen, so daß es 12 sind, und ich denke daran, sie in 2 Teile zu ordnen (7 grundsätzliche und 5 historische, diese im allgemeinen länger); wenn ich das tue, könnte ich das erste Buch schon in diesem Herbst drukken lassen, was mir nicht unangenehm wäre; das zweite könnte ich wohl 57. Arc. Ms. Var. 350/61.3, 7 (Landauer an B., 17. 7. 1912). Buber mußte Landauer also unmittelbar nach Durchsicht des ersten Gesprächs am 15. 7. um Lektüre gebeten haben. 58. Vgl. P. Mendes-Flohr, Buber’s Rhetoric, S. 13 f. 59. Arc. Ms. Var. 350/8a.

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erst in Jahresfrist veröffentlichen.«60 Der Entwurf, von dem hier die Rede ist, findet sich, neben mehreren anderen, am Anfang von O. Er lautet: »Daniel 1. Von der Richtung. 2. Von Wirklichkeit und Verwirklichung. 3. Von Austragung, Umfassung, Verwandlung und vom Dichten (›G[espräch] vom Theater‹). 4. Von der heiligen Unsicherheit und vom heroischen Leben. 5. Von der Wahl. 6. Von Einheit und Zweiheit. 7. Von dem Bedingten und dem Unbedingten. Das zweite Buch 1. Mythos, Magie, Mysterium (über die Urformen der Realisierung). 2. Kosmos Sohn des Chaos (über die Lehre Bachofens). 3. Requies mea (über das Urchristentum). 4. Tat und Geschichte (über das Gestaltende und die ›Entwicklung‹). 5. Von Unmittelbarkeit und Entmittelung (über den Sinn der Gemeinschaft).« 61 Der Plan ist niemals verwirklicht worden. Buber kürzte D von sieben auf fünf Dialoge, die zum Teil andere Namen tragen und in der Reihenfolge umgestellt wurden. 62 Ein zweites Buch schrieb er in dieser Form überhaupt nicht. Für die geplante Fortsetzung hatte ihm Landauer den Rat erteilt: »Nach den zwei Gesprächen, die ich bisher kenne, kann ich zur Herausgabe bisher Folgendes sagen: zwei Bände in der Einteilung, die Sie beschreiben: gut, aber sie müßten beide zugleich erscheinen und nur zusammen abgegeben werden. Da Sie jetzt darin sind, bleiben Sie darin, und machen Sie, wenn es irgend geht, fertig, was Sie skizziert haben, so daß das Ganze bald fertig sein wird. Geben Sie keine Zeile heraus, ehe das Ganze fertig ist und Sie sagen können: Nun geh hinaus. Es sollten zwei Bände in dem schönen Taschenformat der Goethezeit sein.«63 An diesen 60. M. Buber, B I, S. 307 f. (an Landauer, 7. 8. 1912). 61. Arc. Ms. Var. 350/bet 8. 62. Im Entwurf selbst sind die aufgenommenen Abschnitte angestrichen worden, vgl. Friedman, S. 391. In D bleibt der erste Dialog unverändert, der zweite heißt »Von der Wirklichkeit«, an dritter Stelle erscheint »Von der heiligen Unsicherheit und vom heroischen Leben« unter dem Titel »Von dem Sinn«, darauf folgt das »Gespräch vom Theater« als »Von der Polarität« und den Schluß bildet »Von Einheit und Zweiheit« als »Von der Einheit«. 63. M. Buber, B I, S. 309 (Landauer an B., 10. 8. 1912) = G. Landauer, LGB I, S. 413.

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Rat hat sich Buber allerdings nicht gehalten. In einem Brief Mitte September aus Italien schrieb er: »Lieber Landauer, eine kuriose Geschichte: ich habe ein paar Dialoge an Zeitschriften geschickt, davon einen (›Wirklichkeit‹) an die Zukunft. Er wurde umgehend akzeptiert.« 64 Die in der Buberforschung bisher übergangene Arbeit erschien, nur zwei Monate nach Fertigstellung, in der Zukunft vom 14. 9. 1912, S. 341-352, unter dem Titel »Von Wirklichkeit und Verwirklichung« [im folgenden: Z]. Auch der erste Dialog »Von der Richtung« wurde unter dem Titel »Gespräch von der Richtung« (BB 112, MBB 118) in den Neuen Blättern, 2. Folge, Heft 1, S. 5-20 [im folgenden: NB], vorabgedruckt. Das Erscheinen des Buchs selbst schien bald möglich zu sein, jedenfalls erfuhr Landauer im nächsten Brief: »Der ›Daniel‹ ist vom Inselverlag angenommen worden und kommt im Winter heraus.« 65 Die Drucklegung zog sich aber noch bis ins Frühjahr 1913 hin. Mitte Februar konnte Buber Landauer den fünften Bogen schicken, zusammen mit dem Vorwort zu Kalewala. 66 Danach ist in ihrer Korrespondenz von D, der schließlich im April vom Verlag ausgeliefert wurde, nicht mehr die Rede. 67 Ereignisse und Begegnungen

Druckvorlage: Ereignisse und Begegnungen, Leipzig: Insel Verlag 1917 [im folgenden: EuB]. BB 154, MBB 174. 2. Aufl.1925 (übernommen 1933 vom Schocken Verlag Berlin). EuB stellt die nie geschriebene Fortsetzung von Daniel [im folgenden: D] dar, freilich in anderer Form, sind doch von den acht Abschnitten nur mehr drei als Gespräche ausgeführt. Ursprünglich war es als dessen historisches Pendant konzipiert worden. Hier sollte, was dort abstrakt vorgetragen war, konkreter und beispielhafter dargestellt werden. So berichtete Buber Ende 1913 Max Brod von »meinen Vorarbeiten zum zweiten Daniel-Buch«. Es sollte »sich mit den Problemen der Geschichte und der Gesellschaft befassen […] (dieses zweite Buch enthält Dialoge nicht mehr Einzelner sondern eines Kreises, dem Daniel angehört, und spricht sich schon durch diese Form als die Ergänzung nach dem Sozialen hin aus).« 68 Anhand variierender Inhaltsentwürfe, die erhalten sind, kann man die Überlegungen Bubers verfolgen, ohne daß man sie immer genau zu da64. 65. 66. 67.

Arc. Ms. Var. 350/62c, 16 (an Landauer, 15. 9. 1912). Arc. Ms. Var. 350/62c, 17 (an Landauer, 19. 9. 1912). Vgl. Arc. Ms. Var. 350/62c, 27 (an Landauer, 18. 2. 1913). Vgl. M. Buber, B I, S. 328 (an Wolfskehl, 29. 4. 1913, dem er ein Exemplar schickt, bzw. Bergmann an B., 2. 5. 1913, der sich für das erhaltene Exemplar bedankt). 68. M. Buber, B I, S. 352 f. (an Brod, 25. 12. 1913).

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tieren wüßte. Die an Landauer am 7. 8. 1912 abgeschickte und oben wiedergegebene Gliederung des »zweiten Buchs« scheint zur Zeit des Briefs an Brod jedenfalls schon aufgegeben worden zu sein. In O finden sich, auf den letzten, ursprünglich leergebliebenen Seiten vor dem Manuskript von D, insgesamt drei Entwürfe. Der erste umfaßt Arbeiten, die nach Angabe Bubers »in den Winter- und Frühlingsmonaten 1914« geschrieben worden sind und kann am besten auf Frühsommer 1914 datiert werden. 69 »Ereignisse und Begegnungen Erste Folge 1. Der Altar 1a. Aus einem Gespräch 2. Mit einem Monisten 3. Helden 4. Leistung und Dasein 5. Bruder Leib 6. Der Dämon im Traum« 70 Mit Ausnahme der »Aus einem Gespräch« betitelten Arbeit sind hier genau die Abschnitte des zweiten Teils von EuB zusammengestellt. Sie waren in einer raschen Abfolge in der ersten Jahreshälfte 1914 selbständig erschienen, davon »Leistung und Dasein« (BB 130, MBB 144) im Neuen Merkur 1, Heft 1, April 1914, S. 139-144 [im folgenden: L, 6. Abschnitt in EuB]. Dessen Herausgeber, Efraim Frisch, der mit Buber gut bekannt war und mit ihm schon früh in diversen Projekten zusammengearbeitet hatte, bat ihn ausdrücklich um einen Beitrag für das erste Heft der neuen Zeitschrift. 71 Er äußerte Interesse an »zeitkritischen Aufsätzen« aus seiner Hand und akzeptiert dann L. 72 Als er »für den Beitrag, der mir sehr gefällt,« dankte, bat er um weiteres: »Können Sie mir den Aufsatz vom Urchristentum jetzt schon schicken?«73 Auch war daran gedacht, Buber eine 69. In diesem Band, S. 247. 70. Arc. Ms. Var. 350/bet 8. 71. Vgl. M. Buber, B I, S. 352 (Frisch an B., 13. 12. 1913). Vgl. auch G. Stern, Efraim Frisch and the »Neue Merkur«, S. 137. Schon ein Jahrzehnt zuvor wollte Buber Frisch als Mitarbeiter beim Jüdischen Verlag und für den dann aber erst Jahre später erscheinenden Juden gewinnen, vgl. Arc. Ms. Var. 350/218a, 1 (B. an Frisch, 18. 6. 1902) und 218a, 2 (B. an Frisch, 14. 4. 1903). Zur Freundschaft beider, vgl. G. Stern, Efraim Frisch, S. 21. 72. Arc. Ms. Var. 350/218, 25 (an B., 18. 12. 1913), vgl. 350/218, 27 (an B., 20. 1. 1914). 73. Arc. Ms. Var. 350/218, 32 (an B., 31. 3. 1914). Buber hat von einem solchen Artikel einige Zeit davor gesprochen, wie aus einem Schreiben von Frisch hervorgeht, vgl. 350/218, 25 (an B., 18. 12. 1913).

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eigene Rubrik, »Aus dem Tagebuch eines Zeitungslesers«, zu geben – ein Vorhaben, das der Krieg zerschlug. 74 Die anderen Abschnitte erschienen in den Weißen Blättern, einem Sprachrohr des Expressionismus. Buber schrieb dazu an Arnold Zweig: »Die paar Seiten, die ich in den W[eißen] Bl[ättern] habe, sind nur der Anfang eines Zyklus, der durch alle Hefte gehen soll; das nächste Stück, ›Mit einem Monisten‹, erscheint im Februarheft. Die Zeitschrift ist mir durch die dauernde Mitarbeit Schelers und Werfels wertvoll und im übrigen noch durchaus bestimmbar. Ich habe jetzt ein starkes Bedürfnis, mich mit Dingen der Zeit auseinanderzusetzen und tue das am liebsten in Blättern, die noch nicht abgestempelt sind: ich habe daher die W[eißen] Bl[ätter] und Frischs ›Neuen Merkur‹ gewählt.« 75 Die in den Weißen Blättern veröffentlichten Texte tragen schon den Titel des ganzen Zyklus, »Ereignisse und Begegnungen«. Es handelt sich um: »Der Altar« (MBB 137), Die Weißen Blätter 1, 1913/14, Heft 5, Januar 1914, S. 443-446 [im folgenden: A, 2. Abschnitt in EuB], »Mit einem Monisten« (MBB 139), ebd., Heft 6, Februar 1914, S. 615-620 [im folgenden: M, 3. Abschnitt in EuB], »Der Held« (MBB 140), ebd., Heft 7, März 1914, S. 686-690 [im folgenden: He, als »Helden« 4. Abschnitt in EuB], »Bruder Leib« (MBB 141), ebd., Heft 8, April 1914, S. 832-836 [im folgenden: BL, 5. Abschnitt in EuB] und »Der Dämon im Traum« (BB 128a, MBB 142), ebd., Heft 9, Mai 1914, S. 949-954 [im folgenden: Dä, 7. Abschnitt in EuB]. Einen Sonderfall unter diesen Vorabdrucken stellt der kurze Text »Aus einem Gespräch« (MBB 138) dar, den Die Weißen Blätter im Januarheft 1914, S. 442 f., unmittelbar vor »Der Altar« brachten. In MBB wird es L zugeordnet, ist aber weder in diesen noch in einen anderen Abschnitt von EuB eingegangen. Vielmehr stellt der Text eine frühe selbständige Arbeit dar und wurde in der oben wiedergegebenen Titelaufstellung in O leicht versetzt zum Hauptinhalt angeordnet. Weil er später verworfen und nicht in EuB aufgenommen wurde, soll er im folgenden abgedruckt werden.

»Aus einem Gespräch … Du nimmst irgend etwas wahr; etwa diesen Käfer, der eben an deinem Fuß vorüberkriecht. Was tust du? Du siehst von ihm gerade so viel, als nötig ist, um ihn, wie man sagt, als das zu erkennen was er ist, das heißt um festzustellen, mit welchen andern dir ›bekannten‹ Erscheinungen er mehrere deutliche Eigenschaf74. Vgl. Arc. Ms. Var 350/218, 34 (an B., 23. 4. 1914). 75. M. Buber, B I, S. 355 (an A. Zweig, 28. 1. 1914).

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ten gemeinsam hat; und nun registrierst du ihn: ›das ist ein Käfer‹, oder, wenn du bewanderter bist, gibst du ihm den Sondernamen seiner Familie, und er ist für dich erledigt. Es kostet dich wenig Zeit und Mühe ihn zu erledigen, nicht wahr? Aber sieh, ich habe ihn aufgehoben; willst du ihn nicht auf deine Hand nehmen? Und nun schau ihn an, schau ihn wirklich an, nicht mit den Augen allein, sondern mit aller wahrnehmenden Kraft deiner Sinnlichkeit, deiner Einbildung, deiner Person: taugt dir da dein Wissen noch? Du empfindest, daß er sich bewegt, daß er lebt, daß er einen Willen, daß er eine Welt hat. Ja, das alles kannst du, wenn du dich damit bescheiden willst, registrieren und bist wieder einmal fertig. Aber bescheide dich nicht; halte stand: was taugt es dir, daß du ›weißt‹, was Bewegung, was Leben, was Wille, was Welt ist? Du gibst dir die Definition an: eine physikalische, eine biologische, eine psychologische, eine philosophische gar. Hast du mehr getan, als Worte durch Worte zu erklären, Geheimnis auf Geheimnis zu beziehen? Aber sage dem Wissen, sage der Sprache ab. Sei als wäre die Welt in dieser Stunde geboren und selber neu begegnetest du diesem Neuen da, neu er dir wie du ihm. Als wäret ihr so wie ihr seid ins Sein hineingeboren, beziehungslos, wortlos und wunderbar. Du weißt nichts von Bewegung, aber du siehst den Bewegten, du weißt nichts von Leben, aber du fühlst den Lebenden; du weißt nichts von Willen, aber du neigst dich zum Wollenden; du weißt nichts von Welt, aber die junge Welt umfängt dich und ihn. Die Glocken der Sprache verklangen in der Ferne, die Laternen des Wissens sind längst erloschen: halte der Stille, halte dem neuen Tag stand. Das Koordinatensystem der Beziehungen ist hinweggetilgt: du kannst nicht mehr orientieren. Nimm das Wesen, das du zwischen den Fingern hältst, mit deinem schwingenden Sinn auf und an; gewahre es mit deiner Bewegung wie du es mit deinem Blick gewahrst, gewahre es in ihm wie du es außer ihm gewahrst, gewahre es als deine Form wie du es als deinen Inhalt gewahrst, gewahre seine Einzigkeit und Allheit: realisiere es … Aber jetzt – diese Anstrengung, diese armselige, gewaltige, stemmend greifende Anstrengung, die er macht, um sich zu befreien: erkennst du sie, erkennst du sie wieder? Wie war es doch, an jenem Tage deiner Erschütterung, als du dich gefangen entdecktest und ausbrachest? Schaudert es dich nicht? Nimmt dich nicht Schrecken und die Entzückung hin? Laß ihn los, sieh ihm nach, erstaune über ihn: das ist Bewegung, das ist Leben, das ist Wille, das ist Welt.«

In den Inhaltsentwürfen aus O findet man als nächstes eine Notiz über mögliche weitere Abschnitte von EuB. Buber merkte an: »ev[entuell] aus älteren Arbeiten«, nämlich »Buddha (1907), Das Raumproblem der Bühne (1913), Drei Rollen Novellis (1906)?«76 Er entschied sich schließlich nur für die Aufnahme des erstgenannten Textes. »Buddha« (BB 120, MBB 127) erschien selbständig, ohne die Überschrift »Ereignisse und Begegnungen«, im Buberheft der Neuen Blätter, 3. Folge/Heft 1-2, 1913, 76. Arc. Ms. Var. 350/bet 8.

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S. 63-66 [im folgenden: B, 1. Abschnitt in EuB]. Als ältester Abschnitt von EuB sollte er in der späteren Buchausgabe als Proömium dienen. Im Unterschied zu den beiden bisher besprochenen Entwürfen weist der letzte und umfangreichste aus O größere Schwierigkeiten auf. Er lautet: »Für d[ie] E[reignisse] u[nd] B[egegnungen] bestimmt Der deutsche und der romanische Charakter Die Engel des Cimabue Villa Valmarane Klöster in Italien ›Realität und Gesetzlichkeit‹ / Ewige Frauen und die Liebe / Ein Christus der Meskinen ›Der Stern des Bundes‹ [gestrichen] Unmittelbarkeit und die Agora Zweierlei Dichter Theosophie Panlibidinismus Das Analysieren / ›Petruschka‹ und der Strohwisch / Psychosynthese Monumentale Kunst Der Judenfriedhof zu Worms Politisches und persönliches Leben (Verwirklichung) Der Mensch, das Werk und die Sache.« 77 Abgesehen davon, daß nichts davon später in EuB aufgenommen wurde, macht die Liste den Eindruck einer unstrukturierten Sammlung, in der neben italienischen Reiseimpressionen, wären sie auch kunstwissenschaftlich unterbaut, psychologische und kulturphilosophische Überlegungen zu stehen kamen. Selbst eine Kritik von Stefan Georges neuem Buch, »Der Stern des Bundes«, das Buber »befremdet[e]«, war ursprünglich geplant. 78 Der Sachverhalt klärt sich aber, wenn man auf einem der losen Blätter in der im MBA befindlichen Kladde mit Entwürfen [im folgenden: K] eine ähnliche Aufstellung liest, die auf Ende 1914 oder Anfang 1915 datiert werden kann. »Ereignisse und Begegnungen. Proömium: Buddha Die letzten Monate Der Altar 77. A. a. O. 78. M. Buber, B I, S. 356 (an Singer, 7. 2. 1914).

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Mit einem Monisten Helden Leistung und Dasein /zu erweitern/ Bruder Leib Der Dämon im Traum Abschluss: Das Gleichzeitige Einzufügendes: zwischen 5 und 5a Petruschka und der Strohwisch. [gestrichen] Analyse. Petruschka und der Strohwisch. Tragische Karikaturen. Die Form und die Tiefe. Worms Die Entwertung durch das Literarische. Gemeinschaft. Politisches und persönliches Leben.«79 EuB umfaßt den ersten Teil dieser Aufstellung, wenn auch in einer leicht veränderten Reihenfolge und mit anderen Titeln der Hauptüberschriften, nämlich »Die Burg«, »Die Fahrt« und »Der Augenblick«, die poetischere Versionen des Gemeinten darstellen. Von allen Texten ist »Das Gleichzeitige« (BB 134, MBB 151) der am spätesten verfaßte, wurde er doch – so Buber – im Herbst 1914 geschrieben.80 Er erschien erstmals Anfang 1915 im Zeit-Echo, Heft 7, 1915, S. 90 f. [im folgenden: G, als »An das Gleichzeitige« 8. Abschnitt in EuB]. Der Text ist schon ein Beispiel für Bubers Kriegsprosa. Deren Ton klingt auch im obigen Inhaltsentwurf nach, der gegenüber der unmittelbar davor zitierten Fassung härter und weniger kulturbeflissen, entschiedener ist – ohne doch zu verraten, wofür die Entscheidung gefallen ist. Zu einer Erweiterung von EuB ist es dann nicht gekommen, aber Buber hatte sich mit dem Gedanken dazu getragen und diesen in den Varianten von K und O durchgespielt. Sein Plan erstaunt weniger, wenn man bedenkt, daß EuB gegenüber D um ein Drittel kürzer ist. Der Krieg und die Arbeiten für die eigene Zeitschrift Der Jude waren die Haupthindernisse für eine Weiterarbeit. Auch scheint das Projekt für einige Zeit beiseite gelegt worden zu sein. Buber schrieb an Hans Kohn Anfang August 1917: »Demnächst erscheinen zwei weitere Aufsatzsammlungen allgemeinen Charakters, ›Ereignisse und Begegnungen‹ und ›Die Rede, die Lehre und das Lied‹; es sind dies Sachen, die Sie zum großen Teil bereits kennen. 79. Arc. Ms. Var. 350/8b. 80. Vgl. in diesem Band, S. 247.

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Zusammenhängendes habe ich in diesen Jahren nur wenig arbeiten können; in den zwei letzten hat mich überdies ›Der Jude‹ sehr in Anspruch genommen.«81 Ausgeliefert wurde EuB dann im Winter 1917.82 Als sein Ansehen und seine Bekanntheit in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zunahmen, ließ Buber große Teile von EuB in Hinweise, Zürich 1953 (BB 722, MBB 915), S. 10-43, 118-120 [im folgenden: H] wiederabdrucken. Nicht aufgenommen wurden »Buddha« und »Helden«, wohl weil sie ihm, wenn auch aus verschiedenen Gründen, als nicht mehr zeitgerecht erschienen. Auch hat er jeden Zusammenhang mit EuB getilgt. Den Hinweisen folgen auch die niederländische Übersetzung (BB 724, MBB 921), die im selben Jahr als eigenständiger Band erschien, sowie die englische, in: Pointing the Way, hrsg. von Maurice Friedman, New York 1957, S. 5-30, 59 f. (BB 833, MBB 1045), eine Sammlung von Essays, wie sie auch H selbst darstellt. Die englische Version von »Leistung und Dasein« ist auch wiederabgedruckt in: Identity and Anxiety, hrsg. von Maurice A. Stein u. a., Glencoe 1960, S. 628-632 (MBB 1149), und in: The Healthy Personality, hrsg. von Hung-Min Chiang und Abraham H. Maslow, New York, 1969, S. 211-216, (MBB 1338). Die ursprüngliche Fassung von »An das Gleichzeitige« ist wiederabgedruckt in: Paul Pörtner, Literatur-Revolution 1910-1925. Dokumente Manifeste Programme, Bd. 1: Zur Aesthetik und Poetik, Darmstadt u. a. 1960, S. 43-45. Pescara, an einem Augustmorgen. Berlin, nach der Heimkehr.

Druckvorlage: Zeit-Echo. Ein Kriegs-Tagebuch der Künstler, hrsg. v. Otto Haas-Heye, 1, 1914/15, Heft 3, September 1914, S. 38 f. Im Original ohne Titel. BB 131, MBB 145. Die beiden Auszüge aus dem Tagebuch Bubers – das als solches nicht erhalten ist – sind seine erste Veröffentlichung nach Kriegsbeginn. Nicht anders als die Mehrzahl seiner Zeitgenossen erfuhr er ihn als »epochales Ereignis«. 83 »Zum erstenmal sind die Völker ganz real in mein Leben getreten und ich muß Rede stehen«, schrieb er in einem Brief an Ludwig Strauß. 84 Seit Juli befand sich die Familie Buber auf dem jährlichen Italienurlaub, den sie in Pescara zubringen wollte. Wann sie von dort wieder nach Deutschland zurückkehrte, ist ungewiß. Buber erklärte Rappeport 81. M. Buber, B I, S. 503 (an Kohn, 5. 8. 1917). 82. Vgl. M. Buber, B I, S. 514 (Bergmann an B., 28. 11. 1917, der für die »beiden neuen Bücher« dankt) und BBS, S. 56 (Strauß an B., 17. 12. 1917). 83. K. Flasch, Die geistige Mobilmachung, S. 7. 84. M. Buber, B I, S. 364 = BBS, S. 25 (an L. Strauß, 28. 9. 1914). In B I ist der Brief irrtümlicherweise auf den 8. 9. datiert.

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am 10. 8., »möglicherweise der Ereignisse wegen von hier ab[zu]reisen und zwar, da die deutsche und österreichische Grenze anscheinend gesperrt bleiben, in die Schweiz.« 85 In der ersten Nachricht an Landauer seit einer Postkarte mit Urlaubsgrüßen von der Adria Ende Juli teilte er diesem am 7. 9. aus Berlin mit: »wir sind nach allerlei Mühsal und Ungemach wieder hier.« 86 In den ersten Kriegsmonaten belasteten Buber finanzielle Sorgen, war doch die wirtschaftliche Lage vieler Zeitschriften, für die er regelmäßig schrieb, gleichsam über Nacht durch fehlende Inserate und gekündigte Abonnements prekär geworden. So erklärte er, wiederum gegenüber Rappeport: »wir haben zur Zeit ein Viertel unseres sonstigen Einkommens und es ist zunächst nicht abzusehen, wann es besser wird«. 87 Jedenfalls gab er Tagebuchauszüge zur Veröffentlichung an das »Zeit-Echo«. Es war dafür der geeignete Ort, verstand sich die nach Kriegsbeginn gegründete Halbmonatszeitschrift doch ausdrücklich als ein »Kriegs-Tagebuch der Künstler«. Programmatisch hatte es im ersten Heft geheißen: »Unterirdische Gluten werfen einen Widerschein auf die Seele des Künstlers. Staunend erwacht er vor dem gewaltigen Gotte. Vor der Kraft der Tat scheint das Wort zu verstummen. Er wird zum Wanderer im Wetterleuchten. – Ein Echo nur ist’s, das der Geist zu fassen mag und zu halten sucht. – – – – August 1914«.88 Vor allem in den ersten Heften gewann das »Zeit-Echo« Prominente zur Mitarbeit, wie Thomas Mann (1875-1955), Rainer Maria Rilke (1875-1926), Hugo von Hofmannsthal unter den Dichtern, Alfred Kubin (1877-1959) und Oskar Kokoschka (1886-1980) unter den Graphikern. Diese Arbeit Bubers wurde, gekürzt um die erzählenden Passagen am Ende des ersten und zu Beginn des zweiten Teils, unter dem Titel »Richtung soll kommen!« (BB 135a, MBB 153) in den Masken wiederabgedruckt, der Zeitschrift des Düsseldorfer Schauspielhauses, 10, 1914/15, Heft 11, März 1915, S. 173 f. [im folgenden: R]. Dergestalt zu einem 85. M. Buber, B I, S. 364 (an E. Rappeport, 10. 8. 1914). 86. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/62d, 10 (an Landauer, 20. 7. 1914) u. 62d, 11 (an Landauer, 7. 9. 1914). 87. M. Buber, B I, S. 365 (an Rappeport, 10. 9. 1914). Landauers Situation stellte sich genauso dar, vgl. G. Landauer/F. Mauthner, Briefwechsel, S. 290 (an Mauthner, 12. 8. 1914): »Mein Posten, solange ich nicht zum Landsturm aufgerufen werde, dem ich noch angehöre, wird wohl zunächst doch sein, da alle Einnahmequellen zu versiegen drohen, irgendwie für Frau und Kinder zu sorgen.« 88. Zeit-Echo 1, 1. Heft vom August, 1. Der unsignierte Beitrag stammt aller Wahrscheinlichkeit nach vom Redakteur Friedrich M. Huebner. Zum Zeit-Echo und zu seinem sich während des Kriegs ändernden Profil, vgl. F. Schlawe, Literarische Zeitschriften, S. 43 f.

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theoretischen Text geworden, stellt sie, zusammen mit »Bewegung«, »eine seiner systematischsten Aussagen zum Kriege« dar. 89 Herausgeber der Masken war zu dieser Zeit Hans Franck (1879-1964), Leiter der Hochschule für Bühnenkunst am Schauspielhaus und Dramaturg. 90 Ein direkter Kontakt zwischen ihm und Buber ist nicht nachweisbar. 91 In einer redaktionellen Fußnote des Heftes erklärte Franck: »Die Worte Martin Bubers erschienen zuerst in dem ›Zeit-Echo‹ einer zeitschriftähnlichen Folge von 50-Pfg.-Heften, die Otto Haas-Heye im Graphik-Verlag München, in vornehmer Ausstattung herausgibt, um den Künstlern des Wortes und der Schwarz-Weiß-Technik Gelegenheit zu geben, uneingeengt von den Forderungen, welche die führenden Blätter teils freiwillig, teils unfreiwillig an ihre Mitarbeiter stellen, das auszudrücken, was sie über den gegenwärtigen Weltzustand empfinden. Programmlosigkeit ist hier also zum Programm erhoben. […] Ich sage, diese Hefte, die mit solchem Geschick versuchen ein unverfälschtes Echo unserer Künstler zu sein, dürfen den Anspruch erheben, bedeutsam mitgewirkt zu haben an der Klärung der bedrückenden geistigen Dumpfheit, die derzeit über Deutschland lagert.« 92

Gegründet worden war das Schauspielhaus 1905 von der Regisseurin Louise Dumont (1862-1932) und ihrem Gatten Gustav Lindemann (1872-1960). Dumont war eine der großen Theaterreformerinnen der Jahrhundertwende. In Berlin hatte sie, gegen die naturalistische Auffassung eines Otto Brahm und gemeinsam mit Max Reinhardt, einen künstlerischen Aufbruch versucht. Unzufrieden mit den romantisierenden Tendenzen Reinhardts ging sie bald an den Rhein. Dumont bemühte sich um eine neue Methode der Darstellung, das sogenannte »Worttonsprechen«, weil nicht nur der Sinn, sondern auch der Klang eines Worts Bedeutung besitze. Angeregt war sie, bei der man theosophische Tendenzen vermutet, unter anderem von der Lauttheorie Jakob Böhmes.93 Aber nicht ihr Interesse an der Mystik im allgemeinen, das sie auf Buber stoßen lassen mußte, auch nicht daß sie wie dieser am Jahrhundertanfang Mitglied der Neuen Gemeinschaft gewesen war, kann als Grund für seine Mitarbeit gelten. 94 Sie war durch Landauer erreicht worden, der im Win89. Mendes-Flohr, S. 131. 90. Franck war es auch, der 1916 die ersten Kontakte zu Gustav Landauer knüpfte. Dieser sollte ihm 1918 in seiner Stelle nachfolgen, nachdem Franck auf Druck des rheinischen Klerus gehen mußte, vgl. Gustav Landauer, S. 220 u. 226. 91. Ich danke Michael Matzigkeit (Düsseldorf) für diese Auskunft und den Hinweis auf die im folgenden zitierte redaktionelle Fußnote. 92. H. Franck, Fußnote, S. 170 f. 93. Vgl. M. Matzigkeit, Literatur im Aufbruch, S. 127-130. 94. Auch auf Dumonts Mitgliedschaft in der Neuen Gemeinschaft hat mich M. Matzigkeit hingewiesen.

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ter 1918 Buber bat, Beiträge für die Masken zu verfassen und auch als Vortragsredner bei den Matineen des Schauspielhauses aufzutreten.95 Buber konnte diese Bitte aber erst nach dem Tod des Freunds erfüllen. Von da an bis in die Zwanziger Jahre kam es zu einer vergleichsweise engen Zusammenarbeit zwischen ihm und dem Düsseldorfer Schauspielhaus. Im Sommer 1924 gehörte Buber mit Wilhelm Worringer und Albrecht Schaeffer auch dessen Aufsichtsrat an, »eine[r] Art von geistigem Areopag«. 96 Bücher, die jetzt und immer zu lesen sind

Druckvorlage: Wiener Kunst- und Buchschau, hrsg. vom Buchhändler Hugo Heller, Nummer 9/10, Dezember 1914: Weihnachtsbücher im Kriegsjahr, S. 6 f. BB 127, MBB 135. Während der Herbstmonate 1914 hatte sich Bubers äußere Situation nicht wesentlich gebessert. Arbeit, die ein Einkommen versprach, stand nicht in Aussicht, das Scheitern des Forte-Kreises wurde immer deutlicher, und seine Frau machte eine schwere seelische Krise durch. 97 Die Kriegsbegeisterung, die unter deutschen Gelehrten, Künstlern und Intellektuellen grassierte, erfaßte auch ihn. Sie kennzeichnet seinen Beitrag für die Weihnachtsnummer der Wiener Kunst- und Buchschau, in dem die von ihm genannten Autoren gleichsam auf ihre Tauglichkeit im Feld hin ausgewählt oder jedenfalls bellizistisch interpretiert wurden. Eine Ausnahme bildete Meister Eckhart, an dem aber deutlich werden sollte, »wo deutscher Geist von allem Krieg und aller Geschichte gelöst in seiner Vollendung ruht.« 98 Herausgeber der Zeitschrift war eine schillernde Figur des geistigen Wien: Hugo Heller (1870-1923). Der aus Ungarn gebürtige Buch-, Kunsthändler und Verleger führte dort einen Salon, in dem besonders junge Literaten und Künstler gefördert wurden. Aber man traf sich auch zu anderen Anlässen, etwa um Sigmund Freud zu hören, der 1908 über »Der Dichter und das Phantasieren« vortrug. 99 Heller selbst war regelmäßiger Teilnehmer der im Hause Freud seit 1902 abgehaltenen Psychologischen Mittwochsabende, aus denen später die Psychoanalytische Ver95. Vgl. M. Matzigkeit, Literatur im Aufbruch, S. 170 (zitierter Brief aus G. Landauer, LGB II, S. 337: an Buber, 13. 12. 1918). Der erste in MBA erhaltene Brief von Dumont an Buber stammt vom 13. 7. 1919, vgl. Arc. Ms. Var. 350/108,1. 96. BBS, S. 86 (an Strauß, 1. 7. 1927). 97. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/62d, 12 (an Landauer, 12. 10. 1914) = M. Buber, B I, S. 381 (irrtümlich auf 18. 10. datiert). 98. In diesem Band, S. 280. 99. Vgl. P. Gay, Freud, S. 347.

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einigung entstand. Unter Mitwirkung von Bahr und Hofmannsthal hatte er 1907 eine Enquete über »Zehn gute Bücher« veranstaltet. Für die Weihnachtsnummer 1914 lud er, als einen Autor unter vielen, auch Buber ein, der zu ihm und seinem Kreis sonst in keiner Beziehung stand. 100 Bewegung

Druckvorlage: Der Neue Merkur, hrsg. von Efraim Frisch, 1, Heft 10/11, Januar/Februar 1915, S. 489-492. BB 132, MBB 146. Der hier abgedruckte Text stellt die gekürzte und überarbeitete Version eines Briefs an den niederländischen Dichter und Sozialreformer Frederik van Eeden dar [im folgenden: Brief]. 101 Die vollständige Fassung ist in M. Buber, B I, S. 376-380 abgedruckt. Der Brief gehört zur Geschichte des Forte-Kreises, einer der »Intellektuellenassoziationen« des Spätwilhelminismus, als dessen geistiger Vater van Eeden gilt. 102 Andere Mitglieder hatten ihn freilich zu dem Unternehmen inspiriert, so auch Buber, über dessen Daniel die beiden bei einem Besuch des Niederländers in Berlin heftig diskutierten. 103 Der Brief zeugt von den Auseinandersetzungen, die die Mitglieder des Forte-Kreises nach Kriegsbeginn erfaßten und an denen dieser schließlich zerbrach. Daß im Neuen Merkur schließlich eine überarbeitete Fassung erschien, mag mit Bubers prekärer beruflichen Situation, aber auch mit Frisch’s Wunsch nach Beiträgen zu tun gehabt haben.104 In dessen Zeitschrift sollten Deutsche und Juden gleichermaßen vertreten sein. Für Buber wog aber wohl schwerer, daß sein und Landauers Versuch zur Rettung des 100. Unter den befragten Autoren waren auch Raoul Auernheimer, Hermann Bahr, Lily Braun, Hedwig Dohm, Moritz Heimann, Thomas Mann und Fritz Mauthner, vgl. Wiener Kunst- und Buchschau, S. 5-12. 101. Buber war mit van Eeden seit 1910 bekannt. Die beiden wechselten Briefe wegen einer Mitarbeit van Eedens an der Gesellschaft, zu der es dann aber nicht kam, vgl. M. Buber, B I, S. 275. (Van Eeden an B., 7. 2. 1910), S. 278 f. (an van Eeden, 28. 2., Van Eeden an B., 1. 3., an van Eeden, 6. 3. 1910). Zur intellektuellen Biographie van Eedens, vgl. C. Holste, Der Forte-Kreis, S. 120-178. 102. Vgl. R. Faber/C. Holste, Krise – Gruppen – Bünde, dies., Der Potsdamer Forte-Kreis. 103. Vgl. das Konvolut zum Forte-Kreis in MBA (Arc. Ms. Var. 350/zajn 46), in dem sich eine Bemerkung von van Eedens Sohn nach Lektüre des Tagebuchs seines Vaters findet. 104. Vgl. M. Buber, B I, S. 358 f. (Frisch an B., 21. 4. 1914) und Arc. Ms. Var. 350/218, 34 (Frisch an B., 23. 4. 1914). Buber änderte den Titel übrigens auf Bitte von Frisch, vgl. 350/218, 40 (Frisch an B., 7. 1. 1915): »Wäre es Ihnen nicht möglich den Titel zu übersetzen, oder zu ändern? ›Kinesis‹ ist den wenigsten Lesern unmittelbar verständlich«. Im selben Jahr erschien im Neuen Merkur von Buber noch »Der Geist des Orients«, der der ersten jener Reden zugrundeliegt, die er in dem Band Vom Geist des Judentums versammelte.

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Forte-Kreises am Jahreswechsel 1914/15 gescheitert war. Es hat den Anschein, als wollte er aus den Trümmern dieser »pneumatischen Gemeinschaft« (Scholem) zumindest jenes Bauelement retten, das ihm als so wertvoll erschien, daß er es in ein neues Vorhaben einfügen wollte: in eine »Bewegung«, der die »eine Richtung« innewohnte, die zum »Ereignis« wird. Nach Tilgung aller Bezüge auf den unmittelbaren Anlaß und auf van Eeden hatte er darum seine Überlegungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zumindest Frisch bedauerte dies, denn er schrieb: »Es hätte übrigens mich selbst sehr interessiert zu lesen was van Eeden Ihnen geschrieben hat, obgleich man aus Ihrer Antwort das meiste erraten zu können glaubt.« 105 Dem Fähnrich Willy Stehr ins Stammbuch

Druckvorlage: Zeit-Echo. Ein Kriegs-Tagebuch der Künstler, hrsg. von Otto Haas-Heye, 1, 1914/15, Heft 13, April 1915, S. 186. Im Original ist der Name auf die Initialen »W. St.« beschränkt. BB 133, MBB 147. Das Gedicht gilt dem ältesten Sohn des schlesischen Dichters Hermann Stehr, Willy, der sich bei Kriegsbeginn als Achtzehnjähriger freiwillig gemeldet hatte, wie es so viele seiner Altersgenossen taten. Buber war mit dem Vater seit 1905 bekannt, als er ihn zur Mitarbeit an der Gesellschaft aufforderte. 106 Er sollte einen Band Das Dorf schreiben, wozu es aber letzlich nicht kam. Doch blieb man weiterhin in Kontakt und traf sich bisweilen in einem Lokal in Berlin-Wilmersdorf, in der Donnerstags-Gesellschaft um Moritz Heimann (1868-1925), den Lektor im S. Fischer Verlag und wichtigen Förderer der neuen Literatur. »Es war, mit ihren eigenen Worten ›eine Vereinigung, kein Verein, ein Kreis befreundeter Dichter, Maler und Musiker und sonstiger Bewohner der künstlerischgeistigen Welt‹, die aus einer Tischrunde entstanden war, welche sich jeden Donnerstagabend zwanglos im Weinrestaurant Steinert in der Joachimsthaler Straße zu treffen pflegte. Ihr Mittelpunkt war ›Vater Heimann‹, wie [Oskar] Loerke [18841941] ihn nannte, und es gehörten zu ihr Emil Orlik [(1870-1932)], E[mil] R[udolf] Weiß [(1875-1942), ]…, Eduard Stucken [(1865-1936)], Martin Buber, Arthur Holitscher [(1869-1941)], Max Dauthendey [(1867-1918)], Alfred Mombert [(1872-192)], Emil Strauß [(1866-1960)], Efraim Frisch, Wilhelm Lehmann [(1882-1968)], auch [Samuel] Fischer [(1859-1934)] und Diederichs tauchten an manchen Donnerstagen auf, späterhin auch Rathenau, [Gerhart] Hauptmann [(1862-1946)] und Stehr und andere Freunde von außerhalb, wenn sie sich in Ber-

105. Arc. Ms. Var. 350/218, 39 (Frisch an B., 17. 12. 1914). 106. Vgl. M. Buber, B I, S. 231 f. (an Stehr 31. 5. 1905).

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lin befanden. Die Donnerstagsrunde bestand bis in den Ersten Weltkrieg hinein. […]›der Krieg zerschlug sie.‹« 107

Im Herbst und Winter 1914 wurden Buber und Stehr von der anfänglichen Begeisterung für den Krieg heftig erfaßt, wovon auch das Gedicht auf dessen Ältesten ein beredtes Zeugnis ablegt. Es erschien in einem der Aprilhefte des Zeit-Echo, in dem auch ein Beitrag von Landauer zu lesen war: »Aus unstillbarem Verlangen«, eine Kritik des Kriegs mit den Argumenten des Anarchismus, aus der die Zensur Stellen strich. 108 Willy Stehr ist am 20. 6. 1915 gefallen.109 Seinem Gedächtnis hat Oskar Loerke ein Gedicht gewidmet, »Die Pfeife«.110 Als Lyriker hat sich Buber zeit seines Lebens betätigt und dies aus unerschiedlichen Anlässen getan, für Veröffentlichungen in Zeitschriften oder als persönliche Widmungen in seinen Büchern. Gehörte es für seine Generation auch gleichsam zum guten Ton, sich in Lyrik zu versuchen, so berichtet Schaeder von ihm, »daß er sich in seiner Jugend zum Dichter berufen glaubte«. 111 Vorbilder waren anfangs Dehmel und Hofmannsthal, dann Hölderlin, während George, den Buber vom 18. bis zum 23. Lebensjahr »ergriffen« las, später distanziert betrachtet wurde. 112 Ein Dankeswort an Alfons Paquet

Druckvorlage: Der Jude, hrsg. von Martin Buber, 1, Heft 2, Mai 1916, S. 129 f. Originaltitel: »Ein Dankeswort«. BB 144, MBB 163. Die Arbeit stellt eine Kurzbesprechung dreier Bücher von Alfons Paquet dar. Sie erschien im Glossenteil des zweiten Hefts der von Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude, die nach mehreren Anläufen und langer Vorarbeit im April 1916 begonnen wurde. Er und Paquet waren Anfang der ersten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts miteinander bekannt geworden, als dessen Roman Kamerad Fleming (1911) bei Rütten & Loening verlegt wurde. Paquet, ein Quäker, engagierte sich als Schriftsteller für einen Humanismus, der soziale Ungerechtigkeit anprangerte und sich 107. P. de Mendelssohn, S. Fischer und sein Verlag, S. 405. Die Zitate im Zitat stammen von Emil Rudolf Weiß. Zur Donnerstagrunde, vgl. HvB, S. 430 (dort »Die Tafelrunde [Berlin]« tituliert). 108. Vgl. G. Landauer, Aus unstillbarem Verlangen. 109. Vgl. H. Stehr/W. Rathenau, Zwiesprache über den Zeiten, S. 29 (Stehr an Rathenau, 1. 7. 1915). 110. Vgl. O. Loerke, Die Gedichte, S. 101 f. 111. G. Schaeder, Biographischer Abriß, S. 40. Davon handelt auch das erste, in die Briefsammlung aufgenommene Schreiben, vgl. M. Buber, B I, S. 145 (an Dehmel, 17. 10. 1897). 112. M. Buber, Über Stefan George, S. 115.

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von der üblichen, mit Bildung überfrachteten Kulturgläubigkeit abhob. Auch hatte er als Reiseschriftsteller und -vortragender Aufsehen erregt. 113 Die von Buber rezensierten Arbeiten gehören im wesentlichen diesem Genre an. Als erster deutschsprachiger und nichtjüdischer Autor schilderte Paquet Eindrücke und Reflexionen einer Reise nach Palästina, wobei er sich dem Genre des zionistischen Reiseberichts in Sichtweise und Tonfall soweit annäherte, daß er auf eine detaillierte Beschreibung der christlichen Pilgerstätten verzichtete. 114 Andererseits ist seine Darstellung durchweg vom inzwischen tobenden Weltkrieg und von Deutschlands vermeintlich welthistorischer Aufgabe überlagert. Paquet verband seine Reichsidee mit einem Kreuzzugsgedanken als deren unabdinglichem Bestandteil: »der Traum der Staufer in einem jugendlich verwandelten Geschlecht«. 115 Dieser korrespondierte auch mit Hoffnungen auf die Förderung jüdischer Interessen in den Teilen des sogenannten Ansiedlungsrayon im Westen Rußlands, den die deutsche Armee besetzt hielt. Dazu war in Berlin ein Deutsches Komitee zur Befreiung der russischen Juden, später Komitee für den Osten (KfdO), unter anderem von Max Bodenheimer und Franz Oppenheimer gegründet worden, an dem Buber zeitweise mitarbeitete. 116 Was die jüdische Ansiedelung in Palästina anging, so wurden weitreichende Hoffnungen auf eine Zusammenarbeit zwischen Deutschem Reich und Zionisten durch die Balfour-Erklärung von November 1917 hinfällig, in der England erklärte, die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina zu begrüßen und sein Bestes zu tun, damit dieses Ziel erreicht werde. Paquet bekannte später, Buber »kam meinem innersten Wunsch nach einem positiven Verhältnis zum Judentum zu Hilfe. Er zeigt den Ort, der dieser jüdischen Welt im Kosmos gewiesen ist.« 117 Zwischen ihnen entwickelte sich in den Nachkriegsjahren eine wirkliche Freundschaft. Man traf sich in Frankfurt, Gießen oder Heppenheim und lud von 1919 an Gleichgesinnte zu Gesprächen ein. Erörtert wurde ein Komplex von Fragen, der um »Volksbildung, Politik aus dem Glauben, Sozialismus, der 113. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/62d, 19 (an Landauer, 18. 3. 1915): Buber fragte, ob sie nicht gemeinsam zu einem Vortrag von Paquet über »Erlebnisse in den jüdischen Kolonien« gingen. 114. Vgl. W. Kaiser, Palästina – Erez Israel, S. 374-381. 115. A. Paquet, In Palästina, S. 2. 116. Vgl. M. Buber, B I, S. 371 (an Kohn, 30. 9. 1914). Zum KdfO, vgl. A. Adler-Rudel, East European Jewish Workers, S. 141, zu Bubers Beteiligung, vgl. Z. Szajkowski, The Struggle for Yiddish, S. 133-135, E. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden, S. 132. 117. A. Paquet, Über Buber, S. 166.

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vom Evangelium oder von den Propheten hergeleitet« wird, kreiste. 118 So kam es Pfingsten 1923 zu einer »theologischen Zusammenkunft« in Braunfels, wo Florens Christian Rang wohnte. 119 Sie stand unter dem Thema »Reich Gottes, Staat, Gesellschaft«. 120 Teilnehmen sollten, außer Buber, Paquet und Rang, noch Paul Natorp, Hermann Herrigel, Ernst Michel, Arthur Bonus (1887-1967), Karl Barth (1886-1968), Friedrich Gogarten (1887-1967), Theodor Spira, Romano Guardini (1885-1968) und Ludwig Strauß. 121 Eine weitere Folge dieser Freundschaft war Paquets Aufsatz über Buber von 1922, der in dem von Gustav Krojanker herausgegebenen Sammelband Juden in der deutschen Literatur erschien. Neben dem von Landauer im Buberheft der Weißen Blätter (1913) gilt er als die wichtigste Arbeit über Buber bis Anfang der Zwanziger Jahre. 122 Aus einem Rundschreiben von Ostern 1914

Druckvorlage: Der Almanach der Neuen Jugend auf das Jahr 1917, hrsg. von Wieland Herzfelde, Berlin 1917, S. 11 f. BB 160, MBB 180. Weitere Fassungen: maschinenschriftliches Manuskript, datiert März 1914, gezeichnet »Martin Buber«, 3 S. Herkunftsort Frederik-van-Eeden-Archiv, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Amsterdam, Nr. 16 [im folgenden: FK] und handschriftliches Manuskript, undatiert, ohne Titel, Herkunftsort MBA, Arc. Ms. Var. 350/zajn 46 [im folgenden: FK* ]. FK ist abgedruckt in: C. Holste, Der Forte-Kreis, S. 280-282. Dieser Ausgabe folgen auch die obigen Angaben und das Variantenverzeichnis. In dem von den Brüdern Herzfeld(e) herausgegebenen Almanach, der den ersten Jahrgang ihrer Zeitschrift Neue Jugend beschloß und »Ende November/Anfang Dezember 1916« erschien, kam Bubers Beitrag die Rolle einer Kriegserklärung zu, freilich nicht wegen ihres Inhalts. 123 Der Text war im Kampf um die Herausgeberschaft vom nur noch nominell amtierenden Heinz Barger »vor [Johannes R.] Bechers Aufruf ›An die Soldaten der Sozialistischen Armee‹, der das Buch einleiten sollte« gesetzt worden. 124 Daraufhin war es zwischen Barger, der den an die Westfront 118. 119. 120. 121. 122. 123.

G. Schaeder, Biographischer Abriß, S. 86, vgl. Friedman, S. 276-281. Arc. Ms. Var. 350/606.1, 31 (Rang an B., 19. 4. 1923). Arc. Ms. Var. 350/606.1, 36 (Rang an B., 19. 5. 1923). Arc. Ms. Var. 350/606.1, 34 (Rang an B., 6. 5. 1923). Vgl. A. Paquet, Martin Buber, sowie G. Landauer, Martin Buber. Vgl. U. Faure, Im Knotenpunkt des Weltverkehrs, S. 35-64: 60. S. 143-146 findet man eine Kopie des Verlagsprospekts für den Almanach. 124. Ebd., S. 36, 61.

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geschickten Wieland Herzfelde nur vertreten sollte, und diesem zu einem heftigen Konflikt gekommen. Aber auch für den Leser konnte Bubers Arbeit deplaziert wirken. Aus dem Zusammenhang des Forte-Kreises stammend, gab sich das »Rundschreiben von Ostern 1914« schon durch den Titel inaktuell, wenn man darin nicht den Hinweis von jemanden erkennen sollte, der zu verstehen gab, er habe gegenwärtige Probleme länger vorausgewußt und vielleicht schon gelöst. Gewiß drückten die Überlegungen zur Zeit ihrer Entstehung ebenso wie zu der ihrer Veröffentlichung die Hoffnung auf eine wirkungsvolle und mächtige Gemeinschaft aus. Was Buber aber genau bewog, das Rundschreiben zum Abdruck an die Neuen Jugend zu geben, ist unbekannt. Landauer, der im Mai des Jahres einen heftigen Konflikt mit Buber wegen dessen Einstellung zum Krieg ausgetragen hatte, schien sich an diesen Mißverhältnissen allerdings nicht sonderlich zu stören. Er schrieb dem Freund, freilich ohne dessen Beitrag auch nur mit einem Wort zu erwähnen: »Der Almanach der Neuen Jugend ist aber bedeutend besser ausgefallen, als ich gefürchtet hatte. Der Appell von Paul Adler ist doch etwas, trotzdem der Ton nicht ganz echt ist; und das Stück von Leonhard Frank habe ich schon in den Weißen Blättern mit Freude gelesen.«125 Buber antwortete ihm: »Der Almanach der Neuen Jugend hat in der Tat einiges für sich. – Wie ich höre, bereitet Hiller ein zweites ›Ziel‹-Buch vor. Mein Freund Kaznelson schreibt mir: ›Wahrscheinlich werden wir jetzt alljährlich derlei Manifestationen des »tätigen« Geistes zu sehen bekommen – sicher auch die einzigen.‹ 126 Was ist zu tun?

Druckvorlage: Frankfurter Zeitung, 1. Morgenblatt vom 20. 4. 1919, S. 1. BB 205, MBB 227. Wiederabgedruckt in: Die Frage an den Einzelnen, Berlin 1936 (BB 272, MBB 533), S. 101-105 (1. Anhang), Hinweise, S. 290 – 293 und Buber für Atheisten, S. 86-88. Englische Übersetzung in: Pointing the Way, S. 109-111. Der hier abgedruckte Artikel erschien am Ostersonntag 1919 auf der Titelseite der ersten Ausgabe der Frankfurter Zeitung, der damals intellektuell anspruchvollsten liberalen Tageszeitung Deutschlands. 127 Im Unter125. Arc. Ms. Var. 350/61.5, 16 (Landauer an B., 30. 1. 1917). 126. Arc. Ms. Var 350/62e, 17 (an Landauer, 5. 2. 1917). 127. Dieser Artikel darf nicht mit einer gleichnamigen Arbeit von 1904 verwechselt werden, die ursprünglich auf polnisch erschien, »Co czynic nalezy?« (MBB 56), und

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schied zu Bubers Kommentaren zu aktuellen politischen Ereignissen, die Zionismus und Jischuv betrafen und die er fortlaufend im Juden veröffentlichte, stellte diese Arbeit den Versuch dar, nach dem Krieg und während der Verhandlungen in Versailles am Aufbau einer neuen geistigen Ordnung mitzuwirken. Darum hat sie den Charakter eines Aufrufs und ist, nicht nur ihres programmatischen Titels wegen, als solcher auch verstanden worden. Buber scheint auf den Artikel hin Zuschriften erhalten zu haben. Jedenfalls antwortete er eine Woche nach dessen Erscheinen auf einen Brief von Kurt Singer (1886-1962), eines Repräsentanten des George-Kreises, der mit den »Geistburgen und heimlichen Bünden« des Aufrufs tatsächlich gemeint sein konnte. »Meine Worte betreffen nicht Personen und Kreise, sondern eine Menschenart, deren Krisis ich nach meiner Erkenntnis ansage. Das antworte ich Ihnen ebenso wie den Angehörigen anderer, von dem von Ihnen genannten sehr verschiedener Kreise, die sich in der gleichen Weise wie Sie an mich wenden. Von Missionieren und dergleichen habe ich nicht geredet; das tragen Sie in meine Kundgebung ebenso hinein wie das mir fremde Wort ›Verhaltung‹, das mit dem von mir gebrauchten kaum mehr als den Stamm gemein hat; so schlecht haben Sie gelesen worüber Sie urteilen. Ich meine nicht Lehren und ihre Verbreitung; ich meine Menschen und ihre Tat – und mich so gut wie andre. Nicht die Anhänger einer bestimmten Lehre oder die Mitglieder eines bestimmten Kreises können die Menge bannen, sondern die über Lehren und Kreise verteilten Menschen einer bestimmten Art, und das bannende Wort können sie – das habe ich überdeutlich und doch offenbar noch nicht deutlich genug ausgesprochen – nicht aus einer bestehenden Lehre sondern nur aus dem gemeinsamen Akt ihres Ausgehens empfangen. Sie schrieben mir somit Erwartungen zu, die ich nicht hege, und eine Einmengung, die mir nicht beifällt.« 128

Brief an Florens Christian Rang

Druckvorlage: Florens Christian Rang, Deutsche Bauhütte. Ein Wort an uns Deutsche über mögliche Gerechtigkeit gegen Belgien und Frankreich und zur Philosophie der Politik, mit Zuschriften von Alfons Paquet, Ernst Michel, Martin Buber, Karl Hildebrandt, Walter Benjamin, Theodor Spira, Otto Erdmann. Sannerz/Leipzig: Gemeinschafts-Verlag Eberhard Arnold 1924, S. 182-184. Im Original ohne Titel. BB 272, MBB 295.

deren Grundlage eine unter jüdischen Gymnasiasten Galiziens veranstaltete Umfrage über die Aufgaben der zionistischen Jugend war, vgl. M. Buber, Was ist zu tun? [1904]. 128. M. Buber, B II, S. 39 (an Singer, 29. 4. 1919).

338

Kommentar

Bubers von Rang erbetene »Zuschrift« – so die interne Bezeichnung für den Offenen Brief – stellt ein wichtiges Dokument ihrer Freundschaft nach Forte-Kreis und Krieg dar. Rang war nach seinem »patriotischen Rausch« (van Eeden) ernüchtert und hatte 1917 den Abschied von der Armee genommen.129 Seit Sommer 1921 duzte man sich, ein von Buber nicht häufig unternommener Schritt. 130 Mit Landauer blieb er hingegen zeitlebens per Sie. Möglicherweise waren es die zwischen Buber und Rang immer wieder heftig erörterten Fragen des Zusammenhangs von Deutschtum und Judentum, die sie so eng verbanden.131 Schon Pfingsten 1914 in Potsdam hatte ihr Streit darüber eine denkwürdige Episode dargestellt. Im Rückblick galt sie Buber als eine der »Begebenheiten, die in einer echten Wandlung aus der Kommunikation zur Kommunion, also in einer Verleiblichung des dialogischen Wortes münden.«132 Er berichtete: »Als wir nun die Zusammensetzung des größeren Kreises besprachen, von dem die öffentliche Initiative ausgehen sollte […], erhob einer von uns, ein Mann von leidenschaftlicher Konzentration und richterlicher Liebeskraft, das Bedenken, es seien zu viele Juden genannt worden, so daß etliche Länder in ungehöriger Proportion durch ihre Juden vertreten sein würden. Obgleich mir selber ähnliche Erwägungen nicht fremd waren, da ich meine, das Judentum könne nur in seiner Gemeinschaft, nicht in zersprengten Gliedern einen mehr als anregerischen, einen werkhaften Anteil am Bau einer standfesten Friedenswelt gewinnen, erschienen sie mir, so ausgesprochen, in ihrer Rechtmäßigkeit beeinträchtigt. Hartnäckiger Jude, der ich bin, protestierte ich gegen den Protest. Ich weiß nicht mehr, auf welchem Weg ich dabei auf Jesus zu sprechen kam und darauf, daß wir Juden ihn von innen her auf eine Weise kennten, eben in den Antrieben und Regungen seines Judenwesens, die den ihm untergebenen Völkern unzugänglich bleibe. ›Auf eine Weise, die Ihnen unzugänglich bleibt‹– so sprach ich den früheren Pfarrer unmittelbar an. Er stand auf, auch ich stand, wir sahen einander ins Herz der Augen. ›Es ist versunken‹, sagte er, und wir gaben einander vor allen den Bruderkuß. Die Erörterung der Lage zwischen Juden und Christen hatte sich in einen Bund zwischen dem Christen und dem Juden verwandelt; in dieser Wandlung erfüllte sich die Dialogik. Die Meinungen waren versunken, leibhaft geschah das Faktische.«133

129. L. Jäger, Messianische Kritik, S. 59. 130. Die Veränderung in der Beziehung erfolgte bei einem Besuch Bubers in Braunsfeld, vgl. Arc. Ms. Var. 350/606,9 (Rang an B., 24. 7. 1921) u. 606,10 (Rang an B., 7. 8. 1921). 131. Vgl. Arc. Ms. Var. 350/606,14 (Rang an B., 5. 1. 1922: Bericht einer heftigen Auseinandersetzung darüber mit Gutkind). 132. M. Buber, Zwiesprache, S. 144 f. (=W I, S. 177). 133. A. a. O., S. 145 f. (=W I, S. 177 f.) Zu Rangs Bericht des Geschehens, vgl. L. Jäger, Messianische Kritik, S. 51 f.

Kommentar

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Die Schlußfolgerungen sind von der Theorie der Reifezeit aus gemacht, aber der Bericht selbst teilt die existentielle Bedeutung mit, die das Geschehen für Rang und Buber hatte und worin ihre Freundschaft begründet war. Anfang der Zwanziger Jahre wechselten sie regelmäßig Briefe und berichteten über ihre jeweiligen Arbeiten. So las Rang Ich und Du noch als Manuskript und verfaßte dazu eine profunde Kritik. 134 Buber beteiligte sich seinerseits an dem 1923 verfaßten und 1924 veröffentlichten Versuch einer »mögliche[n] Gerechtigkeit gegen Belgien und Frankreich und zur Philosophie der Politik« durch Rat und die hier abgedruckte Zuschrift. Geheimnis einer Einheit

Druckvorlage: Hermann Stehr, sein Werk und seine Welt, hrsg. von Wilhelm Meridies, Habelschwerdt: Franke Verlag 1924, S. 103 f. BB 275, MBB 298. Wiederabgedruckt in: Vom Geheimnis des Jenseits im Diesseits, Jahresgabe der Hermann-Stehr-Gesellschaft zum 20. Todestag des Dichters, hrsg. von Wilhelm Merides, Stuttgart 1960, S. 53 f. [im folgenden: JG]. Die Arbeit stellt den Beitrag zum Sammelband zu Stehrs 60. Geburtstag dar, den sein Schwiegersohn herausgab und dazu Freunde sowie Kollegen des Jubilars einlud. In ihm erscheint Stehr als Mystiker, genauer – in den Worten eines Kritikers – als Vertreter jener »abgründig deutschen Mischung von Mystik und Nonkonformismus, Subjektivität und Revolte, Tiefe und Provinzialität, die wir lieber verdrängen als analysieren«.135 Gerade in diesen Zügen konnte aber Buber sein eigenes Porträt erkennen, wenn auch ins Christliche übertragen. Ludwig Strauß bemerkte ihm gegenüber anläßlich der Lektüre von Stehrs »Heiligenhof«: »Sollte man nicht meinen, daß ein starker jüdischer Einfluß auf diesen Dichter gewirkt hat, weil die Erkenntnis polar-dualistischer Seelenart in diesem herrlichen Buch so stark zugrunde liegt?« 136 Strauß stützte sich auf Überlegungen Bubers in der zweiten von dessen Drei Reden über das Judentum, »Das Judentum und die Menschheit«. Dieser erklärte dort, »[d]as Judentum ist nicht einfach und eindeutig, sondern vom Gegensatz erfüllt. Es ist ein polares Phänomen.« 137

134. 135. 136. 137.

M. Buber, B II, S. 131-134 (Rang an B., 14. 9. 1922). P. Demetz, Die Einsamkeit der Gottsucher, S. 8. M. Buber, B II, S. 31 (Strauß an B., 6. 3. 1919). M. Buber, DR, S. 37 (= RGA, S. 20 = JUJ, S. 19).

340

Kommentar

Anhang Druckvorlage: Kopien der Abgangszeugnisse der jeweiligen Universitäten, Herkunftsort MBA Jüdische National- und Universitätsbibliothek Jerusalem, Arc. Ms. Var. 350/alef 3b. Für die Semester an der Universität Leipzig und das Wintersemester 1901/02 an der Universität Wien sind die jeweiligen Kollegienbücher herangezogen worden. Herkunftsort MBA Jüdische National- und Universitätsbibliothek Jerusalem, Arc. Ms. Var. 350/alef 5 (Wien) bzw. alef 6 (Leipzig). Eine unvollständige Liste in englischer Übersetzung, in: G. Schmidt, S. 127-130. In den folgenden Semestern bis zur Eröffnung seines Promotionsverfahrens am 6. November 1903 bzw. dem Ablegen der Rigorosen am 19. Juli 1904 hat Buber keine weiteren Veranstaltungen mehr belegt.

Abkürzungsverzeichnis

AF

B I-III

BB BBS

BuT DR Eliasberg Friedman Goethe HbV

IuD JB I JB II

JuJ

Martin Buber, Autobiographische Fragmente, in: Schilpp/Friedman, S. 1-34 [= Begegnung. Autobiographische Fragmente, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1960]. Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, 3 Bde, hrsg. und eingel. von Grete Schaeder in Beratung mit Ernst Simon und unter Mitwirkung von Rafael Buber, Margot Cohn und Gabriel Stern, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1972-75. Bd. I: 1897-1918 (1972), Bd. II: 1918-1938 (1973), Bd. III: 1938-1965 (1975). A Bibliography of Martin Bubers’s Works, 1895-1957, zusammengestellt von Moshe Catanne, Jerusalem: Bialik Institut 1961. Briefwechsel Martin Buber – Ludwig Strauß 1913-1953, hrsg. von Tuvia Rübner und Dafna Mach, Frankfurt a. M.: Luchterhand Literaturverlag 1990. Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, hrsg. von Alex Bein et al., 7 Bde., Frankfurt a. M./Berlin: Propyläen Verlag 1983-1996. Martin Buber, Drei Reden über das Judentum, Frankfurt a. M.: Literarische Anstalt Rütten & Loening 1911. Eliasberg, Ahron, Aus Martin Bubers Jugendzeit, in: Blätter des Heine-Bundes 1, 1928, S. 1-5. Friedman, Maurice, Martin Buber’s Life and Work: The Early Years, 1878-1923, Detroit: Wayne State University Press 2 1988. Johann Wolfgang Goethe, Gesammelte Werke. Münchner Ausgabe, 20 Bde., München: Carl Hanser Verlag 1985-. Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825-1933, hrsg. von Wulf Wülfing, Karin Bruns und Rolf Parr, Stuttgart/Weimar: Metzler Verlag 1998. Martin Buber, Ich und Du [1923/1957], in: Das dialogische Prinzip, S. 9-136 = W I, S. 77-170. Martin Buber, Die Jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen. Erste Folge, 1900-1915, Berlin: Jüdischer Verlag 1916. Martin Buber, Die Jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen. Zweite Folge, 1916-1920, Berlin: Jüdischer Verlag 1920. Martin Buber, Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, mit einer Einl. von Robert Weltsch, Köln: J. Melzer Verlag 1963.

342

Abkürzungsverzeichnis

JW

Das Junge Wien, Österreichische Literatur- und Kunstkritik 18871902, hrsg. von Gotthard Wunberg, 2 Bde., Tübingen: Verlag W. Narr 1967. Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften et al., 29 Bde., Berlin: Akademie Verlag 1910-. Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 30 Bde., Berlin: Verlag de Gruyter 1967-. Martin Buber, Kampf um Israel. Reden und Schriften (1921-1932), Berlin: Schocken Verlag 1933. Kohn, Hans, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte Mitteleuropas 1880-1930, mit einem Nachwort »Martin Buber 1930-1960« von Robert Weltsch, Köln: J. Melzer Verlag 2 1961. Gustav Landauer, Sein Lebensgang in Briefen, unter Mitwirkung von Ina Britschgi-Schimmer hrsg. von Martin Buber, 2 Bde., Frankfurt a. M.: Rütten & Loening Verlag 1929. Longinus, Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch, hrsg von Otto Schönberger, Stuttgart: Reclam Verlag 1988. Martin Buber-Archiv Jüdische National- und Universitätsbibliothek Jerusalem. Martin Buber. Eine Bibliographie seiner Schriften, 1897-1978, zusammengestellt von Margot Cohn und Rafael Buber, Jerusalem: Magnes Press, Hebräische Universität, und München/New York et al.: K. G. Saur 1980. Martin Buber-Werkausgabe Mendes-Flohr, Paul, Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zu ›Ich und Du‹, Königstein/Ts.: Jüdischer Verlag 1978. Platon, Sämtliche Werke, hrsg. von E. Loewenthal, 3 Bde., Köln: Jakob Hegner 6 1969. Martin Buber, Reden über das Judentum. Gesamtausgabe, Frankfurt a. M.: Literarische Anstalt Rütten & Loening 1923 (Berlin: Schocken Verlag 2 1932). Schaeder, Grete, Martin Buber. Hebräischer Humanismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1966. Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 5 Bde., München: Carl Hanser Verlag 5 1973. Martin Buber, hrsg. von Paul A. Schilpp und Maurice Friedman, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1963. Schmidt, Gilya Gerda, Martin Buber’s Formative Years. From

Kant

KGW

KI Kohn

LGB

Longin MBA MBB

MBW Mendes-Flohr

Plato RGA

Schaeder Schiller Schilpp/Friedman Schmidt

343

Abkürzungsverzeichnis

Schopenhauer Simon

W I-III

German Culture to Jewish Renewal, 1897-1909, Tuscaloosa/London: The University of Alabama Press 1995. Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, hrsg. von Ludger Lütkehaus, Zürich: Hafmanns Verlag 1987. Simon, Ernst, Martin Buber und das deutsche Judentum, in: Deutsches Judentum, Aufstieg und Krise, hrsg. von Robert Weltsch, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1963, S. 27-84. Martin Buber, Werke, 3 Bde., München: Kösel Verlag, und Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1962-64. Erster Band: Schriften zur Philosophie. (1962), Zweiter Band: Schriften zur Bibel. (1964), Dritter Band: Schriften zum Chassidismus. (1963).

Hebräische Bibel Gen Ex Lev Num Dtn Jos Jdc I Sam II Sam I Reg II Reg Jes Jer Ez Hos Joel Am Ob Jon Mi Nah Hab Zeph Hag Sach Mal Ps

Genesis Exodus Leviticus Numeri Deuteronomium Josua Judicum (Richter) 1. Samuel 2. Samuel 1. Regum 2. Regum Jesaja Jeremia Ezechiel Hosea Joel Amos Obadja Jona Micha Nahum Habakuk Zephanja Haggaj Sacharja Maleachi Psalm(en)

344

Hi Prov Rut Cant Qoh Thr Est Dan Esr Neh I Chr II Chr

Abkürzungsverzeichnis

Hiob Proverbia (Sprüche) Ruth Canticum Canticorum (Hohelied) Qohelet (Prediger) Threni (Klagelieder) Esther Daniel Esra Nehemia 1. Chronik 2. Chronik

Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Quellenverzeichnis 2. Literaturverzeichnis 2.1 Bibliographien 2.2 In den Band aufgenommene Schriften Martin Bubers 2.3 Verwendete Werke Martin Bubers 2.4 Verwendete Literatur zu Buber und zum deutschen Judentum 2.5 Weitere Literatur

1. Quellenverzeichnis Aus dem Martin Buber-Archiv der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem sind folgende unveröffentlichte Manuskripte verwendet worden: Arc. Ms. Var. 350/1a Arc. Ms. Var. 350/1b Arc. Ms. Var. 350/7a Arc. Ms. Var. 350/7b Arc. Ms. Var. 350/8a-d Arc. Ms. Var. 350/61

Arc. Ms. Var. 350/62

Arc. Ms. Var. 350/108

M. Buber, Bar Mitzwa – Rede, handschriftliches Manuskript. M. Buber, »Glaube, Hoffnung, Liebe«. (Ewige Jugend), handschriftliches Manuskript. M. Buber, Schopenhauers Lehre vom Erhabenen, handschriftliches Manuskript. M. Buber, Zarathustra, handschriftliches Manuskript. Kladde mit Entwürfen und anderem Material zu Daniel. insg. 7 Briefe von Gustav Landauer an M. Buber: 61.1, 15 (22. 2. 1908), 61.3, 2 (10. 3. 1912), 61.3, 7 (17. 7. 1912), 61.3, 14 (17. 9. 1912), 61.4, 8 (10. 10. 1914), 61.5, 8 (11. 6. 1916), 61.5, 16 (30. 1. 1917). insg. 18 Briefe von M. Buber an G. Landauer: 62, 1 (6. 2. 1903), 62a, 24 (23. 2. 1908), 62a, 30 (21. 4. 1908), 62a, 32 (23. 5. 1908), 62a, 50 (7. 12. 1908), 62c, 2 (11. 3. 1912), 62c, 16 (15. 9. 1912), 62c, 17 (19. 9. 1912), 62c, 27 (18. 2. 1913), 62d, 10 (20. 7. 1914), 62d, 11 (7. 9. 1914), 62d, 12 (12. 10. 1914), 62d, 19 (18. 3. 1915), 62d, 27 (17. 12. 1915), 62e, 7 (25. 6. 1916), 62e, 7a (2. 7. 1916),62e, 7b (7. 7. 1916), 62e, 17 (5. 2. 1917). Brief von Louise [Lindemann-]Dumont an M. Buber: 108, 1 (13. 7. 1919).

346

Arc. Ms. Var. 350/184 Arc. Ms. Var. 350/218

Arc. Ms. Var. 350/218a Arc. Ms. Var. 350/606

Arc. Ms. Var. 350/764 Arc. Ms. Var. 350/764.I Arc. Ms. Var. 350/alef 2 Arc. Ms. Var. 350/alef 2a Arc. Ms. Var. 350/alef 3b Arc. Ms. Var. 350/alef 5 Arc. Ms. Var. 350/alef 6

Arc. Ms. Var. 350/bet Arc. Ms. Var 350/bet 8 Arc. Ms. Var. 350/zajn 46

Quellen- und Literaturverzeichnis

Brief von Frederik van Eeden an Martin Buber: 184, 5 (25. 10. 1914). insg. 6 Briefe von Efraim Frisch an M. Buber: 218, 25 (18. 12. 1913), 218, 27 (20. 1. 1914), 218, 32 (31. 3. 1914), 218, 34 (23. 4. 1914), 218, 39 (17. 12. 1914), 218, 40 (7. 1. 1915). insg. 2 Briefe von M. Buber an Efraim Frisch: 218a, 1 (18. 6. 1902), 218a, 2 (14. 4. 1903). insg. 14 Briefe von Florens Christian Rang an M. Buber: 606, 9 (24. 7. 1921), 606, 10 (7. 8. 1921), 606, 11 (13. 8. 1921), 606, 14 (5. 1. 1922), 606, 25 (18. 3. 1923), 606, 28 (9. 2. 1923), 606.1, 30 (21. 3. 1923), 606.1, 31 (19. 4. 1923), 606.1, 34 (6. 5. 1923), 606.1, 36 (19. 5. 1923), 606.1, 38 (13. 6. 1923), 606.1, 41 (22. 8. 1923), 606.1, 42 (20./23. 9. 1923), 606.1, 44 (4. 12. 1923). Brief von Hermann Stehr an M. Buber: 764, 5 (9. 7. 1915). Brief von M. Buber an H. Stehr: 764.I, 6 (undatierter Entwurf). M. Buber, Promotionsschrift, handschriftliches Manuskript (Kopie). M. Buber, Promotionsschrift, maschinenschriftliches Manuskript. M. Buber, Rigorosenakte und Abgangszeugnisse der von ihm besuchten Universitäten (Kopien). M. Bubers Promotionsurkunde und Kollegienbuch der Universität Wien. M. Buber, Kollegienbücher der Universität Leipzig und Aufruf der V. J. St. Leipzig 1899 (Kopie eines Nachdrucks). M. Buber, Notizen zur Dissertation. Oktavheft mit Textfassung und Überarbeitung des Daniel. Konvolut zum Forte-Kreis.

Aus den Zionistischen Zentralarchiven Jerusalem sind aus dem Nachlaß Leo Winz folgende unveröffentlichte Manuskripte verwendet worden: A 136/101/1

Briefe von L. Winz an Simon Bernfeld (18. 2. 1907), an Buck (31. 12. 1937). Brief von S. Bernfeld an L. Winz (18. 2. 1907).

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Quellen- und Literaturverzeichnis

2. Literaturverzeichnis 2.1 Bibliographien Martin Buber. Eine Bibliographie seiner Schriften, 1897-1978, zusammengestellt von Margot Cohn und Rafael Buber, Jerusalem: Magnes Press, Hebräische Universität, und München/New York et al.: K. G. Saur 1980. A Bibliography of Martin Buber’s Works, 1895-1957, zusammengestellt von Moshe Catanne, Jerusalem: Bialik Institut 1961. L’Émigration russe en Europe. Catalogue collectif des périodiques en langue russe 18551940, hrsg. von Tatjana Ossorguine-Bakounine, Paris 1976.

2.2 In den Band aufgenommene Schriften Martin Bubers Die Abenteuer des kleinen Walther, in: Neue Freie Presse vom 18. 10. 1901, Literaturblatt, S. 31-33. A. M. und Constantin Brunner, in: Ost und West 12, 1912, Sp. 333-338. Bar Mitzwa – Rede, Arc. Ms. Var. 350/1a, Martin Buber-Archiv Jüdische Nationalund Universitätsbibliothek Jerusalem. Bewegung, in: Der Neue Merkur 1, 1914/15, S. 489-492. Brief an Florens Christian Rang, in: Florens Christian Rang, Deutsche Bauhütte. Ein Wort an uns Deutsche über mögliche Gerechtigkeit gegen Belgien und Frankreich und zur Philosophie der Politik, Sannerz/Leipzig: Gemeinschafts-Verlag Eberhard Arnold 1924, S. 182-184. Bücher, die jetzt und immer zu lesen sind, in: Wiener Kunst- und Buchschau, hrsg. vom Buchhändler Hugo Heller, Nummer 9/10, Dezember 1914, S. 6 f. Daniel. Gespräche von der Verwirklichung, Leipzig: Insel Verlag 1913, 2 1919, 3 1922; übernommen 1933 vom Schocken Verlag Berlin; aufgenommen in: W I, S. 9-76; Übersetzungen ins Hebräische 1917, ins Niederländische 1947, ins Englische 1964, ins Japanische 1969 und auszugsweise ins Französische 1951. Ein Dankeswort an Alfons Paquet, in: Der Jude 1, Heft 2, Mai 1916, S. 129 f. Ereignisse und Begegnungen, Leipzig: Insel Verlag 1917, 2 1925; übernommen 1933 vom Schocken Verlag Berlin; auszugsweise in: Hinweise, Zürich 1953, S. 10-43, S. 118-120 = Vorlage für die Übersetzung ins Niederländische 1953 sowie für Pointing the Way, hrsg. von Maurice Friedman, New York 1957, S. 5-30, S. 59 f. Dem Fähnrich Willy Stehr ins Stammbuch, in: Zeit-Echo 1, 1914/15, S. 186. Feste des Lebens, in: Die Welt 5, Nr. 9 vom 1. 3. 1901, S. 8 f.; wiederabgedruckt in: JB I, S. 23-27; englische Übersetzung, in: The First Buber, S. 18-20. Geheimnis einer Einheit, in: Hermann Stehr, sein Werk und seine Welt, hrsg. von Wilhelm Meridies, Habelschwerdt: Franke Verlag 1924, S. 103 f.; wiederabgedruckt in: Vom Geheimnis des Jenseits im Diesseits, Jahresgabe der Hermann-Stehr-Gesell-

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Quellen- und Literaturverzeichnis

schaft zum 20. Todestag des Dichters, hrsg. von Wilhelm Merides, Stuttgart 1960, S. 53 f. »Glaube, Hoffnung, Liebe«. (Ewige Jugend), Arc. Ms. Var. 350/1b, Martin Buber-Archiv. Kultur und Zivilisation, in: Der Kunstwart 14, 1901, S. 81-83. Pescara, an einem Augustmorgen. Berlin, nach der Heimkehr, in: Zeit-Echo 1, 1914/ 15, S. 38 f.; veränd. wiederabgedruckt unter dem Titel »Richtung soll kommen!« in: Masken 10, 1914/15, S. 173 f. Aus einem Rundschreiben von Ostern 1914, in: Der Almanach der Neuen Jugend auf das Jahr 1917, Berlin 1917, S. 11 f. Schopenhauers Lehre vom Erhabenen, Arc. Ms. Var. 350/7a, Martin Buber-Archiv. Was ist zu tun?, in: Frankfurter Zeitung, 1. Morgenblatt vom 20. 4. 1919, S. 1; wiederabgedruckt in: Die Frage an den Einzelnen, Berlin 1936, S. 101-105 (1. Anhang), Hinweise, S. 290-293, und Buber für Atheisten, S. 86-88. Zur Wiener Literatur, in: Przeglad tygodniowy 32, Nr. 25 vom 19. 6. 1897, S. 297 f. und Nr. 27 vom 3. 8. 1897, S. 321 f. Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte, in: Die Kunst im Leben 1, Heft 2, 1900, S. 13. Zarathustra, Arc. Ms.Var. 350/7b, Martin Buber-Archiv. Zwei Bücher nordischer Frauen, in: Neue Freie Presse vom 28. 7. 1901, Literaturblatt, S. 21-23.

2.3 Verwendete Werke Martin Bubers Achad-Haam-Gedenkrede in Berlin (9. 1. 1927), in: KI, S. 145-149 = JuJ, S. 759-761. Achad-Haam-Gedenkrede in Basel (30. 8. 1927), in: KI, S. 150-169 = JuJ, S. 762-770. Alte und neue Gemeinschaft [1901], in: [Mendes-]Flohr/Susser, An Unpublished Buber Manuscript, S. 50-56 = in: Mendes-Flohr, S. 183-188. Auswahl deutscher Verse, in: Trunken von Gedichten. Eine Anthologie geliebter deutscher Verse, hrsg. von Georg Gerster, Zürich: Arche Verlag 1953, S. 143-145, 155. Die Bibel als Erzähler [I,] [1927], in: Voigts, S. 187-192. Über Jakob Böhme, in: Wiener Rundschau 5, Nr. 12 vom 15. 6. 1901, S. 251-253. Buber für Atheisten, hrsg. v. Thomas Reichert, Gerlingen: Bleicher Verlag 1996. Chinesische Geister- und Liebesgeschichten, deutsche Auswahl von Martin Buber, Frankfurt a. M.: Literarische Anstalt Rütten & Loening 1911. Das dialogische Prinzip, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider [1962,] 5 1984 [= Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1954], daraus: Zwiesprache [Berlin: Schocken Verlag 1932], S. 137-196 = W I, S. 171-214, Die Frage an den Einzelnen [Berlin: Schocken Verlag 1936], S. 197267 = W I, S. 215-265, Elemente des Zwischenmenschlichen [in: Neue Schweizer

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Glossar* Actions-Comitee: höchste parlamentarische Instanz des organisierten Zionismus, tagte zwischen den Kongressen und bereitete diese vor, gab als offizielle Zeitschrift Die Welt heraus, siehe Zionismus. 1 Apikores: griech., abgeleitet in hebr. u. jidd. Epikuräer; in der jüd. Tradition die Bezeichnung für den Häretiker und Gottesleugner, schließlich für den Freigeist schlechthin. Ba2al bzw. Ba2alat Teschuva: hebr. Mann bzw. Frau der Umkehr; ein der relig. Tradition entfremdeter Jude bzw. eine solche Jüdin, der bzw. die schließlich zu ihr zurückkehrt; zentraler Gedanke des Judentums. Bar Kochba: Name des Anführers eines messianischen Aufstandes in Palästina gegen die Römer um 130 n. Chr., der Pate stand für den 1893 gegr. Verein der Jüdischen Hochschüler in Prag; zahlreiche Anhänger Bubers waren dort Mitglied, ihm kommt große Bedeutung für Kulturzionismus und jüd. Jugendbewegung insgesamt zu. Bar Mitzwa: hebr. Sohn des Gebots; Bezeichnung für den jüd. Jungen bei Vollendung des 13. Lebensjahres, an der er relig. mündig wird, zugleich Name der dabei stattfinden synagogalen Feier. Brith Schalom: hebr. Friedensbund (nach Ez 34,25); 1925 gegr. Organisation in Palästina zur Förderung jüd.-arabischer Zusammenarbeit, zu der als auswärtiger Freund auch Martin Buber zählte; Mitglieder waren u. a. Hugo Bergmann, Gershom Scholem und Ernst Simon. Chanukka: achttägiges Lichterfest zur Erinnerung an die Wiedereinweihung des von den Seleukiden desekrierten Jerusalemer Tempels 165 v. Chr. durch Judas Makkabäus. Chassid, Chassidim: hebr. Frommer; Anhänger des Chassidismus, siehe Chassidismus. Chassidismus: durch Rabbi Israel ben Eliezer, Ba2al Schem Tov (ca. 1700-1760) gegr. jüngste volkstümliche mystische Bewegung des Judentums; von Osteuropa ausgehend, verbreitete sie sich in der Diaspora ebenso wie später im Staat Israel; sie zerfällt in unterschiedliche Gruppen, die einem bestimmten Zaddik und seiner Tradition folgen, siehe Chassid. Demokratische Fraktion: gegr. 1902, erste innerzionistische Opposition, die nicht nur eine politische Lösung, sondern auch eine geistige Erneuerung des Judentums forderte, Mitglieder waren u. a. Martin Buber, Berthold Feiwel, Ephraim Moses Lilien, Leo Motzkin und Chaim Weizmann, siehe Zionismus. Derascha, Derasch: hebr. Auslegung; homiletische Interpretation der Toralesung des Tages im freien Vortrag, u. a. bei der Bar Mitzwa. Diaspora: griech. Zerstreuung; neutrale Bezeichnung für das Judentum im Exil, d. h. außerhalb Palästinas/Israels, siehe Galut. Dithyramben: festlicher Chorgesang zu Ehren des griech. Gottes Dionysos, wahrscheinlich eine der Wurzeln des abendländischen Theaters. Elohim: jüd. Gottesname, wird in der Mystik auf die Strenge Gottes bezogen, siehe Middat ha-din.

*

Sofern der Begriff in den Schriften Bubers vorkommt, wird dessen Schreibweise übernommen. Alle anderen im Glossar angeführten hebräischen Begriffe folgen der für die MBW festgelegten Umschrift.

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Glossar

Emuna: hebr. Vertrauen, Treue, Glaube; von Buber der (paulinisch-)christlichen Pistis gegenübergestellt. Galut bzw. Golus: hebr. bzw. jidd. Exil, existentiell-tragischer Ausdruck für die mit ganzem Schmerz empfundene Zerstreuung des Judentums unter den Völkern, siehe Diaspora. Gemara: hebr. Vollendung; Bezeichnung der rabbin. Erörterung der Mischna, mit der zusammen sie den Talmud bildet, siehe Mischna, Talmud. Haftara: hebr. Verabschiedung; Bezeichnung des prophetischen Wochenabschnitts aus der Bibel, der am Schabbat in der Synagoge nach der Toralesung vorgetragen wird. Halacha: hebr. Gang; Lebensweg, die feststehende Norm, Bezeichnung des jüd. Religionsgesetzes, wie es die Rabbinen aus der Überlieferung entwickelt haben, sie regelt jüd. Leben in allen Einzelheiten. Hapoel Hatzair: hebr. Der junge Arbeiter; in Palästina 1905 unter der Führung von A. D. Gordon gegr. Partei eines nichtmarxistischen Sozialismus, aus der die ersten Kollektivsiedlungen hervorgingen, siehe Kibbutz. Haskala: hebr. Erkenntnis; Bezeichnung der jüd. Aufklärung in Mittel- und Osteuropa seit der Mitte des 18. Jh., in der der Erwerb von Bildung den Vorrang vor der Pflege der Tradition erhielt. Jekke, Jekkes: in Palästina/Israel gebräuchliche Bezeichnung für Juden deutscher Herkunft. Jischuv: hebr. Besiedelung; Gesamtheit der jüd. Bewohner Palästinas vor der Staatsgründung. Jüdische Jugendbewegung: im weiteren Sinn jüd. Aktivitäten innerhalb der um 1900 entstandenen dt. Jugendbewegung, die sich, inspiriert von erwachsenen Lebensreformern, zwischen jugendlicher Gemeinschaft und elitärer Absonderung bewegte, im engeren Sinn jüd. Jugendgruppen wie der 1913 gegr. zionist. Blau-Weiß. Jüdischer Nationalfonds: zionist. Einrichtung, die Grund und Boden in Palästina erwarb, siehe Zionismus. Kabbala: hebr. Tradition; Bezeichnung der jüd. Mystik des Mittelalters und der frühen Neuzeit, die sich durch theurgische Praktiken sowie Spekulationen über das innere Wesen Gottes und die Schöpfung der Welt auszeichnet; Buchstabendeutungen, -permutationen und Zahlenkombinationen stellen ihre wichtigsten hermeneutischen Techniken dar, die aus jedem Zeichen den verborgenen Sinn freilegen sollen; ihre Anhänger werden Kabbalisten genannt. Kawwana, Kawwanot: hebr. Ausrichtung; die rechte Intention bei Gebet und aller Gebotserfüllung, spielt eine zentrale Rolle in der jüd. Mystik; führte zur Ausbildung der Literaturgattung der Kawwanot. Keren Hajessod: hebr. Grundfonds; zion. National- und Aufbaufonds, gegr. 1920 zur Finanzierung der jüd. Besiedelung Palästinas durch Selbstbesteuerung des jüd. Volks, siehe Zionismus. Kibbutz, Kibbutzim: landwirtschaftliche Kollektivsiedlungen, die, einem sozialistischen Ideal folgend, einen großen Beitrag zum Aufbau Palästinas bzw. Israels leisteten. Messias: hebr. Gesalbter; endzeitlicher Heilsbringer, den Christen in Jesus bereits erschienen, von den Juden für die Zukunft erwartet. Middat ha-din, middat ha-rachamim: hebr. Maß des Gerichts, Maß des Erbarmens; Bezeichnungen für Gottes strafenden Zorn und seine verzeihende Güte, um ein ständiges Gleichgewicht bemüht, von den Rabbinen als die beiden wichtigsten der dreizehn Eigenschaften Gottes bestimmt.

Glossar

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Midrasch, Midraschim: hebr. Auslegung, Studium; im rabbin. Judentum aktualisierende Auslegung der Bibel, die Erkenntnisgewinn vor Kontexttreue stellt. Minjan: hebr. Zahl; Bezeichnung für zehn relig. mündige Männer, die die notwendige Mindestzahl zur Konstituierung einer Gemeinschaft von Betern darstellen. Mischna: hebr. Wiederholung; die erste autoritative Sammlung religionsgesetzlicher Auslegung der Bibel, redigiert um 200 n. Chr., wird in der Gemara kommentiert, mit der zusammen sie den Talmud bildet, siehe Gemara, Talmud. Mitzwa, Mitzwot: hebr. Gebot; Bezeichnung der religionsgesetzlichen Vorschrift, aber auch der verdienstvollen Handlung. Pistis: griech. Treue, Glaube; im NT und bes. in den paulinischen Schriften Bezeichnung für das Anerkennen von Tod und Auferstehung Christi als der Erlösung, von Buber der jüd. Emuna gegenübergestellt. Rabbi, Rabbinen: wörtl. mein Lehrer, mein Meister; seit talmud. Zeit der Titel des ordinierten jüd. Rechtsgelehrten, der die Tora verbindlich auslegen kann und Auskunft in relig. Fragen erteilt. Rabbiner: im westl. Judentum Angestellter einer Gemeinde, der seit dem 19. Jh. einem christl. Geistlichen in seiner Funktion als Prediger und Seelsorger nahekommt. Als religionsgesetzlicher Richter entscheidet er die vorgebrachten Fälle nach der Halakha. Reformjudentum bzw. Liberales Judentum: am Anfang des 19. Jh. v. a. in Deutschland unternommene und von städtischen Juden der Mittelschicht getragene Reform des synagogalen Gottesdiensts, die de facto auf eine Anpassung an Gepflogenheiten des protestant. Wortgottesdiensts hinauslief; seine Anhänger pflegten eine rationalistische Deutung der Tradition, eine Erleichterung der Gebotserfüllung und eine Rücknahme relig. Bräuche. Schabbat: hebr. der siebte Tag der Woche; ein Freuden- und Feiertag, Ruhetag Gottes nach Erschaffung der Welt, seiner Heiligkeit wegen ist an ihm das menschliche Tun mit halachisch begründeten Einschränkungen belegt. Schechina: hebr. Einwohnung Gottes; von den Kabbalisten als letztes der zehn Attribute Gottes bestimmt; seine weibliche Eigenschaft, die seine Anwesenheit in Israel und der Welt bedeutet; mitunter geradezu personifiziert, u. a. weilt sie selbst im Exil. Schul: jidd. Bezeichnung der Synagoge, siehe Synagoge. Synagoge, Tempel: Bezeichnung für den Versammlungsort der Gemeinde, kein heiliger Ort, in ihm wird wochen- wie festtags gebetet und gesungen. Talmud: hebr. Lehre, Studium; Bezeichnung von Mischna und Gemara als den rabb. Auslegungen der Bibel, begriffen als Aufzeichnung der mündlichen Tora, siehe Mischna, Gemara. Talmudist: Ausleger, Kommentator des Talmud und der rabb. Literatur, siehe Talmud. Tefillin: hebr. Gebetsriemen; von Männern wochentags beim Morgengebet am linken Arm und auf der Stirn getragene blacke Lederriemen, die zur Befestigung von jeweils einer Kapsel mit den Abschnitten von Ex 13,1-10, 11-16, Deut 6,4-9 u. 11,13-21 dienen. Tetragrammaton: griech. Bezeichnung des jüd. Gottesnamen JHWH, der seit der Antike nicht ausgesprochen werden darf. Tora: wörtl. Lehre; in der Bibel eine einzelne relig. Vorschrift, von der Tradition im engeren Sinn zur Bezeichnung des Pentateuch (schriftliche Tora), im weiteren Sinn zu der der jüd. Lehre insgesamt gebraucht, von Gott Moses am Sinai offenbart. Upanishaden: um 500 v. Chr. entstandene Schriften der relig. Tradition Indiens, teilweise my-

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Glossar

stischen Inhalts, die neben dem brahmanischen Opferkult auch die individuelle Askese als Erlösungsweg kennen. Zaddik, Zaddikim: wörtl. Gerechter; durch charismatische Eigenschaften oder durch dynastische Abfolge höchste relig. Autorität einer Gemeinde von Chassidim, Mittler zwischen Gott und den Menschen, siehe Chassidismus. Zionismus: im weiteren Sinn die relig.-politische Orientierung am Land Israel, als politische Bewegung 1897 von Theodor Herzl gegr., um den Erwerb eines Territoriums für das jüd. Volk, nach Möglichkeit in Palästina, zu erreichen, siehe Actions-Comitee, Demokratische Fraktion, Jüdischer Nationalfonds, Keren Hajessod.

Stellenregister 1. Bibelstellen 1.1 Hebräische Bibel (Altes Testament) Gen 2 f. 27 4,1 254 4,25 254 5,18 231 5,21-24 231 27,1-40 225

Prov 8,20 11,18 31,18

94, 98 94 94

1.2 Neues Testament Mt 9,20 ff. 213

Ex 13,21 22,27

201 95

Lk 10,42

211

Lev 19,18 19,33 f.

96, 101 96

Joh 12,25 14,6 14,16

77 186 292

Dtn 1,17 10,19 20,19 22,3 22,6 23,24 25,4

95 96 101 89, 293 101 98 101

1Kor 13,13

100

Apk 21,1 f.

193

II Reg 2,11

212

Jes 40,31

99

Hos 2,2 2,21 f.

93 20

Mi 5,6 f. 6,8

21, 99 102

Sach 4,6 8,16

77 95

Ps 111,7 145,9

95 97

2. Rabbinische Literatur Mischna Avot 1,18 95 Babylonischer Talmud b Ber 34b 286 b Schab 31a 96 b Joma 69b 95 b Mak 24a 102 Midrasch BerR 12,15 96 3. Hekhalotliteratur 3 Hen 4,2 f. 231 9,1-5 231 15,1 f. 234

Sachregister Adam 254 Altenberg, Peter –, Ashantee/Ashanti 26-29 Am-Haarez 289 Anarchist 111, 114 Andere 186, 190, 208 Antichrist 166-167, 260, 292 Antigone 91 Antisemitismus 26, 54, 59, 83, 85, 308 Apikores 91 Apokalyptik 61, 67, 75-76, 84 Apollo 105, 252 Apostel 29, 120, 125, 150, 177, 179, 268 Assimilation 13, 54 Ästhetik 132, 134, 139, 270 Auferstehung 43, 154

–, Drei Reden über das Judentum 38, 44, 55, 57-58, 61, 316, 318, 339 –, Ekstatische Konfessionen 53-54, 60, 319 –, Ereignisse und Begegnungen 67, 321327 –, Habilitation 50 –, Ich und Du 66, 339 –, Promotion 50, 52 –, Richtung soll kommen! 73 –, »Der Geist des Orients und das Judentum« 79, 81 –, »Was ist zu tun?« 83, 89 Buddhismus 247 Bund 295, 298 Burgtheater 24

ba‘al teschuva 91 Balfour-Erklärung 334 Bar Mitzwa 19-20, 23, 305 Barbarei 94 Basel 30, 40 Bayerische Räterepublik 84 Begegnung 16 Bellizismus 74, 76 Benares 250 Berlin 11, 24, 30, 33, 37, 40-41, 45-47, 56, 58, 63, 69, 75, 81-82, 86 Berliner Finkenschaft 311 Berliner Zionistische Vereinigung 311 Bewegung 29, 39-41, 44, 74, 90 Bewegung/Kinesis 283-284, 286 Bewußtsein 137, 139, 141-144, 146-147 Bibel 20-23, 27, 61, 63, 66-67, 89, 91, 306 Bilderverbot 39 Bildung 157-158, 161 Böse 93 Brahma 248-249 Buber, Martin –, Daniel 52, 59-68, 73, 89, 91, 307, 316322, 327, 331 –, Der Jude 42, 59, 79-81, 83, 326, 333, 337 –, Die Geschichten des Rabbi Nachman 50, 57 –, Die Gesellschaft 51-52, 313, 315, 332 –, Die Jüdische Bewegung 23, 54, 83 –, Die Legende des BaalSchem 50, 57

Chaos 187 Chassidismus 16-17, 30, 41, 45, 50, 52, 305, 307 China 52 Christentum 14-15, 17, 75, 114, 163, 165 Christus 58, 91, 146, 166-167, 250, 260 Christi Leib 207 christlich-jüdische Zusammenarbeit 14 christlicher Messianismus 22 Christologie 91 Dämon 189, 213, 271, 275 Décadence 112 Dekadenz 49 Demeter 218 Demokratische Fraktion 41-43 deutsches Judentum 13, 18-19, 52, 60, 91 Deutschnationalismus 26 dialogisches Prinzip 15-16 Diasporakultur 13 Dichter 60, 108, 122-123, 126-127, 149, 153, 195, 198, 215, 230-233, 257-261, 270 Die Gesellschaft 25, 33, 51 Die Welt 312, 317 dionysisch 61, 107, 109, 116 Dionysos 187, 225, 229 Dreyfus-Affäre 308 Du 16, 34, 205 Eden 27

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Sachregister Eine 184, 196, 208, 231, 239, 291 Einheit 15, 44, 46, 70, 81, 91, 157, 181, 186-187, 205, 216, 233-234, 240-245, 251-252, 257 Einstellen/Orientieren 64, 66, 192, 194, 196-198, 200-202, 210-214, 244 Einzelne 44, 158, 163-164, 179, 297 Ekstase 60, 91, 187 Eleusis 216-218, 231 Elia 60 Elohim 231 Emanzipation 49 emuna 15 Entscheidung 79 Entschlossenheit 282 Ereignis 44, 196, 206, 217, 276-278, 284, 286, 327, 332 Erfahrung 16, 66, 193-194, 196-197 Erhabene 131-133, 135-142, 144-147 Erkennen 210 Erkenntnis 35, 78, 192, 195, 197, 208, 213, 229, 248, 254, 284, 289 Erleben 62, 66, 153, 180, 198, 202, 213214, 222, 240, 242, 251, 255, 269-270 Erlebnis 32, 60, 63-64, 67-68, 70, 73, 75, 91, 186, 188, 192-194, 196, 198, 201202, 208-209, 211, 226, 269, 272, 318 Erlösung 43, 76, 81, 103-104, 106, 110, 220, 242, 297 Erneuerung/Renaissance/Wiedergeburt 33, 38, 41, 61, 158, 177, 187, 203 Erster Weltkrieg 13, 17-18, 29, 35, 38, 54, 69, 71, 80, 89-90, 314, 326, 333 Erwählung 45 Esau 225 Europa/Europäer 103, 106, 124, 289 Evolution 38, 54, 151, 212 Ewige 20, 27, 60, 197, 213 Ewigkeit 245 Exil 43-44 Existentialismus 15, 89 Expressionismus 45, 323 Fiktive 291 Florenz 50, 52 Form 159 Forte-Kreis 68-69, 71-74, 90, 331-332, 335-336, 338 Fortschritt 201 Frankfurt 32 Frankfurter Kreis 86-88 Franziskus 265 Frauenbewegung 314

Freiheit 163, 244 Fremde 96 Freyr 60, 225 Friedrichshagener Dichterkreis 46 Frisch, Efraim –, Der Neue Merkur 53, 79, 322-323, 331 Furcht 133 Ganzheit 260, 264 Gauri 224 Gebet 153 Gebotserfüllung 305 Gedicht 195 Gegenwart 165 Geist 29, 33, 36-37, 42, 58, 68-69, 77-79, 81, 99-101, 122, 124-125, 127, 149, 159, 185-186, 194, 201-202, 207-208, 213, 219, 231, 233, 243-244, 249-252, 254255, 260, 263, 277-278, 284-286, 291, 294-295, 299, 306 Gemeinschaft 44, 47, 58, 67, 69, 81-83, 87, 149, 179, 190, 197, 204, 284, 286, 294295 George-Kreis 337 Gerechtigkeit 93, 95, 97 Geselligkeit 34 Gesellschaft 158 Gesetz/Gesetze 23, 95, 157, 187-188, 193194, 254, 257, 259, 297 Gespräch 14, 16, 34, 63, 91, 183, 233 Getriebe 193 Gewissen 89 Glaube/Glaubenserfahrung 15-16, 93, 96, 100, 163, 284 Gleichzeitige/Gleichzeitigkeit 261, 275-276 Gott 27, 33, 45, 90, 93, 95-98, 101-102, 107, 116, 151, 153-154, 175, 189-190, 193, 197, 199, 208, 211, 213-216, 225, 229, 233, 238, 241, 248, 251, 255, 268, 274, 284-286 Götternamen 153 Gottesnamen 20, 60 Gottesreich 298 Gottessohn 220 Gute 93-94 Hades 187 Haftara 20 Halacha 76, 305 Harmonie 161, 164 Harmonisierung 159 Heilige 90

372 Heiligkeit 154 Held 60, 78, 195, 198, 213, 227-228, 257261, 272 Helena 261 Helming, Gunnar 225 Henoch 60, 234 Hermes 222 heroischer Mensch 150 heroisches Leben 38 Herrenmoral/Herrentum 104, 107, 176 Hierophant 220 Hoffnung 100, 102 Ich 112, 121, 123-124, 219, 221, 243-245, 252, 254 Ich-Du-Philosophie 16, 19, 32, 66, 339 Indien 35, 52 Individualisierung 90 Individualismus 164 Individualität 67, 149 Indra 232 Intellektuellen-Religion 62 Israel 13, 22, 45, 96, 99, 101 Jahwe 203Jakob 225 Jerusalem 11, 15, 19-20, 22, 26, 31, 33, 69, 75, 135 Jiddisch 305 Journalismus 49 Juden 179 Judenfrage 58-59 Judenland 155 Judentum 14, 17, 21-23, 41, 44-45, 50-51, 54-56, 58, 75-76, 79, 81, 90-91, 97, 177179, 289, 306, 312-313, 318, 334, 338 Judenzählung 83 jüdische Bewegung 58 Jüdische Hochschule 42 jüdische Jugendbewegung 18, 55, 60, 62, 68 jüdische Nietzsche-Rezeption 307 jüdische Religion 96 Jüdische Renaissance 40 jüdische Tradition 15 Jüdischer Verlag 39, 41 jüdischer Antisemitismus 22 Jugend 99-100 Jugendbewegung 67 Kabbala/Kabbalisten 45, 305 Katholizismus 26, 107 Kibbutz 14 Kinesis 227-229, 277-278

Sachregister Kolmar 250 Komitee für den Osten 334 Kore 218 Kreon 219 Krieg 278, 285, 287 Kriegsbuber 74 Kriegserlebnis 74 Kultur 28, 71, 157-159, 161, 163-164, 201, 295, 306-307, 311, 313 Kulturentwicklung 158 Kulturkeime 159 Kulturkommission 41 Kulturkritik 313, 316 Kulturreife 159 Kulturwert 164 Kulturzionismus 17, 40 Kunst 37, 56, 230, 256 Kunstgeschichte 31 Künstler 107-111, 116, 120, 125, 127-129, 149, 154, 165, 271 Kunstwerk 162 Lear 222 Leben 28, 38, 61, 70, 91, 150-151, 154, 157-159, 163, 169-170, 173, 178, 185, 189, 204, 215, 223, 235-236, 242, 245, 256, 262, 266, 270, 278, 293 Lebensphilosophie 61, 67 Lebensreform 90 Lehre 16, 23, 30, 36, 56, 67, 79, 243, 248 Lehre, jüdische 52 Lehrer 29-30, 32, 75, 90 Leib 151, 184, 189 Lemberg 305-306, 309 Liebe 56, 93, 95-98, 100-102, 124-125, 127, 165, 173-174, 189, 211, 213, 229, 233, 270, 300 Literatur 169 Logos 252 Magie 188 Marsyas 252 Masse 295 Menge 191, 200, 203, 220, 295 Menschentum 177 Menschheit 158, 164, 178 Menschheitsideal 163 Messianismus 22, 75-77, 81 Messias 21 Metaphysik 150 middat 23 middat ha-din 95 Midrasch 305

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Sachregister Mithras 224 Moiren 230 Monismus 46 Monist 252, 255-257 Monotheismus 15 Moral 107, 150, 253 Moses 61 Multatuli 49 München 84-85 Mysterium 61, 187, 198, 209, 213, 218, 251-252, 265 Mystik 17, 20, 46, 52-54, 56, 60, 62, 68, 8991, 305, 307, 318, 329, 339 Mystiker 252, 255, 299 Mythos 16, 212-213, 219, 257-258 Nächstenliebe 96, 101 Nation 19, 43 Nationalismus 23 Nationalsozialismus 14 Neue Freie Presse 27, 48-49, 314 Neue Gemeinschaft 46-47, 315, 329 Nichts 207 Nichtsein 173 Nietzsche, Friedrich –, Also sprach Zarathustra 36, 38-39, 41, 62, 64 –, Zarathustra 307-308, 311 Nietzscheanismus 19, 49, 307 Notwendigkeit 189-190 Ödipus 222 Odysseus 257, 259-260 Offenbarung 44-45, 97, 184, 212, 241, 278 Opfer 38, 78, 278, 282 Orient 289 Orientale 29 Orpheus 60, 187-188 Ostjudentum 54, 79-80, 316 Palästina 289, 334 Persönlichkeit 157-158 Pessimismus 35 Philosoph 111, 115, 149, 181 Philosophie 35-36, 56, 97, 112, 179, 256, 310, 314-315, 318 pístis 15 Poetik 314 Poetologie 18 Polarität 216, 219-223, 228-230, 232-233, 244 Polen 22-23, 100

Potentia 273, 283 Potsdam 39, 68-69 Primitive 150, 198, 212-213 Prometheus 249 Prophet 60-61, 198 Psychologe 108-110, 149 Psychologie 116, 260, 308 Rang, Florens Christian, Deutsche Bauhütte 87-88 Rationalismus/Rationalist 253 Rationalität 259 Rausch 37, 72 Realisieren/Verwirklichen 60, 64, 66, 89, 192, 194-199, 201-202, 209-214, 216, 226, 244, 264, 278, 283 Recht 93, 95, 98 Reich 297, 300 Reich Gottes 89, 214 Reinigung 277, 297 Religion 15, 26, 33-34, 41, 54, 56, 62-63, 76-77, 90-91, 96, 201, 211, 282 Religiosität 33, 211, 283 Renaissance/Wiedergeburt 155 Reparation 87-88 Revolution 29, 84, 125, 212 Richtung 188-190, 211-212, 214-215, 278, 284-286, 291 Romantik 107, 112 Rütten & Loening 51-53, 333 Sakrament 207 Schechina 45 Scholem, Gershom »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum« 76 Schöne 131, 133, 135-138, 140, 142, 144145 Seele 75, 78, 90, 123-128, 149, 162, 169, 177, 187-191, 194-195, 197, 202, 206207, 212-213, 216, 220, 225-227, 229230, 232-233, 240, 243-244, 248-250, 253-254, 262, 276, 278, 293-294 Seelenerleben 154 Seelenmaterial 159 Sein 173, 237 Selbst 122, 125, 241, 252, 254, 256 Selbsterlösung 43 Simson 257 Simulacrum 227-229 Sinn 207 Siwa 224 Skandinavien 161

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Sachregister

Sozialismus 49, 163, 165-166, 313, 334 Sprachphilosophie 62 Subjekt 132, 135-139, 143 Substanz 186 Sünde 273 Synagoge 305

Volk 13, 22-23, 38, 41, 44, 57-58, 77, 7980, 153-155, 164, 178-180, 259, 286-287 Volk Israel 15 Volksgeist 177 Volksseele 154-155 Volkstum 177

Talmud 95-96, 286 Tausch 34 Tefillin 20, 93, 306 Tetragrammaton 20 Theater 216 Theophanie 44-45 Tod Gottes 39 Tora 20, 76, 305-306 Tradition 19, 76, 201 Treue 93, 98 Tugend 93-94, 98

Wahrheit 104, 114, 177, 180, 184, 186, 193, 208, 213, 230, 233, 235, 238, 242, 251, 291, 293 Weise 60, 198 Weisheit 177, 241-242 Welt 207 Weltgeist 213 Wesen 187 Wien 23-24, 26, 28, 30-31, 40, 50, 306, 309, 330, 340 Wilde 27 Wille zur Macht 109, 113, 150 Winz, Leo –, Ost und West 57-58, 315-317 Wirkliche 187, 198, 291 Wirklichen 197, 217 Wirklichkeit 173, 177, 184, 190, 193-195, 197-200, 203-204, 210-211, 213-214, 223, 255 Wissen 194 Wissenschaft 193-194, 256 Wunder 258-259

Übermensch 29, 38, 62, 107, 110, 114 Umkehr 286 Unbehagen an der Kultur 28 Unendlichkeit 185 Unmittelbarkeit 294 Unsterblichkeit 274-275 Upanischaden 181 Urchristentum 322 Urmensch 262 Ursächlichkeit 188 Utopie 76 Vedânta 248 Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba 14, 18, 55 Vereinigung Jüdischer Studierender 311 Vergangenheit 155, 165 Vermittlung 63 Versöhnung 276 Verwandlung 187, 224, 228 Verwirklichung 29, 60-61, 65-66, 73, 9091, 297 Vielheit 252

Zaddik 30 Zarathustra 103-113, 115-116 Zionismus 38-39, 41-42, 48-50, 55-56, 76, 308, 312, 316, 334, 337 zionistische Schriften 38 Zionistischer Kongreß 39-40 Zivilisation 27, 157-158, 200, 313 Zukunft 155, 159, 164 Zweckhaftigkeit 188 Zweiheit 44, 62-63, 206, 214-216, 218-219, 229, 232-233, 237, 240-244 Zwischenmenschliche 51

Personenregister Achad Haam (= Einer aus dem Volk), eig. Ascher Ginzberg (1856-1927): hebr. Schriftsteller und zionistischer Theoretiker, Opponent Theodor Herzls. 30, 3941, 43 Adler, Paul (1878-1946): östr. Dichter u. Übersetzer; Mitbegründer der Künstlerkolonie Hellerau, wo er 1912-20 lebte. 336 Adorno, Theodor W. (1903-1969): dt. Philosoph u. Musiker; 1933 Habil. in Philosophie an der Univ. Frankfurt a. M., 1934 Emigration nach England, 1938 in die USA, 1950 Gastprof., 1953 a. o. Prof., 1956 o. Prof. für Soziologie an der Univ. Frankfurt a. M. 90-91 Aischylos (Ende 6.- Mitte 5. Jhd. v. Chr.): ältester der drei klassischen Tragödiendichter Athens. 105 Altenberg, Peter, eig. Richard Engländer (1859-1919): östr. Schriftsteller u. Lebenskünstler; wird der Literatengruppe »Jung Wien« zugerechnet; verkehrte um die Jahrhundertwende freundschaftlich mit Buber. 19, 25-29, 119, 124-127 A. M. (?): anonymer Anhänger Constantin Brunners; führte 1912 eine publizistische Fehde gegen Buber. 57-58, 177, 180-182, 315-317 Amiel, Henry Frédéric (1821-1881): schweiz. Philosophieprofessor; berühmt für seine posthum veröffentlichten Tagebücher. 121 Andreas-Salomé, Lou (1861-1937): dt.-russ. Schriftstellerin u. Psychoanalytikerin; eine der faszinierendsten Frauen der Jahrhundertwende; enge Vertraute von Friedrich Nietzsche, Paul Ree, Rainer Maria Rilke, Poul Bjerre, Viktor Tausk; verfaßte 1910 für Bubers Reihe Die Gesellschaft den Band Die Erotik; ab 1912 Schülerin Freuds. 36-37 D’ Annunzio, Gabriele (1863-1938): ital. Dichter; Vertreter der Décadence. 109, 122-123Adam 254 Aristoteles (384-322 v. Chr.): griech. Philosoph; Begründer der abendländischen wissenschaftlichen Philosophie. Auernheimer, Raoul (1876-1948): österr. Schriftsteller; seine Mutter war eine Cousine Theodor Herzls; in den Zwanziger Jahren Präsident des öster. PEN-Clubs; 1938 ins KZ Dachau verschleppt, später Emigration in die USA. 24 Avenarius, Ferdinand (1856-1923): dt. Schriftsteller u. Verleger; 1887 Herausgeber des Kunstwart; im 1902 gegründeten Dürerbund als Lebensreformer aktiv; 1913 einer der Sprecher der Freideutschen Jugend bei der Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner. 313 Bachofen, Johann Jakob (1815-1887): schweiz. Rechtshistoriker; 1841 Prof. für röm. Recht an der Univ. Basel; seine Untersuchung Das Mutterrecht (1861) beeinflußt Frauenbewegung und Gegenkultur bis heute. 60 Bahr, Hugo (1863-1934): östr. Schriftsteller des Fin de siècle; wird der Literatengruppe »Jung Wien« zugerechnet. 26, 28, 65, 119-121, 123-127, 308, 314, 331 Ball, Hugo (1886-1927): dt. Dichter u. Anarchist; ab 1915 radikaler Kriegsgegner;

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Emigration in die Schweiz; Mitbegründer des Dadaismus; Anfang der Zwanziger Jahre Hinwendung zu einem mystischen Katholizismus. 74 Barrès, Maurice (1862-1923): franz. Schriftsteller u. Politiker; zur Zeit des jungen Buber über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt für seine Romantrilogie Le culte du moi (1888-1891); ab Mitte der Neunziger Jahre Protagonist der antirepublikanischen und antisemitischen franz. Rechten. 111, 114, 119, 308-309 Barth, Karl (1886-1968): schweiz. reformierter Theologe; Mitglied der Schweizer Sozialdemokratischen Partei; Begründer der Dialektischen Theologie nach dem Ersten Weltkrieg; Mitglied im Kreis der religiösen Sozialisten, den Buber und Florens Christian Rang Anfang der Zwanziger Jahre um sich versammelten; 1921 Prof. für Systematische Theologie an der Univ. Göttingen, 1926 an der Univ. Münster und 1930 an der Univ. Bonn, 1935 als Sprecher der Bekennenden Kirche und Gegner der Nazis amtsenthoben; 1939-1962 (Emeritierung) Prof. an der Univ. Basel. 45, 335 Barth, Paul (1858-1922): dt. Philosoph; 1897 a. o. Prof. der Philosophie und Pädagogik an der Univ. Leipzig, 1918 Honorarprof. 301-302, 310 Bashkirtseff, Marie (1860-1884): russ. Malerin; im französischen Exil lebend; berühmt für ihre posthum veröffentlichten Tagebücher. 121 Baudelaire, Charles (1821-1867): franz. Dichter. Baum, Oskar (1883-1941): östr. Dichter aus dem Prager Kreis; nach einem Unfall als Kind erblindet, Freund von Franz Kafka und Martin Buber. 53, 65 Becher, Johannes Robert (1891-1958): dt. Schriftsteller und Kulturfunktionär der DDR, 1933 Emigration, ab 1935 in der Sowjetunion. 335 Beer-Hofmann, Richard (1866-1945): östr. Dichter des Fin de siècle; wird der Literatengruppe »Jung Wien« zugerechnet, in der er sich als einziger konsequent mit dem Judentum auseinandersetzte; stand mit Buber in lebenslangem Briefwechsel. Beethoven, Ludwig van (1770-1827): dt. Komponist. 126 Behrens, Peter (1868-1940): dt. Architekt u. Gebrauchsgraphiker; 1892 Mitbegründer der Münchener Sezession, 1899 der Darmstädter Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe, die den Jugendstil repräsentierte, 1907 des Deutschen Werkbunds, der für einen sachliche Formgebung eintrat; Mitarbeit im Diederichs Verlag als Buchgestalter; 1903 Leiter der Kunstgewerbeschule in Düsseldorf, 1922 o. Prof. der Architektur an der Akademie der Bildenden Künste in Wien, 1936 Leiter der Architekturabteilung der Akademie in Berlin; stattete Bubers Reihe Die Gesellschaft aus. 312-313 Benjamin, Walter (1892-1940): dt. Philosoph u. Literaturkritiker; mit Florens Christian Rang und Gershom Scholem befreundet; stand Buber zunehmend kritisch gegenüber; beging an der span. Grenze Selbstmord nach gescheiterter Flucht, um der möglichen Auslieferung an die Nazis zu entgehen. 18, 74-75, 86-88 Berdyczewski, Micha Josef, Pseudonym Micha bin Gurion (1865-1921): hebr. Dichter u. Literaturhistoriker; geboren in Rußland, chassidisch erzogen; lebte seit 1890 in Deutschland; früher Anhänger Nietzsches; Freund Martin Bubers und des

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Ehepaars Frisch; Mitglied der Donnerstagsgesellschaft um Moritz Heimann; seit 1911 Aufbau eines Archivs jüdischer Legenden; Verfasser div. Anthologien u. a. Die Sagen der Juden, 5 Bde. (1913-27). 53 Berg, Leo (1862-1908): dt. Schriftsteller; Mitbegründer der Freien Bühne, Mitglied des Friedrichshagener Dichterkreises. Berger, Alfred Frh. v. (1853-1912): östr. Theaterdirektor u. Kunsttheoretiker; 189499 a. o. Prof. für Ästhetik an der Univ. Wien; 1887-90 artistischer Sekretär des Burgtheaters, dessen Direktor er 1909 wurde. 301 Bergman(n), Schmuel Hugo (1883-1975): östr. Philosoph u. Zionist; Mitschüler Franz Kafkas; Mitglied des Vereins Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag; enger Vertrauter Bubers und Freund Gershom Scholems; 1920 Auswanderung nach Palästina; erster Direktor der Jüdischen Nationalbibliothek; 1933 Prof. für moderne Philosophie an der Hebräischen Univ. Jerusalem, deren erster Rektor (1935-38) er war; Mitbegründer von Brith Schalom. Bernfeld, Simon (1860-1940): poln. Rabbiner u. Schriftsteller; in Deutschland erzogen; 1886-94 Oberrabbiner von Belgrad; Rückkehr nach Berlin und Leben als freier Schriftsteller; Mitarbeiter am Hamburger Israelitischen Familienblatt und in Ost und West; 1913-23 Redakteur des Gemeindeblatts der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. 317 Binet, Alfred (1857-1911): franz. Psychiater u. Experimentalpsychologe 106 Bizet, Georges (1838-1875): franz. Komponist, den Friedrich Nietzsche nach seinem Bruch mit Richard Wagner besonders schätzte. 115 Bjerre, Dr. Poul (1876-1964): schwed. Psychologe; entwickelt eine eigene Form der Psychoanalyse; Mitglied des Forte-Kreises. 68, 70 Blair, Hugh (1818-1800): schott. Geistlicher und Schriftsteller. 135 Bodenheimer, Max (1865-1940): dt. Zionist der ersten Stunde u. enger Mitarbeiter Theodor Herzls; erster Direktor des Jüdischen Nationalfonds; 1935 Emigration nach Palästina. 334 Böcklin, Arnold (1827-1901): schweiz. Maler, dessen Spätwerk in den Symbolismus mündet. 105 Böhme, Jakob (1575-1624): dt. prot. Mystiker u. Theosoph. 47, 50, 299, 329 Bonus, Arthur (1886-1941): dt. prot. Theologe; Freund von Eugen Diederichs; Verfasser des Bands Die Kirche für Bubers Gesellschaft; Vertreter eines deutschnationalen Christentums; Mitglied im Kreis der religiösen Sozialisten, den Buber und Florens Christian Rang Anfang der Zwanziger Jahre um sich versammelten. 335 Borchardt, Rudolf (1877-1945): dt. Lyriker, Essayist u. Übersetzer; stand mit Buber seit 1907 in Briefwechsel. 52 Borel, Henri (1869-1933): niederl. Sinologe u. Schriftsteller; Mitglied des ForteKreises. 68, 70, 73 Bourget, Paul (1852-1935): franz. Schriftststeller und Essayist; zeichnete sich in seinen Werken durch genaue psychologische Betrachtung aus. 123 Brahm, Otto, eig. Abrahamson (1856-1912): dt. Theatermacher u. Förderer des Na-

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turalismus; in Berlin u. a. Direktor der Freien Bühne (1889) und des Deutschen Theaters (1894); aus seiner Zeitschrift Freie Bühne, ab 1894 Neue Deutsche Rundschau, ging 1904 die Neue Rundschau hervor. 40, 329 Brandes, Georg Morris Cohen (1842-1927): dän. Literaturhistoriker u. Essayist; als Förderer von Henrik Ibsen, Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche mußte er wegen seiner liberalen Ideen Dänemark auf Jahre verlassen und lebte dann in Deutschland. 36-38, 106, 116, 120, 308 Braun, Lily (1865-1916): dt. Schriftstellerin, Sozialistin u. Frauenrechtlerin. Brod, Max (1884-1968): östr. Schriftsteller; Freund Hugo Bergmanns, Franz Kafkas und der Brüder Weltsch; Mitglied des Vereins Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag; 1939 Emigration nach Palästina; Dramaturg der Habima in Tel Aviv. 60, 65, 79, 311, 321 Brunner, Constantin, eig. Leo Wertheimer (1862-1937): dt. Journalist u. Privatgelehrter; aus hanseatischer Rabbinerfamilie stammend; sammelte um sich einen philosopischen Kreis von begeisterten Anhängern; mußte 1933 vor den Nazis in die Niederlande fliehen; Frau und Tochter wurden im KZ ermordet. 55-59, 65, 178-182, 316, 319 Buber, Adele (gest.1911): Großmutter Martin Bubers. 50 Buber, Carl (1848-1935): Vater Martin Bubers. 306 Buber(-Winkler), Paula, Pseudonym Georg Munk (1877-1958): dt. Schriftstellerin; Gattin Martin Bubers. 47, 49 Buber, Salomon (1827-1906): Großvater Martin Bubers, poln. Großgrundbesitzer; in jüd. traditioneller Gelehrsamkeit aufgewachsen; erster wiss. Herausgeber und Bearbeiter von Midraschim. 51, 305 Buckle, Henry Thomas (1821-1862): engl. Positivist, der glaubte, die Geschichte verliefe nach naturwissenschaftlichen Gesetzen. 114 Buddha, eig. Siddharta Gautama (um 560-480 v. Chr.): ind. Adeliger; Stifter des Buddhismus, der sich als mittlerer Weg zwischen Luxus und Askese versteht. 52, 114, 247-249 Burckhardt, Jacob (1818-1897): schweiz. Kultur- u. Kunsthistoriker; Verfasser der Kulturgeschichte der Renaissance in Italien. 40 Burke, Edmund (1728-1797): engl. Politiker u. Philosoph. 133-134, 141 Byron, Lord George (1788-1824): engl. romantischer Dichter u. Lebenskünstler; starb im griech. Freiheitskampf. Cervantes, Miguel (1547-1616): span. Dichter. Chamfort, Nicolas (1741-1794): franz. Moralist. 115 Chopin, Frédéric (1810-1849): poln. Komponist u.Pianist; lebte im Exil in Paris. 37, 111 Clausewitz, Carl v. (1780-1831): preuß. General u. Militärtheoretiker. 279 Cohen, Hermann (1842-1918): dt. Philosoph; Haupt des Marburger Neokantianismus; 1876-1912 (Emeritierung) Prof. der Philosophie an der Univ. Marburg; ab

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1912 Lehrtätigkeit an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Constant de Rebecque, Benjamin (1767-1830): franz.-schweiz. Schriftsteller u. Politiker, der sich für die Revolution begeisterte; Protegé der Madame de Staël (17661830). 121 Coster, Charles de (1827-1879): belg. Schriftsteller. 279 Cues, Nikolaus v. (1401-1464): dt. kath. Reformtheologe u. Kirchenmann; 1448 Kardinal, 1450 Bischof von Brixen. 50 Dante Alighieri (1265-1321): ital. Dichter. 68, 77 Darwin, Charles (1809-1882): engl. Biologe; Begründer der modernen Evolutionstheorie. Däubler, Theodor (1876-1934): dt. Dichter; Mitglied des Forte-Kreises. 68, 70 Dauthendey, Max (1867-1918): dt. Dichter. 332 Dehmel, Richard (1863-1920): dt. Dichter des Jugendstil; seit den 1880er Jahren Mitglied der Berliner Dichterboheme; 1897 Mitbegründer der Zeitschrift Pan; mit Hedwig Lachmann befreundet; 1905 mit seiner zweiten Frau Ida (»Frau Isi«) Umzug nach Hamburg; meldete sich 1914 kriegsfreiwillig. 69-71, 74, 85, 333 Dessoir, Max (1867-1947): dt. Philosoph; 1897 a. o. Prof. für Philosophie und Ästhetik an der Univ. Berlin, 1920 o. Prof. 30, 302 Dickens, Charles (1812-1870): engl Schriftsteller. 315 Diederichs, Eugen (1867-1930): dt. Verleger und Buchhändler; gründete 1896 in Florenz seinen Verlag, den er zuerst in Leipzig, ab 1904 in Jena führte; verkehrte in der Neuen Gemeinschaft; Gründungsmitglied des Deutschen Werkbunds wegen seines Engagement für die Buchausstattung; Lebensreformer und Förderer neureligiöser Literatur; Verleger der von Buber herausgegebenen Ekstatischen Konfessionen. 312-313, 332 Dilthey, Wilhelm (1833-1911): dt. Philosoph, Geistes- und Literaturgeschichtler; 1867 Prof. der Philosophie an der Univ. Basel, 1882 an der Univ. Berlin; Lehrer Bubers. 32, 303 Diner-Dénes, Joseph (1857-1937): ungar. Schriftsteller u. Diplomat; in den 1890ern Mitarbeiter u. a. bei der Freien Bühne/Neuen Deutschen Rundschau. Dohm, Hedwig (1831-1919): dt. Schriftstellerin u. Frauenrechtlerin. Dolorosa, eig. Maria Eichhorn (1879-?): dt. Schriftstellerin; zählte durch ihre erotischen Gedichte und Novellen zu den Tagessensationen im Berlin des ersten Jahrzehnts nach 1900, was ihr den Namen »Die dolle Rosa« einbrachte; aktiv im Literatenkreis Die Kommenden, den Ludwig Jacobowski begründete und Rudolf Steiner nach dessen Tod führte; seit 1908 in Konstantinopel, wo sich ihre Spur 1911 verliert. 48 Dombrowski, Ignacy (1869-1932): poln. Schriftsteller. Dumont(-Lindemann), Louise (1862-1932): dt. Schauspielerin und Regisseurin; Mitglied der Neuen Gemeinschaft; 1905 mit ihrem Mann Gustav Lindemann

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Gründung des Düsseldorfer Schauspielhauses, dessen Direktorin sie bis zu ihrem Tod war. 85, 329 Eberhardt, Johann August (1739-1809): dt. Philosoph. 135 Meister Eckhart (um 1260-1328): dt. Theologe u. Mystiker; sein Werk wurde um die Jahrhundertwende von Repräsentanten der wilhelminischen Gegenkultur wie Gustav Landauer wiederentdeckt. 250, 280, 330 Van Eeden, Frederik (1860-1932): niederl. Dichter u. Lebensreformer; Mitglied des Forte-Kreises. 68, 70-73, 281, 285, 331-332, 338 Einstein, Albert (1879-1955): dt. Mathematiker u. Physiker; Begründer der Relativitätstheorie; 1909 a. o. Prof. der Physik an der Univ. Zürich, 1911 Ordinarius an der Dt. Univ. Prag, 1912 ETH Zürich, 1914 Professor an der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin; 1921 Nobelpreis; 1933 Emigration in die USA und Professor am Institute for Advanced Studies in Princeton. 85 Eisner, Kurt (1867-1919): dt. Schriftsteller u. Sozialist; in den 1890er Jahren Redakteur der Frankfurter Zeitung und beim Vorwärts; nach der Novemberrevolution 1918 bayer. Ministerpräsident, als welcher er Gustav Landauer zur Mitarbeit nach München einlud; Ende Februar 1919 von einem Konterrevolutionär ermordet. 84-85 Eleutheropoulos, Avram Jani (1873-?): griech. Philosoph; 1896 Habil. in Philosophie und Ästhetik an der Univ. Zürich, dann Honorarprof.; 1913 Bürger von Zürich. 303 Eliasberg, Ahron (1879-1937): poln. Zionist u. Publizist; Cousin Bubers; 1911-20 Direktor des Jüdischen Verlags; seit 1933 in Palästina. 22, 25-26, 28, 39, 307-309 Empedokles (um 495-435 v. Chr.): griech. Philosoph. Erdmann, Otto (1883-1960): dt. Pädagoge; Mitarbeiter an der Odenwaldschule; Verfasser einer Zuschrift zu Florens Christian Rangs Deutsche Bauhütte. Euripides (um 485-406 v. Chr.): jüngster des Dreigestirns der griech. Tragiker. Feiwel, Berthold (1875-1937): östr. Schriftsteller u. zionist. Politiker; Mitglied der Demokratischen Fraktion; am Jahrhundertanfang enger Freund Bubers. 41-42 Fichte, Johann Gottlieb (1762-1814): dt. Philosoph. 75, 280, 289 Fischer, Samuel (1859-1934): dt. Verleger; 1886 Gründung des S. Fischer Verlags, der zum Sammelplatz der modernen dt.-sprachigen Literatur wurde. 24, 26, 332 Flechsig, Paul (1847-1929): dt. Psychiater; 1882 o. Prof. für Psychiatrie an der Univ. Leipzig; einer der führenden Nervenärzte seiner Zeit; behandelte u. a. den Gerichtspräsidenten Daniel Paul Schreber, zu dessen Fall auch Sigmund Freud eine Schrift verfaßte. 301 Fontenelle, Bernhard de Bovier de (1657-1757): franz. Moralist. 115 Fra Angelico, auch Beato Angelico da Fiesole (1387-1455): ital. Maler der Frührenaissance; malte ausschließlich religiöse Themen; berühmt für seine leuchtenden Farben. 276 Franck, Hans (1879-1964): dt. Schriftsteller u. Theatermann; 1914/15 Dramaturg

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am Düsseldorfer Schauspielhaus, an das er Gustav Landauer als Mitarbeiter einlud. 329 Frank, Leonhard 336 Franz von Assisi (um 1181-1226): ital. Ordensstifter u. kath. Heiliger. Frazer, James George (1854-1941): engl. Religionsgeschichtler u. Altphilologe; Verfasser des Goldenen Zweiges (1890, 3., überarb. Aufl. 1907-15 in 12 Bd.). 60 Freud, Sigmund (1856-1940): östr. Mediziner; Begründer der Psychoanalyse; 1938 Emigration nach England. 315, 330 Frey, Max v. (1852-1932): östr. Mediziner; 1898 o. Prof. für Physiologie an der Univ. Zürich, 1899 an der Univ. Würzburg. 303 Friedman, Maurice (geb. 1921): amerik. Kultur- u. Religionswissenschaftler; Buberforscher. 32, 40-41, 47 Frisch, Efraim (1873-1942): östr. Schriftsteller u. Essayist; sollte Rabbiner werden; seit 1894 in Berlin; freundschaftlicher Verkehr mit Martin Buber; Mitglied der Donnerstagsgesellschaft um Moritz Heimann; 1908 Dramaturg bei Max Reinhardt am Deutschen Theater; 1912 Lektor im Georg Müller Verlag (München); 1914-16 und 1919-25 Herausgeber des Neuen Merkur; Sanitätsdienst im Ersten Weltkrieg; 1933 Emigration in die Schweiz. 53, 322, 331-333 Frisch, Fe(i)ga, geb. Lifschitz (1878-1964): poln. Übersetzerin; Frau von Efraim Frisch; traditionell jüd. erzogen; 1897-1900 Studium der Philosophie an der Univ. Berlin, 1901/02 der Botanik an der Univ. Zürich (Abschluß nicht möglich, da Frauen erst 1909 promovieren konnten); befreundet mit Micha Josef Berdyczweski, Martin Buber und Christian Morgenstern; über 100 Übersetzungen aus dem Russischen und Polnischen; 1933 Emigration in die Schweiz. 53, 322, 331-332 Gast, Peter, eig. Heinrich Köselitz (1854-1918): dt. Komponist; Freund und Schüler Friedrich Nietzsches. 37, 114 Gaule, Justus (1849-?): dt. Mediziner; 1879 Habil. in Physiologie u.ndHistologie an der Univ. Leipzig; 1886-1916 (Emeritierung) Ordinarius der Physiologie an der Univ. Zürich. 303 Geiger, Ludwig (1848-1919): dt. Literatur- u. Kulturwissenschaftler; Sohn von Rabbi Abraham Geiger, eines Führers der jüd. Reformbewegung in Dtl.; bedeutender Renaissance- und Goetheforscher; Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judentums; vehementer Anhänger der Assimilation. 40 George, Stefan (1868-1933): einer der bedeutendsten deutschen Dichter seiner Generation; seit 1907 Mittelpunkt eines Jünger-Kreises, der sich als das »Geheime Deutschland« verstand. 122, 325, 333, 337 Gerson, Hermann Menachem (1908-1984): zionistischer Pädagoge u. Sozialist; seit 1926 enger Kontakt mit Buber; 1934 Einwanderung nach Palästina, wo er mit seiner Gruppe, den sog. Werkleuten den Kibbutz Hazorea gründete. 14 Gitlbauer, Michael 301 Gjellerup, Karl (1857-1919): dän. Schriftsteller; Anhänger von Georg Brandes und

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dem Naturalismus, ab 1900 von Schopenhauer und Wagner, Hinwendung zum Buddhismus; 1917 Nobelpreis für Literatur. 52 Goethe, Johann Wolfgang v. (1749-1832): Dichter der dt. Klassik. 62, 105, 107, 122, 125, 132, 157-158 Goetz, Wilhelm 302 Gogarten, Friedrich (1887-1967): dt. prot. Theologe; 1925 Habil. in systematische Theologie an der Univ. Jena, 1931 Prof. an der Univ. Breslau, 1933-1955 (Emeritierung) an der Univ. Göttingen; Mitglied im Kreis der religiösen Sozialisten, den Buber und Florens Christian Rang Anfang der Zwanziger Jahre um sich versammelten. 335 Gordon, Aaron David (1856-1922): jüd. Religionsphilosoph u. Sozialist; 1904 Emigration nach Palästina; führende Persönlichkeit der Kibbuzbewegung und des Hapoel Hatzair. Grabowsky, Adolf (1880-1969): dt. Staatswissenschaftler und Publizist; am Jahrhundertanfang Redakteur in Berlin im Umkreis der Lebensreformer; Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin; 1934 Emigration in die Schweiz; 1950 Honorarprof. für Politikwissenschaft an den Univ. Marburg und Gießen. 311 Graedner, Hermann (1878-1956): östr. Schriftsteller; Vertreter des Heimat- und Historienromans, von dem einer unter Bubers Lektorat bei Rütten & Loening verlegt wird; seit 1931 aktiver Parteigänger der in Österreich bald illegalen Nazis. 53 Grimm, Hans (1875-1959): dt. Schriftsteller; Vertreter des dt. Kolonialliteratur wie den brühmt-berüchtigten Roman Volk ohne Raum (1926); unter Bubers Lektorat wird eines seiner Werke bei Rütten & Loening verlegt; später Anhänger der Nazis. 53 Grimm, Herman Friedrich (1828-1901): dt. Kunsthistoriker; 1873 Prof. der neueren Kunstgeschichte an der Univ. Berlin. 302 Grimm, Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859): dt. Sprachhistoriker. Grünewald, Matthias (um 1460-1528): dt. Maler. 68, 249-250 Guardini, Romano (1885-1968): dt. kath. Theologe u. Religionsphilosoph; Inspirator eines Teils der kath. Jugendbewegung; mit Buber seit 1922 bekannt; 1923-1939 Prof. für Religionsphilosophie und kath. Weltanschauung an der Univ. Berlin, von den Nazis zwangspensioniert; 1945 Prof. an der Univ. Tübingen, 1948-1964 (Emeritierung) an der Univ. München. 335 Gundolf, Prof. Dr. Friedrich, eig. Gundelfinger (1880-1931): dt. Literaturhistoriker; 1911 Habil., 1916 a. o. Prof.; 1920 o. Prof. für dt. Literaturgeschichte an der Univ. Heidelberg; lange Zeit einer der engsten Vertrauten Stefan Georges. 77 Gutkind, Erich (1877-1965): dt. Schriftsteller; Freund Walter Benjamins und Gershom Scholems; Mitglied des Forte-Kreises; 1919 Leiter des Jüdischen Volksheims in Berlin; 1933 Emigration nach England, später in die USA. 68, 70-71 Habermas, Prof. Dr. Jürgen (geb. 1929): dt. Philosoph und Soziologie; 1961 Habil. an der Univ. Marburg, 1961-64 a. o. Prof. an der Univ. Heidelberg, 1964-71 und

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1983-1994 (Emeritierung) o. Prof. der Philosophie an der Univ. Frankfurt a. M.; einer der einflußreichsten Philosophen der Bundesrepublik Deutschland. 89 Hamsun, Knut (1859-1952): norweg. Dichter. 176 Hansson, Ola (1860-1925): schwed. Schriftsteller; Vertreter von skand. Moderne und Nietzscheanismus; veröffentlichte den ersten Artikel über Nietzsche auf Deutsch; verkehrte im Friedrichshagener Dichterkreis; Gegner von Georg Brandes; nach 1900 unstetes Wanderleben. Hart, Heinrich (1855-1906) und Julius (1859-1930): dt. Schriftsteller u. Lebensreformer; Vertreter des Naturalismus; standen im Mittelpunkt des Friedrichshagener Dichterkreises und der Neuen Gemeinschaft in Berlin-Schlachtensee und Berlin-Friedrichshagen, in der auch Buber verkehrte; Autoren des Diederichs Verlags. 45-46 Hauptmann, Gerhart (1862-1946): dt. Dramatiker u. Erzähler; 1912 Nobelpreis für Literatur. 26, 257, 259-260, 332 Hauschner, Auguste (1852-1924): östr. Schriftstellerin aus dem Prager Kreis; Cousine Fritz Mauthners und Mäzenatin Gustav Landauers. 85 Hearn, Lafcadio (1850-1904): amerik. Schriftsteller; ab 1890 in Japan, an dessen Kultur er sich weitgehend assimilierte. 52 Heimann, Moritz (1868-1925): dt. Schriftsteller; 1896 Lektor bei S. Fischer; Förderer der modernen dt. Literatur; Freund Bubers; Haupt der Donnerstagsgesellschaft. 332 Heine, Heinrich 42 Heinze, Max (1835-1909): dt. Philosoph u. Philosophiehistoriker; 1874 o. Prof. an der Univ. Basel; 1875 o. Prof. der Geschichte der Philosophie an der Univ. Leipzig; u. a. Hg. der 5.-9. Aufl. von Friedrich Ueberweg Grundriß der Geschichte der Philosophie. 301 Heller, Hugo (1870-1923): östr. Buch-, Kunsthändler u. Verleger; Förderer der modernen Kunst und Literatur; Anhänger Sigmund Freuds. 330 Heraklit (um 500 v. Chr.): griech. Philosoph. Herkner, Heinrich (1863-1932): dt. Jurist u. Nationalökonom; 1898-1907 o. Prof. der Staatswissenschaft an der Univ. Zürich, 1912 an der Univ. Berlin; seit 1911 Vizepräsident, 1917-29 Präsident des Vereins für Sozialpolitik. 303 Herrigel, Hermann (1888-1973): dt. Philosoph u. Schriftsteller; Mitglied im Kreis der religiösen Sozialisten, den Buber und Florens Christian Rang Anfang der Zwanziger Jahre um sich versammelten. 86, 335 Herrmann, Leo (1888-1951): östr. Zionist aus dem Prager Kreis; Mitglied des Vereins Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag; 1919 Auswanderung nach Palästina; 1926 Direktor des zionistischen Aufbau-Fonds Keren Hajessod. 55 Herzfeld(e), Wieland (1896-1988): dt. Schriftsteller u. Verleger; Dadaist, Pazifist und Sozialist. 335 Herzl, Theodor (1860-1904): östr. Schriftsteller u. Journalist; Feuilletonredakteur der Wiener Neuen Freien Presse; Begründer des politischen Zionismus, für den er

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diplomatisch, literarisch, organisatorisch und publizistisch tätig war. 24, 27-28, 38-43, 48, 50, 312, 316 Hildebrandt, Karl (?): Verfasser einer Zuschrift zu Florens Christian Rangs Deutsche Bauhütte. Hillel D. Ältere (Ende des 1. Jh./Anfang des 1. Jh. n. Chr.): Rabbi u. Begründer einer halachischen Schule, die Rechtsfragen meist milder entschied als die seines Zeitgenossen Schammaj. Hiller, Kurt (1885-1972): dt. Schriftsteller u. sozialistischer Pazifist; gehörte zum Kreis um die Zeitschrift Der Aufbruch; verkehrte im Siedlungsheim in Berlin-Tiergarten, das Gustav Landauer in den ersten Kriegsjahren frequentierte; gab 1916 den Sammelband Das Ziel heraus; 1933 KZ; 1934 Emigration in die Tschechoslowakei, 1938 nach England; 1955 Rückkehr nach Deutschland. 336 Hölderlin, Friedrich (1770-1843): dt. Dichter; verfaßte auch bedeutende philosophische Aufsätze; sein Ruhm setzte erst spät ein und wurde durch Wilhelm Diltheys Das Erlebnis und die Dichtung (1906) und die Publikation der Pindar-Übersetzungen durch den Georgianer Norbert v. Hellingrath (1909) begründet. 279, 333 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (1776-1822): dt. Dichter der Romantik. 62 Hofmannsthal, Dr. Hugo v. (1874-1929): östr. Dichter u. Essayist des Fin de siècle; wird der Literatengruppe »Jung Wien« zugerechnet; mit Buber lebenslang befreundet. 24-25, 52, 55, 88, 119, 122-125, 127, 308, 328, 331, 333 Holitscher, Arthur (1869-1941): östr. Schriftssteller u. Publizist; Mitglied der Donnerstagsgesellschaft um Moritz Heimann; 1933 Emigration in die Schweiz. 332 Homer: griech. Epiker der früharch. Zeit; der Tradition nach Verfasser von Ilias und Odyssee. 123, 132 Hugo, Victor (1802-1885): franz. Dichter. 23, 101 Ibsen, Henrik (1828-1906): norw. Dramatiker; seit den 1880er Jahren europaweit gefeiert für seinen Kampf gegen die herrschende Moral und Sitte. 108, 114, 129, 170 Jacobs, Monthy (1875-1945): dt. Schriftsteller und Publizist; Literatur- und Theaterkritiker der Vossischen Zeitung; 1938 Emigration in die Schweiz und nach England. 30 Jacobowski, Ludwig (1868-1900): dt. Schriftsteller u. Kulturmanager; Herausgeber der Zeitschrift Die Gesellschaft (1898-1902) und Begründer des Berliner Literatenvereins Die Kommenden (1900-03); verkehrte im Friedrichshagener Dichterkreis; aktiv in der Volksbühnen-Bewegung; befreundet mit Samuel Lublinski und Rudolf Steiner; engagierte sich im Kampf gegen den Antisemitismus. Jacobsohn, Siegfried (1881-1926): dt. Kritiker u. Schriftsteller; 1901-04 Herausgeber der Welt am Montag; 1905 Gründer und Herausgeber von Die Schaubühne, die 1918 in Die Weltbühne umbenannt wurde; mit Buber vom Studium an der Univ. Berlin her bekannt. 30

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Jean Paul, eig. Johann Paul Friedrich Richter (1763-1825): dt. Dichter der Romantik. 62 Jerusalem, Karl Wilhelm (1747-1772): dt. Jurist; Vorbild für Goethes Werther. Jerusalem, Wilhelm (1854-1923): östr. Philosoph u. Pädagoge; sollte nach dem Willen des Vaters Rabbiner werden; 1885-1920 Gymnasiallehrer in Wien; 1891 Habil. in Philosophie an der Univ. Wien; 1894-1902 Dozent an der Jüdisch Theologischen Lehranstalt Wien. 301 Jesaja (8. Jh. v. Chr.): bibl. Prophet. 99 Jesus von Nazaret (um 0- um 30 n. Chr.): Zentrale Gestalt des Christentums. 15, 58, 77, 91, 248, 252, 338 Jodl, Friedrich (1849-1914): dt. Philosoph; 1885 o. Prof. der Philosophie an der Deutschen Univ. Prag, 1896 an der Univ. Wien; Herausgeber der Schriften Ludwig Feuerbachs; vertrat eine monistische Weltanschauung; Doktorvater Bubers. 31, 301, 304 Johannes Scotus Eriugena (um 810- um 877): irischer Theologie u. Neuplatoniker, glänuendste Gestalt der Karolingischen Renaissance. Kant, Immanuel (1724-1804): dt. Philosoph; Erneuerer der Metaphysik und Begründer der klassischen dt. Philosophie. 35, 39, 75, 133-138, 140-141, 143-147, 310, 313, 316 Kaznelson, Siegmund (1893-1959): zionist. Publizist; Mitglied des Vereins Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag; unterstützte Buber bei der Herausgabe des Juden. 336 Kekule v. Stradonitz, Reinhard (1839-1911): dt. Kunsthistoriker und Archäologe; 1889 Honorarprof. für Archäologie an der Univ. Berlin. 302 Key, Ellen (1849-1926): schwed. Reformpädagogin und Frauenrechtlerin; verfaßte für Bubers Reihe Die Gesellschaft den Band Die Frauenbewegung. 161-166, 314315 Kierkegaard, Sören (1813-1855): dän. Philosoph; Anreger der modernen Existenzphilosophie und der dt. prot. Theologie nach dem Ersten Weltkrieg. 15, 90, 181 Kleist, Heinrich v. (1777-1811): dt. Dichter. 62, 280 Koegel, Fritz (1860-1904): dt. Musiker; 1894-1897 Hrsg. der ersten Bände der sog. Großoktav-Ausgabe der Werke F. Nietzsches. 114 Kohn, Hans (1891-1971): östr. Historiker; Mitglied des Vereins Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag; Verfasser der ersten intellektuellen Biographie Bubers, mit dem er auch befreundet war; 1933 Emigration in die USA. 76, 326 Kokoschka, Oskar (1886-1980): östr. Maler, Graphiker u. Dichter; 1919 Prof. an der Kunstakademie Dresden; 1934 Emigration in die Tschechoslowakei, 1938 nach England; lebte seit 1953 in der Schweiz. 328 Kraft, Werner (1896-1991) dt. Dichter u. Literaturwissenschaftler; 1933 Emigration nach Schweden und Frankreich, 1934 nach Palästina; Freund Bubers und u. a. Herausgeber eines Buchs mit gemeinsamen Gesprächen (1966). 14, 26, 39 Krasinski, Graf Zygmunt (1812-1859): poln. romantischer Dichter. 125

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Kraus, Karl (1874-1936): östr. Schriftsteller; konvertierte 1912 zum Katholizismus, den er 1923 wieder verläßt; Kriegsgegner; als Gründer (1899), Herausgeber und schließlich einziger Autor der Fackel war er das moralische und sprachliche Gewissen der Wiener Moderne. 314 Krojanker, Dr. Gustav (1891-1945): dt. Schriftsteller; 1932 Emigration nach Palästina. 335 Kubin, Alfred (1877-1959): östr. Graphiker u. Schriftsteller. 328 Lachmann, Hedwig, verheiratete Landauer (1865-1918): dt. Dichterin u. Übersetzerin; Frau Gustav Landauers. 84 Lagerlöf, Selma (1859-1940): schwed. Schriftstellerin. 161, 165-166, 314 Lamprecht, Karl (1856-1915): dt. Historiker; 1891 o. Prof. der mittleren und neueren Geschichte an der Univ. Leipzig; faßte seine Disziplin als Kulturgeschichte auf; 1893 in einen heftigen Methodenstreit verwickelt, weil er sozialpsychologische Gesetzmäßigkeiten und eine historische Regelhaftigkeit behauptete. 302 Landauer, Gustav (1870-1919): dt. Schriftsteller u. Anarchist; mütterlicherseits verwandt mit Albert Einstein; bedeutender Repräsentant der wilhelminischen Gegenkultur; seit 1900 mit Buber eng befreundet, unterstützt ihn bei der Herausgabe der Ekstatischen Konfessionen und in der Auseinandersetzung mit Constantin Brunner; ab Herbst 1918 in der Münchener Revolution aktiv; 1919 Ermordung durch gegenrevolutionäre Milizionäre. 13-14, 18, 42, 46-48, 54-58, 61-66, 68-74, 80-85, 314, 317, 319-322, 328-329, 331, 333, 335-336, 338 Laotse (4. od. 3. Jhd. v. Chr.): chin. Philosoph; Stifter des Taoismus. 276 La Rochefoucauld, François VI. Duc de (1613-1680): franz. Moralist. 115 Leonardo da Vinci (1452-1519): ital. Maler u. Architekt; Universalgenie der Renaissance. 105 Lehmann, Rudolf (1855-1927): dt. Pädagoge; 1900 Habil. für Pädagogik an der Univ. Berlin, 1906 Prof. an der Univ. Posen. 302 Lehmann, Wilhelm (1882-1968): dt. Dichter. 332 Lilien, Ephraim Moses (1874-1925): östr. Graphiker u. Buchillustrator; Mitglied der Demokratischen Fraktion; am Jahrhundertanfang enger Freund Bubers. 41-42 Liliencron, Detlev Frhr. v. (1844-1909): dt. Dichter u. Sozialrevolutionär; lebte seit 1886 in der Schweiz. Lindemann, Gustav (1872-1960): dt. Schauspieler u. Theatermann; leitete zusammen mit seiner Frau Luise Dumont-Lindemann das Düsseldorfer Schauspielhaus (1905-1932). 329 Loerke, Oskar (1884-1941): dt. Dichter; Mitglied der Donnerstagsgesellschaft um Moritz Heimann; ab 1917 Lektor bei S. Fischer und Mitarbeiter in der Neuen Rundschau. 332-333 Longin(us): angeblich der Verfasser einer Abhandlung vom Erhabenen, die in das 2. Drittel des 1. Jh. n. Chr. datiert wird. 131-132 Lublinski, Samuel (1868-1910): dt. Schriftsteller und Kritiker; nach anfänglicher

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Nähe tritt er in ein ablehnendes Verhältnis zum Zionismus; bilanziert Höhepunkt und Ende der künstlerischen Moderne; mit Buber befreundet. Lukács, Georg v. (1885-1971): ungar. Philosoph und Literaturtheoretiker; mit seinem Frühwerk Die Seele und die Formen (1911) erweist er sich als Vertreter der Lebensphilosophie Georg Simmels; verkehrte im Heidelberger Kreis um Max Weber; 1919 Bruch mit seiner Vergangenheit und Hinwendung zum Marxismus, Minister in der ungar. Räterepublik. 74 Mach, Ernst (1838-1916): östr. Physiker; Physiologe u. Philosoph; 1864 bzw. 1866 Prof. der Mathematik bzw. Physik an der Univ. Graz, 1867 Direktor des Physikalischen Instituts der Univ. Prag (seit 1883 zur Deutschen Univ. gehörig), wo er, als einer der wenigen Akademiker, mit der östr. Sozialdemokratie sympathisierte, 1895-1901 (Emeritierung) Prof. der Philosophie an der Univ. Wien; neben seinen Leistungen in der Physik, die ihn u. a. zu einem Ahnherrn der Relativitätstheorie werden ließen, beeinflußte er mit seinem Empiriokritizismus, einer impressionistischen Erkenntnis- und Bewußtseinstheorie, das literarische Wien ebenso sehr wie den entstehenden Neopositivismus des Wiener Kreises. 301 Maeterlinck, Maurice (1862-1949): belg. Schriftsteller; Vertreter des Symbolismus; 1911 Nobelpreis für Literatur. 48, 53 Magnes, Juda Leib (1877-1948): amerik. Rabbiner; 1922 Emigration nach Palästina; erster Präsident der Hebräischen Universität Jerusalem; stand dem Brith Schalom nahe. 29-30 Malory, Sir Thomas (um 1408-1471): engl. Dichter. 279 Makart, Hans (1840-1884): östr. Maler; Prof. für Malerei an der Wiener Akademie für Bildende Kunst; Besitzer eines Ateliers auf Staatskosten. 119 Mann, Thomas (1875-1955): dt. Schriftsteller; 1929 Nobelpreis für Literatur; 1933 Emigration in die Schweiz und 1939 in die USA; 1952 Rückkehr nach Europa, wo er v. a. in der Schweiz lebte. 328 Margueritte, Paul (1860-1918): franz. Schriftsteller; Verfasser naturalistische Romane. S. 18. 114 Marholm, Laura, eig. Laura Mohr, verheiratete Hansson (1854-1905): dt.-baltische Schriftstellerin u. Übersetzerin; trug durch ihre Verschleppung der Übersetzung von Georg Brandes’ Nietzsche-Aufsatz zu einer literarischen Fehde bei; verkehrte im Friedrichshagener Dichterkreis. Marlitt, Eugenie, eig. Eugenie John (1825-1887): dt. Trivialautorin. 115 Martin, Rudolf (1864-1926): schweiz. Anthropologe; 1899 a. o. Prof. der Anthropologie an der Univ. Zürich, 1905-11 o. Prof. und Direktor der ethnographischen Sammlung des Anthropologischen Instituts, 1917 an der Univ. München. 303 Mauthner, Fritz (1849-1923): östr. Schriftsteller u. Philosoph; einer der erfolgreichesten Literatur- und Theaterkritiker Berlins, bis er sich 1905 vom Journalismus zurückzieht; berühmt für seine Sprachphilosophie; Freund Gustav Landauers. 13, 47, 56-57, 74, 84-85, 314, 328, 331

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Mendelssohn, Moses (1729-1786): dt. Philosoph u. Aufklärer; strebte eine geistige Erneuerung des Judentums an. 134 Mendes-Flohr, Paul (geb. 1941): isr. Philosoph; Prof. für Moderne Jüdische Geistesgeschichte an der Hebräischen Univ. Jerusalem; Buberforscher. 11, 15, 17, 21, 32, 47, 50-51, 54-55, 61, 66, 72-74, 307-308, 313-315, 319, 329 Michel, Ernst (1899-1964): dt. Soziologe u. Psychotherapeut; Mitglied im Kreis der religiösen Sozialisten, den Buber und Florens Christian Rang Anfang der Zwanziger Jahre um sich versammelten; 1931-33 und nach 1945 Honorarprofessor an der Univ. Frankfurt a. M. 86, 335 Michelangelo (1475-1564): ital. Bildhauer, Maler, Architekt u. Dichter. 142 Mickiewicz, Adam (1798-1855): poln. Romantiker u. Nationaldichter. 22-23, 306 Mombert, Alfred (1872-1942): dt. Dichter; in freundschaftlichem Verkehr mit Gustav Landauer und seit 1908 Buber; Mitglied der Donnerstagsgesellschaft um Moritz Heimann; 1940 ins KZ Gurs verschleppt, 1941 in die Schweiz gerettet. 85, 332 Montaigne, Michel Eyquem Seigneur de (1533-1592): franz. Philosoph u. Moralist. 115, 146 Morris, William (1834-1896): engl. Kunsthandwerker, Schriftsteller u. Lebensrefomer. 165 Motzkin, Dr. Leo (1867-1933): zionist. Politiker; von seinen Studentenjahren an in Berlin; Mitglied der Demokratischen Fraktion. Mühsam, Erich (1878-1934): dt. Dichter u. Anarchist; befreundet mit Martin Buber und Gustav Landauer; verkehrte im Friedrichshagener Dichterkreis; 1904-08 auf Wanderschaft, danach in München; 1919-25 Festungshaft wegen seiner Beteiligung an der Münchener Räterepublik; 1933 von den Nazis verhaftetet und im KZ Oranienburg ermordet; seine Unpolitischen Erinnerungen (1927-29) beinhalten ein lebhaftes Porträt der künstlerisch-politischen Boheme um 1900. Müllner, Laurenz (1848-1911): östr. kath. Theologe u. Philosoph; 1883 a. o., 1887 o. Prof. für christliche Philosophie an der Theolog. Fakultät der Univ. Wien; wechselte 1896 an die Philosophische Fakultät als o. Prof. für Philosophie; Zweitgutachter bei Bubers Dissertation. 31, 304 Multatuli (= Ich habe viel getragen), eig. Eduard Douwes Dekker (1820-1887): niederländ. Dichter. 169-172, 176, 315 Nadel, Arno (1878-1943): dt. Dichter; Mitarbeiter der Zeitschriften Ost und West und Der Jude; Sammler ostjüdischer Synagogenmelodien und Volkslieder; 1943 nach Auschwitz deportiert. Nathan neta Ben Schlomo (1585-1633): polnischer Kabbalist. 20 Natorp, Paul (1854-1924): dt. Philosoph; Neukantianer; 1882 Habil. für Philosophie an der Univ. Marburg, 1885 Extraordinarius, 1893-1922 (Emeritierung) Ordinarius; Förderer der Jugendbewegung und der Volksbildung; Mitglied im Kreis der religiösen Sozialisten, den Buber und Florens Christian Rang Anfang der Zwanziger Jahre um sich versammelten. 86, 335 Nietzsche, Friedrich (1844-1900): dt. Philosoph; Vorbild für die meisten kultur-

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und lebensreformerischen Bewegungen um die Jahrhundertwende. 15, 29, 35-39, 43, 54, 61-62, 77, 103-105, 107-117, 149, 163, 307-309, 311-312 Nijinski, Vaclav (1890-1950): russ. Tänzer; seit 1909 Star der von Serge Diaghilew geleiteten Ballets Russes; erlangte Weltruhm 1912/13 durch seine Choreographien und Darbietungen von »Nachmittag eines Fauns« und »Frühlingsopfer«. Nordau, Max, eig. Südfeld (1849-1923): östr. Zionist u. Schriftsteller; Freund Theodor Herzls und Gegner Achad Haams. 40 Nossig, Alfred (1864-1943): poln. Schriftsteller; Bildhauer u. Musiker; Mitglied der Demokratischen Fraktion. Oppenheimer, Franz (1864-1943): dt. Soziologe, Nationalökonom u. Lebensreformer; regte zur Gründung von Siedlungskolonien in Deutschland und Palästina an; Schwager von Richard Dehmel; 1919-29 Prof. für Soziologie an der Univ. Frankfurt a. M.; Emigration nach Japan und den USA. 334 Orlik, Emil (1870-1932): dt. Maler und Gebrauchsgraphiker; stattete Martin Bubers Die Geschichten des Rabbi Nachman aus; Mitglied der Donnerstagsgesellschaft um Moritz Heimann. 332 Paquet, Alfons (1881-1944): dt. Schriftsteller; Freund Bubers; Mitglied im Kreis der religiösen Sozialisten, den dieser und Florens Christian Rang Anfang der Zwanziger Jahre um sich versammelten. 53, 78-80, 86, 88, 289, 333-335 Paraklet 289, 292 Pascal, Blaise (1623-1662): franz. Religionsphilosoph u. Mathematiker. 115 Paulsen, Friedrich (1846-1908): dt. Philosoph u. Pädagoge; 1878 a. o. Prof. der Philosophie und Pädagogik an der Univ. Berlin, 1894 o. Prof; heute vergessen, war er zu seiner Zeit wegen seiner klar geschriebenen Einführungen populär. 302 Paulus (um 10-um 65): christl. Apostel, der vom Verfolger zum eifrigen Verbreiter der neuen Lehre wurde; predigte ein gesetzesfreies Evangelium. 15 Platon (um 428-348 v. Chr.): griech. Philosoph; einer der Begründer der abendländischen Metaphysik. 35, 39, 276 Plotin (um 204-270): griech. Philosoph; bedeutendster Vertreter des Neuplatonismus. 131 Poe, Edgar Allen (1809-1849): amerik. Erzähler und Essayist. 109 Pohle, Ludwig (1869-?): dt. Jurist und Nationalökonom; 1898 Habil. in Staatswissenschaft an der Univ. Leipzig, 1901 Prof. an der Akad. f. Sozial- und Handelswissenschaft Frankfurt a. M., 1914 an der dortigen Univ., 1918 an der Univ. Leipzig. 302 Pribram, Alfred Francis (1859-1942): östr. Historiker; 1894 a. o. Prof. der mittleren und neueren Geschichte an der Univ. Wien, 1913 o. Prof.; 1939 Emigration nach England, wo er bis zu seinem Tod an der Londoner School of Economics lehrte. 301 Przybyszewski, Stanislaw (1868-1927): poln. Dichter u. Kulturphilosoph; von 1889 an Aufenthalt in Berlin, wo er ein Leben als Bohemien führte; verkehrte im Friedrichshagener Dichterkreis; schrieb ab 1900 vorwiegend polnisch; setzte sich nach

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dem Ersten Weltkrieg für eine Verständigung zwischen Deutschland und Polen ein. 37 Pyrrhon (um 360-270 v. Chr.): griech. Philosoph u. Skeptiker. 113-114 Raimund, Ferdinand (1790-1836): östr. Schauspieler u. Dramatiker. 119 Rang, Dr. Florens Christian (1864-1924): dt. prot. Theologe und Schriftsteller; Mitglied des Forte-Kreises; Freund Bubers; ruft in seiner Schrift Deutsche Bauhütte zu freiwilligen Reparationsleistungen an Belgien und Frankreich auf. 68-72, 85-88, 90, 297, 335, 337-339 Rappeport, Ernst Elijahu (1889-1952): östr. Zionist u. Gelegenheitsdichter; 1920 Auswanderung nach Palästina; Freund Bubers. 76, 327-328 Rathenau, Walther (1867-1922): dt. Schriftsteller, Industrieller u. Politiker; Vorstandsvorsitzender der AEG; Verfasser populärer kulturkritischer Schriften; erregte Anstoß, weil er als Jude Manager der dt. Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg war; Außenminister in der Weimarer Republik; von Rechtsradikalen auf offener Straße ermordet. 68-69, 332 Reich, Emil (1864-1940): östr. Philosoph u. Volksbildner; 1890 Habil. in Philosophie, 1904 a. o. Prof. für Ästhetik an der Univ. Wien; der erste Sozialdemokrat, der an einer deutschsprachigen Univ. eine Professur erlangte. 301 Reichenbach, Bernhard (1888-1975): dt. Journalist u. Politiker; 1914/15 gemeinsam mit Walter Benjamin Präsident der Berliner Freien Studentenschaft; Sozialist; 1933 im Widerstand aktiv; 1935 Emigration nach England. 75 Reinhardt, Max, eig. Goldmann (1873-1943): östr. Schauspieler u. Regisseur; 1894 am Deutschen Theater in Berlin, seit 1905 dessen Direktor; Erneuerer des deutschsprachigen Theaters; 1934 Emigration in die USA. 329 Rickert, Heinrich (1863-1936): dt. Philosoph; 1896 o. Prof. für Philosophie an der Univ. Freiburg, 1916 an der Univ. Heidelberg; Vertreter der südwestdt. Schule des Neukantianismus. 61 Riegl, Alois (1858-1905): östr. Kunsthistoriker; 1884 Kustos am Östr. Museum für Kunst und Industrie in Wien; 1894 a. o. Prof., 1897 o. Prof. der Kunstgeschichte des Mittelalters und der neueren Zeit an der Univ. Wien. 31-32 Rilke, Rainer Maria (1875-1926): östr. Dichter. 328 Rod, Eduard (1857-1910): franz. Schriftsteller; Verfasser naturalistischer Romane. 114 Rolland, Romain (1866-1944): franz. Schriftsteller und Pazifist. 69 Rosenzweig, Franz (1886-1929): dt. Philosoph; übersetzte die Bibel gemeinsam mit Buber, mit dem er seit Anfang der Zwanziger Jahre befreundet war; anders als dieser strebte er nach einer Erneuerung des Judentums unter Einbezug traditioneller religiöser Praxis. 17-18, 20, 31, 50, 80, 85-86, 89, 91 Salten, Felix, eig. Siegmund Salzmann (1869-1945): öster. Schriftsteller des Fin de siècle; wird der Literatengruppe »Jung Wien« zugerechnet. Salus, Hugo (1866-1929): östr. Dichter aus dem Prager Kreis. Schaeder, Grete (1903-1986): dt. Kulturwissenschaftlerin; Privatgelehrte; als Buber-

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forscherin u. a. Herausgeberin der dreibändigen Briefausgabe. 30, 32, 40-41, 43, 47, 50, 79 Schaeffer, Albrecht (1885-1950): dt. Schriftsteller u. Dramatiker; Freund von Ludwig Strauß. 330 Schammaj (um 50 v. – 30 n. Chr.): Rabbi und Begründer einer halachischen Schule, die Rechtsfragen meist strenger entschied als die seines Zeitgenossen Hillel. Scheffler, Johann, Pseudonym Angelus Silesius (= Schlesischer Bote) (1624-1677): dt. Dichter u.Mystiker. 299 Scheler, Max (1874-1928): dt. Philosoph; 1901 Habil. in Philosophie an der Univ. Jena; v. a. in München und Berlin als Privatgelehrter tätig; mit Buber bekannt; 1914 kriegsbegeistert; 1919 Prof. für Philosophie und Soziologie an der Univ. Köln; verfaßte grundlegende Arbeiten zur philosophischen Anthropologie. Schiller, Friedrich v. (1759-1805): Dichter der dt. Klassik. 20-21, 23, 94, 97, 109, 134, 136-139, 143, 146-147, 306 Schmarsow, August (1853-1936): dt. Kunsthistoriker; 1882 a. o. Prof. der Kunstgeschichte an der Univ. Göttingen; 1885 an der Univ. Breslau; bereitet 1892 die Gründung eines kunsthistorischen Instituts in Florenz vor; 1893-1919 o. Prof. an der Univ. Leipzig. 302 Schmidt, Erich (1853-1913): dt. Literaturwissenschaftler; 1886 Prof. für dt. Literaturgeschichte an der Univ. Berlin. 302 Schmidt, Gilya Gerda (?): amerik. Religionswissenschaftlerin an der Univ. of Tennessee; Buberforscherin. Schmoller, Gustav (1838-1917): dt. Jurist und Nationalökonom; 1881 Prof. der Staatswissenschaft an der Univ. Berlin. 303 Schnabel, Karl (?): dt. Buchhändler; Verleger von Werken Constatin Brunners und Gustav Landauers. Schnitzler, Arthur (1862-1931): öster. Dramatiker und Erzähler des Fin de siècle wird der Literatengruppe »Jung Wien« zugerechnet. 26, 119, 127-128 Scholem, Gerhard Gershom (1897-1982): dt. Religionshistoriker; in seiner Jugend von Buber beeinflußt, nimmt er später eine kritische Distanz zu ihm ein; Freund Walter Benjamins; Begründer der wissenschaftlichen Erforschung der jüd. Mystik; 1923 Emigration nach Palästina; 1923-27 Leiter der judaistischen Abteilung der Jerusalemer Nationalbibliothek; Mitglied des Brith Schalom; 1925 Dozent für Judaistik, 1933 Prof. für Jüdische Mystik an der Hebräischen Univ. Jerusalem. 18, 21, 33, 44-45, 60, 68-69, 74-76, 85-86, 316, 332 Schopenhauer, Arthur (1788-1860): dt. Philosoph; Anreger von Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. 35, 104-105, 109-110, 112-113, 133-134, 136-147, 310 Schubert-Soldern, Richard v. (1852-?): dt. Philosoph; 1884 Habil., dann a. o. Prof. der Philosophie an der Universität Leipzig; scheidet vorzeitig aus Universitätsdienst und wird Gymnasiallehrer in Görz. 302 Schumann, Friedrich (1863-1940): dt. Philosoph und Psychologe; 1894 Habil. in Philosophie an der Univ. Berlin, 1906 Prof. an der Univ. Zürich. 302

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Scotus Erigena, Johannes 60, 183 Segel, Benjamin/Binjamin (1867-1931): östr. Schriftsteller und Publizist; Leitartikler in Ost und West, von Buber wenig geschätzt. Seidl, Arthur (?): dt. Philosoph; einer der Hrsg. der Großoktav-Ausgabe der Werke F. Nietzsches. Serubbabel (zweite Hälfte 6. Jh. v. Chr.): bibl. Figur; zog nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil messianische Hoffnungen auf sich. 77 Shakespeare, William (1564-1616): engl. Dichter u- Dramatiker. Shelley, Percy Bysshe (1792-1822): engl. romantischer Dichter. 109 Simmel, Georg (1858-1918): dt. Philosoph u. Soziologe; 1885 Habil. in Philosophie, 1900 Extraord. für Philosophie und Soziologie an der Univ. Berlin, 1914 an der Univ. Straßburg; Lehrer und Förderer Bubers. 19, 29-30, 32-34, 45, 51, 75, 90, 302-303 Simon, Ernst Akiba (1899-1988): dt. Pädadoge u. Philosoph; Freund von Franz Rosenzweig und Gershom Scholem; 1923-28 Redakteur der von Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude; 1928 Emigration nach Palästina; Mitglied des Brith Schalom; 1933-35 Mitarbeit an Bubers Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung; 1933 Dozent, 1950-1967 (Emeritierung) Prof. der Pädagogik an der Hebräischen Univ. Jerusalem. 14, 59, 66, 89 Singer, Kurt (1886-1962): dt. Nationalökonom u. Philosoph; Mitglied des Kreises um Stefan George. 337 Slowacki, Juliusz (1809-1840): pol. Dichter u. Dramatiker. 109 Sokrates (um 470-399 v. Chr.): griech. Philosoph; Märtyrer der Philosophie. 146, 248 Sopater (4. Jhd. n. Chr.): griech. Rhetor; Verfasser einer Sammlung von Musterreden. Sophokles (um 497-406 v. Chr.): griech. Tragiker. Spinoza, Baruch (1632-1677): niederl. Philosoph; aus der jüd. Gemeinde Amsterdam seiner Schriften wegen verbannt. 56 Spira, Theodor (1885-1961): dt. Literaturwissenschaftler u.Politiker; Lehrer an der Odenwaldschule; Mitglied im Kreis der religiösen Sozialisten, den Buber und Florens Christian Rang Anfang der Zwanziger Jahre um sich versammelten; 1922 Habil. an der Univ. Gießen, 1925 Prof. für Anglistik an der Univ. Königsberg, 1945 an der Univ. Frankfurt a. M. 86, 335 Spohr, Wilhelm (1868-1959): dt. Schriftsteller; Übersetzer der Werke Multatulis; Mitglied des Friedrichshagener Dichterkreises. 49, 111, 315 Stehr, Hermann (1864-1940): dt. Dichter; geriet als Volksschullehrer seiner Bücher wegen in Schwierigkeiten mit der Schulbürokratie, seit 1915 freier Schriftsteller im Riesengebirge; Verfasser von Heimatromanen, die durch religiöse Fragestellungen und mystische Themen ihre Genre überschreiten; Freund Bubers. 77-78, 299, 332-333, 339

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Stehr, Willy (1896-1915): Sohn von Hermann Stehr; im Ersten Weltkrieg gefallen. 77, 287, 332-333 Steiner, Rudolf (1861-1925): östr. Schriftsteller und Esoteriker; Nietzsche- und Goetheforscher; Begründer der Anthroposophie; um die Jahrhundertwende in der Berliner literarischen Boheme aktiv, u. a. als Herausgeber des Magazin für Literatur und als Leiter des Literatenkreises Die Kommenden; wendete sich ab 1902 immer stärker der Mystik und Theosophie zu. Steinschneider, Moritz (1816-1907): dt. Historiker u.Bibliograph; einer der wichtigsten Vertreter der Wissenschaft des Judentums im 19. Jh. 317 Stendhal, eig. Marie Henri Beyle (1783-1842): franz. Schriftsteller. 109, 115, 173, 279 Stirner, Max, eig. Caspar Schmidt (1806-1856): dt. Philosoph u. Individualanarchist. Stöhr, Adolf (1855-1921): östr. Philosoph; 1885 Habil. in Philosophie, 1900 a. o. Prof., 1910 o. Prof. an der Univ. Wien in der Nachfolge von E. Mach und L. Boltzmann. 31, 301, 304 Störring, Gustav (1860-1946): dt. Moralphilosoph u. Psychologe; Schüler Wundts; 1896 Habil. in Philosophie an der Univ. Leipzig, 1897 Promotion zum Dr. med., 1902 o. Prof. der Philosophie an der Univ. Zürich, 1911 an der Univ. Straßburg, 1914 an der Univ. Bonn. 302 Strauss, David Friedrich (1808-1874): prot. Theologe; sein Erstlingswertk Das Leben Jesu (2 Bde.), 1835-36) löste eine der schärfsten Kontroversen der Theologiegeschichte aus u. beeinflußte die im 19. Jh. umfangreich betriebene Leben-JesuForschung maßgeblich; Zielscheibe der Kritik in Friedrich Nietzsches Erster Unzeitgemäßen Betrachtung wegen seines im Alterswerk Der alte und der neue Glaube (1872) geäußerten Kulturphilistertums. 106 Strauss, Emil (1866-1960): dt. Schriftsteller; 1911-15 in Hellerau tätig, dort 1913 Zusammenarbeit mit Buber an einer Aufführung von Paul Claudels Mysterienspiel Mariä Verkündigung. 332 Strauss (VATER), Johann (1804-1849): östr. Komponist u.Haupt einer Musikerfamilie. 119 Strauss, Leo (1899-1973): dt. politischer Philosoph; Mithrg. der Jubiläumsausgabe von Moses Mendelssohn; verließ Deutschland 1932; 1938 Einwanderung in die USA; 1949 Prof. für Politik an der Univ. Chicago. 18 Strauss, Ludwig (1892-1953): dt. Dichter u. Germanist; Schwiegersohn Bubers; 1935 Emigration nach Palästina. 54, 67, 327, 335, 339 Strehlow, Carl (1870-1922): dt. Missionar u. Ethnograph; erforschte als erster die Stämme Zentralaustraliens mit Kenntnis der Eingeborenensprachen. 60 Stucken, Eduard (1865-1936): dt. Dichter; Mitglied der Donnerstagsgesellschaft um Moritz Heimann. 332 Stumpf, Karl (1848-1936): dt. Philosoph u.Psychologe; 1894 Prof. der Philosophie an der Univ. Berlin. 302

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Susman, Margarete, verheiratete v. Bendemann (1872-1966): dt. Dichterin u. Essayistin; Schülerin Georg Simmels; seit dem Jahrhundertanfang mit Buber befreundet. 29, 65-66, 75, 85 Taine, Hippolyte (1821-1893), franz. Philosoph u.Historiker. Taubes, Jacob (1923-1987): dt. Philosoph; in Wien geboren, in der Schweiz aufgewachsen; promovierte 1948 mit einer Arbeit über Abendländische Eschatologie; nach Lehrtätigkeiten in den USA 1965-1987 Prof. der Judaistik, Religionssoziologie und Philosophie an der Freien Universität Berlin. 91 Tausk, Viktor (1879-1919): östr. Psychoanalytiker; lebte 1905-08 als Literat und Bohemien in Berlin, wo er mit Buber in Kontakt stand; ging nach Wien, um sich dem Kreis um Sigmund Freud anzuschließen; 1912/13 Liebesverhältnis mit Lou Andreas-Salomé; 1919 Selbstmord. 47 Theunissen, Michael (geb. 1932): dt. Philosoph; 1964 Habil. in Philosophie an der Freien Univ. Berlin mit einer Arbeit zur Dialogischen Philosophie u. a. der Bubers, 1967 o. Prof. an der Univ. Bern, 1971 an der Univ. Heidelberg, 1980-97 (Emeritierung) an der Freien Univ. Berlin. 15-16 Tiepolo, Giambattista (1696-1770): venezianischer Barockmaler. 119 Tilgner, Viktor (1844-1896): östr. Bildhauer. 119 Tolstoi, Graf Lev Nikolaevic (1828-1910): russ. Dichter u. Lebensreformer im Geist des Urchristentums. 112, 279 Trietsch, Davis (1870-1935): dt. Schriftsteller und zionistischer Politiker; Mitglied der Demokratischen Fraktion. Tschechow, Anton Pawlowitsch (1860-1904): russ. Schriftsteller u. Dramatiker. 53 Vauvenargues, Luc de Clapiers Marquis de (1715-1747): franz. Moralist. 115 Volkelt, Johannes (1848-1930): dt. Philosoph; 1879 a. o. Prof. der Philosophie an der Univ. Jena, 1883 o. Prof. an der Univ. Basel, 1889 an der Univ. Würzburg, 1894 an der Univ. Leipzig; Systematiker der Ästhetik. 301 Wagner, Adolf (1835-1917): dt. Jurist u. Nationalökonom; 1870 Prof. der Staatswissenschaft an der Univ. Berlin. 303 Wagner, Richard (1813-1883): dt. Komponist; einer der Hauptrepräsentanten der Kunstreligion des 19. Jh.; vertrat auch antisemitische Auffassungen. 105-106, 110, 117, 307-308 Walter, Julius 132 Walzel, Oskar (1864-1944): östr. Schriftsteller u. Literaturwissenschaftler; Sohn eines der bekanntesten Librettisten der klassischen Wiener Operette, Camillo Walzel (Pseud. F. Zell, 1829-1895); 1894 Habil. für Literaturgeschichte an der Univ. Wien, 1897 o. Prof. an der Univ. Bern, 1907 o. Prof. in dt. Sprache und Literatur an der Technischen Hochschule Dresden. 301 Warburg, Aby (1866-1929): dt. Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler; Begründer der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW), die 1933, vor ihrer zu befürchtenden Auflösung durch die Nazis, nach London gebracht wurde und seit 1944 als Warburg Institute an die Univ. London angegliedert ist. 41

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Wedekind, Frank (1864-1919): dt. Dramatiker u. Erzähler. S. 68, 257 Weilen, Alexander Weil, Ritter v. (1863-1918): östr. Literatur- u. Theaterwissenschaftler; Sohn des 1873 in den Ritterstand erhobenen Schriftstellers und Gründers der Wiener Theaterschule Joseph Weil (1828-1889); dort selbst Honorardozent; Theaterkritiker der Wiener Zeitung; Kustos der Hofbibliothek; 1887 Habil. in Literaturgeschichte, später o. Prof. an der Univ. Wien. 301 Weiss, Emil Rudolf (1875-1942): dt. Maler u. Gebrauchsgraphiker; Freund von Eugen Diederichs, für den er Bücher austattete; gestaltete graphisch Martin Bubers Die Geschichten des Rabbi Nachman (1906) und Chinesische Geister- und Liebesgeschichten (1911) Mitglied der Donnerstagsgesellschaft um Moritz Heimann. 332 Weizmann, Chaim (1874-1952): zionist. Politiker u. Chemiker; Mitglied der Demokratischen Fraktion; 1948 erster Präsident Israels. 40-41, 43 Weltsch, Robert (1891-1982): östr. Publizist; Mitglied des Vereins Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag; 1919-1938 Chefredakteur der zionist. Wochenzeitung Jüdische Rundschau; 1939 Emigration nach Palästina, 1945 nach England; 1955 Leiter des dortigen Leo Baeck Instituts, dessen Yearbook er 1956-1978 herausgab. 41, 55, 65, 77 Werfel, Franz (1890-1945): östr. Schriftsteller; Mitglied des Vereins Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Whitman, Walt (1819-1892): amerik. Dichter und Lebensreformer. 169 Weizsäcker, Viktor v. (1886-1957): dt. Mediziner; 1911 Habil. in Innere Medizin, 1922 a. o. Prof., 1930 persönlicher o. Prof. für Neurologie an der Univ. Heidelberg; 1941-45 Ord. für Neurologie an der Univ. Breslau; 1946-52 (Emeritierung) Ord. für Allgemeine klinische Medizin an der Universitätsklinik Heidelberg; Mitbegründer der Psychosomatik; 1926-29 mit Buber und Joseph Wittig Herausgeber der Zeitschrift Die Kreatur. 89 Wickhoff, Franz (1853-1909): östr. Kunsthistoriker; 1880 Kustos am Östr. Museum für Kunst und Industrie in Wien; 1891 o. Prof. der Kunstgeschichte an der Univ. Wien mit den Schwerpunkten der Kunst der Spätantike und der mittelalterlichen Buchmalerei. 31, 304 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich v. (1848-1931): dt. klass. Philologe; 1876 Prof. für klass. Philologie an der Univ. Greifswald, 1896 an der Univ. Berlin; der berühmteste Vertreter seines Fachs; in seiner Jugend erster Kritiker von Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie. 302 Winz, Leo (1876-1952): jüd. Journalist; lebte in Berlin; 1901-22 Herausgeber von Ost und West, das er während des Ersten Weltkriegs aus dem dänischen Exil leitet, da er als Bürger eines Feindeslands Deutschland verlassen mußte; 1921-26 zumeist in Palästina; 1928-35 Herausgeber des Gemeindeblatts der Jüdischen Gemeinde zu Berlin; 1935 Emigration nach Palästina. 42, 316-317 Wittig, Joseph (1879-1949): dt. Kirchengeschichtler u. Schriftsteller; 1903 zum katholischen Priester geweiht; 1911 ord. Prof. für alte Kirchengeschichte und christl.

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Personenregister

Archäologie an der Univ. Breslau; 1926 exkommuniziert und emeritiert; 1926-29 mit Buber und Viktor von Weizsäcker Herausgeber der Zeitschrift Die Kreatur; 1948 wieder in die Kirche aufgenommen. 89 Wolfskehl, Karl (1869-1948): dt. Dichter; Mitglied des Kreises um Stefan George; 1933 Emigration in die Schweiz und nach Italien, 1938 nach Neuseeland. 77 Worringer, Wilhelm (1881-1965): dt. Kunsthistoriker; 1909 Habil. in Kunstgeschichte an der Univ. Bern; 1914-18 Kriegsdienst; 1919 Privatdozent, 1925 a. o. Prof. an der Univ. Bonn, 1928 an der Univ. Königsberg, 1946 an der Univ. Halle; 1950 Umzug in die Bundesrepublik Deutschland. 330 Wundt, Wilhelm (1832-1920): dt. Psychologe u. Philosoph; 1875 Professor für Philosophie in Leipzig; Begründer der Psychologie auf naturwissenschaftlicher Basis; Buber besuchte während seiner Studienzeit in Leipzig seine Veranstaltungen. 145, 301-302 Zimmermann, Robert v. (1824-1898): östr. Philosoph: 1852 Prof. der Philosophie an der Deutschen Univ. Prag, 1861 an der Univ. Zlocisti, Theodor (1874-1943): dt. Mediziner u. Zionist; Mitarbeiter u. a. in Ost und West; 1921 Emigration nach Palästina. Zweig, Arnold (1887-1968): dt. Schriftsteller; 1933 Emigration nach Palästina; 1948 Rückkehr nach Deutschland, wo er in der DDR lebte. 323