Machtokkupation und Systemimplosion: Anfang und Ende der DDR - zehn Jahre danach. Dieter Voigt zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428505227, 9783428105229

Der vorliegende Sammelband enthält die Referate der Tagung »Machtokkupation und Systemimplosion: Anfang und Ende der DDR

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German Pages 150 Year 2001

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Machtokkupation und Systemimplosion: Anfang und Ende der DDR - zehn Jahre danach. Dieter Voigt zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428505227, 9783428105229

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Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 80

Machtokkupation und Systemimplosion Anfang und Ende der DDR – zehn Jahre danach

Dieter Voigt zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Lothar Mertens

Duncker & Humblot · Berlin

Machtokkupation und Systemimplosion

Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 80

Machtokkupation und Systemimplosion Anfang und Ende der DDR zehn Jahre danach Dieter Voigt zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Lothar Mertens

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Machtokkupation und Systemimplosion : Anfang und Ende der DDR zehn Jahre danach ; Dieter Voigt zum 65. Geburtstag / Hrsg.: Lothar Mertens. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 80) ISBN 3-428-10522-2

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-10522-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Der vorliegende Sammelband enthält die Referate der Tagung „ Machtokkupation und Systemimplosion: Anfang und Ende der DDR-zehn Jahre danach", die vom 29. März-1. April 1999 in der Akademie für politische Bildung, Tutzing, anläßlich einer Kooperationstagung der Fachgruppe Sozialwissenschaft der Gesellschaft für Deutschlandforschung e.V. mit der Akademie für politische Bildung, Tutzing, stattfand. Die Beiträge versuchen aus objektiver Sicht und mit wissenschaftlicher Distanz an exemplarischen Beispielen die Entwicklung in der SBZ/DDR in den ersten Nachkriegsjahren als auch in den letzten Jahren vor der Systemimplosion vom Herbst 1989 zu analysieren. Auch Staatsminister Rolf Schwanitz, Teilnehmer an der Podiumsdiskussion, die zusätzlich zu dem Tagungsthema stattfand, hat freundlicherweise sein Eingangsstatement gleichfalls zur Verfügung gestellt, das hier in der Vortragsfassung abgedruckt wurde. Dieser Beitrag bezieht stärker eine politische Position, ohne allerdings auf den seinerzeitigen Streit einzugehen, ob eine Umsetzung der politischen Vorstellungen der damaligen Oppositionspartei SPD in der bundesdeutschen DDR- und Deutschlandpolitik (z.B. Anerkennung einer eigenen DDR-Staatsangehörigkeit) den Vereinigungsprozess verhindert hätte. Der Verlauf der Geschichte war ein anderer, auch dank der westdeutschen Medien, wie Fernsehen (ARD und ZDF) und Radio (namentlich der Deutschlandfunk, Köln), die auch für weite Teile der DDR-Bevölkerung den Aufbruch und das Aufbegehren immer größerer Bevölkerungskreise in der DDR allabendlich in der „ersten Reihe" präsent werden ließen und so, ganz offensichtlich bei der Berichterstattung über die Leipziger Montagsdemos, zum Katalysator der demokratischen Bewegung wurden, da die staatlich gelenkten Massenmedien der DDR die entstehende Opposition beharrlich verschwiegen. Gewidmet ist dieser Band Prof. Dr. Dieter Voigt zum 65. Geburtstag am 29. Juni 2001. Er hat nicht nur fast 20 Jahre lang die Fachgruppe Sozialwissenschaft der Gesellschaft für Deutschlandforschung geleitet und viele wichtige Monographien zu den verschiedenen Aspekten der DDR-Gesellschaft verfaßt und herausgegeben, sondern auch immer wieder in seinem ganzen wissenschaftlichen Schaffen über Jahrzehnte hinweg das Unrechtsregime der SED kritisch analysiert. Bochum, im Frühjahr 2001

Lothar Mertens

Inhalt Rolf Schwanitz Das Ende der DDR - zehn Jahre danach

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Sabine Gries Kleine Klassenkämpfer. Die Tradition totalitärer Grundmuster und Strukturen in der öffentlichen Erziehung der DDR von den Anfängen bis zum Jahre 1961

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Karl Wilhelm Fricke „Republikflucht" und Ausreise. Permanente Krisenelemente des SED-Herrschaftssystems

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Annette Kaminsky Konsumpolitik in der DDR. Von den Versorgungsutopien der fünfziger Jahre zu den Versorgungskrisen der achtziger Jahre

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Lothar Mertens Bildungspolitische Transformation. Die Neulehrer in der SBZ/DDR

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Verfasserinnen und Verfasser

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Das Ende der DDR - zehn Jahre danach Vortrag des Staatsministers im Bundeskanzleramt Rolf Schwanitz1 I. Einleitung Wir reden und diskutieren heute Nachmittag im Rahmen des Gesamtthemas [Machtokkupation und Systemimplosion: Anfang und Ende der D D R - z e h n Jahre danach] über „das Ende", also das Jahr 1989/1990. Wir wollen sprechen und diskutieren über Vorboten, Vorbedingungen und Vorbereitungen zu diesem Ereignis. Dabei will ich mein Amt in der Bundesregierung bewusst beiseite schieben. Reflexion von Geschichte ist immer ein zutiefst subjektiver Prozess. Ein Amt bietet dabei keinen höheren Anspruch auf Objektivität. Auch das ist übrigens eine Erkenntnis aus dem Leben in der DDR. Deshalb will ich, quasi als Einstieg in die Diskussion, eine höchst subjektive Wertung vornehmen. Dabei möchte ich mich zunächst auf drei grundsätzliche Feststellungen beschränken. Der Rest sei den weiteren Vorträgen und vor allem unserer Diskussion vorbehalten. Einige dieser Feststellungen mögen zum Teil als selbstverständlich erscheinen, andere könnten als „Nestbeschmutzung" oder historisch ungerecht wirken. Beides ist nicht beabsichtigt. Es geht vielmehr um etwas Anderes: Es geht um Feststellungen eines ehemaligen DDR-Bürgers, der wie viele andere im Herbst 1989 aufgestanden ist und in den letzten Jahren den Umgang mit dieser in der deutschen Geschichte einzigartigen Volksbewegung für Freiheit und Demokratie, vor allem im politischen Raum, mit erlebt hat.

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Die vorliegende Fassung beruht auf dem schriftlichen Text des Vortragsmanuskriptes vom 30. März 1999 in der Akademie für politische Bildung, Tutzing. Aus Gründen der Authenzität wurde die Vortragsfassung beibehalten. Zum besseren Verständnis der Ausführungen von Herrn Staatsminister Schwanitz wurden vom Herausgeber [L.M.] vor der Drucklegung lediglich einige wenige Erläuterungen in eckigen Klammern eingearbeitet.

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Rolf Schwanitz

II. Feststellung I Freiheit und Demokratie haben sich die Ostdeutschen selbst erkämpft. Die friedliche Revolution, in deren Kern die Beseitigung der SED-Diktatur stand\ ist vor allem das historische Verdienst der Menschen in der DDR. Ich gebe zu, ich bin ein „gebranntes Kind". Seit 1990 habe ich Debatten und Diskussionen verfolgt, in denen die Verdienste der Ostdeutschen zunehmend in den Hintergrund gerückt wurden. Dies ist nicht nur am Parteibuch festzumachen. Auch bei meiner eigenen Partei [der SPD; L.M.] sind mir in den letzten Jahren oft Formulierungen begegnet, wonach „ die deutsche Einheit den Ostdeutschen Freiheit und Demokratie gebracht" habe. Ich halte dies für völlig unhistorisch. Fest steht für mich stattdessen: - Die Demonstrationen der Ostdeutschen im Herbst 1989 haben die Grundlagen der diktatorischen Macht der SED zerstört; - die Runden Tische in den Städten und Gemeinden haben eine oppositionelle Kontrolle bewirkt und die allmähliche Trennung von Staat und Partei vorbereitet. Und schließlich: - Die freien Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 und am 6. Mai 1990 in den Kommunen haben zu demokratisch legitimierten Staatsorganen geführt und damit von der kommunistischen Ein-Parteien-Herrschaft zu einer parlamentarischen Demokratie. Und dies alles vor der staatlichen Einheit am 3. Oktober 1990! Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Verzerrungen, die diese historischen Abläufe in den letzten Jahre quasi „regierungsamtlich" erfahren haben. Nicht nur, dass die friedliche Revolution in der öffentlichen, aber vor allem politischen Wahrnehmung immer mehr hinter dem Ereignis der staatlichen Einheit zurücktrat. Die historischen Verdienste von Altbundeskanzler Kohl wurden demgegenüber regierungsamtlich von Jahr zu Jahr immer stärker überhöht und in die friedliche Revolution hineinprojiziert. Entsprechende Zitate lassen sich nicht nur in den Debatten des Deutschen Bundestages finden, sondern vielmehr auch in offiziellen Publikationen des Bundespresseamtes zu den Ereignissen im Herbst 1989 und zur staatlichen Einheit. Die friedliche Revolution wurde damit mehr und mehr vom Westen, genauer gesagt, von der alten Bundesregierung okkupiert, was zum schnelleren Vergessen, zum Ablegen dieses historischen Ereignisses im Bewusstsein der Menschen sicherlich auch beigetragen hat.

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I I I . Feststellung 2 Die friedliche Revolution war kein punktuelles Ereignis, sondern die Spitze einer immer breiter werdenden Volksbewegung in der DDR für Freiheit und Demokratie. Ich halte diese Feststellung für wichtig, weil erst durch sie eine Beurteilung der wirklichen Dimension der historischen Leistung der Ostdeutschen im Herbst 1989 sichtbar wird. Diese Feststellung ist auch die zentrale Erkenntnis, welche ich persönlich nach der Einsicht von Stasi-Akten in meiner eigenen Heimatstadt, in Plauen, über die Ereignisse des Herbstes 1989 gewonnen habe. Plauen, eine mittlere Stadt im südwestlichen Sachsen, damals fast 80.000 Einwohner, hatte mit einer ersten Demonstration am 7. Oktober 1989, an der fast 15.000 Menschen beteiligt waren, eine Schrittmacher-Rolle im Herbst 1989 für die gesamte Region eingenommen. Ich möchte hier nur auf einige Fakten verweisen, die beispielhaft für diesen Prozess der Volksbewegung stehen, und auf die ich in meinem Buch „Zivilcourage" 2 im Detail hingewiesen habe: - Die Ablehnung der Bürger bei den DDR-Kommunalwahlen im Mai 1989 trat in einem völlig neuen Umfang gegenüber den Wahlen von 1984 und 1986 zutage. Oppositionelle Kräfte führten gezielte Kontrollen der Stimmauszählungen in fast 50 Prozent aller Wahllokale der Stadt [Plauen; L.M.] durch. - In den ersten sieben Monaten des Jahres 1989 hatte sich in der Stadt Plauen und im Landkreis die Anzahl der so genannten „Asta" [Anträge auf ständige Ausreise aus der DDR; L.M.] mehr als verdoppelt. - Die Ausreisewelle über Osteuropa und die Aussetzung des visafreien Reiseverkehrs mit der CSSR und anderen Ländern zerstörte die staatliche Autorität in der Stadt in einem erheblichen Umfang. - Bis zum 7. Oktober, der Ersten großen Demonstration gab es in der Stadt eine ganze Kette von oppositionellen Aktionen, von Zusammenstößen mit Sicherheitskräften bei den Zugdurchfahrten [der Flüchtlingszüge mit den Botschaftsbesetzern aus Prag am 30. September 1989; L.M.], von so genannten „Schmierereien" und vieles andere mehr, das die Akten des MfS füllte. A l l dies geschah in einer Stadt ohne eine organisatorische oppositionelle Fundierung, quasi durch das Aufstehen der gesamten Bevölkerung in den Betrieben, im Freundeskreis und auch in aller Öffentlichkeit. Gerade das machte die Stärke dieser Volksbewegung aus. 2

Schwanitz, Rolf: Zivilcourage. Die friedliche Revolution in Plauen anhand von Stasi-Akten sowie Rückblicke auf die Ereignisse im Herbst 1989. Plauen 1998.

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IV. Feststellung 3 Die friedliche Revolution, aber vor allem der Drang der Ostdeutschen zur deutschen Einheit, traf die Bundesrepublik völlig unvorbereitet. Im April 1989 überraschte der neue US-Botschafter in der Bundesrepublik, Vernon Walters, Bonner Beamte und Journalisten mit der These, während seiner Amtszeit in Bonn werde Deutschland wieder vereinigt werden. Der 73jährige Walters, ein militärischer Haudege mit CIA-Erfahrung, galt mit dieser Aussage als Phantast. Seine Erklärung klingt heute simpel: „'Die Sowjets waren ohne Sieg aus Afghanistan abgezogen4. Einen solchen Rückzug habe es - ,außer aus Österreich' - zuvor nie gegeben. Ein klares Zeichen: das Sowjetreich wankte. Zudem: ,immer lauter wurden die Stimmen der Völker Osteuropas' ... Dann der ,polnische Papst'. Walters: ,Eine Million Menschen gingen in Warschau auf die Straße, als der Papst zu Besuch war. Wie könnte man in Europa eine Million Menschen kontrollieren? In China, ja. Man holt Truppen aus der Mandschurei; die können sich mit der lokalen Bevölkerung nicht verständigen.' Michail Gorbatschow und den anderen Herren im Kreml sei klar gewesen, die Niederschlagung eines Volksaufstandes wie 1968 in der CSSR lasse sich nicht wiederholen: ,Kein zweites Mal'." (Sächsische Zeitung vom 20./21. März 1999).

Es geht mir bei der Erinnerung an Walters nicht um späte Genugtuung oder um wohlfeile Angriffe in historischer Rückschau. Dennoch verdeutlicht diese Episode die „sensorische Abschottung" der westdeutschen Politik gegenüber der wachsenden Volksbewegung in der DDR für Freiheit und Demokratie im Verlaufe des Jahres 1989! Ein Blick zurück in die westdeutsche Wahrnehmung verdeutlicht dies bezeichnend. Ich will mich hier beschränken auf die Auswertung von Regierungserklärungen, von Presseerklärungen des Bundespresseamtes, insbesondere jedoch des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen. Die Bundesrepublik ist zu Beginn des Jahres 1989 mit anderen Dingen beschäftigt, vor allem mit sich selbst! Am 27. April 1989 gibt Bundeskanzler Kohl eine Regierungserklärung ab zur künftigen Regierungsarbeit. Zwar finden mit dem Blick auf Osteuropa die Umbrüche Erwähnung: Europa sei im Umbruch, im Aufbruch in eine neue Epoche, tief greifende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft würden sich vollziehen. Und es findet sich die Feststellung „ auch in der DDR werden Forderungen nach Veränderungen immer drängender Aber dies alles ist nur ein Nebenthema. Das eigentliche Hauptthema ist die Regierungsumbildung durch den Bundeskanzler selbst. Die Regierung befindet sich massiv unter Druck, das so genannte Quellensteuerthema erhitzt die Gemüter. Der Bundeskanzler stellt ein

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Arbeitsprogramm bis zu den Bundestagswahlen 1990 vor. Die Opposition höhnt: eine „Politik auf der Flucht vor dem Wähler". Und selbst die konservative FAZ [Frankfurter Allgemeine Zeitung; L.M.] schreibt von einer „Politik der manifesten Panik". Kennzeichnend bleibt für die nächsten Monate: Erst die unmittelbaren Auswirkungen der Volksbewegung innerhalb der DDR im Westen, durch die Botschaftsflüchtlinge und natürlich später durch die Grenzöffhung werden zu größerer Bewegung in der westdeutschen Wahrnehmung und in der westdeutschen Politik führen. Die deutschlandpolitischen Vorstellungen, von einer Konzeption kann man wohl nicht sprechen, bleiben jedoch fast bis zum Jahresende auch hiervon unberührt. Die bundesdeutsche Politik zeigt erst eine Reaktion aus eigener Betroffenheit und nicht aus paralleler Anteilnahme. Der Drang nach staatlicher Einheit findet im Westen deshalb nicht „mit laufenden Motoren" statt, sondern quasi „ im Kaltstart Die Auffassung der Bundesregierung zur deutschen Frage hat sich innerhalb des Jahres 1989 nicht verändert, sie wird bis Ende November, bis zu Kohls „Zehn-Punkte-Plan " [am 28. November 1989 im Deutschen Bundestag verkündet; L.M.] mit seinen „bundesstaatlichen Strukturen" auch so bleiben. Hierzu einige Belege: - Am 18. Mai 1989 hält die Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, Wilms, im Reichstag eine Rede zum Thema „Die deutsche Frage - Freiheit und Einheit als Aufgabe". Sie vertritt dabei alte Positionen: Voraussetzung für die Lösung der deutschen Frage ist eine neue europäische Freiheits- und Friedensordnung. Sie sieht ausdrücklich keine kurzfristige Lösung. - Am Vorabend des 17. Juni 1989 gibt Frau Ministerin Wilms eine obligatorische Erklärung ab. Nur ein Satz ist in dieser Erklärung zu finden, der Hoffnung auf Perestroika in der DDR macht. Wesentlich dominanter sind die Hinweise auf den europäischen Einigungsprozess, auf die Europawahlen, und auf Europa als Rahmen für die deutsche Einheit. Überhaupt lesen sich viele Presseerklärungen des damaligen Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen heute wie kurze Touristeninfos eines exotischen Reiseveranstalters. Es geht um grenznahen Verkehr, um Reisen durch die DDR, um Verkehrsverstöße und andere Dinge im Jahr 1989. Weder die routinemäßige Erklärung zum 28. Jahrestag des Mauerbaus im August 1989 noch alle Erklärungen zu den Botschaftsflüchtlingen, zu den Flüchtlingszügen und Demonstrationen verändern diesen deutschlandpolitischen Ansatz. - Die deutsche Einheit bleibt ein Fernziel, eingebettet in einer neuen gesamteuropäischen Ordnung,

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- man hat kein Interesse an einer krisenhaften Entwicklung in der DDR und hofft auf deren Stabilisierung sowie demokratische Reformation. - Ziel sind Reformen in der DDR, und man setzt dabei bewusst auf die Zusammenarbeit mit der alten DDR-Führung. Am 19. Oktober 1989 gibt Frau Bundesministerin Wilms ein Radio-Interview zum aktuellen Ereignis, dem Sturz Honeckers, und den daraus resultierenden Fragen nach einer Veränderung in der Deutschlandpolitik. Sie antwortet: „ Wir werden unseren Kurs fortsetzen, der sich ja doch als erfolgreich und richtig... erwiesen hat. ... Wir wollen die innerdeutschen Beziehungen fortsetzen Selbst bei der Regierungserklärung von Bundeskanzler Kohl am geradezu historischen 9. November 1989, in seinem »Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland« bleibt neben dem obligatorischen Bekenntnis zur offenen deutschen Frage eine mahnende Feststellung im Gedächtnis: „Bewahren wir, so schwer uns - und vor allem auch unseren Landesleuten in der DDR - dies fallen mag, die beharrliche Geduld auf dem Weg evolutionärer Veränderung zu setzen, an dessen Ende die volle Achtung der Menschenrechte und die freie Selbstbestimmung für alle Deutschen stehen müssen. ... Hüten wir uns vor der Annahme, eine Lösung der deutschen Frage mit einem Drehbuch und einem Terminkalender in der Hand vorherbestimmen zu können."

Bereits einen Monat vorher hatte eine Person der Zeitgeschichte jener Tage ein anderes Erlebnis: Es war Michail Gorbatschow in Berlin. Er hatte sein „Schlüsselerlebnis" bei den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR. Auf der Tribüne in Berlin, beim Fackelzug, sah er die Stimmung der jungen Leute, frei, zuversichtlich, getragen vom Wunsch nach Veränderung und hörte die „Gorbi"-Rufe vieler Menschen. Der damalige polnische Ministerpräsident [Tadeusz Mazowiecki; L.M.], der auf der Tribüne neben ihm stand und der die deutsche Sprache gut beherrschte, wandte sich an Gorbatschow und fragte auf Russisch, ob er die Rufe verstehe und wisse, was die Menschen von ihm wollten. Der Ministerpräsident weiter: „Das bedeutet das Ende!" - „Ja" hat Gorbatschow gesagt. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Kleine Klassenkämpfer Die Tradition totalitärer Grundmuster und Strukturen in der öffentlichen Erziehung der DDR von den Anfängen bis zum Jahre 1961 Von Sabine Gries I. Einleitung Das Jahr 1961 ist für uns längst zu einem historischen Datum geworden, zu einem im wahrsten Sinne des Wortes einschneidenden Ereignis der deutschen Geschichte. Im Jahre des Mauerbaus wurde die deutsche Teilung scheinbar perfekt - Stacheldraht und Todesstreifen trennten die Bürger voneinander; der zuvor - wenn auch unter Schwierigkeiten - immer noch mögliche Interzonenverkehr kam für Jahre praktisch zum Erliegen. Für die DDR begann - so erklärte man es jedenfalls später gern - mit der verfestigten deutschen Teilung eine Zeit der Konsolidierung, für die Bürger dieses Landes eine Epoche des Einrichtens in den gegebenen Verhältnissen, von denen man, zumindest offiziell, annahm, sie würden sich nun auf unabsehbar lange Zeit nicht mehr ändern, schon gar nicht im Sinne einer Wiedervereinigung unter nicht-sozialistischen Vorzeichen. Das Jahr 1961 stellte für die von der DDR und von der SED-Führung avisierte Perspektive der Entwicklung des ehemaligen Mitteldeutschlands zu einem sozialistischen Musterstaat schon viele Jahre zuvor ein Datum von ganz besonderer Bedeutung dar. Zu diesem Zeitpunkt sollte die Phase des iyAufbaus der Grundlagen des Sozialismus", die nach diesen Vorgaben im Jahre 1952 die Phase der „antifaschistisch-demokratischen Grundordnun,g" abgelöst hatte, ihrerseits von der iyAnkunft im Sozialismus" abgelöst werden (Grunenberg 1993, S. 126). „Wenige Tage vor dem Mauerbau 1961 erschien im 'Neuen Deutschland', dem Zentralorgan der SED, unter dem Titel Trogrammentwurf der KPdSU verkündet die wahren Menschenrechte' eine erneute Auflistung der nahen und fernen Ziele des Kommunismus. Danach sollte von 1961 an der Kommunismus in zwei 'Hauptetappen' aufgebaut werden: In der ersten Phase von 1961 bis 1970 würde die UdSSR die USA an Pro-Kopf-Produktion übertreffen, die UdSSR das 'Land mit dem kürzesten Arbeitstag' sein, eine Verdoppelung der Gehälter erreicht sein. Für die Etappe von 1971 bis 1980 wurde für die Sowjetunion proklamiert: 'Kommunistische Gesell-

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schaft im wesentlichen aufgebaut.' Für die DDR wurde als Ausweis des Fortschreitens vom Sozialismus zum Kommunismus die kostenlose Nutzung des Wohnraums, der kommunalen Verkehrsmittel, der Kinderheime, von Wasser, Gas, Heizung usw. vorhergesagt" (ebd.).

Für die Machthaber und Ideologen der DDR galt das Jahr 1961 schon viele Jahre zuvor als „magisches" Datum. Es markierte den Zeitpunkt, an dem der sozialistische deutsche Staat sich dem kapitalistischen gegenüber als endgültig überlegen erweisen sollte. Mit dem Jahre 1961 sollte in der DDR ein völlig neues, sozialistisches Leben für alle Bürger beginnen. Die Aufbaujahre der DDR sollten zu einem gewissen Abschluss gekommen sein, die erste Generation von Kindern, die unter der Ägide des Sozialismus aufgewachsen war, kam nun ins erwerbsfähige Alter. Angetreten war der Sozialismus dabei stets unter der Prämisse, durch sozialistische Pädagogik und Sozialisation einen neuen, gleichsam höher entwickelten und zu allem Guten fähigen Typus des Menschen zu schaffen - die sozialistische Persönlichkeit. Doch die Realität erwies sich als das genaue Gegenteil dieser Hoffnung: wie im Nachhinein unschwer zu erkennen ist, waren die Ereignisse des Jahres 1961 fur die DDR der Anfang vom Ende, der Abschied von einer sozialistischen Utopie, die endgültige Ankunft in einer totalitären Kleinbürgerwelt.

II. Grundstrukturen totalitärer Systeme Seit den 20er-Jahren unseres Jahrhunderts wird der Begriff „totalitär" als Gegensatz zu „pluralistisch" verwendet. Dabei meint pluralistisch das tolerante Mit- und Nebeneinander der unterschiedlichsten Meinungen, politischen und anderen Überzeugungen. Totalitäre Gedankenstrukturen werden demgegenüber nicht nur von Einseitigkeit und Eingleisigkeit bestimmt, von einer ideologischen Weltsicht, die vom individuellen Kinderwunsch bis zu weltgeschichtlichen Entwicklungen alles aus einer einzigen Ursache heraus erklärt. Totalitäre Regime zwingen vielmehr diese Weltsicht, die keine andere neben sich duldet, auch jedem Menschen auf, der in ihrem Herrschaftsbereich lebt - durch Überzeugung, Überredung, Propaganda oder nackte Gewalt. Eine immer noch überzeugende Definition aus dem Jahre 1937 sieht Totalitarismus als Staatsform vor allem durch zwei Bedingungen definiert. Die Erste ist die Abwesenheit von Demokratie. „Grundlegende Voraussetzung jeder Demokratie ist [...] die Möglichkeit der freien Entfaltung abweichender politischer Meinungen. Diese müssen gleiche Rechte genießen - was sie verbindet ist das gemeinsame Ziel der Zusammenarbeit in einem

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Staat, der allen Bürgern gleichermaßen gehört. Solche unterschiedlichen politischen Ansichten müssen nicht notwendigerweise in Form politischer Parteien zum Ausdruck kommen. Neben diesen mag es besondere Verbände, Vereinigungen, Gewerkschaften, Gesellschaften, Clubs usw. geben" (Feiler 1996 [1937], S. 57).

Nun gibt es aber ohne jeden Zweifel Staatsformen, die diese hier vorgestellte Art von Demokratie nicht oder nur in Ansätzen - etwa auf einem privaten Sektor, aber nicht auf dem der Politik - gestatten, ohne deshalb schon totalitär zu sein; man denke in diesem Zusammenhang etwa an die klassischen (absolutistischen) Monarchien. Um einen Staat oder eine Herrschaftsform totalitär nennen zu können, muss noch etwas Spezielles hinzukommen, ein Faktum, das Feiler (1996 [1937]) „Zerstörung der Freiheit" nennt: „Faschismus und Bolschewismus [als zwei zeitgenössische Ausprägungen des totalitären Staates einander gegenübergestellt; S.G.] verleugnen und zerstören die Freiheit, und zwar durch dieselbe Regierungsform, die Diktatur, durch die Ausübung der Diktatur mit den gleichen Herrschaftsmethoden - nämlich massive Beeinflussung und Zwang - und schließlich durch einen vergleichbaren Herrschaftsrahmen, den Einparteienstaat" (Feiler 1996 [1937], S. 53).

Diese Art der totalitären, d.h. allumfassenden Herrschaft über Menschen, ihre Handlungen, Unterlassungen und sogar Gedanken fußt auf autokratischen Ansprüchen der jeweils Regierenden. „.Die Herrschaft der Autokratie verbietet jede organisatorische oder geistige Formation der Untertanen, soweit diese nicht mit den Mitteln der staatlichen Zwangsanstalt herbeigeführt wird' (Ruffmann 1996 [1977], S. 47).

I I I . Das Kind im Griff des Staates - ein historischer Rückblick 1. Historische Grundlagen Erstmals während der französischen Revolution gerieten die Kinder - und zwar alle Kinder, nicht nur die bestimmter Bevölkerungsgruppen 1 - in den

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Schon in historisch früheren Zeiten bemühten sich öffentliche Einrichtungen um die Erziehung der Kinder bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Zumeist stand dabei die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Mittelpunkt, wenn etwa Bettlern oder Zigeunern ihre Kinder fortgenommen wurden, um diese zu „ordentlichen Menschen" zu erziehen (Versuche dieser Art gab es seit dem späten Mittelalter, der Erfolg war wechselnd; siehe dazu ausführlich Johansen 1978 passim). Aber auch am anderen Ende der sozialen Stufenleiter mischte der Staat sich in die 2 Mertens

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direkten Blick des Staates, sollten Kindheit und Erziehung im staatstragenden und staatserhaltenden Sinne geplant werden. Basierend auf der Überzeugung aufgeklärter Pädagogen des 18. Jahrhunderts, nicht die leiblichen Eltern, sondern speziell ausgebildete Fachkräfte seien die besten Erzieher des Kindes, wurden von revolutionären Republikanern Pläne entwickelt, alle (männlichen) Kinder auf Staatskosten zu überzeugten Anhängern der eigenen politischen Vorstellungen zu erziehen (siehe dazu Ebeling/Birkenfeld 1990, S. 156). Schon diese frühen und nie verwirklichten Pläne für eine staatlich gelenkte Erziehung nachwachsender Generationen zeigen die meisten Faktoren auf, die für die öffentliche Erziehung in totalitären Systemen maßgeblich sind. Die leiblichen Eltern der Kinder werden ausschließlich als Erzeuger und Versorger der (Klein-)Kinder gesehen; eigene Rechte an den Kindern haben sie nicht. Die Eltern werden vom Staat und seinen Vertretern mit Misstrauen betrachtet: weil sie keine ausgebildeten Pädagogen sind; weil sie ihre eigenen, egoistisch genannten Wünsche und Hoffnungen zumeist höher stellen als die Ziele des Großen und Ganzen; weil sie Vertreter von inzwischen unliebsam gewordene Traditionen sind. Die Kinder werden als Staatseigentum angesehen. Ihre persönliche Artung und ihre persönlichen Wünsche interessieren nur so weit, wie sie den Bedürfnissen und dem Machterhalt des Staates entgegenkommen. Schon in sehr frühem Alter werden die Kinder auf vor allem politische Ziele hin ideologisch ausgerichtet. Das geschieht bereits in einer Lebensphase, in der Kinder zu kritischem Denken und eigenen Entscheidungen noch gar nicht fähig sind, vor allem auf einer rein emotionalen Basis. Alle Kinder werden nach demselben, staatlich vorgegebenen Plan und auf dasselbe Ziel hin erzogen. Auch die Erzieher haben keinen oder nur einen sehr geringen Handlungsspielraum. Die Erziehungsziele der Eltern oder bestimmter gesellschaftlicher Gruppen werden bei den staatlichen Erziehungsplänen nicht berücksichtigt. Allen Kindern soll dieselbe Überzeugung anerzogen werden. Die Erziehung der Kinder wird durch Askese und die Betonung unkindlicher Verhaltensweisen bestimmt: es wird viel Wert auf Disziplin, Ordnung, Selbstrücknahme, Bescheidenheit, Schlichtheit gelegt. Die Kinder sollen nicht „verwöhnt" oder „verzärtelt" werden und früh lernen, sich widerspruchslos in eine Gemeinschaft einzufügen. Ein frühe Uniformierung soll die Gleichheit aller Kinder betonen. Eine frühe „militärische" Erziehung betont soldatische Tugenden wie Ausdauer und Mut, aber auch bedingungslosen Gehorsam, betont körperliche Ertüchtigung und stellt Soldaten im kindlichen Alltag vielfältig als Vorbilder hin.

Familienerziehung ein, etwa durch die frühzeitige Kasernierung zukünftiger Offiziere in Kadettenanstalten.

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2. Der marxistische Ansatz Für Karl Marx und Friedrich Engels, die Gründerväter des Marxismus, verkörperte die traditionelle Familie alles, was in ihren Augen hassens- und abschaffenswert war. Engels etwa sagt zu diesem Bereich: iyDie moderne Einzelfamilie ist gegründet auf die offene oder verhüllte Haussklaverei der Frau, und die moderne Gesellschaft ist eine Masse, die sich aus lauter Einzelfamilien zusammensetzt 4 (MEW Bd. 21, 1956 ff., S. 75). Und als Lösung dieses Problems schlägt Marx vor: iyAlso nachdem z.B. die irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie entdeckt ist, muß nun erstere selbst theoretisch und praktisch vernichtet werden" (MEW Bd. 3., 1956 ff., S. 6; Hervorhebung S.G.). Neben anderen für sie schädlich-überflüssigen Einrichtungen wie Religion, Staat oder Privateigentum war auch die Familie für Marx und Engels ein künstlich geschaffenes Knebelungsinstrument, grundsätzlich unnatürlich, ja unmenschlich, die Freiheit des Menschen bedrohend und für ein Leben in einer sozialistischen Gesellschaft ohne jede Relevanz. Für Marx zählte das Leben in der Familie ausdrücklich zu den belastenden Folgen einer zu überwindenden „Unmenschlichkeif,f)ie positive Aufhebung des Privateigentums, als die Aneignung des menschlichen Lebens, ist daher die positive Aufhebung aller Entfremdung, also die Rückkehr des Menschen aus Religion, Familie, Staat etc. in sein menschliches, d.h. gesellschaftliches Dasein" (MEW Ergbd. 1, 1956 f f , S. 537). Wie stets bei ihren Zukunftsentwürfen blieben Marx und Engels in ihren Prognosen auch auf dem Gebiete der Aufgaben, die in allen historischen und gegenwärtigen Gesellschaften die Familie übernimmt - nämlich Reproduktion und Sozialisation der Kinder -, weitgehend unkonkret. Die Familie im klassischen Sinne jedenfalls würde es nach diesen Vorstellungen nicht mehr geben. Engels sagte zu diesem Thema aus: „Mit dem Übergang der Produktionsmittel in Gemeineigentum hört die Einzelfamilie auf wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft zu sein. Die Privathaushaltung verwandelt sich in eine gesellschaftliche Industrie. Die Pflege und Erziehung der Kinder wird öffentliche Angelegenheit; die Gesellschaft sorgt für alle Kinder gleichmäßig, seien sie eheliche oder uneheliche " [da Ehe und Familie im überkommenen rechtlichen und religiösen Sinne zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existieren werden, ist es jedoch nicht klar, warum dieser Unterschied zwischen Ehelichkeit und Nicht-Ehelichkeit der Nachkommen von Engels noch gemacht werden kann; S.G.], (MEW Bd. 21, 1956 ff., S. 77). Wie sollte die gesellschaftliche Fürsorge für die Kinder konkret aussehen? Engels schreibt dazu: ,,.Erziehung sämtlicher Kinder, von dem Augenblicke an, wo sie der ersten mütterlichen Pflege entbehren können, in Nationalanstalten und auf Nationalkosten. Erziehung und Fabrikation zusammen" (MEW Bd. 4, 1956 ff., S. 373). Sehr kinderfreundlich klingen diese

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Pläne nicht. Hatte Engels nie von den Sterblichkeitsraten 2 von bis zu 80 Prozent in den zeitgenössischen Findel- und Waisenhäusern gehört, vom Elend der Armen- und Fabrikschulen? Offensichtlich nicht, wenn er ihr Grundprinzip zur Sozialisationsvorlage einer besseren Gesellschaft machen wollte. Von einer reformierten Schule, die weder Religionsunterricht noch alte Sprachen kennt, dafür aber die Hälfte des Unterrichts ins Freie verlegt, zu körperlicher, bezahlter Arbeit, versprach Marx sich wahre Wunderdinge: ,£)ie Verbindung von bezahlter produktiver Arbeit, geistiger Erziehung, körperlicher Übung und polytechnischer Ausbildung wird die Arbeiterklasse weit über das Niveau der Aristokratie und Bourgeoisie erheben" (MEW, Bd. 16, 1956 f f , S. 195). Letzten Endes aber bleiben die Aussagen, die Marx und Engels zur schulischen Erziehung und Unterweisung machen, unkonkret und nebulös und stehen beliebiger Interpretation offen. Im Jahre 1889 stellte die Sozialistin Clara Zetkin (1857 bis 1933) einige zukunftsweisende Regeln fur das Leben der Frau im Sozialismus auf (Zetkin 1979 [1889]): völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau, grundlegend gestützt auf ein verbrieftes Recht auf Erwerbstätigkeit der Frau mit dem Ziel ökonomischer Unabhängigkeit,3 politische Gleichberechtigung (Frauen hatten im Deutschen Reich bis zum Jahre 1918 kein Wahlrecht), Recht auf gleiche Bildung (Frauen waren bis zur Jahrhundertwende offiziell weder zu Gymnasien noch zu den Universitäten zugelassen; siehe dazu Mertens 1991, besonders S. 19 f., S. 24 ff. und S. 43-51).

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Die West-Berliner Sozialarbeiterin Erna Maria Johansen (1978, S. 58 ff.) berichtet, belegt durch eine Vielzahl alter Quellen, über die geringen Überlebenschancen von Kindern, die in früheren Jahrhunderten in Heimen aufwuchsen. Es handelt sich hier um Beispiele aus Ländern (Frankreich und Russland), in denen die Findlinge - bis ins 20. Jahrhundert hinein - als Staatsmündel galten und zumindest die Knaben zu Soldaten heranwachsen sollten. Ein absichtliches Verkommenlassen der Kinder („Engelmacherei") ist damit im Großen und Ganzen auszuschließen. Die Kinder starben vor allem an unabsichtlich falscher Ernährung und an Infektionskrankheiten. Der Staat als Erzieher der Kinder - in Anstalten staatlicher Fürsorge - zeigte sich auch dann als wenig oder gar nicht erfolgreich, wenn die Fürsorge sich nicht auf „Elendskinder" erstreckte, die möglicherweise unzureichend versorgt wurden, sondern durchaus auf solche bürgerlicher Herkunft, die ihm nur zeitweise in Obhut gegeben worden waren. Auch unter diesen war die Sterblichkeit im Säuglings- und Kleinkindesalter selbst für damalige Zeiten erschreckend hoch (Toppe 1993, S. 232 ff.). 3 Zetkin war es bei ihren Überlegungen nicht entgangen, dass die meisten ihrer Zeitgenossinnen durchaus berufstätig waren. Allerdings handelte es sich in fast allen Fällen entweder um Mithilfe (also nicht um eine selbständige Tätigkeit) im eigenen Geschäft oder auf dem eigenen Hof, oder aber die Arbeit wurde so schlecht bezahlt, dass eine wirkliche Selbständigkeit nicht zu erlangen war und die Frau weiterhin von Dritten (Eltern, Dienstherrschaft, ebenfalls verdienendem Ehemann etc.) abhängig blieb.

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Zetkin ging bei ihren Vorstellungen von der Prämisse aus, dass sich diese Ziele nicht auf dem Wege über Reformen erreichen ließen, sondern einzig und allein durch die Abschaffung des Kapitalismus, das heißt in Folge einer sozialistischen Revolution. Darin ist sie von der tatsächlichen historischen Entwicklung widerlegt worden. Auch Ehe und Familie sollten sich unter einer Ägide des Kommunismus radikal wandeln. Gleiche Rechte für Frau und Mann wurden ebenso verlangt wie die gleichberechtigte Verfügungsgewalt 4 beider Eltern über die Kinder. Dieses Recht stand traditionsgemäß in der Ehe allein dem Vater zu (Hirsch 1965, S. 78 ff.). 5 Auch diese Frage ist heute nur noch von historischem Interesse und hat sich auch ohne revolutionären Umsturz im von Zetkin angestrebten Sinne gelöst. Wie auch andere frühe Sozialisten, die sich mit Fragen der Familie und der Pädagogik beschäftigten, hielt Zetkin die proletarischen Eltern häufig fur unfähig, nun auch eine proletarische Erziehung zu praktizieren. Dabei vertrat Zetkin bereits eine relativ „liberale" Haltung gegenüber der Familienerziehung, die sie nicht ersetzen, sondern nur ergänzen wollte. „Elterliche Erziehung und öffentliche Erziehung lösen einander nicht ab, sondern vervollständigen sich. Wir können der elterlichen Erziehung im Heim nicht entraten, auf daß die Kinder zu starken Persönlichkeiten von ungebrochener Eigenart [ 6 ; S.G.] erwachsen. Wir bedürfen der gemeinsamen Erziehung in öffentlichen Anstalten, damit die Persönlichkeit nicht zum Individualitätsprotzen entarte, damit sie in brüderlicher Empfindung und Gesinnung mit allen, mit der Allgemeinheit verbunden bleibt und alles begreift, was sie ihr verdankt und was sie ihr schuldet" (Zetkin 1957 [1904], S. 270 f.)

Vor allem die Mütter wurden von den sozialistischen Pädagogen mit wachem Misstrauen beobachtet. Waren sie doch in erster Linie Frauen, Arbeiterfrauen, „die ideologisch störanfälliger waren als die Männer, weil sie vielfach als ausgebeutete Dienstmädchen von Jugend an oder als lebenslängliche Waschfrauen unmittelbare Berührung mit der Welt der feinen Leute hatten und dadurch kleinbürgerlichen Tendenzen und Einflüssen leichter ausgeliefert waren 1" (Kunze/Wegehaupt 1985, S. 17).

4

Heute bezeichnet man diese Verfügungsgewalt mit dem Terminus „Sorgerecht".

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Unehelichen Kindern oder Vaterwaisen wurde in der Regel ein Vormund zugeordnet, da man der Mutter im Allgemeinen nicht zutraute, eventuelle Schwierigkeiten bei Erziehung und Sozialisation auf eine für das Kind positive Art und Weise zu meistern. 6 Zetkin kannte natürlich die negativen Auswirkungen der Heimerziehung vor allem auf Säuglinge und Kleinkinder, die man heute unter dem Sammelbegriff „Hospitalismus" zusammenfasst. Der so genannte Waisenhausstreit - die Frage, ob elternlose Kinder besser in Heimen oder in Pflegefamilien untergebracht werden - war seit Ende des 18. Jahrhunderts virulent und wurde auch zu Zetkins Lebzeiten heftig ausgefochten.

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Edwin Hoernle, ein Zeitgenosse Zetkins, ebenfalls Sozialist und ebenfalls umfassend mit pädagogischen Fragen befasst - so war er unter anderem der Schultheoretiker der KPD -, zeigte sich in seinen Ansichten weitaus radikaler. Die Familie als solche sah er für die Kindererziehung als völlig unbedeutend, ja überflüssig an. Er erkannte, ebenso wie Zetkin, dass viele proletarische Eltern weder die Zeit noch die Fähigkeiten hatten, ihre Nachkommen bewusst sozialistisch zu erziehen. Deshalb sollten die Kinder ihren Eltern fortgenommen und in sozialistischen Kinderheimen versorgt und erzogen werden (Hoernle 1969 [1929] passim). „Die Hauptträgerin der kleinbürgerlichen Familienerziehung war bekanntlich die Mutter. [...] dieses Hausmutterideal Schillers, hat der Kapitalismus bereits vernichtet, und der Kommunismus wird sie nicht nur nicht neu beleben, sondern er beseitigt sie ganz und gar. Aber an ihre Stelle setzt er neue Erziehungsorganisationen und neue kollektive Haushaltungen, in denen Kinder erzogen werden: die sozialistischen Kinderheime. Und die proletarischen Eltern begreifen sehr bald die gewaltige Überlegenheit und fortschrittliche Bedeutung dieser neuen kollektiven und unmittelbar gesellschaftlichen Erziehung. Es entsteht in ihnen eine neues kollektives Elterngefuhl aller Erwachsenen, bei denen die sogenannte 'Stimme des Blutes' nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Höher als die natürliche Liebe der Eltern zu ihrem Kind steht die Liebe der proletarischen Klasse zu ihrem Nachwuchs." (Hoernle 1969 [1929], S. 122 f.).

In Ansätzen sah Hoernle das von ihm angestrebte Prinzip in den Kinderheimen der Sowjetunion bereits nachahmenswert verwirklicht (ebd., S. 123). Vor allem in den frühen Jahren der DDR entstanden in dieser Tradition viele Tages- und Wochenheime, in denen die Kinder während der Berufstätigkeit der Eltern untergebracht waren, versorgt und erzogen wurden. Die ihr zugeschriebenen positiven Folgen zeitigte die kollektive Erziehung der Kinder nicht: sie blieben nicht nur in der Entwicklung hinter den „Familienkindern" zurück, auch ihren Eltern wurde die Verantwortung für ihre Nachkommen aus der Hand genommen und dadurch häufig abgewöhnt.

3. Der nationalsozialistische

Ansatz

Die nationalsozialistische Ideologie basierte vor allem auf den vier Grundbegriffen Rasse, Kampf, Führertum und Gemeinschaft (Kohrs 1983, S. 9 ff.). Das Prinzip der Rasse stand im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Ideologie. Dabei beruft sich der hier verwendete Rasse-Begriff zum einen auf einen biologisch-genetischen, naturwissenschaftlich gemeinten Zusammenhang im

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Sinne der Vererbung. Zum anderen liegt ihm die Annahme einer „blutsmäßigen", schicksalhaft vorbestimmten psychischen oder seelischen Verbundenheit aller Angehörigen eines Volkes zu Grunde, ein Zug, der eher mythologisch als wissenschaftlich geprägt ist. Die rassische Zugehörigkeit des Einzelnen galt als grundlegend für die Entwicklung des Individuums sowohl im körperlichen als auch im geistigen und seelischen Bereich. 7 Aufbauend auf dem Bild wertvoller und minderwertiger Völker ist das Leben eines wertvollen Volkes ständiger Kampf: zum einen gegen die Minderwertigen, die aus Neid, charakterlicher Schlechtigkeit oder aus dem Bewusstsein der eigenen Unterlegenheit heraus die „Wertvollen" vernichten wollen, zum anderen aber auch gegen die im eigenen Volk ständig virulente „Entsittlichung", „Entartung" und „Entnordung". Im Zusammenhang mit dem Kampfbegriff ist auch die nationalsozialistische Wehrerziehung in der Schule zu sehen (siehe dazu Spielhagen 1941 passim). Die nationalsozialistische Hierarchie war pyramidenförmig auf die Person an der Spitze ausgerichtet - auf den „Führer". Dieser Führer wurde offiziell als ein quasi übermenschliches Wesen dargestellt. Der Einzelne war diesem Führer bedingungslos Gehorsam und Unterordnung, Treue und Gläubigkeit schuldig. Auch auf niederen Ebenen der Gesellschaft wiederholte sich dieses Bild von Führern und Geführten, wobei der jeweilige Führer seinen Untergebenen einerseits gleich war, etwa als Mensch „deutschen Blutes", andererseits den von ihm Geführten überlegen. Die Kinder lernten die besondere Rolle des „Führers" schon früh kennen; die Schule vertiefte diese Ansätze dann weiter. Gemeinschaft bedeutete im Nationalsozialismus nicht nur Gemeinsamkeit mit allen Nationalsozialisten und allen Menschen deutscher Herkunft („deutscher Art und deutschen Blutes"), sie bedeutete auch Gemeinschaft mit den Vorfahren, den „Ahnen gleichen Blutes" und den eigenen, möglichst zahlreichen Nachkommen. Er selbst als Individuum zählte letztlich nur als Glied in der Kette, um die arischen Erbanlagen weiterzureichen. Bezugsgröße für den Einzelnen war dabei das Volk als Gesamtheit. Die nationalsozialistischen Erziehungsvorstellungen gründeten sich auf den hier vorgestellten Vorgaben. Dabei zeigte sich in der Praxis - etwa in den Anleitungen für Kindergärtnerinnen oder in den Unterrichtsvorgaben und Schulbüchern -, dass diese vier Komponenten eng miteinander verschränkt und verwoben waren. 8 Wie sahen nun die nationalsozialistischen Erziehungsziele im

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Die Unterteilung der Menschen in solche mit wertvollen, weniger wertvollen und wertlosen Erbanlagen, in solche mit hochwertigem oder minderwertigem „Blut" ist keine Erfindung der Nationalsozialisten, (siehe dazu auch Weyrather 1993, S. 11 ff.); allerdings machte erst der Nationalsozialismus aus dieser Auffassung eine Staatsdoktrin. 8 So sollte etwa der propagierte Gemeinschaftssinn die Grundlage für Kinderreichtum bilden, genauso aber auch der Rassegedanke, beide wiederum sind in Bezug auf den „Kampf in jeglicher

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Einzelnen aus? Bei Kindern im Vorschulalter wurde keine generelle Unterscheidung zwischen privater Familienerziehung und öffentlicher Kleinkindererziehung - etwa in Kindergärten - gemacht. Die Erziehung des Kleinkindes hatte konsequent, rational und an den Vorstellungen von Erwachsenen ausgerichtet zu sein (siehe dazu Chamberlain 1997 passim); besonders das „Verwöhnen" des Kindes im Sinne eines Eingehens auf seine Wünsche und Bedürfhisse war verpönt. Schon von zweijährigen Kindern wurden Tapferkeit (ebd., S. 110), stiller Verzicht und Selbstzucht erwartet (ebd., S. 120 f.). Ziel dieser Erziehung war der zukünftige Nationalsozialist (siehe dazu auch Berger 1986, S. 37-74). Auch die Einordnung in und die Unterordnung unter ein großes Ganzes sollte bereits dem Kindergartenkind beigebracht werden. Nicht das Individuum zählte, sondern die Gemeinschaft (Höltershinken 1987, S. 57). Der totalitäre Anspruch gegenüber dem Kind tritt klar zu Tage: als Einzelwesen hat es nur seinen Wert, solange und so weit es sich in ein übergeordnetes Gesamtes reibungslos und möglichst fördernd einfügt. Die Erziehungsziele der nationalsozialistischen Vorschulerziehung umfassten körperliche Sauberkeit, sportliches Spiel mit Wettbewerbscharakter und das Ableisten von kleineren und größeren „freiwilligen" Mutproben (Benzing 1941, S. 17 ff). Neben Tüchtigkeit im körperlichen Sinne und Mut sollten dem Kind auch Furchtlosigkeit anerzogen werden, ein entschlossener Charakter und „freudig" erfolgende Pflichterfüllung. „Wer aus Freude oder freudiger Überzeugung seine Pflicht tut, wird oft das Maß der Pflichterfüllung vergrößern" (Benzing 1941, S. 21). Das Hauptziel der nationalsozialistischen Kleinkindererziehung aber war es, in den Kindern die Liebe zum „Führer" zu wecken und weiter auszubilden (ebd., S. 41 ff.). 9 Da die Schule nach dem Elternhaus als wichtigstes Instrument der Sozialisation angesehen wird, ist es kaum verwunderlich, dass im totalitären Staat die Schule einschließlich ihrer Organisation und ihrer Lehrinhalte streng an den politischen Implikationen von Partei und Regierung ausgerichtet wird. So wurden auch bereits kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme (30. Januar 1933) die Schulen in Deutschland einer umfassenden Umstrukturierung unterworfen (siehe dazu auch Flessau 1987, S. 71 ff.). In der Schule begegnete die nationalsozialistische Ideologie den Kindern ständig und umfassend, nicht nur in Fächern, in denen man eine politische Erziehung erwartet, wie etwa im Geschichtsunterricht. Den jüngeren Kindern wurde vor allem Hitler als

Form zu sehen. Dieser Kampf wiederum - in dem sich Führer und Gefolgschaften gleichermaßen zu bewähren hatten - schafft erst die Möglichkeit dazu, dass ein rassisch wertvolles Volk sich behaupten kann. 9

Dass eine entsprechende Erziehung bereits im Elternhaus begann, wurde von nationalsozialistischen Pädagogen dabei fraglos vorausgesetzt.

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Freund und beschützender Übervater nahe gebracht, die Hilfsbereitschaft der Nationalsozialisten betont und die wichtige Rolle des Kindes und seiner Aufgaben innerhalb der „Bewegung" herausgestellt. Erst die zehnjährigen und die noch älteren Schüler hatten sich in der Regel explizit mit ideologischen und Rassefragen 10 zu beschäftigen. Auch diese Themen durchzogen alle Unterrichtsgebiete, wobei im Laufe der (Schul)Jahre entsprechende Texte in den Schulbüchern immer breiteren Raum einnahmen. Das Ziel der schulischen Erziehung im Nationalsozialismus war der „gläubige Volksgenosse", gehorsam, arisch, gesund, wehrtüchtig, dessen Erstes und Letztes Ziel es sein sollte, seinem Volk und vor allem dessen „Führer" in freudiger Pflichterfüllung selbstlos und aufopferungsvoll zu dienen. Die Jugendorganisation der Nationalsozialisten, die Hitlerjugend (HJ), etablierte sich in der heute bekannten Form erst im Frühjahr 1933; sie fußte auf älteren nationalsozialistischen Jugendgruppen (etwa dem NS-Schülerbund oder der Hitler-Jugend als Nachwuchsorganisation der SA), die zum Teil schon seit Beginn der 20er-Jahre existierten, aber in jener Zeit keinen besonders großen Zulauf hatten (Hellfeld/Klönne 1985, S. 17). Die HJ wuchs erst zur alles umfassenden Jugendorganisation heran, nachdem die meisten anderen Jugendverbände verboten oder gleichgeschaltet worden waren (ebd., S. 32 ff); ab dem Jahre 1936 war die Mitgliedschaft in der Staatsjugend für die Zehn- bis Achtzehnjährigen Pflicht. Mit der Aufnahme in die nationalsozialistische Jugendorganisation galt die familienzentrierte Kindheit als abgeschlossen. Anders als in der Gesetzgebung vorgesehen sollten die 10- bis 14-jährigen Jungen und Mädchen als Jugendliche und nicht als Kinder angesehen werden (Weber-Kellermann 1985, S. 198). Im Sinne anderer Jugendorganisationen betonte auch die HJ die Sonderrolle der Jugend, auf welche diese besonders stolz war. Dabei war die nationalsozialistische Jugendorganisation vorrangig im Sinne eines paramilitärischen Männerbundes jungenorientiert (siehe dazu Kinz 1990, besonders S. 114-124). Das zeigte sich vor allem in der strengen Geschlechtertrennung; es gab keinerlei gemeinschaftliche Unternehmungen von HJ und BDM. Die Sozialisation in der und durch die Jugendorganisation sollte Mädchen und Jungen schon auf ihre speziellen späteren Aufgaben im Erwachsenenleben vorbereiten: als „Hüterin der Art" einerseits, als „Wager und Kämpfer" andererseits (zum Frauenbild und 10

In den Schulbüchern fìlr die Unterstufe (1. bis 4. Schuljahr) wurde der nationalsozialistische Rassegedanke eher vorbereitend eingeführt: so wurde beispielsweise die vorbildliche „deutsche" Familie (Vater SA-Mann, kinderreich) betont in den Mittelpunkt der Lesebuchgeschichten gestellt; bei generalisierenden Aussagen wurde auf „alle deutschen Kinder" (Betonung auf „deutsch") verwiesen; der „deutsche Held", sowohl in der Form der Sagengestalt als auch in der des Weltkriegssoldaten (1914/18), wurde frühzeitig eingeführt etc. (siehe dazu Hasubek 1972, S. 138 f.).

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zur Mädchenerziehung 11 im Nationalsozialismus siehe Nyssen 1987 passim sowie Reese 1989 an vielen Stellen). Die Formen, in denen Mädchen und Jungen politische und ideologischen Fakten nahe gebracht werden sollten, unterschieden sich stark (siehe dazu Klaus 1983, besonders S. 64 f.). Das HJ-Mitglied entwickelte sich in offiziellen und öffentlichen Darstellungen - etwa auf Plakaten, Kinderbucheinbänden oder in Schulbuchillustrationen - zum Prototyp des deutschen Kindes überhaupt. Entsprechend uniformierte Kinder erschienen in Vorbildrollen bereits auf Fibelbildern, also Jahre bevor die kleinen Leser selbst überhaupt diese Kleidung tragen „durften". So sollten Hoffhungen und Erwartungen geweckt werden - die spätere Mitgliedschaft in der HJ lockte die Kinder bereits im Grundschulalter als Belohnung für fleißiges Lernen und Strebsamkeit. Mit der Zugehörigkeit zur HJ verbanden sich für die Kinder auch höchst konkrete, von der Propaganda genährte Erwartungen, den Regeln und Zwängen des Elternhauses durch den Eintritt in eine höherstehende Organisation - in der die eigenen Eltern nichts und andere Erwachsene kaum etwa zu sagen hatten zu entfliehen: „Für die Kinder und Jugendlichen sah es so aus, als hätten sie mit ihrem 10. Lebensjahr einen Status der Eigenbestimmung erreicht, losgelöst von der Familie, aber auch von Schule und sonstiger Erwachsenenwelt. Das war ein verführerisches Bewußtsein, das viele den weit härteren Gehorsamszwang unter ihre Führer übersehen ließ " (Weber-Kellermann 1985, S. 211).

IV. Die Erziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit" 1. Definitionen In der DDR war jedes in diesem Staat lebende und aufwachsende Kind einer planmäßigen Begleitung und einer „sozialistischen" Förderung seiner körperlichen, geistigen, politischen und auch moralischen Entwicklung unterworfen. 12

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Die Erziehung des Mädchens sollte vor allem dazu führen, aus dem „Mädel" eine kenntnisreiche und sparsame Wirtschafterin zu machen (Staemmler 1933, S. 152), es zu einer tüchtigen Arbeitskameradin ihres Mannes (ebd.) heranzuziehen und zu einer Mutter, die ihre kleinen Kinder im nationalsozialistischen Sinne moralisch und politisch förderte. 12 Der sozialistische Blickwinkel in der öffentlichen Erziehung wurde dabei bis zum Letzten Tag der DDR beibehalten. Deshalb änderte sich auch an den Aussagen diverser Quellen - offizielle Vorgaben, Handbücher für Erzieher, Schulbuchtexte, Kinderliteratur - im Verlaufe von 40 Jahren DDR nur wenig oder kaum etwas. Der einzige wirklich auffällige Bruch innerhalb dieser Entwicklung ist das Verschwinden Stalins aus der Galerie sozialistischer Vorbilder und Lichtgestalten. Darüber hinaus unterscheiden Aussagen aus den 50er Jahren sich kaum von solchen aus den 80er

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Bildung und Erziehung (in der DDR gerne als Doppelbegriff benutzt, siehe auch Kleines politisches Wörterbuch 1983, S. 137 f.) waren gerichtet „ auf die Herausbildung der sozialistischen Weltanschauung und Moral [ 1 3 ; S.G.] sowie eines entsprechenden Verhaltens" (ebd., S. 137). Dabei sollen die Bildungsund Erziehungsziele der „revolutionären Arbeiterklasse" verwirklicht werden, nämlich Erziehung der .Jugend im Geiste des Klassenkampfes, des Friedens, des Humanismus und des Sozialismus" (ebd.). Die Einhaltung und Erfüllung der plangerechten sozialistischen Erziehung sollte zu einem ganz bestimmten Ziel fuhren - zur Entwicklung der „sozialistischen Persönlichkeit". „Erst in der sozialistischen Gesellschaft werden mit der Errichtung der politischen Macht der Arbeiterklasse, der Herausbildung sozialistischer Produktionsverhältnisse, der Beseitigung der Ausbeutung, der Aufhebung des Klassenantagonismus und der Einbeziehung aller Werktätigen in die Leitung und Planung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung die Voraussetzungen geschaffen, daß alle Werktätigen sich zu sozialistischen P. entwickeln können, zu Menschen, die durch ihr produktives, politisches, geistig-kulturelles und moralisches Verhalten nicht nur auf ihren gesellschaftlichen Prozeß einwirken, sondern ihn in sozialistischen Kollektiven immer bewußter beherrschen und ihren Interessen gemäß gestalten" (Kleines politisches Wörterbuch 1983, S. 730 f.).

2. Der sozialistische Kindergarten Der Kindergarten der DDR verstand sich stets erst in zweiter Linie als ein begleitendes öffentliches Angebot zur Ergänzung der primären Sozialisation in der Familie. Vielmehr sollte der Kindergarten die Erziehung der Kinder im Vorschulalter umfassend übernehmen, sie neu gestalten und vorrangig dazu dienen, die in einer sozialistischen Umwelt aufwachsenden Kinder bereits in diesen frühen Lebensjahren forciert zu überzeugten Mitgliedern einer neuen sozialistischen Gesellschaft zu sozialisieren (Hoffmann 1997; siehe dazu auch Waterkamp 1987, S. 77 ff.). Das Prinzip sozialistischer Kleinkindererziehung verstand sich anfangs betont als umfassender Gegensatz zu den noch kurze Zeit

Jahren, was zum Teil auch darauf zurückzuführen ist, dass ältere Texte immer wieder verwendet wurden und die gesamte Diktion im Großen und Ganzen unverändert blieb. 13

iyDie sozialistische M. [Moral; S.G.] stellt objektiv eine qualitativ neue Stufe in der M. dar. Sie beruht auf den sozialistischen Produktionsverhältnissen, die durch gegenseitige Hilfe und kameradschaftliche Zusammenarbeit gekennzeichnet sind. [...] Die Werte, Prinzipien und Norme der sozialistischen M. haben eine große erzieherische Bedeutung für die Entwicklung der sozia listischen Persönlichkeit" („Kleines politisches Wörterbuch... „ 1983, S. 629).

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zuvor die öffentliche Erziehung beherrschenden nationalsozialistischen Erziehungsformen und -zielen. „Die inhaltlich zwar weitgreifende, in ihrer ideologischen Ausdeutung aber [...] dogmatisch auf die SED festgelegte Konzeption [gemeint ist die des Kindergartens in der SBZ/DDR; S.G.] zeigte das ganze Dilemma der hiermit [...] verbundenen folgenden Umerziehungsbemühungen in der DDR. Einerseits sollte die nationalsozialistische Erziehungsideologie bekämpft werden, gleichzeitig setzte die SED der Gehorsamsideologie der Faschisten keine demokratische Konzeption entgegen, die in öffentlicher Auseinandersetzung entwickelt wurde und deren Erarbeitung ein für alle Beteiligten tragbares Modell hätte sein können" (Höltershinken/Hoffmann/ Prüfer 1996, S. 375).

Bei der inneren und äußeren Gestaltung des Kindergartenalltags in der SBZ/ DDR sollten nun endlich die sozialistischen Erziehungstheorien der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt und mit Leben gefüllt werden. Allerdings wurden in diesem Zusammenhang besonders „schockierende" Forderungen der kommunistischen Pädagogen der Weimarer Zeit abgeschwächt und zu „Missverständnissen" erklärt: Wenn etwa der »kommunistische Schulpolitiker Dr. Fritz Ausländer" (Hohendorf 1969, S. 304) verlangt hatte, das proletarische Kind ganz aus der Ursprungsfamilie herauszunehmen und in einer „Kinderkommune" zu erziehen (ebd., S. 305), in der die leiblichen Mütter nur noch die Funktion einer pflegenden „Helferin" übernehmen sollten (von den Vätern war überhaupt nicht die Rede), so wiegelt der DDR-Pädagogikhistoriker Hohendorf diese Vorschläge dahingehend ab, „daß die Kommunisten für das harmonische Zusammenwirken von öffentlicher Erziehung und Familienerziehung eintreten, sobald die gesellschaftlichen Verhältnisse eine solche Zusammenarbeit erlauben" (ebd.), in anderen Worten, sobald auch das alltägliche Umfeld des einzelnen Kindes ein durchweg sozialistisches war. Ziel der sozialistischen Pädagogik war aber auf jeden Fall die Erziehung des einzelnen Kindes zur „sozialistischen Persönlichkeit". „Der Kindergarten ist die Einrichtung, die den Kindern im Vorschulalter bewußt und zielstrebig die Beziehung zum sozialistischen Leben maximal ermöglicht. [...] Der Kindergarten sorgt dafür, daß die Kinder in ihrem täglichen Leben die Übereinstimmung der gesellschaftlichen Forderungen mit ihren persönlichen Bestrebungen erleben und selbst auch anstreben. So können sie sich zu sozialistischen Persönlichkeiten entwickeln" (Zur Arbeit... 1975, S. 15).

Die in der SBZ/DDR maßgeblichen politischen Stellen beriefen sich bei der Neugründung von „sozialistischen" Kindergärten auf die klassischen sozialistischen Erziehungsvorgaben, die die sozialistische Kindergartenerziehung von jeder anderen Form der Vorschulerziehung abgrenzen sollten. Aus wirtschaftlichen und politischen Gründen konnten diese Ansätze allerdings weder im

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Kaiserreich noch in der Weimarer Republik verwirklicht werden. Einige der Forderungen der sozialistischen Pädagogen sollen vorgestellt und mit der Erziehungswirklichkeit im Kindergarten der DDR verglichen werden: Dezentralisierung der Leitungskompetenz und Abbau von Kontrollen in Einrichtungen. In der DDR wurden die Ziele der Kindergartenerziehung in der Kindergartenordnung (Hoffmann 1997, S. 24) zentral festgelegt, was dem Dezentralisierungsanspruch der frühen sozialistischen Pädagogen zuwiderlief. Zudem standen auch die Inhalte des Kindergartenalltags unter ständiger staatlicher Kontrolle, da vorgegebene „Pläne" befolgt und erfüllt werden mussten. Ablehnung sozialistischer Gesinnung als Lehrinhalt 14 (das meint Ablehnung ideologischer Erziehung und Schulung). In der DDR war der öffentliche Erziehungsalltag vom Krabbelalter an von ideologischer Begleitung und Schulung geprägt. Ob nun der Tag der Oktoberrevolution gefeiert wurde oder der Geburtstag der Republik, ob die Kleinen das Leben des Staatsratsvorsitzenden kennen lernten oder das „sozialistischer Helden", ob sie Fähnchen mit den Symbolen der DDR und anderer sozialistischer Staaten bastelten oder ins Kindermanöver zogen, ob sie aus Bauklötzchen eine Kaserne bauten oder Geschichten von tapferen „Sternchensoldaten" (den Angehörigen der Sowjetarmee, die einen roten Stern an der Mütze trugen) erzählt bekamen - die politische Erziehung und die ideologische Ausrichtung des Kleinkindes waren in der DDR allgegenwärtig. Mitbestimmung für die Eltern: Auf die Bildungsinhalte des Kindergartens hatten die Eltern in der DDR keinen Einfluss. Da es auch keine Trägerpluralität gab (mit Ausnahme von wenigen kirchlichen Einrichtungen), hatten die Eltern sich mit der Erziehung ihrer Kinder zu „sozialistischen Persönlichkeiten" abzufinden. Elterlichen Einwänden - etwa gegen die forcierte frühmilitärische Erziehung - wurde mit dem Argument begegnet, so stehe es im Plan und der sei Gesetz. Besonders auffällig aber war die Diskrepanz zwischen den angegeben Erziehungszielen und dem alltäglichen Kindergartenalltag auf einem weiteren Gebiet: Ablehnung von Personenkult (z.B. Fürsten Verehrung). Allerdings können nicht nur Fürsten im Sinne des Personenkults verehrt werden (wie es etwa schon im Nationalsozialismus bei der Umdeutung und der Stilisierung des „Führers" zu einem übermenschlichen Wesen zu sehen war). In den frühen Jahren der DDR aber entwickelte sich ein Personenkult, der in seinem Umfang und seiner Grenzenlosigkeit jedes - zumindest im deutschen Kulturraum - bisher bekannte 14 Sozialistische Pädagogen gingen bei dieser Vorstellung davon aus, dass eine direkte politische Erziehung die Kinder im Vorschulalter einerseits zum gedankenlosen Nachplappern animieren, zum anderen wegen der komplizierten Inhalte langweilen und abstoßen würde. Eine insgesamt sozialistische Lern- und Lebensumwelt sollte die Kinder dagegen „automatisch" zu überzeugten Sozialisten mit entsprechender Persönlichkeit heranwachsen lassen.

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Maß überschritt. Bis in die Mitte der 50er Jahre war der zu bewundernde H e l d vor allem Stalin, dem man sich in einem heute kaum noch vorstellbaren Byzantinismus näherte. I m Kindergarten w i r d Stalins 70. Geburtstag (1950) gefeiert: „Schon seit Wochen haben wir unsere Kleinen im Kindergarten auf diesen großen Tag vorbereitet. Jeden Tag brachten wir ihnen Zeitungen und Zeitschriften mit Bildern von Stalin, bis sie selbst anfingen, uns Zeitungen zu bringen, und manchmal sogar Vatis Zeitung entwendeten. Diese Bilder schnitten sie aus, und zwei Tage vor dem Geburtstag wurden sie aufgeklebt. Jedes Kind sagte etwas zu Stalin: Stalin wohnt in Rußland. Stalin ist ein Sowjetmensch. Stalin ist ein lieber Mann und Stalin bringt uns den Frieden. Wir freuen uns auf Stalin sein Geburtstag und gratulieren ihm. - Arian Mode, 6 Jahre [...] Stalin ist ein Vater. Die Russen sagen Väterchen. Er wohnt in Rußland. Stalin hat die Kinder am liebsten. Stalin hat alle Kinder gern. - Angela Breuer, 5 Jahre Stalin hat einen Bart und schwarze Haare, Stalin hat Kindergärten und Betten gebaut, und er läßt Häuser bauen. Stalin hat alle lieb. Stalin hat auch Soldaten, die kämpfen fürn Frieden. - Helga Schmidt, 5 Jahre Stalin hat Frieden gemacht. Stalin ist ein großer Mann. Stalin macht Frieden nicht nur für Rußland, sondern auch für Deutschland. Stalin ist ein Russe und hat alle Kinder lieb. Stalin hat alle Menschen lieb. Stalin hat Rußland und Deutschland aufgebaut [...]- Silke Just, 6 Jahre [...] Bald war der große Tag da. Die schönsten Blumen wurden auf den Tischen verteilt. An der Spitze des Tisches saß Stalin, sein Bild umkränzt und der Platz von sieben großen weißen Kerzen umrahmt. [...] Dann steigt ein Kind auf das Rednerpult, das heißt auf einen Stuhl dahinter und spricht: 4 Stalin hat heute Geburtstag. Stalin ist ein Sowjetmensch. Er wohnt in der Sowjetunion, er ist ein lieber Mann. Stalin hat Geburtstag. Wir wollen ihm was schenken. Wir versprechen, daß wir dich so lieb haben, wie du uns hast.' Nur wenige Worte in kindlich faßbarer Form genügten jetzt, um ihnen das Bild Stalins abzurunden und es unvergeßlich in ihre Herzen einzugraben [...] Wo immer die Kleinen während dieser Zeit auftauchen, sprechen sie von Stalin, zu Hause, in der Elektrischen, auf der Straße ein Jubel, wenn sie sein Bild sehen. Nach dem Weihnachtsferien kommt die zweijährige Gisela zu uns, streckt ihr Fingerchen aus und ruft begeistert T a l i n ' , als sie sein Bild erblickt. Möge er ihnen immer Lehrer und Freund bleiben. Dafür wollen wir sorgen" (Jenny Gertz: Stalin 70 Jahre alt. In: „Die Kindergärtnerin", 3/1950, S. 21 f.; zitiert in Spittmann/Helwig 1991, S. 30 f.). Ein weiteres V o r b i l d schon für Kindergartenkinder, dem im Gegensatz zu Stalin allerdings bis zum Ende der D D R gehuldigt wurde, blieb Ernst Thälmann, genannt „ T e d d y " , der für Kinder aufbereitet der Held zahlloser süßlicher Geschichten war, etwa als liebevoller Familienvater oder kluger Freund und

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Spielkamerad, der schon als Kind seine sozialistische Sendung erkennen ließ (siehe dazu etwa die Lesebuchgeschichte „Haltet zusammen!" für das 3. Schuljahr; zitiert in Bundesministerium... 1966, S. 120). Im Zusammenhang mit der politischen Erziehung der Kleinkinder erschien es ebenfalls wichtig, dass die Kindergärtnerin ihren Zöglingen als Vertreterin der staatstragenden Ideologie entgegentrat. „Eine wichtige Aufgabe der Erzieherin ist es deshalb, den Kindern gegenüber ihren eigenen Klassenstandpunkt [das meint ihre sozialistische Überzeugung; S.G.] zum Ausdruck zu bringen" (Zur Arbeit ... 1975, S. 20). Dabei kam es im Bereich der politischen und ideologischen Erziehung der Kindergartenkinder vor allem auf vier Schwerpunkte an: 1. auf die Bewunderung der auf allen nur denkbaren gesellschaftlichen, politischen, militärischen und wissenschaftlichen Gebieten vorbildlichen Sowjetunion und auf die Völkerfreundschaft mit anderen sozialistischen Staaten: „Den Kindern ist nahezubringen, daß die Sowjetunion das erste Land ist, das den Sozialismus aufbaut. Sie erfahren mehr über die Heimat der sowjetischen Kinder, daß sie sich dort wohl fühlen, weil sie, wie die Kinder in der DDR, in Glück und Frieden leben, und daß sie den Internationalen Tag des Kindes so fröhlich begehen wie wir. Die Kinder sollen einiges über die Lebensweise der Kinder erfahren (Spielzeug und Spiele, Sprache, Lieder und Tänze, Kleidung, Speisen u.a.)" (Ministerium fur Volksbildung 1986, S. 127).

2. auf die Liebe zur sozialistischen Heimat DDR: „Das folgende Beispiel soll andeuten, wie man die erzieherische Absicht mit einem sinnvollen Spielinhalt verbinden kann. Sie besteht darin, die Kinder mit dem Feiertag der Werktätigen [gemeint ist der 1. Mai; S.G.] vertraut zu machen, sie sollen lernen, daß die Arbeiter sich auf diesen Tag freuen und ihn festlich begehen. Dazu gehört daß sie ihre Häuser und Fabriken schmücken und an der Maidemonstration teilnehmen" (Borde-Klein 1974, S. 63 f.; es handelt sich hier um die Planung eines Stücks für das Kasperletheater).

3. auf die Verehrung der eigenen und der anderen sozialistischen Staatsfuhrer. 4. auf den zu entwickelnden Hass der Kinder auf die Feinde des Sozialismus. Zur obligatorischen Hasserziehung gehörte eine umfassende kriegsverherrlichende Erziehung in den DDR-Kindergärten (natürlich wurden nur die „gerechten" Kriege, die sozialistische Staaten führten, gerechtfertigt). Dabei wurde das für den Kindergarten typische Kinderspiel, etwa das Bauen, gegebenenfalls im Sinne frühmilitärischer Gewöhnung genutzt. „Fünf Kinder der älteren Gruppe bauen an einem großen Komplex für die N V A . Zwei Kinder bauen den Garagenhof, zwei die Kasernen und ein Mädchen den

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großen Kasernenhof. Uwe schaut sich die Wandzeitung mit Bildern von der N V A an und meint zu Martin: 'So was müssen wir noch bauen, wo die Soldaten auf dem Bauch kriechen müssen.' Er zeigt ihm das entsprechende Bild. Martin: 'Das ist ein Sportplatz, wo sie turnen und üben. So viel Platz haben wir nicht. Der war bei unseren Soldaten auch so groß.' Uwe: 'Da bauen wir eben einen kleinen Sportplatz oder nur den Schießstand.' Die Erzieherin verfolgt dieses Gespräch, und als Uwe enttäuscht dasitzt und die anderen Kinder an ihren Objekten weiterbauen, sagt sie: 'Martin hat recht, so viel Platz habt ihr hier nicht mehr. Macht es so, wie Uwe es vorschlägt, baut einen Schießstand. Denkt aber daran, was uns die Soldaten über den Schießstand erzählt haben!' . Jörg: 'Wir müssen eine Mauer darum bauen, damit nichts passiert.' Erzieherin: 'Richtig, und vergeßt nicht, das Gebäude zu bauen, in dem alle Waffen eingeschlossen und bewacht werden.'" (Aufgaben und Übungen ... 1980, S. 83 f.).

Aber auch jenseits auf den ersten Blick erkennbarer ideologischer Einfärbung wurde das Spiel im Kindergarten der DDR im staatstragenden Sinne funktionalisiert. Nicht nur, dass die Erzieherinnen häufig in das Kinderspiel eingriffen, um es in die richtigen Bahnen zu lenken (siehe dazu „Zur Arbeit..." 1975, passim). Auch die Inhalte des kindlichen Rollenspiels entwickelten sich zu nur wenigen stereotypen Varianten, woran vor allem dem Verhalten der Erzieherinnen die Schuld gegeben wurde. Diese Kritik erscheint in der Sache begründet, doch wurde den Kindergärtnerinnen die Verantwortung für Zustände zugeschrieben, die durch Planvorgaben bedingt waren, nach denen die Erzieherinnen sich richten mussten. Bei Kindern, die zum Kollektiv zu erziehen sind, werden individuelle Strebungen und originelle Einfälle eben ungern gesehen und möglichst abgeblockt (siehe dazu auch Israel 1997, S. 85). Das stereotype Kinderspiel im Kindergarten der DDR war ganz offensichtlich der grundlegenden Ideologie geschuldet und nicht dem Versagen der einzelnen Erzieherin anzulasten. Um schon beim Kindergartenkind eine „sozialistische Persönlichkeit" hervorzurufen, setzte die Pädagogik der DDR auf eine ungute Mischung von Drill und permanenter Gängelei, von Entwürdigung all derer, die sich diesen Vorgaben nicht widerspruchslos beugten, von Unterstützung kleinkindlicher Allmachtsphantasien (pseudo-wichtige „politische" Mitwirkung) und von mehr oder weniger subtilen Drohungen vor überall heimtückisch lauernden Feinden, die kindlichen Ängsten vor dunklen Gestalten sehr entgegenkamen.

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3. Die sozialistische Schule „Ziel und Aufgaben der deutschen Schule Die deutsche demokratische Schule soll die Jugendlichen zu selbständig denkenden und verantwortungsvoll handelnden Menschen erziehen, die fähig und bereit sind, sich voll in den Dienst der Gemeinschaft des Volkes zu stellen. Als Mittlerin der Kultur hat sie die Aufgabe, die Jugend frei von nazistischen und militaristischen Auffassungen im Geiste des friedlichen und freundschaftlichen Zusammenlebens der Völker und einer echten Demokratie zu wahrer Humanität zu erziehen. Sie wird, ausgehend von den gesellschaftlichen Bedürfhissen, jedem Kind und Jugendlichen ohne Unterschied des Besitzes, des Glaubens oder seiner Abstammung die seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechende vollwertige Ausbildung geben" (Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule vom 22. Mai 1946, § 1; zitiert in Spittmann/Helwig 1989, S. 196; Hervorhebung S.G.).

So also sahen die idealistischen Ziele der neuen sozialistischen Schule in der damaligen SBZ aus: Erziehung des heranwachsenden Kindes zu einem Individuum, das trotz aller individuellen und umfassenden Förderung all seiner Begabungen freiwillig der übergeordneten „Gemeinschaft des Volkes" dienen will (wobei dieser „Dienst an der Volksgemeinschaft" im Jahre 1946 keine besonders originelle oder gar ungewohnte Forderung gewesen sein dürfte), dabei aber gleichzeitig friedliebend ist und mit allen Völkern Freundschaft hält (zumindest mit allen sozialistischen). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem zweierlei: zum einem die offensichtliche Vorrangigkeit der gesellschaftlichen Bedürfnisse vor denen der Pädagogik, der Schule als solcher oder gar der Schüler, zum anderen die offenkundige Lüge, dass die soziale Herkunft des Kindes keine Rolle für seinen schulischen und beruflichen Werdegang spielte. Das wurde geschrieben in der SBZ zu einer Zeit, in der Landbesitz einer bestimmten Größenordnung als Beweis für begangene Kriegsverbrechen des Eigentümers galt und als Kinder in der Schule entsprechend ihrer sozialen Herkunft nach den Kategorien „ A " (Arbeiter), „ B " (Bauern) und „S" (Sonstige, was ein Stigma war; siehe dazu Spittmann/Helwig 1989, S. 194 und Häder 1994 passim). Die sozialistische Einheitsschule der SBZ/DDR war wie der Kindergarten strengen Planvorgaben unterworfen, denn sie hatte nicht nur Kindern Bildung zu vermitteln, sondern zunächst einmal etwas zu beweisen: die Überlegenheit des sozialistischen Systems. Und so waren nicht nur die Lerninhalte und die Unterrichtsgestaltung den staatlichen Plänen unterworfen, sondern auch die Notengebung. 99 % der Schüler hatten ihre Abschlussprüfung zu bestehen, davon über die Hälfte mit den Bewertungen „Ausgezeichnet", „Sehr gut" und „Gut" (Helwig 1988, S. 23). Eine Klasse wiederholen durften höchsten 1,5 % der Schüler; lag die Quote der Sitzenbleiber über diesem Sollwert, so hatte der 3 Mertens

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Lehrer mit unangenehmen Nachfragen zu rechnen (ebd.). Deshalb sahen sich die Pädagogen an den Schulen der DDR häufig gezwungen, entweder die tatsächlichen Ergebnisse in Richtung der staatlichen Vorgaben zu „modifizieren" oder den Unterricht auf einem Niveau ablaufen zu lassen, das begabte Schüler permanent unterforderte. In den Anfangsjahren kam zum allgemeinen Mangel - es gab weder Schulbücher noch ausreichend Material für die Kinder - ein umfassender Lehrermangel hinzu, da in der SBZ/DDR umfassend entnazifiziert worden war und so die meisten Lehrer ihre Stellen verloren hatten. In Schnellkursen ausgebildete Neulehrer rückten nach - oft mit wenig überzeugenden Resultaten, da diesen Menschen - bei allem guten Willen - häufig die elementarsten pädagogischen Kenntnisse fehlten und sie zudem gezwungen waren, ihre Schüler im Sinne sozialistischer Propaganda zu unterrichten. Denn auch in der Schule war die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit das erklärte Ziel. Die Schule in der SBZ/DDR erwies sich dabei durchaus nicht als eine Reformschule im Sinne sozialistischer Pädagogen der 20er Jahre, sondern als eine Lernschule klassischer Tradition, in der die Schüler auf Anfrage erlerntes Wissen wiederzugeben hatten. Eigene Überlegungen, die über den Rahmen des „Belege, dass..." (und zwar ausschließlich anhand von Informationen, die entweder vom Lehrer selbst, aus den Schulbüchern oder aber aus der DDR-Presse und anderen offiziellen oder offiziösen Veröffentlichungen stammten) hinausgingen, waren dabei unerwünscht. Die Kinder hatten zu akzeptieren, dass sie in einem Land lebten, das man sich besser und schöner nicht denken konnte, dass sie keinerlei Sorgen hatten und dass sie umfassend beschützt wurden. Und dass überall außerhalb der Grenzen dieses schönen friedlichen Landes schreckliche Feinde lauerten, die ihnen dieses gute und im positiven Sinne beneidenswerte Leben nicht gönnten. Schon die Fibeltexte der DDR beschäftigten sich mit diesem Problemkreis. „Wir wollen in Frieden leben. Vater sitzt am Fenster. Er liest in der Zeitung. 'Warum machst du so ein böses Gesicht, Vati?' - 'Weil böse Menschen wieder einen Krieg anfangen wollen, Renate. Als ich zur Schule ging, war auch Krieg. Dörfer und Städte wurden zerstört. Viele Menschen mußten dabei sterben. Möbel und Kleider verbrannten. In der Stadt hungerten die Menschen. Oft konnten wir nicht in die Schule gehen. Wir lernten wenig. Krieg ist schrecklich! Alle guten Menschen lieben den Frieden.' Bernd und Renate lauschen. Mutter sagt: 'Wie gut haben wir es jetzt im Frieden! Keiner braucht mehr zu hungern. Alle Häuser in unserer Straße wurden neu gebaut. Wir haben uns schöne Möbel gekauft. Vater fährt auf seinem Moped zur Arbeit. Ihr lernt in unserer Oberschule. Wenn ihr groß seid, werdet ihr Bauern in der LPG oder Traktorist, Schlosser, vielleicht auch Lehrer oder Tierarzt. Das ist aber nur möglich, wenn wir Frieden behalten.' Vater sagt: 'Aber fur den Frieden müssen wir etwas tun. Darum bin ich in der Kampfgruppe, darum ist Onkel Gerd Soldat in unserer

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Volksarmee. Wir schützen euch und unsere Deutsche Demokratische Republik!' (Wir lernen ... 1959, S. 118 f.).

Eine solche Haltung ist nicht ausschließlich sozialismustypisch, sondern bereits auf der Ebene der totalitären Systeme generell angelegt. Eine völlig unkritische Einstellung gegenüber der eigenen Ideologie, die Kritik auch nur am kleinsten Detail schon zu einem Verbrechen werden lässt, verknüpft mit paranoiden Verschwörungstheorien über ständig und überall lauernde Feinde, gegenüber denen nur ständige misstrauische Wachsamkeit und Wehrbereitschaft helfen, begegnen uns - ebenso wie der Wunsch, Kinder zu treuen Gefolgsleuten zu erziehen -, schon bei den Hauptvertretern der Französischen Revolution. Typisch sind auch die Berufung auf „Vernunft" und „Wissenschaft"- wie unvernünftig und unwissenschaftlich der jeweilige Herrschaftsentwurf auch immer sein mag, sowie die den jeweils Herrschenden zugeschriebene Allwissenheit. Die öffentliche Erziehung in der SBZ/DDR war ebenfalls von diesen Maximen geprägt. Das war im Kindergarten nicht anders als in der Schule, und so war es auch in der pseudo-freiwilligen Jugendorganisation der DDR - der FDJ.

4. Die Jugendorganisation „Freie Deutsche Jugend (FDJ): einheitliche sozialistische Massenorganisation in der DDR [...]. Die FDJ setzt die Traditionen der revolutionären deutschen Arbeiterjugendbewegung fort und mobilisiert die Jugend für die aktive Teilnahme an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Sie arbeitet unter Führung der SED und betrachtet sich als deren aktiver Helfer und Kampfreserve. Grundlage fur ihre gesamte Tätigkeit sind das Programm und die Entschlüsse der SED. Es ist die wichtigste Aufgabe des Jugendverbandes, der Partei zu helfen, standhafte Kämpfer fur die Errichtung der kommunistischen Gesellschaft zu erziehen. [...] Anliegen des Jugendverbandes ist es, alle Jugendlichen zu gewinnen, sich mit ganzer Kraft für die allseitige Stärkung der DDR, die weitere Festigung des Bruderbundes mit der Sowjetunion, die Annäherung zwischen den Ländern und Nationen der sozialistischen Gemeinschaft, die Verteidigung des Sozialismus sowie für anti-imperialistische Solidarität einzusetzen" (Kleines politisches Wörterbuch... 1983, S. 267).

Eine möglichst frühe Einvernahme der Kinder und Jugendlichen für die eigene Ideologie war und ist eines der Hauptanliegen totalitärer Regime überall in der Welt. Dabei spielen neben - oder besser noch vor - Schule und Elternhaus staatlich gelenkte Jugendorganisationen die wichtigste Rolle bei der politischen Sozialisation. Um die Jugend im gemeinten Sinne für die eigene Ideologie einnehmen zu können, werden bei der Jugenderziehung im totalitären Staat keine Konkurrenzunternehmen geduldet (siehe dazu Ansorg 1997, S. 123-134 und 3*

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S. 183-187). Sollte es andere Jugendorganisationen bereits vor der eigenen Machtübernahme gegeben haben, so werden diese entweder der staatlichen Jugendorganisation einverleibt oder einfach verboten und mit entsprechenden harten Sanktionen verfolgt. Totalitäre Jugendorganisationen geben sich dabei in der Regel durchaus Mühe, ihre Gemeinschaft nicht als drückende Verpflichtung, sondern als verlockendes Angebot erscheinen zu lassen. So wird das Gefühl des Aufgehobenseins in einem umfassenden Ganzen gefordert, die Gemeinschaft mit gleich gesinnten Freunden betont und nicht zuletzt die Überzeugung geweckt, durch die Mitgliedschaft in einer staatlichen Jugendorganisation eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen (siehe dazu auch Klaus 1983, S. 74 f. u. Schelest 1970, S. 63 ff. sowie Ansorg 1997, bes. S. 99-122). Durch den Wegfall aller anderen Organisationsmöglichkeiten gewinnt der Staat zwei nicht zu überschätzende Vorteile: zum einen hat er die Kinder und Jugendlichen ideologisch weitgehend unter Kontrolle, zum anderen ist er der Einzige, der jungen Menschen überhaupt attraktive Freizeitmöglichkeiten bieten kann und erscheint so später in der Erinnerung als die Instanz, die jenseits aller Ideologie und jenseits aller politischen Indoktrination fröhliche Kindertage bescherte. Wie in totalitären Systemen üblich, gab es auch in der DDR nur eine einzige offiziell erlaubte und zugelassene Jugendorganisation: die FDJ. Spätestens seit dem Jahre 1948 wurde der Monopolanspruch der FDJ durchgesetzt (Mählert 1995, S. 280-345; Mählert/Stephan 1996, S. 64). Über verschiedene Vorstufen hinweg entwickelte sich die FDJ bis zum Jahre 1952 zur Einzigen in der DDR erlaubten Jugendorganisation, die möglichst alle 6- bis 25-jährigen erfassen sollte. Mit diesen Altersgrenzen von sechs und fünfundzwanzig Jahren wurde weit über das zuvor Übliche - in der Regel wurden Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 18 beziehungsweise 21 Jahren in Jugendorganisationen erfasst - hinausgegriffen. Die Mitgliedschaft in der FDJ begann praktisch mit der Einschulung. „Wenn die Eltern ihre Kinder zum Schulbesuch anmelden, dann sprechen zumeist auch Mitglieder des Elternbeirates und Pionierleiter mit ihnen. Sie erzählen von den Traditionen der Pionierfreundschaft und von den Aufträgen, die die Jungpioniere erhalten. [...] Auf diese Weise eingestimmt, nehmen viele Eltern den Tag [gemeint ist der Tag der Aufnahme der Kinder in die Pionierorganisation; S.G.] so ernst, wie das die neu aufgenommenen Jungpioniere erwarten. In manchen Familien gibt es an diesem Tag Kakao und Kuchen oder ein kleines Geschenk - wie an einem Geburtstag" (Schniggenfittich 1982, S. 23).

Die FDJ-Mitgliedschaft endete - zumindest theoretisch - erst in einem Alter, in dem dann - ebenfalls theoretisch - der Parteieintritt anstand. Grundsätzlich

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war die Mitgliedschaft in den verschiedenen Organisationen der FDJ 1 5 freiwillig, doch führte eine Nichtmitgliedschaft das einzelne Kind und den einzelnen Jugendlichen rasch in eine Außenseiterrolle, schloss sie von vielen Unternehmungen der Mitschüler und Spielkameraden aus und versperrte - da als Beweis für mangelnde politische Überzeugung angesehen - den Weg zu einer Vielzahl von Ausbildungsgängen, Berufen und Karrieren. Der Jugendliche im sozialistischen Staat, gerne auch „der junge Mensch" genannt, (hierbei sind die Kinder immer mitzudenken), war „mit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung auszustatten" (Schelest 1970, S. 101). Diese Weltanschauung umfasste „hohes Klassenbewußtsein und ideologische Überzeugung, Treue zur Sache der Kommunistischen Partei, Standhaftigkeit und Unversöhnlichkeit im Kampf für die revolutionäre Umgestaltung der Welt' (ebd.). Zu entwickeln waren ferner , JClassenhaß gegen Unterdrücker und deren Handlanger, gegen die bürgerliche Ideologie und Moral" und Internationalismus", der allerdings verbunden sein sollte mit „sozialistischem Patriotismus" (ebd., S. 102), was ihm rasch den Anschein eines klassischen, mit Sendungsbewusstsein kombinierten Nationalismus' verlieh. Zudem war der junge Sozialist auch schon im kindlichen Alter zu einem überzeugten und bewussten Kämpfer für seine eigene ideologische Anschauung zu erziehen. Dieser Kampf war in den Augen seiner Apologeten immer ein gerechter, da er der Verteidigung und der Verbreitung der guten kommunistischen Sache diente. Er konnte sich sowohl im Rahmen der Selbsterziehung abspielen oder auf dem Gebiet der Moral, der Ideologie und der politischen Überzeugung als auch ganz konkret gemeint auf dem Schlachtfeld; denn für uneinsichtige Klassengegner blieb nur die Vernichtung. Zu einer solchen Handlung bereit sollte der sozialistisch sozialisierte DDR-Jugendliche jederzeit sein. Der Minister für Staatssicherheit der DDR, Erich Mielke, erklärte, wie er sich den idealen jungen Kommunisten vorstellte: „ Man muß solche jungen Tschekisten [gemeint sind damit eigentlich Mitarbeiter der Tscheka, der Vorläuferorganisation des sowjetischen KGB; Mielke versteht hier unter Tschekisten weitergefaßt glühende Kommunisten, die zur Ehre ihrer Ideologie zu allem bereit sind; S.G.] heraussuchen, herausfinden und erziehen, daß man ihnen sagt, du gehst dorthin, den erschießt du dort im Feindesland. Da muß er hingehen und selbst, wenn sie ihn kriegen, dann steht er vor dem Richter und sagt: >Jawohl, den hab ich im Auftrag meiner proletarischen Ehre erledigt! < So muß das sein. Das sind die Aufgaben der FDJ " (Mielke 1979, zitiert bei Körting 1997, S. 126).

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Zur Kinderorganisation der FDJ zählten die Jungpioniere (sechs bis neun Jahre alt) und die Thälmann-Pioniere (zehn bis dreizehn Jahre alt). Erst die Vierzehnjährigen und die noch älteren Jugendlichen bildeten die eigentliche Freie Deutsche Jugend.

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Untereinander hatten die Kinder und Jugendlichen sich als Kameraden zu bewähren; Kollektivmitglieder - auch die Pionier- oder FDJ-Gruppe war ein Kollektiv - sollten Freunde sein, eine Vorgabe, die in dieser Ausschließlichkeit zu Problemen führen musste, da Freundschaft von einer ganz anderen emotionalen Qualität ist als Kameradschaft. Dass das sozialistische Kind, der sozialistische Jugendliche ein guter Schüler zu sein hat und mit Verlangen und Begeisterung lernt, rundet das Bild vom vollkommenen jungen Menschen ab. Das Leben und Lernen in der Pionierorganisation und in der FDJ waren streng und plangerecht durchorganisiert. Den Kindern und Jugendlichen wurden Aufgaben zugewiesen, sie hatten Pflichten zu erfüllen, und auch das, was man als Unterhaltung bezeichnen könnte: Lesen, Basteln, gemeinsame Spiele diente in erster Linie der Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit. Zwei Beispiele sollen das näher illustrieren. Das Erste stammt aus dem Jahre 1958 und zeigt das Programm für acht- und neunjährige Kinder, in der Pionierorganisation. Es handelt sich hierbei nicht um Vorschläge, sondern um ein zu absolvierendes Pflichtprogramm. „Viel hast Du als Jungpionier in Deiner Gruppe schon erlebt. Die Aufgaben der dritten Pionierstufe werden Dir sicher noch größere Freude machen. Zum Abschluß bekommst Du das dritte Sputnikabzeichen. Führe mit Deiner Gruppe zum Geburtstag Ernst Thälmanns eine Gruppenfeier durch. Laß Dir von alten Arbeitern aus dem Leben Ernst Thälmanns erzählen. Lerne die Nationalhymne unserer Republik. Suche mit Deiner Gruppe Gedenkstätten des Widerstandskampfes gegen den Faschismus auf. Pflege diese mit den Freunden Deiner Gruppe. Lerne die Symbole der Pionierorganisation kennen. Übe mit Deiner Gruppe das richtige Verhalten beim Fahnenappell. Besuche eine LPG [ 1 6 ; S.G.] oder MTS. Laß Dir erklären, was ein Traktor leisten kann und wie durch ihn die Arbeit leichter wird. Gehe auf die Felder der LPG und laß Dir von einem Genossenschaftsbauern erklären, wie man Roggen, Weizen, Hafer, Gerste, Mais und Raps voneinander unterscheiden kann. Male mit Tusche ein Bild von der Arbeit in der LPG und forme aus Plastilin das Leben auf dem Dorfe. H i l f alten und kranken Leuten.

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Im Jahre 1958 waren längst noch nicht alle landwirtschaftlichen Betriebe der DDR in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) kollektiviert [MTS - Motorentauschstation]. Auch dieser auf den ersten Blick „harmlose" Auftrag - die verschiedenen Feldfrüchte konnte einem Landkind jeder erklären, ein Stadtkind dürfte keine LPG in der Nähe gehabt haben - hat letzten Endes wieder eine ideologische Funktion: die LPG ist der einzige „natürliche" landwirtschaftliche Betrieb.

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Laß Dir von Thälmann-Pionieren über 'Timur und sein Trupp' erzählen. Eifere ihm nach. Beteilige Dich mit Deiner Gruppe bei der Sammlung von Heilkräutern. Laß Dir von einem Soldaten oder Offizier der Volksarmee sagen, wie Du die Land-, See- und Luftstreitkräfte an den Uniformen unterscheiden kannst. Führe mit Deiner Gruppe und Thälmann-Pionieren ein Geländespiel durch. Überbringe in schwierigem Gelände eine Meldung, ohne gesehen zu werden. Lerne, wie man nach dem Stand der Sonne Himmelsrichtungen feststellen kann. Übe mit Deinen Freunden fur Eure Eltern ein kleines Kulturprogramm über die frohe Ferienzeit ein. H i l f Deinen Eltern beim Einkaufen. Laß Dir zeigen, wie Du Dein Halstuch waschen und bügeln mußt. Merke Dir vom Sportunterricht mindestens fünf Freiübungen, die Du mit Deiner Gruppe ausführen kannst. Lerne Radfahren, und führe mit Deiner Pioniergruppe die 'kleine Friedensfahrt' durch. Lerne die Lieder 'Pioniere schaffen froh', 'Ich stehe am Fahrdamm...', 'Wie ein Vogel zu fliegen' und 'Nun soll mein Schifïlein fahren'. Lies die Bücher 'Der kleine Trompeter und sein Freund' von Inge und Gerd Baumert, 'Märchen der Brüder Grimm' und 'Martin und die Wiesenpieper' von Günter Feustel" („Pionierstufen für Jungpioniere..." 1958; zitiert in Ansorg 1997, S. 89).

Sieht so das fröhliche Freizeitleben von acht- und neunjährigen Kindern aus? Was lernen sie hier eigentlich? Gehorsam, vor allem in Form von Bravsein und Hilfsbereitschaft. Aber selbst diese Hilfsbereitschaft ist wieder nur Mittel zum ideologischen Zweck. Eigentlich soll nämlich dem sowjetischen Vorbildkind Timur nachgeeifert werden. Patriotisches und Militärisches: Nationalhymne, Uniformkunde, Standortbestimmung „im Felde", Meldegang, Fahnenappell. Körperertüchtigung durch Freiübungen und Rad fahren. Aber nicht einmal Rad fahren dürfen die Kinder aus purem Vergnügen an der Sache. Gleich muss es auf „Friedensfahrt" gehen. Am wichtigsten aber sind wohl die beiden Botschaften, die den Kindern nicht expressis verbis, sondern eher subtil vermittelt werden: Zum einen - unterlasse es, selbständig zu denken und stelle nur Fragen, die andere bereits vorformuliert haben. Zum anderen - auch wenn du malst, liest, singst, bastelst - lass dir immer genau sagen, mit welchen Themen du dich zu beschäftigen hast und komme nur nicht auf eigenständige Ideen. Sind die Kinder dann einige Jahre älter geworden, treten auch die letzten spielerischen Ansätze hinter ein straffes ideologisches Programm zurück (siehe dazu Ansorg 1997, S. 89 ff.). Das zweite Beispiel ist noch etwas älter; es stammt aus dem Jahre 1953. Damals wurden Klagen darüber geführt, dass die Kinder in den Gruppenstunden der Pionierorganisation zu wenig mit politischer Erziehung konfrontiert würden

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(ebd., S. 103 f.). So bemängelte man das Fehlen von ständigen Ausstellungen über das Leben von Lenin, Stalin, Ernst Thälmann oder Wilhelm Pieck, besonders aber, dass den Kindern nicht ausreichend die ständige Überlegenheit der Sowjetunion klargemacht wurde. Stattdessen mussten die Kinder erfahren, dass bestimmte Experimente - mangels Material - in den Pioniergruppen der DDR nicht durchgeführt werden konnten, obwohl sie doch auch schon in jenen frühen Jahren zu lernen hatten, dass das sozialistische System dem kapitalistischen in jeder Hinsicht überlegen war. Auch die Pseudo-Wissenschaft von Mitschurin war den kleinen Pionieren nahe zu bringen (abgesehen von allem anderen: es handelte sich hier um Kinder im Grundschulalter, die in der Regel nicht mit Fragen der Vererbungslehre konfrontiert werden). Schuld an diesem „Desaster" waren offensichtlich führende Kader in der Pionierorganisation. Gründe für ihr Fehlverhalten waren rasch gefunden: (nominelle) Zugehörigkeit in einer Kirche, Kriegsgefangenschaft außerhalb der Sowjetunion, Mitgliedschaft in einer Blockpartei, „Republikflucht" eines Angehörigen, um nur die wichtigsten zu nennen.

V. Resümee Ist nun die Rechnung aufgegangen? Sind die Kinder und Jugendlichen, die von klein auf durch die „Schule der Diktatur" gegangen sind, am Ende treue und überzeugte Anhänger der jeweiligen Ideologie, bereit, sie mit Wort und Tat zu verteidigen gegenüber jedwedem Angriff, jedwedem Zweifel, jedweder Kritik, notfalls unter Einsatz des eigenen Lebens? Das Experiment „Politisierung der Kinder" wurde bereits mehrmals unternommen - nicht nur in Deutschland.17 Und es ist bereits mehrmals gescheitert zumindest, wenn man die Ergebnisse an den Ansprüchen misst, die jeweils an die entsprechenden Experimente herangetragen wurden. Die überwiegende Mehrzahl der ideologisch sozialisierten Kinder kehrt jedenfalls diesen Idealen der Jugend den Rücken, zumeist noch vor dem Ende der Jugend selbst. Sobald eine Organisation über den engen Kreis der wirklich überzeugten Mitglieder und der freiwillig sich Einsetzenden hinauswächst - und es ist ja das Ziel eines jeden totalitären Systems, alle Kinder und Jugendlichen im eigenen Machtbereich politisch im Sinne der eigenen Ideologie zu erziehen und zu überzeugen -

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Bekannt sind beispielsweise die „Oktoberkinder" und die „Komsomolzen" der Sowjetunion, die Vorbilder der DDR-Pioniere, weniger bekannt die „Söhne der Wölfin" im faschistischen Italien.

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stellen sich typische altersabhängige Entwicklungen ein, die wiederum typische Probleme nach sich ziehen, mit denen nicht nur die Jugendorganisation der DDR zu kämpfen hatte. Die Kinder im Vor- und Grundschulalter sind in der Regel gläubig und leicht von den Vorgaben, die vorbildhafte Erwachsene - wie Kindergärtnerinnen, Lehrer oder Gruppenführer - ihnen geben, eingenommen. Ihrem Eintritt in eine entsprechende Jugendorganisation fiebern sie geradezu entgegen, weil dieser zum „Größerwerden" dazugehört, in einem gewissen Rahmen Selbständigkeit bietet und - das gilt besonders für „Staatsjugenden" im totalitären System seme ideologisch ständig betonte „Wichtigkeit" für die Gesamtgesellschaft den präsumptiven Mitgliedern schon lange vor Erreichen der nötigen Altersgrenze bekannt ist. Die Zehn- bis etwa 13-jährigen sind in der Regel ernsthafte und überzeugte Mitgestalter, die mit Fleiss und Eifer bei der Sache sind und sich für die vorgegebenen ideologischen Ziele mit allen Kräften einsetzen. Die noch älteren wenden sich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle von der Organisation und deren politischen Überzeugungen ab, wenn eine weitere Mitgliedschaft nicht ganz konkrete persönliche Vorteile, die auch auf emotionalem Gebiet liegen können, mit sich bringt. Das heisst nun nicht, dass diese „Aussteiger" sozusagen unberührt aus einer fast lebenslangen ideologischen Erziehung hervorgehen. Indem man ihnen, auf staatliches Geheiss hin, viel von ihrer Spontaneität und ihrer menschlichen Neugier und der Fähigkeit, ihren eigenen Verstand zu gebrauchen, aberzogen hat, sie gelernt haben, zu offiziellen Parolen zu nicken und ansonsten passiven Widerstand zu üben und sich nur noch um ihr Privatleben zu kümmern, mögen sie brave Untertanen geworden sein - Menschen, mit denen sich eme neue Gesellschaft aufbauen lässt, sind sie nicht. Sobald aus irgendeinem Grunde der immense staatliche Druck, der das Leben jedes Einzelnen in totalitären Systemen bestimmt, fortfällt oder sich auch nur lockert, bricht in der Regel das ganze System zusammen. So sehr das auch jeweils zu begrüßen ist - der Schaden, der einmal in den Seelen von Kindern und Jugendlichen angerichtet worden ist, wirkt in den meisten Fällen im Erwachsenenleben weiter fort.

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„Republikflucht 44 und Ausreise Permanente Krisenelemente des SED-Herrschaftssystems Von Karl Wilhelm Fricke I. Einleitung Gewiss war es ein ganzes Bündel politischer, sozialer und ökonomischer Ursachen, die im revolutionären Herbst '89 das Desaster des DDR-Sozialismus seine Systemimplosion - heraufbeschworen haben. Gescheitert war letztlich der Versuch, abstrakt formuliert, der Gesellschaft eine ideologisch begründete Herrschaft aufzunötigen, die ohne demokratisches Fundament blieb, der von Anfang an demokratische Legitimation gefehlt hat. Die Macht der SED war Macht ohne Mandat. Darum musste sie zusammenbrechen. Vor diesem Hintergrund ist der historische Tatbestand der so genannten Republikflucht zu sehen, wobei im Folgenden ein Begriff übernommen wird, der sich im Sprachgebrauch der DDR in den fünfziger Jahren für die massenhafte Flucht aus dem ungeliebten Staat einbürgerte. Interessanterweise war der Begriff der „ Republikflucht " (vgl. Ulbricht 1961, S. 696) ursprünglich von der SED bewusst in politisch diskriminierendem Sinne gebraucht worden. Letztlich sollte er zur Diffamierung und Kriminalisierung jedes behördlich nicht genehmigten Verlassens der DDR dienen. Das Phänomen der Republikflucht trat seit Gründung der DDR zu Tage. Insgesamt wechselten in den Jahren von 1949 bis 1961 - also von der Gründung der DDR bis zur Errichtung die Berliner Mauer - rund 2,7 Millionen Menschen ohne gesetzliche Genehmigung aus dem Arbeiter-und-Bauern-Staat nach WestBerlin bzw. in die Bundesrepublik Deutschland (Zahlen nach Denkschrift 1961, S. 15; Wendt 1991, S. 390). In jedem Jahr des genannten Zeitraumes lag die Zahl der Menschen, die die DDR im Sinne des Regimes illegal verließen, jeweils zwischen minmal 130.000 und maximal 331.000. Die Sperrmaßnahmen vom 13. August 1961 erschienen den Herrschenden daher als Ultima Ratio zur Eindämmung des Flucht- und Abwanderungsstromes, als unumgängliche Alternative, das Ausbluten der DDR zu unterbinden und ihrem Verfall als Staat entgegenzuwirken. Insoweit war die Republikflucht ein Krisenelement des DDRHerrschaftssystems, das zur ökonomischen und folglich zur politischen Destabilisierung der Macht wesentlich beitrug, und zwar permanent von Anfang an bis

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zur Endzeit des zweiten deutschen Staates. In der Tat konnten Flucht und Abwanderung aus der DDR nach dem Bau der Berliner Mauer zwar deutlich gedrosselt, aber nie gänzlich unterbunden werden. Die Zahl der Menschen, die in der Zeit zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 die DDR illegal verließen, belief sich immerhin noch auf knapp 95.000, davon rund 40.000 so genannte Sperrbrecher (Zahlen nach Eisenfeld 1996b, S. 200 f.), die entweder durch die seit 1952 abgeriegelte, zeitweilig sogar verminte Demarkationslinie oder über den „antifaschistischen Schutzwall" in Berlin geflüchtet waren, oder über die „nasse Grenzedas heißt, durch die Elbe oder von der mecklenburgischen Küste aus über die Ostsee. Ebenso wurde der Transitverkehr zwischen Berlin und dem Bundesgebiet zur Flucht genutzt. Mehreren Tausend Menschen gelang zudem die Flucht über Drittländer, vorwiegend über die damalige Tschechoslowakei oder über Ungarn, aber auch über Polen, Rumänien und Bulgarien, ferner über Skandinavien, speziell auf den nach Schweden führenden Fährlinien. Zu den Flüchtlingen zählte die Staatssicherheit im Übrigen die so genannten „Verbleiber" oder „Nicht-Rückkehrer", das heißt, solche DDR-Bürger, die eine legale Dienst- oder Privatreise zum Verbleib im Westen genutzt hatten, die nicht in den Arbeiter-und-Bauern-Staat zurückgekehrt waren. Der letzte Akt im Drama Republikflucht spielte im Spätsommer 1989, als es zu jenem Massenexodus kam, der nach Öffnung der Grenze Ungarn-Österreich die Verfall des DDR-Sozialismus unaufhaltsam beschleunigen sollte. Als zweites Krisenelement trat neben das Phänomen der Republikflucht seit Mitte der siebziger Jahre das Phänomen massenhafter Ausreisebegehren. Bis zur friedlichen und demokratischen Revolution 1989 erwirkten oder ertrotzten etwa 560.000 Menschen - darunter annähernd 34.000 freigekaufte Häftlinge ihre legale Ausreise aus der DDR (Eisenfeld 1996a, S. 73 f.) Das war ebenfalls eine Größenordnung, die nicht ohne ökonomische und politische Folgen für die Herrschaft der SED bleiben konnte. Ergänzend dazu ist festzustellen, dass auch schon in den Jahren 1945 bis 1949 eine Ost-West-Flucht- und Wanderungsbewegung zu verzeichnen war, die mindestens 438.000 Menschen mit sich getragen hat (Denkschrift 1961, S. 15). Eine genaue Statistik liegt für diesen Zeitraum nicht vor, die genannte Zahl ist allerdings eher zu niedrig als zu hoch gegriffen. Zusammengezählt ergibt sich für 1945 bis 1989 eine Ost-West-Migration von rund 3,7 Millionen Menschen, die ihre Heimat zwischen Rostock und Suhl illegal oder legal aufgegeben haben.

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II. Innere Ursachen Was die Menschen in der DDR zu Republikflucht und Ausreise trieb, waren zu allen Zeiten primär innere Ursachen. Eben dies aber haben die Herrschenden niemals wahrhaben, geschweige denn öffentlich eingestehen wollen. Sie führten sie stattdessen auf äußere Einwirkung auf die DDR zurück, auf „politisch-ideologische Diversion auf „ A b w e r t u n g a u f „ Verleitung zum Verlassen der Republik" oder auf „staatsfeindlichen Menschenhandel" - also Fluchthilfe. Das alles mag es im Einzelnen in dieser und jener Form sogar gegeben haben, aber die Vorstellung, 3,7 Millionen Menschen könnten sich zur Flucht oder zur Ausreise haben verleiten lassen, ist gänzlich unrealistisch. Im Grunde genommen waren „Republikflucht" und „Ausreisebewegung" zeit Existenz der DDR Seismographen für die Ablehnung der Bevölkerung gegenüber der ihr oktroyierten Diktatur der SED. Ein weiterer Aspekt ist zu bedenken: „Wurden die Flüchtlings- und Ausreiseströme durch die totalitären Strukturen in der DDR ausgelöst, so hatten sie eine destabilisierende Rückwirkung, da sich durch den Verlust eines vorwiegend jungen, gut ausgebildeten, innovativen und kritischen Humankapitals die permanente gesellschaftliche Krise der DDR noch verstärkte, aber auch die Möglichkeiten für innere Reformen durch diesen Substanzverlust reduziert wurden" (Wendt 1991, S. 388).

Das Auf und Ab der Flüchtlings- und Ausreisestatistiken spiegelten die Politik der Staatspartei auch insoweit wider, als die Zahlen jeweils in Krisensituationen anstiegen, in Phasen der Entspannung hingegen sanken. Seit Gründung der DDR galten die Republikflucht als „Plebiszit mit den Füßen " und das massenhafte Begehren legaler Ausreisen seit den siebziger Jahren als „Abstimmung mit dem Ausreiseantragdas heißt, beide Phänomene wurden politisch interpretiert, als Entscheidung gegen den „real existierenden Sozialismus". In den folgenden Ausführungen wird versucht, die Gegenstrategien aufzuzeigen, mit denen das Regime der SED die für das Herrschaftssystem destabilisierenden Folgen zu paralysieren hoffte. Die politische Dimension der Republikflucht ist von den Entscheidungsträgern der DDR selbst frühzeitig als Systemauseinandersetzung begriffen worden. Walter Ulbricht hat das erstmals offen und offiziell zur Sprache gebracht. Auf der 33. Plenartagung des Zentralkomitees, die vom 16. bis 19. Oktober 1957 in Ost-Berlin stattfand, setzte sich der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED in einer Grundsatzrede u. a. auch mit der Frage auseinander, „wie vom politischen und strafrechtlichen Standpunkt die Republikflucht und das Wechseln des Wohnsitzes aus der Deutschen Demokratischen Republik und dem demokratischen Sektor Berlins nach Westdeutschland und Westberlin zu beurteilen sind" (Ulbricht 1961, S. 696 f.). Seine Antwort auf die selbstgestellte Frage fiel eindeutig aus:

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Karl Wilhelm Fricke „Jede Flucht oder Übersiedlung nach Westdeutschland bedeutet eine Hilfe fur die westdeutsche Militärbasis der NATO mit Arbeitskräften und einen Verlust von Arbeitskräften in der DDR. Eine Republikflucht ist Verrat an den friedlichen Interessen des Volkes und nützt Westdeutschland, das NATO-Basis ist. Es ist notwendig, eine große Aufklärungsarbeit zu führen, daß kein Bürger der Deutschen Demokratischen Republik sich von den westdeutschen Werbern dazu verleiten läßt, nach Westdeutschland zu ziehen. Wir müssen alle Menschen davor bewahren, daß sie von den westdeutschen Großkapitalisten ausgebeutet und erniedrigt werden. Vor allem ist es notwendig, den Menschen zu erklären, warum (...) die Erhaltung des Friedens die Stärkung der DDR erfordert und deshalb kein Arbeiter, kein Angehöriger der Intelligenz, kein Bauer aus kleinlichen wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen nach Westdeutschland ziehen darf 4 (Ulbricht 1961, S. 696).

Dem politischen Argument folgte die unverhüllte Drohung: „Vom strafrechtlichen Standpunkt ist die Lage so, daß jede Person, die es unternimmt, Bürger der DDR im Auftrage von Agentenorganisationen oder von Wirtschafisunternehmen zum Verlassen der DDR zu verleiten, mit Zuchthaus bestraft wird. Wer Jugendliche durch Versprechungen oder Täuschung zum Verlassen der DDR verleitet, wird ebenfalls streng bestraft" (Ulbricht 1961, S. 667).

Der Chef der SED hatte so erstmals Gegenstrategien umrissen, die das Regime zur Unterbindung der Republikflucht anzuwenden gedachte. Mit massiver Agitation und Propaganda einerseits - mit einschneidenden Reisebeschränkungen, repressiven Maßnahmen der Staatssicherheit und den Mitteln der Strafjustiz andererseits. Die einzige Strategie mit Aussicht auf Erfolg wäre eine Politik innerer Reformen gewesen, die den Menschen ein Verbleiben in der DDR attraktiv gemacht hätte, aber genau dazu war die SED subjektiv und objektiv nicht imstande.

I I I . Staatssicherheitsdienst und Republikflucht Wie sich die Staatssicherheit intern mit der Republikflucht befasste, mag im Folgenden ein Auszug aus dem Protokoll einer Kollegiumssitzung des MfS am 28. Januar 1958 illustrieren. Punkt 2 der Tagesordung lautete kurz und bündig: „ Einschätzung der Gründe der Republikflucht und Maßnahmen zur Bekämpfung" (Protokoll der Kollegiumssitzung, BStU ZA SdM 1554, Bl. 1 ff.). In der Beratung, an der vierzehn hochrangige Generäle und Offiziere der Staatssicherheit teilnahmen, unter ihnen Erich Mielke und Markus Wolf, offenbarte sich die ganze Hilflosigkeit auch der Staatssicherheit gegenüber der Erscheinung Repu-

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blikflucht - was in Mielkes Diskussionsbeitrag besonders eindringlich zum Ausdruck kam. Nachstehende Zitate entstammen dem Sitzungsprotokoll: „Genösse Minister Mielke wies daraufhin, daß 1. zum Teil eine falsche Einstellung besteht bei unseren Genossen gegen die Republikflucht. Wir müssen die Republikflucht richtig beurteilen, damit die Partei eine große Kampagne dagegen entfalten kann und für die operative Arbeit des MfS richtige Maßnahmen festgelegt werden. 2. Die Republikflucht ist in erster Linie eine Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Diese Auseinandersetzung bringt auch gewisse Schwierigkeiten, die nicht umgangen werden können. Schwierigkeiten gibt es sogar auch in der Beziehung, daß unsere Mitarbeiter die Arbeit gegen die Republikflucht nicht richtig organisieren. Die Mitarbeiter sehen nicht, daß die Republikflucht zu dem Plan des Feindes gehört, die DDR aufzuweichen, zu schädigen. Sie überlegen nicht genügend, was ist a) politisch dagegen zu tun, b) operativ dagegen zu tun. (...) 3. Wir müssen vorschlagen, welche Maßnahmen sich zur Durchsetzung des Paßgesetzes ergeben und welche Auswirkungen diese und jene Maßnahmen haben. (Evtl. Grenzen schließen). Über die Fragen der Fahndung muß Klarheit geschaffen werden" (Protokoll, a.a.O., Bl. 14 f.).

Der verräterische Passus „ eventuell Grenzen schließen" könnte ein Indiz dafür sein, daß Mielke die Abriegelung der Berliner Sektorengrenzen schon gut dreieinhalb Jahre vor dem 13. August 1961 für eine Alternative hielt. Seine „ operativen Folgerungen " hielt das Protokoll unter Ziffer 4 fest: „4. Wir müssen sofort eine Auswertung für alle operativen Linien vornehmen, um festzulegen, welche Maßnahmen sich aus der Analyse über die Republikflucht ergeben. Die HV A muß daraus die Schlußfolgerungen ziehen, wie wo eingedrungen werden kann. Welche Maßnahmen sind notwendig zur Aufklärung der Republikflucht, wer muß zurückgeholt werden?" (Protokoll, a.a.O., Bl. 15).

Der Passus belegt die Sensibilisierung aller operativen Diensteinheiten des MfS einschließlich der Hauptverwaltung Aufklärung zur Bekämpfung der Republikflucht. „Zurückgeholt werden " - das war eine Formulierung, die auf Verschleppungen von „Republikflüchtigen " aus Westberlin und Westdeutschland zielte. Tatsächlich wurden mehrere hundert DDR-Flüchtlinge „zurückgeholt „Verräter" allenthalben, unter ihnen 121 Überläufer aus den Reihen der Staatssicherheit, die in den fünfziger und sechziger Jahren durch List, Betäubung oder Gewalt in die DDR verschleppt und hier zumeist zu hohen Zuchthausstrafen, einige auch zum Tode verurteilt wurden (vgl. Gieseke 1995, S. 81; Fricke 1995, S. 9 ff.). Laut Protokoll wurde „den Ausführungen des Ministers" selbstverständlich zugestimmt. Auch in anderer Hinsicht war das Protokoll viel sagend: Niemand von den Generälen und Obristen des MfS sprach in dieser Kollegiumssitzung 4 Mertens

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von „Abwerbung". Der Begriff tauchte im Protokoll nur ein einziges Mal auf: Bruno Beater, damals Oberst und Chef der Hauptabteilung V, stellte lakonisch fest: „Es gibt so gut wie keine Vorgänge gegen Personen, die Abwerbungen vornehmen " (Protokoll, Bl. 12). Und Oberst Erich Wiehert, damals Stasi-Chef von Ostberlin, wies anhand einiger Beispiele daraufhin, „wie kompliziert die Verhinderung von Republikfluchten ist und daß mitunter durch nicht durchdachte Maßnahmen der Staatsorgane Menschen, die mit unserer Entwicklung keine festen Beziehungen haben, nach Westdeutschland gehen' (ebd., Bl. 13). Unter sich räumten die führenden Kader des MfS also unverblümt die hausgemachten Ursachen der Republikflucht ein. Nicht minder aufschlussreich waren scharfmacherische Äußerungen, die der Chef der HV A, der damalige Generalmajor Markus Wolf, in der Diskussion tat: „In vielen Fällen wird bei der Republikflucht die Ursache in persönlichen Gründen gesucht Als persönliche Gründe können aber nicht bezeichnet werden, wenn qualifizierte Menschen nach Westdeutschland gehen auf Grund von guten Stellenangeboten durch Westdeutschland. Eine Vielzahl staatlicher Maßnahmen in Bonn ist darauf ausgerichtet, die Republikflucht weiterhin so aktiv wie bisher durchzuführen. Z. B. werden bei Pensionszahlungen die Dienstjahre in der DDR, u. a. bei der Post und Eisenbahn in Westdeutschland, anerkannt" (Protokoll, Bl. 16 f.).

Wolfs Auslassungen bedürfen keines Kommentars.

IV. Strafjustiz und Republikflucht Die Staatssicherheit flankierend wurde auch die StraQustiz zum Kampf gegen die Republikflucht mobilisiert. Die von Ulbricht angekündigte Verschärfung des Strafrechts beschloss die DDR-Volkskammer in ihrer Sitzung vom 11. Dezember 1957 in Gestalt erstens eines Gesetzes zur Ergänzung des Strafgesetzbuches (GBl. I, S. 643) und zweitens eines Gesetzes zur Änderung des Paßgesetzes GBl. I, S. 650). Beide Gesetze enthielten spezielle Bestimmungen zur strafrechtlichen Ahndung von Flucht- und Fluchthilfedelikten. Sie signalisierten die verzweifelte Entschlossenheit des Regimes, gesetzgeberisch gegen die Republikflucht vorzugehen und den Strafgerichten eine spezielle Strafbestimmung gegen das ungenehmigte Verlassen des Arbeiter-und-Bauern-Staates an die Hand zu geben. Sie hatten bis dahin Fluchtdelikte nur mit komplizierten juristischen Hilfskonstruktionen verfolgen können. Mit der Änderung des Passgesetzes erhielt die DDR-Justiz erstmals ein spezielles strafrechtliches Instrument zur umfassenden und zielgerichteten Ahndung von Fluchtdelikten. Konkret wurde die Republikflucht durch das Änderungsgesetz zum geltenden Passgesetz vom 11. Dezember 1957 unter Strafe gestellt, indem ihm § 8 eingefügt wurde; mit

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Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe konnte danach bestraft werden, „ wer ohne erforderliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verläßt oder betritt oder wer ihm vorgeschriebene Reiseziele, Reisewege oder Reisefristen oder sonstige Beschränkungen der Reise oder des Aufenthalts hierbei nicht einhält. " Auch Vorbereitung und Versuch wurden für strafbar erklärt. Im Ergebnis kam es im Laufe der Zeit zu Zehntausenden von Verurteilungen - sei es wegen Vorbereitung oder Versuch einer Flucht, sei es wegen Beihilfe, sei es wegen vollendeter Flucht in solchen Fällen, in denen sich ehemalige Flüchtlinge zu einer Reise nach Ost-Berlin oder in die DDR oder gar zur Rückkehr entschlossen hatten und so verhaftet und zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Die Strafgerichte der DDR machten sich die gesetzliche Neuregelung vom 11. Dezember 1957 unverzüglich zunutze. Als exemplarisch kann ein Urteil des Kreisgerichts Meiningenvom 24. Dezember 1957 angesehen werden, eines der ersten Urteile nach § 8 des Passgesetzes, mit dem zwei Brüder, ungelernte Arbeiter, wegen Fluchtvorbereitung zu fünf Monaten bzw. sechs Wochen Gefängnis verurteilt wurden. Erlaubt sei ein ausfuhrliches Zitat aus den Urteilsgründen, weil seine Formulierungen den Richtersspruch geradezu als politisches Zeitzeugnis ausweisen: „Trotz aller friedlichen Einheitsberstrebungen unserer Arbeiter-und-Bauern-Regierung führt die Adenauer-Regierung unentwegt den Kampf gegen den sozialistischen Aufbau in der DDR. Die Bundesregierung, die sich vorbehaltlos dem Kriegspakt der NATO angeschlossen hat, ist als treuester Vasall der amerikanischen Monopolisten bestrebt, den Atomkrieg zu forcieren und sich unseren Staat gewaltsam einzuverleiben. Zur Durchführung dieser arbeiter- und fnedensfeindlichen Politik hat sie ein Netz von Agentenzentralen aufgebaut. Mit den verwerflichsten Mitteln versuchen diese, unsere Wirtschaft zu schädigen. Dabei ist es ihnen, nachdem viele andere Maßnahmen an der Wachsamkeit der Arbeiterklasse scheiterten, jetzt vor allem darum zu tun, arbeitsfähige Menschen, Facharbeiter und Wissenschaftler unter haltlosen Versprechungen zur Republikflucht zu verleiten. Nach dem weiteren Schicksal dieser verleiteten Menschen fragt die Bundesregierung nicht. Sie müssen vielfach in Elendslagern zusammengepfercht kampieren und damit rechnen, in die NATO-Armee eingegliedert zu werden. Sofern ein Teil dieser bedauernswerten Menschen doch wieder Arbeit findet, werden sie als Streikbrecher und Lohndrücker mißbraucht und fallen damit der ständig um die Verbesserung ihrer Lebenslage kämpfenden Arbeiterklasse Westdeutschlands in den Rücken" (Unrecht als System 1958, Bd. III, S. 148). Nachdem so die Richter ihr Soll an Agitation erfüllt hatten, kamen sie wie folgt zur Sache: „ U m diese Pläne der NATO-Strategen zu vereiteln und die Bürger der DDR vor einem solchen Schicksal zu bewahren, hat die Volkskammer das Paßgesetz dahingehend geändert, daß jede Vorbereitung und jeder Versuch, das Gebiet der DDR ohne erforderliche Genehmigung zu verlassen, unter Strafe gestellt ist. Damit wird 4*

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Karl Wilhelm Fricke zunächst die Ordnung hergestellt, die jeder Staat für die Regelung des Verlassens seines Gebietes kennt, und der Existenz zweier deutscher Staaten Rechnung getragen. (...) Wer sich gegen dieses Gesetz vergeht, treibt bewußt oder unbewußt Verrat an der Arbeiterklasse (...) Gegen das genannte Gesetz verstießen auch die beiden Angeklagten. Sie waren deshalb nach dem Grad ihrer Schuld zur Verantwortung zu ziehen" (ebd.).

Urteile wie der Meininger Schuldspruch wurden in den Folgejahren gang und gäbe. Die Höhe der verhängten Strafe variierte allenfalls in Abhängigkeit zur jeweiligen politischen Situation. Nicht selten reichte sie aus Gründen der Abschreckung bis zur gesetzlich möglichen Höchststrafe von drei Jahren. Zur Illustration ein weiteres Beispiel: Das Kreisgericht Dessau verurteilte einen Ehemann, der seiner bereits nach West-Berlin geflüchteten Familie folgen w o l l te, am 7. Februar 1958 wegen vorbereiteter und versuchter Republikflucht zu einer allerdings nur kurzen Gefängnisstrafe. Nachstehend ein Auszug aus der Urteilsbegründung: „Das Verhalten des Angeklagten ist moralisch und politisch äußerst verwerflich. Er wollte sich in das Lager der Kriegstreiber begeben und dort, wenn auch nicht bewußt, teilnehmen an den Vorbereitungen zu einem neuen Kriege. Darüber hinaus betreibt jeder, der das Gebiet der DDR verläßt, Verrat an unserem Staat und an unseren Werktätigen. Außerdem schadet er der Aktionseinheit, die von unserer Regierung und allen fortschrittlichen Menschen angestrebt wird, um in Westdeutschland ebenfalls das Ziel, nämlich den Aufbau des Sozialismus, zu erreichen. Durch die Verminderung der Arbeitskräfte, die durch den Abzug nach Westdeutschland entsteht, wird dem Aufbau des Sozialismus in der DDR Schaden zugefügt. Der Arbeiterklasse in Westdeutschland wird der Kampf, den sie gegen ihre Unterdrücker führt, erschwert durch den Abzug von Arbeitskräften, die von den Kapitalisten als Lohndrücker und Streikbrecher eingesetzt werden. Es war deshalb notwendig, daß von unserer Volkskammer das Gesetz über die Änderung des § 8 des Paßgesetzes erlassen wurde, um weitere Schäden zu verhindern" (Unrecht als System 1956, Bd. III, S. 145). Dass offenkundig die Argumentation in den Urteilen nach § 8 des Passgesetzes einer einheitlichen, durch Ulbrichts Grundsatzrede vor dem SED-Zentralkomitee vorgegebenen Sprachregelung folgte, veranschaulicht auch ein drittes Beispiel. Z w e i Ehepaare, die ihre Flucht gemeinschaftlich vorbereitet hatten, wurden am 29. M a i 1959 v o m Kreisgericht Leipzig, Stadtbezirk Südost, zu Gefängnis bis zu fünfzehn Monaten verurteilt. Ein Auszug aus den Gründen: „Alle Bestrebungen unseres Staates sind auf die Erhaltung des Friedens und die Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung gerichtet. Mit Besorgnis blicken gegnerische kapitalistische Kräfte auf diese schnelle stabile Entwicklung der sozialistischen Staaten, die für friedliche Koexistenz, Handelsbeziehungen und alle Bestre-

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bungen gegen erneute kriegerische Auseinandersetzungen eintreten. Durch Agentenorganisationen versuchen solche Kräfte, das friedliche Aufbauwerk der sozialistischen Staaten zu stören. In diesem Rahmen haben sie auch Interesse an dem unerlaubten Verlassen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik. Einerseits werden diese republikflüchtigen Personen als Agenten, Spione und Saboteure gegen die DDR eingesetzt, und andererseits benutzt man die Republikfluchten zur Agitation gegen die sozialistischen Staaten (...) Auch die Angeklagten haben geglaubt, daß in der Deutschen Bundesrepublik ihnen bessere Lebensverhältnisse geboten würden, als sie sie hier hatten. Deswegen faßten sie den Entschluß und führten ihre Vorbereitungen zum unerlaubten Verlassen des Gebietes der DDR. Der Staat hat aber das Paßgesetz geschaffen, um Bürger vor derartigen unüberlegten Übersiedlungen zu bewahren. Des weiteren hat die Gesellschaft einen Anspruch darauf, daß ihre Bestrebungen nicht durch die Republikflucht politisch und wirtschaftlich sabotiert werden" (Unrecht als System 1962, Bd. IV, S. 130 f.).

Die politische Argumentation hatte die Mängel der juristischen Begründung des Urteils zu kompensieren. Eine Gesamtzahl der in den Jahren 1958 bis 1961 wegen Republikflucht in der DDR Verurteilten ist amtlich niemals ausgewiesen worden, aber dass sie sich auf mehrere Zehntausend belaufen hat, steht außer jedem Zweifel. Allein in den Jahren 1960 und 1961 wurden einem internen Bericht des Ministeriums der Justiz zufolge 7.554 bzw. 8.546 Verurteilungen nach § 8 des Passgesetzes ausgesprochen (zit. bei Werkentin 1997, S. 248) - in den beiden genannten Jahren zusammen also schon mehr als 16.000. Die Republikflucht bekamen die Herrschenden gleichwohl nicht in den Griff. Die am 13. August 1961 eingeleiteten Sperrmaßnahmen der DDR und die immer hermetischere Abgrenzung des Arbeiter-und-Bauern-Staates gegenüber West-Berlin und der Bundesrepublik haben die Untauglichkeit strafrechtlicher Sanktionen zur Unterbindung der Republikflucht augenfällig gemacht. Auch eine weitere gesetzgeberische Maßnahme half das Problem nicht lösen. Denn gleichzeitig mit dem Pass-Änderungsgesetz beschloss die Volkskammer ein Strafrechtsergänzungsgesetz (GBl. I, S. 643), mit dem eine Reihe neuer Bestimmungen in das DDR-Strafrecht eingefügt wurde - darunter die in den §§ 13 bis 26 niedergelegten Normen zu so genannten Staatsverbrechen. Die Ahndung von Fluchtdelikten wurde von § 21 dieses Gesetzes berührt, insoweit mit ihm ein neuer, durchaus DDR-spezifischer Straftatbestand geschaffen wurde, definiert als „Verleitung zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik". Danach sollte mit Zuchthaus in nicht bestimmter Höhe bestraft werden können, „wer es unternimmt, eine Person 1. im Auftrage von Agentenorganisationen, Spionageagenturen oder ähnlichen Dienststellen oder von Wirtschaftsunternehmen [Hervorhebung; K. W.F.] oder 2. zum Zwecke des Dienstes in Söldnerformationen zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik zu verleiten."

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Außerdem konnte auf Vermögenseinziehung erkannt werden. Zweitens sollte „ mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft " werden, „wer es unternimmt, einen Jugendlichen oder einen in der Berufsausbildung stehenden Menschen oder eine Person wegen ihrer beruflichen Tätigkeit oder wegen ihrer besonderen Fähigkeiten oder Leistungen mittels Drohung, Täuschung, Versprechen oder ähnlichen die Freiheit der Willensentscheidung beeinflussenden Methoden zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik zu verleiten."

Der Tatbestand der Verleitung zum Verlassen der Republik stellte eine Normierung dessen dar, was seit Mitte der fünfziger Jahre von den Gerichten als so genannte Abwerbung oder Anstiftung zur Republikflucht geahndet worden war. Um die Version der SED zu stützen, dass die Fluchtbewegung aus der DDR auf westliche Einwirkung zurückzuführen wäre, unterstellte die DDR-Straljustiz seit Mitte der fünfziger Jahre generell, dass Jugendliche und Facharbeiter, Ärzte, Wissenschaftler und Ingenieure, Spitzensportler oder Spezialisten systematisch abgeworben würden, das heißt, durch verlockende Angebote aus dem Westen gezielt zur Flucht oder Übersiedlung nach Westdeutschland „verleitet" würden. Da im Selbstverständnis der Herrschenden jedes legale wie illegale Verlassen der DDR auf einer politischen Beeinflussung der DDR-Bürger beruhen sollte, eben auf Verleitung, galt der in § 21 neu geschaffene Straftatbestand als „ein spezifischer Ausdruck des den Bedingungen der nationalen Spaltung unterliegenden Klassenkampfes in Deutschland", der Elemente „sowohl des Verrats und der staatsgefährdenden Tätigkeit als auch der Schädlingstätigkeit" enthielte. Zugleich wäre er darauf gerichtet, „ die Arbeiter-und-Bauern-Macht von den Massen zu lösen und das gesellschaftliche Leben, insbesondere unsere Volkswirtschaft, zu desorganisieren " (Renneberg 1958, S. 8). Was aber hieß Verleitung zum Verlassen der Republik? Selbstverständlich gab es auch gezielte Abwerbung, aber es wäre gänzlich abwegig, die Massenflucht aus der DDR ursächlich auf sie zurückzuführen. Sie konnte vor allem nicht zum Staatsverbrechen hochstilisiert werden. „Daß bundesdeutsche Firmen mehr oder weniger offen um Arbeitskräfte und Experten aus der DDR warben - respektive in die Bundesrepublik geflohene ehemalige Kollegen den Zurückgebliebenen den Weg in die Bundesrepublik schmackhaft machten, muß nicht in Abrede gestellt werden, um Strafverfahren in diesem 'Deliktbereich' als spezifisches Phänomen der politischen Justiz und des politischen Systems der DDR zu sehen, Die (Ab-)Werbung von Arbeitskräften ist in einer politischen und Wirtschaftsordnung, die ihren Bürgern das Recht auf Freizügigkeit nicht verweigert, ein völlig normaler, prinzipiell außerhalb staatlicher Eingriffe liegender Vorgang des Konkurrenzkampfes auf dem Arbeitsmarkt" (Werkentin 1994, S. 187).

Um die Fiktion der Abwerbung aufrechtzuerhalten, legten die Strafgerichte der DDR die Bestimmung in § 21 des Strafrechtsergänzungsgesetzes dermaßen

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exzessiv aus, dass schon ein positiver Hinweis auf das Leben im Westen oder eine auch nur angedeutete Befürwortung eines Wechsel dorthin bestraft werden konnte. Für die Strafbarkeit war es auch gleichgültig, ob sich die Verleitung zum Verlassen der Republik auf eine legale Übersiedlung oder auf ein „illegales Verlassen" bezogen hatte, das heißt, es brauchte nicht einmal ausdrücklich zur Republikflucht geraten oder aufgefordert worden zu sein. Die wohl wollende Schilderung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik konnte geahndet werden, wenn durch sie die Neigung zur Flucht bestärkt oder hervorgerufen sein mochte. Dabei war für die Handhabung von § 21 charakteristisch, dass die Verleitung zum Verlassen der Republik im Regelfall härter als die Flucht selbst bestraft wurde - und dass häufig das Delikt mit staatsgefährdender Propaganda und Hetze im Sinne von § 19 des Strafrechtsergänzungsgesetzes verbunden wurde. Ungeachtet aller Realitäten hielt die Strafjustiz der DDR an der Abwerbungsfiktion fest und ahndete die Verleitung zum Verlassen der Republik mit erbarmungslos harten Strafen. Argumentative Schützenhilfe dazu hatte dazu das Oberste Gericht zu leisten. In einem am 27. Januar 1956 ergangenen Urteil waren die beiden Hauptangeklagten, der Konstrukteur Max Held und der Elektriker Werner Rudert, zum Tode, zwei Mitangeklagte zu lebenslänglich bzw. acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden: wegen Abwerbung in Verbindung mit Spionage. Allerdings wurden diese Todesurteile nicht vollstreckt, sondern in lebenslänglich Zuchthaus umgewandelt. In den Gründen charakterisierte das Gericht die Verleitung zum Verlassen der Republik wie folgt: „Diese Form des Angriffs auf die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates in der Geschichte Deutschlands verfolgt mehrere Zwecke. Einmal wird dadurch die wissenschaftliche Forschung und die Produktion in der Deutschen Demokratischen Republik, die der maximalen Befriedigung der ständig wachsenden Bedürfnisse der Bevölkerung dient, gehemmt und dadurch das Vertrauen der Werktätigen zur Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und auf ihre eigene Kraft beeinträchtigt; zweitens schafft man auf diese Weise für die imperialistische Kriegsindustrie Kader an erstklassigen Spezialisten und Facharbeitern; drittens bietet die Entfernung von Spezialisten die Möglichkeit, die in der volkseigenen Industrie in der Deutschen Demokratischen Republik entwickelten Patente und neue Verfahren zu stehlen" (zit. bei Beckert 1995, S. 293 f.).

Die Ahndung von Republikflucht kulminierte elf Tage vor den Sperrmaßnahmen in Berlin vom 13. August 1961 in einem höchstinstanzlichen Urteil gegen den Bauingenieur Hans Adamo und vier Mitangeklagte wegen Spionage und Verleitung zum Verlassen der Republik im schweren Fall. In einem fünftägigen Schauprozess wollte die Politbürokratie der SED durch ihre Justiz einmal mehr den Nachweis erbringen lassen, wie schädlich sich die offene Grenze zwischen beiden Teilen Berlins für die DDR ausgewirkt haben sollte. Gemäß

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Urteil vom 2. August 1961 ergingen Zuchthausstrafen von bis zu fünfzehn Jahren (vgl. Beckert 1993, S. 307 f.).

V. Nach dem Mauerbau Mit dem Bau der Berliner Mauer war zwar der Strom massenweiser Flucht und Abwanderung aus der DDR wirksam eingedämmt, wie die Flüchtlingsstatistik erkennen lässt, aber der Entschluss, die DDR zu verlassen - legal oder illegal -, trieb Hunderttausenden nach wie vor um. Da widerständiges Verhalten in der DDR primär stets von der Politik des Regimes provoziert worden ist, konnte es auch nicht ausbleiben, dass sich nach dem 13. August 1961 Fluchthilfe als aktuelle Form politischen Widerstands entwickelte - zumal im geteilten Berlin, in dessen Bevölkerung zehntausendfach Familien durch die Errichtung des „ antifaschistischen Schutzwalls " zerrissen worden waren. Binnen kürzester Zeit fanden sich zumeist junge Menschen in Westberlin, häufig selbst „Republikflüchtige", aber auch in Westberlin lebende Bundesbürger, Studenten zumal, mit Gleichgesinnten im Osten zu Fluchthelfergruppen zusammen, die planmäßig Fluchthilfe organisierten und Tausende fluchtwilliger Menschen, Familienangehörige, Freunde und Kommilitonen, aus Ostberlin und der DDR ausschleusten - sei es mit gefälschten Pässen, sei es durch Fluchttunnel, sei es im Transitverkehr in Fahrzeugen mit eingebauten Verstecken. Nichts blieb unversucht. Ihr Handeln motivierte sich in der Solidarität mit den „Eingemauerten" und im Protest gegen die Willkür der SED-Diktatur. Fluchthilfe war Widerstand - das Eintreten für die Wahrung oder Wiederherstellung des Rechts auf Freizügigkeit. Es war kein Zufall, wenn sich gerade Studenten der Freien Universität, der Technischen Universität und anderer Hochschulen in West-Berlin zu ersten Fluchthilfegruppen zusammenschlössen. Die vermutlich erste Organisation gründeten Detlef Girrmann und Dieter Thieme, beide Studenten an der FU, die aufgrund ihres Engagements im Studentenwerk plötzlich mit der Situation mehrerer Hundert in Ostberlin lebender Kommilitonen konfrontiert waren, die bis dahin als „Grenzgänger" in West-Berlin studiert hatten. Ihnen sollte geholfen werden, nachdem ihnen die DDR-Behörden ein Weiterstudium im Westen verboten hatte. Die ersten Fluchthilfeaktionen wurden schon im August/September 1961 erfolgreich durchgeführt. Allerdings sollte das ausgeklügelte Grenzkontroll- und Sicherungssystem der DDR alsbald auch zu Festnahmen von Flüchtlingen und Fluchthelfern fuhren, und die ersten Strafprozesse, die abschreckend wirken sollten, ließen nicht

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lange auf sich warten. Dabei wollten die Herrschenden in Ost-Berlin die Fluchthilfeaktionen natürlich nicht als spontane Reaktion auf ihr Grenzregime, sondern als Ausdruck einer durch die „Bonner und Westberliner Ultras" entwickelten „politischen Offensive " gegen die DDR verstanden wissen: „Die Hauptmethode dieser Offensive' gegen die DDR sind gegenwärtig die Aktionen gegen das Hoheitsgebiet, die Grenze und die Grenzsicherungskräfte der DDR. Diese Aktionen verfolgen das unmittelbare Ziel, mit Waffen, Sprengstoffen und planmäßiger Unterwühlung den antifaschistischen Schutzwall in Berlin durchlässig zu machen, die Bürger der Hauptstadt der DDR zu terrorisieren und Verwirrung und Unruhe zu stiften" (zit.bei Fricke 1990, S. 496).

Diese Sätze finden sich in einem Urteil des Obersten Gerichts vom 4. Juli 1962, mit dem die fünf Angeklagten Gottfried Steglich, Carsten Mohr und Klaus-Peter Skrzypczak, Studenten aus West-Berlin, sowie Walter Bleschinski und Wolfgang Richter aus Ost-Berlin, die mit der „Girrmann-Organisation" beim Bau eines Fluchttunnels zusammengearbeitet hatten, zu Zuchthausstrafen zwischen fünf und 15 Jahren verurteilt wurden. Es war das erste Urteil des Obersten Gerichts gegen Fluchthelfer. Erstmals wurde darin die von Detlef Girrmann aufgebaute Fluchthelfergruppe massiv attackiert. „Sie beschäftigt sich mit der planmäßigen Organisierung von Grenzverletzungen, der Unterminierung der Staatsgrenze der DDR durch von Westberlin vorgetriebene Tunnel, der Fälschung falscher Pässe (sie!) zur Täuschung der Grenzsicherungsorgane der DDR, mit organisiertem Menschenhandel und seit einigen Monaten mit der Vorbereitung gewaltsamer Grenzdurchbrüche unter Anwendung von Waffengewalt, Sprengstoffen und unter dem Feuerschutz von Agentengruppen und von Angehörigen der Westberliner Polizei" (ebenda, S. 498).

Ungeachtet der polemisch zugespitzten Übertreibungen - „gewaltsame Grenzdurchbrüche " unter Einsatz von Waffen und Sprengstoff waren keineswegs geplant - entsprach die Schilderung der Fluchthilfe annähernd der Realität. Dem ersten Fluchthelfer-Prozess vor dem Obersten Gericht folgte ein Zweiter: Am 3. September 1962 verurteilte der 1. Strafsenat nach mehrtägiger „öffentlichkeitswirksamer" Verhandlung die Fluchthelfer Heinz Fink und Horst Sterzik zu lebenslangem Zuchthaus. Die aus West-Berlin stammenden Mitangeklagten Dieter Gengelbach, Wolf-Dieter Sternheimer und Hartmut Stachowitz erhielten insgesamt 25 Jahre Zuchthaus. Die Anklage hatte auf „Spionage" und „staatsgefährdende Gewaltakte " gelautet. Den strafpolitisch präjudizierenden Urteilen folgten in den sechziger und siebziger Jahren Hunderte von Verurteilungen von nun als „Kopfjäger " und „Menschenhändler " diffamierten Fluchthelfern - gnadenlose Verurteilungen, die sich juristisch vorerst noch auf die §§ 17 und 21 des Strafrechtsergänzungs-

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gesetzes gründeten. § 17 stellte „staatsgefährdende Gewaltakte ", § 21 „ Verleitung zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik " unter Strafe. Da nach dem Bau der Berliner Mauer alsbald vielfältig versucht wurde, die Grenzsperren zu durchbrechen, häufig durch Beschädigung von Sperranlagen, zum Beispiel durch Zerschneiden von Stacheldrahtsperren, wurden sie von der Strafjustiz nun als „Grenzprovokationen" und „Grenzdurchbrüche" qualifiziert und als staatsgefährdende Gewaltakte geahndet. Demgegenüber wurden Fluchthelfer, die jemanden zur Flucht aus der DDR verholfen hatten, absurderweise wegen Verleitung zum Verlassen der Republik zur Rechenschaft gezogen. Hunderte Fluchthelfer aus Ost und West, unter ihnen viele Studenten, sind in den sechziger Jahren für ihre uneigennützige Hilfsbereitschaft in die Zuchthäuser der DDR gegangen. Die Strafurteile gegen Fluchthelfer fielen gnadenlos aus. Schließlich flössen die dabei entwickelten strafrechtlichen Grundsätze auch in die Neukodifizierung des DDR-Strafrechts ein, was ermessen ließ, dass Fluchthilfe nach wie vor eine Gefahr für das Regime bedeutete, denn strafrechtliche Normen zum Systemschutz reflektieren stets politische und gesellschaftliche Zustände. So wurde in dem am 12. Januar 1968 beschlossenen „Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik"" (GBl. I S. 1) durch § 105 ein Straftatbestand geschaffen, der die aktive Hilfe bei Republikflucht als „staatsfeindlichen Menschenhandel" unter Strafe stellte. Wer es danach unternommen haben sollte, Bürger aus der DDR in Gebiete außerhalb ihres Staates „ abzuwerben, zu verschleppen, auszuschleusen oder deren Rückkehr zu verhindern " mit dem Ziel, „ die Deutsche Demokratische Republik zu schädigen oder „ in Zusammenhang mit Organisationen, Einrichtungen, Gruppen oder Personen, die einen Kampf gegen die Deutsche Demokratische Republik führen, oder mit Wirtschaftsunternehmen oder deren Vertreternder machte sich nach § 105 schuldig. Die Mindeststrafe für „staatsfeindlichen Menschenhandel" belief sich auf zwei Jahre Freiheitsentzug. Der Begriff des staatsfeindlichen Menschenhandels war freilich von der Realität weit entfernt, denn die durch § 105 definierte Straftat hatte mit Menschenhandel nach herkömmlichem Strafrechtsverständnis nichts zu tun. Kein DDR-Bürger wurde gegen seinen Willen oder unter arglistiger Täuschung aus „seinem Staat" verbracht und zum Gegenstand von Menschenhandel gemacht. Fluchthilfe, ideelle wie kommerzielle, nahmen seit dem 13. August 1961 stets nur Bürger der DDR in Anspruch, die ihren Staat illegal verlassen wollten, weil ihnen legal die Möglichkeit dazu nicht gewährt wurde. Insoweit beruhte der Tatbestand des staatsfeindlichen Menschenhandels auf einer Fiktion. Natürlich hat dieser Umstand die Gerichte der DDR von einer unerbittlichen Handhabung der in § 105 enthaltenen Strafbestimmung nicht abgehalten. Hohe und höchste Freiheitsstrafen wurden aus Gründen der Abschreckung daraus abgeleitet.

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Bezeichnenderweise wurden Fluchthelfer-Prozesse nur selten als Schauprozesse ausgestaltet, allenfalls in Pilotverfahren, während in den Folgeprozessen danach die Öffentlichkeit stets ausgeschlossen blieb. Offenbar sollte nicht publik werden, auf welchen zum Teil abenteuerlichen Wegen fluchtwillige DDR-Bürger dem Regime hatten entkommen wollten. Trotz der unverhältnismäßig hohen Strafen, die nach § 105 ausgesprochen wurden, sollten seine Bestimmungen sogar noch verschärft werden. Denn das zweite Strafrechtsänderungsgesetz vom 7. April 1977 (GBl. I S. 100) sah u. a. „für besonders schwere Fälle" von Fluchthilfe - sprich: „staatsfeindlichem Menschenhandel" - als Höchststrafe lebenslange Freiheitsstrafe vor. In der ursprünglichen Fassung war lediglich eine Mindeststrafe von zwei Jahren, aber keine Höchststrafe festgelegt. Die abschreckende Zielsetzung dieser StrafVerschärfung war offensichtlich, aber sie belegte auf ihre Weise, für wie notwendig die Herrschenden die Bämpfüng von Fluchthilfe gehalten haben. Im Kontext damit erhielt das Strafgesetzbuch vom 12. Januar 1968 zugleich eine neue Norm zur Ahndung der Republikflucht, die in § 213 als „ungesetzlicher Grenzübertritt" unter Strafe gestellt wurde. Einleitend bedrohte der Paragraph zunächst das "widerrechtliche Eindringen" in die DDR und den „widerrechtlichen Aufenthalt" in der DDR. Danach war von „Nichteinhaltung" der gesetzlichen Bestimmungen und auferlegten Beschränkungen über Ein- und Ausreise, Reisewege und Fristen die Rede und vom „Erschleichen einer Genehmigung zur Ein- oder Ausreise durch falsche Angaben". Erst an letzter Stelle wurde in § 213 mit Strafe bedroht, wer „ ohne staatliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verläßt oder in dieses nicht zurückkehrt. Darin bestand sein eigentlicher Kern. Der Strafrahmen reichte bis zu zwei Jahren, „in schweren Fällen" vorerst bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe. Ein „schwerer Fall" lag bei Beschädigung so genannter Grenzsicherungsanlagen, bei Mitführen dazu geeigneter Werkzeuge sowie bei Mitführen von Waffen oder bei Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden vor. Auch der Missbrauch oder die Fälschung von Pässen, die Ausnutzung eines Verstecks oder der gruppenweise unternommene illegale Grenzübertritt und der Wiederholungsfall bedingten die Qualifizierung einer Republikflucht als schwerer Fall. In der Anwendung vom § 213 standen die Gerichte des Regimes in der Kontinuität einer Strafjustiz, die seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre Fluchtdelikte als politische Delikte bestraft hat. Allein wegen versuchter Republikflucht wurden seit Ende der 50er Jahre jährlich zwischen 2.000 und 3.000 Menschen zu Freiheitsstrafen verurteilt. Selbst 1989 wurden nach einer Statistik des Generalstaatsanwalts noch 2.569 Menschen wegen versuchter Republikflucht verurteilt (vgl. Werkentin 1998, S. 146 f.; und Grasemann 1996, S. 91 ff.). Dennoch genügten dem Regime auch die Bestimmungen in § 213 auf die Dauer nicht, eine Feststellung, die vor dem Hintergrund andauernder Republik-

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flucht auch in den siebziger Jahren gesehen werden muss. Erstaunlicherweise wurden trotz mörderischer Grenzsicherungen, die jeden Fluchtversuch mit einem lebensbedrohenden Risiko belasteten, zwischen 3 500 und 6 500 Flüchtlinge in jedem Jahr gezählt. Und so erfuhr § 213 im dreißigsten Jahr der DDR durch das dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 28. Juni 1979 (GBl. I, S. 139) eine erhebliche Verschärfung. In schweren Fällen von ungesetzlichem Grenzübertritt konnte fortan bis auf acht Jahre Freiheitsstrafe erkannt werden. Dennoch aktualisierte sich die Entschlossenheit, die DDR zu verlassen, bei vielen Menschen stets aufs Neue - zumal bei jungen Menschen, und zwar auch in den siebziger Jahren, auch nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker. Die Hoffnung auf einen inneren Wandel im Staat der SED sollte sich bald als Illusion erweisen. Andererseits erhofften sich viele Menschen in der DDR in Auswirkung der Aufnahme beider deutscher Staaten in die Vereinten Nationen und der auch vom Staatsratsvorsitzenden der DDR unterzeichneten KSZE-Schlussakte von Helsinki wenigstens mehr Freizügigkeit. Die Diktatur der SED sah sich zunehmend politisch-moralischem Druck seitens jener Menschen ausgesetzt, die legal ausreisen wollten und sich nun auf die Charta der Vereinten Nationen oder die KSZE-Schlussakte beriefen. Im Gegensatz zu den Bürgerrechtlern, die damals in der DDR auf Erneuerung dringen wollten, hielten die Ausreisewilligen den Arbeiter-und-Bauern-Staat für reformunfähig. Um ihre Ausreise zu ertrotzen, vertraten sie ihre Forderungen öffentlich, demonstrativ, durch Zusammenschluss und gemeinsame Petitionen. Sie entwickelten, anders gesagt, oppositionelle Verhaltensweisen in einem Umfang, der es rechtfertigt, von einer Ausreisebewegung zu sprechen. So ergaben sich auch Gemeinsamkeiten mit der Bürgerrechtsbewegung. Innerstaatliche gesetzliche Regelungen zur Ausreise existierten indes bis hinein in die achtziger Jahre nicht in der DDR. Wohl gab es, seitdem die Herrschenden die Ausreiseproblematik als Devisenquelle entdeckt hatte, im Zuge der „besonderen Bemühungen" der Bundesregierung Ausreisegenehmigungen im Zuge der Familienzusammenführung und des Häftlingsfreikaufs in beträchtlichem Ausmaß, aber es waren Ermessensentscheidungen ohne Rechtsanspruch. Trotzdem wurden in den siebziger Jahren Anträge auf Ausreise in zunehmender Zahl gestellt - die Zahlen lagen von jährlich 8.400 im Jahre 1977 bis 42.400 im Jahre 1987 - 1984 waren es sogar 57.600 -, aber sie wurden jedenfalls bis in die frühen achtziger Jahre hinein als „rechtswidrig" zurückgewiesen oder ohne Begründung abgelehnt. Erst in den achtziger Jahren suchte die DDR den Strom der Ausreisewilligen zu kanalisieren. „Dabei mußten die Antragsteller eine Reihe von intervenierenden Faktoren überwinden und jahrelange Wartezeiten zwischen einem (Jahr) und fünf Jahren in Kauf nehmen. Entlassungen aus dem Beruf, Versetzungen, gehaltliche Rückstufungen,

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öffentliche Rechtfertigungen, strafrechtliche Verfolgung oder zumindest deren Androhung sowie sicherheitsdienstliche Überwachung waren an der Tagesordnung" (Wendt 1991, S. 392). Nicht zuletzt sind in diesem Kontext Maßnahmen der Zersetzung zu nennen.

Erst durch die Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik und Ausländern vom 15. September 1983 (GBl. I S. 254) setzte ein gewisser Wandel ein, insofern „humanitäre Gründe" für eine legale Ausreise geltend gemacht werden konnten. Freilich war der Kreis der Antragsberechtigten eng begrenzt auf Alters- und Invalidenrentner, körperlich oder geistig behinderte Kinder und Eheschließende. Gleichwohl führte dieser behutsame Kurswechsel zu einem neuerlichen Ansteigen der Ausreisezahlen im Jahre 1984. Entgegen dem Kalkül der Herrschenden brachte die neue Politik keine innere Entspannung - im Gegenteil, die „Rückverbindungen " der ausgereisten Bürger zu ihren Freunden und Verwandten in der DDR trugen neue Begehrlichkeit, neue Unruhe in die Bevölkerung. Zu spät, als dass es noch politischen zum Tragen gekommen wäre, wurde schließlich am 30. November 1988 durch die Verordnung über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland (GBl. I S. 271), die am 1. Januar 1989 in Kraft trat, ein generelles Antragsrecht auf Ausreise zugestanden, die allerdings den Kreis der Antragsberechtigten durch Festlegung so genannter Versagungsgründe stark einschränkte. Sie waren vor allem von Sicherheitsinteressen des Regimes diktiert.

VI. Bekämpfung der Republikflucht durch das MfS Wie in den Jahrzehnten zuvor war die Straf]ustiz bei der Bekämpfung der Republikflucht von der Staatssicherheit zu unterstützen. Befehle und Dienstanweisungen legten davon Zeugnis ab. Im MfS waren für die Bekämpfung von Republikflucht und Fluchthilfe in den ausgehenden fünfziger und sechziger Jahren in der Hauptsache die Diensteinheiten der Hauptabteilung II (Spionageabwehr) und der Hauptabteilung V bzw. XX (Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit) zuständig. 1970 übernahm die neu gebildete Hauptabteilung V I (Passkontrolle/Sicherung der Touristik) die Koordinierung in der „ operativen Abwehr" von Fluchthilfedelikten, bis endlich durch Befehl Nr. 1/75 vom 15. Dezember 1975 in Gestalt der Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) im MfS eigens eine neue Struktureinheit zur „ Vorbeugung, Bekämpfung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlass ens der DDR und der Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels" (zit. bei Lochen/Meyer-Seitz 1992, S. 173 f f ;

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vgl. auch Fricke 1999, S. 8) geschaffen wurde. Auf Bezirksebene stützte sich die ZKG auf Bezirkskoordinierungsgruppen (BKG). Ihre Kompetenzen, die den Folgejahren erheblich ausgeweitet wurden, erstreckten sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre auch auf die Bekämpfung und Unterdrückung der Ausreisebewegung, wie in Befehl Nr. 6/77 vom 18. März 1977 „zur Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung feindlich-negativer Handlungen im Zusammenhang mit rechtswidrigen Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, sowie zur Unterbindung dieser rechtswidrigen Versuche" (zit. bei Lochen/MeyerSeitz 1992, S. 23) schon in der Überschrift ausdrücklich hervorgehoben wurde. Aufgabe der ZKG war es, „ durch koordinierende und anleitende Tätigkeit sowie durch eigene operative Maßnahmen die Fluchtbewegung und die Anträge auf dauerhafte Ausreise unter Kontrolle zu bringen oder ganz zu verhindern" (Eisenfeld 1995, S. 3). Ersetzt wurde der Befehl Nr. 6/77 durch die Dienstanweisung Nr. 2/83 des Ministers für Staatssicherheit „Zur Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, sowie für die vorbeugende Verhinderung, Aufklärung und wirksame Bekämpfung damit im Zusammenhang stehender feindlich-negativer Handlungen " vom 13. Oktober 1983 (zit. bei Lochen/Meyer-Seitz 1992, S. 89 ff.). Alle drei Stasi-Papiere belegen gleichsam dokumentarisch, dass das Regime seine Anstrengungen, die legale und illegale Abwanderung aus der DDR auch in den siebziger und achtziger Jahren einzudämmen, aus existenziellen Gründen für unumgänglich notwendig hielt, ohne dabei freilich Erfolg zu haben. Obwohl oder eigentlich: weil sie ihren „Kampfauftrag" zu erfüllen nicht imstande waren, nämlich einen deutlichen Rückgang von Republikflucht und Ausreise aus der DDR zu erreichen, weiteten sich die ZKG und BKG strukturell und personell mehr und mehr aus. 1976, als sie ihre Arbeit begannen, waren in der Zentrale 20, auf Bezirksebene 84 hauptamtliche Mitarbeiter auf dieser Linie tätig - nicht gerechnet die Inoffiziellen Mitarbeiter und die Offiziere im besonderen Einsatz der ZKG/BKG -, 1989 waren in der ZKG 185 und in den BKG 261 Mitarbeiter tätig (Eisenfeld 1995, S. 4). Die Gesamtzahl hatte sich also binnen dreizehn Jahren von 104 auf 446 auf das mehr als Vierfache gesteigert. Die zunächst unter Leitung von Oberst Willy Woythe, seit 1983 von Generalmajor Gerhard Niebling stehenden ZKG war im Übrigen nicht nur in der DDR, sondern auch im sozialistischen Ausland - vor allem in der Tschechoslowakei und in Ungarn - sowie in West-Berlin und Westdeutschland operativ tätig, zum Beispiel durch Aktive Maßnahmen gegen Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen. Selbstverständlich hatten die ZKG und BKG eng mit den Untersuchungsorganen des MfS zusammenzuarbeiten, in deren Zuständigkeit die Er-

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mittlungsarbeit in allen schweren Fluchtfällen sowie bei Fluchthilfedelikten und bei der Verfolgung von Ausreise-Antragstellern fiel. Genützt hat alles nichts. 1989 steigerte sich die Flucht- und Ausreisebewegung in einem Umfang und in Formen, wie sie bis dahin kaum vorstellbar waren. Zu erinnern ist an massenhafte Besetzungen der Ständigen Bonner Vertretung in Ost-Berlin sowie vor allem der bundesdeutschen Botschaften in Warschau und Prag, und an den sich über die ungarisch-österreichische Grenze ergießenden Fluchtlingsstrom. Insgesamt verließen im Jahr des Umbruchs 241.900 Menschen die DDR ohne Genehmigung, also „illegal" (Wendt 1991, S. 390). Die Zahl der allein 1989, im letzten Jahr der SED-Diktatur, nach § 213 des Strafgesetzbuches Verurteilten belief sich auf 2.569 (Werkentin 1998, S. 147), das heißt, auch in der Verurteilungsstatistik spiegelt sich der Massenexodus aus der DDR wider. Die Zahlen versinnbildlichen auf ihre Weise die Vergeblichkeit aller Versuche des Regimes, der Republikflucht und Fluchthilfe mittels Stasi-Maßnahmen und StraQustiz Einhalt zu gebieten. Letztlich haben Republikflucht und Ausreise aus der DDR den Zusammenbruch des DDR-Sozialismus genauso mit heraufbeschworen wie die Massendemonstrationen in Leipzig, Ost-Berlin und anderswo im Herbst 1989. Mit Recht sind Republikflucht und Ausreise zu jeder Zeit einem ständigen Misstrauensvotum gegen das Regime der SED gleichgesetzt worden. Wenn von 18 Millionen Menschen insgesamt 3,7 Millionen aus der DDR den Weg nach Westen gesucht und sich auf ihre Weise gegen den Staat das Recht ertrotzt haben, über sich selbst zu bestimmen, so spiegelt sich darin eine Form der Systemauseinandersetzung. die den Herrschenden als ständige Krisenelemente ihres Staates erscheinen mussten. Eigentlich hätte es im geteilten Deutschland umgekehrt sein müssen, wenn der Arbeiter-und-Bauern-Staat gewesen wäre, was zu sein er immer vorgegeben hatte. Tatsächlich haben in den Jahren 1949 bis 1989 rund 470.000 Menschen den umgekehrten Weg gewählt (Wendt 1991, S. 388): Sie sind aus der BRD, wie das in der Agitation der SED hieß, in die DDR gewechselt. 470.000 von gut 60 Millionen gegenüber 3,7 von ursprünglich 18 Millionen. In einer Zeit, in der so mancher Historiker und Publizist schon wieder nostalgische Retuschen am Bild des DDR-Sozialismus anbringt, sollte man sich solche Relationen bewusst machen. Die Zahlen bilanzieren auf ihre Weise die Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West in Deutschland.

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Literatur Beckert , Rudi: Die erste und letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR. Goldbach 1995. Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmaßnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August 1961 in Berlin. Denkschrift. Hrsg. vom Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen. Bonn-Berlin 1961. Eisenfeld, Bernd: Die Zentrale Koordinierungsgruppe. Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung. Anatomie der Staatssicherheit/MfS-Handbuch. Berlin 1995. — Ausreise. In: Rainer Eppelmann/Horst Möller/Günter Nooke/Dorothee Wilms (Hg.): Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik. Paderborn 1996a, S. 73-75. — Fluchtbewegung. In: Rainer Eppelmann/Horst Möller/Günter Nooke/Dorothee Wilms (Hg.): Lexikon des DDR-Sozialismus. Paderborn 1996b, S. 200-202. Fricke, Karl Wilhelm: Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968. Bericht und Dokumentation. Köln 1990, 2. Aufl. — „Das Phänomen des Verrats in der DDR-Staatssicherheit": In: Ders./Bernhard Marquardt: DDR-Staatssicherheit. Bochum 1995, S. 9-49. — Fluchthilfe als Widerstand im Kalten Kriegs. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 49. Jg. (1999), Β 38, Bonn, S. 3-10. Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Anatomie der Staatssicherheit/MfS-Handbuch. Berlin 1995. Grasemann, Hans-Jürgen: Das Politische Strafrecht. In: Eberhard Kuhrt/Hannsjörg F. Buck/Gunter Holzweißig (Hg.): Am Ende des Sozialismus, Bd. 1. Die SED-Herrschaft und ihr Zusammenbruch, Opladen 1996, S. 91-110. Lochen, Hans-Hermann/A/eye/xSWfz, Christian (Hg.): Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Innern, Köln 1992. Protokoll der Kollegiumssitzung am 28. Januar 1958, BStU (= Bundesbeauftragter fllr die StasiUnterlagen), Zentralarchiv SdM 1554 [ungedruckte Quelle]. Renneberg, Joachim: Die neuen Strafbestimmungen zum Schutze der Deutschen Demokratischen Republik. In: Neue Justiz, 12. Jg. (1958), H. 1, Berlin, S. 8 ff. Ulbricht, Walter: Grundfragen der ökonomischen und politischen Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik. Aus dem Referat auf der 33. Tagung des Zentralkomitees der SED vom 16. bis 19. Oktober 1957. Zit. in: Ders.: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen, Bd. VI, Berlin (Ost) 1961, S. 619-699. Unrecht als System. Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen im sowjetischen Besatzungsgebiet. Hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bd. III, Bonn 1958; Bd. IV, Berlin 1962. Wendt, Hartmut: „Die deutsch-deutschen Wanderungen - Bilanz einer 40jährigen Geschichte von Flucht und Ausreise". In: Deutschland Archiv , 24. Jg. (1991). H. 4, Köln, S. 386-395. Werkentin, Falco: Die Reichweite politischer Justiz in der Ära Ulbricht.In: Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED. Leipzig 1994, S. 179-195.

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Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Vom bekennenden Terror zur verdeckten Repression. Berlin 1997, 2. Aufl. — Zur Dimension politischer Inhaftierungen in der DDR 1949-1989. In: Die Vergangenheit Iäßt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ/DDR und deren gesundheitliche Folgen. Berlin 1998, S. 139-152.

5 Mertens

Konsumpolitik in der DDR Von den Versorgungsutopien der fünfziger Jahre zu den Versorgungskrisen der achtziger Jahre Von Annette Kaminsky I. Einleitung 1959 erschien in der DDR ein Buch mit dem verheißungsvollen Titel „Unsere Welt von morgen", das den Höhe- und zugleich Schlusspunkt unter zehn Jahre sozialistische Alltagsutopien setzte.1 In diesem Buch beschworen die Autoren die nahe kommunistische Zukunft, der die DDR bis zum Jahre 1990 entgegengehen würde. Das Buch beginnt mit dem Ausflug eines US-Bürgers im Jahre 2000 in „eine konsequent durchkonstruierte kommunistische Welt", in der „eine unvorstellbare Fülle von Waren und Dienstleistungen zum allgemeinen Nutzen zur Verfügung stand und in der alle Fragen vollkommen und vernünftig geregelt waren. " 2 Beschworen wurde die „ Warenfülle von morgen die als „eine Fülle von landwirtschaftlichen und industriellen Produkten aller Art, von der Ente bis zur Hühnerbrust in Aspik, von Ananas in Dosen bis zum Futterreis, vom Jutesack bis zum Seidenhemd, vom Fahrrad 'mit allen Schikanen' bis zum 'Traumwagen ' (der groß oder klein sein kann, aber immer ausgezeichnet passen muß!), vom Sportflugzeug bis zum Stratokreuzer, vom Kinderfilm bis zum wissenschaftlichen Buch schon in wenigen Jahren auf uns als Verbraucher und Benutzer zugewatschelt, -gerollt, -gefahren und -geflogen kommt"·*, gepriesen wird.

Schon bald nach Kriegsende hatte sich gezeigt, dass die unterschiedliche politische Entwicklung in den einzelnen Besatzungszonen zu verschiedenen Versorgungs- und Konsumentwicklungen führte. Während in den westlichen Besatzungszonen nach der Währungsreform 1948 mit dem „Wirtschaftswunder" nach und nach der Wohlstand Einzug hielt, bekam die aus der sowjetischen Besatzungszone entstandene DDR die Mangelversorgung bis zuletzt nicht in den Griff. Hier galt es, die in den fünfziger Jahren vollmundig gegebenen Versprechen

5'

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Böhm/Dörge.

2

Ebd., S. 2.

3

Ebd., S. 368.

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zu relativieren und den selbst beschworenen Vergleich mit dem westdeutschen Wohlstand wieder aus den Köpfen zu vertreiben und den Menschen ein „sozialistisches" Versorgungs- und Lebensniveau nahe zu bringen. In diesem sollten weniger die Erfüllung individueller Konsumwünsche als vielmehr die kollektiven „ sozialen Errungenschaften " zählen. Aber das gelang trotz aller ideologischen und propagandistischen Anstrengungen nicht. Die Menschen in der DDR waren nicht bereit, von dem ihnen Ende der fünfziger Jahre versprochenen Traum vom westdeutschen Lebensniveau abzurücken. Die SED hatte frühzeitig erkannt, dass die Lösung der Versorgungsprobleme ihre Macht und ihren Anspruch, die führende Kraft im Lande zu sein, festigen würde. Zahlreiche Maßnahmen und Programme künden von den Versuchen, das Lebensniveau zu heben, einen größeren Wohlstand zu erreichen, den Dienstleistungssektor auszubauen und die stetig wachsenden Konsumwünsche der Bürger zu befriedigen. So erscheint die Geschichte der DDR auch als Geschichte von konsumpolitischen Ereignissen, die in direkter Verbindung zur politischen Geschichte standen. Auf den 17. Juni 1953, den Aufstand 1956 in Ungarn, den Mauerbau 1961 oder den Prager Frühling 1968, die politischen Krisen in Polen Ende der sechziger und Ende der siebziger Jahre wurde mit Entscheidungen reagiert, die auf eine Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und auf eine Erhöhung der Kaufkraft zielten. Viele DDR-Bürger verbanden politische Ereignisse und Jahrestage mit Erwartungen an den eigenen Lebensstandard. Ihre Erfahrung bezeugte, dass vor sozialistischen Feiertagen, im Umfeld der SED-Parteitage und insbesondere vor Wahlen das Angebot in den Konsumverkaufsstellen, in Kaufhallen und Warenhäusern kurzfristig besser wurde. Gleichzeitig nährten diese Konsumschwankungen die Ängste vor kommenden Versorgungskrisen: „ Wie soll das erst nächstes Jahr werden? Da gibt es keine Wahlen und keinen 30. Jahrestag lauteten nur allzu oft die Klagen der DDR-Bürger. 4 Nach den von Entbehrungen bestimmten ersten Nachkriegsjahren, in denen die „Leib- und Magenfragen" das alles beherrschende Thema waren, konnte Ende der vierziger Jahre auch in der sowjetischen Besatzungszone wieder optimistischer in die Zukunft geschaut werden. Diese würde Walter Ulbricht zufolge „ die Zeit der Erfolge" sein, womit vor allem die wirtschaftliche Entwicklung gemeint war. 5 Unter dem Motto „ Mehr produzieren, gerecht verteilen, besser leben " versuchte der II. Parteitag der SED 1947, die Menschen für eine Steigerung der Produktion und eine höhere Arbeitsleistung zu gewinnen. Flankiert wurde dieser Kurs durch den sowjetischen Befehl Nr. 234, den die Bevölkerung auch als „Essensbefehl" bezeichnete. Er zielte auf eine Entlohnung nach dem Leistungsprinzip: Wer mehr arbeitete, sollte besser verdienen. In der Praxis verfälschte die Einführung von 4

Kleßmann, S. 379.

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Zitiert nach Weber, S. 198.

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Sondervergünstigungen für ausgewählte Bevölkerungsgruppen je nach politischer oder wirtschaftlicher Bedeutung diese Regelung.6 Bereits 1947 war die Einfuhrung der Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild in Angriff genommen worden. Mitte 1948 wurde ein erster Zweijahrplan aufgestellt, demzufolge die Arbeitsproduktivität bis 1950 um 30 Prozent gesteigert und 80 Prozent der Produktivität des Standes von 1936 erreicht werden sollte. 1950 beschloss der II. Parteitag der SED, die Konsumgüterproduktion, von der sich die Bevölkerung eine Verbesserung ihres täglichen Lebens erhoffte, zu erhöhen. Nur zwei Jahre später revidierte die 2. Parteikonferenz im Sommer 1952 diesen Beschluss, indem nunmehr dem Aufbau des Sozialismus und der schwerindustriellen Basis sowie eigener Streitkräfte, die die knappen Ressourcen verschlangen, Priorität eingeräumt wurde. 7 Die Auswirkungen auf den Alltag der Bürger formulierten die Aktivisten 8 mit dem Slogan „So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben". Sie propagierten Konsumverzicht und vertrösteten auf spätere Zeiten. Unter der Bevölkerung unterstützte die täglich erlebbare Hintanstellung der Konsumbedürfnisse den Unmut über die Politik der SED. Die von der Partei dabei in Kenntnis der Unzufriedenheit mit der Versorgungslage und den befürchteten politischen Konsequenzen auf der einen und den beschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten auf der anderen Seite immer wieder erlassenen Programme und Kampagnen zur Verbesserung der Versorgung erschienen vor dem Hintergrund der in den Westzonen erblickten Konsummöglichkeiten als unzureichend. Im Juni 1953 musste die SED erleben, dass den Konsum- und Versorgungsproblemen eine „systemsprengende Kraft" 9 innewohnen konnte, wenn sie sich mit einer allgemeinen Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen paarte. Sie zog daraus zweierlei Konsequenzen: Zum einen baute sie ihren Sicherheitsapparat aus, der künftige Unruhen bereits im Keim ersticken sollte. Zum anderen setzte sie den bereits vor dem Aufstand aus Moskau vorgegebenen „neuen Kurs", der sich auch in einer „Konsumwende" niederschlug, fort, um die innenpolitische Lage zu entspannen.10 Verbesserung der individuellen Konsumtion lautete nun die Devise. Der laufende Fünfjahrplan wurde geändert, um verstärkt Konsumgüter zu produzieren und Konsummöglichkeiten zu erweitern. 11 Zwar verbesserte sich der Lebensstandard infolgedessen, aber als der erste Fünfjahrplan 1955 endete, konnte

6

Vgl. hierzu Gries.

7

Siehe zur Geschichte der DDR: Weber; Mahlert.

8

Frieda Hockauf 1955.

9

Merl, S. 235.

10

Kowalczuk/Mitter/Wolle.

11

Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei. In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 449.

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die SED-Führung noch keine befriedigende Bilanz vorweisen: Der angestrebte Vorkriegsstand von 1936 war weder in der Arbeitsproduktivität noch beim Lebensstandard errreicht worden, und auch die Unterschiede zur Bundesrepublik waren eher größer als kleiner geworden.

II. „Moderne Menschen kaufen modern" Neue Programme taten Not. Für den 2. FünQahrplan (1956-1960) wurde eine Direktive beschlossen, die auf die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft durch die „wissenschaftlich-technische Revolution" setzte. Diese wiederum sollte die Versorgung der Bevölkerung spürbar verbessern. Auf ihrer 3. Parteikonferenz (1956) versprach die SED erneut, die Konsumgüterproduktion bis 1960 um 40 Prozent zu steigern. 12 Die Versorgungslage stabilisierte sich. Im Juni 1958 konnte mit ftinQähriger Verspätung für die letzten Waren die Rationierung abgeschafft werden. Im gleichen Jahr beschloss der V. Parteitag die „ Vollendung des sozialistischen Aufbaus" mit der „ökonomischen Hauptaufgabe", die den westdeutschen Pro-Kopf-Verbrauch an Konsumgütern und Lebensmitteln bis 1961 zu überholen versprach. 13 „ Überholen und einholen" hieß der dazugehörige Slogan, der später in „ Überholen ohne einzuholen" abgewandelt wurde. Mit dem „Prinzip der materiellen Interessiertheit" der werktätigen Bevölkerung versuchte die SED dem von Ludwig Erhard 1957 für die Bundesrepublik verkündeten „Wohlstand für alle" und der propagierten „Konsumfreiheit" eine sozialismuseigene Konsumentwicklung entgegenzusetzen, für die die Leitbilder jedoch im Kapitalismus entliehen waren. 14 Im Überschwang der durchaus positiven Entwicklung Ende der fünfziger Jahre verlor die SED-Führung den Bezug zur Realität. Mit ihren propagandistischen Verlautbarungen weckte sie überzogene Konsumerwartungen bei der Bevölkerung. Der 1956 angelaufene FünQahrplan wurde 1959 durch den »Siebenjahrplan des Friedens, des Wohlstands und des Glücks« ersetzt, der die „ökonomische Hauptaufgabe" noch einmal bestätigte und eine komplexe und reichhaltige Versorgung der Bevölkerung in Stadt und Land „auf Weltniveau" bis 1961 verhieß. Laut Walter Ulbricht wollte man so „... die Überlegenheit des Sozialismus beweisen [...] nicht mit irgendwelchen Gebrauchsgütern, mit Schund, mit Überplanbeständen, sondern mit Waren, die hohen Gebrauchswert besitzen, die schön 12

Weber, S. 281.

13

Der Handel im Siebenjahrplan..., S. 4.

14

Siehe V. Parteitag der SED 1958, Siebenjahrplan des Friedens, des Wohlstands und des Glücks 1959; Diskussion und Entschließungen

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und geschmackvoll sind, die der arbeitende benutzt"

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Mensch mit Freude kauft und

In diesem politischen Umfeld war es nur zu verständlich, dass die Handelskonferenz der SED 1959 die illusionären Zielsetzungen aufgriff und in völliger Verkennung der tatsächlichen wirtschaftlichen Situation feststellte, es komme nun nur noch darauf an, „ auf neue sozialistische Art Handel zu treiben und die Konsumgüter mit hoher Verkaufskultur anzubieten und schnell zu verkaufen " 1 6 , umso die Zielsetzungen bis 1961 zu erfüllen. Die Zauberworte hießen „komplexe Versorgung" auf dem „ Weltstand im EinzelhandelUnd auch der zum Vorzeigeprojekt des DDR-Handels erkorene Versandhandel 17 verkündete 1959: „Ich bin stolz darauf, der Katalog eines sozialistischen Versandhauses zu sein. A u f meinen Seiten wird jetzt schon überzeugend sichtbar: Die Arbeiter in der Industrie und die Werktätigen in der Landwirtschaft schaffen es! Bis 1961 wird Westdeutschland im Pro-Kopf-Verbrauch an Lebensmitteln und den wichtigsten Konsumgütern überholt." 18

In Stadt und Land sollten „komplexe Versorgungszentren" entstehen; die den Warenparadiesen aus „Unsere Welt von morgen" glichen. Diese als moderne Dienstleistungszentren geplanten Großprojekte sollten neben einem umfangreichen Warenangebot auch Wäscherei, Reinigung, verschiedene Reparaturangebote sowie Serviceeinrichtungen wie Frisör und Kosmetik bieten. 19 So wünschenswert und notwendig diese Einrichtungen auch waren, zeigte sich, dass ihre Realisierung auf Grund fehlender Baukapazitäten, Arbeitskräfte, Maschinen oder Waren nicht in der angestrebten Zeitspanne bis 1965 zu schaffen war. Hierzu gehörte auch die mit dem Programm Moderne Menschen kaufen modern propagierte Einführung von modernen Handelsformen und Dienstleistungen wie Selbstbedienung, deren höchste Ausdrucksform die Automatenstraßen wurden, verschiedener Formen des Bestelldienstes, frei-Haus-Lieferung und die großräumige Verlagerung häuslicher Arbeiten in den öffentlichen Raum. Die Kunden mussten sich an eine neue Einkaufswelt gewöhnen. Die zugehörigen Stichworte hießen Standardisierung und Rationalisierung. 20

15

Siehe auch: Der Handel im Siebenjaluplan...; Diskussion und Entschließungen....; Zielke, S. 116.

16

Diskussion und Entschließungen..., S. 105 ;

17

Vgl. Kaminsky passim.

18

konsument-Katalog Frühjahr/Sommer 1959, S. 2.

19

Vgl. Diskussion und Entschließungen....

20

Dahinter verbarg sich in der Regel der Versuch, das Wenige besser zu verteilen. Bemühungen, deren Begleiterscheinungen keineswegs immer verbraucherfreundlich waren. Hinter Rationalisierungen auf der Produktionsseite verbargen sich zumeist Sortimentsbereinigungen, die zu einer abnehmenden Vielfalt im Warenangebot führten.

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Die Verbesserungen und Erleichterungen beim Einkauf und bei der Hausarbeit verfolgten keinen Selbstzweck, sondern sollten den bereits werktätigen bzw. den neu für eine Berufstätigkeit zu gewinnenden Frauen zugutekommen und ihnen den Einstieg in die Erwerbstätigkeit erleichtern. 21 „Zeitersparnis" wurde zum Zauberwort der fünfziger Jahre. Presse und offizielle Verlautbarungen propagierten moderne Einkaufs- und Haushaltsformen unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Haushalt. Damit wurde den Frauen suggeriert, dass bügelfreie Stoffe, Schnellkochgerichte, Gefriergemüse, Fertiggerichte und Dauerbackwaren sowie die verschiedenen Möglichkeiten die für den Einkauf aufgewendete Zeit zu verringern, dazu führen, dass sie ohne größere Zeitinvestitionen ihre Hausarbeit in kürzerer Zeit absolvieren könnten. 22 Männern wurde erne ähnliche Botschaft überbracht: Für sie sollte die Berufstätigkeit ihrer Frauen nicht zu einer Einbuße an häuslicher Bequemlichkeit führen. Auf diese Weise sollte ein eventuell zu erwartender Widerstand der Männer gegen eine massenhafte Aufnahme von Frauen in den Arbeitsprozes entkräftet werden. Während Männern in den Plänen zur Einbeziehung von Frauen in die Produktion und den Arbeitsprozess in den fünfziger Jahren nur eine Statistenrolle zukam, zeigte die folgende Entwicklung, dass allein durch die „technischen Haushaltshelfer" die Mehrfachbelastung der Frau durch Kinder, Haushalt und Erwerbstätigkeit nicht aufgefangen werden konnte. Männer mussten auch ihren Teil zur Hausarbeit beitragen, umso die stetig wachsenden Diskrepanzen zwischen männlicher und weiblicher Freizeit zu verringern. 1971 warben Männer in Schürzen für Hausgeräte und verkündeten: „ Von jetzt ab wasche ich die große Wäsche, denn meine Frau hat das gleiche Recht auf Freizeit und Erholung wie ich! " 23 Das Arrangement vieler Menschen mit dem Staat gegen Ende der fünfziger Jahre als Zustimmung deutend - die Flüchtlingszahlen sanken 1959 mit 143.917 auf den tiefsten Stand seit 1949 24 -, glaubte die Parteiführung, nun die letzten Reste der „kapitalistischen Basis" in der DDR beseitigen zu können und so wie es der V. Parteitag gefordert hatte, die sozialistische Umgestaltung abschließen zu können. Damit würde sich, so hoffte die SED, der marxistischen Theorie von Basis und Überbau gemäß, die sozialistische Idee endlich auch im „Überbau", also im Denken und Handeln der Bevölkerung, durchsetzen. Der privaten Wirtschaft, dem Handwerk und Handel wurden rigoros die Existenzmöglichkeiten beschnitten, 21

Vgl. Programm zur Durchführung von Maßnahmen zur Entlastung der werktätigen Frauen durch den sozialistischen Handel, bekannt als »Bunaprogramm« April 1957; Diskussion und Entschließungen...; Manz. 22 Koch, H./Nieke, W./Wieland, E.: Die Erleichterung der Hausarbeit. Konzeption erarbeitet vom Institut für Marktforschung 1964, S. 56. BArch, Außenstelle Coswig IfM L 102/93; Schmutzler/ Bischoff, S. 11. 23

Katalog centrum-Versand Frühjahr-Sommer 1971.

24

Weber, S. 325.

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ohne dass der staatliche Handel und die Industrie in der Lage gewesen wären, ihren Platz einzunehmen. Zwischen Privathändlern und Produzenten existierten langfristige Stammverbindungen, in die der staatliche Handel aufgrund seiner bürokratischen Strukturen und der durch die Planvorgaben beförderten Schwerfälligkeit kaum einzudringen vermochte. Eine neue Wirtschaftskrise bahnte sich an. Und so erklärte man paradoxerweise die noch bestehenden 250.000 privaten Handwerksund Industriebetriebe und Geschäfte zu den Verursachern der Krise und machte die Opfer zu Schuldigen. 1960 stellte das Politbüro resigniert fest: „ Viele bzw. die meisten Verkäufe kommen nur dadurch zustande, weil die Kundschaft resigniert; sie kauft, weil sie nicht daran glaubt, doch zu der Ware zu kommen, die sie tatsächlich kaufen möchte. " 25

I I I . Die „richtige Lenkung des Warenstroms" Politisch motivierte Eingriffe in die Wirtschaftspläne, fehlende Rohstoffe, Halbfertigprodukte und Materialien führten immer wieder zu Produktionsstillständen und verschärften die Situation weiter. Aber nicht nur Produktionsprobleme spielten eine Rolle. Auch das Handels- und Verkaufsstellensystem wies grundlegende Mängel auf und bedurfte dringend einer Neuorganisation. Einerseits reichte die Zahl der Verkaufsstellen in Stadt und Land nicht für die Versorgung der Bevölkerung aus. Etliche Verkaufsstellen mussten aus Mangel an Verkaufspersonal geschlossen werden. 26 Andererseits machten sich der staatliche, der konsumgenossenschaftliche und der private Handel die Waren, die nicht für eine flächendeckend gleichmäßige Verteilung reichten, gegenseitig streitig: „Natürlich gibt es noch einige Waren, die wir Ihnen nicht jeden Tag anbieten können, das sind die berüchtigten 'Mangelwaren', deren Zahl wir aber schon ganz schön beschränkt haben. Das vorhandene Angebot wird aber auf die Vielzahl der Verkaufsstellen zersplittert und dadurch zerkleinert, weil diese Waren überall in den Mindestsortimentslisten stehen",

hieß es zum Beispiel in einer 1959 veröffentlichten „Werbeschrift für den sozialistischen Handel". 27 Die Beschwerden und Eingaben über die mangelnde Versorgung mit Butter, Fleisch, Gemüse, Obst, Kosmetikartikeln, Ersatzteilen, Metallwaren, Geschirr, Tapeten, Werkzeugen, Kinderbekleidung, sowie sonstigen Industriewaren wie 25

Bericht zur Versorgungslage vom 16.5.1960, SAPMO-BArch J IV 2 610-134, S. 7.

26

Der Konsumgenossenschafter vom 6. Juni 1959, S. 5.

27

Manz, S. 55.

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Autos, Kühlschränken, Fernsehgeräten, Waschmaschinen, Fahrrädern rissen nicht ab. Engpässe in der Versorgung gehörten zur Tagesordnung. Die Schwierigkeiten, die Waren nachfragegerecht zu verteilen, führten in einigen Gebieten zeitweilig zu Überangeboten an Waren, die andernorts gänzlich fehlten. Ein 1959 veröffentlichter Erlebnisbericht schilderte die Einkaufsmisere anschaulich: „Ich habe mich schon manchmal darüber gewundert, daß ich in so vielen Verkaufsstellen schon fast instinktiv mit der Frage beginne: ,Haben Sie dies ..., haben Sie jenes?4 Im Grunde genommen ist es doch eine Selbstverständlichkeit, daß ich zum Beispiel in einer Spezialverkaufsstelle der HO oder des Konsums Sommerschuhe in guter Auswahl angeboten bekomme. [...] Haben wir uns denn schon so daran gewöhnt, daß wir bestimmte Waren nicht immer in den bekannten Verkaufsstellen vorfinden, sondern nur zeitweise? Die HO und der Konsum haben sich doch schon in vieler Hinsicht zum Besseren verändert. Aber wenn wir heute noch immer beim Einkauf mit einer solch skeptischen Frage beginnen, dann ist doch irgend etwas faul, dann kommen doch die zweifellos vorhandenen Waren nicht auf dem richtigen Weg an den Kunden." 2 8

Die verantwortlichen Mitarbeiter des Handels waren sich durchaus bewusst, dass die Beseitigung der Mängel in Ökonomie und Handelssystem eine generelle Lösung erforderte, die längere Zeit in Anspruch nehmen würde. Für die gravierendsten Versorgungsprobleme musste eine kurzfristige Lösung gefunden werden. Man hatte schon frühzeitig erkannt, dass die Neuordnung des Handels in der DDR auf staatlicher Grundlage mit der „ richtigen Lenkung des Warenstroms " und der Ermittlung des tatsächlichen Bevölkerungsbedarfs an Waren stand und fiel. Da man aus Marktbeobachtungen den Eindruck gewonnen hatte, dass die Waren im Prinzip in ausreichender Menge produziert werden könnten und nur besser verteilt werden müssten, erhofften sich die Verantwortlichen einen Ausweg in der punktgenauen Verteilung. Um die ökonomische Lösung der Versorgungsprobleme zusätzlich zu unterstützen, wollte man einen neuen Kunden, der sozialistisch konsumieren sollte. Wurde der Käufer einerseits vom Objekt zum Einkaufssubjekt mit Rechten und einer Kaufwürde, wurde er andererseits zum zu erziehenden Staatsbürger, bei dem „ bürgerliche Konsumtionsgewohnheiten " bekämpft werden mussten. Dazu gehörten Angewohnheiten wie spontanes Kaufen, die geringe Ausnutzung der physischen Lebensdauer von Waren und der als unvertretbar hoch eingeschätzte moralische Verschleiß der Konsumgüter in der BRD, die verkürzt als „ kapitalistisches Konsumentenverhalten " bezeichnet wurden. Dahinter verbargen sich wirtschaftliche Überlegungen. Die Konsumgüterwirtschaft kam kaum mit der Produktion der Waren für den Grundbedarf nach, so dass eine Reduzierung des Bedarfs durch die

28

Ebd,S. 81.

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Anpassung des moralischen Verschleißes an den physischen Verschleiß der Waren angestrebt wurde. 29 Das hieß im Klartext, er sollte seine Kaufwünsche den eingeschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten anpassen. Auch die Werbung sollte beitragen und stärker „sozialistisch" werden, denn „weder das Warenangebot noch die Preis- und Einkommensentwicklung trugen in den vergangenen Jahren ausreichend zur Entwicklung sozialstischer Lebens- und Verbrauchsgewohnheiten bei. Sie wirkten zum Teil einer stabilen Versorgung, einer optimalen Übereinstimmung zwischen Waren- und Kauffonds entgegen. Auch die Werbung auf dem Konsumgüterbinnenmarkt als Bestandteil des Systems der Bedarfslenkung wurde ihren Aufgaben nur ungenügend gerecht. Das drückt sich unter anderem darin aus, dass die Werbetätigkeit nicht planmäßig, sondern sporadisch erfolgte und die Erfüllung der Volkswirtschaftspläne durch die Werbung nur mangelhaft unterstützt wurde. Mit einigen Werbemaßnahmen wurden sogar kapitalistische Verbrauchsgewohnheiten gefördert und damit die Entwicklung sozialistischer Verbrauchs- und Lebensgewohnheiten gehemmt." 30

Diese sozialistischen Verbrauchs- und Lebensgewohnheiten wurden allgemein so definiert, dass ein plan- und berechenbares Kaufverhalten erzeugt werden sollte, bei dem volkswirtschaftliche Möglichkeiten, Bevölkerungsbedarf und die Bedürfnisse des einzelnen übereinstimmen sollten. 31

IV. Utopie versus Realität Trotz der Einbeziehung der Frauen in die Produktion, trotz der Versuche, die Bevölkerung zum sparsamen Kaufen zu erziehen, trotz der punktgenauen Verteilung der Mangelwaren hatte sich die Versorgungslage nicht nachhaltig gebessert. Wegen der unzureichenden wirtschaftlichen Basis, die durch wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen wie die Vernichtung des privaten Handwerks, die Einholjagd mit der Bundesrepublik 32, den Bau der „Rinder-offen-Ställe" oder die „Wurst-amStengeF'-Kampagnen der fünfziger Jahre weiter verschärft wurden, konnte keine langfristig wirkende Versorgungsstrategie etabliert werden. Neue Versorgungsschwierigkeiten bei Butter und Fleisch, den Prestigelebensmitteln, die die Überlegenheit über die Bundesrepublik beweisen sollten, traten auf. Die Bevölkerung forderte, wieder „Kontrollabschnitte" einzuführen, um Hamsterkäufe zu unter29

Albrecht, Funktion, S. 8.

30

Ebd., S. 2.

31

Dein Beruf - dein Leben. Handel I, Heft 4, Berlin 1965.

32

Freyer/Schumann.

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binden. 1961 war die Situation schliesslich wieder so angespannt, dass sich selbst Walter Ulbricht zu mahnenden Worten veranlasst sah und seinen eifrigen Genossen befahl, das Tempo der Umgestaltung zu drosseln, denn: „Die paar privaten Geschäftsleute, die da noch sitzen, die gefährden den Sozialismus nicht, und die paar Fleischermeister, die ihr noch habt, die gefährden den Sozialismus auch nicht. Und dann macht ihr einfach eine ganze Anzahl von Bäckerläden wieder auf, und sollen sie selber backen. Aber sorgt dafür, daß die Bevölkerung Brot kriegt." 3 3

So einfach, wie sich Walter Ulbricht die Lösung der 1961 festgefahrenen innenpolitischen Lage vorstellte, war es jedoch nicht. Immer mehr Menschen entschlossen sich zum letzten Schritt und überquerten die noch durchlässigen Landesgrenzen gen Westen. Am 13. August 1961 schließlich griff die DDR-Führung zum letzten ihr noch zur Verfügung stehenden Mittel. Sie riegelte die Grenze zu Westberlin ab und begann mit dem lückenlosen Ausbau der Grenzanlagen, die vor allem die Bevölkerung von einer Flucht in den Westen abhalten und in Ermangelung anderer Alternativen deren Loylität zur DDR erzwingen sollte. Die SED versprach ihren Bürgern, dass jetzt der sozialistische Aufbau ohne Störungen von außen durch den „imperialistischen Klassenfeind" ruhig und erfolgreich von statten gehen würde. An ihrem Lebensstandard sollten sie täglich erleben können, dass sie im besseren Teil Deutschlands lebten und aus ihren Alltagserfahrungen ihr Vertrauen in die Richtigkeit der Politik von Partei und Regierung ziehen. 34 Keine Ware des täglichen Bedarfs war zu nichtig, um nicht zum Thema auf den Sitzungen von Zentralkomitee und Politbüro zu werden. Mal war es der fehlende Würfelzucker, mal Frauenkleidung in Übergrößen, mal Kinderstrümpfe, mal Butter oder WursJ. Immer wieder wurden kampagnenartig „Sofortmaßnahmen zur Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung" veranlasst. 35

33

Die DDR vor dem Mauerbau, S. 389.

34

Protokoll der Sitzung des Zentralkomitees der SED vom 9.11.1960 sowie 11. Plenum des ZK der SED „Zu Fragen des Handels, der Versorgung und der Produktion der tausend kleinen Dinge"; ND vom 21.12.1960, S. 4 Ausgabe B, Aus dem Bericht des Politbüros an das 11. Plenum des ZK der SED. 35 Handelskonferenz des Zentralkomitees der SED und des Ministeriums für Handel und Versorgung in Leipzig am 30. und 31.7. 1959; Entschließungen des II. Parteitages zur politischen Lage (1951); Ulbricht, Walter: Die Entwicklung des deutschen volksdemokratischen Staates 1945-1958, Berlin 1961; Politbürobeschluss vom Januar 1953 sowie ND vom 20.1.1953 „Zu Fragen des Handels und der Versorgung". Sitzungen des Politbüros Nr. 11 vom 16.4.1963, Stiftung Archiv der Massenorganisationen und Parteien beim Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv BArch-SAPMO J IV 2/2-875, Nr. 16 vom 12.6.1963 J IV 2/2-882, vom 26.6.1963 J IV 2/2-884,16.12.1963 J IV 2/2-914, Nr. 26 vom 28.7.1964 J IV 2/2-941 siehe auch Protokoll der Sitzung des Zentralkomitees der SED vom 9.11.1960 sowie das 11. Plenum des ZK der SED „Zu Fragen des Handels, der Versorgung und der Produktion der tausend kleinen Dinge"; Neues Deutschland vom 21.12.1960, Ausgabe B, S. 4, Aus dem Bericht des Politbüros an das 11. Plenum des ZK der SED.

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Trotz aller Rückschläge und Einschränkungen ihrer in den fünfziger Jahren vollmundig verkündeten Pläne konnte die SED zu Beginn der sechziger Jahre auf wenigstens einem Gebiet durchweg Erfolge vermelden. Die Ernährungssituation hatte sich stabilisiert; Grundnahrungsmittel konnten in ausreichender Menge gekauft werden. Und es war tatsächlich gelungen, den Pro-Kopf-Verbrauch der Bundesrepublik an Butter und Fett zu übertreffen. Dass dies zu Lasten der Versorgung mit Käse und anderen Milcherzeugnissen geschehen war, trübte die Erfolgsstatistik nicht. Allerdings sah man sich nun mit anderen Problemen konfrontiert. So verständlich die Sehnsucht der Menschen nach gutem Essen nach den langen Jahren des Hungers und der Rationierung auch war, die jetzt auftretenden gesundheitlichen Probleme hatte niemand bedacht. Die Bevölkerung hatte sich bereits 1960 erfolgreich an die Weltspitze gegessen. Sie nahm pro Tag durchschnittlich 33 % mehr Kalorien - das waren etwa 1.000 Kilokalorien - zu sich, als energetisch notwendig war. Mahnend erklärten die Ernährungsforscher, die DDR habe nicht mit den Problemen der Unter- sondern der Überernährung zu kämpfen; jeder vierte Erwachsene in der DDR sei übergewichtig. Die Bevölkerung nahm die überschüssigen Nährstoffe vor allem in Form von verdeckten Fetten in hochwertigen und fettreichen Nahrungsmitteln wie Fleisch, Zuckererzeugnissen, Kuchen, Alkohol und Süßwaren zu sich. Hier trotzte sie erfolgreich allen Versuchen, eine gesunde Lebens- und Ernährungsweise anzunehmen. Nun sollten also die Folgen der „deutsch-deutschen Freßwelle" der fünfziger Jahre bekämpft werden. Hatte man zunächst voller Stolz vor allem die für Grundnahrungsmittel wie Fleisch und Butter - die zum Systemvergleich mit der Bundesrepublik bestimmt worden waren - verauslagten Geldmittel des Haushaltsbudgets und die hiervon konsumierten Mengen gezählt, verschob sich mit dem Bekanntwerden der gesundheitsschädlichen Folgen dieser fettreichen und einseitigen Ernährung die Zielrichtung. Nun sollte die Bevölkerung über die gesundheitsschädigenden Folgen dieser Ernährung aufgeklärt und wieder von ihr abgebracht werden. „Die Erziehung der Bevölkerung zu einer gesunden Lebensweise wird erst dann voll erfolgreich sein, wenn sich Werbemaßnahmen und wissenschaftliche Aufklärung weitgehend ergänzen. Die Konsumenten müssen sowohl durch populär-wissenschaftliche Vorträge, redaktionelle Artikel in der Tagespresse und in den Fachzeitschriften, die individuelle Beratung des Arztes, als auch durch die Warenauslage in der Verkaufsstelle, die Filmwerbung usw. zum Verbrauch gesundheitsfördernder Erzeugnisse angeregt werden." 3 6

Vorgefertigte Nahrungsmittel wie Tütensuppen, Dosengerichte und Feinfrostkost, die eine solche volkserzieherische Ernährungslinie vorstellten, sollten forciert hergestellt und beworben werden. Der wirtschaftliche Hintergrund dieser Bestrebungen war die Erkenntnis, dass die Landwirtschaft und Nahrungsgüterindustrie 36

Albrecht, Aufgaben, S. 25.

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in der DDR einerseits nicht in der Lage waren, das versprochene Versorgungsniveau tatsächlich auch zu liefern. Andererseits führten die durch die fettreiche Nahrung verursachten Probleme mit Übergewicht und Fettsucht - die als Merkmal aller hoch industrialisierten Staaten relativiert wurden - durch krankheitsbedingten Ausfall zu volkswirtschaftlichen Verlusten. Die „Schul- und Betriebsspeisung" war als ein soziales Angebot der DDR an ihre Bürger in den fünfziger Jahren eingeführt worden. Einerseits sollte durch das Angebot an Mahlzeiten der Arbeitsalltag erleichtert werden, andererseits Frauen von ihrer häuslichen Küchentätigkeit freigestellt und für die Produktion verfügbar gemacht werden. In den sechziger Jahren sollte die kollektive Verköstigung in Betriebskantinen und Schulspeisung auch helfen, gezielt auf die Ernährung großer Bevölkerungsteile Einfluss zu nehmen, indem hier nach gesunden Rezepten des Enährungsphysiologischen Instituts PotsdamRehbrücke zubereitetes Essen ausgeteilt wurde. Da dieses Angebot von großen Teilen der Bevölkerung akzeptiert wurde, hätte theoretisch an einem Großteil der Wochentage die gesunde Ernährung der Bevölkerung vorangebracht werden können. 37 Jedoch zeigte sich auch hier wieder, dass die unberechenbaren Wirtschaftsstrukturen in der DDR das Sagen hatten. Ernährungsphysiologisch wertvolle Nahrungsmittel wie Obst, Gemüse oder Fisch fehlten in den Geschäften ebenso wie in den Großküchen. Angesichts der fehlenden Sortimente und Versorgungskontinuitäten konnte keine dauerhafte Änderung im Essverhalten erreicht werden. Die Werbung für Haushaltgeräte wurde ebenfalls genutzt, um die Kunden auf eine gesunde Ernährung einzuschwören. So wurden Kochtöpfe und Pfannen vorgestellt, die mit einer Spezialbeschichtung versehen, Bratfett überflüssig machen würden, Gartöpfe kombiniert mit Gemüserezepten sollten die Akezptanz von Suppen erhöhen und den Prestigewert als „Arme-Leute-Essen" verschrieener Eintöpfe verbessern helfen. Auch die Versorgung mit gesunden Brotsorten sollte hier Abhilfe schaffen. Allerdings hatte sich die Generation, die den Nachkriegshunger noch in lebhafter Erinnerung hatte, andere Ernährungsziele gesetzt. Für sie galten reichhaltige, fett- und fleischreiche Speisen als Zeichen von Wohlstand. Vor allem mit weißen Mehlsorten gebackene Brote, Fleisch und Wurst sowie Kuchen und Torten spielten in den Ernährungsgewohnheiten eine Rolle. Mit der Einführung der Fünf-Tage-Arbeitswoche und dem erhöhten Wert von Freizeit kamen weitere „Dickmacher" hinzu. Die Bevölkerung machte es sich nun in ihren freien Stunden mit allerlei Naschereien und Gebäck vor dem Fernseher oder im trauten Heim gemütlich - und nahm dabei unaufhörlich weiter zu. 3 8

37

Etwa 70 % der Kinder in Vorschul- und Schuleinrichtungen sowie etwa 40 % der berufstätigen Erwachsenen nahmen an dieser Form der Versorgung teil. 38

Dlouhy, et.al., Einstellung; Dlouhy, Durchsetzung; Bischofï, S. 1 ff.; Dlouhy, S. 19 ff.; Dietrich, S. 25 f.; Die Auswirkungen einer bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung mit Südfrüchten auf die Entwicklung der Nachfrage. 1972. BArch, Außenstelle Coswig. DL 102/594, S. 7. Schmutzler.

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Der ständig steigende Nahrungsmittelverbrauch zog sich wie eine rote Linie durch die Geschichte der DDR. Die Bevölkerung verteidigte ihre Weltspitzenposition und baute sie bis in die achtziger Jahre noch aus. Trotz der auf anderen Gebieten erreichten Umstellungen in den Lebensgewohnheiten änderte sich an den Ernährungsgewohnheiten wenig. Dies hatte mehrere Gründe. Die Preisgestaltung, die für hochwertige Nahrungsmittel auch hohe Preise vorgab, förderte die ungesunde Ernährungsweise. Hinzu kam, dass auf technische Konsumgüter oft lange Jahre gewartet und das Geld über einen langen Zeitraum angespart werden konnte. Diese voraussehbar langen Wartezeiten vergrößerten den monatlich frei verfügbaren Betrag, der wiederum vor allem für Lebensmittel verausgabt wurde. Darüber hinaus gehörten Fleisch- und Wurstwaren zu den Prestigelebensmitteln. Mit steigendem Einkommen stieg auch der Fleischverbrauch an. 3 9 Eine Familie in der DDR nahm an fünf Tagen in der Woche eine Fleischmahlzeit zu sich. Da das Angebot an Käse und Quarkspeisen oft ungenügend und unkontinuierlich war und alternative Nahrungsmittel fehlten, wurde besonders abends auf das hochkalorige „Wurstbrot" nicht verzichtet. Der Verbrauch von Fleisch verdoppelte sich zwischen 1955 und 1989 beispielsweise von 45 kg auf 100,2 kg pro Person und Jahr. Der Verbrauch von Fisch hingegen stieg im gleichen Zeitraum nur leicht von 6,7 auf 7,6 kg an. 4 0 Bereits Anfang der sechziger Jahre war man auch auf die große Bedeutung von Südfrüchten für die gesunde und volkswirtschaftlich empfehlenswerte Ernährung gestoßen: „Neben dem großen politischen Effekt einer bedarfsgerechten Versorgung mit Südfrüchten besteht sein wesentlichster versorgungspolitischer Erfolg darin, dass dadurch die disponible Kaufkraft geringer wird, eine Entlastung der Nachfrage in vielen Verbrauchskomplexen eintritt und im Ergebnis dessen eine größere Kontinuität der Zirkulationsprozesse und eine generelle Stabilisierung der Versorgungslage erreicht wird." 4 1

Man könnte, so meinte man, damit auch dem Problem der stark wachsenden Spareinlagen 42 der Bevölkerung zu Leibe rücken, da diese bereit sei, Geld hierfür auszugeben. Gleichzeitig würde sich der Druck auf andere Mangelwaren verringern, da es auch eine Bereitschaft gäbe, hierfür auf andere Waren zu verzichten. Bananen oder Orangen blieben jedoch Mangelware. Es fehlte wie überall an Devisen. Der Bedarf an den Grundnahrungsmitteln galt seit den sechziger Jahren als gesichert. Und da in diesem Bereich durch fehlende Sortimente wie beispielsweise 39

Dlouhy, Verbrauchsgewohnheiten, S. 19 ff.

40

Statistisches Jahrbuch der DDR, 1990, S. 106.

41

Die Auswirkungen einer bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung mit Südfrüchten auf die Entwicklung der Nachfrage. 1972. BArch, Außenstelle Coswig. DL 102/594, S. 7. 42

Tendenzen und Motive des Sparens. Leipzig 1979. BArch, Außenstelle Coswig. L-102/2184.

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bei Obst und Gemüse oder Fisch keine Kaufkraftverlagerungen mehr zu erwarten waren, legte die Bevölkerung ihr durch Einkommenserhöhungen gestiegenes Gehalt zunehmend in so genannten Genussmitteln an, also Süßwaren, Tabak, Kaffee und Alkohol rückten ins Zentrum des Interesses. Der Verbrauch an Bohnenkaffee näherte sich in den siebziger Jahren dem gesundheitsschädigenden Bereich. Denn trotz eines stark überteuerten Preises - der zur Regulierung der Nachfrage beitragen sollte - gehörte Kaffee zu den wichtigsten Ausgabenpositionen. Etwa vier Prozent des gesamten Einzelhandelsumsatzes - bzw. 20 Prozent des Umsatzes bei Genussmitteln - entfielen auf Kaffee. 43 So erhöhte sich der Verbrauch an Kaffee zwischen 1960 von 1,1 kg bis 1989 auf 3,6 kg, wobei hier die umfänglichen privaten Einfuhren in der offiziellen DDR-Statistik natürlich nicht berücksichtigt wurden. Immerhin deckten diese 18 Prozent des Gesamtverbrauchs der DDR ab. Alarmierend stieg auch der Verbrauch von Alkoholika, dessen Konsum „ gesundheitsgefährdende Ausmaße", die einer „internationalen Spitzenposition gleichkommen angenommen hatte und „ in gesellschaftlich akzeptierbare Bahnen " gelenkt werden musste. 44 Beim Verbrauch von reinem Alkohol sah es noch dramatischer aus, von dem DDR-Bürger tranken beispielsweise 1960 4,1 Liter und 1989 10,9 Liter. Umgerechnet in handelsübliche Alkoholsorten tranken sie also durchschnittlich 146 Liter Bier und 15,5 Liter Schnaps in einem Jahr. 45 Auch hier hoffte man - vergeblich - mit dem Mittel der Preisregulierung den Verbrauch zu senken und war sich der Vielschichtigkeit der Problematik sehr wohl bewusst: „Die Unkontinuität im Angebot von Nahrungsmitteln hemmt die sozialistische Bewußtseinsbildung und untergräbt das Vertrauen der Bevölkerung in ihren Staat. Da Nahrungsmittel täglich konsumiert werden, und sie über ein Drittel der Ausgaben für Waren ausmachen, sind sie bei breiten Kreisen der Werktätigen zum ersten Kriterium für die Bewertung des Lebenstandards geworden. Die Gewährleistung eines niveauvollen, kontinuierlichen Angebots ist somit nicht ausschließlich eine Versorgungsfrage sondern ein Politikum ersten Ranges. Die Unkontinuität des Angebots von Nahrungsmitteln erhöht den Zeitaufwand für den Einkauf und reduziert die Möglichkeiten zur Veringerung desselben. Sie widerspricht damit den Bemühungen, den Freizeitfonds der werktätigen Frauen zu erhöhen und sie von nichterforderlichen Tätigkeiten zu befreien.[...] Die Unkontinuität des Angebots an Nahrungsmitteln unterstützt die einseitige, ernährungswissenschafllich falsche Ernährung stimuliert gleichzeitig die Erhöhung des Gebrauchs von Genussmitteln. Damit steht sie im Widerspruch zu den Anstrengungen um Durchsetzung einer richtigen und gesunden Ernährung." 46

43

Schmutzler, Bohnenkaffeeverbrauch, S. 22 f.

44

Donat, S. 24 f.

45

Statistisches Jahrbuch der DDR. Berlin 1990, S. 323.

46

Die künftige Entwicklung der Verbrauchererwartungen an das Sortiment, die Bearbeitung, die Qualität und die Verpackung der Nahrungsmittel. 1968. BArch. Außenstelle Coswig. DL 102/189, S. 4.

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V. „Frau Mode" und „Herr Geschmack" Mit dem gefüllten Bauch begannen die Menschen auch wieder andere Bedürfnisse in den Blick zu nehmen. Hierzu gehörte zuerst die Kleidung. Während die Partei- und Staatsführung in den fünfziger Jahren auf vielen Gebieten zu einer Einholjagd mit der Bundesrepublik gerufen hatte, verfolgte sie im Bereich von Mode und Bekleidung andere Ziele. Die Versuche, das Bekleidungsverhalten der Bürger zu beeinflussen, orientierten sich nicht daran, die Bundesrepublik in der Pro-KopfAusstattung an Kleidern, Schuhen und Mänteln zu überholen. Hier sollte genau der gegenteilige Effekt erreicht werden. Mäßigung war angesagt. Im Bereich Textilien richteten sich die Erziehungsversuche im Unterschied zu allen anderen Gebieten vor allem darauf, den Abkauf einzuschränken. 47 Eine Wende in der Werbearbeit wurde gefordert und durch materiellen Druck in Form der um die Hälfte reduzierten Werbebudgets unterstützt. Werbung im Stile von „ Finden Sie nicht auch, daß zum Frühling unbedingt ein neues Kleid gehört? " oder: „Welche Frau freut sich nicht auf die schöne, warme Sommerszeit? Und schon wird die Frage gestellt: 'Was werde ich mir diesmal kaufen? 1 Wie gerufen kommt nun der neue Katalog, der jede Frau gut beraten möchte. Weder extravagant noch anspruchslos sind die Modelle auf diesen Seiten. Sie haben das gewisse Etwas, das die Kleider aus dem Alltäglichen heraushebt, das sie flott und begehrenswert macht. In seiner Vielfalt ist das ein Sortiment, das dem modischen Geschmack und der persönlichen Note unserer heutigen Frau entspricht, die tatkräftig und selbstbewußt ihren Platz in unserer sozialistischen Gesellschaft einnimmt",

sollte durch Werbung ersetzt werden, die den Käufer darauf orientierte, modeunabhängige Bekleidung in zeitlosem Chic zu erstehen und ihn vor allem auf die Haltbarkeit des Materials und lange Lebensdauer der Stücke verwies. Werbung, die zum Konsumieren aufforderte wie „Das Loch im Kleiderschrank (man kann notfalls ein bißchen nachhelfen) ... " 4 8 war nicht mehr erwünscht. Diese sollte nun „gewährleisten, daß ausgehend von der Zielstellung der sozialistischen Verbrauchskonzeption [...] die Konsumtion in Umfang und Struktur so beeinflußt wird, daß sie sich in Einklang mit den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten entwickelt". 49 Als Lösung wurde vorgeschlagen, „ eine einheitliche Konzeption in der gesamten Werbung zu erreichen und auszuschließen, daß für Waren geworben wird, die nicht ausreichend vorhanden sind oder deren Verbrauch den Prinzipien einer sozialistischen Lebensweise widerspricht". 50

47

Albrecht, Funktion, S. 2.

48

Katalog centrum Frühjahr/Sommer 1962, S. 20.

49

Albrecht, Aufgaben, S. 16.

50

Ebd., S. 18.

6 Mertens

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VI. Die Bekleidung des sozialistischen Menschen Ganz in diesem Sinne beschloss der Ministerrat, die Mode an volkswirtschaftliche Möglichkeiten anzupassen. Die bis dahin üblichen Sommer- und WinterSchlussverkäufe wurden abgeschafft. 51 In der Mode sollte wie auf anderen Gebieten der internationale Entwicklungsstand, das Weltniveau, die Grundlage für eine eigene sozialistische DDR-Modelinie sein. Entsprechend den Erfordernissen des „modernen Industriestaats DDR" mit seiner modernen Lebensweise sollten die Käufer vor allem im Bereich der Mode ihren bisherigen Kauf- und Tragegewohnheiten abschwören und sich der zu entwickelnden zeitlosen und modeunabhängigen Modelinie zuwenden. „ Die politische Bedeutung des Modeschaffens liegt in der Aufgabe begründet, die Vorzüge unserer sozialistischen Gesellschaft im Wettstreit mit dem Kapitalismus Idar hervortreten zu lassen " . 5 2 Dem „westlichen Konsumterror" und hektischem Modewechsel, dem Sich-Kleiden nach dem „letzten Schrei" sollte ein sozialistisches Modebewusstsein entgegengesetzt und durch planvolles Zukaufen, Komplettieren und Kombinieren der Bedarf an modischen Artikeln beeinflusst werden. Das entsprach der zu Beginn der sechziger Jahre entwickelten sozialistischen Modekonzeption, der zufolge sich „modische Veränderungen, wie in den Modelinien der DDR beabsichtigt, kontinuierlich und nicht in schnellen, abrupten Wechseln " 5 3 vollziehen sollten. Darauf sollte auch beim Import von modischen Textilien geachtet werden, um nicht durch unbedachte Einfuhren das sozialistische Erziehungsanliegen zu unterwandern. In den fünfziger Jahren waren ein neuer Modeltyp - der „sozialistische Mensch, den es zu bekleiden gilt" 54 - und sozialistische Modeleitbilder geschaffen worden. Der Bereich Modeforschung der Versandhäuser erhielt die Aufgabe, in Zusammenarbeit mit dem Modeinstitut Berlin eine entsprechende neue Modelinie zu entwickeln, deren Vorbild die „stärker gebaute" Frau, die in der Produktion in Stadt und Land kräftig zupacken konnte, war. Die Bauernzeitung vom 1. Mai 1956 befand, dass es - in Abgrenzung zum „westlichen" Typ des schlanken Models - eher der „Typ der etwas vollschlanken Frau" sei, den „unsere Bäuerinnen" sehen wollen. Entsprechend wurden beispielsweise auf den von den Versandhäusern in kleinen Gemeinden durchgeführten etwa 160 Modenschauen im Jahr bei der Auswahl der Models darauf geachtet, ein breites Spektrum an Frauenfiguren in unterschiedlichen Altersgruppen präsentieren zu können. Bei alledem ging es nicht nur darum, akute Versorgungsengpässe zu überwinden. Mit der steigenden Akzeptanz kräftiger Frauentypen hoffte man, den Abkauf bei Bekleidung langfristig ein51

Beschluß des Ministerrates vom 2.8.1962 über die Abschaffung der Schlußverkäufe.

52

Schubert/Wittek, S. 58.

53

Schubert, S. 64.

54

Nationalzeitung vom 21.6.1961.

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schränken zu können, denn vor allem schlanke Frauen galten modischen Neuheiten gegenüber als aufgeschlossen. Korpulente Frauen hingegen würden nicht jeden modischen Kleiderwechsel mitmachen, hatten Untersuchungen zum Bekleidungsverhalten übergewichtiger Frauen gezeigt. 55 Diese einem etwas abgeschwächten „Proletkult" entstammende Auffassung der neuen sozialistischen Frau wurde jedoch nur kurze Zeit verfolgt. Die Kunden wollten ihrem Idealbild nahe kommende Frauen und Männer bewundern. Der Versuch mit übergewichtigen Models hatte sich von vornherein nur auf die Frauenmode beschränkt. Männer galten in der Regel nicht als putz- und modesüchtig und somit auch weniger erziehungsbedürftig. In der zeitgenössischen Verknüpfung von „Frau Mode", die durch „Herrn Geschmack" gezügelt wird, fand dies seine Entsprechung. Studien hatten desweiteren gezeigt, dass die Kaufentscheidungen für die Bekleidung der Männer in der Mehrzahl von Frauen getroffen wurden. 56 Also schien es durchaus angebracht, hier dem weiblichen Auge zu schmeicheln und zu suggerieren, dass der Mann in den vorgestellten Anzügen, Krawatten oder Hemden eine ebenso gute Figur machen würde wie der Dressman. Auch die Produktionsbetriebe boykottierten das vollschlanke Model und weigerten sich, Kleidung in Übergrößen herzustellen. Diese nämlich erforderten einen höheren Materialverbrauch, der die Planerfüllung erschwerte. Für große Kleidung konnte aus der verfügbaren Menge Stoff weniger Bekleidung hergestellt werden. Also reagierte die Industrie, indem sie die tatsächlichen Figurverhältnisse unter der Bevölkerung und die langfristigen Vorstellungen der Modemacher zugunsten der aktuellen Planerfüllung ignorierte. Ganz im Sinne der angestrebten Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft präsentierten sich zunehmend städtische, schlanke Models, die nichts mehr mit dem Arbeiter- und Bäuerinnen-Typ gemein hatten. „Fesche" junge Frauen in eleganten Kleidern und jugendliche Models mit Zigarette und Kofferradio bestimmten das Bild in den sechziger Jahren. Man gab sich weltoffen und modern, orientierte sich an den Modeschauen von Paris und Mailand. Die junge, elegante und doch sportlich gekleidete Frau wurde mehr und mehr zum modischen Leitbild in der DDR.

55 56

Weichsel, Bekleidung.

In den achtziger Jahren revidierten die Modeforscher ihre in den sechziger und siebziger Jahren durch ihre Studien mit verbreiteten Vorurteile über das Modebewusstsein von Frauen. Trotz der Frauen zugeschriebenen hohen Kaufbereitschaft hatten Befragungen ergeben, dass etwa die Hälfte aller Frauen in der DDR Probleme hatte, etwas Passendes zum Anziehen zu finden. Und in den siebziger Jahren gar gestanden die Modeforscher ihre Vorurteile ein: „ Das Vorurteil, wonach die meisten Frauen der Überzeugung sind, viel mehr Bekleidung als vorhanden zu benötigen, wird durch die Befragung nic bestätigt. " Zit. nach: Aktuelle Informationen zur Mode und Saison. 1980. Β Arch, Außenstelle Coswig DL 102/1572, S. 7. 6*

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Der neue Modetyp entsprach der modernen werktätigen städtischen Frau, die nicht nur das Recht hatte, gut gekleidet zu sein, sondern dazu regelrecht verpflichtet war: „ Jede Nachlässigkeit in der Kleidung ist der Würde der berufstätigen Frau abträglich konstatierte die Kleine Enzyklopädie „ D i e F r a u " . 5 7 Weiter hieß es dort, dass die Berufskleidung „leider immer noch ein Stiefkind der Mode ist, sollte es aber nicht sein. Arbeitsfreudigkeit wird nicht geweckt durch langweilige, unschöne Kleidungsstücke, die die Frau am Arbeitsplatz reizlos und dürftig erscheinen lassen. Im Gegenteil: bei äußerster Zweckmäßigkeit (ausreichenden Taschen, keine beengenden Schnittfalten, keine flatternden Jackenenden beispielsweise für die Arbeit an der Dreschmaschine usw.) und Strapazierfähigkeit (insbesondere für die Frau auf dem Lande) soll die Berufsbekleidung in Schnitt und Farbe der Frau die Möglichkeit geben, auch am Arbeitsplatz gut auszusehen." 58 Entsprechend der modernen Lebensweise sollte die Kleidung zweckmäßig und kulturvoll, „praktisch, langlebig, und modeunabhängig ", „ adrett " und sorgfältig gepflegt sein. Darüber hinaus sollte sie aber auch ideologisch wirksam werden: Farbenfroh und optimistisch sollte sie v o m sozialistischen Lebensstil und einer modernen Lebensweise künden. N u r leider fanden diese guten Vorsätze nicht immer ihre Umsetzung. „Trotzdem stiehlt sich dem Kauflustigen eine Träne ins Knopfloch, sobald er verschiedene Textilien näher in Augenschein nimmt. Säcke in strahlendem Grau oder in anderen optimistischen Tiefdunkelfarben, mit Pailletten oder einer beinahe echten Brosche aufgemutzte Kittel hängen sich gleich den längst überholten OP-Art-Fummelchen außerplanmäßige Falten in den Stoff. Apropos Stoff, der ist entweder sehr billig - was nur bei ausgesprochenen Modeknüllern vertretbar wäre, weil die ohnehin nur einen Sommer getragen werden - oder sehr teuer. Qualitäten, die Gewebe mit guten Trag- und Pflegeeigenschaften in ansprechenden Farben mit einem zeitlos-modischen, soliden Schnitt vereinen, fehlen beinahe ganz. [...] Sogenannte Modeknüller haben sich meist die ohnehin kurzen Beinchen abgelaufen, ehe sie bei uns ein tapferes Schneiderlein finden." 59

57

Die Frau. Kleine Enzyklopädie. Berlin 1961, S. 500.

58

Ebd.

59

„Kleider machen Leute", In: Eulenspiegel Nr. 15/1968, S. 2.

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V I I . Die sinnvolle Nutzung der Freizeit Zum Ende der sechziger Jahre konnten viele DDR-Bürger feststellen, dass sich ihre Lebenssituation verbessert hatte. Zwar war die wirtschaftliche und gesellschaftliche Liberalisierung Mitte der sechziger Jahre abgebrochen worden, der Bereich der individuellen Konsumtion jedoch war weitgehend verschont geblieben. Der Staat gewährte seinen Bürgern eine Reihe von Erleichterungen im täglichen Lebens. Polikliniken, Kulturhäuser, Kureinrichtungen und Ferienplätze waren in großer Zahl eingerichtet und wurden hoch subventioniert. Die SED hatte ganz dem internationalen Trend folgend, Freizeit als Ergänzung zur Arbeitszeit in den sechziger Jahren als gesellschaftlich und privat hoch geschätztes Gut akzeptiert. Jedoch machte sich die Staats- und Parteiführung seit der Einfuhrung der FünfTage-Arbeitswoche im Jahre 1967 verstärkt Gedanken über die arbeitsfreie Zeit ihrer Bürger. Diese sollte ihnen nach Möglichkeit nicht selbst überlassen bleiben. Aufmerksamkeit erheischte einerseits die Frage, inwieweit sich die vermehrt zur Verfügung stehende Zeit in einem verstärkten Abkauf von Waren in dieser Freizeit äußern würde. Andererseits galt es zu klären, wie diese freie Zeit sinnvoll und nutzbringend verbracht werden konnte. Es galt also, neben den Vorhersagen für den Warenabkauf Vorschläge für eine sinnvolle Nutzung der freien Zeit zu machen. So wurden Studien über die „Langfristige Entwicklung des Bevölkerungsbedarfs an Konsumgütern, die der Freizeitgestaltung dienen" (1963), über die „Möglichkeiten zur Förderung einer sinnvollen Freizeitgestaltung der Frauen mit Hilfe des Warenangebots und der materiellen Dienstleistungen" (1966) sowie über das Freizeitverhalten am Wochenende (1969) erstellt. 60 Um den Kunden den Weg zur „sinnvollen " Nutzung der zu erwartenden Freizeit zu weisen, starteten zahlreiche Werbekampagnen. Die Werbung erhielt eine neue Aufgabe. Sie sollte über neue Produkte, die der Freizeitgestaltung dienten, ein neues Lebens- und Freizeitgefühl vermitteln und Freizeitaktivitäten propagieren. Werbekampagnen mit gut bestückten Bücherseiten wiesen auf die Sinnhaftigkeit einer mit Lesen verbrachten Freizeit hin. Gesellschaftsspiele oder Musikinstrumente, Photoapparate und Zubehör oder zahlreiche Sport- und Campingangebote für eine naturverbundene, sportlich-aktive Erholung - für jeden Geschmack war etwas dabei. Segelboote, Motorboote und Kanus fehlten ebenso wenig wie Fahrräder oder Rollschuhe. Zur modernen Freizeitgestaltung zählte auch die „ Partykultur die zünftig mit Bierfässchen und Heimgrill in Werbung, Fernsehen und Zeitungen angepriesen wurde. Anfang der siebziger Jahre versuchte die SED - verbunden mit dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker - die bisher verfolgte Politik der individuellen 60

(MIM).

Vgl. Hierzu die entsprechenden Jahrgänge der Mitteilungen des Instituts für Marktforschung

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Bedürfnisbefriedigung durch die verstärkte Hinwendung zu den „ sozialistischen Errungenschaften " zu orientieren. Die Bürger sollten nicht mehr mit Blick nach Westen ihre Kühlschränke, Fernseher und Fleisch- und Butterkilos zählen, sondern die längst zu Selbstverständlichkeiten gewordenen sozialen Leistungen, die hoch subventioniert wurden, in den Blick nehmen. Die westliche Vergleichssicht hatte ausgedient. Nach dem hoffnungsvollen Start, mit dem Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag die kommenden zwanzig Jahre sozialistischer Entwicklung umrissen hatte, konnte der IX. Parteitag im Mai 1976 stolz Bilanz ziehen. Die 1971 versprochenen Vorhaben waren rasch angegangen worden. Hunderttausende Wohnungen waren seit der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED 1972 entstanden. Die DDRBevölkerung konnte auf den höchsten Lebensstandard im Ostblock blicken, das allgemeine Lohn- und Rentenniveau war gestiegen, Arbeitszeitverkürzungen und das „Babyjahr" waren eingeführt. Die Ausstattung der Haushalte mit Bekleidung, Möbeln und technischen Geräten hatte sich weiter erhöht. Auf dem internationalen Parkett hatte sich die DDR zu einem anerkannten Partner entwickelt, und auch die sportlichen Erfolge der DDR-Nationalmannschaften, die als „Botschafter für den Frieden" um die Welt reisten, konnten sich sehen lassen. Der Parteitag prägte die Formel von der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik". Damit war gemeint, dass das individuelle Lebensniveau an die wirtschaftliche Entwicklung geknüpft sein sollte. Löhne und Sozialleistungen sollten nur mehr im Gleichklang mit der wirtschaftlichen Entwicklung steigen. Konkrete Verbesserungen waren nicht beschlossen worden. Mit diesem wirtschaftlich durchaus vernünftigen Programm versuchte die SED-Führung einmal mehr die Ausgaben für die Erhaltung des Lebensstandards der Bürger den tatsächlichen Möglichkeiten der DDR-Wirtschaft anzupassen. Die Bevölkerung jedoch hatte wie immer hoffnungsvoll auf die Beschlüsse des Parteitages geblickt und war enttäuscht. Um dem Unmut der Bevökerung zu entgehen, wurden nur eine Woche nach dem Parteitag Erhöhungen der Mindestlöhne und Renten verkündet. Damit wurden die Weichen einmal mehr in die falsche Richtung gestellt. Die SED-Führung fürchtete den Unmut der Bürger über nicht gewährte Verbesserungen im Lebensstandard mehr als die wirtschaftlichen und finanziellen Folgen einer ökonomisch nicht untersetzten weiteren Anhebung des Lebensniveaus. Nur allzu bald musste die DDR-Führung spüren, dass sie nicht nur mit den Unwägbarkeiten im eigenen Land konfrontiert war. Die rohstoffarme DDR, die auf Importe aus der Sowjetunion angewiesen war, bekam die Grenzen ihres wirtschaftlichen Wachstums und Wohlergehens weitgehend von der Sowjetunion diktiert. Die Ölkrise und die durch sie verursachte Weltmarktkrise waren nicht ohne Auswirkungen auf die im „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW) zu-

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sammengeschlossenen sozialistischen Staaten geblieben. Die Sowjetunion erhöhte 1976 die Preise für ihre Erdöllieferungen und reduzierte gleichzeitig die Menge des exportierten Erdöls, was in den von ihren Rohstoffexporten abhängigen sozialistischen Staaten für wirtschaftliche Turbulenzen sorgte. Diese wiederum hatten dem wirtschaftlich und politisch wenig entgegenzusetzen. Die neuerliche Krise hatte jedoch nicht nur ökonomische Ursachen. So zeigte sich nach Abschluss der Verhandlungen in Helsinki und der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte, dass die stillen Hoffnungen auf eine Öffnung der DDR nach Westen hin nun vollends zerschlagen waren. Die DDR-Führung enthielt ihren Bürgern den genauen Wortlaut der Schlussakte, der auch Reise- und Ausreiseerleichterungen festschrieb, vor. Der Zusammenhang zwischen Preissteigerungen auf dem Weltmarkt, Mangelerscheinungen in der DDR und der wachsenden Unzufriedenheit der Bürger zeigte sich 1977 mit der sog. „Kaffeekrise" besonders deutlich. Seit Honeckers Machtantritt hatte sich die Auslandsverschuldung der DDR um ein Vielfaches erhöht. Das Politbüro suchte angesichts der steigenden Weltmarktpreise und der Exportschwäche der DDR-Wirtschaft nach Wegen, um über die Drosselung von Importen die Verschuldung abzubauen. Für den Import von Kakao- und Kaffeerzeugnissen gab die DDR jährlich etwa 150 Millionen Valuta-Mark aus. Als die Kaffeepreise 1976 dramatisch anstiegen, musste die DDR nunmehr fast 700 Millionen Mark für Kaffeeimporte ausgeben. Um die Auslandsverschuldung nicht weiter steigen zu lassen, beschloss die SED-Führung die Importe von Nahrungs- und Genussmitteln zu drosseln und die dringend benötigten Devisen für die Einfuhr von Rohstoffen zu sparen. Die bis dahin in der DDR angebotenen Kaffeesorten wurden auf eine Sorte „Rondo" reduziert. Diese kostete statt bisher 15,00 Mark pro 250 g nunmehr 30 Mark pro 250 g. Außerdem kam eine neue Mischkaffeesorte auf den Markt. Von weiteren Maßnahmen - wie etwa der Zuteilung von Kaffee - sah die SED ab: „ A u f eine Kontingentierung beim Verkauf von Röstkaffee im Einzelhandel ist zu verzichten, da eingeschätzt werden kann, daß durch die Erhöhung des Kaffeepreises um ca. 100 % ein Rückgang des Kaffeeverbrauchs um ca. 25-30 % zu erwarten ist. Weiterhin ist damit zu rechnen, daß durch diese Maßnahmen eine Zunahme der Versorgung der DDR-Bevölkerung durch andere Quellen, wie z.B. durch grenzüberschreitenden Päckchen- und Paketverkehr und beim Abkauf im Intershop [...] erfolgen wird. [...] In Betrieben, Verwaltungen, Institutionen usw. sowie für Repräsentationszwecke ist der Verbrauch von Kaffee generell zu untersagen." 61

Die Bevölkerung nahm diesen Angriff auf ihren Lebensstandard nicht unwidersprochen hin. Es hagelte Eingaben und Drohungen. Denn immerhin gehörte Kaffee zu den stärksten Positionen im Haushaltsbudget der DDR-Haushalte. 3,3 Milliarden Mark gaben die DDR-Bürger pro Jahr für den Kaffeekonsum aus, fast ebenso

61

Wolle, S. 200.

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viel wie für Möbel und etwa das Doppelte, was sie für Schuhe zahlten. 62 1978 konnte die SED vermelden, dass sich die Lage auf dem Kaffeesektor - allerdings ohne ihr Zutun, die Preise auf dem Weltmarkt waren gesunken - wieder normalisiert hatte. Damit hatte sich das Krisenkarussel jedoch erst so richtig zu drehen begonnen. 1978 kämpfte die DDR mit dem schlimmsten Kälteeinbruch, der der Wirtschaft Schäden in Millionenhöhe zufügte. Kaum war diese überstanden, drangen bedrohliche Nachrichten vom östlichen Nachbarn, Polen, über die Grenze. Die DDR schloss schließlich 1981 ihre Grenze und setzte den erst zehn Jahre zuvor ins Leben gerufenen visafreien Verkehr mit dem Nachbarland wieder aus. Jenseits der politischen Schwierigkeiten stand die DDR kurz vor der Zahlungsunfähigkeit, vor der sie nur der 1983 von Franz Josef Strauss maßgeblich befürwortete Kredit der Bundesrepublik bewahrte. Im ganzen Land waren Kaffee, Butter und Fleisch - vormals zum „Systemvergleich" auserkorene Lebensmittel - knapp.

V I I I . Eine delikate Versorgungsstrategie Entgegen allen Plänen und Zukunftsvisionen hatten die Versorgungsprobleme im Laufe der Zeit nicht ab-, sondern zugenommen. Und allen realen Verbesserungen im Alltag und in der Versorgung zum Trotz gab sich die Bevölkerung mit dem Erreichten nicht zufrieden, sondern war mit ihren Bedürfnissen der tatsächlichen Entwicklung immer ein gutes Stück voraus. Auch wenn die statistischen Ergebnisse nicht schlecht klangen - immerhin erreichte der Ausstattungsgrad der Haushalte mit hochwertigen technischen Gütern wie Kühlschränken, Fernsehern und Waschmaschinen 80-90 %, im Pro-Kopf-Verbrauch an Nahrungsmitteln verteidigten die DDR-Bürger seit langem die Weltspitze und auch bei Dienstleistungen hatte sich die Lage gebessert 63 - war die Versorgungssituation weit davon entfernt, gut zu sein. Zwar hatte sich der Lebensstandard der DDR-Bürger erhöht, aber die erhoffte Zufriedenheit mit den Lebensumständen war nicht eingetreten. Im Gegenteil: Die Forderungen und Erwartungen weiteten sich aus. Das Institut für Marktforschung räumte in seinen Veröffentlichungen ein, dass die Einteilung der Bevölkerung in Zielgruppen, die in ihrem Konsumverhalten beeinfluss- und erziehbar waren, gescheitert war. Der Bevölkerung wurde ein wachsender Wille zur Distinktion und 62 63

Schmutzler, Bohnenkaffeeverbrauch, S. 22 ff.

Zwischen 1965 und 1989 erhöhte sich die Anzahl der verfügbaren Wäschereien pro Kopf der Bevölkerung kaum. Kamen 1965 11,2 Wäschereien auf 100.000 Einwohner, so erhöhte sich deren Anzahl bis 1989 nur unwesentlich auf 12,5. Allerdings verdoppelte sich das Gewicht der pro Person gereinigten Wäsche von 1965 5,3 kg auf 12,5 kg 1989.

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Differenzierung attestiert, den es mit Waren zu befriedigen gelte. 64 Subjektiv empfanden die Bürger die Versorgungslage als so schlecht wie seit den fünfziger Jahren nicht mehr. Die offiziellen Berichte sprachen von einer „ stabilen VersorgungssituationDiese erwies sich in den nicht-veröffentlichten Analysen jedoch als „ stabil kritisch was sich den Prognosen zufolge auch in absehbarer Zeit nicht ändern würde. 65 Bereits 1959 hatten die auf der Bank befindlichen Sparguthaben der Bevölkerung zum ersten Mal die frei in Umlauf befindlichen Geldmittel überstiegen. Um aufkeimenden Unmut zu besänftigen, erhöhte die SED immer wieder die Löhne und Gehälter und hielt an den niedrigen Mieten, Energiepreisen und Verkehrstarifen fest. Hauptaufgabe war es, das „ erreichte Versorgungsniveau zu sichern " und eine Rang- und Reihenfolge der Bedarfsdeckung zu erstellen. Die als „ sozialistische Errungenschaften " popularisierten niedrigen Mieten und die Preise für Energie, Brot und Milch zählten wie schon in den siebziger Jahren zu den Punkten, die nicht angetastet werden durften. Gleichzeitig legte die Abteilung Handel und Versorgung beim Zentralkomitee der SED Listen über die aktuellen Mangelwaren an. Auf ihnen fanden sich fast alle Waren wieder, die ursprünglich den Wettstreit mit der Bundesrepublik entscheiden sollten. 66 Täglich mit den Versorgungslücken konfrontiert, hatten die Menschen ihr Einkaufsverhalten dem unbefriedigenden Angebot angepasst.67 „Spekulations- und Vorrats- sowie Impulskäufe " mehrten sich und führten ihrerseits wiederum zu neuen Versorgungsproblemen. In Erwartung von Preiserhöhungen und neuerlichen Einbrüchen in der Versorgung verstärkte die Bevölkerung den Warenabkauf weiter. Tauschgeschäfte und ein „grauer Markt", auf dem für D-Mark alles zu haben verschärften die offizielle Versorgungssituation noch. Um der wachsenden Unzufriedenheit gegenzuwirken, hatte das Politbüro beim ZK der SED im Frühjahr 1977 beschlossen, die Delikat- und Exquisitläden auszubauen. Diese „Sondergeschäfte" wie „Intershop", „Genex", „Delikat" oder „Exquisit" verbesserten die Versorgungslage nur auf kurze Sicht. Die politischen Folgen und der wachsende Unmut der Bevölkerung über die Ungerechtigkeiten in der Verteilung der Waren zeitigten gravierende Folgen. Sie sollten den Bedarf der - devisenlosen - Bevölkerung an hochwertigen - Import - Nahrungsmitteln

64

Weichsel, Zielgruppen, S. 38 ff.

65

Koch, S. 9-11.

66

Ergebnisse der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern. 1981-1985. BArch, Außenstelle Coswig, DL 102/1614, S. 2. 67

Eingabenanalyse zur Versorgungssituation im II. Quartal 1987 an das Ministerium filr Handel und Versorgung, weitergeleitet am 20. Juli 1987 an das Büro Jarowinsky beim Zentralkomitee der SED. BArch S ΑΡΜΟ DY 30/37988.

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befriedigen und über die dort erzielten höheren Preise zum Abbau der ständig wachsenden Spareinlagen beitragen. Entsprechend einer auch für andere Bereiche des öffentlichen Lebens in der DDR geltenden Regelung entsprach das Warenangebot dem Verhältnis 60:40. Sechzig Prozent der Waren sollten hochwertige, dem Westen in Verpackung und Art entsprechende Waren aus einheimischer Produktion sein, vierzig Prozent aus Importen vor allem aus der Bundesrepublik stammen. Das Angebot im „Delikat" entsprach bis 1981 auch den Erwartungen der Verbraucher, konnten Mängel im Angebot doch mit der Anlaufphase begründet werden. Hinzu kam, dass im Delikat vor allem Waren angeboten wurden, die im sonstigen Einzelhandel nicht anzutreffen und somit konkurrenzlos waren: „Die umsatzstimulierende Wirkung des Delikat-Warenangebots beruht hauptsächlich auf der Hervorhebung und Abgrenzung gegenüber dem traditionellen [Waren des täglichen Bedarfs; A.K.]~Sortiment und damit auf dem Effekt der Bereicherung und Vielfalt des Nahrungs- und Genußmittelangebots. " 6 S Bald stellte sich jedoch heraus, dass die angebotenen einheimischen Artikel nicht als Alternative zu den Importen akzeptiert wurden. Sie galten als „ nachgemacht " und entsprachen nicht den Erwartungen an ein westliches Erscheinungsbild der Waren. Bereits 1981 war eine „generelle Angebotsverschlechterung" eingetreten, in deren Folge das avisierte Ziel, einen festen Käuferkreis mit seiner Kaufkraft zu binden, nicht gelang. Auch litt die Akzeptanz des Delikathandels als sinnvolle Ergänzung zum sonstigen Warenangebot, da mehr und mehr Waren aus dem normalen Warensortiment nun in den Delikatläden auftauchten. Die Bürger fühlten sich betrogen und unterstellten, dass Mangelwaren aus dem normalen Sortiment zu höheren Preisen im „Delikat" käuflich waren. Bis Ende der 80er-Jahre verschärften sich die Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage weiter. Zwar erreichte der Umsatz im „Delikat" das zweifache Volumen des Umsatzes im Sortiment Waren des täglichen Bedarfs, aber das kam nur zustande, weil die befürchtete Verlagerung des Angebots aus dem WtB-Sektor in den Delikat-Bereich eingetreten war. Die Vorzeigeläden der DDR schnitten in der Bewertung durch die Bevölkerung gegen Ende der DDR immer schlechter ab. Diese bescheinigte ihnen eine stetig abnehmende Auswahl, mangelnde Vielfalt, ein sinkendes Versorgungsniveau mit einem unzureichenden Grad an Bedarfsdeckung. Dennoch kaufte die Bevölkerung verstärkt in diesen Läden - meist zur eigenen Unzufriedenheit - ein. Vor der durch das mangelhafte Angebot forcierten Reservehaltung der DDR-Bevölkerung Käufen gegenüber, vor dem verstärkten unberechenbaren KaufVerhalten und den daraus resultierenden KaufVerlagerungen in andere Bereiche wie Textilien warnten die Marktforscher eindringlich. Sahen sie doch im Scheitern des Modells „Delikat" die Gefahr von Versorgungsstörungen bisher ungekannten Ausmaßes. Ihre Forderungen nach einer Erhöhung der Importe 68

Die Versorgung mit hochwertigen Nahrungs- und Genußmitteln. 1981. Β Arch, Außenstelle Coswig DL 102/1491, S. 6

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und der Aufnahme tatsächlicher „Delikatessen" in das Angebot blieben ungehört bzw. wegen der fehlenden Devisen unerfüllbar. 69 Auch im Bereich der kostenintensiven Konsumgüter wie PKW, Fernsehern, Kühlschränken oder Waschmaschinen sah es kaum anders aus. Die Läden und Lager waren zwar voll, aber bei den Verbrauchern, die inzwischen ihren Grundbedarf an technischen Hausrat, Möbeln und Bekleidung gedeckt hatten und denen der DDR-Handel kaum Neuerungen bieten konnte, hatte sich der Trend zum teuren Produkt und zu hochwertigen Erzeugnissen durchgesetzt. Aufbegehrte Neuentwicklungen wie Farbfernseher oder Vollautomaten musste jedoch bis zu mehreren Jahren gewartet werden, da die serienmäßige Produktion technischer Neuentwicklungen durch die unflexiblen Produktions- und Handelsstrukturen in der DDR sehr lange dauerte. Somit war auch hier keine reale Möglichkeit gegeben, die Kaufkraftüberhänge wirkungsvoll abzubauen und die steigende Unzufriedenheit einzudämmen. Anfang der 80er Jahre nannten 24 % der DDR-Haushalte ein Farbfernsehgerät ihr Eigen; die Kaufbereitschaft lag jedoch weit höher. Den DDR-Bürgern, die sich einen einheimischen Colortrone-Farbfernseher kaufen wollten, kam unverhofft der Westen in Gestalt des Patentrechts zu Hilfe. Der für den Export entwickelte Fernseher konnte wegen der Verletzung von 28 Patenten nicht exportiert werden. So beschloss die SED-Führung für diesen Fernseher die Teilzahlung einzuführen, was zum Abbau der die Lager verstopfenden zigtausend Geräte führte. Allerdings konnten sich die Bürger nicht allzu lange am Kauf der begehrten Geräte freuen, weil die DDR über langfristige Lieferverträge bis 1981 aus der Sowjetunion die Lochmaskenbildröhren importieren musste: „Farbfernsehgeräte mit unterschiedlichen Farbsystemen, Bildgrößen und in verschiedenen Preislagen sind gegenwärtig in allen Bezirken im Angebot. Da die Bürger ihre Kaufentscheidung zunehmend abhängig machen vom technisch-qualitativen Niveau der Geräte sowie von ihrem subjektiven Empfinden über die Gebrauchswert/Wert-Relation schlagen die Geräte der Typen 'Colormat' (4.900,- M Neuentwicklung seit Anfang Juni mit noch geringen Stückzahlen im Angebot), der Typen 'Colorett' (5.757,- M) und der Typen 'Colortron' (6.250,- M) planmäßig um. Diese Geräte haben ein gutes technisches Niveau, sind mit einer Schlitzmaskenbildröhre aus dem Nicht-sozialistischen Währungssystem (NSW) ausgerüstet, besitzen eine gute Farbbrillanz sowie eine durchschnittliche Lebensdauer von 8 bis 10 Jahren. Zunehmend verlangsamend entwickelt sich dagegen der Umschlag der Farbfernsehgeräte vom Typ 'Chromat'. Dieser Gerätetyp ist mit der technisch veralteten Lochmaskenbildröhre ausgestattet, deren Farbkonvergenzeinstellung durch Mechaniker in der Wohnung der Käufer erfolgen muß, deren Lebensdauer 2 bis 5 Jahre beträgt und deren Bildqualität deutlich unter dem Niveau der

69

Ebd.

92

Annette Kaminsky Schlitzmaskenröhre liegt. [...] Für den weiteren Verkauf von Farbfernsehgeräten ist zu gewährleisten, daß diese mit einer hohen Handelskultur angeboten werden und dabei der Gerätetyp 'Chromat' in den Mittelpunkt der Warenpräsentation gestellt w i r d . " 7 0

Um wenigstens die Versorgung der Hauptstadt Berlin zu sichern, wurden Geräte aus den Bezirken abgezogen.71 Die in zweijährigem Turnus erstellten Marktlagetests kamen zu immer schlechteren Befunden. Fast alle Konsumgüter zählten inzwischen zu den kritischen Sortimenten: „ A m Ende des III. Quartals 1985 kann einmal mehr festgestellt werden, daß bei der Mehrzahl der in beiden Warengruppen untersuchten Sortimente insgesamt ausreichende Angebotsmengen zur Deckung der Bevölkerungsnachfrage vorhanden waren. Schwierigkeiten bereitet nach wie vor das Angebot dieser Gesamtmengen in einer nachfragegerechten strukturellen Zusammensetzung. [...] Solche Schwierigkeiten äußern sich einerseits in unzureichenden Angebotsmengen [...], andererseits in teilweise beträchtlichen Überangeboten." 72

Bei Schuhen wurde eine „ komplizierte Marktlage " festgestellt, die allerdings durch die private Einfuhr - via Geschenksendungen - von mehreren Millionen Paar Schuhen über den privaten Paketverkehr wieder gemildert werde. Zum Bereich Oberbekleidung hingegen wurde festgestellt: „In der Frühjahr-Sommer-Saison 1985 ist es nicht gelungen, die Marktsituation nach der im Vorjahr verzeichneten Verschlechterung wieder zu stabilisieren. Der Einzelhandel meldet bei 60 Prozent der Untersuchungspositionen unzureichende Angebotsmengen [...]. " 73 Aber die Forscher des Instituts entdeckten zumindest in ihren veröffentlichten Verlautbarungen auch noch in dieser angespannten und unbefriedigenden Situation etwas Gutes. So führe die mangelhafte Angebotssituation dazu, dass die Bevölkerung nicht nur auf dem Nahrungsmittelsektor durch das Einkochen, sondern auch bei der Kleiderfrage auf das „Selbermachen" zurückgriffe. Bereits 1976 hatte eine Studie die Frage aufgeworfen, ob die „ individuell geschneiderte Oberbekleidung Luxus, Hobby oder 'Notlösung'"? sei. Im Ergebnis stellte das Papier einerseits fest, dass das unzureichende Angebot im Handel zum Selbernähen führe, dass 70

Vgl. Abteilung Handel und Versorgung beim Zentralkomitee der SED Information über sich abzeichnende Probleme beim Verkauf von Farbfernsehgeräten vom 28.7.1982. BArch SAPMO DY 30/31757. 71

Auch die Hoffnung, dass die jungen Ehen mit dem Ehekredit dazu beitragen würden, die veralteten Geräte auf Halde abzukaufen, erfüllte sich nicht. Denn diese hatten inzwischen die aus den Haushalten ihrer Eltern ausgemusterten Geräte übernehmen und darüber ihren Grundbedarf decken können und warteten nun ebenfalls auf die technischen Neuentwicklungen. 72

Marktlagetest Haushaltsgeräte 1985. BArch, Außenstelle Coswig DL 102/VA 121, S.3.

73

Ebd., S. 5.

Konsumpolitik in der DDR

andererseits aber dadurch auch eine „sinnvolle Nutzung des Freizeitfonds Frauen " gewährleistet werde. 74

93

unserer

IX. Ausländer als Sündenböcke Bei ihrem Versuch, hausgemachte Problemlagen externen Ursachen anzulasten, griffen die DDR-Marktforscher auf altbekannte Repertoires zurück. War bereits 1953 die verschobene Aufhebung der Rationierung dem Abkauf der West-Berliner Bevölkerung in Ost-Berlin angelastet und auch der Mauerbau mit dem drohenden Ausverkauf der DDR durch West-Berliner begründet worden, so boten sich in den achtziger Jahren wiederum Touristen und Ausländer als Sündenböcke an. 1980 wurde im Auftrag der Regierung untersucht, welche Auswirkungen der ausgesetzte Reiseverkehr zwischen Polen und der DDR auf die Versorgungslage hatte. Man stellte fest, dass dieser auf 33 % des Vorjahresstandes zurückgegangen sei, wobei die Einreisenden zu 90 % als Arbeitskräfte in die DDR kamen. Diese wiederum kauften weniger Waren, wodurch für DDR-Bürger mehr Waren zur Verfügung standen. Im Klartext hieß das: „Infolge des Rückgangs der Käufe polnischer Touristen wurden die verfügbaren Warenfonds in stärkerem Maße für die Versorgung der Bevölkerung in der DDR wirksam. " 75 Trotzdem rief das „polnische Kaufverhalten " unter der Bevölkerung „ antipolnische " Tendenzen und Streikbereitschaft hervor: Die Polen hätten keine Lust zu arbeiten und das Land sei ein Fass ohne Boden. Die Polen-Hilfe würde die Versorgung in der DDR nur verschlimmern. 76 Hans Modrow meldete aus Dresden, dass die Bevölkerung in den Grenzbezirken erwäge, tagsüber nicht mehr arbeiten, sondern einkaufen zu gehen. 1988 wurden die Marktforscher noch deutlicher. Sie errechneten eine Besucherzahl von über zehn Millionen Einreisen aus sozialistischen und nichtsozialistischen Ländern in die DDR, die dabei auch in Läden der DDR einkauften: „Damitpartizipieren Ausländer an den Errungenschaften, die im Zuge der Verwirklichung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik in unserem Land ereicht worden sind. Das bedeutet einen Schaden für die Wirtschaft der DDR und beeinflußt das politische Klima negativ. " 7 7 Um dieser Situation zu 74

Weichsel, Oberbekleidung, S. 13.

75

Zu Auswirkungen der zeitweiligen Veränderungen im privaten Reiseverkehr zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen auf dem Konsumgüterbinnenmarkt der DDR im Jahre 1981. BArch, Außenstelle Cosiwg DL 102/1487, S. 7. 76 77

Staritz, S. 313.

Sonderauftrag zur gegenwärtigen Versorgungssituation. BArch, Außenstelle Coswig 1989, DL 102/2074, O.S.

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Annette Kaminsky

begegnen, empfahlen die Marktforscher, die Rationierung wieder einzuführen, um eine „handelsseitige Einflußnahme auf die Höhe der Abkaufmengen" zu haben. Die Rationierung wurde kurzzeitig für Fleischwaren wieder eingeführt: pro Person durfte nur noch 500 g gekauft werden. Aber dies traf weniger die Ausländer als die DDR-Bürger selber, denen man je eigentlich die Waren erhalten wollte.

X. Epilog Bis 1989 verschlimmerte sich die Versorgungssituation weiter. Die SED wandte sich nun der Mobilisierung aller Versorgungsmöglichkeiten zu und griff auch auf bisherige Tabuthemen wie »Intershop« und Westpakete zurück. Zwar hatte sich Erich Honecker 1977 vor SED-Funktionären noch optimistisch dazu geäußert, dass die Läden, die die DDR-Bevölkerung zunehmend in zwei Gruppen polarisiert hatten, nicht von langer Dauer sein würden: „Gestattet mir ein offenes Wort zu den Intershop-Läden. Diese Läden sind selbstverständlich kein ständiger Begleiter des Sozialismus. Natürlich übersehen wir nicht, daß Bürger der DDR, die keine Devisen besitzen, in gewissem Sinne im Nachteil gegenüber denen sind, die über solche Währung verfügen. Mit dieser Frage haben wir uns befaßt und festgelegt, das Netz der 'Exquisit'-Läden auszubauen. Auch die Anzahl der Delikat-Läden wird erhöht." 7 8

Ende der achtziger Jahre musste der von der SED in Auftrag gegebene „Sonderauftrag zur gegenwärtigen Versorgungssituation" 79 jedoch in Wiederholung des 1976 von Erich Honecker auf dem IX. SED-Parteitag gesprochenen Wortes feststellen, dass nur das verbraucht werden könne, was vorher produziert wurde. Der Bericht verwies darauf, dass die seit Ende der 70er Jahre unter dem Eindruck der polnischen Entwicklung verfolgte Einkommenspolitik zu einem schnelleren Wachstum der Einkommen als der Produktion geführt habe. Hinzu komme, dass das produzierte Angebot nicht den Kaufwünschen der Bevölkerung entspreche, deren freie Geldmengen weder über die hochpreisigen Waren in „Delikat" und „Exquisit" noch über andere Konsumgüter gebunden werden könnten. Auch hätten die seit 1975 erzielten Umsatzsteigerungen im Handel nichts mit einem erhöhten Abkauf durch die Bevölkerung zu tun, sondern mit Preiserhöhungen. Auch die Intershop-Politik der Regierung fördere dieses Verhalten, da die in den Intershop angebotenen Waren westlicher Produktion selbst bei einem unrealistisch hohen Umtauschwert zwischen D- und DDR-Mark von 1:8 bzw. 1:10 immer noch den

78

Neue Zürcher Zeitung, 7.12.1988 „Klassenspaltung im Alltagsleben der DDR".

79

BArch, Außenstelle Coswig DL 102/2074.

Konsumpolitik in der DDR

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gleichen Preis hätten wie die im DDR-Handel angebotenen - zumeist minderwertigen - DDR-Waren. Die Bevölkerung werde durch diese Preisgestaltung indirekt aufgefordert, DDR-Geld zu Schwarzmarktkursen, die derzeit bei 1:4 bis 1:5 lägen, zu tauschen und im Intershop einzukaufen. Hinzu komme, dass die Bevölkerung sich sowieso auf Waren aus dem Nichtsozialistischen Währungsgebiet (NSW) orientiert habe und diesen einen größeren moralischen und materiellen Wert als entsprechenden DDR-Produktionen beimesse.80 Eine im Februar 1989 fertig gestellte Studie über den Paket- und Postverkehr mit der Bundesrepublik brachte zutage, dass die DDR-Wirtschaft und der Handel auf die private Einfuhr von Konsumgütern und Nahrungsmitteln regelrecht angewiesen waren. Teilweise überstieg die private Einfuhrmenge von Kaffee, Kakao, Oberbekleidung und Schuhen die Menge der in der DDR produzierten Waren. 81 Der Bericht verwies auf die Bedeutung dieser Einfuhrmengen für die Wirtschaft der DDR, da diese Einführen die Eigenproduktion entlasteten. Es sei ein „ Trugschluß" den Stellenwert der Genussmittel in den Paketen gering zu schätzen, da ein Teil der angespannten Versorgungslage auf dem DDR-Markt darüber ausgeglichen werde. Hierbei würde es sich „ in jedem Einzelfall um versorgungspolitisch relevante Mengen " handeln, „die maßgeblich das Versorgungsniveau bei diesen Sortimenten prägen. Stets muß mit Nachdruck darauf verwiesen werden, daß Textilwaren in dieser Größenordnung seit Jahrzehnten über den Postpaket- und Päckchenverkehr in die DDR gelangen und in den Garderobefonds unserer Bevölkerung eingehen. Diese Einfuhrmengen an Textilwaren bieten den Empfängern die Möglichkeit, qualitative und strukturelle Mängel im Warenangebot auch über längere Zeiträume zu überdecken [...]".

Problematisch sei lediglich, dass über die Einführ von „ hochmodischer Kleidung" die Kleidungsansprüche in die Höhe geschraubt würden, ohne dass der Handel in der DDR dem etwas entsprechendes entgegenzusetzen habe. Auch sei das hierüber an die Nichtempfänger von Paketen vermittelte Frustrationspotential nicht zu unterschätzen: „Anders ist das natürlich bei den Bevölkerungskreisen, die nicht über derartige Kontakte verfugen. Hier wird eine permanente Unzufriedenheit genährt, die durch den Augenschein im Straßenbild oder an der Arbeitsstelle ständig neu geschürt wird. Dieser politische Aspekt, der schon in der Schule beginnt, darf in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden." 8 2

Doch derartige Warnungen verhallten ungehört. Marktforscher und Ökonomen entwickelten immer wieder das gleiche Szenario, um diese Entwicklung aufzu80

Ebd.

81

Analyse des Postpaket- und -päckchenverkehrs für das IV. Quartal 1988 und Einschätzung der Jahresgrößen fìlr 1988. BArch, Außenstelle Coswig DL 102 VA 248. 82

Ebd.

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halten. Solange das Angebot nicht dazu angetan sei, die Geldüberhänge wirksam abzubauen, sollte auf das Mittel der Kaufkraftstimulierung über Einkommenserhöhungen verzichtet werden. Mehr noch wurde gefordert, die Preise für Mieten, Energie und soziale Leistungen zu erhöhen, umso die Belastung des Staates und die wachsenden Spareinlagen der Bevölkerung abzubauen. Sie rieten dazu, die Preise zu erhöhen, Löhne und Gehälter einzufrieren und technisch hochmoderne Waren bereitszustellen. Aber all diese Maßnahmen, die bis 1989 immer wieder gefordert wurden, lehnte die SED aus politischen Gründen ab: Sie fürchtete durch unpopuläre Maßnahmen auf dem Konsumsektor ihre Légitimât noch mehr zu untergraben. 83 Statt Preiserhöhungen gewährte die SED ihren Bürgern weitere Einkommenserhöhungen, für die bereits seit langem keine Warendeckung mehr vorhanden war. Die Einführung von technisch hochmodernen Waren scheiterte an den veralteten Industrieanlagen und dem Mangel an Devisen. Und so schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die SED-Führung ihren politischen und ökonomischen Offenbarungseid leisten musste. Dies tat Werner Jarowinsky, Sekretär für Handel und Versorgung beim ZK der SED am 10. November 1989, in dem er vor der versammelten SED-Spitze erklärte, die DDR habe seit dem Ende der 60erJahre über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse gelebt. 84 Nach der Öffnung der Grenze und dem Fall der „Mauer" im November 1989 konstatierte der Westen, dass die DDR-Bürger das gerade empfangene Begrüßungsgeld unverzüglich in Lebensmittel wie Kaffee, Schokolade und Südfrüchte, unter denen die Banane den Spitzenplatz innehatte, umsetzten.85 Alle diese Produkte waren bis dahin sporadisch über Westpakete, Intershop oder die Delikatläden in den Konsum der DDR-Bürger eingegangen und hatten ihre Konsumerwartungen wesentlich mitgeprägt. 86

Literatur Albrecht, Anneliese: Die Aufgaben der zentralen staatlichen Organe auf dem Gebiet der sozialistischen Binnenhandelswerbung. In: Mitteilungen des Instituts für Marktforschung, Nr. 2/1962. Die Funktion und die Aufgaben der Werbung auf dem Konsumgüter-Binnenmarkt, die Verantwortung der einzelnen Organe bei der Lösung dieser Aufgaben und die Vorbereitung und Durchführung der Werbemaßnahmen. Leipzig 1963. 83

Koch, S. 9 ff.

84

Hertie/Stephan.

85 Die Satirezeitschrift „Titanic" widmete ihr Titelbild der Novembernummer 1989 diesem Einkaufsverhalten. 86

Siehe hierzu die Mitteilungen des Instituts für Marktforschung, Nr. 4/1989.

Konsumpolitik in der DDR

97

Bischoff, Werner: Die Entwicklung des Bedarfs an Fisch und Fischwaren bis 1965. In: Mitteilungen des Instituts for Marktforschung, Nr. 1/1964, S. 1 ff. Böhm, KarVDörge,

Rolf: Unsere Welt von morgen. Berlin (Ost) 1961.

Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates 1949-1961. Hrsg. von Dierk Hoffmann/Karl-Heinz Schmidt/Peter Skyba. München 1993. Die Frau. Kleine Enzyklopädie. Berlin (Ost) 1961. Dietrich, Hans: Die Konservierung von Obst und Gemüse in den Haushalten. In: Mitteilungen des Instituts für Marktforschung, Nr. 1/1972, S. 25 ff. Diskussion und Entschließungen der Handelskonferenz der SED. Berlin (Ost) 1959. Dlouhy, Walter: Die Durchsetzung einer vernünftigen Ernährung in der Etappe der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR. Berlin (Ost) 1977. -

Verbrauchsgewohnheiten bei Fleisch, Fleisch- und Wurstwaren. In: Mitteilungen des Instituts für Marktforschung, Nr. 2/1974, S. 19 ff.

Dlouhy, Walter et.ai: Die Einstellung der Verbraucher zurrichtigenErnährung und zum Angebot konsumreifer Nahrungsmittel. Leipzig 1969. Dokumente der SED, Bd. IV, Berlin (Ost) 1954. Donat, Peter: Entwicklungsprobleme des Spirituosenverbrauchs. In: Mitteilungen des Instituts für Marktforschung, Nr. 2/1973, S. 24 ff. Freyer, Werner/Schumann, Werner: Verbrauch der westdeutschen Bevölkerung an wichtigen Konsumgütern und Vergleich des Verbrauchs an wichtigen Konsumgütern zwischen der DDR und Westdeutschland in den Jahren 1958 bis 1960. Leipzig 1961. Gries, Rainer: Die Rationengesellschaft. Münster 1991. Der Handel im Siebenjahrplan der Deutschen Demokratischen Republik und seine Aufgaben zur weiteren Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung. Berlin (Ost) 1959. Hertie, Hans-Hermarm/Stephan, Berlin 1996.

Gerd-Rüdiger: Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitee.

Kaminsky, Annette: Kaufrausch. Die Geschichte der ostdeutschen Versandhäuser. Berlin 1998. „Kleider machen Leute", In: Eulenspiegel, Nr. 15/1968, S. 2. Kleßmann, Christoph: Das gespaltene Land. München 1993. Koch, Herbert: Zur Beeinflussung des Bedarfs der Bevölkerung. In: Mitteilungen des Instituts für Marktforschung, Nr. 3/4/1984, S. 9-11. Kowalczuk, Ilko-Sascha/M/ter, Armin/Wolle, Stefan (Hg.): Der Tag X. Berlin 1996. Mahlert, Ulrich: Kleine Geschichte der DDR. München 1998. Manz, Gerhard: Was darf es denn sein? Was Du vom sozialistischen Handel wissen sollst. Berlin (Ost) 1959. Merl, Stephan: Staat und Konsum in der Zentralverwaltungswirtschaft. Rußland und die ostmitteleuropäischen Länder. In. Europäische Konsumgeschichte. Hrsg. von Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/ Jürgen Kocka. Frankfurt/M.-New York 1997. Schmutzler, Jutta: Zum Bohnenkaffeeverbrauch der Bevölkerung der DDR. In: Mitteilungen des Instituts für Marktforschung, Nr. 2/1974, S. 22 ff.

7 Mertens

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Individuell geschneiderte Oberbekleidung - Luxus, Hobby oder Notlösung? In: Mitteilungen des Instituts für Marktforschung, Nr. 1/1976, S. 13.

-

Zielgruppen. Leitbilder oder Spiegelbilder unterschiedlichen Verhaltens? In: Mitteilungen des Instituts für Marktforschung, Nr. 3-4/1985, S. 38 ff.

Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Bonn 1998, S. 200. Zielke, Monika: Zur Sozialpolitik in der DDR während der Übergangsperiode (1945-1961), Diss. Β Rostock 1982.

Bildungspolitische Transformation Die Neulehrer in der SBZ/DDR Von Lothar Mertens I. Vorbemerkung Eines der Hauptziele der sowjetzonalen Bildungspolitik nach 1945 war die Heranziehung einer neuen, antifaschistischen Intelligenz, da die alte Bildungselite sich durch ihre enge Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialismus kompromittiert hatte, bzw. weitgehend noch „bürgerlichen" Idealen anhing. Die politischen und ideologischen Auswirkungen der Umstrukturierungen speziell im Bildungswesen der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), die durch den Befehl Nr. 40 vom 25. August 1945 zur Vorbereitung der Schulen zum Unterricht, den Befehl Nr. 162 vom 6. Dezember 1945 und durch das „Gesetz zur Demokratisierung der Schule" vom Mai 1946 eingeleitet wurden, 1 sollen nachfolgend untersucht werden. Bereits unmittelbar nach Kriegsende 1945/46, wurden von der KPD bzw. der SED mit nachdrücklicher Unterstützung durch die S M A D 2 im Schul- und Bildungsbereich der SBZ gezielt wichtige und langfristige Transformationsprozesse initiiert, die sowohl inhaltlich als auch z.T. personell bis zur staatlichen Auflösung des Staates DDR im Jahre 1990 reichten. Der sofortigen Brechung des bürgerlichen Bildungsmonopols3 und der weitgehenden Beherrschung der Sozialisationsinstanz „Schule" durch die Übernahme von zentralen Entscheidungspositionen in den Schulabteilungen der Landes- und Provinzialverwaltungen durch KPD- bzw. SED-Mitglieder kam dabei eine gesellschafisstrategische Schlüsselrolle zu, da so ein wichtiger Bereich des Sozialisationsprozesses bei der Entwicklung zum geforderten „neuen Menschen" ideologisch beeinflußt und kontrolliert werden konnte. Durch die Neulehrerausbildung sollte rasch ein im KPD/SED-Sinne parteilicher Lehrkörper herangebildet werden. Nach Gottfried Uhlig war der Neulehrereinsatz daher ein wichtiger Beitrag im Klassenkampf „gegen die letzten Positionen des Imperialismus". 4 Bereits in

i*

1

Baske/Engelbert, S. 24 ff.; Günther/Uhlig 1970, S. 42 ff.

2

Siehe dazu ausführlich Naimark sowie Foitzik.

3

Siehe Mertens/Voigt, S. 103 ff.

4

Uhlig, S. 144.

Lothar Mertens

100

seiner Rede bei einer Kulturbund-Kundgebung am 21. November 1945 hatte Heinrich Deiters 5 vorausgesagt, „daß sich tiefgreifende Veränderungen im Denken und Wollen eines Volkes nicht ohne große soziale Umwälzungen vollziehen. " 6 Anton Ackermann 7 hatte im Dezember 1945 auf einer Besprechung vor den Bezirkssekretären der KPD die Parteiziele für den Werbungsaufruf und die Kandidatenauswahl erläutert, „wir wollten, daß wir einen Vorsprung bekommen. Also zunächst haben wir der Partei die Anweisung gegeben: mobilisiert, wählt Kommunisten aus, entfaltet in dieser Frage eine Offensive! Und dann erst kam die Vereinbarung der vier Parteien. Aber wir haben den Vorsprung sehr schlecht ausgenutzt, der uns damit verschafft werden sollte, und jetzt kann eine solche Lage eintreten, daß die Sozialdemokratische Partei und noch mehr die beiden bürgerlichen Parteien rasch ein großes Kontingent der Neulehrer stellen und wir werden dann unter der neuen Lehrerschaft nicht den Einfluß bekommen den wir unbedingt brauchen." 8

5

Deiters, Heinrich (1887-1966); Pädagoge, 1906-12 Studium der Germanistik, Geschichte u. Philosophie in Heidelberg, Münster und Berlin; 1911 Promotion, danach im Schuldienst, Gründungsmitglied der DDP, 1920 in SPD; 1927 Oberschulrat in Kassel, 1933 zwangspensioniert, Juni 1945 Oberschuldirektor in Berlin-Steglitz, Aug. 1945 Mitbegründer und bis Nov. 1945 erster Vorsitzender der Gewerkschaft der Lehrer und Erzieher in Berlin, Sept. 1945 Leiter des Ressorts Lehrerbildung in der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung, Mai 1946 in SED, 1946-59 Mithrsg. der Zeitschrift „Pädagogik", Jan. 1947 ord. Prof. ftlr Geschichte der Pädagogik an der Univ. Berlin, 1947-57 Vorsitzender des Kulturbunds in Berlin, 1949-58 Abgeordneter der DDR-Volkskammer ftlr den Kulturbund; SBZ-Handbuch, S. 885; Wer war Wer, S. 129 f. 6

Deiters, S. 198.

7

Ackermann, Anton [Pseudonym von Eugen Hanisch] (1905-1973); Strumpfwirker, 1920 in Kommunist. Jugendverband (KJVD), 1926 KPD, Bezirksleiter für Erzgebirge/Vogtland, 1928-31 Besuch der Intern. Lenin-Schule in Moskau, 1931-33 Lektor, ab Mai 1933 illegal in Berlin, Sekr., später Politischer Ltr. der KPD-Bezirksorg., Mitgl. des ZK der KPD u. Kand. des PB, Chefred. des NKFD-Rundfunksenders, Mai 1945 Rückkehr in SBZ als Leiter der KPD-Gruppe für Sachsen, Mitgl. des Sekr. des ZK der KPD, veröffentlichte in dessen Auftrag Febr. 1946 den Aufsatz „Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus?" (er mußte ihn im Sept. 1948 widerrufen), 1950-54 Mitglied der Volkskammer der DDR; 1949 Kandidat des SED-Politbüros, Staatssekretär im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, 1953 Direktor des Marx-Engels-Instituts, wegen Unterstützung von Rudolf Herrnstadt u. Wilhelm Zaisser aller Funktionen enthoben u. 1954 aus dem ZK der SED ausgeschlossen, 1973 Selbstmord; Wer war Wer, S. 14. 8

Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde (BA-BL), RY 1/12/5/41, Bl. 1-63; Stenographische Niederschrift über die Sitzung mit den Bezirkssekretären am 22. Dezember 1945 zu Berlin [Tagesordnungspunkt 6: die Auswahl von 6.000 Neulehrern aus der KPD, Referent Anton Ackermann, Bl. 48-52]; hier Bl. 49.

Neulehrer in der SBZ/DDR

101

Die Vereinbarung mit den drei anderen Partei sah Ackermann dabei lediglich als ein Mittel zum Zweck an, da er den bürgerlichen schulpolitischen Einfluß gering halten wollte, „ wir nehmen die Entschließung der vier Parteien durchaus ernst -, aber nachdem die Entschließung unvermeidlich dazu führt, daß sie ihre Kräfte mobilisieren, müssen wir erst recht unsere Anstrengungen verdoppeln. " 9 Wie Ackermann konzedieren mußte, war im Herbst 1945 die Mehrzahl der Kursteilnehmer noch „ nicht unsere Leute, das sind nicht demokratische, antifaschistische Elemente, sondern spießbürgerliche, kleinbürgerliche reaktionäre Elemente, die zum grossen Teil in den Lehrerberuf gehen, weil sie irgendwo unterschlüpfen wollen, aus keinem andern[\] Grunde. " 10 Außerdem würden die meisten von ihnen sich politisch eher der SPD oder den bürgerlichen Parteien, aber nicht der KPD anschließen. Neben den KPD-Mitglieder sollten daher vor allem junge, noch politisch ungebundene Jugendliche mobilisiert werden, welche danach fur die eigene Ziele gewonnen werden konnten, „ denn wir haben das größte Interesse daran, daß auch unter den parteilosen Anwärtern diejenigen überwiegen, die uns nahestehen" ,11 Denn wie auch das Sekretariat des KPD-Zentralkomitee konzedierte, war die Zahl kommunistischer Neulehrer „ bisher außerordentlich gering. " Doch die Entwicklung verschärfte sich noch, so dass es Ende Dezember 1945 in einem Rundbrief an die KPD-Bezirksleitungen hieß, dass „die in den letzten Monaten eingestellten Neulehrer fast durchweg uns fremd und verständnislos gegenüberstehen ", 12 Andererseits jedoch habe sich bereits „eine erhebliche Zahl von mehr oder weniger reaktionären ehemaligen Abiturienten und Studenten dem Schuldienst zugewandt. " 1 3 Wenn dieser Entwicklung nicht entgegengewirkt werde, war nach Ansicht der KPD-Führung die angestrebte Schulreform „aufs äußerste" gefährdet. Daher sollten rasch „aus den Reihen der Komm. Partei Genossen und vor allen Dingen Genossinnen in einer Zahl von insgesamt 6000 mobilisiert werden, die die Partei gewissermaßen kommandiert". 14 Diese Aufforderung an die KPD-Mitglieder war bereits im Nov. 1945 in einem Rundschreiben des ZK-Sekretariats der KPD an die Bezirksleitungen erhoben worden, in dem es hieß „mindestens 4.000 weibliche und 2.000 männliche Mitglieder" 15 soll9

Ebd., Bl. 51

10

Ebd., Bl. 49.

11

Ebd., Bl. 50. Siehe auch Häder, Schülerkindheit, S. 51.

12

BA-BL, RY 1/1 2/5/42, Bl. 63-64; An die Bezirksleitung der KPD, 29. Dez. 1945; Bl. 63.

13

Ebd., Bl. 15-17; An alle Bezirksleitungen der KPD, 24. Nov. 1945; hier Bl. 15.

14

BA-BL, RY 1/12/5/41, Bl. 1-63; Stenographische Niederschrift über die Sitzung mit den Bezirkssekretären am 22. Dezember 1945 zu Berlin [Tagesordnungspunkt 6: die Auswahl von 6.000 Neulehrern aus der KPD, Referent Anton Ackermann, Bl. 48-52]; hier Bl. 49. 15

BA-BL, RY 1/1 2/5/42, Bl. 15-17; An alle Bezirksleitungen der KPD, 24. Nov. 1945; hier Bl. 16. Vgl. auch Häder, Folgen, S. 239 zur Aufforderung an die Frauen.

102

Lothar Mertens

ten für die Achtmonatskurse gewonnen werden. Auch Anton Ackermann beurteilte realistisch, dass das politische Kräfteverhältnis an den Volksschulen der SBZ nicht dadurch entscheidend verändert werden konnte, „ daß man von den alten Lehrern hier und da einen für die Partei gewinnt. " 1 6 Daher mußte ein rascher, umfassender personeller Veränderungs- und Erweiterungsprozeß zugunsten der Kommunistischen Partei erfolgen. Dafür sollten (und wurden) unter den KPD-Parteimitgliedern für die am 15. Januar 1946 beginnenden Achtmonatskurse mindestens 300 Personen in Brandenburg, 1.500 in Sachsen, 1.400 in der Provinz Sachsen, 200 in Mecklenburg-Vorpommern und 1.200 in Thüringen gewonnen werden. 17 Nach Ackermann sollten für die Achtmonatskurse vor allen Dingen auch Arbeiter gewonnen werden. Denn an den bisherigen Zwei- und Dreimonatskursen hätten vor allem Personen mit einer abgeschlossenen Allgemeinbildung (und politischen Distanz zur KPD) teilgenommen, welche nur noch einer pädagogischen Ausbildung bedurft hätten. Doch die KPD wollte eine Proletarisierung des Lehrerberufs und eine Nivellierung der Eingangsvoraussetzungen. Das in diesem Umgestaltungsprozeß neurekrutierte Lehrpersonal stellte sich angesichts der unverhofft erhaltenen beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten 18 und der plötzlichen Chance, den „alten Berufstraum verwirklichen" zu können, 19 zumeist loyal zum sozialistischen Staat und trug damit zur permanenten SEDHerrschaftssicherung bei. Der Begriff „Neulehrer" bezeichnete dabei die neugewonnenen Lehrkräfte, denen bei der Umgestaltung des alten bürgerlichen Bildungswesens in ein neues sozialistisches Schulsystem eine wichtige Rolle zugewiesen wurde. Durch diese Wortbildung sollten sie von den sog. Altlehrern, die bereits vor dieser Neuorientierung im Dienst gewesen waren, ab- bzw. herausgehoben werden. Grundlage für eine derartige Heranbildung neuer Erzieher bildete zum einen der Befehl des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), Nr. 40 vom 25. Aug. 1945 über Vorbereitung der Schulen zum Unterricht. 2 0 Darin wurde u.a. festgelegt, dass

16

BA-BL, RY 1/12/5/41, Bl. 1-63; Stenographische Niederschrift über die Sitzung mit den Bezirkssekretären am 22. Dezember 1945 zu Berlin [Tagesordnungspunkt 6: die Auswahl von 6.000 Neulehrern aus der KPD, Referent Anton Ackermann, Bl. 48-52]; hier Bl. 51. 17

Ebd., Bl. 52.

18

Siehe Lost, Berufsbiographien, S. 76, wo keiner der Befragten sich sonst für den Lehrerberuf entschieden hätte (oder ihn wegen fehlender schulischer Vorbildung hätte ausüben können). 19 20

Hofmann, S. 70.

Mecklenburgisches Landeshauptarchiv, Schwerin (MLHAS), Ministerpräsidium, Nr. 1458; (Auszug aus dem Befehl).

Neulehrer in der SBZ/DDR

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- die zu gründende Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung (DZVVB) unter Leitung des Altkommunisten Wandel 21 und die Präsidenten der Provinzen Maßnahmen zu treffen hätten, um den Unterricht und die Lehrerschaft von „ nazistischen, rassistischen, militaristischen " Elementen zu säubern; - der Unterricht am 1. Okt. 1945 wiederzubeginnen habe; -die Lehrpläne bis zum 15. Sep. 1945 auszuarbeiten und der SMAD zur Bestätigung vorzulegen seien; - alle Lehrer, die früher an den Schulen gearbeitet hätten zu erfassen und jene, die keinen aktiven Anteil an NS-Organisationen hatten, für die Schularbeit auszuwählen seien; - außerdem waren „ aus den demokratischen antifaschistischen Schichten der deutschen Intelligenz für die pädagogische Arbeit Personen heranzuziehen, die eine nötige Allgemeinbildung haben und die als Lehrer an Volksschulen und höheren Schulen zu arbeiten wünschen. " 22 Die zweite Grundlage bildete der SMAD-Befehl Nr. 162 über die „Vorbereitung der Lehrer für die Volksschule" vom 6. Dezember 1945. 23 Bereits am 6. August 1945, 24 also noch vor dem SMAD-Befehl Nr. 40, wurde durch die dem Präsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern unterstellte Abteilung Kultur und Volksbildung in einem Rundbrief an alle Schulräte die beabsichtigte Einrichtung von Schnellkursen zur Heranbildung von Schulhelfern 25 mitgeteilt. Die Schulräte wurden aufgefordert geeignete Kandidaten für die zunächst auf

21

Wandel, Paul (• 1905) 1926 in KPD, 1932/33 an Leninschule in Moskau, nach 1933 im Moskauer Exil, u.a. Mitarbeiter der Komintern und Sekretär von Wilhelm Pieck, kehrte 1945 mit der „Gruppe Ulbricht" nach Deutschland zurück, 1945-49 Präsident der „DZVVB", 1949-52 Volksbildungsminister, 1946-58 Mitglied des Parteivorstands bzw. des ZK der SED, 1950-58 Abgeordneter der DDR-Volkskammer, 1953-57 ZK-Sekretär, als Ulbricht-Gegner abgelöst, 1958-61 Botschafter in China, 1961-64 Stellv. Außenminister; Buch, S. 340. 22

Befehl des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), Nr. 40 vom 25. Aug. 1945 über Vorbereitung der Schulen zum Unterricht; Mecklenburgisches Landeshauptarchiv, Schwerin (MLHAS), Ministerpräsidium, Nr. 1458; (Auszug aus dem Befehl). 23

Schöneburg, Geschichte, S. 214.

24

Dies dürfte ein Beleg für die rasche Arbeitsaufnahme der „Gruppe Sobottka" in Mecklenburg sein. Diese Gruppe von KPD-Politikern war, neben der „Gruppe Ulbricht" in Berlin und der „Gruppe Ackermann" in Sachsen, in den letzten Kriegstagen, noch vor dem Kriegsende, im Parteiauftrag aus dem Moskauer Exil nach Deutschland zurückgekehrt, um die Verwaltung neu aufzubauen; siehe ausführlich Naimark, S. 253 ff. u. S. 298. 25

In der späteren DDR wurden bei allen Berufsbezeichnungen ausschließlich die männliche Form verwendet. Bemerkenswert ist deshalb, dass in diesem Schreiben von „Schulhelfern (-heIferinnen) " gesprochen wurde.

104

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einen Monat befristete Ausbildung vorzuschlagen. 26 Am 3. September 1945 wurde von der Abteilung Kultur und Volksbildung die Durchführung der vierwöchigen Kursen für die Ausbildung von Schulhelfern präzisiert. Bedingung für die Zulassung war das Zeugnis der mittleren Reife. Außerdem sollten die zukünftigen Lehrkräfte nicht jünger als 20 Jahre sein. 27 Durch das Rundschreiben Nr. 1/46 vom 10. Jan. 1946 teilte die Abteilung Kultur und Volksbildung dann allen Mecklenburger Kreisschulräten mit, dass auch jene ehemaligen NSDAPMitglieder sofort fristlos aus dem Schuldienst zu entlassen seien, die bei der Wiedereröffnung der Schulen am 1. Oktober 1945 wiedereingestellt worden waren. 28 Da es „nicht unbekannt" war, dass manche Lehrer nur unter starkem Druck in die Partei eingetreten waren, bzw. im Zuge der reihenweisen Überführung von Berufsverbänden und Jugendorganisationen nur nominell Mitglied der NSDAP geworden waren, sollten bei den Bezirksschulräten eine Prüfungskommission eingerichtet werden, bei der jene Minderbelasteten sich für eine Wiederaufnahme in den Schuldienst bewerben konnten. 29 Zugleich wurden durch dieses Rundschreiben Mitte Januar 1946 in Mecklenburg-Vorpommern alle ehemaligen Pgs entlassen, die im Oktober 1945 noch wiedereingestellt und entsprechend ihrer früheren Dienststellung besoldet worden waren. 30 Dies zeigt die politische Wechselhaftigkeit der Anweisungen, da noch im August 1945 angesichts der Wiedereröffnung der Schulen betont worden war, dass „vorerst" keine Mitglieder der NSDAP, SA, SS oder NSFK eingesetzt würden. 31 Im November 1945 waren bereits, auf Betreiben der lokalen SMADienststellen alle Lehrer entlassen worden, die sowohl Pg. als auch Offizier gewesen waren, während hingegen alle Lehrkräfte, die „nur" der NSDAP angehört hatten, „einstweilen im Schuldienst" verblieben waren. 32 Den Schulräten wurde im Januar 1946 außerdem die wenig beneidenswerte Aufgabe zugewiesen, auch

26 MLHAS, Landesregierung Mecklenburg, Ministerium fìlr Volksbildung, Nr. 2115; Rundschreiben der Abt. Kultur und Volksbildung an alle Schulräte vom 6. Aug. 1945. 27 Ebd., Nr. 48; Rundschreiben der Abt. Kultur und Volksbildung an alle Schulräte vom 3. Sep. 1945. 28

Geißler, Geschichte, S. 106 f.

29

MLHAS, Landesregierung Mecklenburg, Ministerium für Volksbildung, Nr. 48; Rundschreiben Nr. 1/46 der Abt. Kultur und Volksbildung an alle Kreisschulräte vom 10. Jan. 1946. 30

Ebd.; Siehe die Rundschreiben der Abt. Kultur und Volksbildung bezüglich der Besoldung an die Schulräte und Schulbehörden vom 26. Okt. u. 20. Dez. 1945. 31

Ebd., Nr. 199; Rundschreiben an die Schulräte betr. Lehrkräfte für Volks- und Mittelschulen vom 29. Aug. 1945. Bestätigt durch das Rundtelegramm vom 27. Sep. 1945. 32

1945.

Ebd.; Rundschreiben der Abt. Kultur und Volksbildung an die Schulräte vom 26. Nov.

Neulehrer in der SBZ/DDR

105

nach dem Ausfall der Pg.-Lehrkräfte dafür zu sorgen, dass „möglichst Schüler irgendwie

beschult werden.

alle

" 33

Da die meisten Lehrer seit M a i 1945 kein Gehalt mehr erhalten hatten, die Ersparnisse „eingefroren" waren, ließ die Ministerialverwaltung MecklenburgVorpommerns i m Oktober 1945 den Altlehrern 200 R M und allen Schulhelfern und Lehreranwärtern 100 R M als Vorschuß auf das reguläre Gehalt auszahlen, um die Lehrkräfte mit Bargeld zu versorgen; 3 4 auch dies ein Grund für die anfängliche Attraktivität der Ausbildungskurse. N i c h t nur in der „Deutschen Zentralverwaltung für V o l k s b i l d u n g " , 3 5 sondern auch in v i e r 3 6 der fünf Landes- und Provinzialverwaltungen konnte die K P D die politisch wichtigen Schlüsselressorts der Schulaufsicht m i t ihren Parteigängern besetzen: Fritz (Mecklenburg-Vorpommern),

Rücker37 Wilhelm

(Brandenburg), Schneller

39

Gottfried (Sachsen)

Grünberg 38 und

Walter

33 Ebd., Nr. 48; Rundschreiben Nr. 1/46 der Abt. Kultur und Volksbildung an alle Kreisschulrätevom 10. Jan. 1946. 34 Ebd.; Rundschreiben der Abteilung Kultur und Volksbildung an die Schulräte und Landräte vom 16. Okt. 1945. Für die Nachzahlungen in Sachsen siehe Kobuch, S. 699. 35 Siehe Welsh, Zentralverwaltung, S. 237 f. Die KPD stellte den Präsidenten Paul Wandel und den 3. Vizepräsidenten (1945-März 1946 Johannes R. Becher, März 1946-Juli 1948 Erich Weinert). Das Personalbüro leitete Ernst Hoffmann, das Hauptamt für Schulwesen Ernst Hadermann und ab 1946 unterstand die Abteilung Hochschulen und Wissenschaft Dr. Robert Rompe. 36

Rücker hatte allerdings einen sozialdemokratischen Hintergrund und war nach Kriegsende wohl zuerst in die SPD eingetreten. Er hatte jedoch aktiv im Nationalkomitte „Freies Deutschland" mitgearbeitet. 37

Rücker, Fritz (1892-1974); Lehrer 1926-33 Oberstudienrat, degradiert, 1921 SPD, später NSDAP, 1941 in Wehrmacht und später in sowjetische Gefangenschaft, Eintritt ins Nationalkomitee „Freies Deutschland", 1945/46 SPD/SED, 1945 3. Vizepräsident der Provinzialverwaltung Mark Brandenburg, verantwortlich für Volksbildung sowie Arbeit und Sozialwesen, 1946-50 Minister für Volksbildung, Wissenschaft und Kunst, ab 1951 Leiter bzw. Stellv. Leiter der Hauptredaktion im Verlag „Volk und Wissen", ab 1964 Sektorleiter,Arbeit und Recht" im Ministerium für Volksbildung der DDR; SBZ-Handbuch, S. 1009. 38 Grünberg, Gottfried (1899-1985); Bergarbeiter, 1928 KPD, 1933 Emigration, 1934 Studium in Moskau, 1937-39 Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg, 1943-44 Sektorleiter an Antifa-Schule nahe Gorki, 1945 mit der Gruppe Sobottka Rückkehr nach Deutschland, 1945 3. Vizepräsident der Landesverwaltung Mecklenburg-Vorpommern, zuständig für Kultur und Volksbildung, 194650 Minister für Volksbildung, 1950-56 Generalsekretär der „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft", ab 1956 Oberst in der Nationalen Volksarmee, 1960/61 Militârattaché in Moskau; SBZ-Handbuch, S. 917. 39

Schneller, Wilhelm (1894-1973); Lehrer, 1922 KPD, 1924-33 Stadtverordneter in Leipzig, 1933 entlassen, 1945/46 KPD/SED, 1945/46 Leiter der Abteilung Volksbildung im Ressort Inneres und Volksbildung der Landesverwaltung Sachsen, 1946-50 Leiter der Abteilung Schulwesen im Ministerium für Volksbildung der Landesregierung Sachsen, 1950/51 Leiter der Pädagogischen

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W o l f 4 0 (Thüringen). Lediglich in Sachsen-Anhalt fiel die Schulverwaltung mit Ernst T h a p e 4 1 einem Sozialdemokraten zu 4 2 B e i den Schulräten war die Verteilung etwas anders. Zwar waren 168 der 189 Schulräte in der SBZ i m Jahre 1946 M i t g l i e d der SED, jedoch hatten von diesen nur 19 in der Weimarer Republik der K P D angehört, während 85 in der SPD gewesen waren 4 3 Gleichw o h l hatte die SED bereits 1948 ein erdrückendes politisches Übergewicht, nur in Thüringen war noch ein Viertel der Schulräte nicht in der Einheitspartei. 4 4 V o r allem die kontinuierlichen Werbungsaufrufe und Selbstverpflichtungen der Grundorganisationen zur Mitgliederwerbung zeigten W i r k u n g . 4 5

Tabelle 1 Schulräte und ihre Mitgliedschaft in der SED 1948 4 6 Land/ Provinz Brandenburg Mecklenb.-Vor. Sachsen Sachsen-Anhalt Thüringen gesamt

Schulräte abs. 45 26 47 35 36 189

davon Schulräte in SED abs. in % 43 24 44 30 27 168

95,6 92,3 93,6 85,7 75,0 88,9

Schulräte vor 1933 in KPD SPD 5 2 5 -

7 19

23 5 27 18 12 85

Hochschule Potsdam, 1951-60 Mitarbeiter im Ministerium für Volksbildung der DDR; SBZ-Handbuch,S. 1020. 40 Wolf, Walter (1907-1977); Lehrer, 1930 KPD, 1937 wegen Bildung einer antifaschistischen Lehrergruppe verhaftet, 1937-45 in KZ Buchenwald, 1945/46 KPD/SED, 1945/46 Leiter des Landesamtes ftlr Volksbildung der Landesverwaltung Thüringen, 1946/47 Minister für Volksbildung der Landesregierung Thüringen, 1947-49 Prof. f. dialektischen Materialismus an Univ. Jena, 1949 an Univ. Leipzig; SBZ-Handbuch, S. 1060. Siehe seinen Erfahrungsbericht: Wolf, S. 33 ff. 41 Thape, Ernst (1892-1985); Schlosser, Ingenieur, 1908 SPD, Redakteur der „Volksstimme", nach 1933 illegale politische Arbeit, 1939-45 KZ Buchenwald, 1945/46 SPD/SED, Juli 1945 2. Vizepräsident der Provinz Sachsen, 1946-48 Minister ftlr Volksbildung der Provinzialregierung Sachsen bzw. der Landesregierung Sachsen-Anhalt, im Dez. 1948 Parteiausschluß anschließend Flucht in den Westen; SBZ-Handbuch, S. 1041. 42

Anweiler, S. 23 u. S. 37, Anm. 16; Geißler, System, S. 8.

43

Geißler, System, S. 10; Hohlfeld, Neulehrer, S. 40 f.

44

Siehe auch Geißler, Geschichte, S. 110 f.

45

Dies galt sogar noch im Jahre 1953; siehe BA-BL, DY 30/IV 2/5/41, Bl. 1-7; Entwurf eines Schreibens an alle Bezirks- und Kreisleitungen der SED vom 3. Jan. 1953. 46

BA-BL, Ministerium ftlr Volksbildung, DR 2/995, Bl. 1; „Statistische Übersicht über den politischen Werdegang der Schulräte in den Ländern der SBZ".

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Bis zum Jahre 1950 verringerte sich die Gesamtzahl der Schulräte in den fünf Ländern geringfügig, damit sank auch scheinbar der territoriale SED-Anteil leicht; dies jedoch nur weil die Einheitspartei lediglich in Thüringen deutlich an politischem Einfluss verloren hatte. So stammte die Hälfte der LDPD- und sogar zwei Drittel der CDU-Mitglieder unter den Schulräten aus Thüringen. Außerdem gab es hier das einzige NDPD-Mitglied in der gesamten DDR. Tabelle 2 Schulräte und ihre Parteimitgliedschaft 1950 4 7 Land/ Provinz Brandenburg Mecklenb.-Vor. Sachsen Sachsen-Anhalt Thüringen 4 8 gesamt

Schulräte abs. 28 24 44 37 33 166

davon Schulräte in SED in % abs. 28 100,0 23 95,8 41 93,2 34 91,9 69,7 23 149

davon Schulräte in der LDP CDU

87,8

-

-

-

1

3 2 5

1 4

10

6

-

Tabelle 3 Gehaltsunterschiede zwischen Schulräten und Lehrern 1949 4 9 Position Schulrat Rektor an - Oberschule - Grundschule Lehrer an - Oberschule - Grundschule Schulamtsanwärter Schulamtsbewerber

Grundgehalt 808

Wohngeld 72

Gesamt 880

700 591

72 54

772 645

591 541 316 269

54 54 39 29

645 595 355 298

Bemerkenswert waren die Gehaltsunterschiede zwischen den Lehrern der verschiedenen Schulformen und den Schulräten. Aus den Gehaltslisten für den mecklenburgischen Kreis Malchin sind an den Durchschnittswerten für das Frühjahr 1949 die deutlichen Unterschiede in der Besoldung klar erkennbar. 47

Ebd., Bl. 12; „Statistische Übersicht über den politischen Werdegang der Schulräte".

48

In Thüringen war außerdem ein Schulrat Mitglied in der NDPD.

49

MLHAS, Landesregierung Mecklenburg, Ministerium für Volksbildung, Nr. 1154; Gehaltslisten für den Kreis Malchin (undatiert, Frühjahr 1949).

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Danach verdiente ein Oberschullehrer so viel wie ein Grundschulrektor. Deutlich niedrigere Gehälter bezogen die Neulehrer (vor der Prüfung: Lehramtsbewerber; nach bestandener 1. Lehrerprüfung: Schulamtsanwärter). 50

II. Die Situation bei Kriegsende Auf dem Gebiet der SBZ hatte es im Jahre 1939 etwa 1,7 Mio. Schüler gegeben. Im Dezember 1945 waren es hingegen 2,5 Mio Kinder im schulpflichtigen Alter. Allein in den Ländern Sachsen, Thüringen, der Mark Brandenburg und der Provinz Sachsen hatte sich die Zahl der Schüler von 1,38 Mio. (1939) auf über 1,83 Mio. (1945), d.h. um mehr als 30 % erhöht, 51 obgleich im selben Zeitraum die Bevölkerung lediglich um 10% gewachsen war. Hervorgerufen wurde diese Entwicklung, außer durch die geburtenstarken Jahrgänge 1933-39, vor allem durch den raschen Zuzug von kinderreichen Flüchtlingsfamilien aus den deutschen Ostgebieten.52 Bis zum Jahre 1948 kamen 4,2 Mio. Vertriebene in die SBZ, 5 3 dies entsprach einem Bevölkerungsanteil von immerhin 24,2 %, also fast einem Viertel der Gesamtpopulation der entstehenden D D R . 5 4 Bereits bei der ersten provisorischen Volkszählung am 1. Dez. 1945 hatten die Behörden fast 2,5 Mio. Zwangsmigranten gezählt. 55 Diese in den ersten Nachkriegsmonaten unkoordiniert verlaufene Zuwanderung verteilte sich ungleichmäßig auf die einzelnen Länder der SBZ, da die Behörden die Vertriebenen vor allem ins agrarisch strukturierte Mecklenburg-Vorpommern lenkten, 56 weil im sächsischen Industrieraum sowohl intakte Wohnungen als auch ausreichende Nahrungsmittel fehlten.

50

Siehe auch Hofmann, S. 87, der für die Gehaltsdifferenz zwischen Schulamtsanwärtern und Schulamtsbewerbern im Rückblick mit „etwa 30 Mark" bezifferte. 51

Uhi ig, S. 83.

52

BA-BL, DO 2/10/13, Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler, Bl. 43; so waren bis zum 31. Dez. 1946 insgesamt 3.911.922 Personen in die SBZ gekommen. Davon stammten 2.740.234 Menschen aus den unter sowjetischer bzw. polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten, 914.637 Vertriebene aus dem Sudetenland und 257.051 Menschen aus den anderen Staaten. 53

Zur SED-Vertriebenenpolitik und der schwierigen beruflichen Integration siehe Wille, Umsiedler S. 91 ff.; Schwartz, S. 105 ff. 54

Ther, S. 141 ff. Siehe Hoffmann, S. 174 f. zum Umsiedlungsplan des Alliierten Kontrollrates vom Nov. 1945 und den Maßnahmen der Sowjetischen Militäradministration 1945/46. 55 56

Hoffmann, S. 176.

BA-BL, RY 1/12/5/41, Bl. 1-63; Stenographische Niederschrift über die Sitzung mit den Bezirkssekretären am 22. Dezember 1945 zu Berlin [Tagesordnungspunkt 7: Umsiedlerfragen, Referent Hähnle, Bl. 52-60]; hier Bl. 56.

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Tabelle 4 Umsiedler" und Bevölkerung am 1. Jan. 1947 5 7 Land Brandenburg Mecklenburg-νοφ. Sachsen Sachsen-Anhalt Thüringen gesamt

Bevölkerung abs. 2.573.163 2.149.729 5.619.215 4.254.215 2.969.481 17.565.803

Vertriebene abs. 572.010 966.162 783.673 954.657 607.390 3.883.892

Vertriebene in % der Bevölkerung 22,2 44,9 13,9 22,4 20,4 22,1

In etlichen mecklenburgischen Städten wie Greifswald, Güstrow, Parchim, Rostock, Schwerin, Stralsund und Wismar lag die Gesamtzahl der neu hinzu kommenden Umsiedler über der der altansässigen B e v ö l k e r u n g . 5 8 Die Vertriebenen oder sog. „ U m s i e d l e r " 5 9 stellten im Dezember 1947 m i t über 4,2 M i o . Personen fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung in der SBZ dar. Insgesamt gesehen war die Wohnbevölkerung der späteren D D R zwischen 1939 und 1947 von 15,2 auf 19,1 M i o . Bürger angewachsen. Die gestiegene Schülerzahl ließ die Lehrer-Schüler-Relation von 1:40 auf 1:62 emporschnellen, 6 0 da, neben vielen Kriegstoten, außerdem i m Dritten Reich, als Folge einer langen negativen NS-Propaganda, die Zahl der Lehramtsstudenten drastisch gesunken w a r . 6 1 Doch auch ein T e i l 6 2 der Neulehrer rekrutierte sich aus den Vertriebenen. 6 3 So

57

BA-BL, DO 2/10/14, Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler, Bl. 174; Umsiedler und Bevölkerung in der sowjetischen Besatzungszone (ohne Berlin), Stand 1.1.1947, erstellt Mai 1947. 58

Ebd., Bl. 176; die Gesamtbevölkerung (Altansässige/Umsiedler) verteilte sich wie folgt am 1. Jan. 1947: Greifswald (21.118/21.174), Güstrow (44.374/59.904), Parchim (45.735/50305), Rostock (62.251/69.912), Schwerin (32.896/39.476), Stralsund (41.438/46.061) und Wismar (36.540/49.414). 59

So die offizielle Bezeichnung in der DDR für die Flüchtlinge aus den früheren deutschen Ostgebieten, die durch die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens an die Sowjetunion und Polen gefallen waren; Badstübner, S. 29. 60

Uhlig, S. 84.

61

Mertens, Töchter, S. 103 ff.

62 BA-BL, RY 1/12/5/41, Bl. 1-63; hier Bl. 58. Siehe auch BA-BL, DO 2/10/13, Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler, Bl. 105-107; Deutsche Verwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge/ Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler in der SBZ: „Wiedereingliederung der Umsiedler und Heimkehrer in den Produktionsprozess", vom 7. Nov. 1946. 63

BA-BL, DO 2/10/14, Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler, Bl. 208-214; Abt. Statistik, Bericht für den Monat Juli 1947, vom 4. Aug. 1947; hier Bl. 212, Bericht, S. 6. Unbekannt blieb den Statistikern, wie hoch die Zahl der Umsiedler war, welche bereits vor 1947 einen Neulehrerkurs besucht hatten (ebd., B. 211, Bericht, S. 5).

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stammte in Thüringen im Feb. 1947 fast ein Drittel der neuen Lehrer aus den ehemaligen Ostgebieten (24 %) oder dem Sudetenland (8 % ) . 6 4 In Mecklenburg· Vorpommern war fast die Hälfie(49,8 %) der Kursteilnehmer in den Jahren 1945-48 „Umsiedler" gewesen.65 Tabelle 5 .Umsiedler" in Neulehrerkursen (Juli 1947) 6 6 Land Brandenburg Mecklenburg-Vorp. Sachsen Sachsen-Anhalt Thüringen gesamt

Gesamt 240 307 120 170 417 1.254

davon Männer 113 172 45 89 241 660

davon Frauen 127 135 75 81 176 594

Erschwerend kamen noch die indirekten Auswirkungen der Kriegsjahre hinzu, wie etwa beschädigte Schulgebäude und/oder fehlendes bzw. zerstörtes Inventar derselben, 67 die einen normalen, geregelten Schulbetrieb nahezu unmöglich machten. Noch im Sommer 1947 gab es in ländlichen Gebieten zahlreiche Schulen, an denen Kreide, Papier und Bleistifte nicht vorhanden waren. 68 Aber auch bei den Ausbildungskursen für die Neulehrer war, wie etwa in Schwerin im Frühsommer 1948, die Versorgung mit Lehr- und Lernmitteln noch „ unzureichend", da noch immer Bleistifte, Radiergummi und Löschpapier fehlten. 69 Wie unzulänglich, trotz aller Bemühungen, die Ausbildung infolge fehlender Ausstattung im Herbst 1948, zwei Jahre nach Einrichtung der Kurse, noch sein mußte, illustriert die bloße Zahl der in der „Bücherei" des Russisch-Sprachlehrerkurses in Schwerin für die 137 Teilnehmer bereitstehenden Bücher: 3 5 ! 7 0 64

Wolf, S. 47; Statistik der Neulehrer des Landes Thüringen (Stand 1.2.1947).

65

MLHAS, Landesregierung Mecklenburg, Ministerium für Volksbildung, Nr. 2116 b; [Bericht] 3 Jahre Arbeit des Ministeriums ftlr Volksbildung Mecklenburg (1945-1948). Die Lehrerausbildung durch Kurse und die Lehrerweiterbildung, S. 15. 66

BA-BL, DO 2/10/14, Zentralverwaltung ftlr deutsche Umsiedler, Bl. 203 [Umsiedler in kurzfristiger Lehrerausbildung]. 67

Günther/Uhlig, S. 16. Siehe auch die drei Beispiele in Lost, Berufsbiographien, S. 76.

68

Naimark, S. 454; Welsh, Wandel, S. 125.

69

MLHAS, Landesregierung Mecklenburg, Ministerium für Volksbildung, Nr. 2116a; Sprachlehrer-Seminar für Russisch, Schwerin, Berichtsmonat Juni 1948, S. 3; Sprachlehrer-Seminar für Russisch, Schwerin, Berichtsmonat Juli 1948, S. 3. 70 Ebd.; Bericht über den Lehrgang zur Ausbildung von Sprachlehrern ftlr Russisch in Schwerin für November 1948, S. 3.

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Die monatlichen Berichte der verschiedenen Arbeitsgemeinschaften und Fortbildungskurse in den Akten der Volksbildungsministerien entbehren mitunter nicht einer gewissen Komik. So schlug eine Biologische Arbeitsgemeinschaft im Frühjahr 1949 in ihrem Bericht vor, am Rand eines Schulgartens Maulbeerhecken zu pflanzen, um damit die „ Grundlage für die Seidenraupenzucht " zu schaffen. Zugleich wurde jedoch eingeräumt, dass mit diesem Vorhaben noch „manche Schwierigkeiten" verbunden seien, da die Seidenraupen „sehr kälteempfindlich" seien. 71 Tabelle 6 Zustand von Schulgebäuden und Inventar in der SBZ im Herbst 1945 (in % ) 7 2 Zustand von Schulgebäuden und Inventar Gebäude unbeschädigt Gebäude leicht beschädigt Gebäude schwer beschädigt Gebäude zerstört Inventar vorhanden Inventar teilweise vorhanden Inventar nicht vorhanden

Brandenburg 59,0 28,4 7,9 4,7 26,8 52,5 20,7

Land Sachsen 68,2 21,0 4,0 6,8 39,9 54,6 5,5

Provinz Sachsen 83,4 11,0 3,4 2,2 40,8 46,3 12,9

Thüringen 87,7 8,7 2,4 1,2 71,1 26,5 2,4

Wenn Schulgebäude einmal nicht zerstört waren, dienten sie häufig als Kommandanturen oder Kasernen für die sowjetischen Besatzungstruppen. 73 Einer detaillierten Aufstellung aus Mecklenburg vom Mai 1946 zufolge waren insgesamt 52 Schulgebäude zweckentfremdet. In 23 Fällen waren die Räume von der Roten Armee belegt, die neben der Kommandatur in mehreren Orten auch ihr Feldlazarett in Schulgebäuden untergebracht hatte. In der Mehrzahl waren die Zweckentfremdungen jedoch ziviler Natur. So waren Seuchenlazarette, Flüchtlingsfamilien oder die Bürgermeisterei darin untergebracht. Aber auch als Kornkammern mussten mancherorts die Klassenräume herhalten. 74 Nach Auffassung des zuständigen Sachbearbeiters in der DZVVB waren „ die

71

Ebd.; Nr. 2117; Biologische Arbeitsgemeinschaft, 8. Sitzung am 7.4.1949.

72

Ebd.; Bl. 26; Tabelle 3: Zustand der Gebäude und des Inventars der Volks-, Mittel- und Höheren Schulen [undatiert, Herbst 1945]. (Diese Angaben für die Provinz Sachsen und das Land Thüringen sind auch enthalten in: Ebd., Bl. 4-9, hier Bl. 9; „Betrifft: Schulzählung im Herbst 1945", vom 26. Jan. 1946, Tab. Illa). Alle Angaben für die Sowjetische Besatzungszone jedoch ohne Mecklenburg-Vorpommern und den Sowjetischen Sektor von Berlin. 73

Ebd., Nr. 199; Siehe „Betr.: von der Roten Armee besetzte Schulen" vom 24. Nov. 1945.

74

Ebd., Nr. 1149; undatierte [8.5.46] „Liste der z.Zt. belegten Schulen (Mai 1946)".

112

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Kriegsschäden zeichnen" ,75

bei Gebäuden gering und beim Inventar als erträglich

zu be-

Insgesamt gab es auf dem Territorium der späteren DDR im Jahre 1945 39.348 Lehrer und Lehrerinnen an den Volksschulen. Davon hatten 71,7 % der NSDAP angehört, 76 im Reichsdurchschnitt waren es hingegen nur 55 % gewesen. Hierbei sind die Parteianwärter und alle jene, die nur Mitglied in einer der angegliederten Organisationen wie SA, SS, HJ, B D M oder NS-Lehrerbund waren, nicht eingeschlossen. Darüberhinaus gab es noch erhebliche regionale Verschiebungen innerhalb der SBZ. So hatten in Mecklenburg 85 % und in Thüringen gar 90 % aller Volksschullehrer der NSDAP angehört. 77 Da die ehemaligen „Pgs" als untragbar galten und nicht weiter beschäftigt werden sollten, 7 8 fehlten, unter Einschluss einer angestrebten geringeren Lehrer-SchülerRelation, fast 40.000 Lehrer in der SBZ. 7 9 In Rostock beispielsweise waren von einstmals 170 Volksschullehrern (Stand 1939), im September 1945 nur noch 138 anwesend. Davon hatten 76 der NSDAP angehört und wurden daher umgehend aus dem Schuldienst entlassen worden. Dadurch ergab sich in der alten Hansestadt ein Bedarf von 108 Lehrern, oder zwei Drittel des ehemaligen Personalstands.80 Tabelle 7 Verteilung der früheren NSDAP-Mitglieder auf die Länder der SBZ (Stand März 1947) Land/Provinz

Brandenburg Mecklenburg Sachsen Provinz Sachsen Thüringen SBZ insgesamt

Lehrer insgesamt abs. 9.801 8.111 21.288 15.512 8.929 63.641

davon Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen in % abs. 2.023 20,6 329 4,1 23,2 4.830 7.374 47,5 19,8 1.776 16.332 25.6

75

BA-BL, Ministerium für Volksbildung, DR 2/889, Bl. 4-9, hier Bl. 5; „Betrifft: Schulzählung im Herbst 1945", vom 26. Jan. 1946, S. 2. 76

Uhlig, S. 13.

77

Fröhlich, S. 106; Mietzner, S. 119; Wietstruk, S. 14.

78

BA-BL, Ministerium für Volksbildung, DR 2/421, Bl. 2; siehe das Rundschreiben von Paul Wandel an die Landes- und Provinzialverwaltungen vom 15. Juli 1946. 79

Hohlfeld, Neulehrer, S. 44 f.; Sczepansky, S. 129.

80

Grammdorf, S. 170.

Neulehrer in der SBZ/DDR

113

Im Übrigen kann keine Rede davon sein, dass die meisten Lehrer nur Mitläufer oder „Karteileichen" gewesen sind, denn bis 1936 gingen aus der Lehrerschaft des Deutschen Reiches nicht weniger als 7 Gau- oder stellvertretende Gauleiter, 78 Kreisleiter sowie 2.668 Ortsgruppenleiter der NSDAP hervor. Außerdem waren zu dieser Zeit schon 10.500 Lehrer und Lehrerinnen im Jungvolk, dem B D M oder der HJ politisch aktiv.

Land Brandenburg

2023 ü Sonstige

Mecklenburg

• frühere Mitglieder NSDAP/u. Glied.

Sachsen

SachsenAnhalt

Thüringen

0

5000

10000

15000

20000

25000

Anzahl Graphik 1 : Frühere NSDAP-Mitglieder und ihrer Gliederungen unter der Lehrerschaft

Der immense Bedarf an unbelasteten Lehrkräften war nicht durch die Wiedereinstellungen von durch die Nationalsozialisten entlassenen oder gemaßregelten Lehrern zu decken. Auch die Heranziehung von bereits pensionierten Erziehern konnte nur wenig zur Schließung der Lücken beitragen. Überdies beeinflusste diese zweite Möglichkeit die Altersstruktur der Lehrkräfte äußerst ne-

8 Mertens

114

Lothar Mertens

gativ. So waren im Herbst 1945 22 % aller Volksschullehrer 81 der SBZ über 60 Jahre a l t 8 2 und selbst Siebzigjährige wurden noch zurück ans Katheder geholt, sofern sie die politisch gewünschte „antifaschistisch-demokratische" Gesinnung besaßen.83 Um jedoch den Auftrag der Sowjetischen Militäradministration nach Wiedereröffnung der Schulen zum Schuljahr 1945/46 erfüllen zu können, 84 wurden bis auf das Land Sachsen überall formelle oder nur gering belastete NSDAP-Mitglieder wieder in den Schuldienst aufgenommen, 85 unter der Prämisse, sie bei Verfügbarkeit von geeignetem Ersatz gleichfalls sofort zu entlassen. Denn alle schon im Dritten Reich tätigen Lehrer galten für die „Schulen des demokratischen Deutschlands" als ungeeignet.86 Ungeachtet dessen gab es im Oktober 1945 unter den 3.800 Volksschullehrern Mecklenburgs noch immer 1.100 „Parteigenossen" und von den 7.003 Grundschullehrern Brandenburgs im März 1946 hatten 1.143 früher der NSDAP angehört. 87 Geradezu grotesk war die Situation in Thüringen, wo die Zahl der NSDAP-Mitglieder von März bis Mai 1946 durch Personen, die nachträglich wiedereingestellt wurden, um 268 stieg, so dass am Ende des gleichen Jahres noch bzw. wieder 2.363 ehemalige Pgs im Schuldienst waren. 88 Die Hauptschuld an dieser Entwicklung trugen die lokalen Antifa-Ausschüsse, 89 die oftmals auch jene schützten, deren Parteieintritt schon vor dem 30.Januar 1933 erfolgt war. Auch der überaus hohe Anteil nationalsozialistischer Lehrkräfte in der Provinz Sachsen verringerte sich kaum. Zwar waren bis August 1946 bereits 4631 Lehrer wegen ihrer Parteizugehörigkeit zur NSDAP aus dem Schuldienst entlassen worden, 90 doch selbst im September 1949 waren noch immer 3.200 ehemalige Pgs an den Schulen SachsenAnhalts tätig. 91 Es war dabei sogar vorgekommen, dass belastete Lehrer, die im Land Sachsen entlassen worden waren, in der Provinz Sachsen wieder neu eingestellt worden waren. 92 Auch in Thüringen konnte die angestrebte „antifaschi-

81

In Brandenburg waren es sogar 29 %; Wermter, S. 81.

82

Uhlig, S. 160.

83

Fröhlich, S. 108 f.

84

Schöneburg, Errichtung, S. 207 f.

85

Naimark, S. 456; Mietzner, S. 125.

86

Brandes, S. 430 ff.

87

Wietstruk, S. 88.

88

Welsh, Wandel, S. 102.

89

Uhlig, S. 150. Siehe auch Rößler, passim.

90

Hauptstaatsarchiv Sachsen-Anhalt, Magdeburg (HStASA), Ministerium für Volksbildung, Nr. 7337; Protokoll der Provinzial-Lehrertagung in Halle/S. vom 1./2. Aug. 1946. 91

Sareik, S. 143.

92

Uhlig, S. 150.

Neulehrer in der SBZ/DDR

115

stische" Säuberung des Lehrkörpers, trotz der tatkräftigen Unterstützung durch die S M A D , 9 3 erst Ende 1948 abgeschlossen werden. Innerhalb des Jahres 1946 stieg die Gesamtzahl der Lehrkräfte in den drei Ländern durch den Einsatz von Neulehrern um siebzig Prozent von 17.762 auf 30.336 Personen an. Bemerkenswerter ist jedoch, dass durch die Neulehrer und die wachsende Politisierung der Schulen die Zahl der Parteimitgliedschaften enorm anstieg, wovon vor allem die SED überproportional profitieren konnte. Da die Gesamtzahl der parteilosen Lehrer nur geringfügig sank (von 12.759 auf 11.287), war der Anstieg der Parteizugehörigkeit vor allem dem hohen parteipolitischen Organisationsgrad der eingestellten Neulehrer geschuldet, die so im SED-Sinne zur Ideologisierung der Schulen beitrugen. Deutlich wird dies, am Beispiel der Mark Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommerns. In diesen beiden Ländern steigt die Zahl der Lehrer vom 1. Jan. bis zum 31. Dez. 1946 von 11.622 auf 18.137 um insgesamt 6.515 Personen ( + 5 6 % ) an. Die Zahl der SED-Mitglieder verdreifachte sich jedoch im gleichen Zeitraum von 2.066 auf 6.842 Mitglieder (+ 331 %). Wenn man von der These ausgehen kann, dass die bereits im Dienst befindlichen Pädagogen eher den bürgerlichen Parteien beitraten, bedeutet dies, dass zwei von drei neueingestellten Lehrern SED-Mitglied waren. Daher verwundert es nicht, wenn es in Memoiren heißt, der „ Neulehrer der Jahre 1946, 1947 und später war Kind einer neuen Lebensordnung, die noch um Gestalt rang - oder er war nichts. Er galt in den Augen der Kinder, der Eltern und der Öffentlichkeit schlechthin als deren , Funktionär mit dessen Standfestigkeit oder Versagen das Ganze gewann oder verlor. Er mußte Parteilichkeit' vorleben, oder er scheiterte. t2

• Volksschule

• Mini. Reife

Mit Auszeichnung

gut

51,4

befriedigend

49,9

24,3;

nicht bestanden

0

10

20

30

40

50

% Graphik 3: Prüfungsergebnisse der Frauen nach schulischer Vorbildung 172

HStASA, Ministerium für Volksbildung, Nr. 7331; auch abgedruckt in Sareik.

173

Die entsprechende Angabe ist jedoch nicht weiter nach Geschlecht differenziert.

60

Neulehrer in der SBZ/DDR

133

In den Graphiken 3 und 4 sind die Prüfungsergebnisse nach Vorbildung und Geschlecht differenziert, wobei zu berücksichtigen ist: „Ein Teilnehmer, der daß Abitur besitzt, wurde mit anderen Maßstäben gemessen als ein anderer, der die Vorbildung der Volksschule hat. " 174 Ergebnis

Männer 1 • Volksschule

I

I • Mittl. Reife

Mit Auszeichnung • Abitur

gut

befriedigend

ausreichend

nicht bestanden

Graphik 4: Prüfungsergebnisse der Männer nach schulischer Vorbildung

174

Brandes, S. 434.

134

Lothar Mertens

Auffallend ist das notenmäßig bessere Abschneiden der Frauen ungeachtet der schulischen Vorbildung. Lediglich bei der Gruppe derjenigen, die mit der Vorbildung „Abitur" die Benotung „mit Auszeichnung" erreichten, schneiden die Männer etwas günstiger ab. Der Zusammenhang zwischen dem Prüfungsergebnis und der vorhandenen Schulbildung ist deutlich konstatierbar. Die Absolventen und Absolventinnen mit Abitur sind besonders zahlreich in den zwei höchsten Beurteilungskategorien („mit Auszeichnung", „gut") vertreten. Außerdem sind die Differenzen zwischen Abitur und Mittlerer Reife einerseits und Volksschulbildung andererseits klar erkennbar.

Frauen

Beruf

Arbeiter/ W g g g g Ê / U 10,7 Handwerker | | 6,9

• nicht bestanden

Selbst. Handwerker

U bestanden

Bauern

Beamte kaufmänn. Angestellte

35,8

_____

soziale Berufe ;

Π 1η