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German Pages 849 [852] Year 2008
Nomen et Fraternitas
Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Herausgegeben von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer
Band 62
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Nomen et Fraternitas Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Uwe Ludwig und Thomas Schilp
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Ü Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt
ISBN 978-3-11-020238-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Inhalt
V
Inhalt Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
Tabula gratulatoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI
Beiträge zur Namenkunde R UDOLF S CHÜTZEICHEL Namen und ihre Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
S TEFAN S ONDEREGGER Verschriftungsprobleme bei frühmittelalterlichen germanischen Personennamen. Überlegungen aus philologischer Sicht . . . . . . .
11
L UDWIG R ÜBEKEIL Ethnisches in germanischen Personennamen? . . . . . . . . . . . .
23
E LMAR N EU ß Hûn- in zweigliedrigen germanischen Personennamen und das Ethnonym Hunne(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
W OLFGANG H AUBRICHS Namenbrauch und Mythos-Konstruktion. Die Onomastik der Lex-Salica-Prologe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
M ARIA G IOVANNA A RCAMONE Zweigliedrige Frauennamen des langobardischen Italiens im 8. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
J ÖRG J ARNUT Petronaci qui Flavipert. Der Name als sozialer und kultureller Indikator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
J OHN I NSLEY Anglo-Saxons in Rome: The Evidence of the Names . . . . . . . . 107 H EINRICH T IEFENBACH Sprachliches zum Namenverzeichnis in der Handschrift St. Paul 6/1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
VI
Inhalt
H ERMANN R EICHERT Zum Namen des Drachentöters. Siegfried – Sigurd – Sigmund – Ragnar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
M ARTINA P ITZ Woher hat frz. allemand (< alamannus) sein -d ? Überlegungen zu Romanisierungsvorgängen bei germanischen Personennamen mit auslautendem Nasal in der frühmittelalterlichen Galloromania . . .
169
W OLF -A RMIN F RHR . VON R EITZENSTEIN Rodungsnamen auf -ried aus karolingischer Zeit . . . . . . . . . . .
187
Beiträge zu Memoria, Gebetsgedenken und Verbrüderung A LBRECHT G REULE Von der Memoria zum kognitiven Merkzettel. Namentypen und Memoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
197
F RANZ N EISKE Rotuli und andere frühe Quellen zum Totengedenken (bis ca. 800) .
203
I NGRID H EIDRICH Freilassungen als Sicherung des Totengedächtnisses im frühen Frankenreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221
G ERD K AMPERS Exemplarisches Sterben. Der ‚Obitus beatissimi Hispalensis Isidori episcopi‘ des Klerikers Redemptus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
W ILHELM P OHLKAMP Memoria Silvestri. Zur frühen Erinnerungs- und Verehrungsgeschichte des Tagesheiligen vom 31. Dezember . . . . . . . . . .
249
H EINZ F INGER Memoria im frühmittelalterlichen (Erz-)Bistum Köln . . . . . . . .
297
H ANSMARTIN S CHWARZMAIER Zur Frühgeschichte des Klosters Kempten. Eine Untersuchung zu den Konventslisten des Klosters unter Abt Tatto . . . . . . . . .
317
Inhalt
VII
Beiträge zur Archäologie H EIKO S TEUER Archäologische Belege für das Fehdewesen in der Merowingerzeit . 343 H ORST W OLFGANG B ÖHME Zur Bedeutung von Aschaffenburg im frühen Mittelalter . . . . . . 363 G ÜNTER K RAUSE Archäologische Forschungen zur frühen Geschichte Duisburgs von ersten Anfängen bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Beiträge zur Geschichte des frühen Mittelalters J USTUS C OBET Alte Geschichte und Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 H ELMUT C ASTRITIUS /M ATTHIAS S PRINGER Wurde der Name der Alemannen doch schon 213 erwähnt? . . . . . 431 H EIKE G RAHN -H OEK Heiliges Land – Helgoland und seine frühen Namen . . . . . . . . 451 F RANZ -R EINER E RKENS Actum in vico fonaluae die consule. Das Rottachgau-Fragment und die romanische Kontinuität am Unterlauf des Inns . . . . . . . . . . . 491 N IKOLAUS G USSONE Orationes super vasa reperta in locis antiquis. Heidnisch-antike Gefäße im Frühmittelalter zwischen Dämonenfurcht und Bewunderung . . 511 W ERNER R ÖSENER Hofämter und Königshöfe des Frühmittelalters im Kontext der germanisch-romanischen Kultursynthese . . . . . . . . . . . . 529 H ANS -W ERNER G OETZ Verwandtschaft im früheren Mittelalter (II) zwischen Zusammenhalt und Spannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 U LRICH N ONN Karl Martell – Name und Beiname . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 M ICHAEL R ICHTER Karl der Große, die ersten Herrschaftsjahre . . . . . . . . . . . . . 587
VIII
Inhalt
A LFONS Z ETTLER Die Ablösung der langobardischen Herrschaft in Verona durch die Karolinger – eine Spurensuche . . . . . . . . . . . . . . . . . .
595
V OLKHARD H UTH Die karolingische Entdeckung „Deutschlands“. Tacitus’ ,Germania‘ und die Archäologie des Wissens im 9. Jahrhundert . . .
625
H ANS H UMMER A Family Cartulary of Hrabanus Maurus? Hessisches Staatsarchiv, Marburg, Ms. K 424, folios 75–82v . . . . . . . . . . . . . .
645
M ATTHIAS B ECHER Arnulf von Kärnten – Name und Abstammung eines (illegitimen?) Karolingers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
665
H ELMUT M AURER Domkapitel und Domskriptorium im Konstanz der Karolingerzeit .
683
W OLFGANG H ARTUNG Die Anfänge des Damenstiftes Lindau . . . . . . . . . . . . . . . .
699
T HOMAS Z OTZ Zwischen König und Herzog. Zur Situation der Abtei Reichenau im ottonischen Schwaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
721
M ATTHIAS H ARDT Fernhandel und Subsistenzwirtschaft. Überlegungen zur Wirtschaftsgeschichte der frühen Westslawen . . . . . . . . . . . .
741
D IETER S TRAUCH Geschworene statt Eisenprobe. Entwicklungen im mittelalterlichen schwedischen Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
765
H ERWIG W OLFRAM Terminologisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
787
Schriftenverzeichnis von Dieter Geuenich . . . . . . . . . . . . . .
803
Vorwort
IX
Vorwort Wenn die Festschrift zum 65. Geburtstag von Dieter Geuenich den Titel „Nomen et Fraternitas“ trägt, so hat dies seinen guten, im Werk des Jubilars liegenden Grund. Damit sind nämlich zwei zentrale und miteinander verschränkte Arbeitsfelder Dieter Geuenichs angesprochen, auf denen er während seines gesamten wissenschaftlichen Lebens immer wieder neue und grundlegende Erkenntnisse gewonnen und veröffentlicht hat: Zum einen der Bereich der philologischen und historischen Namenkunde, zum anderen das Gebiet der Gedenküberlieferung und des Verbrüderungswesens, der Memoria des Mittelalters in ihren vielfältigen Ausprägungen, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Erforschung der Kloster- und Klerikergemeinschaften. Ziel der Bemühungen Dieter Geuenichs war und ist es, die in frühmittelalterlichen Quellenbeständen – in Chroniken, Urkunden, Gedenkbüchern usw. – in großem Formenreichtum und breiter lautlichgraphischer Varianz erscheinenden Personennamen mit sprachwissenschaftlichen Methoden so zu erfassen und aufzubereiten, dass sie für die historische Erforschung der Personen und Personengruppen, der Familienund Sippenverbände, der monastischen und geistlichen Gemeinschaften, aber auch als Indikatoren sozialer oder ethnischer Zugehörigkeit ausgewertet werden können. Wie sehr diese Bereiche der wissenschaftlichen Tätigkeit Dieter Geuenichs aufeinander bezogen sind, zeigen bereits seine frühen, von Rudolf Schützeichel betreuten Werke „Prümer Personennamen in Überlieferungen von St. Gallen, Reichenau, Remiremont und Prüm“ (1971) und „Die Personennamen der Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter“ (1976) – dies eine Arbeit, die in dem von Karl Schmid geleiteten Teilprojekt „Personen und Gemeinschaften“ des SFB 7 „Mittelalterforschung“ an der Universität Münster entstand. In Freiburg, wohin er im Jahre 1973 gemeinsam mit Karl Schmid wechselte, habilitierte sich Dieter Geuenich 1981 mit der Schrift „Frühmittelalterliche Listen geistlicher Gemeinschaften. Versuch einer prosopographischen, sozialgeschichtlichen und sprachhistorischen Erschließung mit Hilfe der EDV“. Dabei konnte er auf die von ihm maßgeblich mitaufgebaute Datenbank mittelalterlicher Personennamenbelege (DMP) zurückgreifen. Der Erforschung der mittelalterlichen Mönchsund Nonnengemeinschaften, ihrer Verbrüderungsbeziehungen und der Memorialcodices, in denen sich das liturgische Gedenken in Gestalt von
X
Vorwort
Namenlisten niederschlug, davon ausgehend aber auch des Phänomens Memoria in seiner alle Lebensbereiche umfassenden und durchdringenden Breite, hat sich Dieter Geuenich sowohl vor als auch nach seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Duisburg im Jahre 1988 mit großer Intensität und Produktivität gewidmet. Dieser Forschungsrichtung hat er in seinem neuen akademischen Wirkungskreis am Niederrhein starke, auch in die Öffentlichkeit der Region ausstrahlende Impulse verliehen. Die im Umgang mit dem Personennamenmaterial gewonnenen methodischen Erfahrungen hat Dieter Geuenich seit 1996 in dem von der DFG finanzierten Forschungsprojekt „Nomen et Gens“, in dem er mit zahlreichen Kollegen anderer Universitäten mit großem wissenschaftlichem Ertrag kooperierte, bei der interdisziplinären Untersuchung der frühmittelalterlichen gentes und des Zusammenhangs zwischen Namen und ethnischer Zugehörigkeit ihrer Träger nutzbar machen können. So durchzieht das Fragen nach dem Verhältnis zwischen dem Namen und der sich dahinter verbergenden, in eine soziale Gruppe eingebunden Person wie ein Leitmotiv die wissenschaftliche Tätigkeit des Jubilars. Die vorliegenden Beiträge entstammen den Bereichen der Namenkunde, der Memoria sowie der Archäologie und Geschichte des frühen Mittelalters. Die Autoren wollen auf diesem Wege Dieter Geuenich als ihrem Kollegen, Lehrer und Freund zum 65. Geburtstag gratulieren. Die Herausgeber danken allen Autoren herzlich für ihre Mitarbeit an der Festschrift. Ihren Dank aussprechen wollen sie auch dem Verlag Walter de Gruyter, insbesondere Herrn Prof. Dr. K. G. Saur und Frau Dr. Gertrud Grünkorn. Ein besonders herzlicher Dank aber gilt Herrn Prof. Dr. Dieter Geuenich für die langjährige, wissenschaftlich äußerst anregende und menschlich so überaus angenehme Zusammenarbeit. Uwe Ludwig und Thomas Schilp
Tabula gratulatoria
Tabula gratulatoria Peter Alter, Köln Hermann Ament, Mainz Thorsten Andersson, Uppsala Arnold Angenendt, Münster Dirk Ansorge, Mülheim a. d. Ruhr Hans-Hubert Anton, Konz-Könen Maria Giovanna Arcamone, Pisa Clemens M. M. Bayer, Bonn Claus-Ekkehard Bärsch, Dietramszell Ingrid Baumgärtner, Kassel und Florenz Rupprecht S. Baur, Duisburg-Essen Matthias Becher, Bonn Heinrich Beck, München Thomas Becker, Bonn George T. Beech, Kalamazoo (Michigan) Rolf Bergmann, Bamberg Frank Bernstein, Frankfurt/Main Günter Bers, Köln Walter Berschin, Heidelberg Amand Berteloot, Münster Jürgen Biehl, Duisburg-Essen Volker Bierbauer, München Inge Bily, Leipzig Dirk Blasius, Duisburg-Essen Ute von Bloh, Potsdam Hans Heinrich Blotevogel, Dortmund Katrinette Bodarwé, Bad Abbach Horst Wolfgang Böhme, Marburg Letha Böhringer, Bonn Michael Borgolte, Berlin Gernot Born, Krefeld Egon Boshof, Passau Monique Bourin, Nantes Stefan Brakensiek, Duisburg-Essen
XI
XII
Tabula gratulatoria
Sebastian Brather, Freiburg Rüdiger Brandt, Duisburg-Essen Clive Bridger-Kraus, Xanten Michael Brocke, Düsseldorf Christel Bücker, Freiburg Truus van Bueren, Utrecht Neidhard Bulst, Bielefeld Ulrich Busse, Duisburg-Essen Horst Buszello, Freiburg Eva Maria Butz, Dortmund Helmut Castritius, Darmstadt-Arheiligen Gertrude Cepl-Kaufmann, Düsseldorf Otto P. Clavadetscher, Trogen Justus Cobet, Duisburg-Essen Georg Cornelissen, Bonn Friedhelm Debus, Schierensee Andrea Decker-Heuer, Lauda-Königshofen Alexander Demandt, Berlin Ulrike Denne, Epfendorf-Trichtingen Regina Dennig, Witten Gertrud Diepolder, Jettenhausen Michaela Diers, Denzlingen Heinz Dopsch, Salzburg Maarten van Driel, Arnhem John F. Drinkwater, Nottingham Kurt Düwell, Düsseldorf Klaus Ebert, Duisburg-Essen Bonnie Effros, Binghamton (New York) Joachim Ehlers, Berlin Otfrid Ehrismann, Staufenberg Ernst Eichler, Leipzig Heinz Eickmans, Duisburg-Essen Michael Elmentaler, Kiel Jörg Engelbrecht, Duisburg-Essen Odilo Engels, Köln Peter Erhart, St. Gallen Franz-Reiner Erkens, Passau Huib Ernste, Nijmegen
Tabula gratulatoria
Arnold Esch, Rom Stefan Esders, Berlin Anton von Euw, Köln Franz-Josef Felten, Mainz Heinz Finger, Köln Gerhard Fingerlin, Freiburg Barbara E. Fink-Stöve, Uchaux Thorsten Fischer, Duisburg-Essen Beate-Sophie Fleck, Münster Stefan Flesch, Düsseldorf Simone Frank, Duisburg–Essen Thomas Frank, Berlin Stefan Frankewitz, Geldern Torsten Fremer, Berlin Ewald Frie, Trier Johannes Fried, Frankfurt/Main Horst Fuhrmann, Steinebach am Wörthsee Helmut Gabel, Essen Nora Gaedeke, Hannover Patrick Geary, Los Angeles Alexander Gebel, Duisburg-Essen Guillaume van Gemert, Nijmegen Jan Gerchow, Frankfurt/Main Eugen Gerritz, Krefeld Rudolf Gewaltig, Kalkar Beate Gödde-Baumanns, Duisburg Hans-Werner Goetz, Hamburg Jan Goossens, Leuven Heike Grahn-Hoek, Braunschweig Albrecht Greule, Regensburg Gunter E. Grimm, Duisburg-Essen Manfred Groten, Bonn Thomas Grünewald, Potsdam Nikolaus Gussone, Münster Raimund Haas, Köln Jörg Häckel, Duisburg-Essen Manford Hanowell, Münster
XIII
XIV
Tabula gratulatoria
Irmgard Hantsche, Essen Matthias Hardt, Leipzig Reinhard Härtel, Graz Wilfried Hartmann, Tübingen Wolfgang Hartung, Duisburg-Essen Wolfgang Haubrichs, Saarbrücken Regina Hauses, Duisburg-Essen Friedrich Hausmann, Graz Heike Hawicks, Duisburg Inge Heidrich, Bad Münstereifel Dieter Heimböckel, Regensburg Armin Heinen, Aachen Martin Heinzelmann, Saint Cloud Joachim Heinzle, Marburg Ulrich Helbach, Köln Karlheinz Hengst, Leipzig und Chemnitz Hansjoachim Henning, Duisburg Gaby Herchert, Duisburg-Essen Maria Hillebrandt, Münster Eugen Hillenbrand, Freiburg Eduard Hlawitschka, Herrsching am Ammersee Martin Hoch, Sankt Augustin Hein Hoebink, Düsseldorf Michael Hoeper, Freiburg Lorenz Hollenstein, Sankt Gallen Natalie Alexandra Holtschoppen, Kevelaer Theo Holzapfel, Xanten Caroline Horch, Kleve Heinz Günter Horn, Wesseling Ludger Horstkötter, Duisburg-Hamborn Hubert Houben, Lecce Hans Hummer, Detroit Volkhard Huth, Bensheim John Insley, Heidelberg Franz Irsigler, Trier Gabriele Isenberg, Münster Helmut C. Jacobs, Duisburg-Essen Franz-Josef Jakobi, Münster Wilhelm Janssen, Düsseldorf Jörg Jarnut, Paderborn
Tabula gratulatoria
Christa Jochum-Godglück, Saarbrücken Peter Johanek, Münster Siegfried Jüttner, Duisburg-Essen Herbert Kaiser, Duisburg-Essen Reinhold Kaiser, Stockach Matthias Kälble, Jena Gerd Kampers, Bonn Brigitte Kasten, Saarbrücken Dieter Kastner, Pulheim-Brauweiler Hagen Keller, Münster Karina Kellermann, Bonn Hartwig Kerksen, Duisburg-Essen Walter Kettemann, Trier Hubert Klausmann, Bayreuth Thomas Klein, Bonn Jürgen Kleine-Cosack, Duisburg Josef Klostermann, Krefeld Martina Klug, Moers Ursula Koch, Mannheim Rosa und Volker Kohlheim, Bayreuth Theo Kölzer, Bonn Manfred Komorowski, Duisburg Werner König, Augsburg Helmut Köser, Vörstetten Ludger Körntgen, Bayreuth Raimund Kottje, Königswinter Hans-Georg Kraume, Duisburg Günter Krause, Duisburg Dieter Kremer, Leipzig Karl Heinrich Krüger, Havixbeck Ute Küppers-Braun, Duisburg-Essen Bärbel Kuhn, Duisburg-Essen Jens Kulenkampff, Erlangen Konrad Kunze, Freiburg Iris Kwiatkowski, Bochum Horst Lademacher, Lüdenscheid Johannes Laudage, Düsseldorf Joachim Lehnen, Duisburg-Essen Lupold von Lehsten, Bensheim
XV
XVI
Tabula gratulatoria
Hans Lieb, Schaffhausen Jens Lieven, Bochum Heinrich Löffler, Romanshorn Dietrich Lohrmann, Aachen Clemens von Looz-Corswarem, Düsseldorf Sönke Lorenz, Tübingen Wilfried Loth, Duisburg-Essen Uwe Ludwig, Duisburg-Essen Eckart Conrad Lutz, Freiburg/Schweiz Werner Maleczek, Wien Ron Manheim, Kleve-Moyland Christoph Marx, Duisburg-Essen Achim Masser, Innsbruck Michael Matheus, Rom Horst Matzerath, Erftstadt-Ahrem Helmut Maurer, Konstanz Rosamond McKitterick, Cambridge Christel Meier Staubach, Münster Eckhard Meineke, Jena Steffi Melcher, Duisburg-Essen Hubertus Menke, Kiel Anna Merten, Duisburg-Essen Arend Mihm, Duisburg-Essen Joseph Milz, Köln Michael Mitterauer, Wien Georg Mölich, Köln Friedrich B. Müller, Düsseldorf Heribert Müller, Frankfurt Irmgard Müller, Bochum Rosemarie Müller, Göttingen Eckhard Müller-Mertens, Berlin Paul Münch, Bisingen-Wessingen Gisela Muschiol, Bonn Rolf Nagel, Düsseldorf Robert Nedoma, Wien Franz Neiske, Münster Elmar Neuß, Münster Wilhelm F. H. Nicolaisen, Aberdeen Elke Nieveler, Bonn
Tabula gratulatoria
Marlene Nikolay-Panter, Bonn Franz-Josef Nocke, Duisburg Cordula Nolte, Bremen Ulrich Nonn, Bonn Johannes Nospickel, Osnabrück Jutta Nowosadtko, Hamburg Hans Ulrich Nuber, Freiburg Otto Gerhard Oexle, Göttingen Norbert Ohler, Horben Hugo Ott, Merzhausen Klaus Pabst, Kerpen Lutz E. von Padberg, Paderborn Werner Paravicini, Kiel Michel Parisse, Paris Barbara Patzek, Duisburg-Essen Steffen Patzold, Tübingen Leo Peters, Nettetal Martina Pitz, Lyon Meinhard Pohl, Wesel Walter Pohl, Wien Wilhelm Pohlkamp, Münster Jutta Prieur-Pohl, Detmold Hermann Reichert, Wien Sandra Reimann, Regensburg Christine Reinle, Gießen Wolf-Armin Freiherr von Reitzenstein, München Ursula Renner-Henke, Duisburg-Essen Michael Richter, Konstanz Hedwig Röckelein, Göttingen Stefan Rohrbacher, Düsseldorf David Rollason, Durham Klaus Rosen, Bonn Werner Rösener, Gießen Ludwig Rübekeil, Zürich Ingo Runde, Duisburg-Essen Stefan Chr. Saar, Potsdam Mechthild Sandmann, Münster
XVII
XVIII
Tabula gratulatoria
Helga Schach-Dörges, Stuttgart Hans Schadek, Freiburg Hermann Schäfer, Berlin Knut Schäferdiek, Lohmar Hans-Joachim Schalles, Xanten Hermann Schefers, Lorsch Dieter Scheler, Bochum Rudolf Schieffer, München Thomas Schilp, Dortmund Michael Schlagheck, Mülheim a. d. Ruhr Norbert Schlossmacher, Bonn Rolf Schörken, Düsseldorf Nicole und Holger Schmenk, Duisburg-Essen Ruth Schmidt-Wiegand, Marburg Ludwig Schmugge, Rom Ute Schneider, Duisburg-Essen Barbara Scholkmann, Tübingen Helga Scholten, Duisburg-Essen Clausdieter Schott, Zürich Renate Schrambke, Freiburg Gottfried Schramm, Freiburg Eberhard Günter Schulz, Duisburg-Essen Heiko Schulz, Duisburg-Essen Leonhard Schumacher, Mainz Volker Schupp, Emmendingen Rudolf Schützeichel, Münster Angela Schwarz, Siegen Hansmartin Schwarzmaier, Karlsruhe Josef Semmler, Düsseldorf Wolfdieter Sick, Freiburg Frank Siegmund, Basel Andreas Sohn, Paris Herrad Spilling, Stuttgart Thorsten Spitta, Bielefeld Thomas Spitzley, Duisburg-Essen Jochen Splett, Münster Matthias Springer, Magdeburg Nikolaus Staubach, Münster Hugo Steger, Stegen Frauke Stein, Saarbrücken Hannes Steiner, Frauenfeld
Tabula gratulatoria
Heiko Steuer, Freiburg Wilhelm Störmer, Neubiberg Eckhart Stöve, Uchaux Dieter Strauch, Köln Jürgen Strothmann, Paderborn Tilmann Struve, Köln Helmut Tervooren, Meckenheim Heinrich Tiefenbach, Regensburg Wolfgang Treue, Duisburg Gernot Tromnau, Duisburg Jürgen Udolph, Leipzig Veit Veltzke, Wesel Gerard Venner, Maastricht Lothar Voetz, Heidelberg Hanna Vollrath, Bochum Norbert Wagner, Würzburg Viktor Wanka, Duisburg-Essen Stefan Weinfurter, Heidelberg Reinhold Weitz, Euskirchen Margret Wensky, Bonn Matthias Werner, Jena Joseph Wijnhoven, Lanaken Christian Wilsdorf, Sigolsheim Johann Maria van Winter, Utrecht Eckhard Wirbelauer, Strasbourg Anna und Jochen Wirtz, Bonn Armin Wolf, Frankfurt/Main Herwig Wolfram, Wien Joachim Wollasch, Freiburg Reinhard Wolters, Tübingen Ian Wood, Leeds Dieter P. J. Wynands, Aachen Alfons Zettler, Dortmund Ruprecht Ziegler, Duisburg-Essen Herbert Zielinski, Gießen Thomas Zotz, Freiburg
XIX
XX
Tabula gratulatoria
Institutionen: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Alemannisches Institut, Freiburg Deutsches Historisches Institut Paris Deutsches Historisches Institut Rom Essener Arbeitskreis für die Erforschung der Frauenstifte Historischer Verein für den Niederrhein Institut für Frühmittelalterforschung, Universität Münster Institut für Niederlandistik, Universität zu Köln Institut zur interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens (IEMAN), Universität Paderborn Kreisarchiv Wesel Landschaftsverband Rheinland Regionaal Historisch Centrum Limburg, Maastricht Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz Stadtarchiv Dortmund Stadtarchiv Duisburg Stadtarchiv Kleve Stiftsarchiv Sankt Gallen Verein zur Erhaltung des Xantener Domes e.V.
1
Beiträge zur Namenkunde
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Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 3–9 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Namen und ihre Träger
3
Namen und ihre Träger RUDOLF SCHÜTZEICHEL
Dieter Geuenich hat sich in hervorragender Weise um die Namenforschung verdient gemacht. In dem von Karl Schmid geschaffenen Fulda-Werk1 hat D. Geuenich die Lemmatisierung des Namenmaterials von philologischer Seite aus erprobt und durchgeführt. Die entscheidenden Grundlagen waren also philologischer Art. Die Gesetzmäßigkeiten der Morphologie spielten die entscheidende Rolle. Den Handschriften wurden fast 39000 Namenbelege entnommen. Die gewonnenen Verfahren zur Bewältigung derart umfangreicher Überlieferungen konnten nun auch in entsprechenden Fällen mit jeweils notwendigen Modifizierungen und Rücksichten erfolgreich angewandt werden. Sie sind mithin als bahnbrechend zu bezeichnen.2 Das Ziel dieser Arbeiten war für Fulda die Klostergemeinschaft, also die Namenträger, was einige grundlegende Tatsachen in Erinnerung ruft, die im Rahmen dieser Studie zum wiederholten Male kurz beleuchtet werden sollen. D. Geuenich hatte schon vorher Prümer Personennamen in Überlieferungen von St. Gallen, Reichenau, Remiremont und Prüm untersucht und in einem Beiheft3 zu den Beiträgen zur Namenforschung vorgelegt und in der betreffenden Zeitschrift4 erläutert. Hervorzuheben ist das ausdrücklich philologisch gemeinte Werk von D. Geuenich über die Personennamen der Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter.5 Grundlage war wie selbstverständlich die handschriftliche Überlieferung, alle Belege aus erster Hand, nicht sozusagen aus zweiter oder dritter Hand von Editionen und Abhandlungen, die einer kritischen Würdigung unterzogen wurden, was die Grundentscheidung in ihrer unumgänglichen Notwendigkeit bestätigte. Das Gebot der Überlieferungs1 2 3 4 5
Die Klostergemeinschaft von Fulda 1978. Darin Geuenich 1978. Siehe auch Geuenich/Haubrichs/Jarnut 1997. Geuenich 1971a. Geuenich 1971b. Geuenich 1976.
4
Rudolf Schützeichel
treue wurde im Übrigen zur selbstverständlichen Richtschnur allen die zurückliegenden Jahrhunderte betreffenden wissenschaftlichen Bemühens, natürlich auch der Glossenforschung und der Wörterbucharbeit.6 Das facettenreiche Werk kann hier nicht im Einzelnen aufgefaltet werden. Die wohltuende Systematik des Aufbaus offenbart sogleich die Schritte der Bewältigung der Materie in ihrer Differenziertheit. Der morphologische Aspekt erfasst die Zweigliedrigkeit der Namen sowie die Eingliedrigkeit in ihrer vielfältigen Ausformung. Die Beinamen finden besonderes Interesse in denjenigen Benennungen, die aus dem zeitgenössischen appellativischen Wortschatz stammen werden, den Substantiven, den Adjektiven, den Verben. Damit werden wichtige philologische Aufgaben sichtbar, nämlich die Hereinnahme des Namenmaterials in die Aufarbeitung des Wortschatzes, in die Phonetik/Phonologie, was die Graphien betrifft, in die sprachgeographischen Forschungen. Für den appellativischen Wortschatz darf inzwischen auf die verbesserte Hilfe hingewiesen werden, die in der Darbietung des Glossenwortschatzes in mehr als 250000 Belegen, unmittelbar aus fast 1300 Handschriften gewonnen, vorliegt. Die Sichtweise muss aber durch die Mitberücksichtigung der Namen auch umgekehrt werden, was zur Verbesserung und Vervollständigung des Gesamtbildes, das der Wortschatz bietet, führen wird. Hier stehen die Namen jedenfalls in erster Linie als Sprachzeugnisse in Rede. So etwa auch in der wichtigen Untersuchung von Hubertus Menke7 über die Namen in Karolingerdiplomen, die der Autor ausdrücklich als Beitrag zur Erforschung des Althochdeutschen sieht. Die Textgrundlage wird in einer eingehenden und sachkundigen Quellenkritik gesichert, was in Teilen auch über die Editionen der Diplomata-Reihe der Monumenta (MGH) hinausführt. H. Menke hat die Besonderheiten und Eigenheiten der urkundlichen Überlieferung im Zusammenhang der Urkundenpraxis sicher im Griff, was ihm eine umfassende sogenannte Namengrammatik und weitere spezifisch namenkundliche Beobachtungen ermöglicht und damit auch Einblick in eine nicht jedermann zugängliche Überlieferung gewährt. Die mustergültige Untersuchung sollte Vorbild für weitere Anstrengungen auf dem Feld der Urkunden sein. Hervorzuheben ist auch das Werk von Heinrich Tiefenbach8, der in genialer Weise das sprachgeographische Nebeneinander von Verschiedenem am mittelalterlichen Niederrhein aufgezeigt hat. Hier sind seit dem neunten Jahrhundert Personennamen in so reicher Zahl überliefert, dass sich aus ih6 7 8
Schützeichel 2004, Bd. I. Vorspann, 1. Menke 1980. Tiefenbach 1984.
Namen und ihre Träger
5
nen ein verlässliches Bild der Schreibsprachen in karolingischer und ottonischer Zeit gewinnen lässt. Sie verteilen sich auf Schreibstätten an den Punkten des Zusammentreffens dreier großer Sprachgruppen, nämlich Xanten für das Niederfränkische, Essen für das Altsächsische und Köln für das Althochdeutsche. Die belegten Schreibungen hat H. Tiefenbach in eine etymologische Bezugsform gebracht, die ihm eine befriedigende grammatische Untersuchung ermöglicht, auch unterstützt durch die mit den Namen korrespondierenden Appellative des Althochdeutschen, Altsächsischen und Altniederfränkischen. Das hier nur kurz anzudeutende Verfahren rückt das jeweils eigene schreibsprachliche Gepräge der einzelnen Schreibstätten deutlich ins Licht, was H. Tiefenbach überzeugend darlegen kann. Hier werden die historischen Belege selbst zugrunde gelegt, nicht die mundartlichen Verhältnisse des 19. und 20. Jahrhunderts, die für Th. Frings der methodische Ansatz waren. H. Tiefenbach9 kann mit Recht unterstreichen, dass „die Grundzüge der rheinischen Sprachlandschaft schon viel älter sind, als Th. Frings angenommen hatte, und dass ihre prägenden Eigenheiten bereits in der Karolingerzeit vollständig bezeugt sind und auf noch ältere Grundlagen weisen“. In einem Ausblick hat H. Tiefenbach10 mit aller Vorsicht erwogen, dass die von ihm untersuchte Namenüberlieferung auch literaturgeschichtliche Bedeutung erlangen könnte und etwa die Bekanntschaft des Kölner Kulturkreises mit der Nibelungendichtung und der Dietrichsage in neuem Licht erscheinen ließe, was freilich weitere Forschungen herausforderte. Das Hildebrandslied hat Christiane Vopat11 in den Blick genommen und den Personennamen eine umsichtige morphologische und graphematisch/ phonologische Untersuchung gewidmet. Die Beobachtung des Auftretens der einzelnen Personennamentypen in Fulda und dem Einzugsbereich dieser Klostergemeinschaft ist durch das schon erwähnte Fulda-Werk und die Untersuchung von D. Geuenich möglich geworden. Die Untersuchung wird von Ch. Vopat auf zentrale Schreibstätten innerhalb und außerhalb des Althochdeutschen ausgedehnt und die Memorialzeugnisse von nicht weniger als fünfzehn Schreiborten ausgewertet. Besondere Berücksichtigung finden die beiden Königsnamen Theoderich und Odoaker in den mittelalterlichen lateinischen Geschichtsquellen. Hier sind diese Namen in Erscheinungsformen tradiert, die nicht unmittelbar mit den Namenformen des Hildebrandsliedes korrespondieren, was für Ch. Vopat darauf hindeutet, dass die Dichtung erst in der Karolingerzeit unter den Bedingungen 9 10 11
Ebenda, 323. Ebenda, 323f. Vopat 1995.
6
Rudolf Schützeichel
und Anliegen eben dieser Zeit entstanden ist. Das ist ein zusätzliches Argument für die mit anderen Gründen vorgetragene Auffassung.12 Die auf breiter Grundlage durchgeführte Musterung der divergierenden Schreibformen der Namen im Hildebrandslied legt nahe, dass die Herkunft der Dichtung oder wenigstens des Erzählstoffes wohl außerhalb von Fulda zu suchen sind. Unmittelbare Parallelen für alle Namenformen des Hildebrandsliedes konnten indessen nur auf der Reichenau nachgewiesen werden. Fuldische Eigentümlichkeiten mögen mit der Niederschrift dort zusammenhängen, ohne dass sich Ch. Vopat zu weiteren Spekulationen verleitet fühlt. Die durchaus bemerkenswerte Studie zeigt Verbindung mit der Namenforschung im Anschluss an das Fulda-Werk und D. Geuenich wie zur Erforschung des Althochdeutschen und seinen Quellen.13 Für die althochdeutsche Literatur ist auch das Werk von D. Geuenich14 zu beachten. Es geht ihm um die Sprache der von der älteren Forschung als fuldisch angesehenen Denkmäler, was eine eingehende Quellenkritik verlangt, wie D. Geuenich sie für die Namen in überzeugender Weise geübt hat. Der Vergleich mit dem Namenmaterial führt zu mancherlei Klärungen. Dabei steht die Frage der Bindung an eine bestimmte Landschaft nicht im Vordergrund, vielmehr die klösterliche Bildungsstätte, was nicht nur hier von grundsätzlicher Bedeutung ist. Der Gewinn für die Beurteilung der jeweiligen landschaftlichen Überlieferung verlangt die Berücksichtigung der betreffenden Textpartien des Werkes und ihre Aufnahme in das Althochdeutsche Wörterbuch, das den Wortschatz der literarischen Denkmäler vollständig erfasst und im Einzelnen die notwendigen Angaben zu diesen Denkmälern bringt.15 Achim Masser16 hat das Werk von D. Geuenich bei seinen Forschungen zum Tatian selbstverständlich berücksichtigt und sich zunutze gemacht. Er gelangt aber auch darüber hinaus, indem er eine neue und inzwischen maßgebende Ausgabe des Tatian vorlegt. Diese Ausgabe der lateinisch-althochdeutschen Tatianbilingue ist erstmals ausschließlich an der Handschrift selbst erarbeitet worden.17 A. Masser gelingt eine handschriftennahe Ausgabe, deren Text sich gleichermaßen von einer bloßen Transkription wie 12 13 14 15
16 17
Schützeichel 1981, 1–15. Schützeichel 2006, 11f. (H.) Geuenich 1976, 259–274. Schützeichel 2006, 10 (BR. Basler Rezepte); 10 (FB. Fuldaer Beichte); 11 (FT. Fränkisches Taufgelöbnis); 11f. (H. Hildebrandslied); 12 (HM. Hammelburger Markbeschreibung); 13 (LF. Lex-Salica-Fragment); 13 (MG. Merseburger Gebetsbruchstück); 14 (MZ. Merseburger Zaubersprüche); 17f. (T. Tatian). Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue 1994. Ebenda, 13.
Namen und ihre Träger
7
von jeder Normalisierung fernhält. Das Ziel war die Spiegelung aller strukturellen, aber auch graphischen und sonstigen Eigenheiten der Bilinguenhandschrift in einem gleichwohl lesbar zu gestaltenden Text. Entsprechend der Handschrift wird der Text zweispaltig geboten, gemäß der exakten Zeilenentsprechung des in der linken Textspalte enthaltenen lateinischen Tatiantextes und der in der rechten Textspalte eingetragenen althochdeutschen Übersetzung. Die Einzelheiten brauchen hier nicht erläutert zu werden. Entscheidend ist die quellenkritische Grundlage in der Handschrift selbst. Damit ist Verlässlichkeit der Ausgabe gewährleistet. Vergleichbar ist die inzwischen vorgelegte Edition des Hohen Liedes im Kommentar Willirams.18 Grundlage dieser Edition ist der Text der Ebersberger Handschrift, der handschriftengetreu nach seiner dreispaltigen Anordnung geboten wird. Die Handschriftennähe kommt in der Darstellung eindringlich zur Geltung. Das besagt, dass ein quellenkritisches Verfahren selbstverständlich auch bei Überlieferungen zum Tragen kommt, die keine Berührung mit Fulda haben. Eine quellenkritisch gesicherte Methode ist jedem anderen Verfahren, das aus zweiter oder gar dritter Hand schöpft, klar überlegen. Das gilt im Übrigen auch für die Wörterbucharbeit, vor allem nachdem sich die Zugänglichkeit der Handschriften in den letzten Jahrzehnten entscheidend verbessert hat, so dass Nachvollzug und Prüfung der Entscheidungen an der äußersten erreichbaren Grundlage jederzeit möglich sind. Das Angewiesensein auf die Überlieferung zweiter Hand entfällt damit, was nicht besagt, dass die Berücksichtigung von Editionen, Abhandlungen und weiteren Studien nicht weiterhin erforderlich ist. Gerade auch die Arbeiten von D. Geuenich und den anderen hier herangezogenen Wissenschaftlern geben dafür beste Beispiele. Die Arbeiten, an denen D. Geuenich entscheidend beteiligt war und ist, zielten zunächst und in erster Linie auf die Personen, auf die Personengruppen in den Klostergemeinschaften. Die Namen wurden wegen ihrer Träger erfasst, untersucht und dem Ziel gemäß genutzt. Die Verfahren zur Aufarbeitung des Namenmaterials waren indessen sprachlich bestimmt, etwa in der Morphologie der eingliedrigen und der zweigliedrigen Belege, in der lautlichen Gestalt, den sprachlich erkennbaren lokalen und regionalen Bindungen. Das ist in dem Charakter der Eigennamen begründet. Eigennamen sind kategoriell an ihre jeweiligen Träger gebunden, was eben heißt, dass sie anders nicht erscheinen können. Mit anderen Worten: Ausschlaggebend ist ihre Bezeichnungsfunktion. Jost Trier formulierte einmal, dass der Name
18
Schützeichel/Meineke 2001.
8
Rudolf Schützeichel
nichts bedeute, nur etwas bezeichne. Das muss freilich dahingehend eingeschränkt werden, dass er doch an der Bedeutung mit der kategoriellen Bedeutungsart teilhat. Die kategorielle Bedeutung der Namen liegt indessen fest, da sie immer als Substantive erscheinen, gleichgültig welcher Herkunft sie sein mögen. Im Genus zeigt der Name noch zusätzlich die Bindung an den Namenträger, indem das Genus eben dieses Trägers gilt. Die Bedeutungsart, die wir lexikalische Bedeutung nennen, fehlt beim Namen gänzlich.19 Das hatte Jost Trier gemeint. Bestimmend ist allein die Bezeichnungsfunktion. Der Name bezeichnet jeweils ein Individuum, und zwar als Individuum. Er bezeichnet unmittelbar und erfüllt so ohne das Dazwischentreten lexikalischer Bedeutung eben diese Bezeichnungsfunktion. Bezeichnung meint den Bezug auf das Außersprachliche, auf den außersprachlichen Tatbestand. Man kann sagen, dass die Bezeichnung der außersprachliche Tatbestand sei, wie er in den Denkinhalten existiert. Bei den Namen ist dieser Zusammenhang sehr eng. In diesem Zusammenhang erscheint das Individuum als Individuum, was für sich genommen eine magere Bilanz wäre. Es ist aber nicht zu übersehen, dass mit anderen sprachlichen Mitteln die Individuen historische Gesicht gewinnen können. Es ist natürlich nicht zu übersehen, dass der jeweilige Name selbst sprachliche Struktur hat, dass er mit seiner morphologischen Struktur in phonologischer Gewandung erscheint, was es ermöglicht, seiner doch genauer habhaft zu werden. Die personenorientierten Forschungen haben auf vielerlei Weise zu sprachgeschichtlichen Ergebnissen geführt, zu morphologischen und phonetisch/phonologischen Erkenntnissen. In diesem Bereich hat sich Dieter Geuenich beachtliche Verdienste erworben, was hier herauszustellen war.
Literaturverzeichnis Geuenich 1971a: Dieter Geuenich, Prümer Personennamen in Überlieferungen von St. Gallen, Reichenau, Remiremont und Prüm (Beiträge zur Namenforschung, Beiheft NF 7) (Heidelberg 1971) Geuenich 1971b: Dieter Guenich, Zu den Prümer Personennamen. In: Beiträge zur Namenforschung NF 6 (1971) 331–336 Geuenich 1976: Dieter Geuenich, Die Personennamen der Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter (Münstersche Mittelalter-Schriften 5) (München 1976) Geuenich 1978: Dieter Guenich, Die Lemmatisierung und philologische Bearbeitung des Personennamenmaterials, in: Die Klostergemeinschaft von Fulda 1978, Band 1, 37–84
19
Zu den theoretischen Grundlagen siehe Gottschald 2006.
Namen und ihre Träger
9
Geuenich/Haubrichs/Jarnut 1997: Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut, Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen (Berlin/New York 1997) Gottschald 2006: Max Gottschald, Deutsche Namenkunde. Mit einer Einführung in die Familiennamenkunde von Rudolf Schützeichel. 6., durchgesehene und bibliographisch aktualisierte Aufl. (Berlin/New York 2006) Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter. I. II 1–3. III, hg. von Karl Schmid (Münstersche Mittelalter-Schriften 8) (München 1978) Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 56. Unter Mitarbeit von Elisabeth De Felip-Jaud hg. von Achim Masser (Studien zum Althochdeutschen, Band 25) (Göttingen 1994) Menke 1980: Hubertus Menke, Das Namengut der frühen karolingischen Königsurkunden. Ein Beitrag zur Erforschung des Althochdeutschen (Beiträge zur Namenforschung, Beiheft NF 19) (Heidelberg 1980) Schützeichel 1981: Rudolf Schützeichel, Textgebundenheit. Kleinere Schriften zur mittelalterlichen deutschen Literatur (Tübingen 1981) Schützeichel 2004: Althochdeutscher und Altsächsischer Glossenwortschatz, 12 Bde. (Tübingen 2004) Schützeichel 2006: Rudolf Schützeichel, Althochdeutsches Wörterbuch. 6. Aufl., überarbeitet und um die Glossen erweitert (Tübingen 2006) Schützeichel/Meineke (Hg.), Die älteste Überlieferung von Willirams Kommentar des Hohen Liedes. Edition. Übersetzung. Glossar. Redaktionelle Gestaltung: Dieter Kannenberg. Mit sieben Abbildungen (Studien zum Althochdeutschen, Band 39) (Göttingen 2001) Tiefenbach 1984: Heinrich Tiefenbach, Xanten – Essen – Köln. Untersuchungen zur Nordgrenze des Althochdeutschen an niederrheinischen Personennamen des neunten bis elften Jahrhunderts (Studien zum Althochdeutschen, Band 3) (Göttingen 1984) Vopat 1995: Christiane Vopat, Zu den Personennamen des Hildebrandsliedes (Beiträge zur Namenforschung, Beiheft NF 45) (Heidelberg 1995)
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Rudolf Schützeichel
Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 11–22 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Verschriftungsprobleme bei frühmittelalterlichen germanischen Personennamen
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Verschriftungsprobleme bei frühmittelalterlichen germanischen Personennamen. Überlegungen aus philologischer Sicht STEFAN S ONDEREGGER
Verschriftung von Namen, insbesondere von Personennamen, ist ein sich zeitlich über Jahrhunderte, ja Jahrtausende erstreckender Vorgang. Jeder Historiker oder Philologe, welcher sich mit Namen zu beschäftigen hat, weiß um die Verschiedenheit, Variabilität, ja manchmal Fragwürdigkeit von Namenverschriftungen im Laufe der Zeit. Angesichts der Kompetenz unseres Jubilars, Dieter Geuenich, in diesen Fragen sowohl was die geschichtliche Überlieferung wie die sprachwissenschaftliche Einordnung und Deutung von Personennamen des Frühmittelalters betrifft, sei es dem Verfasser gestattet, im Anschluss an dessen wie an eigene Forschungen einige Überlegungen zu Verschriftungsproblemen aus philologischer Sicht zu formulieren.1 Beginnen wir mit dem Namen des spätantiken gotischen Bischofs und Bibelübersetzers Wulfila (gest. 383), um die zeitliche Erstreckung über nahezu zwei Jahrtausende wie die Variabilität der durch verschiedene Sprachen reichenden Verschriftung deutlich zu machen, wie dies Abbildung 1 veranschaulichen soll.2 Entsprechend der spätantiken und frühmittelalterlichen Schrifttradition gelangte der gotische Name Wulfila (wohl nur sprechsprachlich Ulfila, freilich nur im lateinischen Kontext überliefert) zu verschiedenen griechischen, vulgärgriechischen, aber auch zu lateinischen bzw. latinisierten Formen, deren Deklination bald den Mustern der jeweiligen Kontextsprache angeglichen wurde, sodass schließlich die griechischlateinische Mischform Vulphilas (Cassiodor), Gulfilas (inschriftlich und bei Isidor von Sevilla) entstand, während sich die dem Gotischen zunehmend Aufmerksamkeit entgegenbringende neuzeitliche Wissenschaftstradition
1
2
Fachliteratur zu Geuenichs wie des Verfassers Forschungen grundsätzlich über Sonderegger 1997, 26–29 und Geuenich/Runde 2006, 21 sowie öfter. Belege bei Reichert 1987–1990, 1, 795. Vgl. auch die Artikel Wulfila in den Fachlexika.
12
Stefan Sonderegger
Verschriftungsformen des gotischen Personennamens Wulfila gotisch Wulfila
(sprechsprachlich auch Ego Ulfila, aber in lat. Kontext)
gräzisiert O
latinisiert Vulfila, Ulfila Ulphila, Gulfila, Hulfila (Gen. -ae) mit Suffixablaut oder angeglichen Ulphula
mit Anlehnungen an die griech. Eigennamendeklination O«, auch -»« (Akk. -)
vulgärgriech. O« (auch -), O «, (-»«) O «
griech.-lat. Mischform Vulphilas, Gulfilas
verdeutscht bzw. modern europäisch Ulfilas (Gen. Ulfilas’ ) in der Wissenschaftstradition des 18.–frühen 20. Jh.
verdeutscht Ulfila (Gen. -as), später wissenschaftlich restituiert Vulfila, Wulfila
Abbildung 1
Verschriftungsprobleme bei frühmittelalterlichen germanischen Personennamen
13
einerseits auf Ulfilas (Gen. -as’ ) oder Ulfila (Gen. -as), andererseits wissenschaftlich restituierend auf Vulfila, Wulfila festgelegt hat. Noch Jakob Grimm spricht in der später fallen gelassenen „Einleitung in die gebrauchten Quellen- und Hülfsmittel“ in der Erstausgabe des Ersten Theils seiner Deutschen Grammatik, Göttingen 1819, S. XLIV von „des Ulfilas (gothisch eigentlich Wulfila, d. h. Wölfele) Bibelübersetzung“, während er S. XLVIII die griechische Endung -« bei gotischen männlichen Personennamen als „nach griechischer Weise angehängt“ erläutert. Die meisten Ausgaben der gotischen Bibel im 19. Jahrhundert verwenden die gräzisierende Form Ulfilas als Buchtitel, was zum Teil sogar bis ins 20. Jahrhundert reicht: so langlebig können Verschriftungstraditionen von Personennamen sein.3 Was nun das Frühmittelalter im Besonderen betrifft, kann man aus germanistischer Sicht im Hinblick auf das Althochdeutsche nach meinen Erfahrungen geradezu von einem Verflechtungsnetz der Personennamenverschriftung sprechen, so wie es Abbildung 2 zum Ausdruck bringen möchte. Bestimmende Voraussetzungen dafür sind die folgend genannten Faktoren. Faktor 1: Grundsätzliches Spannungsverhältnis zwischen germanisch-althochdeutscher Volkssprache der Namen und davon überwiegend abweichender Laut- und Formengestalt der bildungsprachlich lateinisch geprägten Schrifttradition.4 Nun hat sich die Verschriftung der Namen in allen mit lateinischen Buchstaben geschriebenen Quellengattungen in die lateinische Tradition einzufinden, was zunächst uneinheitlich geschieht, sodass wir rein althochdeutsche Formen finden, soweit dies graphematisch möglich ist, oder auch dem Althochdeutschen angeglichene Formen, schließlich teilweise – besonders was die Deklinationsendungen betrifft –, latinisierte, allenfalls romanisierte Bildungen. So ist beispielsweise das Nebeneinander der nachfolgenden Formen des gleichen Namens zu verstehen, wobei noch zeitliche Unterschiede (gemäß Faktor 2) dazu treten können.5
3
4 5
Vgl. z.B. die wissenschaftlich maßgebliche Ausgabe des 19. Jahrhunderts: Ulfilas. Veteris et novi testamenti versionis gothicae …, ediderunt H. C. de Gabelentz et Dr. J. Loebe, I Altenburgi et Lipsiae 1836, II, 1–2 Lipsiae 1843–1846. Vgl. Sonderegger 1961 und 1985. Beispiele aus den älteren St. Galler Urkunden des 8.–10. Jahrhunderts, vgl. dazu Borgolte/ Geuenich/Schmid 1986.
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Stefan Sonderegger
Verflechtungsnetz frühmittelalterlicher Personennamenverschriftung im Althochdeutschen Sprache des Namens
Sprache des Namensträgers
Althochdeutsche Verschriftungsform
dem Ahd. angeglichen
rein althochdeutsch – älteres Ahd. – jüngeres Ahd. – Zeugnisse von Sprechformen
Original (z. T. verloren)
latinisiert – archaisierend – zeitentsprechend
Abschrift
in der ehemaligen Verschriftungsform
in umgestalteter Verschriftungsform
– Namen textkonform verschriftet – (d. h. eingebettet z. B. in Urkundentext) – Namen textunabhängig verschriftet – (vor allem Zeugenlisten, Namenkataloge) Abbildung 2
Verschriftungsprobleme bei frühmittelalterlichen germanischen Personennamen rein althochdeutsch
volkssprachlich angeglichen
15
latinisiert
Fruachanolf, Fruochonolfus Frochonolfus Fruahnolf (zu germ. *frôkan-, *frôkn[ j ]a ‚mutig‘) Otm(a)ar Autmar(us) Audo-, Audemarus Lantbreht Lanpreht(us) Lanbertus Zaizzo, Zeiz(z)o Ceiz(z)o Zezzo, Gen. -onis (zu germ. *teita-, ahd. zeiz(z) ‚schön, hübsch‘) Othram, Otram Othramnus, Otrammus Auderamnus (zu germ. *hrab–an- ‚Rabe‘ und *aud- ‚Besitz‘)
Grundsätzlich überwiegen im 8. und frühen 9. Jahrhundert oft noch latinisierte Formen in einzelnen Quellen oder sind in dieser Zeit stark vertreten, während solche in späterer Zeit dann deutlich weniger werden (vgl. St. Galler Professbuch: älter -bertus, -pertus; jünger -bert, -breht, -preht, -pret usw.). Faktor 2: Relativ rascher Sprachwandel der altgermanisch-althochdeutschen Laut- und Formensysteme im Verlauf des Frühmittelalters Sprachgeschichtlich befinden sich die altgermanischen Sprachen, insbesondere auch das Althochdeutsche, im Frühmittelalter vor und nach Einsetzen ihrer Schriftlichkeit in einem gewaltigen Veränderungsprozess, welchem die Verschriftung von Namen vom 8. bis 11. Jahrhundert nur zögerlich und ungleich folgen kann, da außerdem sprachgeographische Dialektunterschiede und Überlagerungen der ursprünglichen Stammessprachen zu beobachten sind.6 Dementsprechend ist bei der Personennamenverschriftung stets zwischen älteren und jüngeren althochdeutschen Formen zu unterscheiden, gelegentlich bereichert durch sprechsprachliche Spuren, während sich selbst bei den latinisierten Namen archaisierende und zeitentsprechende Formen unterscheiden lassen. Insbesondere die latinisierten älteren Umsetzungen lassen oft alte Lautverhältnisse des Vor- und Frühalthochdeutschen aufscheinen. Ohne dass wir hier die Sprachformen im Einzelnen besprechen können, sei auf folgende Unterschiede aufmerksam gemacht: ältere Urkunden 8. und z.T. frühes 9. Jh. (St. Galler Beispiele)
jüngere Urkunden 9.–11. Jh.
Folcharius Franco Gaerbertus, -hart Gaerhohus Hiltigaer, -us, Hiltigarius Warin-, Warinus
Folchheri, Folchere Francho Gerbert, Kerpert u. ä. Gerhoh, Kerhart Hiltiger, Hiltger u. ä. Werin-, Werino
6
Zur sprachgeschichtlichen Entwicklung Sonderegger 32003, vgl. auch Geuenich 1976.
16
Stefan Sonderegger
Faktor 3: Quellenbedingte Unterschiede in der Namenverschriftung Zunächst ist auch bei der Beurteilung von Namen zwischen Original, Voraufzeichnungen (sog. Vorakte) und zeitnaher bzw. späterer Abschrift mit eventuellen Abweichungen der Verschriftungsform zu unterscheiden.7 Sodann können Verschriftungsunterschiede zwischen textkonformer Einbettung der Personennamen (in urkundliche oder literarische Texte) und textunabhängiger Anführung bis Anreihung von Personennamen (vor allem in Zeugenlisten ohne lateinische Standes- oder Funktionsbezeichnungen oder in Namenkatalogen von Verbrüderungs- und Professbüchern) sichtbar gemacht werden. Freilich lassen sich die Namenverschriftungen nicht einheitlich nach solchen Quellen ausscheiden, wohl aber mehrheitlich oder mindestens tendenziell. So zum Beispiel aus St. Galler Quellen:8 literarisch (Ratpert, Ekkehart IV.)
Urkunden
Vorakte
Professbuch der Abtei
Ekkehardus
uneinheitlich 8. Jh. latinisiert 9. Jh. ff. i. d. R. ahd. i. d. R. Hartmodus i. d. R. Hartmotus neben -muotus neben -muodus einmal -moatus einmal (anno 838) völlig uneinheitlich, latinisiert und zunehmend ahd.
Eckihart Ekihart Hechihart
Ek(k)ihart Ekkehart Ekkart Hartmuat 9. Jh. (vgl. zweimal Hartmuat in der St. Galler Liste des Reichenauer Verbrüderungsbuches) Waldhram Walthram Waldram (vgl. viermal Waldram in der St. Galler Liste von Reichenau)
Hartmotus (neben -muotus)
Waldrammus Waltrammus
Ualtram
Diese drei obigen Faktoren sollten eine sprachliche Analyse und Einordnung frühmittelalterlicher althochdeutscher Personennamen als philologische Studie für einzelne Überlieferungsorte im Hinblick auf die Sprachgeschichte berücksichtigen, da dadurch autochthone Formen in ihrer Weiterentwicklung von verfremdeten wie von formal-latinisierten, frühe 7 8
Vgl. Sonderegger 1961 und 1965. Zu den St. Galler Quellen und ihrer Auswertung Sonderegger 1990. Literarisch: (1) Ratpert, St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli), hg. und übersetzt von Hannes Steiner (Hannover 2002). (2) Ekkehard IV., Casus sancti Galli – St. Galler Klostergeschichten, hg. und übersetzt von Hans F. Haefele (Darmstadt 1980).
Verschriftungsprobleme bei frühmittelalterlichen germanischen Personennamen
17
Sprechformen von verschrifteten Vollformen unterschieden werden können und über die älteren Latinisierungen auch frühalthochdeutsche Formen zurückzugewinnen sind. Zur Vielfalt der Personennamen tritt so die Vielfalt ihres Verflechtungsnetzes. Auf dieses Verflechtungsnetz können auch Standesunterschiede einwirken: traditionsgebundene Herrscher- oder Äbtenamen neben freien Donatoren, klösterlichen oder weltlichen Priestern, Zeugen oder Hörigen, denen tendenziell entweder mehr oder weniger latinisierte Namensformen bis hin zu rein althochdeutschen Voll- oder Kurznamen entsprechen.9 Bei der Aufzählung einiger der Hehlerei nach einem Kirchenschatzdiebstahl verdächtigten Konstanzer Kaufleute zeigt sich um 1021/1022 in einem Schreiben der St. Galler Mönche an ihren abwesenden Abt eine rein althochdeutsche Folge vorwiegend von Kurznamen:10 „in manus Constanciensium mercatorum, quorum nomina sunt Eccho, Chomeli, Woueli [wohl für Wolfeli ], Albeli, Engezo, Tegenharth“ (gegenüber später im lateinischen Text a Tegenhardo). Auch ist in der Verschriftung zwischen Kaiser- bzw. Königsurkunden und Privaturkunden zu unterscheiden, ganz abgesehen von der ungebrochenen Latinität der Papsturkunden.11 Zu einem weiteren Fragenkreis, auf den wir nur noch kurz eintreten wollen, gehören die außerhalb des Althochdeutschen stehenden altgermanischen Personennamen in ihrem Vorkommen und ihrer teilweisen sprachlichen Umgestaltung innerhalb einer althochdeutschen Verschriftung – hauptsächlich die in Abbildung 3 angegebenen Sprachen. Dabei liegen die hauptsächlichen Zeugnisse dafür in den umfangreichen Verbrüderungsbüchern besonders der Reichenau und von St. Gallen.12 Der Anteil der verschiedenen altgermanischen Sprachen ist dabei freilich recht ungleich und muss auf die Zuweisungen der Namenlisten durch die historische Forschung abgestützt sein, wobei auch zu bedenken bleibt, dass der altgermanische Namenschatz weit in die West- und Südromania reicht, was uns hier nicht beschäftigen kann, ebenso wenig wie das reiche westfränkische Personennamenmaterial. Zu nennen sind die folgenden Bereiche, ohne dass wir die einzelnen Namen – von einigen Beispielen abgesehen – besprechen können: 9 10 11 12
Zu Hörigennamen vgl. Löffler 1969. Chartularium Sangallense Bd. III (St. Gallen 1983) Nr. 874, S. 3. Zu den Königsurkunden Menke 1980. Vgl. die Editionen bzw. Faksimilewiedergaben bei Autenrieth/Geuenich/Schmid 1979 für die Reichenau, bei Schmid in Borgolte/Geuenich/Schmid 1986, 15–283 für St. Gallen (ältere umstrittene Ausgabe Piper 1884). Umfassende Fachliteratur daselbst und bei Rappmann/Zettler 1998, 535–566. Die Namensformen im Einzelnen sind v. a. über die Register dieser Quellenausgaben zu finden.
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Stefan Sonderegger
Altgermanische Personennamen in althochdeutschem Verschriftungszusammenhang Altnordisch (Pilgernamen) Altenglisch (weltliche und geistliche Würdenträger)
Langobardisch Gotisch (historische Namen) Altsächsisch
Altniederfränkisch / Altniederländisch
je nach Überlieferungsort mehr oder weniger sprachlich angeglichen
Althochdeutsche Verschriftung
mehr oder weniger latinisiert oder romanisiert
Abbildung 3
– einige altenglische weltliche und geistliche Würdenträger aus dem 10. Jahrhundert in Reichenauer und St. Galler Listen, angeführt vom englischen König Aethelstan (924–939), dessen Namensform für altenglisch Ædelstân als Aethelstaenum regem (Akk., Reichenau), Adalsten rex, Rex Anglorum Adalstean (St. Gallen) verschriftet wurde; – die relativ hohe Anzahl altnordischer Pilgernamen vor allem um 1100 (rund 740 Eintragungsbelege) im Reichenauer Verbrüderungsbuch, die Naumann 1992 nach Herkunft (sowohl isländisch-norwegisch wie dänisch-schwedisch) und teilweise dem Althochdeutschen angeglichener oder in dieser Sprachform wiedergegebener Form untersucht hat, wobei die Namen Zeugnis vom alten Romweg Bodensee-Bündner Alpenpässe ablegen (namenkundlich ist auch der ahd. Eintrag Hislant terra vor einer der Eintragungen von Bedeutung); – altsächsische Namen sind in einer Liste der Essener Stiftsdamen im (nach Karl Schmid jüngeren) St. Galler Verbrüderungsbuch in sprachlich überwiegend guter Form zu finden, doch finden sich auch hier Angleichungen an althochdeutsche Lautungen, auf die wenigstens teilweise
Verschriftungsprobleme bei frühmittelalterlichen germanischen Personennamen
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schon Schlaug 1962 (S. 21–24) hingewiesen hat: wir nennen etwa altsächs. -swîth neben ahd. -su(u)ind (Folcsuith neben Adalsuint, Alfsuind ), -râd neben -rât (Radburg neben Ratburg, Vualdrad neben Gundrat ); – altniederländisch-altniederfränkische Namen finden sich in der Utrechter Liste der Nomina fratrum sancti Martini bzw. sancti Bonifacii in Traiecto aus dem 11. Jahrhundert im jüngeren Verbrüderungsbuch von St. Gallen (Schmid bei Borgolte/Geuenich/Schmid 1986, 202), mit nur wenigen, aber doch sichtbaren altniederländischen Sprachspuren (Sasso mit altniederländ. Übergang von hs>ss aus Sahso; auffälliges -bret wie Egibret, Herebret gegen ahd. berht u. ä., vgl. Sonderegger 1993, 6 und 15) neben sonst althochdeutschen Lautungen; – langobardische Namen gelangen insbesondere durch die Verbindungen zu oberitalienischen Klöstern in den althochdeutschen Bereich, so Konventslisten von Nonantola in den Verbrüderungsbüchern von St. Gallen und der Reichenau, wobei für St. Gallen nach Karl Schmid (bei Borgolte/Geuenich/Schmid 1986, 139) das ursprünglich lose Doppelblatt aus Italien später als Vorlage für die Abschrift im jüngeren Verbrüderungsbuch diente; die zumeist latinisierten langobardischen Namen mit variabler Orthographie sind im althochdeutschen Verschriftungszusammenhang kaum verändert worden;13 – für althochdeutsche Verschriftungen gotischer Namen von historischen Persönlichkeiten bieten sich neben Theoderich d. Gr. und Odoaker im Hildebrandslied nach 800 (Dat. miti theotrihhe, miti deotrichhe, detrihhe; Gen. otachres, Dat. otachre) Beispiele aus Notkers des Deutschen Übersetzungswerk um das Jahr 1000 an, nämlich in des Boethius Werk De consolatione Philosophiae (Prolog und Buch I): fünf Namen sind hier aus dem Umkreis des Boethius (um 480–524) im ostgotischen Reich Theoderichs d. Gr. ins Althochdeutsche übernommen:14 (1) Theoderich, ostgotischer Königsname (Theuderic Reichert 1987, 689–692) Lat. Prolog Notkers theodoricus, Theodericum regem Ahd. Prolog und Text thioterih, thioterih, dioterih, Dat. -che, Akk. -en. Notker verwendet, wie z. T. auch das Hildebrandslied, eine teils archaisierende Lautform mit anl. th- und inl. -io-, auch in der Kompositionsfuge ebenfalls leicht altertümlich, da spätahd. Dietrîh zu erwarten wäre.
13 14
Vgl. zu den langobardischen Namen grundsätzlich Arcamone 1997. Vgl. Sonderegger 1989. Textausgabe: Notker der Deutsche, Boethius !De consolatione Philosophiae" Buch I/II, hg. von Petrus W. Tax (Tübingen 1986). Zur Lautform der Namen im Hildebrandslied vgl. die Abbildung der Hs. bei Sonderegger 2003, 116–117.
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Stefan Sonderegger
(2) Odoaker, ostgermanischer Herrschername Odovacar (Reichert 1987, 529) Lat. Prolog Notkers Akk. Odoagrum, ahd. Prolog Énêr hîez in únsera uuîs ôtacher, ahd. Text mit ótachere, Akk. ôtaccheren. Die Übernahme in die Volkssprache entspricht hier der im Ahd. zu erwartenden Form – unterstrichen durch „auf unsere Weise, d. h. in unserer Sprachform“, – die so auch in St. Galler Urkunden belegt ist (älter Otachar, a. 887 Otahcher, offenbar ursprünglich Otachar im Nominativ, -ackar- in den obliquen Kasus, dann so oder so ausgeglichen, aus germ. *wakra-). (3) Alderich, westgotisch Alderic (Reichert 1987, 35) Statt zeitentsprechend ahd. Altrîh (so auch urkundlich in St. Gallen) verwendet Notker im ahd. Prolog archaisierend alderih (lat. Prolog Abl. alderico). (4) Cunigast, gotisch Kunigast-, C- (Reichert 1987, 229) Lat. Text Akk. Conigastum, ahd. Text Dat. conigaste demo gotho. Schon im Text des Boethius ist der Personenname als Akk. Conigastum, bei Cassiodor Dat. Cunigasto überliefert, wobei got. kuni n. ‚Geschlecht, Stamm‘ spätantik in Anlehnung an die vielen lat. Namen mit Con- umgestaltet wurde. (5) Triggwila, vgl. gotisch Triggva (unter Triwil Reichert 1987, 722) Lat. Text Akk. triguillam prepositum, ahd. Text Akk. ten fálenzcrâuen triguillen. Die typisch gotische (wie auch nordgerm.) Verschärfung von germ. *treww(i)a (ahd. triuwi ) zu triggws ‚treu‘ (anord. tryggr) zeigt sich noch in der lat. teilweise im Text des Boethius noch als trigguilam überlieferten wie ahd. Form mit gu, während das Suffix -ila in Anlehnung an die vielen lat. Personennamen auf -illa mit doppeltem ll übernommen wurde. Aus dem schwach flektierten Trig(g )uilla ist bei Notker Trig(g )u(u)ilo, -illo, Akk. wie belegt Triguillen zu erwarten. Damit haben wir einige Hauptprobleme der Personennamenverschriftung Germanisch-Bildungssprache Latein (gelegentlich Griechisch) als Verschriftungsfilter wie Verschriftungsvorbild-Althochdeutsch wenn auch nur kurz in philologischer Hinsicht besprochen, unter Ausklammerung des Sonderproblems der Runenverschriftung. Dabei zeigt sich, dass bei allen diesen Fragen ein Zusammenwirken historischer Quellenforschung wie Quellenkritik – insbesondere auch bei den Zeugnissen aus den Verbrüderungsbüchern – und philologischer Analyse unerlässlich ist, wie dies Dieter Geuenich immer wieder betont hat.15 15
Vgl. besonders Geuenich 1992 und die Beiträge Geuenichs in den Gemeinschaftswerken Borgolte/Geuenich/Schmid 1986 sowie Autenrieth/Geuenich/Schmid 1979.
Verschriftungsprobleme bei frühmittelalterlichen germanischen Personennamen
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Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 23–37 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Ethnisches in germanischen Personennamen?
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Ethnisches in germanischen Personennamen? LUDWIG RÜBEKEIL
1. Trifft man im Elsass einen Herrn Schweitzer oder in Hamburg eine Frau Österreicher, so fällt das in der Regel nicht weiter auf. Die Hauptaufgabe eines Personennamens ist es, auf eine bestimmte Person (oder beim Familiennamen auf einen Personenkreis) zu verweisen. Da eine lexikalische Bedeutung wie bei einem Appellativum hierbei stören oder sogar mit Status und Funktion des Namenträgers in Konflikt geraten würde, ist das über die Referenzfunktion hinausgehende semantische Spektrum (so die traditionelle Namentheorie)1 reduziert oder völlig aufgehoben. Derartige Familiennamen enthalten also nur einen mittelbaren und historisch verdunkelten Bezug zur Referenz des Grundworts. Was den konkreten Fall „Familienname“ angeht, so ist diese Situation verhältnismäßig jung: Erst im 12./ 13. Jahrhundert wurden ältere fakultative Beinamen allmählich zu obligatorischen Familiennamen, davor unterlag die Benutzung von Beinamen verhältnismäßig freier Variation.2 Dieter Geuenich hat mehrfach ähnliche Namen mittelalterlicher Personen behandelt, die nicht unter das neuzeitliche Prinzip der Familiennamengebung fallen. In einem Fall etwa, dem Ludwigs des „Deutschen“, bringt der Beiname ein regelrechtes politisches Programm zum Ausdruck, wenn auch nicht das des Namenträgers oder seiner Zeit. Hier hat nämlich die ältere Forschung Ludwig II. nachträglich den Beinamen „der Deutsche“ beigelegt und ihn zur Symbolfigur eines rekonstruierten deutschen Geschichtsbeginns gemacht, denn in seine Zeit fiel die in den Straßburger Eiden bezeugte Aufspaltung des karolingischen Großreiches in einen ostfränkischen („deutschen“) und einen westfränkischen („französischen“) Teil. Ludwig ist allerdings in Aquitanien – also im heutigen Frankreich – geboren und aufgewachsen, und seine Rezeption durch die frühe historische Forschung be1
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Neuere philosophische Ansätze gehen umgekehrt von einem Maximum an Semantik aus, da Eigennamen auf eine Klasse mit einem nur einem Objekt und somit einem Maximum an individuellen Charakteristika verweisen. Die Diskussion ist jedoch von eher theoretischem Interesse und hier nicht von Belang. Geuenich 1996, 1721; Andersson 2003, 589ff.; Sonderegger 1997, 5ff.
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kommt dadurch eine noch eigenartigere Note, dass Ludwigs Gegenstück und Stiefbruder Karl als erster „französischer“ König in Frankfurt, d. h. im Ostreich geboren wurde und zunächst Herzog in Alamannien war.3 2. Ludwigs Beiname „der Deutsche“ ist erst in der Neuzeit aufgekommen, doch kennt das Mittelalter entsprechende Cognomina in großem Umfang. Für das Frühmittelalter hat Geuenich am Beispiel des Reichenauer Verbrüderungsbuches auf solche Benennungen hingewiesen und ihre Funktion ausführlich analysiert, wobei die auf Stammes- und Herkunftsbezeichnungen beruhenden Beinamen die größte Gruppe stellen.4 In der Zeit der Einnamigkeit von Personen,5 i. e. im Frühmittelalter und in der Frühgeschichte allgemein, war die Kennzeichnung mit derartigen Beinamen verbreitet, weil sie eine sinnvolle Ergänzung des Individualnamens darstellte. Die von der traditionellen Namentheorie postulierte Monoreferenzialität erfüllte der Individualname allenfalls „virtuell“; er konnte vielleicht in einem konkreten Kommunikationskontext monoreferenziell sein, war es aber im größeren gesellschaftlichen Zusammenhang nicht mehr, da Namen wie ahd. Wolfhraban, Hiltgunt oder Diotrih von mehreren Personen beansprucht wurden. Der Beiname hilft, den Bezugsrahmen des Personennamens zu verkleinern, indem er ihm eine wie auch immer geartete lexikalische Semantik beifügt. Somit wäre der Beiname im Sinn der traditionellen Namentheorie auch kein eigentlicher Eigenname, sondern bewegt sich eher in der Nachbarschaft der Appellativa. In solchen Fällen ist die „Annahme, ein Mönch Samuhel im bairischen Niederaltaich sei wegen seiner sächsischen Herkunft mit dem Beinamen Sahso bezeichnet worden, wohl die nächstliegende“.6 Um Namen des Typs Sahso historisch verstehen zu können, bildet jedoch die Einsicht in seinen onymischen Status eine wichtige Voraussetzung. Die „Semantik“ des Beinamens ist freilich eine variable Größe. Sie kann körperliche oder charakterliche Eigenschaften des Namenträgers beschreiben, seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, erworbene Fähigkeiten und vieles andere mehr, muss dies alles aber nicht. Beinamen können nämlich wie die individuellen Eigennamen (Taufnamen usw.) auch einen hohen symbolischen Gehalt haben. Sie haben etwa Amulettfunktion oder verdanken sich einem situativen Kontext, ohne dessen Kenntnis keinerlei Bezug zum Namenträger herstellbar ist. Sie können andererseits auch gegen den Willen des Namenträgers verliehen werden, in dessen An- oder Abwesenheit, und 3 4 5 6
Geuenich 2000, bes. 319. Geuenich 1978, 87ff. Geuenich 1996, 1719. Geuenich 1978, 85.
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von dessen Selbstvorstellung stark abweichen. All das macht die historische Interpretation insbesondere von Herkunftskategorien in Personennamen recht schwierig,7 ganz abgesehen davon, dass jeder Beiname stets selbst onymisiert werden kann. 3. Die Siegerbeinamen der römischen Kaiser sind durch die gute Quellenlage geeignete Beispiele für eine Benennung nach einem situativen Kontext. Allgemein gilt Drusus’ Beiname Germanicus als traditionsbildendes Beispiel. Nachdem der Stiefsohn des Augustus im Jahr 9 v. Chr. Germanien bis zur Elbe durchquert hatte, soll ihm eine germanische Seherin erschienen sein, die ihm sein baldiges Ende ankündigte. Bei der Rückkehr von der Elbe an den Rhein brach sich Drusus ein Bein, was tatsächlich sein Ende bedeutete. Sein Leichnam wurde nach Rom getragen, man errichtete ihm zu Ehren einen Triumphbogen und verlieh ihm den Beinamen Germanicus ‚der Germanische‘.8 Ein solcher „ethnophorer“ Siegerbeiname wurde damit das erste Mal offiziell verliehen;9 er war erblich, die Nachkommen des Drusus hatten ebenfalls Anspruch, Germanicus genannt zu werden.10 Diese Siegertitel sind nicht nur ein Musterbeispiel für die Institutionalisierung eines bestimmten Typus von Cognomina; sie zeigen auch auf, wie gering der Abstand zu den Propria ist und wie schnell es zur Institutionalisierung und somit Onymisierung eines bestimmten Cognomens kommen kann. Für die Bewertung von sprachlichen Inhalten ist es von Bedeutung, dass diese nicht auf eine außersprachliche Lebenswelt verweisen, sondern auf mentale Abbilder, auf Begriffe, Vorstellungen, konzeptuelle Repräsentationen von Realität. Folglich bezeugen die Siegertitel nicht einen historischen Sieg, sondern lediglich den Anspruch, Sieger zu sein – so etwa, wenn sich Domitian nach einer angeblichen chattischen Niederlage den Titel Germanicus verleihen lässt.11 Auch Drusus’ Beiname war ja nicht einem konkreten 7
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Geuenich 1996, 1720f.: „Die Frage, inwieweit man vom nomen auf die gens schließen kann, inwieweit also der Name einer Person deren ethnische Herkunft erkennen lässt, ist in der Forschung bis heute kontrovers beurteilt und heftig diskutiert worden. Sie ist wohl auch nicht generell und prinzipiell, sondern je nach historischer Situation, d.h. für jeden Zeitraum und für jede Bevölkerung, unterschiedlich zu beantworten“. Strabo 7,1,3; Suetonius, Claudius 1,2 f.; Cassius Dio 55,1,3ff. Zwar bezeichnet Livius 30,45,7 auch Scipios Beinamen Africanus als nomen victae ab se gentis, doch fehlte hier noch der „offizielle Segen“ durch den Senat. Sprachlich gesehen ist Scipios Beiname identisch mit dem Bewohnernamen Africanus, während der Typ Germanicus (Gothicus, Sarmaticus usw.) gegenüber den Bewohnernamen Germani (Gothi, Sarmati ) morphologisch markiert ist. Zur ideengeschichtlichen Einbettung Kneissl 1969, 20ff. Dazu Kneissl 1969, 30ff. Hierauf scheint sich Tacitus’ Germania 37,5 Satz zu beziehen, über die Germanen hätte man mehr Siege gefeiert als errungen; vgl. auch Kneissl 1969, 43ff., bes. 47 f.
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Sieg zu verdanken, er bekam ihn eher wegen seiner allgemeinen Beziehung zu Germanien.12 Die meisten Namenträger hatten ein Interesse daran, solche Titel verliehen zu bekommen. Ob sie es auch schafften, war nicht zuletzt abhängig davon, wie weit ihr Einfluss reichte. Von Interesse sind solche Benennungen also in zweierlei Hinsicht: Zum einen sind sie aus dem Blickwinkel und oft auch auf Betreiben der Namenträger verliehen und können als intensionale Selbstbenennungen angesehen werden. Zum andern haben sie zum zugrundeliegenden Bezugswort dennoch einen distanzierten, oft sogar konsistent feindlichen Objektbezug. 4. Ein Siegestitel war formal zwar eine Fremdbenennung, intensional aber eine Selbstbenennung (der Namenträger erhebt Anspruch auf den Namen). Einen andern Typus vertreten dagegen die auf der Basis von Völkernamen gebildeten antiken Sklavennamen (Typus Thrax), die zwar auf die ethnische Herkunft der Namenträger verweisen,13 aber trotzdem intensionale Fremdbenennungen sind. Hier herrscht kein Objekt-, sondern ein Subjektbezug zur Namenbasis; trotzdem würde sich ein Thraker auch in der Sklaverei selbst kaum Thrax nennen; er wurde so genannt. Fraglich bleibt das Motiv der Namengebung. Angesichts eines der wichtigsten Beschaffungswege für Sklaven, der Kriegsführung mit Massengefangennahme, dürfte ein solcher Sklavenname wohl erst nach dem Verkauf verliehen worden sein. Die gängige Auffassung, dass mit den ethnischen Namen etwa römische Sklavenhalter zungenbrecherische fremdländische Namen umgehen wollten,14 hat einiges für sich. Doch auch dann muss man sich fragen, wie ein Haushalt verfuhr, in dem es beispielsweise mehrere thrakische Sklaven gab. Wenn sie alle Thrax hießen, waren sie nicht mehr unterscheidbar. Behielten sie darüber hinaus ihre ursprünglichen Individualnamen, gab es keinen Grund mehr für einen Beinamen. Auch die Sklavennamen implizieren also mehrere komplexe und situationsabhängige Faktoren, von denen wir aber – im Gegensatz zu den kaiserzeitlichen Siegertiteln – die wenigsten kennen. 5. Mit einer Reihe „ethnophorer“ Personennamen aus der frühen Germania hat sich vor längerer Zeit Norbert Menzel auseinandergesetzt. Zu seiner Zeit manifestierte sich in Ernst Schwarz’ „Germanischer Stammeskunde“ eine philologische Altertumswissenschaft, die ihre vor allem auf Namen basierten Ergebnisse mit fast schon enzyklopädischer Festigkeit vertrat. Menzels Hauptziel war es, einige Stützpfeiler dieser Lehre zu hinterfragen. 12 13 14
Florus 2,30,28: senatus cognomen ex provincia dedit. Lambertz 1907, I.10ff; Solmsen 1922, 132. Rosenfeld 1978, 141.
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Schwarz hatte etwa die Namen der bei Snorri erwähnten Seekönige Vinill und Vandill mit der Diskussion um eine alte Nachbarschaft von Langobarden (die einst den Namen Win(n)ili getragen haben sollen)15 und Wandalen verwoben und daraus eine gemeinsame skandinavische Urheimat rekonstruiert.16 Menzels Skepsis gegenüber diesem Konstrukt17 war durchaus berechtigt, ebenso seine methodischen Grundsatzfragen.18 Über die Skepsis gerieten allerdings einige Aspekte in den Hintergrund. Die folgenden Ausführungen sind, da ich mit Menzels Kritik weitgehend übereinstimme, nicht als Auseinandersetzung mit seinem Artikel gedacht, sondern eher als Exkurs. Menzels Namenliste ist lang, wenn auch nicht vollständig.19 Sie enthält Namen aus der Zeit der Kimbernzüge20 wie auch solche, die erst in früh- und hochmittelalterlichen, z. B. altnordischen, Quellen belegt sind. Ich möchte mich im Folgenden auf einige Beispiele aus der Kaiser- und Völkerwanderungszeit beschränken. 6. Ein Blick auf die formale Seite zeigt, dass zwar sowohl Komposita wie auch Derivata vertreten sind, innerhalb beider Gruppen jedoch gewisse Elemente überwiegen. So überwiegen unter den Simplicia die nicht abgeleiteten Singularformen der entsprechenden Völkernamen bei weitem. Von diesem Schema weicht lediglich Cimberius ab, das womöglich einen germ. ja-Stamm repräsentiert.21 Bei den Komposita wiederum zeigt sich eine Vorliebe für Zweitglieder aus der Bedeutungssphäre ‚Herrscher‘ oder ‚Krieger‘. Nach den gängigen Kompositionsregeln bleibt jedoch immer noch ein weites Spektrum an möglichen Bedeutungen. Erstglieder von Determinativkomposita – dem mit Abstand häufigsten Kompositionstyp – können syntaktisch recht verschiedenartig aufgelöst werden, z. B. als direktes Objekt eines transitiven Verbs, aber auch als Attribut zum Zweitglied. Im ersten Fall käme eher Objektdistanz gegenüber dem Ethnos zum Ausdruck, im zweiten dagegen eine ethnische Herkunftskategorie. Von historischem Interesse könnte es sein, dass die ethnophoren Personennamen oft in Zusammenhang mit einem Mehr- bzw. Doppelkönigtum
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Origo gentis Langobardorum 1; Paulus Diaconus 1 passim. Schwarz 1956, 66. Menzel 1960, 79. Menzel 1960, 83: 1) Handelt es sich um „alleinige Namen“ oder Cognomina bzw. Ethnika? – schwer, weil teilweise e silentio, zu beantworten? 2) Sind die Namen germanisch oder nichtgermanisch bzw. römisch? Insbesondere Boiorix wird bei Menzel nicht berücksichtigt. Für eine umfassendere, aber unkritische Liste vgl. etwa Socin 1903, 213ff. Wenn auch erst spät bezeugt, siehe unten. Reichert 2003, 98f.
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bezeugt sind, und zwar sowohl in lateinischen Quellen der Antike als auch in späterer germanischer oder germanisch motivierter Überlieferung. In der germanischen Überlieferung gehorchen die Quellen freilich den Prinzipien mythologischer Namentradition (die ihrerseits auf die Namengebung zurückwirkte!). Erkennbar ist das daran, dass die Namen miteinander staben (Vinill + Vandill, Ambri + Assi ). Das erinnert von fern an die stabenden Götternamen, die sich aus den bei Tacitus Germania 2,2 erwähnten Völkernamen Ingaevones, Herminones und Istaevones rekonstruieren lassen; auch hier scheint die letztliche Quelle mythologische Dichtung zu sein. Etwas greifbarer werden derartige „Verwandtschaftsalliterationen“ bei stabenden Personennamen wie Heribrant, Hiltibrant und Hadubrand im Hildebrandslied, die allerdings in einer Deszendenzabfolge stehen. Auch dieser Typus scheint in unserer „ethnophoren“ Namengruppe bezeugt zu sein, wie sich unten am Beispiel der Namen Vinitharius und Vandalarius zeigt. Generell gibt es die Tendenz, bei derartigen alliterierenden Verwandtschaftsnamen nicht nur den phonologischen Anlaut, sondern auch die Inhalte miteinander reimen zu lassen. Die Namen des Hildebrandsliedes teilen sich beispielsweise nicht nur das anlautende h-, sondern auch die Form bzw. Bedeutung des Hintergliedes und die Bedeutungssphäre ‚Krieg‘ des Vordergliedes. Hier geben uns die ethnophoren Namen jedoch einige Probleme auf: Stand der Stabreim im Vordergrund oder der Inhalt? Beides zusammen war nur umzusetzen, wenn konkrete historische Anknüpfungen bei der Namengebung keine oder eine untergeordnete Rolle gespielt hätten. Umgekehrt musste die Alliteration u.U. geopfert werden, wenn ein konkreter Zeit- und Ortsbezug das übergeordnete Namengebungsmotiv darstellte. Die folgenden Absätze bieten nur eine kleine Auswahl von Personennamen, die sich auf Stammesnamenbasis deuten lassen; es soll damit nicht der Eindruck erweckt werden, als gäbe es im Einzelfall nicht auch andere Namenerklärungen. 7. Boiorix, Lugius, Teutobodus. Orosius erwähnt anlässlich der Schlacht bei Vercelli vier kimbrische Könige, von denen zwei – nämlich Boiorix und Lugius – in acie (hier wohl ‚an der Spitze der Schlachtreihe‘) fielen und zwei weitere – Claodicus und Caesorix – gefangen genommen wurden.22 Während die letzten drei Namen nur bei Orosius erwähnt werden, bekommt Boiorix in der Überlieferung historische und biographische Konturen. So berichtet Livius in einer Notiz zum Jahr 105 v., dass ein „ju-
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Orosius 5,16,20; diese Information dürfte Livius entnommen sein.
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gendlicher Hitzkopf“ ( ferox iuvenis) namens Boiorix den römischen Legaten Scaurus tötete; dieser hatte die Kimbern davor gewarnt, die Alpen zu überqueren, denn die Römer seien unbesiegbar.23 Unter den genannten Anführern der Kimbern scheint Boiorix auch sonst eine herausragende Rolle gespielt zu haben, denn vor der Schlacht von Vercelli wird er als der Hauptverhandlungsführer erwähnt, der es Marius überließ, den Schlachtplatz auszusuchen.24 Auch Florus nennt ihn als einzigen bzw. als den kimbrischen König.25 Beide Namen, Boiorix und Lugius, begegnen uns auch sonst in der Überlieferung, allerdings mit anderen Namenträgern und in einem keltischen Umfeld. Lugius ist mehrdeutig und könnte am ehesten aus der Liste der ethnophoren Namen herausfallen: Neben der Interpretation als singularische Wiedergabe des Ethnikons Lugii (also ‚der Lugier‘) kommt z. B. auch eine Zugehörigkeitsbildung zum Götternamen Lugus in Betracht (etwa ‚dem Lugus zugehörig‘).26 Die Hauptstütze für seine ethnophore Deutung bildet der Name Boiorix; die anderen beiden Königsnamen erlauben jedoch keine derartige Interpretation. Boiorix ist ein durchsichtiges Kompositum, das als ‚Boierkönig‘ übersetzt werden kann; wie im Deutschen kann dieses Kompositum zwar ‚König über die Boier‘ bedeuten,27 muss es aber nicht. Doch ist eine solche Deutung nicht auszuschließen: Ein Träger des Namens Boiorix führte 194 v. Chr. mit seinen beiden Brüdern (von denen man gerne die Namen wüsste!) gegen Rom Krieg. Livius zufolge war er regulus der Boii,28 der Name somit eine direkte Beschreibung seiner Funktion. Für den kimbrischen Boiorix wirft eine gleichsinnige Deutung jedoch Probleme auf, denn von einer ausreichend gewichtigen Präsenz boischer Stammesteile erzählen die Quellen nichts, während etwa die Teilnahme der Tiguriner gut bezeugt ist. Es ist dabei in Erinnerung zu rufen, dass die Kimbern, die sonst in ihren historisch bezeugten Auseinandersetzungen meist siegreich waren, von den Boiern, auf die sie zu Beginn ihrer Wanderung stießen, abgewehrt wurden.29 Ist es in diesem Zusammenhang wahrscheinlich, dass sich umgekehrt
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Livius Periochae 67. Plutarch Marius 25,4. Florus 1,38,18. So vermutlich in CIL 12,4468 aus Narbonne. Z. B. versteht Koestermann 1969, 315 den Namen als Ausdruck der Stammeszugehörigkeit; Boiorix sei entweder selbst Boier oder Herrscher über boische Teilnehmer am Kimbernzug gewesen. Livius 34,46,4. Poseidonios bei Strabo 7,2,2.
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die siegreichen Boier oder auch nur einer ihrer Könige mit seinem Gefolge den unterlegenen Kimbern anschlossen? Das Bild kompliziert sich mit Blick auf Teutobodus, den König der Teutonen bei der Schlacht von Aquae Sextiae.30 Das Vorderglied könnte das alte Appellativum germ. *peudo ‚Volk, civitas‘ bzw. kelt. *touta– enthalten. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass dieser Name keinen Bezug zum Ethnikon herstellen soll; man muss für dieses lediglich konsonantische Stammbildung entsprechend der lat. Überlieferungsform Teutones ansetzen.31 Die Frage nach der „richtigen“ Deutung wird dadurch erschwert, dass wir das Verhältnis zwischen dem Stammesnamen und dem Appellativum für ‚Volk‘ nicht wirklich verstehen. Das Hinterglied dürfte jedenfalls das gleiche sein wie bei Maroboduus; es findet seine Fortsetzung in ae. beado, anord. bqj ‚Kampf‘. Teutobodus müsste damit ‚Teutonenkampf‘, allenfalls ‚Volkskampf‘ bedeuten. Zur agentiven Deutung ‚Teutonenkämpfer‘ wäre das Keltische eher geeignet.32 Es bleibt festzuhalten, dass das Vorderglied hier wohl als Attribut ‚teutonisch‘ zu verstehen ist; insgesamt erinnert der Name eher an einen Funktionsnamen oder Titel wie beim norditalischen Boiorix. Boio- war bei germanischsprachigen Völkern als Namenelement auch sonst verbreitet. Das ist für Namen mit geographischem Bezug zum weiteren Donauraum auch nicht weiter erstaunlich,33 durchaus aber für jene, für die ein solcher Bezug nicht nachweisbar ist. Hier sind andere Erklärungswege in Betracht zu ziehen. Warum der Sprecher der Ampsivarier im Jahr 58 n. Chr. Boiocalus hieß, bleibt unerklärlich, solange keine Beziehung zu Marbod oder seinem Herrschaftsgebiet Boiohaemum34 herzustellen ist. Immerhin könnte Boiocalus’ eigene Angabe, dass er Rom seit 50 Jahren treu ergeben sei und bereits von (Marbods Feind) Arminius in Fesseln gelegt wurde,35 einen, wenn auch schwachen, Fingerzeig in diese Richtung geben. Auch hier stellt sich letztlich die Frage, ob der Name nicht ganz keltisch36 ist, denn das Zweitglied erscheint in keltischen Namen wie Ritokalos,37 und auch das Vorderglied lässt sich mit kelt. *bowi- ‚Rind‘ zusammenstellen.38
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Florus 1,38,10; Eutropius 5,1,4. Mit der Überlieferungsvariante Teutoni wäre † Teutonobodus zu erwarten. Delamarre 2003, 81. Rübekeil 2002, 337ff. Strabo 7,1,3; Velleius Paterculus 2,109,5. Tacitus Annales 13,55,1f. Vgl. auch Melin 1960, 65ff. Holder II, 1195; Delamarre 2007, 154, weitere Beispiele 215. Delamarre 2007, 213; dazu Delamarre 2003, 79f.
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8. Cimberius und Nasua. Cimberius und Nasua erscheinen nur an einer Caesarstelle, in welcher Treverer eine neue Germanengefahr rapportieren: 100 Gaue Sueben seien unter Führung der beiden Brüder Nasua und Cimberius an den Rhein geführt worden und wollten sich mit den Scharen des Ariovist vereinen.39 Über den Namen Nasua wurde viel gerätselt.40 Man kann ihn nicht mit einem bekannten Völkernamen verbinden, aber auch andere Anknüpfungen wie etwa der Vergleich mit dem suebischen Königsnamen M «41 sind nicht sonderlich befriedigend. Die Verknüpfung von Cimberius mit dem Ethnikon Cimbri liegt dagegen auf der Hand. Hier dachte man jedoch an eine lateinische Bildung – womöglich sogar durch Caesar selbst initiiert –, die dazu dienen sollte, das Kimbernerlebnis wieder wach werden zu lassen. Formal könnte die Wortbildung zwar lateinisch sein, doch ist diese Annahme aus historiographischen wie sprachlichen Gründen wenig überzeugend. Warum hieß der Bruder Nasua und nicht † Teutonius oder † Ambro? Und warum ist nicht der verbreitete lat. PN Cimber oder die übliche Adjektivbildung Cimbricus herangezogen worden? Der Form nach handelt es sich bei Cimberius eher um eine germ. ja-Ableitung, die zur Adjektiv- und Zugehörigkeitsbildung herangezogen wurde und somit das ideale Wortbildungsmuster zur Bildung ethnophorer Cognomina repräsentierte. Sie stimmt funktional auch mit den Wortbildungen der oben aufgeführten römischen Siegestitel wie Germanicus, Gothicus, Alamannicus usw. überein. Da dieses Muster auch gekürzte zweigliedrige Vollnamen wiedergibt,42 könnte sich hinter Cimberius sogar ein Vollname des Typs *Cimbrorix verbergen. Zwar muss man mit der Möglichkeit rechnen, dass sich der Namenträger lediglich mit einem klangvollen Prunknamen schmückte. Bedenkt man jedoch, dass der Kimbernzug zu Caesars Zeit erst zwei Generationen zurücklag und akzeptiert man grundsätzlich einen prägenden Einfluss kimbrischer Traditionen in der Mainregion (mit seinen Weihinschriften an den Marcurius Cimbricus43), so könnte der Personenname des Cimberius – als Beiname verstanden – in diese Traditionslinie einzureihen sein. 9. Vangio, Sido, Italicus. Auch die Nachrichten über Sido und Vangio werfen zwar kein besonders helles Licht, sind aber insofern von Interesse, als einiges über die Familienbeziehungen bekannt wird. Sie waren Brüder, 39 40 41 42 43
Caesar de bello Gallico 1,37,3. Vgl. vor allem Reichert 2003. Cassius Dio 67,5,3. Zu ähnlichen Fällen Rosenfeld 1978, 138. CIL XIII, 6402. 6604. 6605. 6742.
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ihr Onkel mütterlicherseits war der Quadenkönig Vannius mit Herrschaftszentrum in Mähren. Vannius wurde von seinen beiden Neffen gestürzt, die die Macht unter sich aufteilten. Als Vangio starb, übernahm Italicus – vermutlich Vangios Sohn – seinen Anteil an der Herrschaft.44 Das Doppelkönigtum war also für germanische Verhältnisse außergewöhnlich stabil und zeigte vielleicht sogar Ansätze einer Institutionalisierung. Die Namen sind nun auf mehrfache Weise interessant. Zum einen die formale Seite: Vangio alliteriert mit dem Namen des Onkels, Vannius, nicht aber Sido. Sollte das irgendeine Bedeutung haben, so am ehesten die einer engeren (erbrechtlichen) Bindung zwischen Vangio und Vannius. Es könnte jedoch auch bedeuten, dass der Inhalt bei Sido höher gewichtet wurde als die Form. Zum andern die inhaltliche Seite: Alle drei Namen Vangio, Sido und Italicus können an Ethnika angeknüpft werden, womit wieder jede einzelne ethnophore Deutung an Wahrscheinlichkeit gewinnt. Verblüffend ist jedoch die Auswahl der Völkernamen. Vangiones heißt seit Caesars Zeiten ein (vom regnum Vannianum aus gesehen ferner) Stamm am Oberrhein, Sidones dagegen einer der drei namentlich bekannten Teilstämme der Bastarnen,45 von dem die Quellen keine besonderen Ruhmestaten zu berichten wissen. Im Gegensatz zu Boii, Teutones, Cimbri und evtl. Lugii handelt es sich diesmal um historisch periphere Namen, deren Ruf wohl nicht ausreichte, als Element von Prunknamen Glanz und Ruhm zu verbreiten. Hier spricht einiges für konkretere Bezüge. Gestützt wird das vom dritten Namen, Italicus, der der überlieferten Romtreue von Vater und Onkel zu verdanken sein dürfte (und dessen sprachliche Form wohl deshalb auch lateinisch wirkt). Dieser Name ist noch für einen zweiten germanischen Namenträger bezeugt, einen cheruskischen Adeligen; dieser war angeblich „der erste in Rom geborene, der nicht als Geisel, sondern als römischer Bürger eine ausländische Herrschaft übernahm“.46 Hier liegt also eindeutig ein Beiname mit einer Art Herkunftsbezeichnung vor. Im historischen Kontext ist es das wahrscheinlichste, dass auch der suebische Italicus in Italien lebte, sei es als Geisel, sei als römischer Bürger. Namengeber war womöglich sein Vater Vangio. Überträgt man das Benennungsprinzip von Italicus, so könnte Vangio seinen Namen beispielsweise dem Dienst in einer vangionischen Einheit verdanken oder selber gar Ziehkind oder Geisel in der civitas Vangionum gewesen sein. Bei Vangio und Sido kommt ein weiterer Aspekt zum Tragen, nämlich die Tatsache, dass sie offenbar ihren Onkel mütterlicherseits beerben, wenn auch gewaltsam. Von der Rolle des 44 45 46
Tacitus Annales 12,29f.; siehe auch Historiae 3,5,1; 3,21,2. Strabo 7,3,17; Ptolemaios 2,11,10. Tacitus Annales 11,16,1.
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Mutterbruders in der germanischen Gesellschaft weiß Tacitus, dass er gegenüber seinen Neffen die gleiche Stellung einnimmt wie deren eigener Vater.47 Im Fall von Sido und Vangio – die nicht Söhne derselben Mutter gewesen sein müssen – könnte das ein weiteres Indiz auf Herkunft von außerhalb des regnum Vannianum sein. 10. Vinitharius und Vandalarius. Jordanes erwähnt in der Amalergenealogie seiner Getica einen Vinitharius, Enkel von Ermanarichs Bruder Vultulf, und seinen Sohn Vandalarius.48 Einem späteren Kapitel zufolge versuchte Vinitharius, ein von hunnischem Einfluss unabhängiges Gotenreich zu etablieren, indem er unter anderm gegen die Anten kämpfte. Er starb beim anschließenden Gegenangriff der Hunnen.49 Zeitgenössische Informationen zu den Vorgängen um den Hunnensturm und die Nachfolge Ermanarichs finden sich bei Ammian, der jedoch lediglich weiß, dass nach Ermanarich ein Mann namens Vithimiris zum König gewählt wurde, der in einer Schlacht gegen die Alanen sein Leben verlor; sein Sohn trägt den Namen Viderichus.50 Um was für ein Volk es sich bei den Anten handelt, ist umstritten, sicher aber, dass sie in der Gemengelage von iranischen und slavischen Stämmen zu suchen sind und somit sowohl mit Alanen als auch mit Slaven (germ. *Winipoz) verwechselt werden konnten; auch an sekundäre Slavisierung wurde gedacht. Sollten sich die Erzählungen bei Jordanes und bei Ammian auf dieselben historischen Personen beziehen, so können die Namen des Jordanes nur nachträglich gebildet worden sein, und zwar erst, als man die Anten als Slaven ansah.51 Dem Namen Vinitharius läge ein germ. Transponat *Winip(a)-harjaz ‚Slavenkrieger‘ zugrunde, und es ist anzunehmen, dass der Name seines Sohnes als *Wandala-harjaz ‚Wandalenkrieger‘ in ähnlicher Weise mit einer realen oder fiktiven Begebenheit der mündlichen Überlieferung verknüpft wurde. Halbmythische Namenfabeln und der Wille zu alliterierenden Namenformen dürften sich hier gegenseitig ergänzt haben.
47
48 49 50 51
Tacitus Germania 20,3. Ein solches Avunkulat lässt sich besonders gut im Umfeld des Civilis verfolgen, welcher seinen Neffen Claudius Victor und Verax herausragende militärische Aufgaben anvertraute (Tacitus Historiae 4,33,1; 5,20,1). Sogar die erbitterte Feindschaft zum dritten Schwestersohn, Iulius Brigantinus, die Tacitus Historiae 4,70,2 damit begründet, dass Feindschaft unter Verwandten immer am hitzigsten sei (ut ferme acerrima proximorum odia sunt) gibt einen Hinweis auf die hohen Ansprüche, die auf dieser Verwandtschaftslinie lasten. Jordanes Getica 14 (79). Jordanes Getica 48 (246ff.). Ammianus Marcellinus 31,3,3. Wolfram 1990, 253f.
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11. Vor allem die komponierten Personennamen der obigen Absätze finden sich zum grössten Teil in den mittelalterlichen Korpussprachen wieder. Ich möchte diese Belegschicht ausklammern, weil sie einen anderen Namengebrauch verkörpert und historische Nachbenennungen enthalten kann. Stattdessen abschließend noch ein Blick auf die zeitgenössischen einheimischen Belege, d. h. die Runeninschriften der Kaiser- und Völkerwanderungszeit. Diese zeigen, dass grundsätzlicher Zweifel an der Existenz ethnophorer Namen im frühen Germanischen und ihre pauschale Erklärung etwa aus dem Lateinischen unberechtigt sind. Ein Vinitharius und Vandalarius ganz ähnlicher Name, Swabaharjaz auf dem Runenstein von Rö, hat für Uneinigkeit unter Runologen und Namenforschern gesorgt.52 Früher nahm man den Namen gern als Beweis für suebisches Ethnos des Namenträgers; heute gilt eher der Grundsatz, dass der Name, um etwas zu charakterisieren, nicht von Sueben vergeben worden sein kann.53 Wie bei Vinitharius ist die Ansicht vorzuziehen, dass der Namenträger nicht den Sueben angehörte, sondern zu diesen eher eine Objektbeziehung hatte. Wagner glaubte sogar, Swabaharjaz sei ein Beiname Offas gewesen, der im 4. Jahrhundert an der Eider gegen Swæfe kämpfte.54 Jedenfalls sollte man nicht so weit gehen wie Schramm, demzufolge das Vorderglied in Swabaharjaz weitgehend bedeutungsleer gewesen wäre („es vertrat die Stelle von Volk schlechthin“).55 Der Runenstein selbst schweigt sich jedoch über das Namengebungsmotiv, die Art der Beziehung zum Ethnikon aus. Über die klassischen Beispiele für inschriftliche Namen mit ethnischem Bezugswort wie Swabaharjaz oder Iupingaz bzw. Eupingaz 56 (Reistad) sind auch neue Namen ins Spiel gekommen, die wegen der aktuellen Forschungsdiskussion nicht übersehen werden sollten, etwa die auf Lanzenspitzen von Illerup und Vimose gleich dreimal bezeugte Inschrift Wagnijo. Neben der Ansicht, dass es sich hier wie in Øvre Stabu, Kowel oder Dahmsdorf um einen Waffennamen handeln könnte,57 wird Wagnijo gerne mit Vangio verglichen und als Name eines Waffenschmieds aus der civitas Vangionum,58 eventuell auch als Gefolgschaftsführer59 gedeutet. Ähnliche Deutungen erfuhren beispielsweise Skåäng Harijaz Leugaz (zum Namen der 52 53 54 55 56 57 58 59
Eine Übersicht über die Erklärungen bei Wagner 1999, 10ff. Schramm 1957, 98; Peterson 1994, 153. Wagner 1999, 12ff. Schramm 1957, 98. Peterson 1994, 139 mit weiteren Lesungen. Seebold 1994, 68. Stoklund 1985, 15; Stoklund 1994, 106; Looijenga 2003, 155. Carnap-Bornheim/Ilkjaer 1996, 485.
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lugischen Harier bei Tacitus Germania 43,3 f.), Illerup V gaupz (Gauten) oder Hitsum Fozo (zu Tacitus Germania 36,2 Fosi ), um nur einige wenige zu nennen. Ein Teil dieser ethnischen Interpretationen ist schon aus sprachlichen Gründen sehr problematisch und wird nicht lange Bestand haben. Es ist jedoch anzunehmen, dass andere sich behaupten und zusammen mit der archäologischen Untersuchung der Inschriftenträger zu neuen Erkenntnissen führen. In diesem Zusammenhang sei an die Inschrift von Kårstad ekaljamarkiz Baij?z60 erinnert, in welcher das selbst (ek) verliehene Attribut aljamarkiz ‚Fremdländer‘ die ethnische Deutung von Baij?z als ‚Baianer‘ plausibel erscheinen lässt, wobei allerdings auch ein Ländername in Betracht kommt.61 Der typologische Überblick legt es nahe, dass die Simplicia häufiger Herkunftskategorien thematisieren, die Komposita mit Ethnikon im Vorderglied dagegen eher eine Objektbeziehung. Das passt zur Annahme, die komponierten („zweigliedrigen“) Personennamen seien dichterische Formeln, welche kriegerische Ästhetik und aristokratischen Anspruch komprimiert zum Ausdruck bringen sollen.62 Beispiele wie Teutobodus für einen Teutonenkönig und Boiorix für einen König der Boier sind jedoch als Warnung vor jedem Schematismus zu verstehen. Der Name kann nur als Fingerzeig verstanden werden, in den wenigen frühgeschichtlichen Quellen nach korrespondierenden Informationen zu suchen. Dass die Forschung auf der Suche nach Ergebnisse immer wieder Irrwege geht, sollte uns nicht verleiten, das von ihr behandelte Material als wertlos abzuschreiben.
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60 61 62
Mit unsicherer Lesung des vorletzten Zeichens. Rübekeil 2002, 343f.; Looijenga 2003, 358. Andersson 2003, 590f. mit weiterer Literatur.
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Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 39–52 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
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Hûn- in zweigliedrigen germanischen Personennamen und das Ethnonym Hunne(n) ELMAR NEUß
Die mit dem Namenthema Hûn- verknüpften Fragen führen mitten in die Arbeitsfelder von Dieter Geuenich über nomen et gens, so dass die folgenden Überlegungen im Rahmen dieser Festgabe angebracht sein sollten. Den verschiedenen, kontrovers beurteilten etymologischen Anschlüssen des Namenworts wird an dieser Stelle kein weiterer Vorschlag hinzugefügt. Eine Klärung des nebulösen Verhältnisses zwischen Anthroponym und Ethnonym ergibt sich jedoch hoffentlich bei einer Sichtung der bisherigen Versuche, vor allem aber aufgrund einer Durchleuchtung der nicht oder kaum thematisierten Voraussetzungen, die den bisherigen Erörterungen mehr oder weniger stillschweigend zugrunde liegen.
I. Exposition der Problemstellung Das Auftauchen von Ethnonymen im lexikalischen „Ausgangsmaterial“ zur Bildung von zweigliedrigen germanischen Anthroponymen gilt als durchaus geläufige und bekannte Tatsache in der Onomastik. Dass dagegen eine Verküpfung der – überwiegend männlichen – Rufnamen wie Hunbald/Humbold, Hun-berht/-pert, Hun-frid, Hun-old < -wald mit dem Namen der Hunnen, die sich geradezu aufzudrängen scheint, durchgängig abgewiesen wird, geht letztlich auf K. Müllenhoff zurück;1 er hat mit einem Einwand wesentlich die Weichen für alles Weitere gestellt. Für die folgenden Überlegungen ist allerdings an dieser Stelle schon ausdrücklich festzuhalten, dass seine diesbezüglichen Ausführungen im Kontext von Heldensage und Heldendichtung stehen. Die Vielzahl von Varianten in den Belegen kann, da für die hier verfolgte Frage unerheblich, unberücksichtigt bleiben. Das fragliche Namen-Thema kommt fast ausschließlich als Erstbestandteil vor. Auf die vergleichsweise 1
Müllenhoff 1859, 284.
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wenigen Fälle mit -hûn als Zweitbestandteil ist gesondert einzugehen. In der frühesten Überlieferung kommt -hûn als Zweitbestandteil überhaupt nicht vor.2 Das entscheidende Argument K. Müllenhoffs dafür, dass das fragliche Namenwort nicht vom Volksnamen der Hunnen hergeleitet werden könne, beruht auf der Feststellung, dass schon erste Belege solcher Personennamen auftreten,3 ehe die Hunnen in den europäischen Gesichtskreis der Spätantike getreten seien. Gemeint war damit die in den 70er Jahren des 4. Jahrhunderts beginnende Invasion von bogenbewaffneten Reiterkriegern unter diesem Namen, vor denen die Germanengruppen des Schwarzmeergebiets nach Westen auswichen, was allgemein als der Beginn der sog. „Völkerwanderung“ gewertet wird. Als der historisch bedeutendste Anführer dieses Verbandes kann Attila gelten, und diese „Attila-Hunnen“ sind im Folgenden als historischer Personenverband unter diesem Namen gemeint. Dabei gilt als bekannt, dass diesem Verband verschiedene Ethnien angehört haben.4 Das Ethnonym Hunnen ist dagegen schon früher, seit der Zeit Hadrians5 als grch. Oσ, X, dann lateinisch vom 4. Jahrhundert an als Chuni, Chunni, Hun(n)i und Un(n)i bezeugt. Auf welche historischen Völkerschaften die frühen Nennungen tatsächlich Bezug nehmen, kann für die folgenden Erörterungen ebenfalls auf sich beruhen bleiben, weil eine Lösung dieses Fragenkomplexes für das Folgende nichts hergibt. Das betrifft sowohl die offene Frage, ob das Ethnonym einen chinesischen Namen (mit zugehöriger Völkerschaft) fortsetzt, als auch die weitere, ob sich hinter den ersten Zeugnissen im Westen die „historischen“ Hunnen des 4. Jahrhunderts verbergen. Die Position, die eine Kontinuität in der Bezeichnungsfunktion des Namens verwirft, dürfte jedoch die besseren Argumente für sich haben.6 Das Müllenhoffsche Argument verliert allerdings etwas von seiner Schärfe, insofern ein Namenelement dieser Lautgestalt sehr wohl „rechtzeitig“ in der Welt war. Gleichwohl hat die Idee einer Übernahme des Ausdrucks in den germanischen Rufnamenschatz nur wenig Wahrscheinlich2 3
4
5 6
Schönfeld 1910, 302. Belegmaterial bei Schönfeld 1910, 302; Reichert 1987, 435–439, jeweils ohne Bezeugung von Vorkommen im Zweitglied. Frühere Mutmaßungen Jacob Grimms, die zum Teil von K. Müllenhoff aufgegriffen sind und die auch in späteren Beiträgen punktuell eine Rolle spielen, können hier vernachlässigt werden. Einen Überblick gibt Hoops 1902, 170ff. Zur Orientierung siehe Lexikonartikel „Attila“ und „Hunnen“ von Wenskus/Beck 1973, 467–473 und Wirth 1980, 1179f. sowie Pohl 2000, 246–256 und Bóna 1991, 222–224. Siehe Hoops 1902, 167f. Siehe Haussig 1992, 6f., 139 ff.
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keit für sich. Denn die Verwendung eines Volksnamens als Rufname – im Grundsatz wohlbezeugt – setzt doch wohl für die Anfänge eines solchen Klassenwechsels eine gewisse Bekanntheit der namenspendenden gens voraus. Damit ist der Punkt markiert, der auf die Suche nach einem germanischen Etymon wenigstens für das anthroponyme Element geführt hat. Das Ethnonym wird man aufgrund der griechischen und lateinischen Quellenüberlieferung als in die germanischen Sprachen entlehnt (evtl. über mehrere Sprachen tradiert) ansehen und damit die etymologische Frage an eine Spendersprache weiterreichen. Mögliche weitere Motive für eine sekundäre germanische Etymologie sind damit keineswegs ausgeschlossen. Mit einem etymologischen Anschluss des anthroponymem Hûn- im Germanischen ist das Problem der wie auch immer gearteten Verbindung mit dem Ethnonym jedoch nur verschoben, nicht aber gelöst. Denn man hat den Ausdruck schon immer in der Nachfolge Jacob Grimms auch als altes, von den historischen Hunnen unabhängiges Ethnonym verstanden wissen wollen. F. Kauffmann7 wollte eine frühe Bezeichnung der Römer durch Germanen darin sehen, ohne jedoch damit Anklang zu finden; und F. Kluge8 wollte mit Bezug auf die Liederedda eine Bezeichnung einer germanischen gens darin erkennen. Was sich alles an seltsam ineinander verschlungenen Deutungen angesammelt hatte, lässt sich bei einem Blick in spätere Bearbeitungen des Klugeschen „Etymologischen Wörterbuchs“ ermessen.9 Chronologische Indizien jedoch für ein frühes germanisches Ethnonym beruhen auf Siedlungsnamen und dem Sprachgebrauch in Eddaliedern, so dass schwerlich mit solchen Zuordnungen über die Attila-Zeit hinauszukommen ist. Verlässlich ist zunächst nur, dass das althochdeutsche, im Text und in Glossen bezeugte Ethnonym Hûn, Pl. Hûni, sich im Mittelhochdeutschen fortsetzt. Neben weiter tradierter onymischer Verwendung als ‚Hunne‘ und ‚Ungar‘ wird nun mhd. hiune auch appellativisch in der Bedeutung ‚Riese, Hüne‘ gebraucht.10 Die Schreibung des Wurzelvokals als mhd. !iu" (umgelautet vor dem alten Pluralflexiv -i und folgender nhd. Diphthongierung zu fnhd. Heune) verweist auf altes langes ahd. /u:/ in der Basis. Der gängige Gebrauch des Ethnonyms ist weiter aus der Adjektivableitung ahd. hûnisc, mhd. hiunisch zu erschließen. Außer der Verwendung als Zugehörigkeitsadjektiv ‚hunnisch‘, ‚ungarisch‘ gibt es noch eine charakteristische Lesart, die 7 8 9 10
Kauffmann 1908, 276ff. Kluge 1924, 227. z. B. Kluge/Mitzka 1963, 320f. Kluge/Seebold 1995, 388.
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in Verbindung mit wenigen Pflanzenbezeichnungen und dem Lexem Wein auftritt.11
II. Zur Etymologie des Personennamens Vorab ist daran zu erinnern, dass das etymologisierende Hantieren mit dem Ausdruck und seine Identifizierung, insbesondere für die frühe Überlieferung, aus gewichtigen Gründen erschwert ist. Zum einen ist die Lautsubstanz des Formativs insgesamt überaus bescheiden und eröffnet mangels innerer morphologischer Gliederung ein weites Feld denkbarer Anschlüsse, sofern die Lautgestalt „passt“. Zum anderen kann ein mögliches Bezugsphonem germ. /h/ im lateinischen Schreibusus und in lateinischer Textumgebung Interpretationsprobleme aufwerfen. Auch dieser Frage braucht hier nicht weiter nachgegangen zu werden12. Zunächst sei die „Lösung“ überprüft, die von einer eigenständigen Personennamenbildung ausgeht und eine erst sekundäre Vermischung mit dem Ethnonym annimmt. Der diesbezügliche Vorschlag, der „Karriere gemacht“ hat, stammt wiederum von K. Müllenhoff.13 Nicht lange nach seinem Aufsatz zum „angelsächsischen Volksepos“ hatte er selbst einen „Lösungsweg“ gewiesen, nachdem der Anschluss beim Hunnennamen verbaut war: Er verwies auf ein awn. húnn in der Bedeutung ‚Bärenjunges‘. Der Hinweis scheint geradezu mit Aufatmen aufgegriffen worden zu sein. Er findet sich meist kommentarlos und sorgsam tradiert, ohne jede kritische Nachuntersuchung in einer stattlichen Reihe namenkundlicher Arbeiten und Nachschlagewerke, die hier nicht alle aufgezählt werden können. Nach einigen Modifikationen14 kann nach J. Hoops15 „an dieser Etymologie nicht mehr gerüttelt werden“. 11 12
13 14 15
Im Einzelnen Hildebrandt 1989, 237–243. Als graphische Wiedergabe dieses /h/ (phonetisch [x]) kommen die lateinischen Graphien !h" oder !ch" in Frage. Die Graphie !h" kann aber auch fehlen, obwohl germ. /h/ anzusetzen ist (z.B. !Un-" statt !Hun-"), sie tritt aber gegebenenfalls auch unorganisch auf und ist dann für eine Lemmatisierung zu vernachlässigen. Der als Hunirix lemmatisierte Name eines Wandalenkönigs kommt auf einer Münze in gleicher Schreibgestalt auch für den oströmischen Kaiser Honorius vor! Mit welche Konkurrenzen überhaupt bei der wenig markanten Lautfolge zu rechnen ist, hat E. Förstemann (1900, 929f.) umsichtig im Artikelkopf HUN- seines Namenbuches dargelegt. Es verdient auch die Beobachtung von M. Schönfeld (1910, 143) Beachtung, dass bei frühen Zeugnissen initiale !ch" und !c" nicht vorkommen. Müllenhoff 1867, 576. z. B. Kögel 1892, 50. Hoops 1902, 175.
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Der weitgehende Konsens verdeckt jedoch, dass die Autoren es in der Regel mit einem Blick in jeweils vorangehende Literatur oder auf isolierte Wörterbucheinträge haben bewenden lassen, ohne den Wortgebrauch im Text näher zu beachten. Deshalb verflüchtigt sich bei einem zweiten, eher skeptischen Blick der erste Eindruck nachhaltig. G. Müller, der die germanischen theriophoren Namen gründlich untersucht hat, sind die Probleme nicht verborgen geblieben. Er hat mit guten Gründen die Bildungen mit Hûn- bzw. -hûn nicht in sein Corpus echter theriophorer Personennamen aufgenommen. Vielmehr hat er sie im Rahmen einer sekundären Motivgruppe, nämlich der „Benennung nach Jungtieren“ behandelt.16 Mindestens zwei Faktoren sprechen gegen ein genuines Namenwort bei einem doch immerhin gemeingermanischen Vorkommen von Hûn-Kompositionen: 1. müsste bei einem genuinen theriophoren Namen das Auftreten als Zweitglied in normaler Dichte bezeugt sein; 2. ist das Vergleichswort nicht außerhalb des nordischen Sprachzweigs zu belegen,17 appellativische Entlehnungen haben von dort ihren Ausgang genommen.18 Man kann aber 3. über die vorsichtig-ablehnenden Formulierungen G. Müllers hinausgehend noch weitere Argumente gegen ein angeblich altgermanisches Namenwort anführen. Der Textgebrauch des Wortes nämlich ergibt, dass die Lesart ‚Bärenjunges‘ ein abgeleiteter, übertragener Gebrauch eines Ausdrucks ist, mit dem zunächst unter der Bedeutung ‚etwas Würfelartiges‘, ‚(Holz)Klotz‘, vor allem die Mars (auch Maskulinum der Mars) am Schiffsmast o. ä. benannt wurde, dann auch Würfel und Steine im Brettspiel.19 Offenbar hat die Übertragung beim Merkmal der gedrungenen, kompakten Form angesetzt. Das Wort ist schwerlich als Primärausdruck für den jungen Bären zu verstehen, wofür auch einigermaßen gesicherte etymologische Parallelen sprechen.20 Im dichterischen Sprechen der Liederedda ist dann die Lesart ‚Bärenjunges‘ weiterentwickelt zu ‚Kind, Nachkomme‘ schlechthin.21 Demnach ist es nicht angängig, das Wort als ein gemeingermanisches Namenelement anzusetzen. Nach einem von
16 17
18 19
20 21
Müller 1970, 225f. Dem Problem ist auch nicht durch freigebigen Gebrauch von Asterisken beizukommen, wie es Holthausen 1934, 49f. praktiziert. de Vries 1962, 267. Baethke 1976, 281. Vgl. auch weiter die Komposita mit hún- aus dem Umfeld von Mast und Segel, ebd. de Vries 1962, 267. Kuhn 1968, 104.
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G. Müller22 beigebrachten Skaldenzeugnis kann man allein für das Altwestnordische folgern, dass Rufnamen mit Hûn- mit der fraglichen Lesart des Appellativs in Verbindung gebracht worden sind. Für die Frühbelege der Völkerwanderungszeit und auch die kontinentale Germania ist damit nichts gesagt. Bei J. Hoops23 und den dort genannten Vorgängern ist nicht einmal bemerkt, dass es bei ‚junger Bär‘ und ‚Holzklotz, Würfel‘ um Lesarten ein und desselben Wortes geht. Einige der seinerzeit genannten altkeltischen Parallelen lassen sich nicht verifizieren. Die angeführten gallischen Rufnamen mit Cuno- werden jedenfalls heute zu einem Namenwort ‚Hund‘ als Deckname für ‚Wolf ‘ gestellt.24 Es hätte zu denken geben sollen, dass E. Förstemann25 als ein Autor, der wie kein zweiter das Gesamt der Überlieferung übersah, der Müllenhoffschen „Lösung“ nicht einfach gefolgt ist, vielmehr sorgfältig die Konkurrenzen erörtert hat, die alle im Spiel sein können.
III. Zur Etymologie des Hunnen-Namens Obwohl der Hunnen-Name kaum germanischen Ursprungs und am ehesten daran zu denken ist, dass das Ethnonym von den Germanenscharen, die im hunnischen Gefolge mitzogen, in der Gestalt der Quellenzeugnisse entlehnt worden ist, schließt das eine Umdeutung nach germanischem Sprachverständnis nicht aus. Über einen so denkbaren, sekundären etymologischen Anschluss hat sich ein anerkannter Konsens aber nicht herstellen lassen. Die umsichtigste Erörterung des gesamten Umfeldes bietet J. Hoops,26 der spätere Herausgeber des RGA. Er dachte abschließend, unter Heranziehung einer nur schwach bezeugten altenglischen Pflanzenbezeichnung an ein Adjektiv in der Bedeutung ‚braun‘ als Grundlage: die Hunnen als „die Braunen“ wegen ihrer dunklen Hautfarbe, wobei er schließlich, noch weiter gehend, eine Verknüpfung mit dem genannten awn. húnn anstrebte. Nur gibt es dafür semantisch keinerlei Anhaltspunkt, abgesehen von der Frage, ob ein solches Benennungsmotiv für eine gens der Wanderzeit in zeitgenössischer Sicht einsichtig ist und nicht eher auf anderen Kriterien grün22 23 24 25 26
Müller 1970, 225. Hoops 1902, 169–176. Schmidt 1957, 186. Förstemann 1910, 929. Hoops 1902, 169–180.
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dete. Schließlich ist das in Anspruch genommene Adjektiv nirgends belegt, so dass J. Hoops seine Erklärung aus dem Germanischen als bloße Möglichkeit verstanden wissen wollte. Man gewinnt den Eindruck, dass er dem eigenen Vorschlag nicht so recht getraut hat. Aufschlussreicher ist der Versuch von R. Much.27 Er hat das awn. húnn in der Lesart ‚Holzklotz, Würfel‘ usw. als Ausgangpunkt genommen und ein Benennungsmotiv aus der Außensicht im Sinne von die „Ungeschlachten“, „die ungehobelten Klötze“ (der Gestalt nach) vorgeschlagen. Hier ist mit Händen zu greifen, dass hinter dieser Vorstellung das Bild edler germanischer Helden auf der einen Seite im Gegensatz zu wilden hunnischen Barbarenhorden auf der anderen gestanden hat. Von dort aus wird auch das Motiv klarer fassbar, aus dem heraus J. Hoops28 den Ansatz R. Kögels zu einem (ebenfalls nur postulierten) Adjektiv germ. *hûn ‚groß, hoch‘ (auch wieder nach awn. húnn) abwies: Es sei ganz unwahrscheinlich, „daß die Germanen das von ihnen gehaßte und verabscheute Barbarenvolk mit einem so rühmlichen Epitheton, wie es das germanische hûn war, hätten benennen sollen“. Aus solchen Zeugnissen spricht offenkundig das seit der Antike tradierte Barbarenstereotyp, beflügelt vom Zeitgeist einer nationalstaatlich gewonnenen Einheit, die sich gern in ungebrochener Kontinuität mit den wanderzeitlichen Germanen sah.
IV. Gebrauchsweisen des Hunnen-Namens Vor diesem skizzierten Hintergrund sollten nun auch die Anstrengungen gesehen werden, das Vorkommen des Hunnen-Namens in der Heldendichtung zu „erklären“, wenn er in Verbindung mit Figuren auftritt, die „eigentlich“ mit „germanischem Hintergrund“ zu verstehen sein sollten. In Dichtungen wie dem Nibelungenlied oder dem eddischen „Älteren Atli-Lied“29 schien der Bezug auf die Hunnen unproblematisch zu sein, nicht zuletzt wegen der Figuren Etzel / Atli, die den Namen des historischen Attila fortsetzen. Insgesamt ist dabei die historische Verortung des Burgunderunterganges der Nibelungensage vorausgesetzt. Anzumerken ist lediglich, dass in Fällen wie diesen womöglich der Bezug zu den historischen Hunnen allzu unreflektiert hergestellt worden ist, wenn der trotz unbestritten historischer Grundlage zu bedenkende grundlegende Unter-
27 28 29
Much 1909, 39–49. Hoops 1902, 176f. Atlaqvida in grœnlenzca; ed. Kuhn 1962, 240–247.
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schied von Sage und wissenschaftlicher Historiographie vorschnell eingeebnet wird. Anders stellte sich die Lage dar, wenn der Namensbezug nicht in gleicher Weise evident schien. Offenbar tauchen auch andere Völkerschaften als die „echten“ Hunnen in der Heldensage bzw. -dichtung unter diesem Namen auf. Schriftlichen Niederschlag hat dieser Gebrauch in den Liedern der Edda gefunden. Das musste besonders dann prekär werden, wenn der Name sich unzweifelhaft auf als Germanen angesehene Figuren bezog und die oben skizzierte (unterschwellige und auch zeitgebundene) Vorstellung von den Hunnen vorausgesetzt ist.30 Der Befund musste erst recht zum Problem werden unter der Voraussetzung, dass man sich einer „historischrealistischen“ ethnischen Zuordnung der Figuren sicher glaubt und die Dichtungen wie Lehrbücher der Geographie oder Ethnographie mit einem Verbindlichkeitsgrad liest, den man von einem wissenschaftlichen Handbuch mit Recht erwarten darf. Dafür steht insbesondere das Zeugnis des „Jüngeren Sigurdliedes“ der Liederedda,31 das Sigurd als húnscr konungr (bzw. konungr inn húnsci ) ‚Hunnenkönig‘ nennt. E. Brate32 hat rigoros postuliert, es müsse sich dabei um die Benennung der Franken handeln: „Das Volk, zu dem Sigfrid (Sigurd) gehört, sind anerkanntermaßen die Franken; enn húnske muß also ‚der fränkische‘, Húnar ‚die Franken‘ bedeuten, wo diese Wörter sich nicht auf die Hunnen beziehen.“ Er gibt aber keinerlei Hinweis darauf, wann und woher man wissen kann, wann welcher ethnische Bezug vorliegt. Eine Bezugnahme auf Hunnen, in welchem Sinne auch immer, soll offensichtlich strikt vermieden werden. Zur Bestätigung unternimmt Brate anschließend eine recht gewagte etymologische Konstruktion. Ein weiteres Beispiel enthält die Gudrúnarqvida qnnor:33 Als Gudrun mit Thora, der Tochter Königs Hákons von Dänemark, die sie in ihrer Klage um Sigurd aufgesucht hat, an einem Bildteppich arbeitet, stickt sie Schlachtszenen der recca Húna. Brate34 legt diese, da von Gudrun gestickt und mangels weiterer Hunnen im Lied, als Sigurds Leute, d. h. Franken, aus. In der gleichen Szene (Str. 17) taucht wenig später noch Grimhild, gotnesc kona ‚die Gotenkönigin‘, auf.
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Ausführlicher zu dieser negativ konnotierten Hunnenvorstellung: Tomasek/Iskhakova 2003, 125f. Sigurdarqvida in scamma, Strophen 4 und 8; ed. Kuhn 1962, 207–218. Brate 1910, 109. Strophe 15; ed. Kuhn 1962, 224–231. Brate 1910, 109.
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Ein ähnliches Bestreben dürfte hinter Erklärungsversuchen stehen, für die die Wendung Huneo truhtin des Hildebrandsliedes35 ein Anstoß war. Der Liedtext selbst lässt kaum einen anderen Bezug als entweder auf Dietrich oder auf einen ungenannten Attila zu, jeweils unter Voraussetzung der allgemeinen Verhältnisse der Dietrich-Sage. In Fortsetzung der tradierten Argumentation über J. de Vries36 hat R. Lühr37 aus Anlass des Kommentars zu dieser Stelle ebenfalls einen „zweiten, hunnischen Namen“ der Franken mittels eines weiteren etymologischen Konstrukts postuliert, in dem auch wieder das mehrfach erwähnte awn. húnn auftaucht, wobei die älteren „Lösungswege“ von de Vries und Brate nur in Teilen aufgenommen sind. Die Deutung des Huneo truhtin als ‚römischer Kaiser‘ durch F. Kauffmann38 war wohl auch der Auslöser für seine Meinung, im Hunnen-Namen eine alte germanische Bezeichnung für die Römer zu sehen.39 Wie der Hunnen-Name in althochdeutscher Zeit außerhalb der Dichtung verstanden worden ist, welche Völkerschaften man mit dieser Bezeichnung verbunden hat, das lässt sich wenigstens in Umrissen aus den althochdeutschen Glossierungen lateinischer Texte erkennen.40 Dort gilt hûn, Pural hûni zum einen als Interpretament zum Lemma hunus. Der spezielle Bezug des Ausdrucks bestimmt sich dann unmittelbar vom glossierten lateinischen Text aus. Dann steht das Wort als Äquivalent für Pannonii in der Glossierung der Martinsvita des Sulpicius Severus. Als weitere Äquivalente sind Vulgari und Vuandali belegt. Ein Doppeleintrag huni et uuinida ist mit sclauus et auarus glossiert. Dem korrespondiert die gleichbedeutende Verwendung von Huni und Avari bzw. Avares in Einhards Karlsvita ([bellum] … videlicet, quod contra Avares sive Hunos suceptum est )41 und in den Reichsannalen.42 In etwas späterer Zeit kann der Name dann auch auf Ungarn angewandt werden. Dieser Befund liegt im Rahmen der Beobachtung, dass bei andauernder literarischer Tradierung einer recht stabilen Menge von Ethnonymen immer andere, neue Völkerschaften darunter verstanden werden konnten.43 Will man eine gemeinsame Vorstellung formulieren, die die oben genannten Glossierungen verbindet, dann bleibt ein nur undeutliches Bild übrig, 35 36 37 38 39 40
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43
Vers 35; ed. Steinmeyer 1916, 1–15. de Vries 1962, 266f. Lühr 1982, 580–582. Kauffmann 1896, 154f. Vgl. oben Kauffmann 1908, 276ff. Belegstellen und Literatur zu den glossierten Texten sind auffindbar über Schützeichel 2004, 434. Vita Karoli cap. 13; ed. Rau 1966, 180. Zu a. 782 Avari, zu a. 805 princeps Hunorum, apud Hunos; ed. Rau 1966, 42; vgl. zum Namengebrauch insbesondere Pohl 2002, S. 4 ff. und Kap. 8. Pohl 2002, 22f. u. ö.
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etwa zu umschreiben mit ‚fremde Völkerschaft(en) im Südosten‘. Von ihnen weiß man wenig Genaues, denn es fehlte vielfach ein engerer Kontakt. Ein konstantes Merkmal ist allein die Lage im Osten. Um wieviel weniger kann man historisch Verlässliches aus der Sagenüberlieferung folgern, auch wenn der Sage letztlich historische Ereignisse zugrundeliegen. In der literarischen Überlieferung ist im Wesentlichen bezüglich des Ethnonyms Hunnen das geographische Moment ‚im Osten‘ bewahrt. Im Hildebrandslied wissen es beide Protagonisten. Hadubrand sagt von seinem verschollenen Vater forn her ostar giweit, floh her Otachres nid; und Hildebrand zählt sich selbst zu den ‚Ostleuten‘ (der si doh nu argosto – quad Hiltibrand – ostarliuto, der dir nu wiges warne). Die goldenen Armspangen aus Münzgold, die er als Geschenk anbietet, hat ihm der (sein?) König gegeben, der Huneo truhtin. (want her do ar arme wuntane bauga / cheisuringu gitan, so imo se der chuning gap / Huneo truhtin …). Die Verortung von Hunnen im Osten kennen in gleicher Weise bei allen Unterschieden im Einzelnen etwa das Nibelungenlied, die Hlqdsqvida44 und der Waltharius, wo die Hunnen Attilas in Pannonien sitzen und auch unter dem Namen der Avaren erscheinen.45 Sonst aber ist von ursprünglichen historischen Hintergründen nicht mehr arg viel übrig geblieben bzw. werden charakteristische Konstellationen in wechselnden Weisen arrangiert. Die ethnische Kennzeichnung einer Figur der Heldensage und -dichtung ordnet diese zunächst einer relevanten Gruppe dieses Stoffkreises zu. Aufgrund der Kennzeichnung Gunnars als Gotna iódann ‚Gotenkönig‘ in der Atlaqvida in grœnlenzca46 müsste man nach dem Brateschen Argumentationsmuster für den Gotennamen auch eine Lesart ‚Burgunder‘ ansetzen. Ebenso brauchte man unter Umständen noch eine dritte Gebrauchsweise von Hûn, hûnisc, die nach dem ‚Franken‘ Sigurd/ Siegfried der Sigurdarqvida in scamma und den „echten“ Hunnen auch noch Dietrich von Bern, den ‚Goten‘, unterscheidbar machte, falls er der Hûneo truhtîn des Hildebrandslieds sein sollte – sozusagen ein Ansatz von hûn-1 bis hûn-3. Die Epitheta sind eben nicht historisch verwertbare Nachrichten, so dass sie das zeitlich-räumliche Nebeneinander der dänischen Königstochter Thora und der Gotenkönigin Grimhild in der Gudrúnarqvida qnnor ermöglichen. Entsprechend müssen vinir Borgunda und Gotna iódann als gleichzeitige Epitheta Gunnars in der Atlaqvida in grœnlenzca47 sich nicht „eigentlich“ ausschließen. 44 45 46 47
„Hunnenschlachtlied“, ed. Kuhn 1962, 302–312. Langosch 1956, z.B. Vers 4, 5, 11, 40 u.a.m.. Strophe 20; ed. Kuhn 1962, 243. Strophe 18 u. 20; ed. Kuhn 1962, 243.
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Anders als die hunnischen Zuordnungen haben die von der Historie abweichenden Fälle auch nicht im gleichen Maße Abwehrreaktionen hervorgerufen. Unterstellt man jedoch nicht ein Hunnenbild, wie es schließlich prototypisch in Fritz Langs Stummfilm zum Nibelungenstoff noch lebendig ist,48 sondern rechnet die literarischen Hunnen unter die „normalen“ Völkerschaften, die zum Inventar von Heldensage und -dichtung gehören, dann lösen sich manche Probleme von selbst auf. Die Hunnen des Nibelungenliedes entsprechen jedenfalls nicht dem neuzeitlichen Klischee.49 Auch die Hunnen im Waltharius sind zivilisierte Leute und Attila sorgt für eine ordentliche Ausbildung seiner Geiseln: exulibus pueris magnam exhibuit pietatem.50
V. Zum Schluss Abschließend sollten drei Gesichtspunkte aus den voranstehenden Überlegungen des Festhaltens wert sein: 1. Befreit man den Hunnen-Namen vom Makel des Barbarentopos, der vom Beginn des Auftretens der historischen Hunnenscharen daran haftet und wertet ihn auch als den Namen einer in Heldensage und Heldendichtung bedeutsamen Völkerschaft, dann entfallen weitgehend die Motive, die vom Gedanken einer Übernahme des Ethnonyms in den Rufnamenschatz abgeschreckt haben könnten. Umgekehrt gewinnen Namen wie Althun, Adalhun, Baldhun, Folchun, Liefhun, Maginhun, Theothun, Walthun als Nachbenennung nach Angehörigen eines Volks der Heldendichtung eine schlüssige Motivation, andere Kombinationen mit -hûn als Zweitglied ordnen sich in die generelle Möglichkeit des Tauschs und der Kombination von Namenthemen ein. Aufs ganze gesehen hatte E. Förstemann51 den Sachverhalt durchaus zutreffend erfasst: „Im ganzen wol zum volksn. Hûn“. Ergänzend wäre nur hinzuzufügen „unter Anschluss an eine Völkerschaft von Heldensage und Heldendichtung“. Einen Hinweis auf die Richtigkeit dieser Deutung scheint die Verbreitungsdichte der Anthroponyme mit -hûn- zu geben. Zur Ausbreitung von Einzelheiten fehlt hier der Raum. Eine kursorische Durchsicht der einschlägigen Sammlungen deutet aber auf eine Verdichtung der Vorkommen in der kontinentalen Germania, von wo aus die Sagenkreise der Nibelungen- und Dietrichstoffe ihren Ausgang genommen haben. 48 49 50 51
Vgl. Tomasek/Iskhakova 2003, 126–129. Siehe ebenda, 129ff. Vers 97 und folgende; ed. Langosch 1956, 10. Förstemann 1900, 929.
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2. Den Rekonstruktionsvorschlägen zur Ableitung des Anthroponyms aus germanischem Sprachmaterial fehlt jede auch nur bescheidene Evidenz. Das schließt zwar eine germanische Basis nicht aus, sie muss aber, sofern einmal existierend, als gründlich verloren gelten. Das gleiche dürfte für den nichtgermanischen antiken Hunnen-Namen zutreffen, was jeweils einzuräumen keine Schande ist. Die Anforderung nach Offenlegung der Quellen und Argumente wissenschaftlicher Arbeit schließt auch Aussagen über Reichweite und Grenzen von Ergebnissen ein. Seit dem 5./6. Jahrhundert dürfte auf dem Kontinent ein anderer, älterer appellativischer Bezug des Namenwortes nicht mehr in Frage gekommen sein. 3. Sofern einmal an eine Typologie von Ethnien des frühen Mittelalters, wie sie aus den Quellen rekonstruiert werden können, gedacht werden sollte, müsste darin wohl eine eigene Rubrik ‚Völkerschaften der Heldensage‘ eingerichtet werden, deren Namen zum Teil bei den „echten“ historischen wiederkehren.
Quellen- und Literaturverzeichnis a) Editionen Hans Kuhn (Hg.), Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern, hg. v. Gustav Neckel. I: Text, 4. umgearb. Aufl. v. Hans Kuhn (Heidelberg 1962) II: Kurzes Wörterbuch von Hans Kuhn (Heidelberg 1968) Karl Langosch (Hg.), Waltharius – Ruodlieb – Märchenepen. Lateinische Epik des Mittelalters mit deutschen Versen (Darmstadt 1966) Reinhold Rau (Hg.), Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. 1. Teil: Die Reichsannalen – Einhard Leben Karls des Großen – Zwei „Leben“ Ludwigs – Nithard Geschichten (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 5) (Darmstadt 1966) Elias von Steinmeyer (Hg.), Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler (Berlin 1916)
b) Literatur Baetke 1976: Walter Baetke, Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur (2. durchges. Aufl., Darmstadt 1976) Bóna 1991: I. Bóna, Hunnen, LMA V (München/Zürich 1991) Sp. 222–224 Brate 1910: Erik Brate, Hünen. In: ZDWF 12 (1910) 108–115 Förstemann 1900: Ernst Förstemann, Altdeutsches Namenbuch, I: Personennamen (2. Aufl. Bonn 1900, Nachdruck 1967)
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Haussig 1992: Hans Wilhelm Haussig, Die Geschichte Zentralasiens und der Seidenstraße in vorislamischer Zeit (2. erw. Aufl. Darmstadt 1992) Hildebrandt 1989: Reiner Hildebrandt, Hun(n)ischer (heunischer) Wein. In: Soziokulturelle Kontexte der Sprach- und Literaturentwicklung. Festschrift für Rudolf Große zum 65. Geburtstag, hg. v. Sabine Heimann/Gotthard Lerchner/Ulrich Müller/Ingo Reiffenstein/Uta Sörmer (Stuttgart 1989) 237–243 Holthausen 1934: Ferdinand Holthausen, Gotisches Etymologisches Wörterbuch. Mit Einschluß der Eigennamen und der gotischen Lehnwörter im Romanischen (= Germanische Bibliothek. 4. Reihe, 8) (Heidelberg 1934) Hoops 1902: Johannes Hoops, Hunnen und Hünen. In: Germanistische Abhandlungen. Hermann Paul zum 17. März 1902 dargebracht (Straßburg 1902) 167–180 Kauffmann 1896: Friedrich Kaufmann, Das Hildebrandslied. Handschrift. Sprache. Inhalt. Geschichte und Sage. Kunst, Zeit und Heimat des Dichters. In: Philologische Studien. Festgabe für Eduard Sievers zum 1. Oktober 1896 (Halle/S. 1896) 124–178 Kauffmann 1908: Friedrich Kaufmann, Hünen. In: ZDPh 40 (1908) 276–286 Kluge 1924 (Kluge/Mitzka 1963; Kluge/Seebold 1995): Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (10. Aufl. Berlin-Leipzig 1924); 19. Aufl. bearb. v. Walther Mitzka (Berlin 1963); 23. Aufl. neubearb. v. Elmar Seebold (Berlin/New York 1995) Kögel 1892: Rudolf Kögel, [Rezension zu Ferdinand Wrede: Über die Sprache der Ostgoten in Italien, 1891]. In: ADA 18 (1892) 43–60, 313–315 Lühr 1982: Rosemarie Lühr, Studien zur Sprache des Hildebrandliedes, I/II (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft 22) (Frankfurt u. a. 1982) Much 1909: Rudolf Much, Holz und Mensch. In: WuS 1 (1909) 39–49 Müllenhoff 1859: Karl Müllenhoff, Zur Kritik des angelsächsischen Volksepos. In: ZDA 11 (1859) 272–294 Müllenhoff 1867: Karl Müllenhoff, Worterklärungen. In: ZDA 13 (1867) 575–577 Müller 1970: Gunter Müller, Studien zu den theriophoren Personennamen der Germanen (= Niederdeutsche Studien 17) (Köln/Wien 1970) Pohl 2002: Walter Pohl, Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567–822 n. Chr. (2. Aufl. München 2002) Pohl 2000: Walter Pohl, Hunnen. In: RGA2 XV (Berlin u.a. 2000) Sp. 246–256 Reichert 1987: Hermann Reichert, Lexikon der altgermanischen Namen, I: Text (= Thesaurus palaeogermanicus 1) (Wien1987) Schmidt 1957: Karl Horst Schmidt, Die Komposition in gallischen Personennamen (Tübingen 1957) Schönfeld 1910: Moritz Schönfeld, Wörterbuch der altgermanischen Personen- und Völkernamen nach der Überlieferung des klassischen Altertums (= Germanische Bibliothek. 3. Reihe) (Heidelberg 1910, Nachdruck 1965) Schützeichel 2004: Rudolf Schützeichel (Hg.), Althochdeutscher und altsächsischer Glossenwortschatz, bearb. unter Mitarbeit von zahlreichen Wissenschaftlern des Inlandes und des Auslandes, IV (Tübingen 2004)
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Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 53–79 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Namenbrauch und Mythos-Konstruktion
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Namenbrauch und Mythos-Konstruktion. Die Onomastik der Lex-Salica-Prologe1 WOLFGANG HAUBRICHS
Tria sunt difficilia mihi et quartum penitus ignoro (Prov. 30, 18)
I. Forschungsgeschichte Im Laufe der Geschichte sind der fränkischen ‚Lex Salica‘ mehrere Prologe zugewachsen.2 Der älteste scheint folgender zu sein (nach der Rekonstruktion von K.A. Eckhardt):3 Placuit !auxiliante Domino" atque convenit inter Francos atque eorum proceribus, ut pro servandum inter se pacis studium omnia incrementa !virtutum" rixarum resecare deberent, et quia ceteris gentibus iuxta se positis fortitudinis brachio prominebant ita etiam eos legali autoritate praecellerent, ut iuxta qualitate causarum sumerent criminalis actio terminum. Extiterunt igitur inter eos electi de pluribus viri quattuor his nominibus: Uuisogastus, Arogastus, Salegastus et Widogastus !in villas quae ultra Rhenum sunt: in Bothem, Salehem et Uuidohem", qui per tres mallos convenientes omnes causarum origines sollicite discutientes, de singulis iudicium decreverunt hoc modo.
Nach überlieferungs- und textkritischen Erwägungen kann man die Geschichte der Lex Salica-Prologe schematisch wie folgt skizzieren: Der älteste Text der ‚Lex Salica‘ (vor 507?) besaß wahrscheinlich noch keine Vorrede.4 Es erscheint dann zum 65 Titel-Text (Eckhardts ‚Pactus Legis Sa1
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Abkürzungen von Quellen: CDF = Codex Diplomaticus Fuldensis; CL = Codex Laureshamensis; UB Fulda = Urkundenbuch der Abtei Fulda; CDC = Codex Diplomaticus Cavensis; KF = Klostergemeinschaft von Fulda; RF = Regesto di Farfa; LHF = Liber Historiae Francorum. Einen guten Überblick über die Probleme der verschiedenen ‚Lex Salica‘-Prologe geben Eckhardt 1954, 165–177; Eckhardt 1957, 305–308; Zöllner 1970, 146–150; Schmidt-Wiegand 1978, 1949–1951; Dies. 2001 a, 326. Pactus Legis Salicae 1962, 2f. Wormald 1977, 108; Wood 1994, 108f. Den Status der Fassung A als ältester Text bestreitet mit gewichtigen Gründen Guillot 1995 b, 66. Stattdessen bietet für ihn C den frühesten
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licae‘), und zwar in der Textklasse C, ein erster Kurzer Prolog KP (oben abgedruckt), der – mit den Worten von Ruth Schmidt-Wiegand5 – die „formale und inhaltliche Festlegung“ des Rechts an Rechtskundige überträgt. „Der Eingang Placuit atque convenit inter Francos atque eorum proceribus zeigt, dass die Lex Salica zum Typus der Konsensgesetzgebung (Pactus) gehörte, die auf der Beteiligung von Rechtssprechern beruhte. Vier ausgewählte Männer (electi ) namens Wisogastus, Arogastus, Salegastus und Widogastus kamen per tres mallos zusammen, um für alle Streitfälle (omnes causarum origines) das Urteil zu sprechen.“ Es scheinen vorwiegend Strafweistümer gemeint zu sein, wie sie die Kapitel 1–44 der Lex enthalten. „Die Schlußworte des Prologs De singulis iudicium decreverunt hoc modo zeigen, dass es sich um eine Einleitung handelt, die unmittelbar auf den Text hinführte.“ Erst in der sog. ‚Lex Emendata‘ (K-Klasse) wird der kurze Prolog mit den Namen der Orte, an denen die malli 6 abgehalten wurden, ausgestattet; sie lagen „jenseits des Rheins“: Bothem, Salehem et Uuidohem. In dieser Reihenfolge sind die mallus-Orte auch in den Bericht des ‚Liber Historiae Francorum‘ (LHF) von 726/27 eingegangen (c.4):7 Tunc habere et leges coeperunt, quae eorum priores gentiles tractaverunt his nominibus: Wisowastus, Wisogastus, Arogastus, Salegastus, in villabus quae ultra Rhenum sunt: in Bothagm, Salechagm et Widechagm.
Die Fassung B des LHF, die ebenfalls noch ins 8. Jahrhundert zurückgeht, hat ultra Rhenum durch in v[illabus] Germaniae ersetzt, wohl weil die Germania in c. 5 als omnes regiones gentium, que ultra Renum fluvium sunt, definiert wurden. Damit ist auch die Perspektive dieses wohl im Ardennenraum schreibenden Bearbeiters klar: er blickt von Westen nach Osten. Die Gesetzesfindung, die hier den „Stammesältesten“8 oder „Stammesfürsten“ zugeschrieben wird, wird unter dem sonst nicht genannten ersten Frankenkönig Faramund (möglicherweise eine Funktionsbezeichnung: ‚Muntherr der Fara‘), angeblich der Vater Chlodios (des Urgroßvaters Chlodwigs), angesiedelt. Diese neustrische, wohl in der Region von Laon zu
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Zustand der ‚Lex Salica‘. Diese Fassung bietet auch zum ersten Mal KP, doch reichen die Parallelen, die Guillot aus den Digesten aufbietet, m.E. nicht aus, um den Prolog noch in römische Zeit zu datieren. Schmidt-Wiegand 2001 a, 326. Vgl. zu KP Eckhardt 1954, 165–177; 1955, 98–101 (Übersetzung). Zur Bedeutung der malli in der Merowingerzeit vgl. Schmidt-Wiegand 2001 b, 191–192. Liber Historiae Francorum, c. 4, S. 244. In der Forschung wird durchweg angenommen, dass LHF den KP benutzt habe. Etwas abweichende Positionen bezogen Beyerle 1924, 225–227 mit Anm. 5; Nehlsen 1977, 464f. (Möglichkeit einer gemeinsamen Quelle). Vgl. aber Eckhardt 1954, 169f. Liber Historiae Francorum, neu übertragen von Herbert Haupt 1982, 345.
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beheimatende Chronik, hat unter den Gesetzeskundigen den letzten (Widogastus) vergessen, dafür aber am Anfang Wisogastus in doppelter Form, denn Wisowastus muss man sich durch Abschrift aus einer Vorlage entstanden denken, die – wie etwa Codex K17 – bereits Vuisuast(us) mit romanischem intervokalischen g-Schwund enthielt (vgl. Aro-ast < Ar (b )ogast etc.), wobei !u" als !w" neu interpretiert wurde. Einen Einfluss des Langen Prologs (LP) zu erkennen, wie es in der Forschung meist angenommen wird, fällt mir schwer.9 LP weist zudem eine andere Reihenfolge der Ortsnamen auf als LHF und KP; er hat eine andere Reihenfolge und andere Namen bei den Rechtsweisen; es fehlt schließlich die Lokalisierung der Siedlungsnamen ultra Rhenum. Es folgt jedoch aus LHF, dass eine zweite Fassung des KP, mithin KPB, bereits 726/27 vorlag, eine Version, die der Emendata-Fassung K der Lex als Vorlage diente, und aus deren Perspektive heraus die Rechtsfindung sich „jenseits des Rheines“, also wohl auf dem rechten Ufer, vollzogen hatte. Nach Ian Wood ließe sich diese Fassung dem späten 7. oder frühen 8. Jahrhundert zuschreiben.10 Der lange Prolog (LP) – ich folge hier erneut Ruth Schmidt-Wiegand11 – „fasst die Nachrichten des kürzeren Prologs summarisch zusammen bei gleichzeitiger Übergehung einer Mitwirkung der Großen.“ Der Bericht ist mit einem Lob der Franken (Gens Francorum inclita) verbunden, das im Stil geistlicher Hymnik die Taufe Chlodwigs wie die Bekehrung der Franken und ihre Rechtgläubigkeit feiert“.12 In der Aussage, dass die Franken sich vom Joch der Römer befreit hätten und die von diesen verfolgten und ermordeten Märtyrer der Kirche erhoben, geschmückt und bis heute verehrt hätten, liegt zweifellos eine gewisse Distanzierung vom Erbe des Imperium Romanum vor.13 „Die Könige Chlodwig, Childebert und Chlothar werden als diejenigen genannt, die den Pactus im christlichen Sinn verbessert und bewahrt haben.“14 Die Stelle über die Rechtsfindung lautet nun:15 Dictaverunt Salicam legem per proceris ipsius gentes, qui tunc tempore eiusdem aderant rectores, electi de pluribus viris quattuor his nominibus: UUisogastis, Bodogastis, Salegastis et UUido-
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Vgl. aber Schmidt-Wiegand 2001 a, 326 (wohl nach F. Beyerle, wie Anm. 7). Wood 1994, 109. Schmidt-Wiegand 2001 a, 326. Für das höhere Alter von KP traten mit überzeugenden Argumenten z.B. ein: Pardessus 1843, 343f.; Hilliger 1911, 153; Krusch 1917, 578; Beyerle 1924, 225f.; Eckhardt 1954, 172–175; Zöllner 1970, 148; Wood 1994, 109. Boeren 1949, 229–239; Schmidt-Wiegand 1955, 233–250; Kantorowicz 1958, 58f.; Grand 1965, 117f., 132–134. Vgl. zu LP noch Eckhardt 1953 a, 27–29, 44–55, 82–91; 1953 b, 1215 (Übersetzung); 1955, 26–29, 46. Pfeil 1929, 80ff. Schmidt-Wiegand 2001a, 326. Lex Salica 1969, 4f.
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gastis in loca cognominancia Salechagme, Bodochagme, UUidochagmi, qui per tres mallus convenientes, omnes causarum origines solicite discuciendo tractantis de singulis iudicium decreuerunt hoc modo.
LP identifiziert also die proceres der gens mit den damaligen rectores („Könige oder wie in der ‚Passio S. Leodegarii‘ auch comites, duces und patricii ?), welche wiederum die Auswahl der vier Rechtsfinder betreiben, die nun – unter Auslassung des Standortes ultra Rhenum – aus den in anderer Reihenfolge aufgeführten Orten stammen. Die Namen der viri quattuor sind ebenfalls verändert: parallel zum Ort Bodochagme < *-haima findet sich nun ein Bodogastis, während Aro-gast getilgt wurde. Dieser Prolog wurde vielleicht, dem 100-Titel-Text (Klassen D und E), der Recensio Pippina von etwa 763/64 (nach dem handschriftlichen Befund) beigegeben.16 Schon früh erkannte man, dass eine Versammlung von vier electi mit PN auf -gast, denen z. T. noch Ortsnamen auf -haim mit gleichen Namenelementen entsprechen, kaum als Abbildung historischer Realität genommen werden darf.17 Der wichtigste konsistente Deutungsversuch der Namen als symbolische Konstruktion kam 1880 vom Leidener Indogermanisten H. Kern.18 Nach ihm gehört sali-, sale- (noch ohne Umlaut) zu as. seli, ahd. sala, mndl. sale etc. ‚Saal, Halle, Saalhof (mit Zubehör)‘; bodo-, bod- < *boda zu mndl. boede, mhd. buode ‚Behausung, Bude‘; aro- zu mndl. arene, erene ‚Pflug‘ bzw. germ. *arian ‚pflügen‘;19 wido- zu ahd. witu, ae. wudu ‚Wald‘; wiso- zu ahd. wisa ‚Wiese, Weidegrund‘ [zur Kritik der etymol. Ansätze s. u. Abschnitt II]. So repräsentiert Saligast „the nobility living in salias“, aber Bodogast „is but another phrase for Dutch huisman, a cottager, peasant, and the fictious representative of the peasant-class.“ Arogast „means ‚Tiller, Ploughman‘, whence it follows that it is a perfectly intelligible variant for Bôdogasti “. Da-
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Schmidt-Wiegand 1955, 246. Es sind jedoch auch erhebliche Zweifel gegen die Geltung des nur in einer Handschrift überlieferten Datums über diese Handschrift (Montpellier H 136) hinaus vorgebracht worden. Vgl. Krusch 1917, 524ff.; Claussen 1936, 365, 357f. Andererseits gibt es stilistisch enge Verwandtschaften des LP zu Urkunden der Kanzlei Pippins aus dem Jahr 763, so dass der Zeitansatz sicherlich aufrechtzuerhalten ist. Vgl. Eckhardt 1953 a, 44–55. Z.B. Zöpfl 1841, 121–138; Dippe 1899, 167ff. Vgl. das Referat weiterer Versuche bei Roll 1972, 81f., 123 f. Nach Waitz 1846, 68f., können die Namen „leicht auf sagenhafter Überlieferung beruhen“, doch besitzen die Prologe für ihn dennoch auch eine historische Aussage. Für Schmidt-Wiegand 1978, 1951 sind „die Namen der Rechtsfinder legendär“, aber „einen historischen Kern wird man indessen auch diesem Prolog [KP] nicht ganz absprechen können“. Hessels 1880, 560–562. Abwegig ist der sprachwissenschaftlich unhaltbare Versuch von Sachsse 1841, S. 45 f., die Namen der Rechtsweiser mit 4 Hofämtern des Königs zu identifizieren. Vgl. Lloyd/Springer Bd. 1 (1988) 347–350; Bd. 2 (1998) 1129–1132.
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für Widogast „means, apparently, ‚Woodman‘; Wisogast „might be rendered by ‚a feeder of cattle‘“. Kern schließt die Frage an: „Would it be too farfetched to explain the typical names … as being the representatives of the different classes of the people?“20 Kern kannte nicht die Erläuterungen, die der aus Friesland stammende Rechtshistoriker J. Clement bereits 1876 in seinen „Forschungen über das Recht der salischen Franken“ gegeben hatte, freilich ohne besondere Begründungen, und auf etymologisch oft fragwürdige Weise (durchweg im Anklang an synchrone hochdeutsche, niederdeutsche und friesische Appellative, aber doch im Sinne eines symbolischen Benennungssystems):21 Wiso-gast wäre so „weiser oder weisender Mann“, Wido-gast „strafender“ Mann, Bodo-gast „befehlender“ Mann, Aro-gast aber „Ehrenmann“ und Sali-gast bezöge sich auf den „Salmann vom ursalischen Boden“.22 Viel später, 1948/50, hat Wilhelm Kaspers in seinen „Wort- und Namenstudien zur Lex Salica“ diese Deutungsansätze aufgenommen, die ärgsten Fehler richtiggestellt und sprachwissenschaftliche Begründungen nachgeliefert.23 So stellte er Wisogast zu ahd. wisen ‚weisen, anführen, belehren‘, ahd. wiso ‚Führer‘; Bodo-gast zu ahd. boto, ae. boda ‚Bote‘, d. h. „der zum Gericht aufbietet“ und zu fries. Bod-ding ‚gebotene Gerichtsversammlung‘; für Aro-gast weist er zu Recht die von Clement gegebene Verbindung mit ahd. êra als philologisch unmöglich zurück und verbindet lieber mit got. airus, ae. ar ‚Bote‘ und ahd. ârunti, ârinti, ae. aerende ‚Botschaft‘, got. airinôn ‚Bote sein‘, womit der Name synonym zu Bodogast wäre. Sale-gast ist ihm gleichbedeutend mit mhd. salman ‚Treuhänder‘, zu sal ‚Vermächtnis, rechtliche Übergabe eines Gutes‘, ahd. sellen [< *saljan] ‚übergeben, zum Verkauf stellen‘, got. saljan ‚opfern‘ – zumindest stellt er diese Ableitung neben die gängige von ahd. sala, as. seli. Für Wido-gast glaubt er, obwohl er sieht, dass man nicht, wie Clement es tut, unmittelbar zu as. witi (ahd. wizi ) ‚Strafe‘ stellen kann (wegen des hier vorliegenden etymologischen germ. [t] statt [d]), in Anknüpfung an ahd. wid ‚(aus Weiden geflochtener) Strick‘ doch die Bedeutung aufrecht erhalten zu 20
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Poly 1993, 293 Anm. 13, glaubt, dass Kern in den PN der Rechtsfinder „Geister“ sehe (was wohl auf einer Fehlidentifizierung von germ. -gast ‚Gast‘ und ae. gast < *gaista- ‚Geist‘ beruht): „pour Kern, Bodegast … serait l’Esprit paysan, Arogast l’Esprit de la récolte, Widogast l’Esprit des bois, et Salegast l’Esprit de la maison (quelle triade fonctionelle indoeuropéenne cela ferait, après quelques manipulations!)“. Clement 1876, 413–416. Poly 1993, 293f. Anm. 13, gibt Clements Auffassungen zumindest schief wieder, wenn er die Deutungen „Indicateur, Correcteur, Commandant, Garant et Homme d’honneur“ referiert. Kaspers 1948/50, 332–335. In seiner Nachfolge steht Princi Braccini 1997, die darüber hinaus gegen den Prologtext dessen Personen- und Ortsnamen als Appellative zu erweisen sucht, dies in weitgehender Vernachlässigung der Resultate der Textkritik und der Onomastik.
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können. Auch die Ortsnamen sind ihm wie die Namen der Rechtsweiser „Symbole ihrer Funktion“. Auch für Jean-Pierre Poly ist 1993 „l’assonance des noms“ typisch für eine „tradition orale forcément légendaire“,24 doch qualifiziert er die Deutungsversuche von Kern, Clement und Kaspers als „commentaire résolument folklorisant de ce texte“.25 Ihm scheint dagegen eine historische Interpretation möglich. Er beobachtet „une coïncidence curieuse entre les noms des chefs du prologue et ceux de quatre officiers de l’entourage impérial dans la seconde moitié du IVe siècle“.26 Drei der zur Identifizierung vorgeschlagenen Kandidaten trugen nach ihm ihren in der Armee üblichen Kurznamen: „Wiso, gallicisé en Gaiso, Salia et Vitta“. Wir kommentieren hier nur die philologische Seite der Interpretationen von Poly: Ein Blick in das maßgebende „Wörterbuch der altgermanischen Personen und Völkernamen“ von M. Schönfeld27 hätte ihn belehren können, dass Salia, der Konsul des Jahres 348 und magister equitum des Constantius, einen der Sprachform nach ostgermanischen (mask.) Namen auf -a (konsonantische Deklination) trägt und zudem von Hydatius als Ostgote bezeichnet wird. Gleiches gälte für die Namenform Vitta, wenn es sich bei dieser Namenform nicht überhaupt um eine unzulässige Verkürzung aus gut bezeugtem Nevitta, Konsul von 362 (origine barbarus nach Ammianus Marcellinus) und magister armorum Julians, zu stellen zu *neuwja ‚neu, jung‘ + ostgerm. Suffix -itta,28 handeln würde. Sein Name hat eine Parallele im Namen des Goten Fraw-itta zu got. frau-ja ‚Herr‘.29 So wird auch Nevitta ein Ostgermane sein. Im Übrigen verlangt Wido- einen etymologischen Ansatz mit germ. [d], nicht mit [t]. Der dritte Name im Bunde, Gaiso, kann niemals eine Romanisierung von Wiso darstellen, wie Poly annimmt (etwa analog Wido > Guido mit rom. Lautersatz des germ. [w]); der Name zeigt vielmehr den germ. Diphthong [ai]. Der Name des Konsuls von 351 und Mörders des Kaisers Constans ist (wegen der mask. Endung der konsonantischen Deklination auf -o) klar kontinental-westgermanisch, könnte also einen Franken bezeichnen, und gehört (in archaischer Lautform) zu germ. *gaiza- ‚Ger, Speer‘. Die gesamte „coïncidence curieuse“ der Namen bei Poly ist also ein Kartenhaus, das schon beim genaueren Ansehen zusammenbricht. Von allen seinen Parallelen bleibt nur Arbogastus bzw. Arvagastes, Franke, und bar-
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Poly 1994, 293. Poly 1994, 293. Poly 1994, 294. Vgl. auch Poly 2006, 97f. Schönfeld 1965, 197. Vgl. Reichert 1987, 585. Schönfeld 1965, 182. Vgl. Reichert 1987, 524f. Schönfeld 1965, 92f. Vgl. Reichert 1987, 283–285.
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barus exul,30 hoher General der römischen Armee und ab 387 auch magister militum. Zu ihm wird später noch Stellung zu nehmen sein.31 Nicht besser steht es mit der von Poly versuchten Identifizierung der Ortsnamen von KPB, LHF und LP. Schon die Meinung, „deux des villages où est proclamée la loi portent à l’évidence les noms de deux des chefs“, ist in dieser Form unhaltbar.32 Der haima-Ort eines Widogast hätte *Widogasteshaima zu lauten – wie etwa zu *Launa-gast a. 801 im Nahegau Longastes-heim bezeugt ist. Selbst bei Ausgang von einer Kurzform wie Wido oder Salia, westgerm. *Saljo, hätte eine Ortsnamenform mit besitzanzeigendem Genetiv (n-Deklination) *Widun-haim-, *Saliun-haim- im 8. Jahrhundert lauten müssen.33 Es handelt sich vielmehr um die Verwendung gleicher Namenelemente in Personenname und Ortsname.34 Was das bedeutet, wird unten in einer die Textkritik und Überlieferung der Prologe als auch den germanischen Namenbrauch der Zeit berücksichtigenden onomastisch-sprachwissenschaftlichen Analyse, an der es bisher mangelt, zu erläutern sein; dort auch zu den von J.P. Poly gefundenen Identifizierungen der Toponyme des Prologs.
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Vgl. Prosopography of the Late Roman Empire, Bd. I, 1979, 619. Ausdrücklich sei hier vor weiteren phantasievollen etymologischen Spekulationen des Autors gewarnt, so zu den niederländischen Landschafts- und Gaunamen auf -bant (wie Bracbant, Swifterbant, Teisterbant, Osterbant, Caribant), die er falsch zu *banda ‚banniére‘ (= römische Heeresabteilung) stellt, bzw. zum Ethnonym Salii, das er falsch zu germ. *saila‚Seil‘ (ae. sa–l ) stellt: Poly 1993, 298–305; Ders. 2000, 183–196, 186; Ders. 1996, 365 (S. 371 ff. auch eine bemerkenswerte Fehlinterpretation des germanischen Namensystems; durchgehend die abwegige und oft falsche Umsetzung der überlieferten Namen ins Altenglische). Zu den richtigen sprachhistorischen Ableitungen vgl. für -bant ‚Landstrich, Region‘ Künzel/Blok/Verhoeff 1988, 77, 339, 342; Lloyd/Springer Bd. 2 (1998) 1036–1038; für Salii < *saljon ‚(Saal-)Genossen‘ vgl. Wagner 1989, 34–42; Springer 2002; Reichert/Reimitz 2004, 344f., 346; Grahn-Hoek 2005, 8–27. Poly 1993, 295; Ders. 1996, 361. Vgl. bereits ebenso problematisch Waitz 1846, 65f. Eckhardt 1954, 167f. weiß zwar, dass ein zu Sale-gast gebildeter SN *Salegastes-heim heißen müsste, nimmt aber dann fälschlich an, dass der Ausfall des mittleren Elements „normaler sprachgesetzlicher Entwicklung“ entspräche. Problematisch in dieser Beziehung auch Schmidt-Wiegand 1991 a, 269. Erstaunlicherweise werden die Ausführungen von Poly in neuerer, vor allem französischer Forschung als „minutieuse autant que perspicace“ bzw. „brillantes“ bzw. „convaincantes“ bezeichnet und damit Frühdatierungen der Lex Salica ins 4. Jahrhundert begründet. Vgl. Guillot 1995, S. 678; Kerneis 2006, 129 formuliert: die Untersuchung der Lex Salica „a été renouvelée par les travaux de Jean-Pierre Poly“ bzw. „il a restitué l’origine romaine du texte“. Zu Recht skeptisch („highly speculative article“) sind nur Anderson 1995, 136 Anm. 27 und Ewig 2001, 49.
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II. Die Personennamen des Lex Salica-Prologs Es folgt eine onomastisch-sprachwissenschaftliche Analyse der in den Prologen aufscheinenden Personenamen (PN):35 a) Uuisogastus (C6, C6a; K31, K32, K33, K65; LHF; D 31); Uuisogaste (K35, S); Uuisogasti (D40 uusi- D49); Uuisogastis (D7, D8, D9, D1, D6; S; E11; Uiso- E12, E16); Uuisogast (C5, H10, E13, E14, E17); Kompromissform Vuisuast (korr. < visuat, womit UUISOUUADO Nr. 6,’ in C5 und LP zu vergleichen ist); Wiso-wastus (LHF als Variante an 1. Stelle) < *Wisu-gastiz, zu germ. *wesu- ‚gut, edel‘ + germ. *gastiz ‚Gast, advena‘ (mhd. gast auch ‚Krieger‘).36 Vgl. zum Erstglied z.B. 6. Jahrhundert Wisi-gardis, Tochter des Langobardenkönigs Waco; 4. Jahrhundert Visu-, Visi-mar, früher Wandalenkönig Asdingorum stirpe; a. 535/36 Wisibadus, ostgot. comes; a. 683–693 Wise-fredus, wisigot. Bischof von Vichy; Wisu-rih, Bischof v. Passau 765–774; a. 781 Wiso-goz ‚der Wisigote‘ in Dautenheim, Rheinhessen (CL Nr. 1245) u.a. Hierher gehört auch das got. Ethnonym Vesi, Visi und (in der Langform) Wisi-, Wesi-gothae. Der Fugenvokal ist -u-, rom. gesenkt zu -o-; daher auch ist eine Rekonstruktion mit dem Erstelement germ. *wisa- ‚klug, weise, kundig‘ nicht möglich,37 ebensowenig die von Kern vorgeschlagene Anbindung an ahd. wisa ‚Wiese, Weideland‘, welches Element auch in der germ. Namengebung keinen Platz hatte.38 b) Arogastus (C6, C6a; K31, K32, K65; LHF); Arogaste (K35; S); Arogastis (S), Arogast (C5, H10), Aroast (K17 mit rom. intervokalischem g-Schwund) < Arwa-gastiz, zu germ. *arwa- (an. orr, ae. earu, as. aru) ‚schnell, bereit, aptus‘ + germ. *gastiz. Vgl. a. 392/94 Arvagastus, Arbo-, Arvogastes, Franke und röm. comes; Nachfahr ist Ende des 5. Jahrhunderts Arbo-gastes, -gastus, Arvo-gastus, röm. comes von Trier; Bischof Arbogast von Straßburg, um 530, fränkischer Herkunft; ± a. 344 Arbo-astis, presbyter in Trier (Gregor v. Tours, In gloria confessorum, c. 91, MGH SS rer. Mer. I, 2, 356) mit rom. intervokalischem g-Schwund; 6. Jahrhudnert Aro-astes, presbyter in Sesciacum (Venantius Fortunatus); merow. Monetar ARAGASTI (Gen.) aus Châteaumeillant (Cher); a. 598/99 Aro-gis dux (Gregor, Epp. IX, 44, 124, 126); Anf. 7. Jahrhundert Aro-gis, run. Inschrift, Schretzheim (Bayern),39 a. 589 Arvittus, wisigot. Bischof von Oporto; Arv-ildi (Dat.), frühmittelalterliche christl. Inschrift, Léon (Spanien); Anfang 9. Jahrhundert Aro-hildis (Pol. Irminonis aus S. Germain-des-Prés). Hierher wohl auch die Matronae Arvagastae, Müddersheim, Gde. Vettweiß, LK Düren (Germania Inferior), „die bereiten Gäste“ (CIL XIII 78555). Die Schreibungen mit !-rb-" sind möglich, da lat. -b- in sonantischer Umgebung spirantisch geworden war. Westgerm. entwickelt sich die Lautgruppe
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Die Parallelbelege zu einzelnen Namen stammen im Wesentlichen aus Reichert 1987; Förstemann 1966. Vgl. für die Namen auf *-gast- auch generell Wagner 1998, 1–6. Vgl. Förstemann 1966, 1622–1625; Schönfeld 1965, 267f.; Reichert 1987, 783–786. Vgl. o. Anm. 18; ferner Kaufmann 1968, 408f. Nedoma 2004, 199ff.
Namenbrauch und Mythos-Konstruktion
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-rwa zu -ru, -ro weiter, wie ae. wearu, as. aru zeigen.40 Kerns Vorschlag, Aro- zu ahd. erien, mndl. erien, ae. erian, got. arjan zu stellen,41 scheitert daran, dass dann *Arjaim Erstelement zu erwarten wäre,42 das zudem keinen Platz im germ. Namensystem hat. Clements Ableitung von ahd. e–ra < westgerm. *aira ist lautlich abwegig. Auch Kaspers Vorschlag,43 zu got. airus, ae. ar ‚Bote‘; ahd. a–r-unti, ae. aerende ‚Botschaft‘, got. airinon ‚Bote sein‘ zu stellen, scheitert am ursprünglichen Vokalismus mit [ai]44 und der Abwesenheit dieses Lexems in der germanischen Namengebung.45 c) Salegastus (C, C6a; K31, K32; -gastos K33; K65; LHF; D31); Saligastis (E11, E12, E16; -castis D7 und D9); Salegastis (D8, D1; S); Salegaste (K35, S); Saligasti (D40, D49); Salegast (C5; H10; E13, E14, E17); Saleanats (korrupte Form K17) < *Saligastiz zu germ. *salja, sali ‚Saal, Gebäude, Saalhof‘ (ahd. sal, as. seli, ae. sæl, sele; mndl. sale) + germ. *gastiz. Vgl. a. ± 500 Saligastiz, run. Inschrift, Berga (Södermanland, Schweden): Grab des S. und der Fin[n]o; a. 814/17 Seli-perht (Trad. Freising I Nr. 330, 375); a. 788 Lobdengau Sali-gunt (CL Nr. 636); a. 807 Lobdengau Seli-thag (CL Nr. 724); a. 817 Seli-muot Fulda u. a. Das Element Sali- ist insgesamt seltener als gleichbedeutendes Sala-, jedoch gut belegt gerade für das fränkische Sprachgebiet (Fö 1290ff.; Ka 301; Schönfeld 197f.; Reichert 1987, 584).46 Man darf nicht vergessen, dass Salii < *Sal-jon ‚Saal-Genossen‘ ein synonymes Ethnonym für die Franken oder für einen Teil der Franken war (Ammianus Marcellinus: … Francos, … quos consuetudo Salios appellavit …).47 Die Ableitung bei Kaspers 1948/50 von ahd. ae. sala ‚rechtliche Übergabe‘, an. sala ‚Verkauf‘ ist formal möglich, jedoch, da das Element in der germ. Namengebung nicht verwandt wird, äußerst unwahrscheinlich.48 d) Uuidogastus (C6; K31, K32, K33, K65; fehlt LHF; D31); UUIDEGAST (C5); Uuidogasti (D40; -gaste S); Uuidogastis (D9, D40; S81; uuidicastis D7; uuidigastis E11, E12; uuide- D8; E16); Uuidigast (E14; Guidi- E13 und E17); Vuindogastus (Fehlschreibung auf Grund der Annahme eines Nasalstrichs C6a); Uindogastis (ebenso S); Vuindogast (H10); Uicats (korrupt K17) < *Widu-gastiz zu germ. *widu- (as. widu, ahd. witu, ae. wudu) ‚Holz, Wald‘ + germ. *gastiz. Vgl. vor a. 500 Widu-gastiz, run. Inschrift, Sunde (Norwegen), in der Bedeutung ‚Wald-gast‘, d.h. ‚geächtet‘, vielleicht Beiname des Runenmeisters; ± a. 200 Widu-hu[n]daR, run. Inschrift,
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Förstemann 1966, 135ff.; Kaufmann 1968, 40; Schönfeld 1965, 31f.; Reichert 1987, 57, 74–77; Wagner 1998, 4; Felder 2003, 169. Vgl. Lloyd/Springer Bd. 1 (1988) 311ff. Vgl. o. Anm. 18. Lloyd/Springer Bd. 2 (1998) 1129–1131. Vgl. o. Anm. 23. Lloyd/Springer Bd. 1 (1988) 351ff. Die Etymologisierung von Arbo-gast mit „Dur Esprit“ (zu *hardu- ‚hart, stark‘?) oder „Etranger à son héritage“ (zu germ. *arbija- ‚Erbe‘?) bei Poly 1993, 295 Anm. 17, ist abwegig. Förstemann 1966, 1290ff.; Kaufmann 1968, 301; Schönfeld 1965, 197f.; Reichert 1987, 584; Wagner 1998, 4. Eine spezielle Bedeutungsentwicklung zeigt ae. sele-gist, ,fremdstämmiger Saal-Genosse‘. Vgl. Fruscione 2006, 167. Ammianus Marcellinus 1978, hier XVII 8, 3. Vgl. o. Anm. 23.
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Himlingøje (Seeland, DK), in der Bedeutung ‚Wald-Hund‘, d.h. ‚Wolf‘, Appellativ oder Beiname des Runenmeisters; a. 358 Vid-varus, König der Quaden; Vidigoia, ein heros bzw. fortissimus Gothorum (Jordanes); a. 468–474 Vidimer, -mir, Amaler ( Jordanes) mit gleichnamigem Sohn; a. 517 Wide-meres burg. comes; 4. Jahrhundert; Vide-richus, Sohn des Vithimiris, König der Greuthungi; a. 655 Wide-ricus, wisigot. Bischof von Siguenza; a. 560/90 Wide-recus wisigot. iudex, Avila; 6. Jahrhundert Vid-astis, Ved-astus … cognomento Avi (Gregor v. Tours, HF VII, 3) u.a.49 Der Vorschlag Clements, Wida- mit [d] zu got. fra-weitan ‚rächen‘, as. witi, ahd. wiz(z)i ‚Strafe‘ zu stellen, ist lautlich abwegig.50 e) Bodegast (C5; aus dem LP Bodi- E13, E14, E17) Bodogastis (D7, D8, D9, D6, E11, E12; hodo- D1); Bodogastus (D31), Bodogasti (D40, D49); Bedogaste (korrupt S; -gastis S82) < *Bodi-gastiz zu germ. *bod- ‚eilig, helfend‘51 + germ. *gastiz. Es existiert keine direkte Parallele: Ansätze für Cordast (FR, CH), a. 1342 Gurbdast < curtis + Bodogast und Boécourt (JU, CH), a. 1141 Boescort < Bodegast + curtis sind hypothetisch und nicht ohne Alternativen.52 Vgl. a. 585 Body-gisilus dux und Massiliae ductor et rector (Gregor v. Tours, HF VIII, 22); a. 590 Bodigysilus, Sohn des Mummolinus (Gregor v. Tours, HF X, 2); a. 699 Bodi-rid, Weißenburg (Trad. Wiz. Nr. 205, 252, 240).53 Dieser PN ist offensichtlich im LP nach dem in der zweiten Redaktion des KPB vorliegenden Ortsnamen analogisch neugebildet.54 Die ältere Version C5 mit Bode- und einige Hss. der Klasse E des LP mit Bodi- begründen den Ansatz mit bod-, das in der Namengebung gut vertreten ist (vgl. obige Parallelen mit Bodi-). Kaspers stellt zu ahd. boto, ae. boda ‚Bote‘.55 Kern stellt zu mhd. buode, mnd. bode, mndl. boede < *boPo ‚Bude, Bau, Behausung‘, das keinen Platz in der germ. Namengebung hat.56 Zusätzlich spricht gegen diesen Ansatz, dass in den romanisierten Hss. des Prologs die Ersatzlautung [t] für germ. [P] nicht erscheint. f ) UUISOUUADO (C 5 aus dem LP, S-Klasse); Uirouade (S) < *Wisu-wadaz zu germ. *wesu- ‚gut, edel‘ + germ. *wada- ‚schreiten, zum Kampf gehen‘. Da der Name eine Stabreimbindung auf -w- zwischen Erst- und Zweitlaut enthält, was in frühen Namen gemieden wird, ist er sicherlich ein nicht weiter zu berücksichtigendes spätes literarisches Konstrukt.
Die PN auf -gast besitzen im gesamtgermanischen Bereich einen archaischen Charakter. Stark sind sie im Bereich der frühen nordischen Runendenkmäler vertreten; neben den bereits behandelten
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Förstemann 1966, 1562ff.; Kaufmann 1968, 397; Schönfeld 1965, 262–264; Reichert 1987, 775–777. Vgl. o. Anm. 21. Dazu Kluge/Seebold 2002, 958. Vgl. Wagner 2004, 275f. Müller 1996, 25–34; Ders. 2000, 95f.; Lexikon der Schweizerischen Gemeindenamen 2005, 166, 261. Förstemann 1966, 65f.; Reichert 1987, 145. Schmidt-Wiegand 1955, 145. Vgl. Anm. 23. Vgl. o. Anm. 19. Dazu Kluge/Seebold 2002, 158.
Namenbrauch und Mythos-Konstruktion
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1) Saligastiz ± a. 50057
und 2) Widugastiz vor a. 50058
finden sich noch: 3) A[n]da-gast ‚eminent guest‘, a. ± 200, Vimose (Fyn, DK)59 4) Waga-gastiz ‚Meer-, See-Gast‘, a. 300/50 Nydam-Opferteich (Nordschleswig, DK) zu germ. waega-m. ‚Woge‘, got. wegs ‚Sturm, Woge‘, an. vagr ‚Meer, Woge‘, ae. waeg ‚Wasser‘, as. wa–g ‚Woge‘, ahd. wa–g ‚Strom, Meer, See‘.60 5) Da-gastiz < *Daga- ‚leuchtender, berühmter Gast‘, a. 350/400, Eingang (Oppland, N).61 6) A[n]su-gastiz ± a. 400 Mykle-Bostad (Møre og Romsdal, N) ‚Götter-Gast, der zu den Asen Gehörige‘ zu ansu- ‚Gott‘62 7) Hlewa-gastiz ± a. 400 Runenmeister, Gallehus (Tondern, DK) ‚Schutz-Gast‘ zu *hlewa (as. hléo) ‚Schutz, Schirm‘.63 Looijenga stellt den Namen zu *hle–wa < *hlaiwa ‚Hügel, Grab, gravemound‘ mit dem Sinn ‚graveguest‘,64 was jedoch daran scheitern dürfte, dass die Monophthongierung [ai] > [e– ] nicht so früh datiert werden kann.65
Für Skandinavien scheint es auch einige spätere, vorwiegend randlich gelagerte und z. T. theophore Namen auf -gast zu geben, z. B. pór-gestr, God-gestr, daneben Ulf-gestr zu *wulfa- ‚Wolf‘ und Vé-gestr zu wih- ‚heilig‘.66 Im Mittelmeerraum, in der Armee des Imperiums, finden sich einige -gast-PN, die jedoch nirgends ethnisch spezifiziert sind: 8) Ana-gastus ‚Ahnen-Gast‘, Sohn des Arnegisclus < -gisil, Patricius und a. 469 römischer Oberbefehlshaber in Thrakien, zu germ. *ana- ‚Ahne‘ 9) Cuni-gast, a. 527 vir illustris (Cassiodor, Boethius) ‚Sippen-Gast‘ oder ‚Gast von (edlem) Geschlecht‘ (N. Wagner) zu *kunja, kuni ‚Sippe, Geschlecht‘ 10) Uni-gastos, a. 539 Leibwächter Belisars, ‚Hunnen-Gast‘
Ganz stark ist -gast aber auch im fränkischen Raum vertreten, wobei Extensionen durch merowingische Monetare und Priester bis in den Loire-Raum 57 58 59 60 61 62
63
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Antonsen 1975, 67; Peterson 2007, 15. Antonsen 1975, 69; Peterson 2007, 18. Antonsen 1975, 75. Die Lesung scheint freilich nicht völlig gesichert: vgl. Stoklund 1995, 330. Nielsen 2001, 25–36, hier 31; Stoklund 1995, 343f.; Looijenga 1997, 84; Peterson 2007, 17. Antonsen 1975, 39. Antonsen 1975, 46. Doch ist Asugast- von der Lesung her nicht völlig gesichert: Stoklund 1995, 205–222, hier 216; Peterson 2007, 6. Nielsen 1998, 336–340; Antonsen 1975, 41; Penzl 1987; Wagner 1998, 5; Peterson 2007, 11, die mit Andersson 2003, 592 in Analogie zu griech. PN Anschluss an griech. kléos, idg. *klew-os ,Ruhm‘ vorschlägt. Looijenga 1997, 91f. Antonsen 1975, 46. Naumann 1912, 38, 68f.
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nicht überzubewerten sind, da sie der Ausdehnung des fränkischen Großreiches folgen. Neben den bereits behandelten Nr. 11 Arvagast, Nr. 12 und 13 Arbogast, Nr. 14 Arbo-ast, Nr. 15 ARAGAST- zu germ. *arwa- ‚bereit, aptus‘ finden sich noch: 16) Nevio-gast, a. 358 Chamavorum rex, ‚Neu-Gast‘ zu germ. *neuwja ‚neu, jung‘. Vielleicht lässt sich (mit rom. g-Schwund zwischen Vokalen) noch der merow. Monetar NIVIASTE hierher stellen (Felder 2003, 169). 17) Bur-gastus ‚Haus-Gast‘ a. 648 (Pardessus Nr. 312; Dipl. Belg. Nr. 1), St. Bertin (F, St. Omer, Pas-de-Calais). Ein merow. Monetar BORGASTO findet sich im nahen Boulogne (Felder 2003, 169).
Als frühe Namen sind auch die in fränkischen Ortsnamen enthaltenen gast-PN aufzufassen: 18) *Ala-gast ‚Voll-Gast‘ in a. 784/96 Alagastes-heim, d.i. Waldalgesheim (LK Bad Kreuznach)67 19) *Daga-gast ‚leuchtender, berühmter Gast‘ in a. 769 Dagastis-heim (CL 1441), d.i. Dackenheim im Wormsgau (LK Dürkheim/Weinstraße);68 vgl. Nr. 5. 20) *Launa-gast ‚Lohn-Gast‘ in a. 801 Longastes-heim, d. i. Langenlonsheim (LK Bad Kreuznach)69
Dazu gesellt sich noch ein im alemannischen Kerngebiet gelegener Siedlungsname: 21) *Ana-gast ‚Ahnen-Gast‘ in Engstingen (LK Reutlingen), a. 788 Anigistingen, a. 1137/38 kop. Anegestingen70
Eine Durchsicht und Nachprüfung der bei Ernst Förstemann genannten Belege für das 8. bis 10. Jahrhundert71 ergibt eine nahezu ausschließliche Verbreitung auf den auch rechtsrheinisch im weitesten Sinne fränkischen, hessischen und westthüringischen, auf Grabfeld und Tullifeld begrenzten Raum, während die Reichenauer Einträge, auch wenn sie sprachlich oberdeutsch überformt sind (was auf die eintragenden Reichenauer Schreiber zurückgehen kann), wenig besagen für älteres alemannisches Auftreten des Namenelements angesichts des Fehlens St. Galler Belege und der schwachen Bezeugung in frühen alemannischen Siedlungsnamen. Angesichts des Fehlens von Namen auf -gast in der Toponymie Altthüringens werden sich diese Namen dort und in Ostfranken fränkischer Überformung verdanken.72 67 68 69 70 71 72
Kaufmann 1979, 77f. Dolch/Greule 1991, 94. Kaufmann 1979, 60f. Reichardt 1983, 44f. Förstemann 1966, 604f. Zur thüringischen Toponymie vgl. Walther 1971. Wenn man der um a. 400 verfassten, in der Forschung aber stark angezweifelten ‚Historia Augusta‘ trauen dürfte, dann böte sich
Namenbrauch und Mythos-Konstruktion
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22) Alt-gast a. 852 ‚Alt-Gast‘ im Grabfeld bei Meiningen (CDF Nr. 562); 838–856 Zeuge (KF 93). 23) O-, Uo-, Ou-gast < zu ahd. uo- ‚nach, hinterher, zurück‘, also mit der Bedeutung ‚nachfolgender, neuer Gast‘ (N. Wagner), a. 833 Regensburg als Zeuge einer Urkunde des Grafen Wilhelm, der in weiträumigen Beziehungen steht (Trad. Regensburg Nr. 26); auch in Fulda belegt. 24) Pereht-gast < *Berhta- ‚berühmter Gast‘ in einem Doppeleintrag (Perto, P.) des Reichenauer Verbrüderungsbuches (MGH Libri Mem. I 107C1) 25) Fin-gast ‚Finnen-Gast‘ a. 771 in Erda/Ardt n. Wetzlar im Lahngau (CL Nr. 3186) 26) Fride-gast ‚Friedens-Gast‘ zusammen mit einem Irmingast in einem Personalverbandseintrag des Reichenauer Verbrüderungsbuchs, der sprachlich in rheinfränkisches Gebiet weist (MGH Libri Mem. I * 24B3) 27) Fride-gast in einem anderen Eintrag des Reichenauer Verbrüderungsbuchs, der sprachlich ebenfalls in rheinfränkisches Gebiet weist (MGH Libri Mem. I 25I3) 28) Hadu-gast fem. ‚Kampf-Gast‘ a. 874 im Grabfeld bei Schmalkalden (CDF Nr. 611; KF 226) 29) Heri-gast ‚Heer-Gast‘ a. 943 Prüm (Beyer I Nr. 180 f.), Mönch; als Here-gast auch in einer auf 947/1003 zu datierenden Prümer Mönchsliste (Geuenich 1971, 43). Direkt vergleichbar ist der hier nicht weiter berücksichtigte, noch antike Frühbeleg Hari-gast- des Helms von Negau. 30) Harti-gast ‚starker Gast‘ a. 798 (CL Nr. 1611), Gimbsheim s. Oppenheim, Rheinhessen 31) Hilti-gast ‚Kampf-Gast‘ a. 797 Zeuge (KF 234); a. 890 in Kröftel, Untertaunuskreis (CDF Nr. 635) 32) Hrat-gast ‚schneller, tapferer Gast‘, Rat-gast a. 795 bei Eisenach, 825 bis 838 im Grabfeld bei Meiningen und Suhl (CDF Nr. 110, 457, 503, 517, 568; KF 303). 33) Hruad-gast ‚Ruhm-Gast‘ a. 812, im Baringau bei Mellrichsstadt, Bayern (CDF Nr. 269; KF 247); a. 867 im Grabfeld (CDF Nr. 597). 34) Ruad-kast < *HroP- ‚Ruhm-Gast‘ in einem sprachlich ins Alemannische weisenden Eintrag des Reichenauer Verbrüderungsbuchs (MGH Libri Mem. I 133D4) 35) Hun-gast ‚Hunnen-Gast‘ a. 794 in Leeheim w. Darmstadt im Rheingau (CL Nr. 203). Vgl. Nr. 10. 36) Hun-gast in einem Personenverbandseintrag des Reichenauer Verbrüderungsbuchs, (MGH Libri Mem. I 31 D4) 37) Irmen-gast ‚erhabener Gast‘, Reichenauer Verbrüderungsbuch (MGH Libri Mem. I 1A4) 38) Irmen-gast zusammen mit Fridegast (Nr. 26) 39) Liutkast ‚Leute-Gast‘ 2x in einem Familieneintrag im Reichenauer Verbrüderungsbuch (MGH Libri Mem. I 156C1). Vgl. im mhd. ‚Nibelungenlied‘ (4. Aventiure) den dänischen König Liude-gast, der wohl für PN auf -gast um 1200 nördliche Färbung bezeugt, aber auch auf älterer Sage beruhen könnte.
dort bereits für a. 253/60 ein mit den überwiegend germanische Namen tragenden Truppenführern Hariomundus, Hildomundus und Carioviscus zusammen auftretender Halda- gastes < *Alda-gastiz (vgl. Nr. 22). Vgl. Scriptores Historiae Augustae, 157; Wagner 1998, 1f. Zu Nr. 23 ebd. 5f.
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40) Muni-gast ‚Gedenk-Gast‘ in einer Totenliste 792/817 des von Karl d. Großen als fränkisches Reichskloster gegründeten Feuchtwangen (Mittelfranken) (MGH Libri Mem. I 35B3). 41) Nant-gast ‚Wage-Gast‘ a. 894 (Mönch in Fulda)73 42) Suab-gast ‚Sueben-Gast‘ a. 836 im Grabfeld bei Bad Salzungen (CDF Nr. 490; KF 334) 43) War-gast ‚Schutz-, Wehr-Gast‘, 857, bis 868 im Grabfeld bei Meiningen und im Tullifeld in Ostfranken; a. 889 im Grabfeld bei Salzungen und Meiningen; auch a. 956 Zeuge (KF 360). 44) Wer-gast ‚Wehr-Gast‘, a. 838 in Wettingen im Grabfeld, bei Hofheim, Bayern (CDF Nr. 510; KF 365). 45) Uuilli-gast ‚Wunsch-Gast ‘ in einem Personenverbandseintrag des Reichenauer Verbrüderungsbuchs, (MGH Libri Mem. I 64B2) 46) Wolf-gast ‚Wolfs-Gast‘ a. 823 Nekrolog Fulda (KF 381). 47) Wolt-cast < *Vulthu-gast ‚Glanz-Gast‘ a. 973/76 Trier (Beyer I Nr. 244, 249)
In Westfranken ist dagegen das Element -gast in dieser Zeit nicht mehr aufzufinden, soweit man sehen kann. In Italien findet sich -gast ebenfalls nicht früh.74 Nur nach dem Fall des langobardischen regnum erscheint a. 792 in Urkunden des Klosters Cava bei Salerno 48) Fare-castus zu fara ‚Fahrtgenossenschaft, parentela‘ [Codex Diplom. Cavensis I, Nr. 1], der sich leicht fränkischem Einfluss verdanken könnte.75
Im englischen Bereich findet sich vereinzelt 49) Ean-gist < *Auna-gast a. 804.
Das Altsächsische zeigt nur den späten 50) Erem-gast < *Irmingast (vgl. Nr. 36 f.), Höriger, Corvey 10. Jahrhundert. (Schlaug 1955, 117)
Insgesamt bleibt der Eindruck einer ursprünglich starken nordwestgermanischen Lagerung, die sich im Laufe der Zeit auf das mittelrheinisch-rechtsrheinische Gebiet reduzierte (vgl. Karte). Zweifellos kann man die jüngeren Belege nicht mehr alle als bedeutungstragende Namen ansehen und damit als Basis für eine semantische Analyse des Grundwortes -gast nutzen. Doch zeigen schon die älteren Namen bestimmte Grundtypen: a) Zusammensetzungen mit qualifizierenden Adjektiven wie bei *wisu‚gut, edel‘ und *arwa- ‚bereit, aptus‘, aber auch mit *ala- ‚voll, ganz‘, 73 74 75
Necrologium Fuldense: KF 292. Bruckner 1895, 226, 247. Ein noch später a. 873 in Farfa als Zeuge aufscheinender Ardegastri (Gen.) ist nicht eindeutig zu beurteilen.
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*daga- ‚leuchtend, berühmt‘, *neuwja- ‚jung, neu‘ (etwa im Sinne eines Neuankömmlings im Volk), ahd. uo- ‚nachfolgend‘, wozu aus späteren Belegen auch *hrada- ‚schnell, eifrig‘, *nanp- ‚wagend‘, *hardu- ‚stark‘, *irmin- ‚erhaben‘, *berhta- ‚berühmt, glänzend‘, *muni-‚Gedenken, erinnerungswürdig‘ und *hropi- ‚ruhmvoll‘ kommen. Die Bedeutung von gastschillert hier von ‚advena, Ankömmling, Fremder‘ bis hin zu ,Krieger‘ und einfach ‚Mensch, Mann‘.76 b) Zusammensetzungen mit Substantiven, die eine soziale oder lokale Verortung des Gastseins, des Ankommens ausdrücken: *ansu ‚Götter‘, 76
Clement 1876, 414, zeigt für die Mitte des 19. Jahrhunderts, dass gast im Friesischen ganz allgemein ‚Mensch, Kerl‘ heißen kann. Eine solche Bedeutungsverschiebung ist für gast auch früher und anderswo denkbar. Vgl. Zöpfl 1841 und vor allem Schroeder 1931; Princi Braccini 1997, 49ff.; Fruscione 2006 mit Hinweis auf ae. fejegest ,Fußkämpfer‘ und selegist ,fremder Saalgenosse‘.
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*kunja ‚Sippe‘, sali ‚Haus, Hof‘, *widu ‚Wald‘, *wa–ga- ‚See‘, *bur- ‚Haus‘, fara ‚Fahrtgenossenschaft‘. c) Zusammensetzungen mit Substantiven, die Zwecke des Gast- und advena-Seins ausdrücken: etwa *hlewa- ‚Schutz, Schirm‘, *launa- ‚Lohn‘, wozu sich später wa–ra ‚Schutz, Wehr‘ und *fridu- ‚Friede, Vertrag‘ gesellen. d) Zusammensetzungen, die das Gastsein bei einem Volk, also die Essenz des Fremdseins, ausdrücken: (H)uni- ‚bei den Hunnen‘, später Fin- ‚bei den Finnen‘ (zweifellos eine alte Prägung) und Suab- ‚bei den Sueben‘, ganz allgemein aber *leuda- ‚Volk, gens‘. Die Bildungen der ‚Lex Salica‘ Wiso-gast, Aro-gast, Sale-gast und Wido-gast fügen sich also durchaus in jene frühen, spezifisch fränkischen Bildungen ein, in denen sich später die Bedeutung von -gast bis hin zu ‚Mensch‘ oder besser ‚zu etwas gehörig‘ verallgemeinert. Für die Namen auf *-gastiz der Prologe, die in drei Fällen vollkommen singulär sind und in zwei Fällen (Widu-gastus, Sale-gastus) nur nordwestgermanische Parallelen haben, gilt aber auch nach obiger Analyse, dass sie vermutlich sprechende Namen sind, und zwar in zwei Ausprägungen: a) Zusammensetzungen mit qualifizierenden Adjektiven: 1) Uuiso-gast- ‚guter, edler advena‘, im weiteren Sinne ‚homo bonus, nobilis‘ 2) Aro-gast- ‚schneller, bereiter advena‘, im weiteren Sinne ‚homo aptus‘ b) Zusammensetzungen mit objekt- bzw. lagebezogenen Substantiven im Erstelement: 3) Sale-gast- ‚advena im oder aus dem Saalhof, Saalland‘ 4) Wido-gast- ‚advena im oder aus dem Waldland‘ (eventuell in der Bedeutung von ‚Verbannter‘) Es muss festgehalten werden, dass die Kategorien, die für das Erstelement verwendet werden, sich semantisch radikal unterscheiden.
III. Die Siedlungsnamen des Lex Salica-Prologs Den vier Rechtsweisern des Prologs entsprechen drei Siedlungen (villae), die im KP und in LHF ultra rhenum – aus welcher Perspektive auch immer – lokalisiert werden, und wiederum mit tres mallos korrespondieren, auf denen die Rechtsweisungen verhandelt wurden. Während die drei Gerichtsversammlungen in allen Versionen des Prologs (in denen des ‚Langen Prologs‘ in veränderter Reihenfolge) stehen, finden sich die Siedlungsnamen (SN) der villae nur in bestimmten Handschriften, auch nicht in allen des KP, sondern dort nur in der Lex Emendata (Klasse K) aus der Zeit Karls des Großen, aber wiederum im LHF von 727/28:
Namenbrauch und Mythos-Konstruktion
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a) Bothagm (LHF); Bodachaem (C 5); Bothem (K33; K65); Bodhem (K35); Bodham (H10); in budice (korrupt K17); Bodo-chagme (D7; -chamae D6; -ghagme D31; -haimi E12; -hasmi E11; -haim E13, E14; -baim E17; -aim E17); Bode-cagme (D9; -camne S); Bedachine (S82); Hodo-caime (D1; -chagine D40) < *Boda-haimaz zu germ. *boda-, *buda(ae. bod, mhd. mnd. bod, bot, mndl. bod ) ‚Einladung, Aufforderung, Gebot‘ + germ. *haimaz ‚Hof, Heim, Siedlung‘. Die Wiedergabe von germ. [ai] durch [ae] gehört zu den archaischen Zügen von C5; in LHF und zahlreichen Handschriften des LP wurde die auch sonst belegte, aus der spirantischen Qualität von rom. [g] resultierende Graphie !ag" gewählt. H10 (auch D6, 5) hat den rom. Lautersatz [a] für germ. [ai], wie auch im afrz. Lehnwort ham ‚Weiler‘ aus *haima-. In den übrigen Formen zeigt sich die mndl. und as. Monophthongierung von germ. [ai] > [e– ], die das althochdeutsche Sprachgebiet, wo als Resultat [ei] zu erwarten wäre, für diese Handschriften oder ihre Vorlagen ausschließt. In zahlreichen Handschriften des LP (D7, D6, D31, D9, D1, D40; S, S82) findet sich für germ. [x] der westfränkisch-romanische Lautersatz, verschriftet !ch, c, gh". Für den Wurzelauslaut des Erstelements ist [-d] anzusetzen; die Schreibungen mit !t" sind wohl romanische Umkehrschreibungen, da intervokalisches [t] im Galloromanischen zu [d] sonorisiert wurde. Das von Kern als Erstelelement ins Spiel gebrachte *bopo- ‚Bude, Behausung‘ ist wegen der !t"-Schreibungen, die Lautersatz für germ. [ p] signalisieren könnten, immerhin erwägenswert.77 Das von Poly als Identifizierungsobjekt angezogene [Sint-Martens-] Bodegem, a. 1227 Bodeng-hem gehört einem anderen Namentypus, den ingheim-Namen, an.78 Eine unmittelbare Parallele zu *Boda-haima- etc. scheint es nicht zu geben,79 jedoch lassen sich entsprechende Zusammensetzungen mit anderen Grundwörtern im westgermanischen, vor allem fränkischen Bereich nachweisen, z.B. mit -bura ‚Gebäude, Hof ‘, -rike ‚Reich, Königsgutbezirk‘ und -berga ‚Berg‘:80 a. 845 Bothe-bur, a. 1004 Boteburn, Ortsteil von Schiltigheim bei Straßburg (Elsass); GroßBottwar bei Marbach (Baden-Württemberg), a. 873 Bodi-bura, a. ± 960 Botebur; Büderich bei Werl, LK Soest, 9. Jahrhundert Bod-riki, a. 1155 Bodrike; Büderich, LK Neuss, a. 1090 Bot-reche; Hohenbudberg bei Uerdingen, LK Krefeld, a. 732/33 K. 12. Jahrhundert Bot-bergis, a. 1150 B˘od-berge, a. 1169 Bùdeberge, Ende 12. Jahrhundert Botberch; Budberg, LK Soest, a. 1199 Bud-bergie; Budberg, Rb. Arnsberg, Anf. 11. Jahrhundert Bod-bergi, a. 1200 Botberg; Budberg, Rb. Düsseldorf, a. 1144 Bùt-berge, a. 1212/16 Budberch; Boubers-sur-Canche (F, Dép. Pas-deCalais, Arr. Arras), a. 1079 Bud-berz, a. 1099 Bot-bercii, a. ± 1120 Budbert, 2. Viertel 12. Jahrhundert Boberc. Die Bedeutung von *boda- reicht in das Feld von ‚aufbieten, bannen, unter Sonderrecht stellen‘, so dass die „Budberge“ durchaus analog den „Malbergen“ (in malloberge) und die Boda-bura, -riki, -haima als unter Königsbann stehende Bereiche und Orte verstanden werden könnten.81 77 78 79
80 81
Vgl. o. Anm. 19; dazu Kluge/Seebold 2002, 158. Förstemann 1967, 500. Vgl. Poly 1993, 296. Die von Kaspers 1948/50, 334 gegebene Parallele Poethen bei Gotha [war mir nicht ermittelbar], a. 1139 Boedhem, ist schon wegen des Umlauts keine Parallele. Förstemann 1967, 493f. Vielleicht gehören zu diesem Bestimmungswort noch nordfranzösische Siedlungen namens *Bod-alha zu *alh-, *alah- ‚geschützte Siedlung, Heiligtum‘, z.B. Bouafles (Dép. Seine-
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b) Salechagm (LHF); Salachaem (C5); Salehem (K33; K65); Salechem (K35); Saleham (H10); Sali-cagme (D9; -caime D1); Sale-chagme (D8;Sa- D7; -ghagme D31; -chagine D40, D49; -chamne (S), -chine S82; -haimi E11; E12; -haim E13, E14; -aimi E16; -aim E17); Sal-chamae (D6) < germ. *salja, sali (as. seli, ae. sele) ‚Saal, Gebäude, Saalhof‘ + *haimaz. Die Verschriftungsgewohnheiten von *haima- sind analog SN Nr. 1 zu verstehen. Das Bestimmungswort *-sali ist wie die Variante -sala außerordentlich stark in den Niederlanden und anderen fränkischen Gebieten verbreitet und findet sich auch mit den Grundwörtern -hofen und -heim. Vgl. a. 1187 Selehoven, a. 1155 Sele-hoben bei Mainz; Groß-Seelheim, Gde. Kirchhain (LK Marburg), 8. Jahrhundert Sele-heim; a. 844/64 Selem bei Acquin (Dép. Pas-de-Calais, Arr. St. Omer); a. 1166 Sele-hem im Raum Luxemburg/Diedenhofen; Selm bei Lüdinghausen (LK Unna, NRW), a. 801 Salehem, a. 858 Seli-heim; Zelem (Limburg, B), a. 1114 Salechem; Zelhem (Gelderland, NL), Mitte 12. Jahrhundert Sele-heim.82 Auch Sala-haima findet sich mit 5 Siedlungsnamen nur in Belgien, den Niederlanden und am Niederrhein.83 c) Widechagm (LHF); Uuidohem (K33); vdohem (korrupt K65); Uuidochem (K35); Vuidham (H10); Uuidu-caime (D1); Uuido-chagmi (D7; -ghagme D31; -chagine D40, D49; -camne S, -chine S82, -chami D8; -chamae D6; -chaamni D9; -haimi E12; -haim E14, -aimi E11, -aim E16, E17); Guido-haim (E13) < germ. *widu- ‚Holz, Wald‘ + germ. *haimaz. Die Verschriftungsgewohnheiten von *haima- sind analog SN Nr. 1 zu verstehen; Zusammensetzungen des Erstelements mit -heim sind gerade im fränkischen Bereich häufig. Vier Kompositionen mit -haima begegnen in Westflandern, Limburg und im Emsland: vgl. Wehm bei Werlte (LK Emsland), a. ± 1000 Widem; † Wedem, Stadt Salzgitter (NS), a. 1307 Weetheim; Wehdem, Gde. Stemwede (Kr. Minden-Lübbeke), a. ± 969 Wethe-hem; a. 1174 Widem, unbekannt in Westflandern. Das von Poly vorgeschlagene Wittem (Limburg, B), a. 1125 Wit-ham, kommt wohl wegen der ! t "-Schreibung nicht in Frage.84
Als Fazit darf man festhalten, dass alle drei Siedlungsnamen der Prologe sich in die Toponymie der rheinischen und niederländisch-flämischen Landschaften gut einfügen, wobei freilich *Boda-haima- etwas isoliert bleibt.
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Maritime) in der Béthune, a. 751 Bodalcha in pago Tellao bzw. Bouafles (Dép. Eure), a. 775 Bodalca, die Gamillscheg 1962, 285–297 behandelt. Vgl. Schmidt-Wiegand 1991 b, 253f. Die hier geäußerte Vermutung, das Bestimmungswort könnte anstatt eines Appellativs einen Personennamen enthalten, ist jedoch unter onomastisch-morphologischen Gesichtspunkten nicht haltbar. Förstemann 1967, 663f.; Gysseling 1960, 906, 907, 908, 1100; Künzel/Blok/Verhoeff 1998, 416. Vgl. Poly 1993, 296. Haubrichs 2006, 12 Nr. 16. Grundsätzlich vgl. Schmidt-Wiegand, 1991 b, 267 ff. (ihre Zuweisung der Bestimmungswörter zu PN ist jedoch onomastisch-morphologisch nicht möglich). Förstemann 1967, 1301; Gysseling 1960, 1057, 1072 [ohne ON auf -heim]; Haubrichs 2006, 15 Nr. 49. Vgl. Poly, 1993, 296. Das von Gamillscheg 1962, 293 angeführte Widehem (Dép. Pas-de-Calais), a. 875 Widingaham ist wegen der Form des 9. Jahrhunderts eher unter die -ing-heim-Namen zu rechnen. Gysseling 1960, 1072f. stellt es zu hamma ‚Landzunge im Fluss‘, zu den „gens de Wido“ gehörig.
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Namenbrauch und Mythos-Konstruktion
IV. Der Mythos von den Rechtsweisern Vier Rechtsweiser mit den Namen Wisogast, Arogast, Salegast und Widogast verhandeln (in der Fassung KPA) in drei Orten auf drei Gerichtsversammlungen (malli ) die Angelegenheiten des „salischen“ Rechts. Zwei der Personennamen der Rechtsweiser stehen untereinander dadurch in Beziehung, dass sie als Erstelement jeweils ein qualitatives Adjektiv enthalten: *wisu- ‚edel, gut‘ *arwa- ‚bereit, fähig, aptus, utilis‘ Sind dies Adjektive, die die herausgehobene Befähigung zum Weisen des Rechts dokumentieren sollen?85 Zwei der Personennamen stehen untereinander in einer Beziehung, welche die territoriale Zugehörigkeit oder Herkunft durch das im determinierenden Erstelement aufscheinende appellative Substantiv ausdrückt: *sali- ‚Wohnung, Siedlung, Salhof, -land‘ *widu- ‚Wald, Waldland‘ Drückt sich darin der den ökonomischen Wirkraum der gens organisierende Gegensatz von terra culta und terra inculta aus? Die Orte (villae) tragen in KPB die Namen *Boda-haim, *Sali-haim und *Widu-haim-. Zwei der villae entsprechen im Erstelement des Namen den Erstelementen der Personennamen zweier Rechtsweiser, ohne dass sich eine possessive Struktur aus dieser Beziehung (etwa im Sinne der ‚Siedlung einer Person‘, etwa *Widogastes-haim-) herauslesen ließe. Die Beziehung zwischen den Rechtsweisern Salegast, Widogast und *Sali-haim-, *Widu-haim-, ist rein analogisch. Es zeigen sich morphologische Analogien auf der Ebene der Personennamen und der Ortsnamen. Dem entsprechen semantische Analogien in einer symbolischen Struktur: *sali- ‚Saalhof ‘ SN
-haim-
-gast
PN
*widu- ‚Wald‘ Die ersten beiden Rechtsweiser-PN weisen keine Korrespondenzen der Namenelemente zum verbleibenden SN *Boda-haim- auf. Sie stehen dagegen – wie gezeigt – untereinander in einer symbolischen Beziehung, da das Erstelement jeweils ein qualitatives Adjektiv enthält. Ihnen gegenüber steht – ohne direkte reale Parallelen in der frühmittelalterlichen Toponymie – der Name einer villa, *Boda-haim-, der sich vermut-
85
Zum Ideal des homo aptus und utilis in der Merowingerzeit vgl. Bodmer 1957, 55–57. Vgl. unten Anm. 88 zum vir illuster Claudius.
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lich auf die Bannqualität des Ortes, eventuell auf die Königsgutqualität des Ortes bezieht. Es ist außerordentlich unwahrscheinlich, dass diese Struktur von vier Rechtsweisern mit Namen auf -gast und drei Rechtsorten, Orten der drei malli, irgendeinen unmittelbaren Rückhalt in der Realität besaß. Diese Struktur besaß jedoch Bedeutung. Es lässt sich z. B. denken, dass die Vierzahl der Rechtsweiser einer bekannten Viererstruktur entspricht, etwa dem orbis quadratus, der Vierzahl der Himmelsrichtungen, nach denen die Welt organisiert ist etc., also Universalität der Weisung signalisieren sollte. Zwei der PN aus KP, zwei der SN aus dem jüngeren KPB scheinen sich auf die Dichotomie von terra inculta (*widu ‚Wald, Waldland‘) und terra culta (*sali ‚Wohnung, Siedlung, Salhof ‘) zu beziehen; die beiden anderen auf die Befähigung zur Weisung des Rechts in einem gentilen, sozialen Sinne. Die Dreizahl der Rechtsorte und Gerichtsversammlungen entspricht Dreierstrukturen, wie sie u. a. in Segen und Zauber als Instrument der corroboratio, der Bestätigung, gebraucht werden. Die Erzählung des Prologs erweist sich also in der Konstruktion des KP – und zwar in der älteren Fassung A als auch in der jüngeren Fassung B – als eine rechtsmythische. Sie ist eine Gründungserzählung auf zwei Ebenen, wobei die Ortsnamen und die Lokalisierung ultra Rhenum in B der Historisierung der Erzählung dienen. Erst der ‚Lange Prolog‘ (LP), der vielleicht im Umkreis des pippinischen um 763/64 gefertigten ‚100-Titel-Texts‘ der Lex Salica redigiert wurde,86 macht den Versuch einer Neuordnung des inneren Verhältnisses von Rechtsweisern und Rechtsorten. Er belässt zwar die Dreizahl der malli mit ihren zugehörigen Orten in der Reihenfolge Salehaim, Bodohaim, Uuidohaim (E14), beseitigt aber den Aro-gast des KP und ersetzt ihn durch Bodigast (während sonst die alte Reihenfolge gewahrt bleibt), so dass nun alle Erstelemente der haim-Orte Analogien im Personennamenschatz der Rechtsweiser besitzen, von denen wiederum nur Uuiso-gast ohne Partner bleibt. Dies ist ein Versuch der Systematisierung, der jedoch für die vorkarolingische Struktur der Rechtserzählung keinerlei Bedeutung haben kann. Wie alt ist die symbolische Struktur des kurzen Prologs? K.A. Eckhardt hat die Textklasse C des 65-Titel-Textes, in der KPA zuerst vorangestellt wird, dem Teilreich König Gunthrams (561–593) zugewiesen.87 Dem bräuchte man von der Struktur der Namen auf -gast her nicht zu widersprechen. Doch gesichert ist der Prolog, der die Namen enthält, erst in einem Zeitraum vor 726/27 (LHF). Er könnte auch dem 7. Jahrhundert angehören und könnte zum Vorbild jene zumeist mit der ‚Lex Baiwariorum‘ über86 87
Vgl. o. Anm. 16. Eckhardt 1954, 216–218. Vgl. Schmidt-Wiegand 1978, 1951; Dies. 2001 a, 327.
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lieferte Praefatio haben, in der König Dagobert (623–639) ein mit Hilfe der viri illustres Claudius, Chadoindus, Magnus und Agilulfus, die z. T. historisch verortet werden können, unternommenes auf die gentes des Reichs bezogenes Legislationswerk, zugeschrieben wird.88 Dann enthüllte sich der kurze Prolog auch auf diese Weise als späte Konstruktion. Ob dabei wirklich in Arogastus noch eine Reminiszenz an die bedeutenden, miteinander verwandten Franken des 4. und 5. Jahrhunderts, den magister militum Arvagast und den letzten römischen rector der Belgica Prima, den Trierer comes Arbogast, gefühlt wurde, muss offen bleiben, ist aber nicht unmöglich. Andererseits wird man nicht völlig ausschließen können, dass die Vierzahl der Rechtsweiser in der Dagobert-Praefatio, auch wenn sie an konkrete Personen anknüpfte, nach dem Prolog der ‚Lex Salica‘ modelliert wurde. Wichtig jedoch ist unabhängig davon, dass Namen auf -gast bei den östlichen Franken verbreitet waren, ja, dass sie ihrer Verbreitung nach – wie oben dargelegt – einen nordwestgermanischen und rheinischen Akzent trugen, so dass die Namen der Rechtsweiser Uuisogastus, Arogastus, Salegastus und Uuidogastus ganz spezifische Assoziationen zu erwecken vermochten.
88
Zu diesem Prolog, eigentlich einem kleinen Aufsatz (De legis inventoribus) zur Legislation, vgl. Brunner 1887, 288f. („die vier viri illustres bilden das Seitenstück zu den vier sapientes des salischen Prologs“); Krammer 1910, 465–467; Seeliger 1918, 171f.; Beyerle 1928, 367; Ders. 1929, 373–387; Ders. 1935, 14; Eckhardt 1959, 127–140; Grand 1965, 118f.; Wormald 1977, 128; Wood 1994, 116–118. Die genannten viri illustres hat man wie folgt identifiziert: Claudius ist 591 als quidam ex cancellariis regalibus am Hofe Childeberts II. zu fassen; er ist wohl identisch mit dem Romanus, der 605/06 Hausmaier Burgunds unter Theuderich wird und von Fredegar (IV, 28) als homo prudens, iocundus in fabulis, strenuus in cunctis, pacienciae deditus, plenitudinem consiliae habundans, litterum eruditus, fide plenus, amiciciam cum omnibus sectans vorgestellt wird. Chadoindus soll 613 im Auftrag der Brunichild gegen König Chlothar II. die Grenzen Austrasiens sichern (Fredegar IV, 40); 636/37 ist er unter Dagobert referendarius und Führer des burgundischen Heerbannes. Für Magnus hat man an den gleichnamigen Bischof von Straßburg (nach 614) gedacht, den der Bischofskatalog magnorum germine natus nennt. Agilulfus könnte mit dem (in romanisierter Namenform auftretenden) Bischof Ailulfus von Valence, 642 Abgesandter des burgundischen Patricius Willebad (Fredegar IV, 90) und 641/55 Briefpartner des Desiderius von Vienne, identifiziert werden. Aber natürlich ließe sich auch an ein Mitglied der mächtigen, in Austrasien (z.B. in Trier) tätigen Adelssippe der Agilulfinger denken.
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Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 81–97 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Zweigliedrige Frauennamen des langobardischen Italiens im 8. Jahrhundert
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Zweigliedrige Frauennamen des langobardischen Italiens im 8. Jahrhundert MARIA GIOVANNA ARCAMONE
0. Vorbemerkung Diese Arbeit stellt die erste Stufe einer umfassenderen Untersuchung über die Frauennamen des mittelalterlichen Italien dar. Normalerweise sind Beispiele von Frauennamen aus bekannten Gründen seltener bezeugt als solche von Männernamen. Daher sind Frauennamen im Allgemeinen kostbare Zeugnisse, um die andere Hälfte der langobardischen Gesellschaft besser kennen zu lernen. Es werden hier nur die Stämme ermittelt, die zweigliedrige Frauennamen bilden, um festzustellen, welche an erster Stelle und welche an zweiter Stelle verwendet wurden. Damit soll ein Bild der semantischen Felder der langobardischen weiblichen Anthroponymie aufgezeigt werden, um einen Vergleich mit der sonstigen weiblichen germanischen Anthroponymie zu ermöglichen. Phonetische bzw. morphologische Bemerkungen werden nur vereinzelt eingefügt. Im ersten Teil sind all die Namen verzeichnet, die dieses kleine Corpus bilden (133 ohne die Varianten), im zweiten Teil sind die Erststämme der Komposita und im dritten Teil die Zweitstämme aufgeführt. Die mit Großbuchstaben gekennzeichneten Stämme (BONU-, CLARU-, LUCE-, – ROMA-) sind lateinische Themen, die in der hybriden Komposition vorkommen. Das Corpus stellt die Frauennamen zusammen, die in den fünf Bänden des Codice Diplomatico Longobardo (= CDL), in der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus (PD) und in den Inschriften von Montesantangelo auf dem Gargano in Apulien (MSA) bezeugt sind. Im ersten Teil ist immer angegeben, wenn die Urkunde des CDL eine Kopie (K.) ist; ohne diese Kennzeichnung handelt es sich bei den Urkunden um Originale. Die Belege aus der Historia Langobardorum sind alle als Kopien zu werten, während die von Montesantangelo alle als Originale zu verstehen sind. Wenn möglich, wird auch der Ort genannt, an dem der jeweilige Frauenname bezeugt
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Maria Giovanna Arcamone
ist, um eventuell überprüfen zu können, ob Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilen Italiens bestehen, wie es zum Beispiel bei vielen langobardischen Lehnwörtern des Italienischen der Fall ist.
1. Verzeichnis der Namen Adalperga/Adelperga /e/.9 D ENE + ICVR II, 6449:8 [Carletti 1986, no. 33 (p. 135), T AV. IV, facing p. 135]. OE Dene, which is either an original byname based on the ethnonym OE Dene masc. pl. ‚(the) Danes‘ or a short form of such names as OE Deneberht, Denemund, Denew(e)ald, etc. Searle 1897, 163–164; Redin 1919, 6; Feilitzen 1937, 223. DIORN … Carletti 1986, no. 17 (p. 133), T AV. 1, facing p. 132 (misleadingly rendered by Carletti, no. 17, as Diorn[o]); Carletti 2002, 353 and Tav. XIV [Fig. 30], D IORNO j SERBUS D ( E ) I ICVR II, 6449:13 [Carletti 1986, no. 32 (p. 135), Tav. IV, facing p. 135]; Carletti 2002, 353 and Tav. XIII [Fig. 6
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Anglo-Saxon charters are cited according to Sawyer’s bibliography, where a full conspectus of editions is provided. See Nonn 1980. Pauli Historia Langobardorum, ed. L. Bethmann and G. Waitz. MGH Scriptores rerum Langobardicarum et Italicarum (Hanover, 1878) 12–187, at p. 169 note (f). For Kentish raising of /æ/ > /e/, see Campbell 1959, 122–123 [§§ 288–290].
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28]. OE De–ornoj. This name is attested in Kentish sources, cf. deornoj pr(esbyter) [witness] 811 (contemporary) S 1264 Ms. 1, 824 (contemporary) S 1266 Ms. 1, 825 for ca. 827 (contemporary) S 1436 Ms. 1, diornoj pr (esbyter) [witness] ibid Ms. 2. Searle 1897, 165. Runic + eadbald Carletti 1986, no. 8 (p. 132), T AV. 1, facing p. 132; Car– letti 2002, 353 and T AV. XIV [Fig. 30]. OE Eadb(e)ald, a name which is frequently attested. Searle 1897, 175–176; Ström 1939, 165. N ODHEAH ICVR II, 6449:28 [Carletti 1986, no. 34 (p. 135), T AV. II]. OE *Nojhe–ah. The personal name element Noj- is well attested in Kentish records, cf. the following: nojmund [witness: OE Nojmund ], nojuulf diac(onus) [witness: OE Nojwulf ] 839 (contemporary) S 287. –– nojfrejing [in the bounds of an estate at Little Chart in Kent and denoting a property belonging to a man with the unrecorded OE personal name *Nojfrij ], nojwulf (with ‚wynn‘ for !w") [witness: OE Nojwulf ] 843 (contemporary) S 293. –– nojheard pr (esbyter) [witness: OE Nojh(e)ard ] 833 × 870 (contemporary) S 1269 Ms. 1. For further examples, see Searle 1897, 359–360. P INCA Carletti 1986, no. 22 (p. 133), T AV. III. This is an original byname belonging to OE pynca m. ‚point‘. Tengvik 1938, 328. U UERNOD ICVR II, 6449:36adn [Carletti 1986, no. 1 (p. 131), T AV. II], UU / ER / NO /j ICVR II, 6449:36 [Carletti 1986, no. 14 (p. 133), Tav. I, facing p. 132; Carletti 2002, 353 and T AV. XIII (Fig. 29)]. OE (Anglian, Kentish) We–rnoj. A person bearing this name was abbot of St Augustine’s in Canterbury in the early ninth century (Kelly 1995, 209). The following orthographic and phonological features should be noted: 1. !E " in U UERNOD, U U / E / RNO /j reflects Anglian or Kentish /e:/ corresponding to West Saxon /æ:/ < North-West Germanic / a–/ < / e– 1/ (see Nielsen 1985, 126–127). 2. Although it is known sporadically from other dialects, the use of !IO " for OE /e–o/, as in D IORNO j, is characteristic of ninth-century Kentish, where it indicates the raising of the first element of the diphthong (see Campbell 1959, 125–126 [§§ 296, 297]). 3. OE /e–a/ < Germanic /au/ is contained in the second element of N OD– – HEAH . In the Anglian dialects, /ea/ before [ X ] was ‚smoothed‘ to / e/, except occasionally in some early texts, whereas the diphthong remained in West Saxon and Kentish.10 Late-eighth- and ninth-century Kentish examples of the names containing the element -he–ah include the following: OE Beornheah: Beornheah diac(onus) [witness] 843 × 863 (contemporary) S 1197. – Biarnheah pr (esbyter) [witness] 867 × 870 (contempo-
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See Campbell 1959, 93–94 [§ 222].
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rary) S 1200; OE Dægheah: D EIHEAH (moneyer of Æthelwulf of Wessex [839–858]: Smart 1981, 26); OE Deneheah: D ENEHEAH (moneyer of Berhtwulf of Mercia [840–852]: Smart 1981, 26); OE *Ecgheah: in the first component of ecgheanng lond 805 (contemporary) S 161 Ms. 1; OE Sigeheah: S IGEHEAH (moneyer of Berhtwulf of Mercia [840–852]: Smart 1981, 66); OE Tidheah: [Signum manus] Tiidheah 762 (copy, 1115 × 1124, probably shortly after 1122) S 32 Ms. 1, [Signum manus] Tidheah [witness] 765 (copy, 1115 × 1124, probably shortly after 1122) S 34. –– T IDHEAH (moneyer of Eadberht Præn [796–798]: Smart 1981, 7). The name of the moneyer D EIHEAH shows a Kentish development of OE Dæ˙g- > De˙g- (=/dej-/).11 The names of the moneyers D ENEHEAH and S IGEHEAH , who worked for the Mercian king Berhtwulf, can also be regarded as Kentish. The first of these is recorded for Berhtwulf ’s Group I and Group II,12 while the second is recorded for that king’s Group I.13 Berhtwulf ’s Group I appears to have been minted in London, but the dies for this coinage were evidently cut by the same die-cutter as Æthelwulf of Wessex’s first Rochester coinage.14 The orthography of the English names from the Cimitero di Commodilla does not present any special problems. The use of !D" and !j" for final // in DIORNO j UUERNOD and UU / ER / NO /j suggests that these names cannot be dated earlier than the middle of the eighth century.15 The form of !D " in N ODHEAH shows it to be clearly a mistake for !D". Initial !uu" for OE /w/, as in UUERNOD and UU / ER / NO /j, though characteristic of early records,16 still coexisted with ‚wynn‘ in the ninth century. For example, in S 1194, a contemporary charter of 845 recording an exchange of estates at Roxeth in Middlesex between the priest-abbot Werheard, a kinsman of the then deceased Wulfred, archbishop of Canterbury from 805 to 832, and the king’s thegn and high-reeve Werenberht, we find the names of the participants rendered as follows: uuerheardo pr [es]b[itero] 7 abb[ate] (abl.), werenberhto [with initial ‚wynn‘ for /w/] ministro regis ac praefecto (abl.), uuerenberht praefectus, vuerheardo abb[ati] (dat.) [text], uuerheard abb[as], uuerenberht [witness list]. On the basis of the linguistic evidence, the English names from the Cimitero di Commodilla are most plausibly assigned to the Kentish dialect re-
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For this development, see Brunner 1965, 177 [§ 214.2]. Smart 1981, 26. Ibid. 66. See Grierson and Blackburn 1986, 292–293. Ker (1957, xxxi) remarks that !p" and !j" were used „from s. viii, when th is sometimes written in place of them“. See Ker 1957, xxxii.
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gion and dated to c. 800. Such a dating is fully compatible with the orthography. There is also documentary evidence for Kentish pilgrimages to Rome in this period. As early as 762, one Dunwald, minister of the recently deceased Æthelberht II of Kent, bequeathed a villa near Queningate, Canterbury, to the monastery of SS Peter and Paul (St Augustine’s) in Canterbury before departing to Rome with money that was to be brought there for King Æthelberht’s soul („nunc uero pecuniam illius pro anime eius salute ad limina apostolorum Rome cum aliis perferre desiderans“).17 In the vernacular will of Æthelnoth, the reeve of Eastry, and his wife Gænburg disposing of their estate at Eythorne, a document of the period 805 × 832,18 we find the cryptic proviso that if either of the testators or both of them should „go to the south“, the bishop (i.e. Archbishop Wulfred of Canterbury) should buy the estate („gif hiora ojrum ojje bæm suj fo‘r’ gelimpe biscop jat lond gebycge suæ hie jonne geweorje“). There is also further epigraphic evidence for Anglo-Saxons in Rome. Two runic inscriptions from the crypt of SS Peter and Marcellinus in the catacomb ad duas lauros have been recently investigated by A. E. Felle (2004). The first of these has been read as a feminine personal name fag˙ hild (Felle 206–207). This name is difficult. It might be conceivable that the first element is connected with OE ˙gefæ˙g ‚popular‘, though the a-rune would then have to be emended to an æ-rune. This would seem plausible, given that the third letter is the Sternrune standing for g˙ ([ j ]). Perhaps we are concerned with a Continental Germanic name carved by an Anglo-Saxon for a female pilgrim who was illiterate. The second name, æpelferp (Felle 2004, 208, 210, 212), is much more straightforward and stands for the common Old English masculine name Æjelfrij. The development of OE -frij > -ferj is already evidenced in the latter part of the eighth century, cf. Feilitzen 1937, 82 [§ 67]. Other English names from the crypt of SS Peter and Marcellinus occur in Latin script. Examples are Ceolbert (ICVR VI, 15966B: 7) < OE Ceolbe(o)rht and folcualdus < OE Folcw(e)ald (ICVR VI, 15966A: 5). We also have N ODBERT (ICVR VI, 15979: 7) < OE Nojbe(o)rht. A further English name has been noted from the catacomb of St Panfilo, namely, Hetta pr(es)b(yter) (ICVR X, 26317: 6 [www.edb.uniba.it/find.php]). This is a Kentish side-form of *Hætta, a name attested as the first element of Cockayne Hatley in Bedfordshire ([æt] Hættanlea 975 × 1016 [contemporary] S 148719). The present article is only a preliminary survey. There is a real need to collect the onomastic and historical evidence for Anglo-Saxons on the 17 18 19
S 1182. For a full discussion of this charter, see Kelly 1995, 47–51. S 1500. For this and other examples of the same kind, see Whitelock 1950, 269–270. See Ekwall 1960, 225.
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Continent and here the epigraphic evidence is of prime importance as a contemporary source in an age when such sources are not plentiful.
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Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 115–129 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Sprachliches zum Namenverzeichnis in der Handschrift St. Paul 6/1
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Sprachliches zum Namenverzeichnis in der Handschrift St. Paul 6/1 HEINRICH TIEFENBACH
1. Einleitung. Textbefund Eine der frühesten Quellen altsächsischer Personennamen findet sich auf den beiden Schlussblättern (fol. 191v-192r) der heute im Benediktinerstift St. Paul im Lavanttal aufbewahrten Handschrift einer Collectio canonum Dionysio-Hadriana mit der Signatur Cod. 6/1 (zuvor 25.4.12, davor XXVa6).1 Der wohl auf der Reichenau niedergeschriebene Codex – K. Preisendanz bezeichnet ihn geradezu als Band I der Kanonessammlung des Karlsruher Augiensis 103 – wird paläographisch in das beginnende 9. Jahrhundert2 datiert und gelangte, ähnlich wie manche andere Reichenauer Handschrift, über St. Blasien an seinen heutigen Aufbewahrungsort in Kärnten. Das Namenverzeichnis3 stammt nach der Schrift aus etwa der gleichen Zeit wie der Hauptteil des Codex, ohne dass eine genauere paläographische Bestimmung dieses Eintrags, soweit zu sehen ist, bislang vorläge. Eine Zweckbestimmung der Namenliste wird nicht explizit genannt. Fürstabt Martin Gerbert, der die Handschrift noch in St. Blasien benutzte und das Verzeichnis erstmalig edierte,4 nahm eine inhaltliche Beziehung zu der auf fol. 190v vorausgehenden Concessio ingenuitatis an und deutete die 1
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Stiegemann/Wemhoff 1999, 327f. (mit Faksimile des Namenverzeichnisses). Ausführliche Handschriftenbeschreibung bei Preisendanz 1917, 118–121, knapp bei Holter 1969, 360; Pascher 1991. Jahrgenaue Zuweisungen wie „806 geschrieben“ (Preisendanz 1917, 118) oder „um 805/806“ (Glaßner 2007) sind aus der Datierung des Namenverzeichnisses rückprojiziert und setzen voraus, dass dessen Eintrag nahezu gleichzeitig und letztlich auch im Zusammenhang mit der Niederschrift des Kirchenrechtsbuchs erfolgte. Edition: Boretius 1883, 233f.; Boretius/Krause 1907, 539. Nach dieser Ausgabe wird zitiert, in der Regel unter Beibehaltung der dortigen Großschreibung der Eigennamen (Handschrift meist Minuskel) aber mit Wiedergabe der Graphien uu/vu und u (statt w und v) gemäß dem handschriftlichen Befund. Gerbert 1779, 112. Dort benutzte sie auch die folgende Edition von Ae. Ussermann 1790, S. LXV-LXXII, wo die Liste unter dem Titel Formula convocationis procerum Saxoniæ ad conventum Moguntinum sub Carolo M. ex msc. codici canonum sec. IX bibliothecæ S. Blasii abgedruckt ist.
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Liste als Verzeichnis der servi oder liberti, die zwecks Eintritt in den geistlichen Stand freigelassen werden sollen. Es ist freilich gar nicht sicher, dass der Binio schon immer zu dem Codex gehörte, in dem er sich heute befindet.5 Die Funktion dieser Liste ist von der nachfolgenden Forschung aufgrund einer Kombination von Beobachtungen anders gesehen worden. Die Überschrift Indiculus obsidum Saxonum Moguntiam deducendorum, die dem Stück in der Kapitularienausgabe von A. Boretius gegeben wurde und unter der es meist zitiert wird, bündelt diese Folgerungen in einem Titel, der allerdings Herausgeberzutat darstellt, aber doch vorsichtiger ist als in der Vorgängeredition von G. H. Pertz, der von einer nirgends bezeugten Vorführung vor dem Kaiser (Karl) spricht. Der Eintrag selbst beginnt (in Unzialschrift) mit DE UUESTFAŁ und fährt in der nächsten Zeile fort ISTOS RECIPIAT – HAITO EPS ET HITTO COMIS. Dann folgen in zeilenweiser Abfolge (wie in der Edition) die Nennungen in Minuskelschrift (Majuskeln nur am Zeilenbeginn). Der erste Personnenname steht im Akkusativ, wie die lateinische, vereinzelt vielleicht volkssprachige Flexion (dazu unten Abschnitt 5) zeigt, ebenso die folgende Apposition filium (in unterschiedlichen Abkürzungen, der ein Personenname im Genitiv folgt (einmal sicher volkssprachig). Das regierende Verb habuit ist meist abgekürzt (hab¯).6 Ihm folgt als Subjekt ebenfalls ein Personenname. Es hat den Anschein, als wäre in diesem Abschnitt das Subjekt des habuit nicht immer schon bei der ersten Niederschrift präsent gewesen. Dafür sprechen mehrfach größere Abstände zwischen dem Verb und dem folgenden Namen. Vor Geremannus comis ist das Verb überdies ausgelassen, und in der ersten Namenzeile Leodac fiłi Bodoloni fehlen habuit und Subjekt vollständig. Auch der zweite Abschnitt eröffnet in Unzialschrift: DE OSTFAŁ. Die nachfolgenden Namen sind in gleicher Weise wie zuvor eingetragen, nur dass diesmal die Zeilen anscheinend in einem Zug gefüllt wurden. Nachträgliche Zufügungen scheinen in einigen Fällen jedoch die Amtsträgerbezeichnungen zu sein. In zwei Fällen fehlen die Sohnesnamen, ohne dass ein Freiraum vor filium gelassen wäre. Offenbar war nicht geplant, die Namen zu ermitteln und nachzutragen.
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Boretius 1883, 233 bezeichnet das Doppelblatt als „folia duo … insuta“. Pertz, 1835, 89 nimmt an, dass die Blätter erst im 14. Jahrhundert angefügt wurden. Preisendanz 1917, 119 und 121 bezeichnet sie als „angeheftet“ und weist auf das kleinere Format und die Beschriftung von anderer Hand hin. In drei Fällen (davon einmal nur buit) ist das Verb ausgeschrieben (die Fälle mit * in den Editionen von Pertz und Boretius), so dass Zweifel an der Auflösung (Springer 2004, 211) grundlos sind.
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Auch der dritte Abschnitt eröffnet mit dem Volksnamen in Unzial– schrift: DE ANGRA. Die weitere Ordnung ist wie zuvor (einige Male scheinen die Namen der Subjekte oder deren Titel nachgetragen zu sein). Allerdings werden jetzt einmal drei und einmal zwei Sohn/Vater-Nennungen zusammengefasst und zu einem einzigen habuit-Subjekt gestellt. Der Schreiber gibt sich sichtlich Mühe, die Zweier-Nennung noch in einer einzigen Zeile unterzubringen. Bei der Dreier-Nennung hat er es gar nicht erst versucht, so dass das dritte Sohn/Vater-Paar in einer eigenen Zeile erscheint. An zwei Stellen sind Korrekturen erkennbar. Beim Namen uuilberni ist uui überzeilig nachgetragen und beim letzten Sohnesnamen uulfurichus ist ein o über das zweite u geschrieben. Etwas eingerückt wird sodann das Ergebnis der Addition der Sohnesnennungen (in Minuskel) verzeichnet: sunt in summa XXXVII. Die letzte – Zeile verwendet erneut Unzialschrift: ISTI UENIANT AD MOGONTIA – (A in Pergamentfalte) MED XŁMA (= media quadragesima). Insgesamt erweckt der Eintrag den Eindruck einer ad-hoc-Niederschrift und nicht den einer kopialen Übernahme einer kompletten Vorlage. Die Folge der Sohn/Vater-Paare scheint aber stabiler zu sein als die der habuitSubjekte, deren genaue Fixierung bisweilen erst im Laufe der Aufzeichnung erfolgt zu sein scheint. Eine separate Liste mit Sachsennamen könnte also vorausgegangen sein. Diesen Eindruck verstärkt die Zusammenfassung von Sohn/Vater-Paaren zum gleichen habuit-Subjekt erst im dritten Abschnitt, obwohl auch schon zuvor mehrfach Gelegenheit dazu gewesen wäre, etwa im Falle von Bischof Aino/Egeno von Konstanz, dem im Westfalenteil zwei Nennungen zugeordnet sind (ferner je eine im Ostfalen- und im Engern-Abschnitt), oder im Falle des Richoin,7 bei dem die Posten direkt aufeinander folgen. Auch die Nennungen bei den Grafen Wulfald (drei) und Bertald (zwei) im Ostfalenteil sind nicht kombiniert worden. Keine Zusammenfassungen wurden ferner über die Abschnittsgrenzen hinweg vorgenommen, wie etwa die zu Bischof Sin(d)bert von Augsburg und Abt Waldo genannten Namen zeigen, die je einmal im Ostfalen- und im Engernabschnitt auftreten. Zweimal fehlt ein Sohnesname, ohne dass ein Nachtragsplatz eingeplant wurde. Daraus ist zu schließen, dass der Vatersname genügte.
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Trotz fehlendem Titel vielleicht ebenfalls ein Graf, wie Borgolte 1986, 206–209 annimmt.
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2. Zur historischen Einordnung Die Schlussfolgerung, dass es sich bei dieser Liste um ein Verzeichnis von Geiseln handelt, die aus Westfalen, Ostfalen und Engern im Laufe der Sachsenkriege Karls des Großen als Gewährbürgen bei unterschiedlichen kirchlichen und weltlichen Amtsträgern des Frankenreichs interniert waren, ist heute Allgemeingut. Sie beruht auf den nachstehenden Erwägungen. Diejenigen, die mit der Geiselstellung verpflichtet werden sollten, waren die Väter und Familien der Internierten. Der im Quellentext genannte Zweck der Aufstellung ist es, diejenigen zu nennen, die Bischof Haito von Basel und Graf Hitto (Graf im Bereich der Alaholfsbaar8) entgegennehmen sollen, und zwar zu Mittfasten (vermutlich im Jahr der Niederschrift der Liste) in Mainz. Das gilt so freilich nur unter der Voraussetzung, dass der Satz der letzten Zeile den Abschluss der Liste und nicht etwa den Auftakt zu einer neuen, nicht erhaltenen darstellt. Die Datierungen für dieses Ereignis in der historischen Literatur schwanken.9 Die eingrenzenden Daten sind durch die Amtsträger Bischof Haito und Abt Waldo gegeben, beides einflussreiche und an vielen Maßnahmen der Politik Karls des Großen beteiligte Akteure. Bischof Haito von Basel10 ist vielleicht schon im Jahre 802 ins Amt gekommen, in dem er im Dezember 805 sicher belegt ist. Bereits im Jahre 806 übernahm er in der Nachfolge Waldos auch dessen Funktion als Abt der Reichenau, die dieser seit dem Jahre 786 innehatte, bevor er a. 806 nach St. Denis wechselte. So ist der Zeitraum 802/803 bis 806 der Abschnitt, in dem die Liste ihren Platz hat. In diesen Zeitrahmen passen auch die anderen Amtsträger. Sie alle sind offenbar dem alemannischen Raum zuzuordnen, so dass die Liste bezüglich der Geiseln anscheinend nur einen bestimmten regionalen Ausschnitt wiedergibt. Zeitgenössische und spätere Zeugnisse belegen, dass auch anderweitig sächsische Geiseln in Gewahrsam gehalten wurden.11 Welchen Zweck eine Zusammenführung der ‚alemannischen‘ Geiseln hatte, wird aus der Aufzeichnung nicht deutlich. Dass sie sich in Mainz „zur Rückkehr zu ihren Familien versammeln sollten“,12 ist ebenso ungewiss wie 8
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Borgolte 1986, 144f.; hier auch (s. v.) zu den anderen Grafen, die sämtlich in Alemannien verortet werden. Eingehend dazu schon von Simson 1907, 37–42. Man vergleiche die Erörterungen bei Böhmer/Mühlbacher Nr. 410 (dort zum Frühjahr 805) oder Zoepfl/Volkert Nr. 18 (dort zum Februar 806). Die nachfolgenden Daten nach Helvetia sacra I,1, 164f.; III,1,2, 1069f.; Rappmann/Zettler 1998, 295f. Zu Waldo: Munding 1924, besonders 32 Anm. 50; 67 Anm. 130; 89. Die Belege bei Abel/Simson 1883, 306f. Freise 1983, 287, mit Datierung 803/804.
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die Vermutung, dass ein Zusammenhang mit der Reichsteilung vom Februar 806 besteht. Immerhin ist in deren Bestimmungen auch die Rede von den obsidibus autem qui propter credentias dati sunt et a nobis per diversa loca ad custodiendum destinati sunt.13 Das zeigt zumindest, dass die Frage zu dieser Zeit weiterhin aktuell war. Im Zusammenhang der dort getroffenen Bestimmung, dass der Herrscher des einen Reichsteils die Rückkehr der Geiseln in ihre Heimat (in patriam) nur mit der Genehmigung desjenigen Bruders erlauben darf, aus dessen Reichsteil sie genommen sind, wird die ‚raumbezogene‘ Zusammenstellung der Liste verständlicher, auch wenn dann die Divisio imperii selbst durch den Tod der Kaisersöhne Karl und Pippin gegenstandslos wurde. Das Gewicht der Parallele relativiert sich freilich dadurch, dass die Bestimmung noch einmal im gleichen Wortlaut in der Reichsteilung vom Jahre 831 erscheint (c. 9),14 wodurch deutlich wird, dass sich obsides keineswegs ausschließlich auf Sachsen beziehen müssen.
3. Zum Konsonantismus der Namen Zur Sprachform der Namen liegen bisher nur die knappen Bemerkungen W. Schlaugs vor, mit denen sich dieser Beitrag daher vornehmlich auseinander zu setzen hat. W. Schlaug bezieht sich bei seiner Analyse mehrfach15 auf einen Mainzer Schreiber und dessen Dialekt, anscheinend unter dem Eindruck des Ortes der Zusammenführung der Geiseln, denn die von ihm zur Stütze aufgeführten Formen Ruadhartus und Fridileih sprechen keineswegs ohne weiteres für Mainz. Die Zuweisung wird zu überprüfen sein (Abschnitt 5). Auch die Aussage „Das Sächsische scheint nur gelegentlich durch“16 ist merklich zu modifizieren. W. Schlaug nennt als Beleg allein Sidugath, bei dem a < germ. /au/ im Zweitglied zur ostfälischen Heimat des Namenträgers stimmt.17 Die Wiedergabe des auslautenden germ. /t/ mit !th" ist ungewöhnlich, wenn auch nicht unmöglich.18 Bei dem lateinisch flektierten Megitodi greift der Schreiber sogar zu !d", wobei ‚Schreiber‘ im Zusammenhang der vorliegenden Studie denjenigen meint, auf den die orthographische Fixierung der Namen zurückgeht und der nicht notwendig mit dem Hersteller der überkommenen Niederschrift identisch sein muss. Unverschobene Tenues zeigt ferner Leodac, bei dem sächsisches 13 14 15 16 17 18
Boretius 1883, 129 (c. 13). Boretius/Krause 1907, 22f. Zur Erscheinung der Geiselstellung insgesamt Kosto 2002. Schlaug 1962, 34, 40, 185. Schlaug 1962, 34. Das Erstglied gehört (entgegen Schlaug 1962, 155) zu as. sidu ‚Sitte‘. Gallée 1993, § 173.1.
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k-Suffix vorliegt, nicht zweigliedriges Kompositum mit Grundwort -dag, wie W. Schlaug annimmt.19 In welcher Weise er dergleichen wiedergibt, zeigt der Schreiber bei Danctagi. Im Falle von Leodac widerspricht der Deutung als Kompositum außer dem !d" auch noch der Haupttonvokal, wie sämtliche in W. Schlaugs Lexikon verzeichneten Liuddag-Komposita beweisen. Dagegen setzt !eo" einen Folgevokal voraus, wie er im Bindevokal des -ac-Suffixes auftritt. Eine sächsische Eigentümlichkeit zeigt weiterhin Osmanni, in dessen Os< Ans- das ‚Nasalspirantengesetz‘ wirksam ist.20 Bei Ansbertus comis gibt der Schreiber das entsprechende Namenglied korrekt in hochdeutscher Form wieder. Für sächsische Formen wird man auch die durch Palatalisierung vokalisierten g halten dürfen, wie sie intervokalisch in Main(gis) und Si(eri) auftreten. Die Belege sind die frühesten Bezeugungen für diese Erscheinung im Sächsischen.21 Dergleichen ist im Althochdeutschen zu Beginn des 9. Jahrhunderts nicht üblich, wo sich -ei- < -egi- erst im Alemannischen des 10./11. Jahrhunderts zeigt.22 Bei dem lateinisch flektierten Genitiv Sieri ist überdies mit dem Zweitglied -ger (us) zu rechnen, dessen Anlaut bei Palatalisierung als i- erscheinen kann und bei dem Beleg der Liste mit Si- verschmolzen ist. Die gleiche Erscheinung zeigt die Graphie Sier in den Corveyer Traditionen.23 W. Schlaug deutet das Zweitglied dagegen als -heri,24 was nicht mit Gewissheit auszuschließen ist. Ähnliches gilt für Vulferi. Eine sächsische Form, die aus dieser Palatalisierung erwachsen ist, liegt ferner in Gerimfrid vor, das W. Schlaug zu Recht, aber kommentarlos, zu Irmin- stellt.25 Durch den Frikativcharakter des g können sich, besonders im Anlaut, die Wiedergaben von i-/e- und gi-/ge- bzw. ji-/je- vermischen, so dass Schreibungen wie Girminburg 26 einerseits oder i-Schreibungen für das Präfix gi-/ge-27 andererseits hierin ihren Ursprung haben. Eigentümlich ist der intervokalische Schwund von germ. /b ¯ / in Eruin, falls man es mit W. Schlaug zum gut bezeugten Namen Euurwin/Euerwin28 stellt. Er nennt als Parallele den bei Thietmar (I,5) erwähnten Schwiegervater König Heinrichs I., den Merseburger Grafen Eruinus. In jüngeren Quel19 20
21 22 23 24 25 26 27 28
Schlaug 1962, 125. Hierher könnten noch Suithardi, Suigaut gehören, doch sind das auch hochdeutsch mögliche Schreibungen; zum Problem Geuenich 1976, 177f. Gallée 1993, § 67, nennt als älteste solche aus der Mitte des 10. Jahrhunderts. Braune/Reiffenstein 2004, § 149 Anm. 5a. Honselmann 1982, Nr. 2/226. Schlaug 1962, 151. Schlaug 1962, 120. Honselmann 1982, Nr. 295/5. Gallée 1993, § 148.11. Schlaug 1962, 82.
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len werden Er-Schreibungen für dieses Namenglied häufiger,29 so dass man an ein sprechsprachlich vermitteltes Zeugnis denken könnte. Sächsisch ist weiterhin der Schwund und die Assimilation silbenauslautender Dentale, wie er auch sonst in Texten und Namen aus Sachsen bezeugt ist.30 Das könnte in Suigaut (~ Suithardi ) vorliegen. Auch in Rano aus *Rando liegt wohl Schwund aus Assimilation vor.31 Möglicherweise ist Crailinc ebenfalls so zu erklären. W. Schlaug32 nimmt hier Metathese an und erwägt Umlautbezeichnung (also *Kerling ), wobei insbesondere die zuletzt genannte Erklärung recht unwahrscheinlich ist. Fasst man hingegen mit H. Kaufmann33 Cr- als Graphie für Hr- auf, so könnte eine -ling-Suffigierung zum Namenwort *hraid- vorliegen,34 dessen Auslautdental assimiliert wurde. Bei !ai" kann es sich um eine altertümliche Graphie für den später zu e– monophthongierten Diphthong handelt. Mit dieser Schreibung rechnet W. Schlaug jedenfalls bei Aicharh, wo das Zweitglied seiner Ansicht nach aus -hard verderbt ist.35 Eine andere Möglichkeit bietet sich, wenn man von einer Verwechslung der Buchstaben n und h ausgeht, die dem Schreiber (in umgekehrter Richtung) auch bei Ermamenarii (statt -harii) unterlaufen ist. Die Form *Aic-harn (a < germ. /au/) stellte einen Beinamen dar und wäre zugleich der älteste sächsische Beleg für das Eichhorn.36 Diese Deutung impliziert ferner, dass der Schreiber nach einer schriftlichen Vorlage gearbeitet hat.
4. Zum Vokalismus. Morphologisches. Lexikalisches Nicht allzu ergiebig ist der Vokalismus. Irrig ist W. Schlaugs Ansicht, Hernaldum, dessen Erstglied er wohl zu Recht zu Arn- stellt, zeige „altfranzösischen dialektischen Übergang ar > er “.37 Vielmehr handelt es sich um die im Sächsischen gut bezeugte Aufhellung a > e vor Liquid.38 Hier kann man die Schreibungen !e, æ" in Thetmær, Fredred anreihen, die für den Langvokal39 29 30 31 32
33 34 35 36 37 38 39
Belege bei Schlaug 1955, 87. Gallée 1993, § 267 (t ), 274 (d, Assimilation). Mit Schlaug 1962, 144. Schlaug 1962, 68. Hierher stellt er auch Craling in anderen Quellen, doch ist das eher als Beiname ‚Fettkloß‘ (zu ahd. kra–ling ) zu verstehen. Kaufmann 1968, 85. Die *hrop-Namen der Geiselliste haben alle R-. Zu einem Frühbeleg dieses Namenwortes in Sachsen Tiefenbach 2002, 288. Schlaug 1962, 39f. Müller 1970 bietet keine Parallelen. Schlaug 1962, 34. Zur Erscheinung zuletzt Krogh 1996, 147, mit weiterer Literatur. Krogh 1996, 152ff.
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neben den gewöhnlichen !a" in -mar, -rad erscheinen. Auch die Graphie Vulf- ist gut sächsisch, kommt aber ebenfalls bei den nichtsächsischen Namenträgern vor (einmal dort Uuolfoltus). Das überschriebene o bei Uulfurichum sollte den Namen vielleicht in Richtung auf eine vertrautere Graphie verändern. In diesem Namen ist !fu" möglicherweise nur die graphische Kombination zweier Auslautvarianten, falls nicht ein Zeugnis für namenrhythmische Zweisilbigkeit des Erstglieds anzunehmen ist, wie sie auch für Ricohardum 40 erwogen werden kann. Anregungen dazu könnten durch den Namen des Hl. Rigobert, Bischof von Reims, gekommen sein. Hinsichtlich der Wortbildung ist das -st-Suffix im lateinisch flektierten Genitiv Attosti bemerkenswert. In stark flektierter Form scheint es eine spezifisch sächsisch verwendete Bildungsweise zu sein. Starke Flexion des Kurznamens war auch bei Leodac zu konstatieren. Die Kurznamen zeigen sonst alle schwache Flexion mit Ausgang -o, wobei die Sachsennamen stets lateinische Obliquusform haben. Lexikalisch ist der Name Baldricum bemerkenswert. Erstglied Bald- ist in sächsischen Namen extrem selten. Der Namenträger könnte, zumal in der vorliegenden Kombination, in das Umfeld der späteren Bischöfe von Utrecht gehören. Bemerkenswert ist auch der Name Macrinum. Dass eine engrische Geisel um 800 einen lateinischen Namen tragen sollte, hält W. Schlaug zu Recht für „auffällig“41 und denkt, auch wegen des Vatersnamens (Megitodi ), an die Umgestaltung eines Magin-Namens durch den Schreiber. Leider macht er keine geeignete volkssprachige Grundlage namhaft. Denkbar wäre ein Beiname, der als Ableitung von *magr- ‚mager, schmächtig‘ erklärbar wäre, doch entfällt in diesem Fall das Vaternamen-Argument. Dass bei der Namengebung, soweit die bloßen Sohn/Vater-Nennungen einen Einblick gewähren, der Typ mit gleichem Grundwort der weitaus häufigste ist, ist bereits beachtet worden.42 Er betrifft (mit Einrechnung von Ditmannum – Osmanni) zehn der 35 genannten Paarungen (von insgesamt 37, zweimal ist der Sohn nicht genannt), also fast dreißig Prozent. Die Bin40
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Dass es sich bei diesem Namenträger um den Richart handelt, der mit seinem Bruder Richolf von seinen sächsischen Verwandten causa christianitatis vertrieben wurde und später in die von Karl dem Großen angeordnete transmigratio de Saxonia einbezogen wurde, ist aus onomastischer Sicht durchaus möglich. Vom Schicksal der Familie berichtet der Sohn des Richart in einer Bittschrift an Ludwig den Frommen (Dümmler 1899, 300f.; Abel/Simson 1883, 307 Anm. 3). Das Beispiel zeigt überdies, dass die Vergeiselung nicht auf strikte Gegner des Frankenkönigs beschränkt sein musste. Schlaug 1962, 185. Er spricht von einem Heiligennamen, was aber nur für weibliches Macrina zu gelten scheint. Macrinus ist im römischen Reich häufiges cognomen; am bekanntesten ist vielleicht der Kaiser M. Opellius Macrinus. Auch bei Namenträgern in Gallien ist Macrinus zu belegen (Forcellini 1965, 168). Wenskus 1976, 47f.
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dung durch gleiches Erstglied erscheint, wenn man Macrinum – Megitodi beiseite lässt, nur einmal (Eriuuardum – Herigildi), ebenso die Stabbindung (Odonem – Emmoni). Unter lexikalischem Aspekt ist bei den nichtsächsischen Namen noch Sciltung hervorzuheben. Für den durch die Heldensage berühmten Namen verzeichnet E. Förstemann allein den hier behandelten Beleg.43 Aus räumlichen Gründen könnte man für den Namenträger einen Bezug zu (Straßburg-)Schiltigheim erwägen, für das ein Erstbeleg aus einem verlorenen Original Karls III. (D. 101) a. 884 Scildincheim vorliegt.
5. Flexion. Althochdeutsches Die Sohn-Akkusative und die Vater-Genitive sind, wenn überhaupt, nahezu ausschließlich lateinisch flektiert. Auffällig ist es, dass die Vater-Genitive häufiger ohne Flexionszeichen erscheinen (Typ filium Thetmær), wie das etwa bei den Zeugenunterschriften des zeitnahen Werdener Chartulars, aber auch anderweitig zu beobachten ist. In einigen Fällen (nur im Engern-Teil) ist die Möglichkeit volkssprachiger Flexion zu erörtern. Sicher ist eine volkssprachige Form beim Genitiv Singular Eoriches. Ferner könnten Bunun, Hittun volkssprachige Akkusative zu Buno, Hitto sein, aber auch Bildungen mit Kurznamensuffix -un, was W. Schlaug bei Hittun annimmt, bei Bunun hingegen nicht.44 Würde es sich um volkssprachige Akkusative handeln, ergäbe sich aus ihnen ein klarer sprachgeographischer Hinweis, denn -un ist nur im Oberdeutschen üblich, fränkisch müsste das Flexionszeichen -on lauten (altsächsisch -on oder -an). Spätere Überlegungen werden wahrscheinlich machen, dass es sich in beiden Fällen wohl um Kurzformsuffixe handeln wird. Eine althochdeutsche Überformung der Namen ist vor allem im graphematisch/phonologischen Bereich erkennbar. Genannt seien nur einige wichtige Züge. Dabei bleibt zu beachten, dass mit der Latinisierung in vielen Fällen Traditionsgraphien erscheinen, die keine genaue sprachgeographische Zuweisung erlauben. So etwa kann das (nur als Zweitglied verwendete) Namenglied *gaut in Adalgaudum, Suigaut nicht ohne weiteres als Zeugnis unterlassener Monophthongierung gewertet werden, weil es einer gängigen Tradition folgt. Dahingegen besitzt das schon genannte Sidugath als Abweichung von dieser Tradition durchaus Zeugniswert, was auch für hochdeutsches -goz gelten würde, wenn es vorkäme. Aber die althochdeut43 44
Förstemann 1966, 1307. Schlaug 1962, 110 und 66.
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sche Graphie !z" erscheint hier nirgends, wohl aber (im Bereich der Tenuesverschiebung) Zeugnisse für verschobene -k-: Fridileih (mit auch althochdeutschem Vokalismus), Eoriches, Uulfurichum, daneben Baldricum, das lateinischem (und altsächsischem) Gebrauch entspricht. Im Falle der Latinisierung verwendet der Schreiber diese Graphie ebenso bei nichtsächsischen Namenträgern (Audracus,45 Unrocus). Bei der Medienverschiebung sind die Graphien b, d und g von den traditionellen Lateinschreibungen geprägt, die hier auch zur altsächsischen Grundlage stimmen. Fälle wie Alt(bertum), (Danc)tagi, (Ruad)hartum, Liut(heri), (Uuar)munti (~ Fridamundum), Uuit(radi), Theot-/Thet-/Dit-/Tit- (nur einmal Theodoar) zeigen aber wohl deutlich, was dem Schreiber in der Volkssprache geläufig war. Nur mit Schreibung !c" im Auslaut tritt -(l)inc auf (Benninc, Crailinc, daneben latinisiert Uuaningus für einen Nicht-Sachsen). Oberdeutsche !k,c" für germ. /g–/ oder !p" für germ. /b ¯ / kommt weder bei Sachsen noch Nicht-Sachsen vor. Einen besonderen Blick verdient die Behandlung von germ. /p/ und hier speziell das Namenglied *peud-o-. Nur bei diesem Erstglied zeigt die Quelle, wohl als Traditionsschreibung, anlautendes !th", freilich nicht durchgehend. Auffällig, auch im Vokalismus, sind die Schreibungen Ditmannum, Titbaldum. In allen sonstigen Fällen wird !d" geschrieben, wo germ. /p/ vorliegt, im Auslaut vereinzelt auch -t (Rot-geri, Suit-hardi), in der Gemination -tt- (Attosti, H&ti ). Recht altertümlich ist die Vokalschreibung von Theot(aker), Theod(oar) (daneben Thetmær), die aber im frühen 9. Jahrhundert im Althochdeutschen noch anzutreffen ist.46 Aufschlüsse über die Heimat des Schreibers könnten sich aus der Behandlung von germ. /o/ ergeben. Schreibung !o" stimmt zur sächsischen Grundlage (Megitodi, Rotgeri ). Einmal verwendet der Schreiber in Ruadhartum eine regionaltypische Graphie, möglicherweise beflügelt durch den Namen dessen, der diese Geisel im Gewahrsam hatte und das gleiche Erstglied aufweist (Ruadhari ). Graphie !ua" ist um 800 eindeutig dem Alemannischen oder dem angrenzenden Rheinfränkischen zuzuordnen.47 Bei der Entscheidung über diese beiden Alternativen muss das Alemannische wohl mangels positiver weiterer Indizien ausgeschlossen werden. Zwar findet sich unter den Nicht-Sachsen ein Reccho mit oberdeutscher Affrikatenschreibung. Wenn aber die methodische Forderung gilt, dass eine 45
46 47
Das Zweitglied zu -wrak, nicht wie Förstemann 1966, 199 annimmt, Verschreibung aus -ratus. Braune/Reiffenstein 2004, § 48, dort (Anm. 3) auch zum Auftreten von e– und i. Braune/Reiffenstein 2004, § 39.
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regionaltypische althochdeutsche Graphie bei einem sächsischen Namen auftreten muss, weil nur ein solcher Eingriff schreiberspezifische Rückschlüsse erlaubt, muss anderes den Ausschlag geben. Das bei der Medienverschiebung gewonnene Bild spricht jedenfalls deutlich gegen das Alemannische, übrigens auch im Fall der Namen der Nicht-Sachsen. Die bei der Verschiebung von germ. /d/ erkennbaren Tendenzen führen in Kombination mit ua in den südlichen rheinfränkischen Raum. Gegen eine Zuweisung etwa an das gut dokumentierte Weißenburg im Elsass spricht allerdings die Graphie t- in (Danc)tagi (neben Dodonem der einzige Fall für germ. /d/ im Anlaut im Material), die dort sehr ungewöhnlich wäre, denn ein zum eigenen Usus stimmendes sächsisches *-dagi hätte man dort schwerlich geändert.
6. Romanisches „Die Namen stehen in westfränkischer Tradition: Audradus, Adalgaudus, Fredegarius, Egloin etc.“.48 Eine kurze Betrachtung verdient noch dieser von W. Schlaug zu Recht herausgehobene Bezug zur Romania. Nicht immer ist freilich leicht zu unterscheiden, was der lateinisch/romanischen Schreibtradition insgesamt angehört und was direkt romanischen Spracheinfluss verrät. Die orthographische Beibehaltung von germ. /au/ vor Dental gehört, gerade bei den genannten Namengliedern, einer solchen Tradition an. Auch Frede- ist eine lateinisch/romanische Traditionsschreibung. Der Wechsel von i und e in den altsächsischen Namengliedern Frithu- ~ Frethu- ist dort jedoch auch ohne romanischen Einfluss zu beobachten.49 Gleichfalls schon merowingerzeitlicher Schreibtradition entstammt die Graphie !o" für Zweitgliedanlaut w-50 in Egl-oin und Theod-oar.51 Sie tritt auch für nichtsächsische Namenträger auf (Richoinus, Ripoinus). Die recht zahlreichen w- im absoluten Anlaut in der gesamten Liste zeigen jedoch keine Spur romanischer Graphien. Eigentümlicherweise erwähnt W. Schlaug in diesem Zusammenhang keinen der Fälle von h-Prothese (Hernaldum, Hisi) und h-Aphärese (Brunardi, Gerardum, Eriuuardum), die für ein so geringes Material doch eine stattliche Ausbeute darstellen und keine sächsischen Residua sein können. Im Falle 48 49 50 51
Schlaug 1962, 34. Man vergleiche die bei Schlaug 1962, 87–89 verzeichneten Schreibungen. Braune/Reiffenstein 2004, § 105 Anm. 3. Das Namenglied ist gegen Schlaug 1962, 164 zu war, nicht zu ward zu stellen. Er scheint alle -war-Namen für Feminina zu halten. Hingegen nennt Förstemann 1966, 1532 auch Maskulina und stellt den vorliegenden Beleg Theodoar zu Recht hierher (1451).
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von Eriualdus ist auch ein Nicht-Sachse betroffen. Gleichfalls hier genannt werden könnten die Fälle der Vertauschung von n und h, die zu den sehr wenigen Schreibfehlern gehören. Aus allen diesen Beobachtungen nährt sich die Vermutung, dass Schreiber oder Redaktor dem Schreibgebrauch der Romania nicht allzu fern gestanden haben werden.
7. Conclusio Im Ergebnis stellt sich die Erstellung des Verzeichnisses wie folgt dar. Die erhaltene Niederschrift geht von einer Liste von Namen aus, die wohl erst im Zuge der vorliegenden Niederschrift in ihre endgültige Gestalt gebracht wurde. Der für die sprachliche Form der Namen verantwortliche Redaktor, sei er nun mit dem Schreiber der erhaltenen Niederschrift identisch oder nicht, hat für die sächsischen Namen eine orthographische Form gewählt, die zwar vielfach die sächsische Sprachgestalt noch gut erkennen lässt, bei der aber auch seine Eigensprache zum Vorschein kommt. Ähnliches gilt zum Teil offenbar auch für die alemannischen Namen. Seine Behandlung der Medienverschiebung bietet ausreichend viele Fälle, um ihn als einen Franken zu identifizieren und das Alemannische (und Bairische) sicher auszuscheiden. Innerhalb des Fränkischen kommt nur das Mittelfränkische sicher nicht in Frage. Wenn die unter den Sachsennamen einmal belegte ua-Schreibung ein belastbares Indiz wäre, würde sie am ehesten auf das Rheinfränkische weisen. Doch könnte es sich auch um eine bloße ‚Echoform‘ handeln. Damit bleibt ein zwar begrenzter, aber doch recht weiter Spielraum, der sich vergrößert, wenn man bedenkt, dass ‚fränkisch‘ um das Jahr 800 auch für Regionen anzunehmen ist, die im Laufe der Sprachgeschichte aus dem Verband der germanischen Sprachen ausgeschieden sind. Das bleibt auch deswegen zu beachten, weil die Indizien für einen Schreiber/Redaktor aus einer romanisch-germanischen Kontaktzone recht gewichtig sind. Für das Sächsische bietet die Liste einige Frühbelege für Erscheinungen, die in autochthon sächsischen Quellen erst wesentlich später bezeugt sind. Es liegt nahe, die Ursache dafür in der mündlichen Vermittlung der Sachsennamen zu sehen.
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Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 131–167 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Zum Namen des Drachentöters. Siegfried – Sigurd – Sigmund – Ragnar
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Zum Namen des Drachentöters. Siegfried – Sigurd – Sigmund – Ragnar HERMANN REICHERT
Von den Drachentötern mittelalterlicher Literatur stehen Siegfried / Sigurd, Sigmund und Ragnar Lodbrok in manchen Quellen in engerer Beziehung zueinander: sagenhistorisch, in der genealogischen Zusammengehörigkeit, und sprachlich, betreffend die Verbreitung der von ihnen getragenen Namen. Der Fragenkomplex um ihre Namen gliedert sich in: 1. die Vorgeschichte der Namen bzw. der beiden Elemente der zweigliedrigen Namen, mit denen der Drachentöter benannt wird. Insbesondere die Herkunft des Namens ‚Siegfried‘ wird im Zusammenhang mit der Frage diskutiert, ob sich mit seiner Hilfe die Entstehung der Sagenfigur ‚Siegfried‘ stammesmäßig oder zeitlich eingrenzen ließe; 2. der anscheinend unbegründete Wechsel der Namenformen ‚Siegfried‘ und ‚Sigurd‘; 3. die genealogische Verbindung von Siegfried / Sigurd, Sigmund und Ragnar. In welchem zeitlichen Verhältnis steht der Wechsel der Namensformen zur Entwicklung der Sagen?
1. Die Namen und ihre Elemente Zur Bewertung der Häufigkeit von Namen ist die Überlieferungssituation zu beachten: Bis zu Ammianus Marcellinus ist die Überlieferung altgermanischer Personennamen dünn. Für das 2. und 3. Jahrhundert zusammen werden weniger Germanen namentlich genannt als Namenelemente für das 6. Jahrhundert belegt sind; es ist unmöglich, dass jedes existierende Namenelement, geschweige denn jede zweigliedrige Kombination, einmal belegt wäre. Aber ein paar Dutzend germanische Personennamen sind auch für das 2. und 3. Jahrhundert belegt, und wenn sich in ihnen ein Element nicht findet, ist anzunehmen, dass es nicht zu den häufigen zählte. Ab dem 6. Jahrhundert nimmt die Namenmenge stark zu, doch nicht für alle Teile
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der Germania gleich. Aus den Gebieten, die im 6. Jahrhundert im Gesichtskreis der römisch-griechischen Kultur waren, und noch mehr, die ab Gregor von Tours ins Gesichtsfeld des Frankenreiches kamen, sind so große Namenmassen belegt, dass wir sicher sein können, alle dort existierenden germanischen Namenelemente zu kennen und wohl auch so ziemlich alle tatsächlich in zweigliedrigen Namen benutzten Kombinationen. Spärlich bleibt das Material in Britannien bis 700; wenn dort ein Name erst dann auftritt, sagt es nichts darüber, ob er dort schon vorher in Gebrauch war. Ganz schlecht steht es um altsächsisches Material vor 800. Noch länger blieb die Überlieferung von Namen von Skandinaviern spärlich. Mit verlässlichen Zahlen über belegte nordgermanische Personennamen kann man nicht aufwarten, da von vielen Inschriften im älteren Futhark weder feststellbar ist, ob die Träger etwa darauf genannter Namen Nordgermanen waren, noch, ob Personennamen oder andere Wortgattungen vorliegen. Aber wahrscheinlich lässt sich sagen, dass die Gesamtzahl der überlieferten nordgermanischen Personennamen bis ca. 700 unter 50 liegt, die meisten belegten Namenelemente nur einmal belegt sind und häufig, nämlich viermal oder sogar öfter, nur germ. *harja ‚Heer‘ und *re–d / ra–d ‚Rat, Rater, Herrscher‘ auftreten.1 Segis*Seg- ‚Sieg‘ findet sich im Germanischen bereits um Chr. bei den Cheruskern und ist auch im Keltischen ein gut belegtes Namenelement (Sego-). So klar die Semantik ist, wirft die Lautgestalt der Namen teilweise unbeantwortbare Fragen auf: 1. Wann germ. *segis- und wann *segu- anzusetzen ist, ist ungeklärt, doch spricht einiges dafür, im Appellativ urgerm. *segis- anzusetzen.2 Got. sigis ‚Sieg‘ ist neutraler s-Stamm. Ahd. sigu gehört (neben -i ) zu den üblichen ahd. Ersatzbildungen für die alten s-Stämme.3 Ein namenkundliches Indiz für appellativisches *sigis- bietet nur der eingliedrige, suffigierte Namen Segestes, dessen Strukturierung allerdings nicht eindeutig ist: die Ansicht, es handle sich um einen s-Stamm mit t-Suffix, bringt die wenigsten Schwierigkeiten mit sich,4 doch kann man ein st-Suffix nicht ausschließen.5 1
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Peterson 2004 [58] nimmt 96 Belege aus älteren Runeninschriften auf, von denen sie viele als zweifelhaft bezeichnet; diese Maximalzahl kann man nicht zum Ausgangspunkt nehmen. Reichert 2005a [62]. Braune 2004 [33] § 220 c, Anm. 5. Auch Haubrichs 2000 [38] 184 nimmt ein -t-Suffix an. Reichert 2005a [62].
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2. Der Stammvokal e der cheruskischen Namen entspricht dem idg. Lautstand, wie er für das Germanische vor dem Eintreten des urgerm. i-Umlauts (von e zu i vor i der Folgesilbe) anzusetzen ist; im Keltischen ist idg. e als solches weiterhin erhalten.6 Die Verteilung der e/i-Schreibungen ist: Strabon: immer Seg-; in «, « (und eventuell, falls dies Fehlschreibung für * - sein sollte, «) Velleius Paterculus: Seg- (/ Sig-); in Segestes, Sigimerus. Tacitus: immer Seg-; in Segestes, Segimerus, Segimundus Cassius Dio: «, für lat. Seg- (unwahrscheinlich für Sig-) Das i in einem Beleg bei Velleius Paterculus ist nicht als Zeuge für urgermanischen i-Umlaut belastbar: Velleius war zwar bestinformierter Zeitgenosse, aber von der einzigen zur Zeit der Erstausgabe (1520) vorhandenen Handschrift ist nur bekannt, dass aus ihr die Vorlage für den Erstdruck sehr unsorgfältig abgeschrieben wurde. Das Graphem bei Cassius Dio wäre etwas früh für durch ‚Itazismus‘ (neugriechische Aussprache des als i) bedingte Wiedergabe von germ. i; da keine sichere alte Schreibung mit lat. i belegt ist, wäre eine solche Annahme unwahrscheinlich. Wahrscheinlich liegt allen Belegen germ. e zu Grunde. Das Namenelement Seg- verschwindet dann. Der auch unten bei -fred zu besprechende Servofredus von ca. 80 n. Chr. hieß so, und nicht † Segufredus. Die Inschrift lautet Imerix Servofredi f(ilius) Batavos eq(ues) ala(e) Hispano(rum).7 Das Foto zeigt, wie sorgfältig sie ausgeführt ist; da lässt sich kaum ein Irrtum des Steinmetzen annehmen. Erst ab ca. 415 erscheint Sig- wieder, in Namen von Ostgermanen, beginnend mit dem Westgotenkönig Sigericus.8 Da vor 400 die Kontakte der Antike mit Ostgermanen gering waren und auch ab 375 zunächst außer den Völkernamen wie ‚Goten‘ und ‚Wandalen‘ nur die Namen weniger Häuptlinge überliefert wurden, könnten die Sig-Namen im Ostgermanischen auch vorher bestanden haben. In England treten Sig-Namen schon in den ältesten im Original erhaltenen Urkunden (ab ca. a. 680) auf. Im Altsächsischen sind vom späten Beginn der Überlieferung an (um 800) viele Sigi-Namen mit einer großen Va6 7
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zur e/i-Frage Lit. bei Nedoma 2004 [56] s.v. Segalo, 403 f. Burnum (jetzt im archäologischen Museum Zadar). Datierung nach L’Année Épigraphique 1971, Nr. 299. Abbildung aus: Zˇelko Rakni´c, Dvojni epigrafiˇcki spomenik iz Burnuma. In: Diadora 3 (1965), 71–84, hier: Tafel 1. Für die Besorgung der Abbildung danke ich Alexander Sitzmann. Belege bei Reichert 1987 [59] 601.
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rietät an Zweitgliedern bezeugt.9 Das lässt annehmen, dass sie dort schon längere Zeit vorher heimisch waren. Die Belaglage für das Nordgermanische: In Runeninschriften im älteren Futhark finden sich vielleicht zwei nordische Belege; das wäre nicht wenig, aber für ein später so häufiges Namenelement auch nicht viel (siehe oben S. 131 f.); doch auch diese beiden Belege sind unsicher: Das Medaillon von Svarteborg (Krause 1966 Nr. 47), vielleicht aus der Zeit um 450, zeigt die Runeninschrift ssigaduR. Krause deutet das als den Namen *Sigi-hapuz, den er im fränkischen Sichad (a. 843) wiederfindet. Peterson nimmt aber an, dass die gerundeten s am Anfang nur ein Ornament darstellen und die Inschrift igaduR lautet.10 Der andere Beleg, auf dem Stein von Ellestad, wird dem sprachlichen Befund nach meist auf ca. 550 bis um 600 datiert; Krause erwog jedoch, dass es sich eventuell nicht um ‚Urnordisch‘, sondern um ein gewollt altertümliches ‚Pseudo-Urnordisch‘ der Zeit um 800 handeln
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Schlaug 1962 [64] 150ff. Peterson 2004 [58] 12.
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könnte.11 Auf ihm nennt sich ein ekasigimArAR (‚ich, Sigimar‘); wie Krause bemerkte, müsste es richtig sigimariR heißen; das ist eines von Krauses Argumenten dafür, dass der Runenmeister des Urnordischen nicht mehr mächtig war. Eine verlässliche Überlieferung von nordischen Sig-Namen beginnt mit den Nennungen skandinavischer Herrscher im Frankenreich und auf den Britischen Inseln. Frühe Belege skandinavischer Namen von den Britischen Inseln sind der eines northumbrischen Wikingerkönigs um 900, Siefred,12 und auf Irland um 900 auftretende Wikinger mit Sig-Namen, wie Sichfrith nIerll (= Sichfrith jarl ) in den Annalen von Ulster zu a. 892 / 893.13 Auf diese wird wegen des wichtigen Zweitgliedes unter ‚Siegfried‘ näher eingegangen.14 Von da an gibt es auch sichere Originalbelege von Sig-Namen aus Skandinavien. Zu nennen ist siktriuk (für Sigtrygg ) auf den Sigtrygg-Steinen von Haithabu / Schleswig,15 die Gedenksteine für den wahrscheinlich mit dem 943 in Frankreich ermordeten Wikingerführer Setricus rex paganus16 identischen Sohn des dänischen Königs Knuba waren. Auf dem Ramsundstein17 (allgemein auf ca. a. 1030 datiert), einem Gedenkstein für den Vater des sukrupar (Gen.), des Gatten der siripr, könnte der Versuch vorliegen, die Namen Sigröd (m.) bzw. Sigrid (f.) wiederzugeben. FripuGerm. *fripu- ‚Friede‘18 ist im Gotischen nur in gafripon, gafripons ‚versöhnen, Versöhnung‘, ($ -), , erhalten; im West- und Nordgerm. ist das Substantiv u-Stamm. Es findet sich erstmals in Servofredus auf dem genannten Altar aus Burnum. Dann, nach der Mitte des 2. Jahrhunderts, erscheint -frid im Namen des Hnaudifridus, der einen am Hadrianswall stationierten friesischen numerus kommandierte.19 Außer diesen beiden aus dem Gebiet des Rheindeltas bzw. der Nordseeküste stammenden Personen sind uns keine frühen Träger dieses Namenelementes bezeugt. Erst nach 11 12 13 14 15 16 17 18
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Krause 1966 [46] 136. Stenton 1985 [74] 262f. Annals of Ulster [1] 346. Literatur zu den auf Irland siedelnden Wikingern mit Sig- s. Insley 2005 [41]. Danmarks Runeindskrifter [11] Nr. 2 und 4. Flodoardus von Reims, Annales [12] 390. Södermanlands Runinskrifter [25] Nr. 101. So die etymologische Anknüpfung. Semantisch ergibt sich aus der Herleitung von idg. *pri‚nahe bei‘ eine Grundbedeutung, die vom ‚Beisammensein‘ innerhalb der Sippe ausgeht (so Kluge / Seebold 2002 [44] s. v. ‚Friede(n)‘; zustimmend Haubrichs 2000 [38] 179. Reichert 1987 [59] 1, 432.
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einer langen zeitlichen Lücke erscheint es wieder, und zwar bei Ostgermanen (Goten, Wandalen). Als Erstglied beginnt es im 4. Jahrhundert bei den Goten aufzutreten (der Westgotenführer Frithigernus wird a. 375 ins Reich aufgenommen), und zwar von Anfang an häufig. Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass es im Ostgermanischen schon früher vorhanden war und nur wegen der geringen Kontakte der antiken Welt mit ihnen vor dem 4. Jahrhundert zufällig nicht belegt ist; sicherer als die oben geäußerte analoge Vermutung bezüglich Sig-. Da es in den ab Ammianus Marcellinus reicher fließenden Quellen mit alemannischen und fränkischen Namen nicht auftritt, scheint es im Westgermanischen ausgestorben und erst durch merowingerzeitliche Kontakte zu Ostgermanen neu eingeführt worden zu sein. Keine eindeutige Antwort ist bezüglich der Markomannen möglich: bei ihnen erscheint es knapp vor 400, und zwar im Frauennamen Fritigil.20 Da wir von den Markomannen nur sehr wenige Namen überliefert haben, kann auch hier die späte Überlieferung Zufall sein oder darauf hindeuten, dass bei ihnen Fripu- erst beliebt wurde, nachdem sie engeren Kontakt mit ostgermanischen Stämmen aufgenommen hatten. Wie eng der Kontakt sein muss, um die Übernahme eines Namenelementes zu bewirken, kann man freilich nicht sagen (eventuell genügt eine einzige Heirat im Hochadel), und noch weniger, ab wann ein Kontakt zwischen Markomannen und Ostgermanen anzusetzen wäre. Schließlich konnte schon im 2. Jahrzehnt n. Chr. Catvalda vor Marbod, der nach Velleius Paterculus 2,108,1 Markomanne war, zu den Goten flüchten. Im 5. Jahrhundert verbreitet sich Frid- / Frit- rasch; zunächst noch vorwiegend unter den Ostgermanen, bald dringt es auch zu anderen Völkern des Merowingerreiches und weiter in die übrige Germania. Das Femininum Freda tritt als eingliedriger Name schon a. 404 auf.21 Als Zweitglied beginnt frid / -fred / -frit noch später wiederzukehren. Auffällig ist, dass auch hier das Femininum -frida verhältnismäßig früh belegt ist, und zwar erstmals im Namen der Amalafrida, der Schwester Theoderichs des Großen, obwohl zu erwarten wäre, dass für Männer- und Frauennamen verwendete Zweitglieder länger getrennt blieben. Edward Schröder versucht das damit zu erklären, dass im Frauennamen das „den Frauen vorbehaltene“ Adjektiv vorliege.22 Gleich ob man diese Annahme Schröders für notwendig erachtet: die Beliebtheit von *frip- in früh belegten Frauennamen gilt für das Erstglied (Fritigil; s. o.), eingliedrige Bildungen (Freda; s. o.) und Zweitglied (Amalafrida) gleicherweise. Dann wird es als Zweitglied auch in Männernamen schnell häufig; außer bei den Ostgoten 20 21 22
Reichert 1987 [59] 1, 294. Reichert 1987 [59] 1, 286 s. v. FRED 3. Schröder 1944 [70] 22.
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auch bei mit ihnen dynastisch verbundenen Stämmen, wie den Thüringern (Hermenefrid, Gatte der Amalaberga, einer Nichte Theoderichs aus der genannten Amalafrida; der Sohn von Hermenefrid und Amalaberga heißt bei Prokop Bell. Got. 3,25 #A «). Bald wird es zu einem der häufigsten Zweitglieder. Schon in der ältesten im Original erhaltenen Urkunde Englands23 erscheint ein Name auf -frid, und zwar in der Zeugenliste Signum manus Osfridi, wobei das Erstglied Os- zu germ. *ansuz ‚Ase; Gott‘ zu stellen ist; etymologisch identisch mit dem vermutlich ostgotischen Ansfrid.24 Im Altsächsischen ist frithu schon vom Beginn der Überlieferung (um 800) an sowohl als Erst- als auch als Zweitglied häufig; als Erstglied auch in Frauennamen.25 Sehr spät treten beide Namenelemente bei den Langobarden auf: Paulus Diaconus nennt (Historia Langobardorum 6,3) einen Langobarden Ansfrid, der sich gewaltsam das Herzogtum Friaul unterwarf; das von Waitz als nächstliegendes verifizierbares angegebene Datum ist 689.26 Sigis- folgt noch etwas später: Sigiprand (Hss. var. Sigisp(b)rand und ähnliche27), Sohn des langobardischen Königs Ansprand († 712). Das Fehlen von *frip in älteren Runeninschriften erlaubt keine Schlüsse ex silentio, es habe diese Namen im Norden nicht gegeben (vgl. Seite 38). In karolingischen Quellen treten auf: 1. Sigifrith ab a. 777; darüber unter ‚Siegfried‘; 2. ein Godofridus rex Danorum (Hss. var. Godefridus Godofredus Gotfridus u. a.).28 Saxo Grammaticus nennt ihn Gotricus qui et Godefridus est appellatus. Herrmann meint, Saxo habe den historischen Dänenkönig Gottfried mit dem sagenhaften König Gautrek „verwechselt“, nach dem die isländische, vermutlich gegen 1300 entstandene ‚Gautreks saga konungs‘ benannt ist.29 Die sagenhaften Erzählungen Saxos über ‚Gotricus‘ haben mit der Gautreks saga gemeinsam die Freigebigkeit Gautreks gegenüber dem „schlauen Fuchs“ Ref (refr ‚Fuchs‘), die sich in Saxos Erzählung von Gotricus und Refo als vulpeculae pensio spie23
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Anglo-Saxon Charters [5] Nr. 8 von a. 679; Canterbury, Christ Church. Alle älteren Urkunden Englands sind nur in Abschriften erhalten, in denen die Wiedergabe der Namen sogar in den wenigen Fällen, in denen der Inhalt unverdächtig ist, ungenau sein kann. In einer Untersuchung, in der es auf jeden Buchstaben ankommt, können sie nicht als Zeugnisse für die ‚Originale‘ herangezogen werden. Brief Gregors des Großen von a. 600; MGH EE II [13] 247. Schlaug 1962 [64] 87ff. SS Rer. Lang. [22] 165. ed. Waitz, SS Rer. Lang. [22] 172. Zahlreiche Belege zwischen a. 804 und seinem Tod a. 810. z.B. Annales Regni Francorum [71] 118. Adam von Bremen [1] I, Kap. 14 und 15, nennt ihn Gotafridus (auch Godafridus und andere Hss. var.). Herrmann 1922 [73] 608.
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gelt. Chronologisch eingeordnet ist er von Saxo wie der karolingische Godofridus. Die Frage, ‚„ist“ Saxos Gotricus qui et Godefridus est appellatus der historische Gottfried oder der Gautrek der Sage oder wurden die beiden von Saxo „verwechselt?“‘ empfinde ich als anachronistisch: natürlich „ist“ er beides. Eine Sagenfigur, die einen einer historischen Person ähnlichen Namen trägt, wird von einem Euhemeristen mit ihr identifiziert. Bald darauf treten dänische Könige bzw. Kronprätendenten namens Sigifridus (ein nepos des Godofridus) und, nach dessen Tod, ein Reginfridus auf; nach den Fuldaer Annalen a. 812.30 In nordischen Texten des 13. Jahrhunderts, die vorgeben, Berichte über die Zeit vor a. 1000 zu sein, ist frid in jeder Stellung und für beide Geschlechter unüblich; z. B. die Hunderte von Namen bietende Njáls saga enthält es in keinem Männernamen und nur in einem Frauennamen, Frijgerjr (Kap. 113). Die relativ wenigen bei Lind31 genannten Namen sind großteils jung und unter deutschem Einfluss im Hochmittelalter gebildet; von den wenigen Namen mit Frij-, die für Personen aus früherer Zeit genannt werden, sind wahrscheinlich noch einige abzuziehen: wenn z. B. dieselbe Frau, die in der Landnámabók und in der Njálssaga Fridgerjr heißt, in der Flateyarbók Porgerjr heißt (Lind verzeichnet l. c. mehrere ähnliche Fälle), ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass einige Frij-Namen für schon länger verstorbene Namensträger erst im 13. Jahrhundert zu Unrecht eingesetzt wurden. Im Namen des Skalden Hallfrejr (um 1000) ist sicherlich -frøjr anzusetzen; die Schreibung e für ø ist üblich (-fridus und -frójr gehören nicht zusammen; darüber unten unter ‚Siegfried‘). Eine genaue Zahl der nordischen Personen, für die Namen mit Frij- oder -frijr belegt sind, lässt sich aus den genannten Unsicherheitsfaktoren nicht angeben, doch ist sie jedenfalls äußerst gering. Daraus hat schon Jacob Grimm den Schluss gezgen, dass im Norden germ. *warj- bei der Übernahme deutscher Namen als Ersatz für -frijr benutzt wurde, also Sigurjr für Siegfried,32 und blieb damit bis heute unwidersprochen. Nicht erkannt wurde bisher, dass diese Annahme unerklärt lässt, dass die ältesten Belege für nordische Personen, die in Quellen des 13. Jahrhunderts Sigurjr heißen, die Namensform Sigfrijr sichern. Darüber siehe unter ‚Siegfried‘.
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Aus den Fuldaer Annalen fast wörtlich übernommen von Adam von Bremen [1] I, 15. Lind 1905–1915 [49]; Hauptband Sp. 285–287. Grimm 1841 [37] 4.
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‚Siegfried‘ Den genannten Bataver Servofredus zu *Segofredus zu konjizieren ist nicht statthaft; nicht nur das g wäre Konjektur, auch das o könnte man schwerlich so wie das o in Batavos (Nom. Sing.) als Entsprechung im Dialekt des Steinmetzen für lat. u interpretieren. Der Name ist merkwürdig; mit hybriden Namen mit lateinischem Erstglied und germanischem Zweitglied rechnen wir erst ab der Merowingerzeit. Ad-hoc-Hypothesen (etwa, dass der Besteller Imerix den Namen seines Vaters *Segofridus unleserlich vorgeschrieben hätte) nützen nichts, denn sie sind beliebig. Sie zeigen aber auch die Unsicherheit konkurrierender Theorien: in der Realität ereignet sich vieles zufällig, und wenn der Befund auch so erklärt werden könnte, wenn auch mit geringer Wahrscheinlichkeit, macht es deutlich, dass auch keine andere Deutung beweisbar ist, und nur gesagt werden kann, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Servofredus nichts mit dem Namen ‚Siegfried‘ zu tun hat, größer ist als umgekehrt. Die ersten sicheren Belege für ‚Siegfried‘ stammen aus England. Hier beginnen die Nennungen von Trägern des Namens ‚Siegfried‘ gegen a. 700, das ist für England sehr früh (vgl. S. 132). Dabei sind die Nennungen in Werken Bedas noch sicherere Quellen als die in nicht im Original erhaltenen Urkunden. Die Frage nach der Authentizität wäre unwichtig, wenn man annähme, die Kopisten hätten zwar vielleicht am Inhalt der Schenkungen Änderungen angebracht, an den Namenslisten jedoch nur für uns unwesentliche orthographische Veränderungen vorgenommen. Jedoch heißt ein Bischof von Selsey zwar in drei Quellen Seffridus bzw. Sigfridus bzw. Sigfrid.33 Aber in der Mehrzahl der Quellen heißt er Sicga (Sicgga; Sigcga; Sigga; Siggaa);34 trägt also einen eingliedrigen Namen. Lautete sein voller Name Sigfrid und wurde er daneben mit einer Kurzform Sigga genannt, oder hieß er nur Sigfrid und kürzten die Schreiber selbständig ab, oder erweiterten drei spätere Kopisten von Sigga zu Sigfrid? Von der Quellenlage zuverlässig sind dagegen die Nennungen dieses Namens bei Beda. Obwohl auch hier die Handschriften jünger sind, gingen sie mit Bedas Schreibungen sorgfältiger um. Beda nennt zwei Träger des Namens, davon war einer, Si(c)gfridus (in der Zählung von PASE Sigefrith 3; † 689), Abt des Klosters Wearmouth (Northumbrien),
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Identisch mit dem von Haubrichs 2000 [38] 202 zitierten Sigeferth / Sifridus. Ältester Beleg für diese Person Seffridus, in: Anglo-Saxon Charters [5] Nr. 46, datiert zwischen a. 733 und 747 oder 765; die in der PASE [57] s. v. Sigefrith 4 angeführte Literatur schätzt diese Urkunde von „doubtful“ bis „probably authentic“ ein. Belege s. PASE [57] l. c.
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des Klosters, in dem Beda erzogen wurde. Ihn nennt Beda mehrfach in seiner ‚Vita beatorum abbatum Benedicti, Ceolfridi, Eosterwini, Sigfridi, atque Hwaetberhti‘. Der andere (in der Zählung von PASE Sigefrith 2) war Presbyter in Melrose (Schottland), und soll nach Beda neben dem Abt gestanden haben, als Cuthbert a. 651 dort eintraf. Beda nennt ihn um 720 wie einen noch lebenden persönlichen Gewährsmann (et presbyter Sigfridus solet attestari ‚und Presbyter S. pflegt zu bezeugen‘).35 Vielleicht konnte man auch von einem bereits Verstorbenen im Präsens schreiben; oder Sigfrid erzählte Beda über die Ankunft Cuthberts in Melrose, ohne damals schon dort gewesen zu sein: auf ein paar Jahre kommt es hier nicht an; sein Geburtsdatum lag vermutlich ähnlich wie das von ‚PASE Sigefrith 3‘. Obwohl die geschätzten Geburtsdaten der in den Erstbelegen in England Genannten fast identisch mit denen im Frankenreich zu sein scheinen, ist die Situation des Interpreten verschieden, da die Belegarmut in England keine Schlüsse ex silentio für die Zeit vorher zulässt, im Gegensatz zum Belegreichtum auf dem Kontinent, wo der Name ‚Siegfried‘ von 500 bis ca. 650 sicher nicht existierte. Erstbeleg für den Namen ‚Siegfried‘ auf dem Kontinent bleibt der Name eines bei Förstemann ausgewiesenen Bischofs von Paris ab a. 690.36 Urkunden, in denen sein Name auftritt, sind neu ediert: Placita Chlodwigs III. von 692 / 693.37 Dort lautet die Schreibung Sygofrido. Bereits zum Jahr 694 wird der zweite Träger dieses Namens genannt: ebenfalls in einem Placitum Chlodwigs III., unter den Anwesenden ein Grafio Sigofrido.38 Dieser Name tritt also im 7. Jahrhundert neu auf und wird dann schnell beliebt. Die Geburtsdaten sind nicht belegt, doch kann die Namensgebung der ersten merowingischen ‚Siegfriede‘ nicht lange vor 650 erfolgt sein. Ein früher angenommener Beleg für das weibliche Pendant, Seccifrida bzw. Siccifrida in ravennatischen Papyri des 6. Jahrhunderts,39 ist eine Fehllesung Marinis: Nach der Neuausgabe der Papyri durch Tjäder40 steht dort Reccifrida. Noch später als bei den Franken erscheint ‚Siegfried‘ bei den Langobarden: es findet sich weder bei Paulus Diaconus, dessen ‚Historia Langobardorum‘ doch bis a. 747 reicht, noch in einem der anderen von Waitz41 edierten Werke. Der älteste bei Bruckner verzeichnete urkundliche Beleg ist von 35
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Beda, Vita Cuthberti prosaica [9] Kap. 6; nach W. Becker 1977–1999 [30] verfasst vor a. 721. Förstemann 1900 [36] Sp. 1324. Die Urkunden der Merowinger 1 [28] Nr. 136, 345 und Nr. 137, 348. Ebenda Nr. 141, 356. Belege bei Reichert 1987 [59] 598f. nach Marini. Tjäder 1955–1983 [77] Bd. 2, Nr. 43. SS Rer. Lang. [22].
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a. 828;42 das ist nach den Kontakten der Langobarden mit Karl dem Großen. Im Altsächsischen ist der älteste von Schlaug verzeichnete Beleg von Sigifrid von 834; das ist um einiges später als andere Sigi-Namen; in den Corveyer Traditionen tritt er nach Schlaug „nur in der jüngeren Partie“ auf.43 Trotzdem kann, da die Überlieferung altsächsischer Namen erst um 800 beginnt, nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass der Name ‚Siegfried‘ vor der Eingliederung ins Karolingerreich nicht benutzt wurde. Kompliziert ist die Rekonstruktion der Namen nordgermanischer Herrscher, die ‚Siegfried‘ oder ähnlich hießen. Die deutschen, englischen und irischen Quellen ergeben dasselbe Bild, das von den späteren nordischen Belegen abweicht. Dabei käme den Nennungen dänischer Herrscher in fränkischen Quellen allein die geringste Beweiskraft zu, denn sie könnten durch deutsche Namen beeinflusst sein, aber sie werden durch insulare Quellen gestützt. Beeinflussung der Belege der Namen skandinavischer Herrscher in Quellen aus Großbritannien durch altenglische Namen wäre ebenfalls möglich, doch weniger wahrscheinlich, da es dort, vor allem in Nordengland, ausreichend nordische Bevölkerung gab, also die Originalformen bekannter waren. Sicher ohne deutschen oder englischen Einfluss sind die Nennungen von Skandinaviern in irischen Texten; ihnen spreche ich daher besondere Beweiskraft zu. Zeitlich sind jedoch die aus Deutschland stammenden Belege die frühesten: In deutschen Quellen der Karolingerzeit treten Dänen auf, die teilweise mit den Personen der nordischen Überlieferung identisch angesehen werden, aber in der Namensform Sigifridus oder, kontrahiert, Sifridus. Der erste ist ein dänischer König, der in den fränkischen Reichsannalen von 777 bis 798 mehrfach erwähnt wird und immer so erscheint (die Belegstellen entnahm ich Zettel44 und korrigierte sie nach den Ausgaben): Annales Regni Francorum a. 777 (Einhard: Sigifridum, Sigefridum, Sifridum);45 a. 782 (Reg. Franc.: Sigifridi, Sifridi, Sigifredi, Sygefridi; Einhard: Sigifridi);46 a. 798 (Einhard: Sigifridum, Sifridum);47 Annales Mettenses priores a. 782 (Sigisfredi);48 Poeta Saxo zu a. 777 bzw. 798 Sifridum, Sigifridus.49 Als Originalquelle, die zeigt, dass die deutschen Quellen nicht die nordische Form 42 43 44 45 46 47 48 49
Bruckner 1895 [34] 303. Schlaug 1962 [64] 151. Zettel 1977 [85] 69 und 89. Annales Regni Francorum [7] 49. Ebenda 60f. Ebenda 103. Annales Mettenses priores [6] 69. Poeta Saxo [19] v. 42, zu a. 777, 15; v. 377, zu a. 798, 40.
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durch einen ähnlichen Namen ersetzen, besitzen wir die Münzprägung in York eines northumbrischen Wikingerkönigs um 900, Siefred.50 Auch auf Irland treten um 900 Wikinger namens Sicfrith auf; der älteste mir bekannte Beleg ist Sichfrith nIerll (= Sichfrith jarl ) in den Annalen von Ulster zu a. 892 / 893.51 Die Annalen-Handschrift ist zwar nicht zeitgenössisch, aber in irischer Sprache und daher wohl nicht englisch beeinflusst. Daher mein besonderes Vertrauen auf die altirischen Belege. Nach Wamers52 kam vermutlich der Großteil der auf Irland siedelnden Wikinger aus Rogaland (Norwegen). Während also die Belege von Namen von Skandinaviern auf den Britischen Inseln und in den fränkischen Reichen einheitlich sind und ergeben, dass in Skandinavien der Name ‚Siegfried‘ häufig war, dagegen ‚Sigurd‘ in den alten Belegen gar nicht auftritt, ist die Beleglage in Skandinavien selbst kompliziert: Vor allem in Schweden und Dänemark finden sich ab dem 11. Jahrhundert Belege für Sighfrith (und ähnliche Schreibungen); doch ist damit zu rechnen, dass ein Großteil der Nennungen auf deutsche Quellen zurückgeht.53 Die isländischen Annalen scheinen den Schluss zuzulassen, dass für frühe Namensträger die Formen Sigfrijr und Sigfrojr in Gebrauch waren, für spätere die Form Sigurjr. Da ein Großteil der isländischen Annalen nur in späten Abschriften erhalten ist, die nur selten erkennen lassen, auf welche Zeit die Originaleintragungen zurückgehen, sind hier Unschärfen nicht zu vermeiden; die Tendenz wird trotzdem deutlich: die ältesten Nennungen stehen in Annalen-Einträgen zu den Jahren 860, 861, 862 und 870. Sie nennen zwei Personen, einen dänischen König Sigafridus bzw. Sigfrojr bzw. Sigefrojr bzw. Sigfrejr bzw. Sigfrodur54 und einen Wikingerhäuptling Sigfrqjr bzw. Sigfr˛ejr bzw. Sigfrojr bzw. Sigefrojr zu 870–900.55 Wie die durcheinander gehenden Schreibungen zeigen, scheinen die Schreiber -fridus und -frojr nur als graphematische Varianten der Latinisierung bzw. Islandisierung desselben Namens aufgefasst zu haben. Etymologisch gehört jedoch -fridus zu germ. *fripu- ‚Friede‘, frojr entweder zu altnord. frójr ‚klug; wissend‘ oder altschwed. froda ‚Üppigkeit‘ und Verwandten,56 aber jedenfalls nicht zu *fripu-. Die Formen mit e bzw. ˛e sind als Umlaute von q zu verstehen. Mittelalterliche Synchronetymologie denkt einerseits prinzipiell anders als sprachwissenschaftliche Etymologie, anderseits galt im Altnordischen der altgermanische 50 51 52 53 54 55 56
Stenton [74] 262f. Annals of Ulster [1] 346. Wamers 1998 [83] 66–72. Belege bei Knudsen / Kristensen 1936–1964 [45] Bd. 1,2 Sp. 1222 f. Islandske Annaler [15] 98; 173; 458. Ebenda 14; 46; 174. Jan de Vries 1977 [80] 143f.
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Grundsatz, dass Personennamen eine synchron durchschaubare Bedeutung tragen, nicht mehr. Durch die zahlreichen kombinatorischen Lautveränderungen des Nordischen sahen viele Glieder zweigliedriger Namen so verschieden von den Grundwörtern aus, zu denen sie gebildet waren, dass man die Zusammengehörigkeit nicht mehr erkannte, und man gewöhnte sich daran, dass es (synchron) bedeutungslose, aber durch berühmte Namensträger prestigeträchtige Namen gab; z. B. Óláfr (*anu-laibaz ‚der den Leib des Großvaters trägt‘; etwa ‚der wiedergeborene Großvater‘). Dass die gesetzmäßigen Zusammenhänge des Vokalismus der altgermanischen Sprachen unbekannt waren, beweisen die zahlreichen „Heldennamen in mehrfacher Lautgestalt“,57 die zum Teil nicht nachvollziehbare Änderungen des Vokalismus bei Sagenwanderungen von einem germanischen Stamm zum anderen durchmachten. Selten haben wir Indizien für die Ursachen solchen Lautersatzes: Wenn die Thidreks saga (13. Jahrhundert) Gernoz für den Gernot der deutschen Nibelungensage schreibt, ist die Ursache wohl, dass man wusste, dass dieser Name in oberdeutschem Gebiet zu Hause war, und die niederdeutschen Quellen, die die Thidreks saga verarbeitet, im Normalfall t für oberdeutsches z schreiben. Im Normalfall ist das auch richtig; bei Gernot zufälligerweise nicht. Solche Versuche, eine korrekte Form herzustellen, sogenannte „Hyperkorrekturen“, bedeuten de facto eine Verschlechterung. In der Wiedergabe der oben genannten Namen in den Annalen wird teils Schlamperei und kritikloser Mangel an Korrektur, teils Hyperkorrektur nach für uns nicht mehr durchschaubaren Vorstellungen vorliegen. Wie die Namensträger sich selbst nannten (bzw. genannt wurden), wissen wir nicht; vermutlich veränderten auch sie den Namen des jeweiligen Vorbildes nach ähnlichen, unserer Wissenschaft fernen Vorstellungen. Wichtig für uns ist, dass zur Zeit klar interpretierbarer Quellen, also ab ca. 1200, abweichend von unseren Vorstellungen von Etymologie, die Namensformen Sigfrijr, Sigfrejr und Sigfrojr anscheinend als Varianten desselben Namens aufgefasst wurden, Sigurjr jedoch als nordischer Name für Personen (oder Sagenhelden, die man ja auch für historische Personen hielt), die in Deutschland Sigfrid hießen. Die Quellen der Annalen sind selten fassbar; eine glückhafte Ausnahme für unsere Frage ist, dass die isländischen ‚Annales Regii‘, die die Schreibung Sigafridus für den dänischen König zu a. 860 überliefern, den Absatz übertiteln De cronica Bremensium, und dass wir wissen, dass dieselbe Hand den Annalentext bis a. 1306 schrieb.58 Quelle für diesen Eintrag war also eine um 1300 auf Island benutzte Handschrift, deren Vorlage letztlich aus Bremen stammte. Auch wenn es sich um 57 58
Diese Bezeichnung folgt dem von Heusler 1910 [40] gewählten Titel. Storm in der Einleitung zu Islandske annaler [15] XI.
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den Namen eines dänischen Königs handelt, gelangte sein Name nicht direkt von Dänemark nach Island, sondern auf dem Umweg über Bremen. Dass wir über so wichtige Details des Wanderweges der Namensformen nur in einem Ausnahmsfall informiert werden, bedeutet, dass wir generell zu schlecht informiert sind, um sichere Aussagen machen zu können. Adam von Bremen nennt zwei Missionsbischöfe namens Sigafrid; einen, der von England kam und in Norwegen predigte59 und einen, der in Schweden missionierte.60 Mit anderem Zweitglied nennt er hingegen einen ca. 1065 vom Hamburger Erzbischof für Norwegen ernannten (offensichtlich deutschen) Missionsbischof Sigiward.61 Nach Adam und den sein Werk benutzenden Autoren können Sigifrid und Sigiward gleicherweise als deutsche Namen gelten, von denen zunächst insbesondere Sigifrid auch von Personen aus dem Norden getragen wurde. Der Name ‚Sigurd‘ tritt uns jedoch erst später entgegen. Die ältesten von Lind genannten Belege für ‚Sigurd‘ entstammen dem ‚Ágrip af Nóregs konunga sqgum‘,62 der gegen 1200 verfasst wurde und in einer sehr alten Handschrift, vermutlich aus der Zeit um 1220–1230, erhalten ist.63 Der Ágrip kennt keine Form von ‚Siegfried‘ und nennt, von Harald Schönhaars Sohn Sigvrpr 64 hrísi an, alle Träger dieses Namens ‚Sigurd‘. Der Ágrip nennt Sigurd den 17. von Haralds 20 Söhnen; wenn Harald ca. 880–940 lebte, wurde Sigurd nach 900 geboren. Da die Handschrift des Ágrip zu den ältesten erhaltenen gehört, interessiert hier auch die exakte Schreibung: meist lautet der Name sigurpr oder sigvrpr ; aber auch abgekürzte Formen kommen vor, indem das Zeichen ∞, das ur oder ru bedeuten kann, über dem g eingefügt ist.65 Jemand, der über die Verteilung der Namen nicht Bescheid wusste, hätte eine solche Abkürzung als Sigrøjr oder Sigurjr interpretieren können. Diese Abkürzungen sind jedoch nicht so häufig, dass man den Namenwechsel innerhalb der skandinavischen Genealogien auf missverstandene Abkürzungen in nicht erhaltenen Vorstufen der erhaltenen Handschriften zurückführen könnte. Eine weitere alte Quelle, die ‚Íslendingabók‘ von Ari Porgilsson dem Weisen (‚Ari inn fródi‘), ist zwar nach den Lebensdaten des Autors († 1148) noch älter, aber die Vorlage der erhaltenen Abschriften des 17. Jahrhunderts 59 60 61 62 63 64 65
Adam von Bremen [1] II, Kap. 57, (Geschehnisse der Zeit ca. 1020–1025). Ebenda II, 64 (ca. 1030); zum Letzgenannten s. Schmid 1970 [67]. Adam von Bremen III, Kap. 77 Sewardus und IV, Kap. 34 Siguardus. Lind 1905–1915 [49] Sp. 889. Zur Datierung von Original, erhaltener Handschrift und Quellen Driscoll in Ágrip [3] XII. Schreibung hier nach Ágrip dipl. [2] Sp. 4. Ágrip dipl. [2] Sp. 63 Z. 10 und öfter sig∞pr bzw. -par Gen.; Sp. 93 Z. 3 auch im Faksimile am Ende des Bandes. Sp. 63 Z. 14 als Fehlschreibung sug∞par.
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kann nur ungefähr auf die Zeit um 1200 geschätzt werden.66 Wie der Ágrip, kennt auch Aris Íslendingabók keinen ‚Siegfried‘ und nennt in der erhaltenen Fassung zwei norwegische Könige, und zwar den Sohn Harald Schönhaars und den Vater von Harald Hardradi, Sigurdr. Anders ist es in lateinischen Werken: Die ‚Historia de Antiquitate Regum Norwagensium‘ des Theodoricus monachus, die zwischen 1177 und 1188 entstand,67 nennt alle entsprechenden Personen Sigwardus. Die anonyme ‚Historia Norwegiae‘ kennt die Namen Sigwardus und Sigfridus. Sigwardus nennt sie fast alle Personen, die in entsprechenden altnordischen Texten Sigurjr heißen; ausgenommen Sigfridus, wie sie nur einen der Missionsbischöfe nennt. Bezüglich des Satzes, in dem dieser Sigfridus vorkommt, stellte schon Storm fest, dass er zur Gänze aus Adam von Bremen entnommen ist.68 Wir können also nicht sagen, ob der Autor ansonsten ebenfalls Sigwardus geschrieben und vielleicht Sigurjr gesprochen hätte. Die Datierung der ‚Historia Norwegiae‘ ist ungewiss; die Handschrift stammt von ca. 1450, der Text ist anscheinend viel älter. Angaben in Handbüchern „um 1220“ sind jedoch reine Verlegenheitsangaben; fast jede Datierung zwischen 1150 und 1450 wurde schon vorgeschlagen.69 Aus dem Lateinischen von einem Unbekannten ins Isländische übersetzt wurde wahrscheinlich um 1200 die im Original verlorene, um 1190 vom Mönch Oddr verfasste Saga über Olaf Tryggvason († 1000). Die älteste Handschrift dieser Übersetzung stammt aus Norwegen, noch vom Ende des 13. Jahrhunderts.70 In ihr heißen acht Personen Sigurjr ; nicht nur aus Skandinavien, auch ein Jarl Sigurd von Northumberland (Ende 10. Jahrhundert) ist darunter. An sonstigen Sig-Namen erscheint nur ein Sigvalldi und eine Frau, Sigrídr.71 Dass man den falschen Eindruck gewann, der Name ‚Sigurd‘ sei im Norden in der Personennamengebung von Anfang an allein vorhanden und ‚Siegfried‘ nicht existent, geht für uns im Wesentlichen auf diese Werke zurück. Vorlagen, die Snorri Sturluson († 1242) und andere Autoren des 13. und 14. Jahrhunderts außer den genannten Werken benutzten, etwa die nicht erhaltene längere Fassung der ‚Íslendingabók‘ Aris, sind für uns nicht im Detail rekonstruierbar. Snorri stellt in der ‚Heimskringla‘ die Genealogie Harald Schönhaars († ca. 940) so dar: Haralds Mutter ist Ragnhildr, Tochter 66 67 68
69 70 71
Benediktsson in Íslendingabók [16] 1, XLVI. Diskussion über die Möglichkeit einer weiteren Einengung: Lange 1989 [48] 20ff. Adam von Bremen [1] II, Kap. 57 (alte Zählung: 55). Storm im Apparat zur Historia Norwegiae 1880 [26] 124. Übersicht bei Lange 1989 [48] 141f. und 224f. Anm. 1 und 5. Literaturangaben bei Driscoll in Ágrip 1995 [3] XII. Oddr [18], Index, 153.
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des Sigurjr hjqrtr (‚Sigurd Hirsch‘), Sohn der Áslaug, Tochter des Sigurjr ormr í auga (‚Sigurd Schlange im Auge‘),72 Sohn des Ragnarr Lojbrók (den Namen und die Abstammung von dessen Gattin nennt die Heimskringla nicht; erst in der Ragnars saga ist es Aslaug, also die Großmutter der in der Heimskringla genannten Aslaug, die Tochter von Sigurjr Fáfnisbani und Brynhildr ). Ragnar Lodbrok ist Sohn des Sigurjr Hringr.73 Harald Schönhaar nannte einen seiner Söhne Sigfrøjr.74 Snorri muss also noch mindestens eine Quelle gekannt haben, in der der Name dieses Sigfrøjr noch nicht, wie in den uns erhaltenen Fassungen von Íslendingabók (oben S. 144 f.) und Ágrip (oben S. 144), durch Sigurjr ersetzt war. Eine bewusste Differenzierung der beiden Namen durch Snorri ist erkennbar: In der Heimskringla wird zusammen mit Haralds Sohn Sigrødr der Sohn des Jarl Hákon von Lade (bei Trondheim), Sigurjr, aufgezogen.75 Obwohl die Namen in Skaldenstrophen schwer zu verändern sind, finden wir auch hier eine Unsicherheit vor: Das älteste der von Snorri benutzten poetischen Zeugnisse ist die ‚Ragnarsdrápa‘ des Skalden Bragi.76 In ihr heißt der Vater Ragnars in allen Hss. außer der ältesten, dem um 1300 geschriebenen Upsaliensis (U), mavgr Sigvrpar ‚der Sohn des Sigurjr ‘. In U heißt es aber: mavg Sigrunar, ‚den Sohn der Sigrún‘. Unsicher ist auch die Datierung des Skalden Bragi. Die ‚Ragnarsdrápa‘ ist einem Ragnarr gewidmet; Snorri gibt an, damit sei Ragnar Lodbrok gemeint. Dann müsste Bragi um 850 gelebt haben. Wenn man Snorri einen Irrtum zutraut und annimmt, das Gedicht sei für irgendeinen Ragnar verfasst worden und Snorri habe nur aus dem Namen des Gepriesenen geschlossen, es müsse der berühmte Ragnar Lodbrok gemeint sein, kann man vom sprachlichen Befund her bis ca. 950 hinaufgehen. Argumente dafür bringt Edith Marold.77 Angesichts der unsicheren Überlieferung spielt für uns hier die Frage, ob mit dem Ragnar der ‚Ragnarsdrápa‘ Ragnar Lodbrok gemeint sein kann oder ein vielleicht 100 Jahre jüngerer Ragnar, eine untergeordnete Rolle. Besser gesichert ist dagegen die Nennung eines ‚Jarl Sigurd‘ durch den Skalden Kormákr um 960: Str. 2 seiner ‚Sigurjardrápa‘ (der Titel stammt von den Herausgebern), die ebenfalls in der Snorra Edda erhalten ist, haben alle Handschriften sigvrpi iarli. Unbrauchbar ist ein weiterer möglicher Beleg 72 73 74
75 76
77
Snorri, Heimskringla [24], Hálfdanar saga svarta Kap. 5. Snorri, Heimskringla [24], Haralds saga ins hárfagra Kap. 13. Snorri, Heimskringla [24], Haralds saga ins hárfagra Kap. 17. Für deutsch Sigfrid erscheint in altnordischen Hss. oft Sigfrødr. Snorri, Heimskringla [24], Haralds saga ins hárfagra Kap. 37. Snorra Edda, Skáldskaparmál Kap. 49; zitiert nach Skjaldedigtning [23], A1, 1–4; B1, 1–4. Dazu Reichert [61], 38ff. Marold 1983 [50] 68f. und 1986 [51] 428ff.
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Str. 5: aus sigvrpr U; jüngere Hss. sigròjar, sigradar, hakonar wählte Jónsson in Band A1 sigrqpar, jedoch für die normalisierte Fassung B1 Hákonar.78 Der einheitliche Befund in Str. 2 genügt jedoch zur Sicherung des Namens bei Snorri. Dieser ‚Jarl Sigurd‘ muss, falls er so hieß, seinen Namen bald nach 900 erhalten haben. Das 13. Jahrhundert überliefert uns über den Skalden Kormak eine Saga. In ihr kommt weder das genannte Preislied auf den Jarl noch dieser vor, doch eine andere Person namens Sigurd: Die Kormáks saga nennt einen Gefährten Kormaks, einen „Deutschen“ ( p´yjeskr majr) namens Sigurjr.79 Der Deutsche hieß sicher nicht Sigurd. Die Saga des 13. Jahrhunderts setzt also einen deutschen Namen, höchstwahrscheinlich *Siegfried (unwahrscheinliche Alternative: *Sigiwart), in Sigurjr um. Das Erstaunliche ist, dass die Ursache dafür nicht ist, wie man seit Jacob Grimm allgemein glaubt, dass ‚Sigurd‘ von Anfang an in der altnordischen Personennamengebung entspricht, sondern dass die ältesten skandinavischen Belege ebenfalls auf ‚Siegfried‘ hinweisen und in hochmittelalterlichen Abschriften mehr oder weniger gründlich durch ‚Sigurd‘ ersetzt wurden. Damit muss die zunächst einleuchtende These von Haubrichs, romanische oder angelsächsische Metathesen hätten zur Verwechslung von *Sigi-ward und *Sigi-frij geführt,80 modifiziert werden. Die Beobachtung Haubrichs’, dass die Namen mit germ. *-warj ‚Hüter‘ „in die Sphäre der Kultgemeinschaften, aber auch familialer, gentiler und militärischer Verbände“ führen,81 würde nahelegen, für den Helden eines nordischen Mythos, wie er sich auf den der deutschen Sage fremden Jung-Sigurd-Darstellungen findet, den Namen ‚Sigurd‘ anzunehmen. Snorris Erzählung vom Tod des ‚Sigurd Hirsch‘ könnte nach deutschen Nibelungenüberlieferungen stilisiert sein: Sigurd Hirsch ritt allein auf die Jagd und wurde dabei vom Berserker Haki mit 30 Gefährten überfallen; Sigurd wurde von der Übermacht erschlagen, konnte aber 12 von ihnen erschlagen und Haki schwer verwunden. Haki raubte dann aus Sigurds Hof einen Schatz.82 Das erinnert an Siegfrieds Tod in der deutschen ‚Jagdtod-Variante‘. Der Beiname ‚Hirsch‘ erinnert an die ‚Hirsch-Sympathie‘ Siegfrieds in der Thidreks saga, hat aber wenig Gewicht, da sich ‚Hirsch-Sympathie‘ bei mehreren Helden findet. Von den Namen erinnern ‚Sigurd‘ und Haki (klingt an ‚Hagen‘ an) an die Nibelungensage. Das ergibt insgesamt keine 78 79 80 81 82
Skjaldedigtning [23] A1, 79; B1, 69. Kormáks saga [17] Kap. 18. Haubrichs 2000 [38], 201f. Haubrichs 2000 [38], 203. Snorri, Heimskringla 1941–1951 [24], Hálfdanar saga svarta Kap. 5.
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überzeugenden, aber doch erwägenswerte Gemeinsamkeiten. Falls man einen Zusammenhang annähme, wäre noch zu klären, ob man die Geschichte von Haralds Großvater nach einer deutschen Sagenfigur stilisierte, oder ob eine dänische Sage auf niederdeutsche Erzählungen, die in der Thidreks saga ihren Niederschlag fanden, einwirkte. Die allgemeine Tendenz der Sagenwanderung spräche dafür, dass man die dänische Geschichte nach einer deutschen Sage stilisierte. Ob schon Harald Schönhaar seinen Großvater mütterlicherseits an einen Sagenhelden anknüpfen wollte oder erst seine hochmittelalterlichen Nachfahren, ist aber unentscheidbar. Saxo Grammaticus differenziert in der Benennung nordischer und deutscher Personen: er nennt alle nordischen Personen, für die einer dieser Namen in Frage kommt, Siuardus (Syuardus); insgesamt sind es zwölf.83 Damit verhält er sich wie die auf Latein geschriebenen Urkunden des 13. und 14. Jahrhunderts. Zwei Deutsche (einen Sachsen und einen Thüringer) nennt Saxo jedoch Syfridus.84 Etymologisch gehören -urjr und -varjr zusammen, doch sind es unterschiedliche Bildungen: Förstemann85 nennt die altnord. Maskulina „zu -urdhr entartet.“ Was ist „entartet“? Kaufmann86 verweist auf germ. *wardaim Gotischen und Ahd. gegen germ. *wardu- in aisl. vqrjr ‚Wächter‘. Das Problem ist: das altnordische Appellativ zeigt den u-Stamm, ebenso der Name Sigurjr, der nur aus *Sig-vqrjr entstanden sein kann, während alle anderen nordischen Namen die Form -varjr zeigen, die dem westgermanischen und gotischen Appellativ entspricht. In Latinisierungen entspricht hingegen Sivardus sowohl Sigurjr als auch dt. Sigiwart. Während es Hunderte an Belegen für Sigurjr in verschiedenen orthographischen Varianten gibt,87 findet sich sonst keine Kombination mit -urjr. Für -varjr ist jedoch eine Reihe von Kombinationsmöglichkeiten belegt: Á–, Ás-, *At-, Finn-, Fólk-, Giaf-, Guj-, Gunn-, Há-, Hag-, Hall-, Her-, *Hiqr-, Hlqj-, Iát-, Lid-, Mark-, Ráj-, Ská-, Stein-, Por- -varjr.88 Davon ist der älteste Beleg, das Hapax legomenon auarpR (Runenstein von Valby, Norwegen), nach Birkmann an den Anfang des 9. Jahrhunderts oder noch in das 8. zu stellen.89 Relativ spät wirkt die Latinisierung Sigvardus als SigvarjrSchreibungen auf das Altnordische zurück; in Norwegen und Island wer83 84 85 86 87 88 89
Zählung nach dem Register der Ausgabe von Holder [21] 715 und 719. Ed. Holder [21] 34 bzw. 653 u. ö. Förstemann 1900 [36] Sp. 527. Kaufmann 1968 [43] 388. Ähnlich schon Sievers 1889 [72] 135–141. Lind 1905–1915 [49] Hauptband Sp. 889–899. Ebenda Sp. 1075. Birkmann 1995 [32] 331f.
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den sie erst im 14. und 15. Jahrhundert häufig; in Dänemark sind die häufigsten Formen Si- (Sy-, Sig-)-word, -ward,90 und zwar auch für Personen, die in Deutschland als ‚Siegfried‘, in Island als ‚Sigurd‘ verzeichnet sind. Der norwegische König Sigurjr Jórsalafari (‚der Jerusalemfahrer‘) nahm 1110 am 1. Kreuzzug teil. In der ,Historia Iherosolymitana’ wird ein Bruder des norwegischen Königs (dieser muss Magnus III. sein) ohne Namensnennung erwähnt (Kap. 44); in einer Hs. fügte eine spätere Hand zwischen den Zeilen hinzu: nomine Sivardus. Später, vor Jerusalem (Teil 2, Kap. 24), findet sich dasselbe, in der Schreibung Sigward, ebenfalls nicht im alten Haupttext. Auch hier besteht also ein großer zeitlicher Abstand zwischen der Lebenszeit des Betreffenden und der Einfügung des Namens. Ob ihn die Zeitgenossen schon so nannten und seit wann die Latinisierung Sivardus für ihn galt, wissen wir nicht. Es gibt keinen sprachlichen Grund, wieso in den vielen oben genannten Kombinationen mit germ. *-ward- die Form -varjr für das Zweitglied gewählt wurde, allein für Sigurd aber -vqrjr. Es scheint daher ein außersprachlicher Grund vorzuliegen, ohne dass wir sagen könnten, welcher. Die Sagenfigur, die in den ab dem 13. Jahrhundert aufgezeichneten Texten ‚Sigurd‘ heißt, ist auf bildlichen Denkmälern schon früher dargestellt, allerdings ohne Beifügung eines Namens. Auf dem unter Sig- genannten Ramsundstein (Södermanlands Runinskrifter 101; allgemein auf ca. a. 1030 datiert), einem Gedenkstein für den Vater des sukrupar (Gen.), des Gatten der siripr, könnte der Versuch vorliegen, die Namen Sigröd (m.) bzw. Sigrid (f.) wiederzugeben. Man hat gemutmaßt, die Darstellung der Sigurdsage auf der Ritzung könnte dadurch motiviert sein, dass die auf der Inschrift genannten Personen Sig-Namen trugen; das ist einerseits nicht zwingend; anderseits werden durch die Probleme des Ritzers beim Umsetzen der Laute in Grapheme insbesondere für das Zweitglied von sukrupr verschiedene Deutungen ermöglicht. Vor allem kann die Hypothese nicht erhärtet werden, der Drachentöter habe denselben Namen getragen wie Sukrupr, und dieses stehe für Sigurjr. Näher liegend ist doch die Deutung von sukrupar als Sigrøjar. Das an den ältesten deutschen, britischen und irischen Belegen skandinavischer Namen gewonnene Ergebnis, dass im Norden die Namensform ‚Siegfried‘ alt sein muss, erfordert, den zuvor vorgestellten Befund der britischen und kontinentalen Belege zueinander in diesem Kontext zu überdenken: Die Belege von ‚Siegfried‘ beginnen in Großbritannien schon ein wenig vor denen am Kontinent; ein Schwerpunkt liegt zunächst nahe der Ostküste
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Knudsen / Kristensen 1936–1964 [45] Sp. 1229–1236.
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Nordenglands und Schottlands, wo Kontakte mit Skandinavien in beide Richtungen besonders stark waren. Bald strahlt der Name allerdings nach Süden aus; das oben S. 139 erwähnte Selsey liegt an der Südküste Englands. Wegen unserer lückenhaften Informationen ist eine Beweisführung unmöglich, doch wird mit der Möglichkeit zu rechnen sein, dass nicht nur die Namensform ‚Sigurd‘, sondern auch ‚Siegfried‘ aus Skandinavien stammen könnte. Dann sollte man Szenarien entwerfen, wie man sich ein ursprüngliches Nebeneinander von ‚Siegfried‘ und ‚Sigurd‘ vorstellen könnte und welche Motive für das spätere Vorherrschen von ‚Sigurd‘ maßgeblich gewesen sein könnten. Eine Richtung, in die Überlegungen gehen könnten, wäre, dass ‚Siegfried‘ zunächst Name historischer Personen gewesen sein mag, ‚Sigurd‘ dagegen einer Figur aus dem Bereich zwischen Heldensage und Mythos zugekommen sein könnte, einer nordischen Form des Drachentöters, die als Vorform der durch Ramsundstein und Jung-Sigurd-Lieder der Edda bezeugten Form der Drachentötung gelten könnte (mit einem ‚sakralen‘ u-Stamm *wardu- gegen einen ‚profanen‘ a-Stamm *warda- würde ich aber nicht argumentieren).91 Die Drachentötung durch Sigurd scheint nicht ursprünglich mit der durch Sigmund im Beowulf zusammenzugehören: zu Sigmund gehört vermutlich wesentlich der Konflikt Vater – Sohn, weil im Beowulf der nicht mehr junge Sigmund allein den Drachen bekämpfen muss, ohne Hilfe durch seinen Sohn Fitela. Das Alter bzw. die Generationenstellung des Helden halte ich für sagenstrukturell wichtig, weil eine Drachentötung eines jugendlichen Helden als Teil eines Initiationsrituals verstanden werden kann, die durch einen alten Helden nicht. Die Heldensagen der germanischen Völker scheinen noch konvergiert zu haben, als die Sprachen bereits divergierten. Das ist erklärbar, denn bei der relativen Ähnlichkeit der altgermanischen Sprachen im 7. Jahrhundert war es zwar nicht möglich, dass Ost-, West- und Nordgermanen einander bei einer ersten Begegnung verstanden, aber Reisenden fiel es relativ leicht, die Dialekte der Stämme, bei denen sie länger verweilten, verstehen zu lernen. Zum Austausch von Heldensagen war dieses Milieu geeignet, und erklärt Besonderheiten der Namensformen (Schlagwort: ‚Heldennamen in mehrfacher Lautgestalt‘). Der Wechsel ‚Siegfried‘ – ‚Sigurd‘ scheint aber gerade kein solcher ‚Wechsel der Lautgestalt durch falsche lautliche Analogie bei der Wanderung von einem Dialekt in den anderen‘ zu sein, sondern Verdrängung einer Namensform durch eine andere innerhalb derselben Sprache. Ein Eindringen einer Namensform aus dem mythisch-heroischen Bereich in die Personennamengebung wäre vor allem dann denkbar, wenn der mythische Be-
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Zu ‚sakralen u-Stämmen‘ s. Grünzweig in Sitzmann – Grünzweig 2008 [73] 13.
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standteil nicht mehr als solcher geglaubt und nicht mehr als bedrohlich, sondern nur mehr als Heldensage empfunden wird, aus der die Personennamengebung schöpft (weitgehend durch pseudohistorische Ansippung). ‚Man‘ hieß im alten Griechenland nicht Herakles; der einzige Herakles, den die RE außer dem Heros kennt, ist ein Knabe, dessen Mutter nach dem Tod Alexanders des Großen behauptet haben soll, er sei der Sohn Alexanders. Auch dessen Name ist aber in keiner zeitgenössischen Quelle beglaubigt.92 Ein guter Christ dürfte aber ‚Herakles‘ heißen. Ähnliches könnte man sich auch für ‚Sigurd‘ vorstellen. Quod ego ut incompertum in medio relinquam. ‚Siegmund‘ Das Zweitglied des Namens des Drachentöters Sigemund, ist kontinuierlich belegt: Nach dem cheruskischen Segimundus finden sich in der Historia Augusta zwei Heerführer Aurelians († 275) namens Hariomundus und Hildomundus. Dann findet sich bei Ammian zu a. 358 ein Quade Agilimundus; Hydatius nennt einen Fretimundus zu a. 437 als römischen Gesandten an die Sueben in Gallaecien und zu a. 459 einen Reccimundus als Anführer einer Schar von Sueben.93 Aber auch dieses Namenelement wird außerhalb des Ostgermanischen erst häufig, als zur Zeit Theoderichs der burgundische König Sigi(s)mundus eine bedeutende politische Rolle spielt. -mundus scheint in kontinuierlicher Verwendung gewesen zu sein, während wir oben für -fridus und Segi- zu dem Ergebnis kamen, dass ihr gehäuftes Auftreten ab dem 5. Jahrhundert Erklärung fordert. Ob das Häufigwerden des Namens Sigimundus durch die Persönlichkeit des Burgundenkönigs hervorgerufen wurde oder eine andere Ursache hat, wissen wir nicht.
2. Die sagenmäßige und genealogische Verknüpfung der Drachentöter Das Auftreten des Erstgliedes Seg- bei den Cheruskern führte seit dem 19. Jahrhundert zu Spekulationen, ob Arminius, der vermutlich im römischen Dienst einen römischen Namen angenommen hatte (Arminius oder Armenius), mit seinem germanischen Namen *Segifripus geheißen haben könne. Nachbenennungen nach ihm scheinen nicht erfolgt zu sein, falls er
92 93
Schoch 1924 [69]. Hariomundus und Hildomundus: Historia Augusta [14], Aurelianus 11,4. Agilimundus: Ammianus Marcellinus [4] 17,12,21. Fretimundus: Chronica Minora [10] 2, 23. Reccimundus: ebenda 31.
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so geheißen hätte, wie das Fehlen von *Segifripus in der Namengebung bis ins 7. Jahrhundert zeigt. Auch die angeblichen Parallelen überzeugen nicht: Dass sowohl Arminius als auch Siegfried durch einen Konflikt mit Verwandten ihrer Gattinnen das Leben verloren, ist zu wenig für eine Parallelisierung der beiden. Dass Varus dem Nibelungenhort vergleichbare Prunkgegenstände wie den Hildesheimer Silberschatz (der übrigens einige ca. 50 Jahre jüngere Objekte enthält) unterwegs mitgeführt hätte, erscheint unwahrscheinlich, und die antiken Quellen geben genug Gründe für den Zwist zwischen Segestes und Arminius an, aber keinen Konflikt wegen eines von den Römern erbeuteten Schatzes. Für die Identifikation von Siegfried und Arminius sprach nur die insbesondere von Otto Höfler vertretene Hypothese, dass der Ort der Varusschlacht identisch sei mit dem Ort, an dem man im Mittelalter Siegfrieds Drachenkampf lokalisiert habe, und zwar auf der Knetterheide bei Schötmar. Diese Annahme ist hinfällig, da inzwischen die Varusschlacht mit großer Wahrscheinlichkeit anders lokalisiert wurde, nämlich bei Kalkriese nahe Osnabrück.94 Auch Siegfrieds Drachenkampf wurde eher bei Kaldern an der Lahn gedacht als bei Schötmar – falls überhaupt ein einheimisches Zeugnis vorliegt: Der isländische Bischof Nikulás von Pverá will auf seiner vor 1154 durchgeführten Reise nach Rom „dort“ an der Gnitaheide vorbeigekommen sein, auf der nach altnordischer Tradition Sigurd Fáfnir tötete. Das par (‚dort‘) des Nikulás ist am ehesten auf Kaldern an der Lahn bezogen, zu dem er diese Aussage macht, und das für die Varusschlacht viel zu weit südlich liegt; dass gemeint sei ‚an dieser Route‘, wie Höfler annahm, um es auf einen beliebigen anderen, viel weiter nördlich an der Route des Nikulás liegenden Ort, nämlich Schötmar, der in sein Konzept passte, beziehen zu können, ist durch nichts gestützt. Doch identifizierte Nikulás mehrere Orte willkürlich mit Schauplätzen von Heldensagen (Gunnars Schlangengrube in Italien, in der Gegend von La Spezia) und wurde vielleicht nur durch eine äußerliche Assoziation dazu verleitet, einen Ort an seiner Route für den Ort des Drachenkampfes zu halten; wir dürfen den Bericht des Nikulás weder als Beweis für eine Lokalisierung eines Drachenkampfes durch Deutsche auf der Knetterheide bei Schötmar noch bei Kaldern nehmen.95 Oben haben wir die Möglichkeit, dass die von Tacitus bezeugten Lieder auf Arminius einen Drachentöter ‚Siegfried‘ verherrlichten und bis ins 7. Jahrhundert lebendig blieben, auf Grund des Fehlens des Namens bis ins 7. Jahrhundert, also des Fehlens von Nachbenennungen, ausgeschlossen. Aber auch eine Modifikation dieser These, der Name des Arminius sei ‚Sigimund‘ gewesen, wäre problematisch, denn die 94 95
Schlüter / Wiegels 2000 [65]; Schneider 2002 [68]. Reichert 2003 [61] 40ff.
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Sagen um Sigmund haben zentrale Motive, die nichts mit Arminius gemeinsam haben. Im Beowulf (v. 874 und 883) ist die Struktur des Heldenlebens anders: Sigemund hat seinen Neffen (in nordischer Überlieferung: im Inzest mit der Schwester gezeugter Sohn, also Neffe und Sohn zugleich) Fitela nicht bei sich, um den Schwertkampf gegen den horthütenden Drachen zu bestehen, doch wird das nach den gemeinsamen Taten der beiden erzählt; Sigemund ist also nicht mehr jugendlich. Beowulf selbst besteht seinen Drachenkampf sogar erst als alter Mann und stirbt an den Folgen des feurigen Drachengiftes. Der Sigmund der Vqlsunga saga und des Berichtes der Liederedda Frá dauja Sinfjqtla (‚Vom Tod des Sinfjqtli‘) ist kein Drachentöter und hatte bereits drei erwachsene Söhne, als er den Drachentöter Sigurd zeugte. Dagegen ist der Drachenkampf in den Überlieferungen von Siegfried / Sigurd und Ragnar, die alle jünger als der Beowulf sind, ein Jugendabenteuer des Helden; wo diese in zeitlicher Aufeinanderfolge erzählt werden, meist sogar das erste (außer im Nibelungenlied, das die Drachentötung erst nach dem Horterwerb erzählt, allerdings ohne Anspruch auf chronologische Erzählung, sondern gewichtet nach den Interessen des Erzählers Hagen). In deutscher Überlieferung ist der Name ‚Siegfried‘ (bzw. seine orthographischen / dialektalen Varianten) fest. Das in der Fagrskinna (einer vielleicht schon um 1220 entstandenen Geschichte der norwegischen Könige) erhaltene Loblied auf den ca. 954 gefallenen Erich Blutaxt96 nennt als in Walhall bei Odin versammelte Vorzeithelden nur Sigmundr und Sinfjqtli, entspricht also dem Beowulf (Sinfjqtli entspricht dem Fitela des Beowulf). Sigurd / Siegfried scheint daher in Norwegen als Sagenheld nicht so alt zu sein wie Sigmund und Sinfjqtli. Dass der skandinavische Sigmund einst als Drachentöter gegolten hatte, erschließt man nur daraus, dass er es im Beowulf ist, der nordisches Sagengut transportiert. In einheimischer skandinavischer Überlieferung erscheint Sigmund mit der Drachentötung nur insofern verbunden, als sein letzter Sohn, nach dem Tod Sinfjqtlis, in der Liederedda, Snorra Edda und Vqlsunga saga Sigurjr Fáfnisbani ist. Für diesen wird im Norden ausschließlich die Form Sigurjr benutzt, ausgenommen in der Thidreks saga. Die Thidreks saga benutzt für die Nibelungensage unterschiedliche und zueinander widersprüchliche deutsche Quellen, deren Schriftlichkeit unter anderem dadurch bewiesen werden kann, dass die deutsche Form von Namen nur unvollständig durch die nordische ersetzt ist. Die Thidreks saga ist zwar entstehungsgeschichtlich ein jüngeres Produkt als die bisher besprochenen Quellen, überlieferungsgeschichtlich gehört sie aber dadurch, dass
96
Skjaldedigtning [23] A1, 174f.; B1, 164ff.
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ihre Haupthandschrift, die ‚Membran‘, aus der Zeit um 1280 stammt, zu den alten Quellen: Sie ist fast so alt wie der Codex Regius der Liederedda und älter als alle Handschriften der Snorra Edda. Den Namen des Drachentöters bieten die Handschriften97 wie folgt: zunächst in seiner Jugendgeschichte Sigfrœjr Mb3 A.98 Dann gehen A (früher) und Mb3 (später) zu Sigurjr über; das durchgehend stärker modernisierende B hat von Anfang an Sigurdr: Die Schreiber erkennen, dass es sich um den ihnen als ‚Sigurd‘ bekannten Helden handelt, und benutzen dann diese Form, außer in der Erzählung vom Tod Attilas, der nach der Thidreks saga bei den Schätzen im ‚Siegfriedkeller‘99 verhungert. Da diese Variante vom Tod Attilas im Norden unbekannt war, verstanden die Schreiber hier nicht die Verbindung zu Sigurd und behielten die deutsche Form bei. Bei Benutzung mündlicher Quellen wäre diese Vorgangsweise unvorstellbar.100 Auch die Jugendgeschichte Sigurds ist in der Thidreks saga nicht so erzählt, dass ein skandinavischer Abschreiber sofort erkannt hätte, dass es sich um dieselbe Figur wie Sigurjr Fáfnisbani handelt: Der Drache hat in der Thidreks saga weder einen Schatz (wie er auch im Nibelungenlied mit dem Hort nichts zu tun hat), noch heißt er Fafnir. Namenwechsel anlässlich der Berührung von Siegfriedund Ragnar-Sage? Die oben S. 144 ff. diskutierten erhaltenen altnordischen Texte nennen mehrere Vorfahren der nordischen Könige Sigurjr, insbesondere unter den dänischen und schwedischen Vorfahren von Harald Schönhaar. Dieser führte nach der Darstellung in Snorri Sturlusons Heimskringla seinen Stammbaum auf Ragnar Lodbrok, den Sohn des dänischen Königs Sigurjr Hringr (‚Sigurd Ring‘), zurück. Einerseits sind Zweifel an Snorris Zuweisung berechtigt, anderseits muss darauf hingewiesen werden, dass nicht jede mangelhaft abgesicherte Zuweisung falsch sein muss. So wurde betreffs des historischen Ragnar mehrfach darauf hingewiesen, dass in den historischen Quellen außer dem Überfall auf Paris (a. 845) wenig Sicheres berichtet wird; Marold meint daher, die Ragnarsage von ihm abtrennen zu sollen; noch weiter geht Rory McTurk, der den Beinamen Lodbrok für sagenhaft hält (aber siehe unten). 97
98 99 100
Die norwegische ‚Membran‘ (Mb; an den betreffenden Stellen die Schreiber Mb3 bzw. Mb5) und die isländischen Handschriften A und B, späte Abschriften von Vorlagen um 1250. Thidrekssaga [27] I, 305–306, Kap. 269 f. Sigisfroj Mb5 A, Sigfred B; Thidrekssaga [27] II, 326, Kap. 413. Reichert 1992 [60] 9; 14ff. Reichert 2003 [61] 62ff.
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Mit den Siegfried-Sigurd-Sagen gemeinsame Motive in den Sagen um Ragnar Lodbrok zeigt vor allem die Ragnars saga lojbrókar (2. Hälfte 13. Jahrhundert): Sie berichtet Ragnar Lodbroks Ehe mit Aslaug, der Tochter des Drachentöters Sigurd, und einen Kampf Ragnars mit einem auf einem Schatz liegenden Drachen; dieser gehört jedoch nicht zu seiner Beziehung mit Aslaug, sondern zu seiner ersten, bereits vorher verstorbenen Ehefrau Thora. Die genealogische Verbindung Sigurds ist stärker mit den Helden Helgi Hundingsbani und Sinfjqtli ausgeprägt als mit Ragnar. In der Jung-SigurdDichtung der Edda, bei Snorri und in der Vqlsunga saga werden drei Ehen Sigmunds vorausgesetzt, die die Sagenfiguren Helgi Hundingsbani, Sinfjqtli und Sigurd als seine Söhne verbinden, wobei einiges auf eine deutsche Vorgeschichte der Texte hinweist.101 Wann diese Konstruktion erfolgte, um Überlieferungen, in denen Sigmund als Vater jeweils anderer Helden genannt wurde, auf einen Nenner zu bringen, ist nicht eindeutig festzustellen. Im Beowulf liegt, aus dänischer Sagentradition kommend, nur die Verbindung mit Fitela / Sinfjqtli vor. In Bayern ist der entsprechende Name Sintarfizzilo vergesellschaftet mit Namen der Nibelungentradition, wie schon Jacob Grimm feststellte und in den letzten Jahrzehnten Wenskus102 und Störmer103 genauer untersuchten. Wenskus und Störmer taten dies mit dem Ziel, zu erweisen, dass die Namengebung adliger Familien eine Anknüpfung an Heldensagentraditionen zeigt, weil man sich als Nachkommen dieser Helden fühlt, nicht aus Bewunderung für literarische Werke. Das Entweder-Oder der von Wenskus gewählten Formulierung wird nicht mehr aufrecht erhalten; man fühlt sich vor allem deshalb als Nachkommen dieser Helden, weil von ihnen erzählt wird, und da lässt sich das Feld der Dichtung nicht ausschließen. Adäquater scheint die Formulierung von Haubrichs, „Helden leben, auch wenn sie sich an sog. ‚historische‘ Personen anknüpfen lassen, in jener historia, die ihre Erinnerung durch die Jahrhunderte trägt.“104 Die genealogische Verbindung Sigurds zu Ragnar Lodbrok über Sigurds und Brynhilds Tochter Aslaug wurde dagegen anscheinend erst relativ spät geschaffen.105 Wieso es zu dieser Möglichkeit kam, hängt stark von der Beurteilung der Vorgeschichte der Ragnarsage ab: 101 102 103 104 105
Zu Frakkland – Franken: von See 2006 [74] 122f. Wenskus 1973 [84]; Belege von Sintarfizzilo (Freising, a. 824 und 827) 436. Ältere Arbeiten zusammenfassend Störmer 1987 [76]. Haubrichs 2000 [38] 175. Die verschiedenen Möglichkeiten, die Vorstufen der erhaltenen Balladendichtungen in ein zeitliches Gerüst der Ragnar-Tradition einzureihen, diskutiert McTurk 1991 [52] 149–165; vgl. die Stemmata ebenda 240f.
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Der Ragnar Lodbrok der nordischen Sagen wurde früher allgemein mit einem Wikingerführer identifiziert, der in der dt. Form Reginheri in den Xantener Annalen zu seinem Todesjahr 845 erscheint.106 Dieser Reginheri wird in den karolingischen Quellen als Führer des Wikingerangriffs auf Paris von 845 genannt und ist möglicherweise identisch mit einem Raginarius, den die Vita Anskarii nennt; jedenfalls scheint Saxo Grammaticus die beiden für identisch gehalten und für die Darstellung seines Regnerus benutzt zu haben.107 Dass der Name ‚Lodbrok‘ diesem Wikingerführer Ragnar zukam, wird bisweilen bezweifelt; am radikalsten von Rory McTurk. Dessen Untersuchungen zu Ragnar sind die genauesten und überblicken das Material am besten, doch bewerte ich die Belege an entscheidenden Punkten anders. Er hält weder den von der späteren altnordischen Überlieferung gemeinten Ragnar für den Reginheri der karolingischen Quellen, noch den Wikingerführer, der von Wilhelm von Jumièges Lothrocus und von Adam von Bremen Lodparchus genannt wird, für dieselbe Person wie Reginheri.108 Adam folgte einer fränkischen Quelle, die Ingvar als einen Sohn Lodbroks kannte: Crudelissimus fuit Inguar, filius Lodparchi, qui christianos undique per supplicia necavit. Scriptum est in Gestis Francorum.109 Kurz vor Adam schrieb Wilhelm von Jumièges: Unter der Führung von Bier Coste Ferree (altnordisch: Bjqrn Járnsída), dem Sohn Lotroci regis, hätten im Jahr 851 Heiden aus Norwegen und Dänemark die Küsten verwüstet und Klöster verbrannt. Lothrocus, König von Dänemark, hatte nach dem Brauch des Landes einen seiner Söhne zum Nachfolger eingesetzt, während die anderen, darunter Bier Costae Ferree, gezwungen waren, sich eine Herrschaft im Ausland zu erobern. Costa Ferrea wurde so genannt, weil er in der Schlacht ohne Schild und ohne Rüstung stehen konnte und unverletzlich war, weil seine Mutter ihn mit Giften eingerieben hatte.110 Wenn wir den Tod des Reginheri mit 845 ansetzen und Björn nach dem Tod des Lodbrok sich 851 eine eigene Herrschaft suchen musste, ist es aus zeitlichen Gründen sinnvoll, Lodparchus/Lotrocus, Reginheri und Ragnar Lodbrok für identisch zu halten. Probleme sieht McTurk insbesondere, weil Todesart und Todesort von Reginheri und Ragnar nicht zusammenstimmen. Außerdem versucht er den Namen Lojbrók anders zu erklären: Am Ende der Ragnars saga lojbrókar, die vollständig nur in einer erst um oder nach 1400 entstandenen Handschrift überliefert ist,
106 107
108 109 110
Belegstellen bei Zettel 1977 [85] 162. Vita Anskarii Kap. 21, S. 46, zu a. 840 und Kap. 36, S. 71. Hss.: Raginarius bzw. Reginarius. Die Identität diskutiert McTurk 1991 [52] 2ff. (dort weitere Lit.). McTurk, besonders 1991 [52] 1ff. und 2003 [53] 111. Adam von Bremen [1] 1, 37 nach Fassung A1, S. 40. Wilhelm von Jumièges, Gesta Normannorum ducum [29] 1,1–1,5.
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findet sich ein Lied, in dem ein alter ‚Holzmann‘ (wohl eine Art Pfahlgötze) zu sprechen beginnt und erzählt, dass einst die Söhne lojbrokv an ihm vorbeigekommen seien. McTurk löst diese Abkürzung, die bisher stets als lojbrókar aufgelöst wurde, als hapax legomenon lojbróku Gen. Sg. fem. auf und baut darauf eine Theorie, der Name sei ursprünglich einer weiblichen Sagenfigur zugekommen. Diese Annahme erscheint mir, betreffend die Ragnars saga, unmöglich. Der Schreiber um 1400 und auch der Autor vor 1300 (bzw. der Redaktor der Fassung der Saga, in der das Lied erhalten ist) mussten der Meinung sein, Lojbrók sei ein Mann gewesen; eine gleichnamige Frau erscheint nirgends in der Saga. Das der Saga angehängte, aber doch zu ihr gehörige Lied kann älter sein als die Saga selbst, damit hat McTurk Recht. Aber der Autor und der Schreiber um 1400 mussten die im Lied genannte Person für einen Mann halten. Wenn der Schreiber die Abkürzung lojbrokv wählte, musste er der Meinung gewesen sein, diese solle für lojbrókar stehen. Dass der Autor vor 1300 eine alte schriftliche Fassung des Liedes benutzt hätte, die ein Femininum *Lojbróka kannte und den Genitiv mit lojbrokv abgekürzt hätte, und er, ohne das zu erkennen, diese Schreibung übernommen und der Schreiber um 1400 ebenso gedankenlos abgeschrieben hätte, ist wohl unmöglich; und eine andere Erklärungsmöglichkeit im Sinne McTurks sehe ich nicht. Ich halte die alte Auflösung als lojbrókar Gen. Sg. mask. für die einzig mögliche. Sehr wohl ist dagegen mit McTurk anzunehmen, dass der Verfertiger einer Runeninschrift aus der Mitte des 12. Jahrhunderts in einem steinzeitlichen Grabhügel auf Maeshowe (Orkaden) an eine weibliche Figur dachte. Diese Inschrift lautet „Dieser Grabhügel wurde früher errichtet als der Lojbrókar. Syner hænar pæir uoro huater … (‚Ihre Söhne waren tapfer‘)“. Dieser Grabhügel, in dem möglicherweise Wikinger Schutz vor einem Unwetter suchten, war tatsächlich uralt. Lojbrókar kann sowohl Maskulinum als auch Femininum, Genitiv, sein. Das hænar (‚ihre‘; Femininum, Genitiv Singular) der Runeninschrift scheint sich auf Lojbrókar zu beziehen und nicht etwa auf eine nach Meinung der Wikinger hier begrabene Steinzeitfrau; dann ist Lojbrókar Femininum. Die Aussage der Inschrift ist unklar, wie die vieler Maeshowe-Inschriften, die vielleicht nur aus Langeweile während einer witterungsmäßig bedingten Zwangspause auf einer Reise entstanden, und Barnes mahnt betreffend der Maeshowe-Inschriften allgemein: „what they say is to be taken with a large pinch of salt.“111 Einige der Graffitti enthalten unernste Bemerkungen über Frauen, die sich in dem Hügel aufgehalten haben sollen. Aber auch wenn wir Lojbrókar hier mit McTurk als Femininum ansetzen, bedeu-
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Barnes 1994 [30] 38.
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tet es nur, dass im 12. Jahrhundert der Spitzname ‚Lodenhose‘ für eine Frau benutzt werden konnte; das wäre nicht erstaunlich: die Hallgerd der Njalssaga (spätes 13. Jahrhundert) trägt den Beinamen langbrók ‚Langhose‘. Ob der Spitzname der in Maeshowe Gemeinten ihr in Anlehnung an Ragnar Lodbrok verliehen wurde, kann offen bleiben, obwohl zwei Argumente dafür sprechen: ‚dieser Hügel ist älter als der von Lodbrok‘ soll heißen ‚dieser Hügel ist uralt‘. Dann muss Lodbrok wohl auf eine bekannte Sagenfigur Bezug nehmen. Aber ob die nach Maeshowe verschlagenen Wikinger wussten, wie Ragnars Gattin geheißen hatte, und ob sie genaue Heldensagenkenntnis hatten, ist nicht gesichert. Keine der insgesamt 30 Maeshowe-Inschriften zeugt von Heldensagenkenntnis der Verfasser. Wer Haralds Stammbaum schuf oder manipulierte (nach McTurks Meinung Ari oder einer seiner Vorgänger, also vor 1140 oder noch früher), tat es sicher nicht, indem er den Namen einer bekannten weiblichen Sagenfigur zum Namen von dessen Vater machte. Das wäre undenkbar; es würde Harald verunglimpfen. Die geschichtskundigen Männer können eine solche Sage nicht gekannt haben. Dafür, dass die Heldensagenkenntnis der Maeshowe-Wikinger profunder war als die Aris des Weisen, spricht nichts. Als Zeugnis für eine alte Form der Ragnarsage ist mir die Maeshowe-Inschrift daher zu suspekt. Was sie wirklich beweist, ist nur, dass der Name ‚Lodbrokssöhne‘ um 1150 allgemein bekannt war; dass die Söhne in der Sage wichtiger waren als der Vater, arbeitete schon de Vries heraus.112 Die Ragnars saga zeigt keine Spur einer Vermischung der an einem Kriegszug ihrer Söhne gegen Schweden unter dem Namen Randa-lín (‚Schild-Frau‘) teilnehmenden zweiten Gattin Ragnars mit einem ‚weiblichen Ursprung‘ Ragnars; das Vorkommen einer walkürenartigen Sagenfigur in einer Saga des 13. Jahrhunderts bedarf keiner besonderen Begründung, insbesondere wenn sie Tochter Brynhilds sein soll. Was die Wortbedeutung von Lojbrók betrifft, hat zunächst Jan de Vries Recht, dass der Name nicht mehr besagt, als dass sein Träger auffällige, verfilzte Hosen trug: „einen rohen, ungeschlachten Wiking, der in zottigen Tierfellen einherschritt“.113 Doch über diese Grundbedeutung hinaus ergeben sich Möglichkeiten für Zusatzdeutungen: Wenn Ragnar in späten Sagenformen Unverwundbarkeit zugeschrieben wird, die von seiner Kleidung abgeleitet wird, und schon im ältesten Text sein Sohn durch magische Praktiken (Einreiben mit Giften) als unverwundbar gilt: Sollte nicht schon recht früh, vielleicht sogar zu Ragnars Lebzeiten, in den Vorstellungen der
112 113
De Vries 1928 [82] 292f. De Vries 1928 [82] 270.
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Zeitgenossen dieses spezielle Kleidungsstück magische Eigenschaften besessen haben? Die Ragnars saga braucht dazu, rationalisierend, einen kompletten Spezialmantel, um den Schlangen das Eindringen zu erschweren. Das ist erst dann notwendig, wenn man Magie rational erklären will, bzw. wenn man die Sage vom Heldentod im Schlangenzwinger auf Ragnar überträgt. Ein Mann, der von Schlangen gebissen wird, ist bereits auf einer Darstellung des Osebergwagens erhalten, der dendrochronologisch genau datierbar ist und von dem daher zweifelsfrei feststeht, dass er einige Jahrzehnte vor Reginheris Tod entstand. Mit ‚Gunnar in der Schlangengrube‘ lässt sich die Oseberg-Darstellung nur beschränkt vergleichen, weil wir die löwenartigen Figuren, die „Gunnar“ umgeben, nicht deuten können; meist vermutet man, es handle sich um eine ältere, von den uns bekannten literarischen Gestaltungen abweichende Darstellung von Gunnar. Da keine Sagenfigur bekannt ist, von der das Motiv auf Gunnar übertragen worden sein könnte, ist es misslich, ad hoc zu behaupten, das Motiv sei nicht genuin für die Nibelungensage erfunden worden, sondern von einem älteren Sagenhelden auf Gunnar übertragen. Aber ausschließen lassen sich solche Möglichkeiten nicht. Auf Ragnar Lodbrok können zwar magische Vorstellungen über seine Unverwundbarkeit, verbunden mit seiner auffälligen Hose, schon zu Lebzeiten von seinen Zeitgenossen übertragen worden sein, aber Berichte über die Art seines Todes natürlich erst danach. Solche Legenden bilden sich bei historisch interessanten Persönlichkeiten oft unmittelbar nach ihrem Ableben und werden von der Nachwelt bis zur Unkenntlichkeit verändert. Auch der Ort ihres Todes kann dabei stark verändert werden (der Burgunderkönig Gundaharius starb weder im Schlangenzwinger noch in Ungarn). Die Sage über seinen Tod setzt sofort nach dem Tode des Betreffenden ein; die über seine Taten vermutlich schon zu Lebzeiten. Die Verwandtschaft war dagegen wichtig; dass man die Vorfahren nach unten zu ins Mythische verlängerte, konnte einen König charismatisch erscheinen lassen. Dass in den bekannten ‚Geschlechteraufzählungen‘ (altnordisch ættartal ), angefangen mit der Amalergenealogie Cassiodors für Theoderich, geschwindelt wurde, wissen wir; aber es war Schwindel. Die Reihe der eigenen Vorfahren war etwas, das man wo möglich unverändert den Nachkommen tradierte. ‚Nomen et gens‘ hat einen starken diachronen Aspekt. Dass aber Dichtung Geschehnisse anders beschreibt und auf ‚historische Fakten‘ nicht angewiesen ist, habe ich am Beispiel des Beowulf v. 867 ff. erläutert, wo der Skop angesichts der dem Ungeheuer Grendel ausgerissenen Tatze die Tat des Beowulf mit Hilfe eines Liedes über Sigmund den Drachentöter preist, noch bevor Beowulf erzählt, was in der Nacht vorgefallen war: Die Dichtung über eine Großtat setzt schon ein, bevor der Held überhaupt Gelegenheit hatte, den Verlauf
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zu berichten.114 Dichtung braucht keinen Tatsachenbericht als Quelle, und nachfolgende Dichter verändern Todesart, Gegner und Todesort nach aktuellen Gegebenheiten. So wie es im 10. Jahrhundert Grund gab, Attila wie einen Ungarnkönig zu zeichnen und mit Gundaharius in Verbindung zu bringen, könnte es Motive gegeben haben, schon Ivars Vater und nicht erst diesen in England sterben zu lassen. Der Name Ragnarr / Reginheri ist von vielen Namen der Heldensage dadurch unterschieden, dass die beiden Namenformen in lautgesetzlich richtigem Verhältnis zueinander stehen. Wäre ein deutscher Name Reginheri nach Skandinavien exportiert worden, so hätte man dort sicher nicht erkannt, dass die altnordische Entsprechung korrekt Ragnarr sein sollte; er hätte im Altnordischen die Umlaute behalten. Der Name *Raginaharjaz ist aber als Personenname mindestens seit dem 6. Jahrhundert belegt, und sowohl west- als auch nordgermanisch, vielleicht auch ostgermanisch, daher möglicherweise ein gemeingermanischer Name.115 Ein etymologisch für uns durchsichtiger Name wie bairisch Sintarfizzilo (‚der mit sinterfarbenen Fesseln‘ = ‚Wolf ‘116) ist bei der Übertragung ins Altnordische, zu Sinfjqtli, der erwartbaren Synchronumgestaltung unterworfen worden: die althochdeutsche Lautverschiebung von t zu zz war synchron durchsichtig und wurde üblicherweise berücksichtigt, wenn auch bisweilen hyperkorrekt. Sintar war nicht durchsichtig und wurde daher bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, bei der Weiterwanderung von Dänemark in den Beowulf bis zur Eliminierung: dort heißt er nur mehr Fitela. Ragnar trug also einen alten Namen, der in Deutschland wie Skandinavien bekannt war und synchron als identisch durchschaut wurde. In welcher Relation Bragis Gönner Ragnar zu Ragnar Lodbrok steht, ist nicht feststellbar; aber die Ragnarsdrápa ist die älteste uns fassbare Stufe für den Namen des Vaters Ragnars im Nordischen (sofern nicht mit Hs. U der Name der Mutter anzusetzen wäre; siehe oben S. 146), und zwar in der Namensform Sigurdr.117 So heißt auch in der Heimskringla der Vater von Ragnar Lodbrok; und Ragnar Lodbroks zweiter Schwiegervater wird in der Ragnars saga mit Sigurd dem Drachentöter gleichgesetzt. Eine Vereinnahmung Ragnars durch die Sage, einschließlich Veränderung seiner Lebensdaten, vermutete Herrmann schon in frühen iri114 115
116
117
Reichert 2003 [61] 60. Westgerm.: fränkisch Ragnacharius und Ragnecharius (Gregor von Tours; Belegstellen bei Reichert 1987 [59] S. 549 f.); ostgerm.: vielleicht wandalisch Raginari (aber auch die Lesung ragihari wäre möglich), Reichert ebenda. Nordgerm. ist Ragnar Lodbrok der früheste belegte Träger des Namens. Die sprachlich ebenfalls mögliche Deutung als ‚Kriegfahrtsgänger‘ ist semantisch weniger einleuchtend. Literaturangaben bei Haubrichs 2000 [38] 177. Reichert 2003 [61] 78ff.
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schen Quellen,118 doch ist die Identifikation der Personen und die Interpretation der Aussagen dort äußerst unsicher.119 Eine volle Darstellung der Ragnarsage haben wir erst in der Saga. Die Ragnars saga schreibt Ragnar Lodbrok eine Drachentötung zu, und zwar schon anlässlich der Gewinnung seiner ersten Frau Póra borgarhjqrtr (‚Thora Burghirsch‘); die Tochter des Drachentöters Sigurd heiratet er erst nach deren Tod. Mit Thora Burghirsch ist durch ihren Namen das in der skandinavischen Nibelungensage mehrfach auftretende Hirsch-Motiv verknüpft, mit ihrer Gewinnung das der Unverwundbarkeit, allerdings nicht durch das Blut des Drachen, sondern durch eine besonders gehärtete Lodenkleidung, die Ragnar sich für den Drachenkampf zulegt, und die ihn auch (am Ende seines Lebens im Schlangezwinger nur beinahe) weiterhin schützt. Drachenstich (mit einer Lanze, nicht wie Siegfried / Sigurd mit dem Schwert), Hirsch, Schatz, Gewinnung einer Jungfrau, Unverwundbarkeit und Tod im Schlangenzwinger sind hier in einer Person verknüpft; gerade deswegen macht die Ragnarssaga den Eindruck des Sekundären. Auch Ragnar ist für die Saga schon Sohn eines Sigurd, und zwar des dänischen Königs ‚Sigurd Hring‘. Adam von Bremen beschreibt die Ereignisse von 812 fast wortgleich mit den Einhard-Annalen, doch nennt er mehr Namen aus uns nicht erhaltenen fränkischen Quellen: Per idem tempus Hemmingo rege Danorum mortuo Sigafrid et Anulo, nepotes Godafridi, cum inter se de primatu regni convenire non possent, prelio sceptrum diviserunt. … reges ambo ceciderunt, pars Anulonis cruenta victoria potiti Reginfridum et Haraldum in regnum posuerunt. Moxque Reginfridus ab Haraldo pulsus classe piraticam exercuit; Haraldus con imperatore fedus iniit. Historia Francorum haec plenius exequitur.120 Bei Einhard sind die Gegner Sigifrid und Anulo nicht beide nepotes Godefridi, sondern Sigifridus nepos Godafridi et Anulo nepos Herioldi. Leider haben wir keine Kontrollmöglichkeiten, ob die Sage die beiden schon vor Adam zu Verwandten gemacht hatte oder Adam, einen karolingischen Text verkürzend, einen Fehler beging. Ob Snorri seinen Beinamen Sigurd erfunden oder nach guten Quellen richtig wiedergegeben hat, können wir nicht entscheiden. Bei Saxo Grammaticus heißt der Vater des Regnerus ebenfalls Sivardus Ring, hat aber einen Vetter Ringo, der dem Anulus Adams entspricht. De Vries vermutete, dass die Übersetzung von anulus (lat. ‚Fingerring‘) durch Ring ein Irrtum Saxos sein könne, der irrig Anulo bei Adam von Bremen für eine Übersetzung eines germanischen Namens ins Lateinische gehalten hätte, während der von Adam gemeinte König tatsächlich Ali 118 119 120
Herrmann 1922 [39] 615. Zu den vermuteten Nennungen Ragnars in irischen Quellen s. McTurk 1991 [52] 41–47. Adam von Bremen [1] I, 15.
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oder ähnlich geheißen hätte.121 Dann müsste aber Snorri von Saxo abhängen. Außerdem gab es den Namen Ring tatsächlich: auch Adam kennt einen Ring, und zwar einen Schwedenkönig (den Saxo ebenfalls nennt; Saxo erwähnt mehrere Personen namens Ring und Ringo).122 In Deutschland ist dagegen die Generationenabfolge Sigmund – Sigfrid gesichert: ein Sigifridus filius Sigimundus ist im Elsass schon ab a. 743 belegt.123 Haubrichs formuliert, dass das „bereits die neuen Heldennamen der Sage reflektiert“.
3. Folgerungen: der Ersatz von ‚Siegfried‘ durch ‚Sigurd‘ Die Verbindungen der bairischen Nibelungenüberlieferung mit der nordischen arbeitete vor allem Reinhard Wenskus heraus. Sehr einleuchtend erscheint seine Erklärung der Entstehung des Namens ‚Siegfried‘ als Variation zu Sigimund und Irminfrid, da in einem Überlieferungszweig im Elsass ein Sigifrid Sohn eines Sigimundus sowie ein Sigirich und ein Irminfrid vorkommen. Sigirich hieß der Sohn des Burgunderkönigs Sigismund; die Familie betonte also burgundische und thüringische Beziehungen.124 Erstaunlich ist, dass in den Lorscher Traditionen schon a. 797 ein Reginher mit dem Beinamen Alberich auftritt;125 die Nibelungen-Namen also aus demselben Personenkreis stammen wie der Name Ragnars. Da einige der von Wenskus genannten Namen häufig sind, kann es sich in manchen Fällen um zufällige Übereinstimmungen handeln. Zufall ist jedoch nicht möglich bei seltenen Namen, wie bairisch Hamming zum Namen des Dänenkönigs Hemming.126 Ob dänische Traditionen nach Bayern wanderten oder bairische nach Dänemark (etwa durch eine Heiratsverbindung), oder von einem mittelrheinischen Ursprungsgebiet nach Bayern und Dänemark, dazu äußert Wenskus sich nicht. Etymologische Durchschaubarkeit ist bei Sintarfizzilo gegeben, bei Sinfjqtli nicht, was für Wanderung von Deutschland (Bayern oder Franken) nach Norden spricht. Da nun, vor allem durch die irischen Zeugnisse, gezeigt werden kann, dass die ältesten entsprechenden nordischen Personennamen die Form ‚Siegfried‘ trugen, ist es unwahrscheinlich, dass die betreffende Figur der Nibelungensage dort unter dem Namen ‚Sigurd‘ be-
121 122 123 124 125 126
De Vries 1923 [81] 247 und 1928 [82] 260. Adam von Bremen [1] I, 61; S. 59, zu a. 935/936. Haubrichs 2000 [38] 202; Wenskus 1973 [84] 425. Wenskus 1973 [84] 412f. Wenskus 1973 [84] 427. Wenskus 1973 [84] 459.
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kannt war. ‚Sigurd‘ wird wohl ein nordischer Drachentöter gewesen sein, aber am ehesten aus Zusammenhängen mit den Jung-Sigurd-Liedern der Liederedda, die ja mit der skandinavischen Nibelungenüberlieferung nur ganz lose verknüpft sind und ihre Ursprünge mehr in aus Mythen als in aus Geschichte hergeleiteter Heldensage haben. Dass Wenskus auch den Namen Reginher in Lorscher, also oberrheinischen, Familien nachweisen konnte, zeigt die Verbindung des dänischen Herrschergeschlechtes mit der rheinischen Namentradition. Die Personennamen-Verbindungen sind also nicht erst durch die Sagen ausgelöst, sondern Sagenübernahme ergibt sich aus Verwandtschaftsbeziehungen, die auch durch die Personennamengebung manifestiert werden. Der 845 verstorbene Wikinger Reginheri trug demnach einen Namen, der die Beziehungen des dänischen Königshauses zu den Karolingern betonte. So wird auch der Name ‚Siegfried‘ der frühen dänischen Könige keine Substitution deutscher Quellen für originales ‚Sigurd‘ sein, sondern eine politisch motivierte Annahme deutscher Namen durch das dänische Königsgeschlecht spiegeln. Die nordischen Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts sahen das freilich nicht gerne und ersetzten nach und nach in den meisten Einträgen den Namen ‚Siegfried‘ durch ‚Sigurd‘, von dem fraglich bleibt, ob es vorher ein alter nordischer Personenname oder ein mythologischer Name war.
Quellen- und Literaturverzeichnis RGA2 = Hoops Reallexikon der germanischen Altertumskunde (Berlin 21973 ff.)
a) Quellen 1 Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte, hg. von Bernhard Schmeidler (MGH SS in usum scholarum 2) (Hannover/Leipzig 1917) 2 Ágrip dipl.: Ágrip af Nóregs konunga sögum. Diplomatarisk udgave, hg. von Verner Dahlerup (Samfundet til udgivelse af gammel nordisk litteratur) (Kopenhagen 1880) 3 Ágrip af Nóregskonungasogum. A twelfth-century synoptic history of the kings of Norway, hg. von Matthew J. Driscoll (Viking Society for Northern Research Text Series) (London 1995) 4 Ammianus Marcellinus, hg. von Wolfgang Seyfarth (Leipzig 1978) 5 Anglo-Saxon Charters (The Electronic Sawyer), hg. von der British Academy – Royal Historical Society (01. 10. 2007) 6 Annales Mettenses priores, hg. von Bernhard von Simson (MGH SS in usum scholarum 10) (Hannover/Leipzig 1905)
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7 Annales Regni Francorum inde ab a. 741 usque ad a. 829, qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi, hg. von Friedrich Kurze (MGH SS in usum scholarum 6) (Hannover 1895) 8 The Annals of Ulster, hg. von Seán Mac Airt / Gearóid Mac Niocaill, vol. 1, Text and Translation (Dublin 1983) 9 Beda Venerabilis, Vita Cuthberti prosaica (Migne, Patrologia Latina 94) (Neudruck 1968) 10 Chronica Minora saec. IV. V. VI. VII., hg. von Theodor Mommsen (MGH AA 9, 11, 13) (Berlin 1892–1898) 11 Danmarks Runeindskrifter, hg. von Lis Jacobsen / Erik Moltke (Kopenhagen 1937–1942) 12 Flodoardus von Reims, Annales, hg. von G. H. Pertz (MGH SS III) (Hannover 1839) 13 Gregor der Große, Briefe: Gregorii I papae registrum epistolarum II, hg. von Ludwig M. Hartmann (MGH EE II) (Berlin 1899) 14 Historia Augusta: Historiae Augustae scriptores, hg. von Ernst Hohl (Stuttgart 1971) 15 Islandske annaler indtil 1578, hg. von Gustav Storm (Christiania 1888) 16 Íslendingabók. Landnámabók, hg. von Jakob Benediktsson (Íslenzk Fornrit 1,1 und 1,2) (Reykjavík 1958) 17 Kormáks saga, hg. von Einar Ól. Sveinsson (Íslenzk Fornrit 8) (Reykjavík 1939) 18 Oddr: Det Arnamagnæanske Haandskrift 310 qvarto: Saga Olafs Konungs Tryggvasonar er ritaji Oddr muner. En gammel norsk bearbeidelse af Odd Snorresøns paa latin skrevne saga om Kong Olaf Tryggvason, hg. von P. Groth (Christiania 1895) 19 Poeta Saxo, Annales de gestis Caroli magni imperatoris, hg. von Paul von Winterfeld (MGH Poetae latini aevi Carolini 4,1) (Berlin 1899) 1–71 20 Rimbert: Vita Anskarii auctore Rimberto, hg. von Georg Waitz (MGH SS in usum scholarum 55) (Hannover 1884) 21 Saxonis Grammatici Gesta Danorum, hg. von Alfred Holder (Straßburg 1886) 22 Scriptores rerum Langobardicarum et Italicarum saec. VI–IX, hg. von Georg Waitz (MGH SS Rer. Lang.) (Hannover 1878) 23 Skjaldedigtning: Finnur Jónsson (Hg.), Den norsk-islandske Skjaldedigtning, (Kopenhagen 1912ff.) 24 Snorri Sturluson, Heimskringla, hg. von Bjarni Ajaljbarnarson (Íslenzk Fornrit 26) (Reykjavík 1941–1951) 25 Södermanlands Runinskrifter, hg. von Erik Brate (Sveriges runinskrifter 3) (Stockholm 1924–36) 26 Theodorici Monachi Historia de antiquitate regum Norwagensium. In: Monumenta Historica Norvegiae, Latinske Kildeskrifter til Norges historie i middelalderen, hg. von Gustav Storm (Kristiania-Oslo) 1880) 1–68 27 Thidrekssaga: Pijriks saga af Bern, hg. von Henrik Bertelsen, 2 Bde. (Kopenhagen 1905–1911) 28 Die Urkunden der Merowinger 1, hg. von Theo Kölzer (MGH Diplomata, DD Mer.) (Hannover 2001)
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29 Wilhelm von Jumièges: The Gesta Normannorum ducum of William of Jumièges, Orderic Vitalis and Robert of Torigni, Introduction and books I–IV, hg. von Elisabeth M. C. van Houts (Oxford medieval texts) (Oxford Neudruck 1998)
b) Literatur 30 Michael P. Barnes, The runic inscriptions of Maeshowe, Orkney (Runrön 8) (Uppsala 1994) 31 W. Becker, Beda Venerabilis, II. Beda als lateinischer Schriftsteller. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1 (München u. a. 1980) Sp. 1775–1778 32 Thomas Birkmann, Von Agedal bis Malt (Ergänzungsbände zum RGA 12) (Berlin 1995) 33 Wilhelm Braune / Ingo Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik Bd. 1, Laut- und Formenlehre (Tübingen 152004) 34 Wilhelm Bruckner, Die Sprache der Langobarden (Quellen und Forschungen zur Sprachund Culturgeschichte der germanischen Völker 75) (Strassburg 1895) 35 Hilda Ellis Davidson – Peter Fisher, Saxo Grammaticus. The History of the Danes. Books I–IX. Volume 2: Commentary (Cambridge 1980) 36 Ernst W. Förstemann, Altdeutsches Namenbuch, Bd. 1: Personennamen (Bonn 21900) 37 Jacob Grimm, Sintarfizilo. In: ZfdA 1 (1841) 2–5 38 Wolfgang Haubrichs, Sigi-Namen und Nibelungensage. In: Blütezeit. FS L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag, hg. von Marc Chinca / Joachim Heinzle / Christopher Young (Tübingen 200) 175–206 39 Paul Herrmann, Erläuterungen zu den ersten neun Büchern der dänischen Geschichte des Sax Grammaticus, 2. Teil: Kommentar (Leipzig 1922) 40 Andreas Heusler, Heldennamen in mehrfacher Lautgestalt. In: ZfdA 52 (1910) 97–107 41 John Insley, Sigtrygg von Dublin. In: RGA2 Bd. 28 (2005) 399–403 42 A. H. M. Jones / J. R. Martindale / J. Morris, Prosophography of the Later Roman Empire (Cambridge 1971ff.) 43 Henning Kaufmann, Ergänzungsband zu Förstemann, Personennamen (München / Hildesheim 1968) 44 Kluge / Seebold: Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold (Berlin 242002) 45 Gunnar Knudsen / Marius Kristensen, Danmarks gamle personnavne, I. Fornavne (Kopenhagen 1936–1964) 46 Wolfgang Krause, Runeninschriften im älteren Futhark (Göttingen 1966) 47 Agathe Lasch, Mittelniederdeutsche Grammatik (Tübingen 21974) 48 Gudrun Lange, Die Anfänge der isländisch-norwegischen Geschichtsschreibung (Studia Islandica 47) (Reykjavík 1989) 49 E. H. Lind, Norsk-isländska Dopnamn ock fingerade namn från Medeltiden (Uppsala 1905–1915); Supplementband (Oslo 1931) 50 Edith Marold, Kenningkunst (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N. F. 80) (Berlin 1983)
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51 Edith Marold, Ragnarsdrápa und Ragnarssage. Versuch einer Interpretation der Ragnarsdrápa. In: Germanic Dialects: Linguistic and Philological Investigations, hg. von Bela Brogyanyi / Thomas Krömmelbein (FS Heinz Klingenberg) (Amsterdam 1986) 427–457 52 Rory McTurk, Studies in Ragnars saga lodbrókar and its Major Scandinavian Analogues (Medium Aevum monographs; N. S. 15) (Oxford 1991) 53 Rory McTurk, Ragnars saga lojbrókar. In: RGA2 Bd. 24 (2003)108–112 54 Rudolf Much, Die Sippe des Arminius. In: ZfdA 35 (1891) 361–371 55 Karl Müllenhoff, Anmerkungen zu ‚Sigfrids Ahnen‘. In: ZfdA 23 (1879) 155–173 56 Robert Nedoma, Personennamen in südgermanischen Runeninschriften (Heidelberg 2004) 57 PASE – Prosopography of Anglo-Saxon England, Internetausgabe !http:www.pase.ac.uk" (30. 09. 2007) 58 Lena Peterson, Lexikon över urnordiska personnamn (Uppsala 2004) (PDF auf http://www.sofi.se). 59 Hermann Reichert, Lexikon der altgermanischen Namen, Bd. 1 (Wien 1987) 60 Hermann Reichert, Heldensage und Rekonstruktion. Untersuchungen zur Thidrekssaga (Philologica Germanica 14) (Wien 1992) 61 Hermann Reichert, Die Nibelungensage im mittelalterlichen Skandinavien. In: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, hg. von Joachim Heinzle / Klaus Klein / Ute Obhof (2003) 29–88 62 Hermann Reichert, Segestes (namenkundlich). In: RGA2 Bd. 28 (2005a) 105f. 63 Hermann Reichert, Segimer (namenkundlich). In: RGA2 Bd. 28 (2005b) 107f. 64 Wilhelm Schlaug, Die altsächsischen Personennamen vor dem Jahre 1000 (Lunder germanistische Forschungen 34) (Lund 1962) 65 W. Schlüter / R. Wiegels, Kalkriese. In: RGA2 Bd. 16 (2000) 180–199 66 William George Searle, Onomasticon Anglo-Saxonicum. A list of anglo-saxon proper names from the time of Beda to that of King John (Cambridge 1897) 67 T. Schmid, Sigfrid. In: Kulturhistoriskt Lexikon för Nordisk Medeltid 15 (1970) 185–187 68 Bojana Schneider, Berichte antiker Historiographen über die „Schlacht im Teutoburger Wald“ (clades Variana) in Relation zu Funden und Befunden der neuesten archäologischen Ausgrabungen in Kalkriese. Osnabrücker Online-Beiträge zu den Altertumswissenschaften 6/2002. 69 Schoch, Herakles 2. In: RE Suppl. 4 (1924) Sp. 731–732. 70 Edward Schröder, Grundgesetze der Personennamen. In: ders., Deutsche Namenkunde. Gesammelte Aufsätze zur Kunde deutscher Personen- und Ortsnamen (Göttingen 21944) 12–27 71 Klaus von See / Beatrice La Farge u. a., Kommentar zu den Liedern der Edda, Bd. 5: Heldenlieder (Heidelberg 2006) 72 Eduard Sievers, Nordische kleinigkeiten. In: Arkiv för nordisk filologi 5 (1889) 132–141 73 Alexander Sitzmann / Friedrich Grünzweig, Die altgermanischen Ethnonyme (Philologica Germanica 28) (Wien 2008)
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74 Frank M. Stenton, Anglo-Saxon England (Oxford 31985) 75 Marie Stoklund, Haijaby § 9. Runeninschriften. In: RGA2 Bd. 13 (1999) 384–387 76 Wilhelm Störmer, Nibelungentradition als Hausüberlieferung frühmittelalterlicher Adelsfamilien? In: Nibelungenlied und Klage: Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985, hg. von Fritz P. Knapp (Heidelberg 1987) 1–20 77 Jan-Olof Tjäder, Die nichtliterarischen lateinischen Papyri Italiens aus der Zeit 445–700 (Skrifter utgivna av Svenska Institutet i Rom, Series in 4°; Bd. 19 / 1–3) (Stockholm 1955–1983) 78 Christian Uebach, Die Landnahmen der Angelsachsen, der Wikinger und der Normannen in England; eine vergleichende Analyse (Marburg 2003) 79 Walther Vogel, Die Normannen und das Fränkische Reich (Heidelberger Abhandlungen 14) (Heidelberg 1906) 80 Jan de Vries, Altnordisches Etymologisches Wörterbuch (Leiden 1977) 81 Jan de Vries, Die historischen Grundlagen der Ragnarssaga Lojbrókar. In: Arkiv för nordisk filologi 39 (1923) 244–274 82 Jan de Vries, Die westnordische Tradition der Sage von Ragnar Lodbrok. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 53 (1928) 257–302 83 Egon Wamers, Insular Finds in Viking Age Scandinavia and the State Formation of Norway. In: Ireland and Scandinavia in the Early Viking Age, hg. von Howard B. Clarke (Dublin 1998) 37–72 84 Reinhard Wenskus, Wie die Nibelungen-Überlieferung nach Bayern kam. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 36 (1973) 393–449 85 Horst Zettel, Das Bild der Normannen und der Normanneneinfälle in westfränkischen, ostfränkischen und angelsächsischen Quellen des 8. bis 11. Jahrhunderts (München 1977)
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Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 169–185 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
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Woher hat frz. allemand (< alamannus) sein -d ? Überlegungen zu Romanisierungsvorgängen bei germanischen Personennamen mit auslautendem Nasal in der frühmittelalterlichen Galloromania MARTINA PITZ
„Die Geschichte der Alemannen ist … eine Geschichte voller Rätsel“, hat der Jubilar im ersten Satz seiner im akademischen Unterricht unentbehrlich gewordenen Darstellung dieser westgermanischen gens betont (Geuenich 1997, 9). Zu diesen Rätseln gehöre unter anderem, „dass die Franzosen, Spanier, Portugiesen mit eben diesem Namen (Allemands) die Deutschen bezeichnen, zu denen doch ebenso die Sachsen, Westfalen, Hessen, Thüringer, Bayern, usw., gehören“; man müsse also „registrieren, dass derselbe Name jeweils einen anderen Personenkreis bezeichne[n]“ kann. Das Geheimnis um die eigentliche Motivation dieser Fremdbezeichnung der Deutschen – bzw. eigentlich der Germanophonen, der frühmittelalterlichen Sprecher der theodisca lingua, oder vielleicht doch nur einer bestimmten Teilmenge dieser Sprecher, nämlich der Alamanni? – im Französischen als Allemands wird sich auf wenigen Seiten nicht lösen lassen. Für die gens der Alemannen differierten die Bezeichnungen bei Romanophonen und Germanophonen offensichtlich schon in karolingischer Zeit; Wolfgang Haubrichs (2004, 205) hat auf eine Bemerkung aus der um 840 entstandenen Vita Sancti Galli des Reichenauer Abts und Erziehers Karls des Kahlen Walahfrid Strabo hingewiesen, in der dieser deutlich macht, dass Sprecher des latine für diese Bevölkerungsgruppen die Bezeichnung Alamanni hätten, während man in der theotisca lingua den Begriff Suebi benutze – was zumindest teilweise erklärt, warum „die deutschsprachigen Schweizer“, und im Übrigen auch die Elsässer (DWB 15, 2143), bis heute „gewohnt sind, die Deutschen ‚Schwaben‘ zu nennen“1 (Geuenich 1997, 9). Es ist wohl tatsächlich vor allem das von Wolfgang Haubrichs (2004, 207) eindrucksvoll 1
Dies freilich mit einem pejorativen Unterton, der gelegentlich der political correctness entbehrt.
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Martina Pitz
vorgeführte Nebeneinander „von supragentilem Begriff theodiscus und anderen intragentilen Begriffen“, speziell im Sprachgebrauch des 9. Jahrhunderts, das letztlich zu der auffälligen „Varianz in den Außenbezeichnungen der Nachbarvölker für das ‚Deutsche‘ und die ‚Deutschen‘“ führte. In dieser Zeit erreichte die seit dem 8. Jahrhundert sich vollziehende Entmischung der Sprachen durch die Ausbildung des lothringischen Mittelreichs und die anschließende Aufteilung Lotharingiens im Vertrag von Meersen eine neue Dynamik, die die sprachgrenzferneren Interferenzzonen wohl doch erheblich schneller zusammenschmelzen ließ, als dies allzu optimistische Einschätzungen etwa für die Trierer Moselromania gerne wahrhaben wollten (Pitz im Druck a) – was freilich ein etwas längeres Weiterleben des Moselromanischen „punktuell und ko-areal zum Fränkischen“ (Post 2004, 2) nicht grundsätzlich ausschließt. In diesem Prozess der sich anbahnenden europäischen Regnogenese, in dessen Verlauf mit den sich wandelnden politischen Verhältnissen auch die alte Mehrsprachigkeit des fränkischen Reiches nahezu überall zerrann und die Sprache des Nachbarn immer mehr zur Fremdsprache wurde, „übernehmen [die einen] theodiscus oder peodisk; die anderen aber richten sich nach den gentilen Bezeichnungen der am nächsten wohnenden Völker und generalisieren sie dann für das ‚Deutsche‘ oder die ‚Deutschen‘“ (Haubrichs 2004, 207). Dabei kristallisierte sich bei der romanophonen Bevölkerung der nördlichen Galloromania afrz. tiedeis, mfrz. tiois 2 (< frk. *peudisk bzw. mlat. theodiscus), das ursprünglich wohl als „Gegenbegriff zu roman“ (Heim 1984, 78) für die Varietäten der westlichen Franken gegolten hatte, als Bezeichnung für die Sprecher nieder- und mittelfränkischer Varietäten diesseits der Sprachgrenze3 heraus, während sich für den Volksbegriff deutsch 2
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Belege dazu bei Heim (1984, 78ff.); FEW XVII, 393; Gdf VII, 723f. Dagegen muss alothr. duche ‚langue allemande‘ (FEW 17, 394a) wegen seines anlautenden d- als direkte Grenzentlehnung aus den benachbarten deutschen Dialekten betrachtet werden, für die die Eigenbezeichnung der Sprecher bis heute ditˇs bzw. dèitˇs lautet (Follmann 1909, 92); eventuell spielt auch elsäss. dütsch (Martin/Lienhart 1907, 733) mit hinein. Möglicherweise diente als Vorlage eine Eigenbezeichnung der germanophonen Minderheit in der Stadt Metz selbst, die sich im späten Mittelalter in den Stadtvierteln Outre-Seille und Outre-Moselle angesiedelt hatte. Zu Deutschkenntnissen in Metz ausführlich Haubrichs 2000, 52ff. Deutlich wird das z.B. im Fabliau De deux Angloys et de l’anel aus dem 13. Jahrhundert, in dem ein Engländer, dem man seine nicht muttersprachliche Kompetenz der langue d’oïl offensichtlich anhört, von einem Ratsherrn gefragt wird: Es tu Auvergnaz ou Tiois? – Nai, nai, fait il, mi fout Anglois (Montaiglon/Raynaud 1872–1890, Bd. 2, 180). Zu notieren bleibt, dass für die Varietäten Flanderns eine eigene Bezeichnung flamenc ’flämisch’ seit ca. 1200 belegt ist (TLFi s.v. flamand), deren sprachgeographischer Geltungsbereich mit dem von tiois allenfalls teilidentisch ist. Vgl. etwa aus dem Fabliau Du prestre et de la dame (Montaiglon/Raynaud 1872–1890, Bd. 2, 238): Lors commence a paller latin … et alemant et puis tyois et puis flemmenc ; weitere Beispiele bei Heim 1984, 109f. Erst im 16. und 17. Jahrhundert setzt sich tiois
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und seine südlicheren Repräsentanten einschließlich des Rheinfränkischen peu à peu die Bezeichnung allemand durchsetzte. Dass sich dieser Prozess schleichend vollzogen haben muss und von Verwerfungen aller Art nicht frei gewesen sein kann, versteht sich von selbst; es darf also mit einer je nach Kontext zum Teil ganz unterschiedlichen semantischen ’Aufladung’ der Begriffe tiois und allemand gerechnet werden. Ob man freilich so weit gehen darf, mit Heim (1984, 113) von einer weitgehend synonymen Verwendung von tiois und allemand zu sprechen, die in ähnlichem Verhältnis zueinander ständen wie roman und françois, mag dahingestellt bleiben. Fehlzuschreibungen und Fehlinterpretationen des Fremden waren sicherlich nicht selten; zum Beispiel wird in der Fremdperspektive eines Romanophonen das fehlerhafte Französisch eines aus dem Elsass stammenden Adligen als tyois romant 4 bezeichnet – wohl weil Akzent und Fehlerpotenzial von Germanophonen unterschiedlichster Provenienz sich sehr ähnelten, wenn diese sich in der Fremdsprache artikulierten, und aus dieser Perspektive die genaue Herkunft des Einzelnen unerheblich schien. Dennoch scheinen mir solche Beobachtungen für eine präzisere sprachliche Beurteilung des versunkenen Westfränkischen nicht unwesentlich zu sein. Dass der Geltungsbereich von tiois in seiner südlichen Extension gerade noch das Moselfränkische mit umfasste, wird besonders im germanophonen Lothringen deutlich. So enthält etwa Audun-le-Tiche5 westlich von Thionville in seinem unterscheidenden Zusatz noch das Femininum li/le tiesche „die Deutschsprachige“,6 und eine altfranzösische Urkunde vom Jahr 1281 für ein von den Herren von Thedingen7 an den Grafen von Saarbrücken im Tausch abgetretenes Gut bei Saarbrücken enthält moselfränkische Einsprengsel que on apelle en thias dat nuowe got,8 während der rheinfränkische Teil
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als Sammelbegriff für die regionalen Varianten des Niederländischen durch, vgl. etwa in einer Urkunde aus Tournai a. 1577 escript en langue thioise. Dieses und weitere Beispiele bei Gdf VII, 724. Etwa wird im Tournoi de Chauvenci (V. 68) ein Elsässer dafür verspottet, dass er en son tyois romant zu sprechen versucht (zitiert bei Heim 1984, 80). Frankreich, Département Moselle, Ct. Fontoy: 1269 Or. Audeix; 1330 Or. de Petite Awedex; 1333 Or. Yaweduix; 1389 Kop. Audeux le thieux; 15. Jh. Or. Aedicht, Adycht < lat. aquaeductus. Vgl. auch Heim 1984, 105: „Eine Kette von Ortsnamen, die aus theodiscus gebildet oder mit Hilfe der Sprachbezeichnung von gleichlautenden Toponymen romanischer Nachbargemeinden unterschieden wurden, reiht sich auf der gesamten Länge der Sprachgrenze von Brabant bis in das heutige Lothringen auf“. Tiche bzw. tix ist also nicht, wie häufig zu lesen, eine ostfranzösische Variante zu tiois, sondern dessen feminines Pendant tiesche mit ostfranzösischer Vereinfachung des Diphthongen (Remacle 1992, 53). Zur Entwicklung des femininen Artikels im Lothringischen und Wallonischen vgl. Holtus/Overbeck/Völker 2003, 187; Overbeck 2003, 196ff. Frankreich, Département Moselle, Canton St. Avold. Landesarchiv Saarbrücken, Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 9.
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des germanophonen Lothringen aus der Perspektive der großen Handelsstadt Metz wie auch des lothringischen Herzogssitzes Nancy, wo man jeweils Schreiber beschäftigte, die sich einer rheinfränkischen Varietät als Schreibsprache bedienten,9 bereits Teil der Allemagne war, die sich von der tiesche terre sprachlich abzuheben scheint. Während der geographische Raum der Allemagne sukzessive auf den gesamten Bereich des Hochdeutschen erweitert werden konnte, bestand doch kein Zweifel daran, dass man, wie z. B. Ende des 13. Jahrhunderts im Cleomades (v. 228 f.) betont wird, sich nach Köln zu begeben hatte, wenn man sich Kenntnisse des tiois aneignen wollte: pour savoir tiois vint a Couloigne en Allemaigne. Während man also in den germanophonen Gebieten den supragentilen Begriff auf das Deutsche reduzierte und zugleich die eigentliche Sprachbezeichnung zu einem ’Volksbegriff ’ erweiterte, mit dem sich die „Gesamtheit der im regnum teutonicum handelnden Personen“ (Haubrichs 2004, 211) fassen ließ, gingen die französischen Bezeichnungen andere Wege. Auch wenn das altfranzösische tiesche terre bzw. ties pays in mittelhochdeutscher Übersetzung häufig mit den territorialpolitischen Implikationen angereichert wurde, welche der Formel von diutschi man bzw. diutsche lant in mittelhochdeutscher Literatur im allgemeinen anhaften (BMZ I 326),10 so wird doch deutlich, dass dieses ties pays mit der Allemagne nicht gleichzusetzen ist,
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Zu Metz ausführlich Pitz 2005, 2006; Haubrichs 2000, 52; zu den Herzögen von Lothringen Pitz im Druck b; Herrmann 1995, 162ff. Die spätmittelalterlichen Rechnungen für das deutsche Bellistum der Herzöge von Lothringen sind, sofern sie in deutscher Sprache abgefasst sind, bemerkenswerterweise durchweg rheinfränkisch geprägt; dies betrifft auch das für Gegenden bestimmte Schrifttum, welche, wie etwa Sierck-lès-Bains, im moselfränkischen Dialektgebiet liegen (vgl. z.B. Archives Départementales de Meurthe-et-Moselle, B 9352 a. 1424). Man wird Arend Mihm Recht geben dürfen, wenn er (brieflich am 17. 8. 2007) darauf hinweist, dass dieser Befund durchaus so gedeutet werden könnte, dass in diesen „moselfränkischen Regionen beim Adel und beim städtischen Patriziat … ein rheinfränkisch geprägter Akrolekt verwendet wurde“. Auch die deutsche Varietät, welche nach den von Haubrichs 2000, 62ff. zusammengetragenen Zeugnissen bestimmte Teile der Metzer Führungsschicht wohl – auf welchem Kompetenzniveau auch immer – als Zweitsprache sprachen, dürfte eine rheinfränkische gewesen sein, wenn man sich an den wenigen erhaltenen deutschsprachigen Urkunden sowie an dem leider nur kopial überlieferten Urbar der Metzer Deutschordenskommende vom Jahr 1406 (Heckmann 2000) orientiert. Die vorhandene Quellenlage reicht keinesfalls aus, um auch nur ungefähr abschätzen zu können, seit wann man mit diesem hohen Prestige rheinfränkischer Varietäten in den westlichen Grenzgebieten rechnen darf. Es sei aber immerhin angemerkt, dass sich die sprachliche Sonderstellung westfränkischer Texte wie der Pariser Gespräche oder des Ludwigslieds unter Umständen durch ganz ähnliche Phänomene erklären könnte. Besonders deutlich wird das in der gelegentlich belegten Teilübersetzung dieser Formel als diutsche terre (Haubrichs 2004, 208).
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sondern vielmehr komplementär zu ihr erscheint.11 Zwar kann alemant im Prinzip jeden bezeichnen, der aus dem Bereich des imperium kommt;12 in den zahlreichen Aufzählungen von Söldner- und anderen Heerscharen germanophoner Krieger, die in der altfranzösischen Literatur des 12. bis 14. Jahrhunderts Seite an Seite kämpfen, wird jedoch in der Regel streng nach Provenienz unterschieden. Schon die altfranzösische Chanson de Roland (ca. 1080) trennt säuberlich zwischen Alemans, Tiedeis13 und Bavier,14 die Conqueste de Constantinople (ca. 1200) trennt Hainaut et li Alemant (CRAL 1978, 47), das Lied von Ami et Amile (v. 981; ca. 1200) Alemans et Loherains et Bretons et Anglois, Jean Froissart in seinen Chroniques (a. 1395) li Alemant, li Braibençon et li Hollandois, Zellandois et li Flamenc (Diller 1972, 374), usw.15 Olivier de la Marche (ca. 1470) schließlich erwähnt Zassons (Sachsen) et Allemands,16 die beide mit Frankophonen wegen der difference des langues nicht kommunizieren können, sich aber offensichtlich untereinander verstehen. Einem die Subtilitäten des Altfranzösischen auch an anderen Stellen außerordentlich präzise erfassenden und daher nach meinem Dafürhalten in hohem Maße zweisprachigen17 Dichter wie Wolfram von Eschenbach, der in seinem Willehalm (126, 13ff.) bezeichnenderweise nur Flaeminge und Brâbande und den herzoge von Lohrein (Lothringen) von tiuschem lande kommen lässt, dürften diese Zusammenhänge klar gewesen sein. Nicht von ungefähr lässt er denn auch in diesem Text (350, 7) Franzoyse und Alemâne im Kampf aufeinandertreffen; schon die Reimbindung (Alemâne: plâne) zeigt, dass wir hier eine Adaptation des afrz. aleman vor uns haben, mit durch die romani-
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Für die Bereitstellung umfangreicher Beleglisten aus den Datenbanken des CNRS-Forschungsinstituts Analyse et Traitement Informatique de la Langue Française, die die von Heim 1984 zusammengestellten Materialien ergänzen, danke ich Eva Buchi (Nancy). Vgl. z.B. Jean Renart, Le roman de la rose ou de Guillaume de Dole v. 2829f.: Mout i honorerent cel jor Alemant lor empereor (ca. 1200); Chronique de Morée (a. 1322): la seignorie de saincte Ecglise que li Alemant lui avoient toulu et prins. Ähnlich ist zu erklären, dass in Girart de Roussillon (v. 9843–9846) ein cums alemanz dafür gelobt werden kann, dass ties wie romanz gleichermaßen sprechen kann. V. 3795 Asez i ad Alemans e Tiedeis. Weitere Beispiele für eine Unterscheidung von Alemans und Tiois bei Heim 1984, 96, 106f. V. 3965 Puis sunt turnet Bavier e Aleman e Pertevin e Bretun e Norman. Weitere Beispiele bei Heim 1984, S. 96. Zur in ihrer Bedeutung nicht ganz durchsichtigen Bezeichnung Baviers vgl. Heim 1984, 471ff. Zahlreiche weitere Belege bei Heim 1984, 86ff. … et bien le povoient faire, car en nostre compagnie estoient plusieurs Allemans, auxquels les Bourguignons, Picards, Hannuyers et Namurois n’avoient nulle communicacion de langaige pour la difference des langues, pourquoy lesditz Zassons, comme Allemans, pouvoient fort approucher nos gens (Mémoires II, 18). Zu den verschiedenen Forschungsmeinungen zu Wolframs Französischkenntnissen vgl. Bumke 1991, 9.
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schen Betonungsverhältnisse bewirkter Längung des Vokals von mhd. man ’Mann’.18 Auch Walther von der Vogelweide lässt den Papst von zwen Alman sprechen, wenn dieser sich an Romanophone wendet,19 und ähnlich ist zweifellos auch die bei Gottfried von Straßburg (Trist. 18449, 18452, usw.) häufige Übernahme des Ländernamens frz. Allemagne > mhd. Alemânje zu interpretieren. In allen Fällen wird hier aus unterschiedlichen Gründen romanischer Sprachgebrauch bewusst imitiert, so dass eine tatsächliche Verankerung von mhd. aleman außerhalb dieses Kontextes höfischer Sprachkultivierung schwer zu erweisen ist. Zu den Rätseln um den Alemannennamen, der innerhalb der Kategorie der Komposita auf -man von Anfang an einen Sonderfall darstellt,20 gehört also offenbar auch, dass er nur in fremdem Mund kontinuierlich tradiert worden ist. Dabei zeigt frz. allemand heute zumindest graphisch einen auslautenden Dental, der keinesfalls aus der Quellsprache übernommen sein kann, denn die Dentalepithese gilt im Deutschen als spätmittelhochdeutsches Phänomen (Key/Richardson 1972; Benware 1979); beim Element -man verzeichnet Voetz (1977, 334) unetymologisches -t nur ein einziges Mal für das 14. Jahrhundert, wo es sich als Fehlschreibung der Kopie erweist. Dagegen ist Alamandus statt Alamannus als Personenname in der südlichen Galloromania seit 996/1030 belegt (Desjardins 1879, 295), von wo es allmählich nach Nordosten (Vallet 1961, 83) sowie nach Norditalien und Katalonien ausstrahlt; auch die weibliche Variante Alamanda kommt vorzugsweise im Süden der Galloromania vor, besonders häufig z.B. im 12. und 13. Jahrhundert in Urkunden aus Agde (Foreville 1995).21 Für andere bithematische Personennamen mit Zweitglied -man finden sich entsprechende -d-Formen auch im Pariser Raum, und dies sogar schon erheblich früher, sind sie doch in Orginalüberlieferung bereits 825–28 im Polypty-
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Zu den althochdeutschen man-Komposita vgl. allgemein Voetz 1977. Die Angabe bei Lexer 1873–1876 I 39, der mhd. Alman, Alemân aus ital. Alemanno entlehnt sehen will, scheint mir nicht zwingend. Maurer 61995, 222: Ahi wie kristenliche nu der babest lachet, swenne er sînen Walhen seit „ich hanz also gemachet!“, daz er da seit, ern sold es niemer han gedaht: er giht „ich han zwen Alman under eine krone braht, daz siz riche stoeren unde brennen unde wasten! Nach Voetz (1977, 359) waren die in althochdeutscher Zeit in appellativischem Gebrauch stehenden -man-Komposita zum größten Teil nomina agentis; Komposita mit Adjektiven, welche ein Pertinenz- bzw. Identitätsverhältnis definieren (Voetz 1977, 360), sind im Appellativwortschatz ausgesprochen selten (Voetz 1977, 353f.), kommen dagegen in der Anthroponymie häufiger vor (Förstemann 21900, 1088f.). Als Bildung mit Numerale steht alaman isoliert; zur Bedeutung des Erstglieds („Gesamtheit von Individuen“ „Gesamtsicht einer Sache“) vgl. Haubrichs 2002. Für ihre wertvollen Hinweise auf diese Zusammenhänge und entsprechende anthroponymische Belege danke ich Eva Buchi (Nancy).
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chon von Saint-Germain-des-Prés belegt (Hägermann 1993, 9 Aclemandus, S. 78 Erlemandus, S. 69 Euremandus).22 Auch die zahlreichen d-haltigen Formen der Peterborough Chronicle (Dietz 1992, 79) und anderer früher Quellen aus dem anglonormannischen Bereich für den Namen der Normandie (Gysseling 1960, 748: 1066 Or. fram Normandige,23 etc.) zeigen, dass die Normannen eine volkssprachige Form mit über den Kanal genommen haben, die dieses -d- bereits enthielt; dadurch wird die Erscheinung auch für die Normandie24 vor die Jahrtausendwende datiert. Eine vergleichbare Entwicklung von [-mn- >] -nn- > -nd- (Remacle 1984, 62) zeigt sich beim Namenelement *hrab(a)na- > -ramn-, -rann- ’Rabe’ (Müller 1970, 52ff.) mit Fällen wie Baltrandus, Bertrandus, usw. (Morlet 21971, 50, 56); auch hier liefert das Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés wohl bereits erste Beispiele. So ist der Personenname Eurandus (Hägermann 1993, 68, 79) am ehesten als *Ebur-hramnus > *Eurerannus > Eurandus zu etymologisieren,25 denn ein Element *randa- ’Schildrand’26 ist als Zweitglied extrem selten; alle bei Förstemann (21900, 1246) aufgeführten Beispiele lassen sich auch anders interpretieren. Auch die Form Astrandus (Hägermann 1993, 205) reiht sich hier ein.27 Vor allem Fälle wie 972/77 Archidrandus mit dem insbesondere im Nordwesten der Galloromania häufigen romanischen Lautersatz von frk. hr- > rom. dr- bzw. tr- (Schnetz 1938) zeigen, dass hier in der Regel das überaus häufige Namenelement *hrab(a)na- ’Rabe’ vorliegt. Auch im appellativischen Bereich lässt sich Ähnliches beobachten: die englische Entlehnung tyrant aus afrz. tirant (FEW 13, 463a) zu lat. tyrannus bewahrt den alten Dental der französischen Ausgangsform bis heute; lat. bannus ’obrigkeitliches Ge- bzw. Verbot’ (< frk. *ban) kommt in mittellateinischen Quellen des norditalienischen und okzitanischen Raums auch in einer Variante bandus vor (Sousa-Costa 1993, 57ff.), der im nordfranzösischen Raum Ableitungen wie afrz. bandon ’pouvoir, autorité’ neben norm. banon ’permission de faire paître les bestiaux sur la terre dont la récolte est enlevée’ (FEW 15, 49b, 50b) und mfrz. bannier ’garde champêtre’ neben aprov. bandier (FEW 15, 50b) entsprechen. Dabei verblüfft der je nach Ein22
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Zahlreiche jüngere Belege, zum Teil aus kopialer Überlieferung, finden sich auch bei Morlet 21971, vgl. z.B. S. 17 Adulmant, S. 123 Artmandus, S. 126 Arimandus, S. 127 Aridemandus, usw. Zur Interpretation der g-haltigen Formen vgl. Dietz 1992, 79f. Das Choronym ist unmittelbar vom Personengruppennamen afrz. normant < *norpman abgeleitet, für den damit ein gesprochener Dental vorausgesetzt werden darf, der vor dem Vokal des toponymischen Suffixes erweicht worden ist. Vgl. Förstemann 21900, 443 Ebertramnus, Evertramna. Wohl als pars pro toto für den Schild als Ganzes, vgl. Jochum-Godglück 2006, 62. Das Erstglied ist hier wohl als romanisierte Nebenform zu *haisti- zu deuten, vgl. dazu Kaufmann 1968, 168.
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zelwort völlig unterschiedliche Erklärungsansatz, den die lexikographische Literatur solchen Fällen angedeihen lässt. Für lat. bandus etwa wird – da die lange vorherrschende Forschungsmeinung, nach der die d-haltigen Varianten auf eine frühe Kreuzung mit Vertretern des Verbums frk. *bandjan ’Zeichen geben’ zurückgehen sollten, von Tiefenbach (1973, 20) überzeugend zurückgewiesen wurde – mit einer lautgerechten Dissimilation nn > nd gerechnet, die für Norditalien wie für den okzitanischen Raum typisch ist (Remacle 1984, 14; Rohlfs 1966 § 237; Sousa-Costa 1993, 70); für afrz. bandon dagegen wird an eine Rückbildung aus dem Verbum abandonner gedacht, das man wiederum als Zusammenrückung aus dem Syntagma a ban doner interpretiert.28 Normand wird als Entlehnung von anord. nordmadr ’Mann des Nordens’ aufgefasst (TLFi s.v. normand; Dietz 1992, 63, usw.), obwohl sich hierfür kein lautlich plausibler Weg ergibt; auch wenn das auslautende -r nordgermanischer Wörter im Französischen in der Regel schwindet, bleibt das Problem der Begründung des Nasals. Die Adjunktion des auslautenden Dentals in dem normand formal vollkommen vergleichbaren allemand hingegen wird durch eine analogische Angleichung an die zahlreichen Adjektive begründet, welche von Verbalformen auf -ans, -antem abgeleitet sind (joianz, tranchanz, vaillanz, etc.: Zink 41997, 44) und mit solchen des Typs granz < grandis/grant < grandem vermischt worden wären (TLFi s.v. allemand).29 Dabei hätte man hinzufügen können, dass romanische Personennamen mit den Suffixen -ant(i)us (abgeleitet von Partizipien auf -ans: Bergh 1941, 179f.) und -andus (aus alten Gerundiva) in der spätantiken Gallia häufig waren und die nach dem Schwund der Auslautvokale am Ende des 7. Jahrhunderts (Pitz im Druck c) unvermeidliche Vermischung beider Typen zweifellos ein geeignetes Vorbild für solche analogischen Prozesse liefern konnte. Dadurch ließe sich die Brücke zur heutigen -d-Schreibung in allemand leichter schlagen, die mit einer Substitution durch das Suffix -and begründet wird (Nyrop III, 1908 § 174); sie ist freilich in der femininen Form allemande von Anfang an vorauszusetzen und kann zu einem Zeitpunkt, als die auslautenden Dentale der Maskulina nicht mehr gesprochen wurden,30 als reine Graphie übernommen worden sein.
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FEW 15, 52b, aus chronologischen Erwägungen abgelehnt von TLFi, s.v. abandon, der zu der lautlich unhaltbaren These einer Kreuzung mit *bandjan zurückkehrt. Vgl. Nyrop II, 1903, § 271: „Examinons comme exemples les mots dont le cas sujet singulier se terminait … en -anz (-ans); ils avaient au cas régime singulier soit -ant soit -an; à côté de granz grant grant granz, on avait normanz norman norman normanz. La correspondance des deux formes amène l’aplanissement des différences … Et l’analogie ajoute un t au deuxième groupe ou fait disparaître le t du premier groupe“. Zur Datierung des Dentalschwunds vgl. Zink 62006, 78 (13. Jh.).
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Wie dem auch sei – ihre Entsprechung finden die geschilderten Phänomene in zahlreichen romanisierten germanischen Personennamen vom Typ Wiliman (Förstemann 21900, 1603) > Guillemanz, Guillemant (Stoering 1974, 184), *Audramnus > Otranz, Otrant (Stoering 1974, 193) oder Bertramnus > Bertranz, Bertrant. Sie zeigen deutlich, dass der hyperkorrekte Obliquus -t statt der bei in die zweite lateinische Deklination integrierten germanischen Personennamen eigentlich erwartbaren Nullmarkierung (Nyrop II, 1903 § 238, 253) aus dem Rektus -z übergeneralisiert worden ist, der durch den Fall des Auslautvokals entstand; schon das Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés mit Formen wie Aclemans und Hildemans (Hägermann 1993, 17, 27) legt von diesen alten Rektusformen Zeugnis ab. Solche Fälle wird man kaum adäquat analysieren können, ohne sich auch des umgekehrten Vorgangs anzunehmen, nämlich der Reduktion von lautgerechtem -n- + Dental zu -nn- im zweiten Glied romanisierter germanischer Personennamen auf -landus, -brandus, -mundus, etc., die sich mit zwei Beispielen (Alemunus < *Alamundus; Frotbanus < *Hrothbandus:31 Hägermann 1993, 52, 106) ebenfalls bereits im genannten Polyptychon findet und durch eine einfache Analogie zu entsprechenden Entwicklungen bei Verwendung der gleichen Namenelemente als Erstglieder kaum ausreichend erklärt werden kann; auch die von Haubrichs/Pfister (1989, 40) postulierte Restriktion dieses Phänomens auf den okzitanischen Raum, die Bourgogne und den Nordosten des domaine d’oïl wird durch die frühen Belege aus Saint-Germain-des-Prés in Frage gestellt. Der Ausfall des auslautenden Dentals im Erstglied zweigliedriger germanischer Personennamen ist in der Tat ein häufig beschriebenes Phänomen32 (Gamillscheg 21970, 398; Gysseling 1965, 53; Neusz 1978, 147, etc.), das freilich in unserem Polyptychon noch kaum belegt ist.33 Obwohl im ersten Element von Komposita der Dental in dieser Position im Prinzip auch schon in der Ausgangssprache schwinden konnte,34 geht man hier seit Kralik (1913, 14) von einem 31 32
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Zum seltenen Element *banda- vgl. Förstemann 21900, 244ff. Vgl. etwa *landa- > *lan-: Lanfredus, Langaudus, Lanhard, usw. (Morlet 21971, 156), *branda- > *bran-: Brannoinus, Branniardis, etc. (Morlet 21971, 61). Dort findet sich nur einmal Gunberga < *Gundberga (Hägermann 1993, 64); bei Lantrudis (Hägermann 1993, 69) erklärt sich der Schwund des Dentals durch den Anlaut des Zweitglieds. Dagegen ist die betreffende Entwicklung im Polyptychon von St. Remi in Reims aus der Mitte des 9. Jahrhunderts bereits generalisiert; Roth (1917, 79) konstatiert für diese Quelle einen Schwund des Dentals vor allen Konsonanten außer -r. Sehr häufig, bisher freilich völlig unerklärt ist im Polyptychon dagegen das Antreten eines unorganischen !t" nach -n, zu dem an anderer Stelle ausführlich Stellung genommen werden soll. Vgl. etwa Raintbolda, Raintberta, Raintlindis, Ragentlandus (Hägermann 1993, 69, 78, 49, 56). Sie findet sich sowohl im Altfränkischen (Franck/Schützeichel 1971, § 128) als auch im Altsächsischen (Gallée/Tiefenbach 1993, § 278) recht häufig.
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romanischen Lautwandel aus, der sich im Altfranzösischen völlig problemlos erklärt (Rheinfelder 1976 § 638); das Zusammenspiel zweier paralleler Entwicklungen in Ausgangs- und Zielsprache dürfte hier die schon im Fränkischen vorhandene Tendenz ganz erheblich verstärkt haben. Allerdings lässt sich dieser Erklärungsansatz nicht ohne weiteres auf die Zweitglieder übertragen, da hier die artikulatorischen Voraussetzungen fehlen. Im Altfranzösischen wird die Assimilation von nd > nn im Nachton denn auch als grob mundartliches Phänomen betrachtet, das sich nur selten in der Schriftlichkeit niedergeschlagen hätte (Fouché III 1966, 782); Remacle (1984, 27) unterstreicht seinen ’spontanen’ Charakter, der sich nicht in feste Regeln pressen lässt, betont aber gleichzeitig das hohe Alter der Erscheinung, für die das endgültige Verstummen der Nasalkonsonanten als terminus ante quem gelten muss. Auch in der altfränkischen Ausgangssprache scheint eine Vereinfachung von nd in Simplicia bzw. in Grundwörtern von Komposita nur möglich, wenn dem Nexus nd ursprünglich ein weiteres n folgte (Kluge 1926 § 21) – eine Bedingung, die für den Auslaut unserer Zweitglieder nicht gegeben ist. Kaum tragfähig sind auch die in der romanistischen Fachliteratur (Remacle 1984, 16 ff.) gelegentlich angebrachten Verweise auf Assimilationen von nd > nn in den angrenzenden mittelfränkischen Dialekten als Vorstufen der bekannten nd-Velarisierungen, da ein entsprechend hohes Alter dieser Velarisierungen sich nicht sichern lässt. Man wird sie vor dem 13. Jahrhundert ansetzen dürfen; wie lange sie tatsächlich zurückreichen, ist damit allerdings noch nicht gesagt (Mitzka 1964; Bergmann 21977, 296; Schützeichel 1974, 128 ff.). Insgesamt wird man also festhalten müssen, dass die altfranzösischen Assimiliationen von nd > nn im Auslaut kaum durch eine mögliche Einwirkung des fränkischen Superstrats begründet werden können. Beachten muss man auch, dass den genannten Fällen mit regressiver Assimilation des Dentals an das vorausgehende n in Saint-Germain-des-Prés eine verhältnismäßig große Zahl von Beispielen gegenübersteht, in denen der Nasal offensichtlich ausgefallen ist bzw. in progressiver Assimilation an den folgenden Dental angeglichen wurde, so dass die betreffenden Namen im Ergebnis den altsächsischen, altnieder- und mittelfränkischen Formen mit Nasalschwund (*ansu- > *a–s-, *gunpi- > *gud-, usw.) sehr ähnlich waren: Ermengudis < *Ermengundis, Hildegudis < Hildegundis, Ermesidis < *Ermesindis, usw. (Hägermann 1993, 49, 151, 164, 55). In manchen Fällen wird man über die Etymologisierung der betreffenden Namenglieder streiten können; z.B. hat der Jubilar die genannte Ermesidis zu einem Element *swith- gestellt und damit wohl altsächsischen Einfluss angenommen (Geuenich, in: Hägermann 1993, 295), und die Form -bradus (Hägermann 1993, 8: Ermbradus) hat Kaufmann (1968, 54) als metathetische Variante zu -bard aufgefasst. Schon
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für die feminine Variante Ermbrada (Hägermann 1993, 151, 164) verbietet sich jedoch diese Möglichkeit, da *barda- ’Bart’ aus semantisch-pragmatischen Gründen wohl kaum Frauennamen bilden konnte; hier kommt deshalb wohl nur eine Variante zu *branda- mit unmarkiertem Nasal in Frage. Dies gilt umso mehr für die beiden im Westfränkischen häufigsten Zweitglieder bithematischer Frauennamen, für -gundis (< *gunpi-) und -lindis (< *linpi-) nämlich, die in Saint-Germain-des-Prés regelmäßig als -gudis35 und -lildis erscheinen – letzteres mit einer hyperkorrekten !l"-Graphie, die sich wohl vor dem Hintergrund der im Altfranzösischen regelhaften Vokalisierung von vorkonsonantischem l erklärt:36 Ansegudis, Adalgudis, Ausgudis, Hildegudis, Aglildis, Aitlildis, Hildelildis, Frotlildis, Gerlildis, Gautlildis, Nadalildis, usw. (Hägermann 1993, 70, 2, 69, 182, 34, 185, 56, 118, 85, 115). Fassen wir also zusammen: Nach -n musste bei aus dem Fränkischen ins Galloromanische übernommenen Personennamen offensichlich die Obliquusform, die bei Substantiven der zweiten lateinischen Deklination eigentlich gar nicht markiert wurde, zusätzlich gestützt werden durch einen antretenden Dental, der aus anderen Paradigmen analogisch entnommen wurde, aber augenscheinlich nach anderen Konsonanten nicht notwendig war, da dort die Nullmarkierung beibehalten wird. Andere Namenelemente verloren ihren etymologisch berechtigten Dental wohl auf Grund von Unsicherheiten romanischer Sprecher, denen Formen mit und ohne Dental geläufig waren. Ein solches Phänomen kann man eigentlich nur als Reflex der einsetzenden Nasalierung der vorausgehenden Vokale verstehen – einer Entwicklung, die bis heute kontrovers diskutiert wird. Die Ursachen für die Herausbildung der französischen Nasalvokale sind noch immer nicht überzeugend erklärt; meist wird jedoch mit einer Tendenz zur Ausspracheerleichterung argumentiert. Da dabei geschlossene nasale Vokale eine größere artikulatorische Anstrengung verlangen als offenere, setzt man die Nasalierung von a und e am frühesten an und rechnet mit einem allmählichen Übergreifen auf die anderen Vokale; abweichende Positionen wie die von Rochet (1976), der eine solche zeitliche Staffelung bei der Entstehung der Nasalvokale ablehnt, haben sich nicht durchsetzen können. Die zahlreiche Spezialliteratur zur Interpretation der altfranzösischen Assonanzen zusammenfassend, geht Fouché (II 1969, 357 ff.) davon aus, dass a und e seit dem 10./11. Jahrhundert, die anderen Vokale jedoch erheblich später nasaliert worden wären. Dabei wären allerdings die nasalen Konsonanten nach 35
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Ein Element *g˘uda- (Kaufmann 1968, 156f.) kann man als Erklärungsmöglichkeit für diese Formen kaum in Erwägung ziehen, da es wohl keine femininen Zweitglieder bildet. Zum Problem der Datierung der l-Vokalisierung, der ich demnächst eine ausführlichere Studie widmen möchte, vgl. vorläufig Chambon/Greub 2000, 157f.
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Nasalvokal noch relativ lange gesprochen worden; im Grunde seien bis zum Mittelfranzösischen die nasalen Vokale lediglich als kombinatorische Varianten der oralen Vokale empfunden worden und hätten sich erst danach zu Phonemen entwickelt. Unser Material spricht nun nicht unbedingt für einen solchen durchgängigen Erhalt der Nasalkonsonanten bis ins 16./17. Jahrhundert, wie er in der neueren Literatur durchweg angenommen wird (Joly 1995, 173 ff.; Zink 62006, 89). Man gewinnt vielmehr den Eindruck, dass die Entstehung nasaler Vokale, mit der nach unseren Befunden schon für die Zeit um 800 gerechnet werden müsste, doch schon recht bald zu einer relativ schwachen Artikulation der folgenden Nasalkonsonanten führte, deren Markierung bei der Verschriftung fremden Personennamenguts unterbleiben konnte; im absoluten Auslaut diente die Adjunktion eines Dentals wohl dazu, diese Schwächung der Nasalkonsonanten aufzufangen. A priori spricht dieses Bild auch nicht für eine chronologische Staffelung der Nasalierungsprozesse, da die Nichtmarkierung des Nasalkonsonanten auch nach i und u zu verzeichnen ist. Es fordert vielmehr eine erneute Überprüfung der gängigen chronologischen Ansätze zu diesem zentralen Problem der altfranzösischen Lautgeschichte mit neuen Mitteln geradezu heraus – eben mit den Methoden der historischen Kontaktlinguistik und unter Heranziehung der zahlreichen romanisierten Personennamen fränkischen Ursprungs, die uns nicht zuletzt durch die vom Jubilar vorgelegten Personennamen-Indices des Polyptychons von Saint-Germain-desPrés in leicht handhabbarer Form zur Verfügung stehen. An diesem frühen, nicht nur im Original überlieferten, sondern auch an Ligaturen außerordentlich armen (Bischoff 1965, 22) und deshalb für die Namenkunde so wertvollen Text zeigt sich besonders deutlich, dass – um die eingangs zitierte Beobachtung des Jubilars wieder aufzugreifen – dieselben Namen (eben die germanischen), wenn sie einen anderen Personenkreis (nämlich die autochthone Bevölkerung der Galloromania) bezeichnen und dadurch den Beobachter zwingen, zu ihrer Analyse eine doppelte Perspektive einzunehmen, durchaus auch zur Klärung komplexer sprachgeschichtlicher Zusammenhänge im Bereich des Französischen herangezogen werden können – ein Bereich, für den diese Namen bisher noch kaum genutzt worden sind. Eine ausführliche sprachhistorische Analyse dieses Namenmaterials gehört deshalb sicher zu den vordringlichsten Aufgaben einer in vielen Einzelheiten ja erst zu etablierenden historischen Kontaktlinguistik, die genau diese doppelte Perspektive im Blick haben muss.
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Martina Pitz
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Rodungsnamen auf -ried aus karolingischer Zeit WOLF-ARMIN FRHR.
VON
REITZENSTEIN
Im 1996 erschienenen Handbuch „Namenforschung“ datierte Hubertus Menke die Rodetätigkeit ins 11. bis 14./15. Jahrhundert und führte bei den betreffenden Ortsnamen unter anderen das Grundwort -ried auf.1 Diesem liegt mhd. riet ‚Rodung‘ bzw. ahd. *reod zugrunde. Zu trennen ist dies übrigens von mhd. riet ‚Schilfrohr, Sumpf-, Riedgras, damit bewachsener Grund‘ bzw. ahd. riot, hriot, riod ‚mit Sumpfgras bewachsener Ort, Ried, Riedgras‘; auf den Unterschied machte schon 1925 Bartholomäus Eberl aufmerksam.2 Dass aber obige Datierung problematisch ist und der Wald einige Jahrhunderte früher für Ansiedlungen gerodet wurde, zeigen einige Ortsnamen auf -ried, die bereits in karolingischer Zeit bezeugt sind. Einer der am frühesten genannten Orte ist das abgegangene + Riedhof im Landkreis Fürstenfeldbruck in Oberbayern. Der Erstbeleg von 769–776 (Kopie von 824) lautet: … ego Ascriih indignus vocatus diaconus habeo propriam rém in loco nuncupante Reod quod mihi Hiltistein tradidit. Et illud similiter trado ad sanctam Mariam …3 Weitere Belege sind 1104–1119 (Kopie von ca. 1210) predium unum apud Riede,4 1216–1220 Ride5 und 1309–1315 Riedhof.6 Etwa in der Mitte des 8. Jahrhunderts bekam ein Diakon von einem Grundbesitzer ein Grundstück in Reod und übergab es dann weiter an das Kloster in Freising. Es muss sich dabei um anbaufähiges, d. h. gerodetes Land gehandelt haben. Das Grundwort, das sich auf die Größe der Ansiedlung bezieht, wurde erst später hinzugefügt. Ähnliches gilt für Riedhof in der Gemeinde Hohenkammer im Landkreis Freising in Oberbayern. Belege sind 843 … ad Reode,7 ca. 887–895 …
1 2 3 4 5 6 7
Menke: Deutschland S. 1079. Eberl: Ortsnamen S. 91 f. Tr Freising Nr. 36. Tr Scheyern Nr. 8. Urb Scheyern Nr. 394. Ebenda Nr. 618. Tr Freising Nr. 660.
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Wolf-Armin Frhr. von Reitzenstein
ad Riode,8 1148–1156 Ride 9 und 1556 Riedhoff. 10 Die Mundartform lautet riɒdhof. 11 Auch hier wurde von einem Adeligen, der sein Seelenheil sichern wollte, Land an Freising geschenkt, das deshalb wertvoll, d. h. gerodet und anbaufähig gewesen sein musste. Das Grundwort, das sich auf die Größe der Ansiedlung bezieht, wurde erst im 16. Jahrhundert hinzugefügt und begegnet in der Mundartform. Als Simplex findet sich der Name des Dorfes Ried im Landkreis Dachau in Oberbayern. Die ersten Belege 784 (Kopie von 824) Reodir 12 und Reoda13 zeigen unterschiedliche Pluralformen.14 Im Singular erscheinen die Belege 828 Reod,15 1271 Ride 16 und 1384 Ried.17 Zur Unterscheidung von dem gleichnamigen Weiler im selben Landkreis dient im Beleg 1574 Ried bey Vnderstarf18 die Lokalisierung bei Marktindersdorf. Die Mundartform lautet ria;19 sie bewahrt den Diphthong, hat aber den dentalen Auslaut abgeworfen. Weil im Erstbeleg von einer Schenkung … in alio loco quae appellatur Reodir an Freising die Rede ist, kann man annehmen, das es sich um gerodetes, nutzbares Land handelte. Im Erstbeleg des Ortsnamens Ried im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen in Oberbayern aus dem Jahr 848 begegnen unterschiedliche Schreibungen bzw. diakritische Zeichen, nämlich … ad Hréode … ad Rêode … ad Réode;20 die althochdeutsche Dativ-Endung21 ist jeweils durch die lateinische Präposition ad ‚bei‘ bedingt. Ein späterer Beleg ist 1486 Ried huba.22 Ähnlich wie im vorigen Fall handelte es sich um eine Schenkung von nutzbarem Land an Freising. Eine Pluralform ist im Siedlungsnamen Rieden im Landkreis Ravensburg in Baden-Württemberg zu erkennen. Eine solche, und zwar im Dativ, begegnet bereits im Erstbeleg 848 … in Reodum23. Der Ort bestand offen-
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
Ebenda Nr. 986. Tr Weihenstephan Nr. 195. Huber: Freising Nr. 288 b. Ebenda. Tr Freising Nr. 118. Ebenda Nr. 119. Vgl. Schatz: Grammatik S. 110. Ebenda Nr. 574 a. Urk Indersdorf Nr. 82. Ebenda Nr. 315. Bayer. Hauptstaatsarchiv, Kurbayern Geheimes Landesarchiv 1029, fol. 215. Wallner: Siedelungsgeschichte S. 99. Tr Freising Nr. 701. Schatz: Grammatik S. 105. Krausen: Dietramszell S. 239. Urk St. Gallen Nr. 405.
Rodungsnamen auf -ried aus karolingischer Zeit
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sichtlich aus mehreren Rodungsbereichen, wenn es sich nicht um den sogenannten Ortsnamennormalkasus handelt. Der Erstbeleg von Helfertsried im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen in Oberbayern lautet mit Kontext: 808 (Kopie von 824) Erphuni presbiter seu Deothelm presbiter tradiderunt propriam hereditatem illorum quam adquesierunt in loco Pochauua, sed nunc eodem locum Erphunesreod appellare vulgus consueverat. Ipsam traditionem fecerunt in manus Attoni episcopi cum licentia seu voluntate Perhthrammi, quia ipse Erphuni presbiter seu Deothelm presbiter eodem territorium de Perehthrammo seu patre illius Otuni nomine comparaver(unt).24 Weitere Belege sind 1414 Helffenczried 25 und 1486 Helffartzried.26 Die Örtlichkeit bzw. das Gebiet, was dem mlat. territorium entspricht, trug demnach ursprünglich den Flurnamen Pochauua, der eine mit Buchen bestandene Au bezeichnet. Diese Fläche hatte der Priester Erphuni mit seinem Amtskollegen erworben. Aus dem späteren volkstümlichen Namen Erphunesreod kann man erschließen, dass der Buchenbestand in erster Linie von Erphuni gerodet wurde. Das nun bebaute bzw. bebaubare Land wurde dann dem Freisinger Bischof geschenkt. Der Ortsname Landsberied im Landkreis Fürstenfeldbruck in Oberbayern ist ebenfalls ein Kompositum mit einem Personennamen als Bestimmungswort. Der Erstbeleg vom Jahr 853 lautet wie folgt: … Erchanbertus episcopus … ab comite Adalberto simili firmitate suscepit in loco qui vocatur Lantbertesrieod quem Adalbertus a Landberto precio redemit 27. Eine Schreibvariante des Toponyms ist Lantperhttesreode.28 Weitere Belege sind 1319 Laentschwitzried 29 und 1492 Landsperied.30 Die heutige Mundartform lautet landschbariad.31 An dem Ortsnamen lässt sich erkennen, dass die Rodung ursprünglich von einem Landbertus – es kann der genannte Verkäufer gewesen sein – angelegt und dann an den Grafen Adalbertus veräußert wurde. Aus dessen zweitem Namensbestandteil kann wiederum eine Verwandtschaft mit dem Verkäufer, dessen Name gleich endete, erschlossen werden. Ob auch der Name des Bischofs einen ähnlichen Schluss auf eine Verwandtschaft mit den genannten Teilnehmern an Verkauf und Schenkung zulässt, ist freilich unsicher. Zu den Rodungsnamen dürfte auch der Ortsname Zuckenriet im Kanton St. Gallen/Schweiz gehören. Als im Jahr 782 ein Roadpertus … in villa, 24 25 26 27 28 29 30 31
Tr Freising Nr. 273. Bayer. Hauptstaatsarchiv, Urk Dietramszell Nr. 70. Krausen: Dietramszell S. 222. Tr Freising Nr. 736 a. Ebenda Nr. 736 b. Bayer. Hauptstaatsarchiv, Urk Fürstenfeld Nr. 2651. Ebenda Nr. 1451. Mayer: Fürstenfeldbruck S. 89.
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Wolf-Armin Frhr. von Reitzenstein
qui dicitur Zuckinreod eine Schenkung an das Kloster St. Gallen machte,32 war offensichtlich die Rodung schon durchgeführt und eine Siedlung gegründet worden. Es wird dies ein Mann namens Zuco, Zucho 33 geleistet haben. Der spätere Beleg von 879 Zuchenriet 34 zeigt im Bestimmungswort eine kleine Schreibvariante und im Grundwort die Weiterentwicklung des Diphthongs. Weitere Belege sind 1307 Zukinrieth,35 1365 Zukkenriet 36 und 1419 Zuckenried.37 In eine etwas spätere Zeit geht der Siedlungsname Hettisried im Landkreis Oberallgäu in Schwaben zurück. Er ist zuerst 858–86638 als Hettinesrioht 39 belegt. Der Ort war aber schon einige Jahre früher an das Kloster St. Gallen geschenkt worden. Spätere Belege sind 1398 Härtwisriet, 1477 Hertwisried und 1640 Hetesriedt.40 Bestimmungswort ist wohl der in einer Urkunde dieses Klosters von 789 genannte Personenname Hettin41 oder der 759 belegte Personenname Hetti 42 bzw. *Hetti, dessen Genitivendung -ines lauten würde. Auch Arrisried im Kreis Ravensburg in Baden-Württemberg wurde an das Kloster St. Gallen geschenkt. Der Erstbeleg aus dem Jahr 870 (?)43 lautet: Ego Oterihc … trado ad monasterium sancti Galli … in loco, qui dicitur Otirichisreoth.44 Der genannte Schenker oder ein gleichnamiger Vorfahre hat offensichtlich die Rodung angelegt. Ein späterer Beleg ist 1335 Alrichsriet.45 Der in Baden-Württemberg abgegangene Ort +Ottrammesriohd, der 861 bezeugt ist,46 gehört ebenfalls zu den Rodungsnamen. In der Schenkungsurkunde des Klosters St. Gallen ist zwar als Tradent ein Kisilolt genannt, aber es wurde vom Abt bestimmt, dass einem Otram und seiner Familie das Land als Prekarei zurückgeliehen werde. Daraus geht hervor, dass dieser der frühere Besitzer war, vielleicht sogar derjenige, welcher die Rodung ursprünglich angelegt hatte.
32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
Urk St. Gallen Nr. 98. Förstemann: Personennamen Sp. 1677. Urk St. Gallen Nr. 613. Ebenda Nr. 1169. Ebenda Nr. 1626. Ebenda Nr. 2797. Datierung nach Subsidia Sangallensia S. 414. Urk St. Gallen Nr. 515. Dertsch: Kempten Nr. 523. Urk St. Gallen Nr. 120. Ebenda Nr. 24. Datierung nach Subsidia Sangallensia S. 419. Urk Württemberg 4, S. 163. Urk St. Gallen Nr. 1364. Ebenda Nr. 481.
Rodungsnamen auf -ried aus karolingischer Zeit
191
Im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald in Baden-Württemberg abgegangen ist der Flurname +Wolfcoozreod,47 der 804 bezeugt ist. Weil in der Schenkungsurkunde an das Kloster St. Gallen von pratas die Rede ist, war die betreffende Wiese offensichtlich das Ergebnis einer Rodung, welche ein Mann namens *Wolfcoz durchgeführt hatte. Möglicherweise eine Frau war Urheberin der Rodung bei Herrieden im Landkreis Ansbach in Mittelfranken. Im Erstbeleg des Jahres 797 (Kopie des 9. Jahrhunderts) begegnet bereits die Bezeichnung monasterium, quod dicitur Hasareoda;48 das Kloster wird also in einem Rodungsgebiet gegründet worden sein. Für die Rodung war vermutlich eine Witwe namens Hasa 49 verantwortlich gewesen. Dass diese oder einer ihrer Nachfahren dann zur Klostergründung beitrug, ist nicht auszuschließen. Weitere Belege, die deutlich die Entwicklung der Namensbestandteile zeigen, sind 831 (Kopie des 18. Jahrhunderts) Hasareoth50 und (Druck des 19. Jahrhunderts) Hasareod,51 845 (Kopie von 1735) Hasenried,52 857 (Druck von 1612) Hassareodt,53 887 Hasarieda,54 888 (Kopie des 14. Jahrhunderts) Hasarieda,55 995 Harrariot,56 1057–1075 Haserieth,57 1137 Harreiden,58 1170 Herriden 59 und 1231 Herrieden 60. Abgegangen in Baden-Württemberg ist das 884 bezeugte +Otprigeriot.61 Weil ein Teilbereich des Ortes, der sicher aus ertragreichem Land bestand, dem Kloster St. Gallen geschenkt wurde, muss es sich um einen Rodungsnamen handeln. Die Rodung hat wohl eine Frau durchgeführt, deren Name *Otpriga zu erschließen ist. Ein Gewässername ist Bestimmungswort des Ortsnamens Schwebenried im Landkreis Main-Spessart in Unterfranken. Der Erstbeleg 772 (Kopie des 12. Jahrhunderts) Suabaha, Rodungen 62 wurde in *Suabaharodungen
47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
Ebenda Nr. 179. Urk Fulda Nr. 251. Förstemann: Personennamen Sp. 787. MGD Ludwig II. Nr. 3. Ebenda Nr. 5. Ebenda Nr. 44. MGS 15, S. 334. MGD Arnolf Nr. 1. Ebenda Nr. 18. MGD Otto III. Nr. 181. Reg Eichstätt Nr. 251, 99. Urk Kaisheim Nr. 2. Reg Würzburg Nr. 4. Urk Kaisheim Nr. 59. Urk St. Gallen Nr. 639. Codex Eberhardi 2, S. 96.
192
Wolf-Armin Frhr. von Reitzenstein
korrigiert.63 Dass es sich nicht um zwei verschiedene Namen, sondern um einen einzigen handelt, wird durch die weiteren Belege gestützt: 806 (Kopie des 9. Jahrhunderts, Druck von 1607) Suuabriod,64 9. Jahrhundert (Druck von 1607) Suuabareod 65 bzw. (Kopie des 12. Jahrhunderts) Suaberode,66 1250 Sweberied,67 1303/04 (Kopie von 1358) Swebriet 68 und 1336 Schwebenrieth.69 Mundartformen sind Schwaberd und Swawet.70 Der Name lässt sich als ‚Rodung an der Schwabach‘ erklären; das beim Erstbeleg angefügte thüringische Zugehörigkeitssuffix -ung ergibt den Personengruppennamen ‚bei den Leuten (an) der Rodung …‘. Die aufgezählten Ortsnamen aus Altbayern, aber auch aus Franken und Schwaben sowie der Schweiz zeigen deutlich, dass es Rodung schon zu karolingischer Zeit gab. Das betreffende Wort *reod kommt freilich nicht im appellativischen Wortschatz des Althochdeutschen, sondern nur in Toponymen vor. Der bei Appellativen regelmäßige Übergang des Vokals in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts zu io und ab dem Ende des 10. Jahrhunderts zu ie 71 wird durch die Belege der Ortsnamen nicht immer bestätigt. Eine etwaige kopiale Überlieferung kann freilich noch zusätzliche Unsicherheitsfaktoren herbeiführen. Es ist zum Schluss noch ein Blick auf die geographische Verteilung der karolingerzeitlichen Namen auf -ried zu werfen. Rodungsnamen aus dieser Zeit finden sich letztlich nur in der Überlieferung von Fulda, Freising, Salzburg,72 St. Gallen und Schäftlarn,73 nicht etwa in der von Echternach,74 Lorch75 und Weißenburg,76 wo die Namen bzw. deren Belege in der Regel älter sind.
63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76
Urk Fulda Nr. 57 a. Pistorius S. 462. Ebenda S. 458. Codex Eberhardi 1, S. 277. Mon Boica 37, S. 343. Lehenbuch Würzburg Nr. 91. Reg Boica 7, S. 151. Ankenbrand: Karlstadt fol. 48’. Braune/Reiffenstein: Grammatik § 48. Urk Salzburg 1, S. 7: 790 (Kopie des 12. Jahrhunderts) … in loco qui vocatur Riuti. Tr Schäftlarn Nr. 6: 779 (Kopie des 12. Jahrhunderts) … in loco nuncupante Riuttare. Siehe Urk Echternach. Siehe Codex Laureshamensis. Siehe Tr Weißenburg.
Rodungsnamen auf -ried aus karolingischer Zeit
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Quellen- und Literaturverzeichnis Ankenbrand: Karlstadt = Ankenbrand, Stephan: Der Landkreis Karlstadt. Staatsarchiv Würzburg, Manuskripten-Sammlung Nr. 175 e Braune/Reiffenstein: Grammatik = Braune, Wilhelm: Althochdeutsche Grammatik I. Lautund Formenlehre. 15. Auflage bearbeitet von Ingo Reiffenstein (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte A 5/1) Tübingen 2004 Codex Eberhardi = Der Codex Eberhardi des Klosters Fulda. Herausgegeben von Heinrich Meyer zu Ermgassen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 58) Marburg 1995. 1996 Codex Laureshamensis = Codex Laureshamensis. Bearbeitet und neu herausgegeben von Karl Glöckner. Darmstadt 1929. 1933. 1956 Dertsch: Kempten = Dertsch, Richard: Stadt- und Landkreis Kempten (Historisches Ortsnamenbuch von Bayern, Schwaben 4) München 1966 Eberl: Ortsnamen = Eberl, B.: Die bayerischen Ortsnamen als Grundlage der Siedelungsgeschichte (Bayerische Heimatbücher 2) München 1925f. Förstemann: Personennamen = Förstemann, Ernst: Altdeutsches Namenbuch. Erster Band. Personennamen. Zweite Auflage. Bonn 1900 Huber: Freising = Huber, Anton: Die Ortsnamen des Landkreises Freising (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben 11) Augsburg 1988 Krausen: Dietramszell = Krausen, Edgar: Das Augustinerchorherrenstift Dietramszell (Germania Sacra, Neue Folge 24, 1) Berlin 1988 Lehenbuch Würzburg = Das älteste Lehenbuch des Hochstifts Würzburg 1303–1345. Bearbeitet von Hermann Hoffmann (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 25) Würzburg 1972. 1973 Mayer: Fürstenfeldbruck = Mayer, Rosemarie: Die Ortsnamen des Landkreises Fürstenfeldbruck. Zulassungsarbeit Passau 1997 Menke: Deutschland = Menke, Hubertus: Die Namen in Deutschland. In: Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. Herausgegeben von Ernst Eichler / Gerolt Hilty / Heinrich Löffler / Hugo Steger / Ladislav Zgusta. 2. Teilband (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11, 2) Berlin 1996. S. 1070–1080 MGD = Monumenta Germaniae Historica. Diplomatum regum et imperatorum Germaniae Tomus 1 ff. Hannover 1879ff. MGS = Monumenta Germaniae Historica. Scriptorum Tomus 1 ff. Hannover 1826ff. Mon Boica = Monumenta Boica. München 1763ff. Pistorius = Pistorius, Joannes: Traditionum Fuldensium Libri tres. In: Rerum Germanicarum … scriptores … Frankfurt 1607. S. 445–588 Reg Boica = Regesta sive Rerum Boicarum Autographa ad annum usque MCCC … cura Caroli Henrici de Lang. München 1822ff. Reg Eichstätt = Die Regesten der Bischöfe von Eichstätt. Bearbeitet von Franz Heidingsfelder (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte 6) Erlangen 1938 Reg Würzburg = Würzburger Urkundenregesten vor dem Jahr 1400. Eingeleitet und bearbeitet von Wilhelm Engel. Würzburg 1958
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Wolf-Armin Frhr. von Reitzenstein
Schatz: Grammatik = Schatz, J.: Altbairische Grammatik. Laut- und Flexionslehre (Grammatiken der althochdeutschen Dialekte 1) Göttingen 1907 Subsidia Sangallensia = Subsidia Sangallensia I. Materialien und Untersuchungen zu den Verbrüderungsbüchern und zu den älteren Urkunden des Stiftsarchivs St. Gallen herausgegeben von Michael Borgolte, Dieter Geuenich und Karl Schmid (St. Galler Kultur und Geschichte 16) St. Gallen 1986 Tr Freising = Die Traditionen des Hochstifts Freising. Herausgegeben von Theodor Bitterauf (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte N. F. 4. 5) München 1905. 1909 Tr Schäftlarn = Die Traditionen des Klosters Schäftlarn. Bearbeitet von Alois Weißthanner (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte N.F. 10, 1) München 1953 Tr Scheyern = Die Traditionen des Klosters Scheyern. Bearbeitet von Michael Stephan (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte N.F. 36, 1) München 1986 Tr Weihenstephan = Die Traditionen des Klosters Weihenstephan. Bearbeitet von Bodo Uhl (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte N. F. 27,1) München 1972 Tr Weißenburg = Traditiones Wizenburgenses. Die Urkunden des Klosters Weißenburg 661–864. Eingeleitet und aus dem Nachlass von Karl Glöckner herausgegeben von Anton Doll. Darmstadt 1979 Urb Scheyern, siehe Urk Scheyern Urk Echternach = Wampach, Camillus: Geschichte der Grundherrschaft Echternach im Frühmittelalter. Untersuchungen über die Person des Gründers, über die Kloster- und Wirtschaftsgeschichte auf Grund des liber aureus Epternacensis (698–1222). I 2. Quellenband. Luxemburg 1930 Urk Fulda = Urkundenbuch des Klosters Fulda. Erster Band. Bearbeitet von Edmund E. Stengel (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 10, 1) Marburg 1913. 1956. 1958 Urk Indersdorf = Die Urkunden des Klosters Indersdorf. Gesammelt und regestirt von Friedrich Hector Grafen Hundt (Oberbayerisches Archiv für vaterländische Geschichte 24 f.) München 1863f. Urk Kaisheim = Die Urkunden des Reichsstiftes Kaisheim 1135–1287. Bearbeitet von Hermann Hoffmann (Schwäbische Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte 2 a, 11) Augsburg 1972 Urk Salzburg = Salzburger Urkundenbuch. 1. Band: Traditionscodices. Gesammelt und bearbeitet von Willibald Hauthaler. Salzburg 1898–1910. Urk St. Gallen = Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen. Bearbeitet von Hermann Wartmann. Zürich 1863ff. Urk Scheyern = Die Urkunden und die ältesten Urbare des Klosters Scheyern. Bearbeitet von Michael Stephan (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte N. F. 36,2) München 1988 Urk Württemberg = Wirtembergisches Urkundenbuch. Stuttgart 1849ff. Wallner: Siedelungsgeschichte = Wallner, Eduard: Altbairische Siedelungsgeschichte in den Ortsnamen der Ämter Bruck, Dachau, Freising, Friedberg, Landsberg, Moosburg und Pfaffenhofen. München und Berlin 1924
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Beiträge zu Memoria, Gebetsdenken und Verbrüderung
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Wolf-Armin Frhr. von Reitzenstein
Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 197–202 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Von der Memoria zum kognitiven Merkzettel. Namentypen und Memoria
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Von der Memoria zum kognitiven Merkzettel. Namentypen und Memoria ALBRECHT GREULE
Wie viele tote Leben und verblassende Erinnerungen waren in und unter den Ortsnamen in diesem Land begraben.1
Gegenstand der ersten wissenschaftlichen, namenkundlichen Rezension, die ich verfasst habe, war Dieter Geuenichs Erstlingswerk „Prümer Personennamen in Überlieferungen von St. Gallen, Reichenau, Remiremont und Prüm“ von 1971. Seitdem verbindet mich mit dem Jubilar eine amicitia onomastica, die es mir erlaubt, folgende Gedanken zu seinen Ehren vorzutragen. Es handelt sich um Gedanken, die den Begriff der mittelalterlichen Memoria gar sehr strapazieren, denn ich möchte Memoria im Sinne von „Erinnerungspotential von Namen“ für die Etymologie insbesondere von Ortsnamen fruchtbar machen. In einem ganz anderen Zusammenhang bezeichnete jüngst der Regensburger Sprachtypologe Johannes Helmbrecht die Toponyme (genauer die „beschreibenden Toponyme“) als „kognitive Merkzettel“.2 Es entsteht daraus die Vermutung, dass in Namen auch eine kollektive Erinnerung gespeichert sein kann, die uns, wenn die Namen sehr alt sind, heute nicht mehr zugänglich ist, wiewohl sie für uns etwa bei Naturnamen noch nützlich sein könnte und durch die Etymologie erschlossen werden müsste. Bevor ich an Beispielen zeige, wie Namen zu kognitiven Merkzetteln werden können und wie die „Memoria“ für das etymologische Verständnis von Ortsnamen genutzt werden kann, möchte ich nochmals einen Blick auf Dieter Geuenichs „Prümer Personennamen“ werfen, um deutlich zu machen, wie weit ich mich einerseits von dem Verständnis der Memoria als 1
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Toni Morrison, Solomons Lied. Roman. Deutsch von Angela Praesent, Reinbek bei Hamburg 1986, 341. Johannes Helmbrecht „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Typologie von Namen. Namen in nordamerikanischen Indianersprachen“, Vortrag an der Universität Regensburg (Forschergruppe Namen) am 10. Juli 2007.
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Albrecht Greule
dem liturgischen Gedenken im Mittelalter entferne, wie sehr dieses Buch des Jubilars mich andererseits bis heute beeindruckt. Dieter Geuenich hat darin die Prümer Mönchsnamen des 9. und 10. Jahrhunderts in drei Schichten durch den Rückgriff auf die Verbrüderungsbücher, in denen die Namen der Mönche der durch Gebetsbrüderschaft verbundenen verschiedenen Klöster verzeichnet sind, zusammengetragen und eine Synopse ermöglicht. Prümer Namen sind außer in Prüm selbst an den Schreiborten St. Gallen, Reichenau und Remiremont überliefert. Zwar werden die Namen von Dieter Geuenich auch etymologisch erschlossen, sie werden aber damals noch nicht – was bei den Namen germanischer Herkunft wenig Erfolg versprechend wäre – auf ihre Pragmatik, also auf eventuelle Nachbenennung oder auf das Vorhandensein eines Sinnbezugs auf die Bestimmung des Namenträgers als Mönch, befragt. Im Vordergrund steht bei Geuenich der Beitrag der Namenschreibung zur historischen Sprachgeographie und Grammatik. So wie ich Namen als potentielle Träger von Memoria im weiteren Sinn im Folgenden verstehen möchte, entsteht die Memoria durch die Nomination aus dem Zusammenwirken von mindestens vier Größen, formelhaft ausgedrückt: X benennt Y mit Z, um an A zu erinnern. Vermutlich müsste die Formel noch viel komplizierter ausfallen und weitere Leerstellen enthalten, wollte man alle bei diesem Nominationsakt beteiligten Größen in sie aufnehmen. Ich konzentriere mich auf die wichtigsten. Adolf Bach bietet ein gutes Beispiel, um die obige Formel zu illustrieren.3 „a.828 schenkte die Gräfin Wiligarth an das Kloster Hornbach ‚curtim meam quae ex attavae meae cognomine Wiligarthawisa ab incolis appellata est, in pago Spirensi‘“. Die Leerstellen der Formel werden durch das Beispiel wie folgt gefüllt: X = incolae, die den Namen Wiligarthawisa gebenden bzw. verwendenden Bewohner, Y = curtis mea „mein Hof“, das Referenzobjekt, Z = der sprachliche Ausdruck Wiligarthawisa „Wiese der Wiligarth“, das Referenzmittel, A = attava mea ‚nach meiner Großmutter‘.
3
Bach 1953/1954, §690.
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Warum diese Namenvergabe geschah, wird nicht gesagt. Der Grund dürfte, wie meist bei Nachbenennungen, das ehrende Andenken an einen Menschen sein.4 Hier zitiert also Adolf Bach einen Fall von (1) Personen-Memoria, die an einem Toponym haftet und die in der Traditionsurkunde selbst erschlossen wird. Dies ist allerdings ein seltener Glücksfall expliziter Nomination, der uns aber dazu ermuntern sollte, bei der Namenetymologie die Memoria stärker ins Kalkül zu ziehen – bis hin zu der Überlegung, dass Namen auch gegeben worden sein konnten, um eine unliebsame Memoria zu vermeiden, also so etwas wie eine damnatio memoriae onomastica. Als eine Art der „Rememorierung durch Etymologie“ könnte dagegen die so genannte Volksetymologie5 verstanden werden, zum Beispiel, wenn der schwäbische Dichter Ludwig Uhland den Namen des Berges Achalm bei Reutlingen in gereimter Form erklärt: „Ach Allm-“ stöhnt’ einst ein Ritter, ihn traf des Mörders Stoß; Allmächt’ger! wollt er rufen, man hieß davon das Schloß.6 Neben der Personen-Memoria ist es angezeigt, auch eine (2) Ereignis-Memoria zu unterscheiden. Benennt zum Beispiel eine Stadt wie Regensburg nach 1945 einen wichtigen Platz in ihren Mauern als Dachau-Platz, dann geschieht dies „zur Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus, von denen viele, gerade die, die aus Regensburg stammten, im Konzentrationslager Dachau in Haft gewesen waren“.7 Nicht selten lassen sich PersonenMemoria und Ereignis-Memoria nicht scharf voneinander unterscheiden. Es ergibt sich, gestützt auf die vorhandene Literatur, vorerst folgende Systematik:
1. Personen-Memoria a. durch die Benennung eines Menschen. Hierunter fällt z. B. die klassische Sitte der Nachbenennung bei der Taufe. Sehr alt ist der Brauch, besonders den Erstgeborenen nach dem Großvater zu nennen;8
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Greule 1997, 246. Bach 1953/1954, § 732–736. Ludwig Uhland, Werke Band I. Sämtliche Gedichte, München 1980, 234. Freitag 1997, 42. Bach 1952/1953, § 467. Zur memorialen Benennung von Sippen und Ethnien vgl. Haubrichs 2006.
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b. durch die Benennung einer Siedlung, eines Landes, einer Straße usw., z. B. Ludwigshafen, St.Petersburg, Louisiana, Schiller-Straße; c. durch die Benennung einer Flur oder eines Geländes, z. B. wenn ein Grundstück Leutnantsäcker heißt, weil es von einem Leutnant geschenkt worden war;9 d. durch die Benennung eines Gewässers, z. B. Kaiser-Wilhelm-Kanal.
2. Ereignis-Memoria a. durch Benennung eines Menschen. Auch für diese Kategorie liefert Adolf Bach ein gutes Beispiel: „Ich weiß von einem Bodo, der seinen Namen trägt, weil seine Eltern die Hochzeitsreise nach Bodetal gemacht hatten.“10 b. durch die Benennung eines Ortes, hauptsächlich einer Flur oder eines Geländes. Hierzu bietet Walther Keinath unter der Überschrift „Das große und kleine Geschehen im Spiegel der Namen“ eine große Zahl an Beispielen aus Württemberg.11 Aber auch Siedlungen werden z. B. oft mit dem Lexem Frei- benannt, weil den Siedlern gewisse rechtliche Freiheiten eingeräumt wurden, vgl. Freilassing, Freistett, Freyung u. a. c. durch die Benennung eines Gewässers. Die sich schon bei den Kategorien 1d und 2a abzeichnenden Schwierigkeiten, Beispiele zu finden, treten nun bei der Frage, ob auch Gewässer als Träger einer Ereignis-Memoria in Frage kommen, deutlich zutage. Zur Erklärung dieser Schwierigkeit scheint es notwendig, die Frage nach der Eignung der verschiedenen Namentypen für die Übernahme und Speicherung einer Memoria zu stellen. Wir wissen heute, dass Gewässer, besonders fließende Gewässer, die oft sehr alte Namen tragen, neben ihrer Funktion als Nahrungsspender (was besonders durch Jost Trier betont wurde)12 für die Menschen der Frühzeit als „Altstraßen“ vor allem zur Orientierung und zum Transport (so der Geograph Dietrich Manske)13 wichtig waren. Bei der Nomination der Flüsse als Nahrungsspender und gleichsam als Transportwege tritt das Motiv, Gewässer zu Zwecken der Memoria zu benennen, sicherlich
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Keinath 1951, 144. Bach 1952/1953, § 496.6. Keinath 1951, 163–179. Trier 1960. Manske 2005.
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und verständlicherweise zurück. Allenfalls wäre eine memoriale Benennung denkbar, sofern sie den Primärfunktionen entspricht. Dennoch ist in alten Gewässernamen eine (3) Sach-Memoria gespeichert. Das mag das Beispiel des Flussnamens Mulde verdeutlichen. Die Etymologie des Namens Mulde – die Mulde verursachte in Sachsen vor wenigen Jahren durch ihr Hochwasser verheerende Schäden – enthält einen wohl auf uralte Beobachtungen und Erfahrungen zurückgehenden Hinweis. Die alte Namensform ist nämlich Milda, was man nicht als „die Milde“ übersetzen darf, sondern trotz des Lautwandels als „die Wasserreiche“ übersetzen muss. Ähnliche Informationen über die Natur der Gewässer sind in Namen gespeichert, die das Lexem Eiter-, süddeutsch Aiter- enthalten. Auch hier ist durch den Sprachwandel der Bezug zum Verhalten des Wassers, das die Neigung hatte, zu bestimmten Zeiten anzuschwellen, verloren gegangen. Der umgekehrte Fall liegt bei Gewässernamen mit dem Lexem Hunger- vor; es handelt sich um Namen von oft versiegenden Quellen und Bächen. Ich gehe sogar soweit zu behaupten, dass in Flussnamen Informationen über alte Wirtschaftverhältnisse enthalten sind. Als einen interessanten Fall möchte ich den Artikel aus dem im Entstehen begriffenen „Deutschen Gewässernamenbuch“14 herausgreifen: „Kyr-Bach Oberlauf des Hahnenbachs, l. z. Nahe (fRhein), ON Kirn. Keltisch Kira, r-Ableitung von der ig. Farb-Wurzel *kei-, die im Keltischen appellativisch (mir. cíar ‚dunkelbraun‘, ciru ‚Pechkohle‘) und onymisch (river Keer, z. Morecambe Bay near Carnforth (Westmorland, Lancashire, GB), 1262 (1268) Kere < britisch *ke–ro- ‚dunky, dark‘ < vorkelt. *keiro-) gut vertreten ist. Vgl. f Kirel. Vermutlich bezog sich der keltische GwN Kira ‚Schwarzbach‘ auf den die Gegend prägenden Schiefer.“ Mit anderen Worten: Der Name Kyr(-Bach) enthält einen Hinweis auf das Vorkommen von Schiefer; diese Sach-Memoria funktionierte so lange, solange in dem entsprechenden Kommunikationsraum keltisch gesprochen und verstanden wurde. Ähnliches kann man für einige Flüsse behaupten, deren Name auf indogermanisch Sala beruht: Aus dem Namen darf auf Salzgewinnung und Salzhandel an den Ufern des so benannten Flusses geschlossen werden.15 Oder: Warum heißt der überaus lange Fluss, der bei Kelheim (Niederbayern) in die Donau mündet, Altmühl ? Die Etymologie erweist Altmühl als Name einer spätkeltischen Ansiedlung auf dem Michelsberg über der Mündung der Altmühl in die Donau. Der Grund ist mit 14
15
Albrecht Greule, Deutsches Gewässernamenbuch. Etymologie der Gewässernamen und der zugehörigen Gebiets-, Siedlungs- und Flurnamen. Erscheint im Verlag DeGruyter, Berlin – New York. Greule 2004.
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großer Wahrscheinlichkeit die Sach-Memoria, dass man „am Ende des Flusses“ zu der bedeutenden Höhensiedlung, die wohl auch ein wirtschaftliches Zentrum war, gelangt.16 Nachdem die Memoria von mir nun über die Personen- und EreignisMemoria zur Sach-Memoria ausgedehnt worden ist und Namen damit endlich zu „kognitiven Merkzetteln“ wurden, ist es besser, die Überlegungen, die im Übrigen die Sach-Memoria auch bei der Etymologie von Siedlungsnamen nutzbar machen könnten, abzubrechen und ihre Beurteilung dem Wohlwollen des Jubilars zu überlassen.
Literaturverzeichnis Bach 1952/1953: Adolf Bach, Deutsche Namenkunde. Bd. I: Die deutschen Personennamen (Heidelberg 1952/1953) Bach 1953/1954: Adolf Bach, Deutsche Namenkunde. Bd. II: Die deutschen Ortsnamen (Heidelberg 1953/1954) Freitag 1997: Matthias Freitag, Regensburger Straßennamen (Regensburg 1997) Greule 1997: Albrecht Greule, Personennamen in Ortsnamen. In: Nomen et Gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen, hg. von Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (Berlin/New York 1997) 242–258 Greule 2004: Albrecht Greule, Das Morphem SAL in der Toponymie. In: „Freude an der Wissenschaft“. Festschrift für Rolf Max Kully. Zur Feier seines 70. Geburtstages am 20. September 2004, hg. von Thomas Franz Schneider/Claudia Jeker Froidevaux (Solothurn 2004) 93–100 Haubrichs 2006: Wolfgang Haubrichs, Nomina stirpium. Sippennamen und Ethnonyme. Probleme einer Typologie der Personengruppenbezeichnungen. In: Language and Text. Current Perspectives on English and Germanic Historical Linguistics and Philology, hg. von Andrew James Johnston/Ferdinand von Mengden/Stefan Thim (Heidelberg 2006) 57–78 Keinath 1951: Walther Keinath, Orts- und Flurnamen in Württemberg (Stuttgart 1951) Manske 2005: Dietrich Manske, Flüsse, Täler und ihr Bezug zur Altstraßen- und Siedlungsforschung, dargestellt an Beispielen aus Ostbayern. In: Albrecht Greule/Wolfgang Janka/Michael Prinz (Hg.), Gewässernamen in Bayern und Österreich (Regensburg 2005) 11–34 Reitzenstein 2006: Wolf-Armin Frhr. v. Reitzenstein, Lexikon bayerischer Ortsnamen. Herkunft und Bedeutung. Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz (München 2006) Trier 1960: Jost Trier, Versuch über Flußnamen (Köln/Opladen 1960)
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Die etymologische Bedeutung des Namens Altmühl (< *Alkimonia) ist ungefähr ‚AbwehrBerg‘, vgl. Reitzenstein 2006, 15.
Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 203–220 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Rotuli und andere frühe Quellen zum Totengedenken (bis ca. 800)
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Rotuli und andere frühe Quellen zum Totengedenken (bis ca. 800) FRANZ NEISKE
In der Memorialforschung der letzten Jahrzehnte, zu der Dieter Geuenich mit zahlreichen Untersuchungen wichtige Erkenntnisse beigetragen hat, wurden nur selten die Anfänge der schriftlichen Zeugnisse des Totengedenkens in den Blick genommen. Die Gedenkbücher der Karolingerzeit und die Necrologien des 11. und 12. Jahrhunderts stellen den Kulminationspunkt einer Tradition dar, deren Anfänge offenbar nur bruchstückhaft zu erfassen sind. Überliefert sind zwar Texte für die Durchführung des Gebetsgedenkens selbst, denn bereits die älteste römische Liturgie kannte Gebete für die Toten.1 Wir wissen jedoch wenig über die Praxis der frühen Memoria; nur selten konkretisiert sich der fromme Brauch in Notizen mit einer Namennennung, durch die unsere historische Neugier befriedigt wird. Da das nicht allein dem Zufall der Überlieferung, also dem Verlust von ‚unwichtigen‘ Dokumenten im Verlauf der Zeit zugeschrieben werden soll, muss nach Argumenten gesucht werden, die sich aus einem Wandel der Totenmemoria im Frühmittelalter ergeben haben könnten. Das soll im Folgenden mit dem Blick auf bestimmte, geeignete Zeugnisgruppen geschehen. Grabdenkmäler und Inschriften sind als erste Möglichkeit zur Erinnerung an die Verstorbenen anzusehen. Die generelle Ablehnung von Bildern im frühen Christentum war bezeichnender Weise im Bereich des Totenkultes nicht auf Dauer aufrecht zu erhalten. „Die Entwicklung einer abendländischen christlichen Bildkunst scheint im wesentlichen von der römischen Grabeskunst ausgegangen zu sein.“2 Augustinus († 430) hatte noch die Verehrer von Bildern und Grabdenkmälern zusammen mit den ausschweifenden Gelagen am Grab und anderen heidnischen Sitten aufs Schärfste ver-
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Sicard 1978, 54; Angenendt 1984, 83. Thümmel 1980, 526.
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Franz Neiske
urteilt,3 während in anderen Regionen der römisch-christlichen Welt bereits Bilder von Personen zur Erinnerung an Verstorbene und als Tugendbeispiel für Lebende den Weg in die Kirchen finden konnten.4 Vor dem Hintergrund einer erst allmählich forschreitenden Christianisierung aller Lebensbereiche sind solche zu den allgemeinen Begräbnissitten gehörenden Elemente jedoch vor allem nördlich der Alpen mit der nötigen Vorsicht zu interpretieren. Wie der Brauch der Grabbeigaben noch zur Merowingerzeit durchaus nichts Ungewöhnliches war5 und bis in das 8. Jahrhundert sogar in christlichen Grablegen zu beobachten ist,6 so vermischen sich auch bei den epigrafischen Zeugnissen antike pagane Traditionen mit christlicher Überzeugung. Im Vordergrund stehen hier nämlich zunächst weltliche Gedanken des Nachruhms und der individuellen Erinnerung für Verwandte und Freunde. Erst allmählich wird in den Inschriften etwa durch Psalmenzitate und Gebetsformeln die Zugehörigkeit zur neuen Religion deutlich herausgestellt und mit Bezug auf die eschatologisch erhoffte ‚himmlische Verwandtschaft‘ der Bezug zur konkreten Jenseitserwartung hergestellt.7 Der Wandel von Funktion und Gestaltung der Grabsteine und Inschriften ist sichtbarer Ausdruck der Veränderungen, die sich zwischen dem 5. und 8. Jahrhundert in der theologischen und mentalen Einstellung gegenüber Tod und Totengedenken beobachten lassen. Für Augustinus sollten die Grabmonumente in erster Linie die Erinnerung an die Verstorbenen wach halten.8 Erst mit der auch in anderen Zeugnissen vermehrt einsetzenden Hinwendung zu einem Gedenken, das als Hilfe für die Seelen im Jenseits verstanden wurde, ist bei den Inschriften die Aufforderung zum Gebet für den Toten ab dem ausgehenden 8. Jahrhundert immer häufiger zu finden und erreicht einen ersten Höhepunkt im 9. Jahrhundert.9 Ein bezeichnendes Beispiel für die neue Form des epigrafischen Gedenkens stellt der Text der heute noch erhaltenen Grabplatte dar, die Karl der Große zum Tode Papst Hadrians I. († 795) nach Rom schicken ließ.10 Die Verse bitten nicht nur um das Gebet für den verstorbenen Papst, sondern schließen
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Augustinus, De moribus ecclesiae, I, Sp. 1342: noui multos esse sepulcrorum et picturarum adoratores. Lehmann 1991. Neiske 2007, 109, 114. Mittermeier 2003, 222–230. Effros 2002, 91. Augustinus, De cura pro mortuis IV, 6, S. 630: … nisi quia eos, qui uiuentium oculis morte subtracti sunt, ne obliuione etiam cordibus subtrahantur, in memoriam reuocant et admonendo faciunt cogitari. Scholz 1999, 39f. Scholz 1997, 380f.
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auch Karl den Großen mit ein,11 entsprechend der von Alcuin im 93. Brief entwickelten ‚Aufgabenteilung‘ der karolingischen Herrschaftskonzeption, die erst im Zusammenwirken von Papst und Kaiser/König den ‚Sieg des christlichen Volkes über seine Feinde‘ gewährleistet sehen wollte.12 Grabsteine, die um das Gebet für den Verstorbenen bitten, finden sich in dieser Zeit vermehrt auch in anderen Regionen Europas. Ob man deshalb aber von einem umfangreichen „lapidary liber vitae“ sprechen kann, darf bezweifelt werden. Auf diese Weise läßt sich die geringe Anzahl erhaltener Verbrüderungsbücher sicher nicht erklären.13 Sichere Nachrichten über den veränderten Umgang mit Begräbnis, Erinnerung und Jenseits und über die allmähliche Entstehung des mittelalterlichen Memorialwesens erhalten wir deshalb nur, wenn wir andere Zeugnisse heranziehen. Die Bibel bot nur mit der Erzählung aus dem 2. Makkabäer-Buch (12, 43–45) einen möglichen Hinweis darauf, wie durch Opfer den Verstorbenen zu helfen sei.14 Die Interpretation der frühchristlichen Befunde, wie sie unlängst von Éric Rebillard vorgenommen wurde, zeigt, wie eng für die ersten Christen der Zusammenhang zwischen Grab und Märtyrergrab war, und wie sehr die Vorstellung einer Verbindung von „associations et sépulture collective“ die Identität der Gemeinden prägte. Doch scheint das anfängliche Fehlen fester Begräbnissitten dazu geführt zu haben, dass sich erst gegen Ende der Spätantike die aus dem Frühmittelalter bekannten Formen der Totenmemoria entwickeln konnten. Grab und Friedhof als geheiligter Raum, die Riten des Begräbnisses und die Praxis des Gedenkens konnten erst nach der ‚Konstantinischen Wende‘ allmählich unter die Kontrolle der Kirche gelangen.15 Die Untersuchung ritueller Gewohnheiten und mentaler Bedürfnisse bestätigt damit, was sich auch in den theologischen Schriften der Zeit abzeichnet: Die christliche Ausprägung von Grabkultur und Totengedenken beginnt – trotz einzelner früherer Ansätze – erst im 5. bis 6. Jahrhundert sich zu dem später sehr differenzierten Angebot an Trost und Verheißung zu entwickeln.16 Ambrosius von Mailand diskutierte noch im 4. Jahrhundert in einem ausführlichen theologischen
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Borgolte 1989, 115. Vgl. Neiske 2007, 15f.; Scholz 1997, 391f. Okasha 2004, bes. 99 f. Die Untersuchung differenziert die Grabsteine leider nicht präzis nach ihren Entstehungszeiten, sondern ordnet sie nur pauschal den Jahrhunderten zu. Die wenigen vorgestellten Beispiele, die zudem noch unterschiedliche Typen repräsentieren, erlauben keine generalisierenden Aussagen. Ntedika 1971, 1–7. Rebillard 2003, 51–71, 174–197. Vgl. etwa die Ausbildung der theologischen, sozialen und historischen Bedeutung des Friedhofes im Mittelalter, Lauwers 2005.
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Traktat die Frage nach der Auferstehung und der Unsterblichkeit der Seele,17 während Augustinus – erschüttert über den Tod seiner Mutter Monika – betonte, wie man verstorbenen Verwandten und Freunde durch Gebet und Almosen im Jenseits helfen könne.18 Differenzierte Vorstellungen vom Schicksal der Seele nach dem Tode wurden in eindrucksvollen Bildern durch die bekannten Jenseitsvisionen Papst Gregors des Großen († 604) weit verbreitet.19 Auch der gleichzeitig schreibende Gregor von Tours († 594) benutzte in seinen hagiographischen Schriften in einer Mischung antik-paganer und christlicher Elemente das Mittel der Vision, wenn er erzählt, wie eine Witwe mit regelmäßigen Weinspenden am Grabe ihres einstigen Gatten zu dessen Seelenheil beizutragen hoffte. Als der Wein dann aber von einem Priester missbräuchlich verwendet wurde, erschien der Verstorbene seiner Frau in einer Vision, um das nur ihm Zustehende einzufordern.20 Solche Bilder vermittelten einprägsam, wie sich die Leistungen für die Toten unmittelbar praktisch auswirkten. Sie wurden offenbar gern aufgegriffen, erzwangen eine neue theologische Interpretation der christlichen Eschatologie21 und zeigten mit ihren anschaulichen Beispielen, wie man der Seele eines Verstorbenen auch nach dessen Tod helfen konnte, das Seelenheil zu erreichen.22 Dazu gehörte neben dem Gebet auch die Armensorge, die in enger Verbindung mit dem überkommenen Brauch der Grabpflege gesehen wurde. In Privattestamenten des 7. Jahrhunderts werden diese Dienste ausdrücklich gefordert. Bischof Bertchram von Le Mans († 616) legte testamentarisch fest, dass sein Neffe und dessen Kinder mitsamt weiteren Verwandten jährlich zu seinem Grabe kommen sollten, nicht nur um es zu pflegen, sondern auch, um dort Arme mit Almosen zu versorgen.23 Die Grabpflege selbst, vor allem der Lichterdienst, wurde durch Bertchram den mit dem Testament zugleich freigelassenen Sklaven übertragen. Sie sollten auch zu festgelegten Gedenktagen im Namen Bertchrams Opfergaben darbringen.24 Im 7. Jahrhundert gibt es zahlreiche Beispiele für diese Sonderform des Totengedenkens. Die Freigelassenen waren im weitesten Sinne für Opfergaben und die Organisation von Messleistungen verant-
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Fenger 1982, 138f. Augustinus, Confessiones IX, 13, S. 152–154; Kotila 1992, 98–102. Neiske 1986, 148–150. Gregor von Tours, Gloria confessorum 64, S. 785 f. Stuiber 1957, 165f.; Angenendt 1984, 90f. Neiske 1986, 146f., 153, 161f. Borgolte 1982, 14. Borgolte 1983, 239f.
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wortlich.25 Hier setzte sich eine schon in der heidnischen Antike im römischen Recht vorgesehene Sitte fort, die übliche Sorge um das Grab ehemaligen Sklaven zu übertragen, die dadurch in den Rechtsstatus des Freigelassenen gelangten. In merowingischer Zeit sah sich auch die Kirche veranlasst, den rechtlichen Status dieser Personen zu regeln. Eine Pariser Synode bestimmte in der Mitte des 7. Jahrhunderts, dass solche Freigelassenen künftig dem besonderen Schutz der Kirche unterstellt sein sollten.26 Wie verbreitet die Freilassung unter diesem Vorzeichen war, sieht man daran, dass ein Konzil in Toledo im Jahr 633 den Bischöfen ausdrücklich untersagte, Hörige aus dem Besitz der Bischofskirche frei zu lassen, das dürfe nur mit Sklaven aus Eigenbesitz des Bischofs selbst geschehen.27 „Die irdische Freiheit der Freigelassenen und die himmlische Freiheit der Verstorbenen waren durch die manumissio eine unlösbare Verbindung eingegangen.“28 Allerdings blieb das Gebet für die Verstorbenen stets die originäre Aufgabe der Verwandten beziehungsweise der Kirche. Die Besonderheiten der Bräuche am Grab beleuchten nur einen Aspekt der Memoria. Im Vordergrund des christlichen Totengedenkens stand die Messfeier, zunächst als Liturgie am Grabe selbst, wie schon in apokryphen Texten des 2. Jahrhunderts überliefert ist.29 Aus einer anthropologischen oder religionsgeschichtlichen Perspektive könnte man sogar einen allmählichen Wandel des antiken Totenmahls hin zur Eucharistiefeier am Grab vermuten, wie etwa noch Schilderungen in den Schriften Gregors von Tours nahelegen, bei denen die Messe zu den üblichen Gedenktagen am Grabe gefeiert wurde, und das dadurch sogar zum Altar wurde.30 Für Isidor von Sevilla († 637) ist die Messfeier folgerichtig neben dem Almosengeben das wichtigste Element der Totensorge, denn sie sei auf die Apostel zurückzuführen und in der ganzen christlichen Welt als Möglichkeit des Sündenerlasses anerkannt.31 Die Messe versprach den Hinterbliebenen, der Seele durch die Gnadengaben der Eucharistie den Weg zum Himmelreich zu erleichtern.32 Damien Sicard hat darauf verwiesen, dass das Wort missa noch bis ins 10. Jahrhundert als allgemeine Bezeichnung für eine bestimmte Sammlung von Gebetsleistungen verwendet werden konnte.33 25 26 27 28 29 30 31 32 33
Effros 2002, 196f. Borgolte 1983, 237–238. Regino, Sendhandbuch I, 368. Borgolte 1983, 245. Kotila 1992, 46. Gregor von Tours, Liber vitae patrum 15, 4, S. 723 f. Kotila 1992, 46f.; Effros 2002, 184. Constable 2000, 180. Paxton 1990, 66. Sicard 1978, 149.
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Die Messe als Erinnerung an die Verstorbenen erklärt aber auch die sich im frühen Mittelalter verstärkende Teilnahme der Gemeinschaft an der Totenmemoria; diese wurde zugleich als Verantwortung aller Christen verstanden. Augustinus sah bereits die mater Ecclesia aufgerufen, für alle sub generali commemoratione zu beten, besonders aber für diejenigen, bei denen diese Pflicht nicht durch Angehörige oder Freunde erfüllt werden konnte.34 Die frühesten Textzeugnisse spezieller Gebete für das Seelenheil der Verstorbenen während der Messe finden sich in dem zu Beginn des 8. Jahrhunderts entstandenen Missale von Bobbio;35 zur gleichen Zeit lassen sich dann weitere Texte für solche Votivmessen in Sakramentaren, etwa dem von Gellone (750/780)36 nachweisen, die wohl alle römischen Ursprungs sind.37 Um 800 spricht ein Synodal-Ordo aus Salzburg von einer commemoratio fratrum, die man in der Volkssprache als kameina missa, also als gemeinsame Messe bezeichne, und die von den Teilnehmern der Synode regelmäßig gefeiert werde.38 Vorausgegangen waren aber bereits in der Mitte des 8. Jahrhunderts die ersten schriftlich erhaltenen Gebetsverbrüderungen anlässlich von Synoden. In Attigny (760/762) und in Dingolfing (769/770) war es zu solchen Vereinbarungen gekommen, in denen namentlich aufgeführte Bischöfe und Äbte sich verpflichteten, beim Tode eines jeden von ihnen 100 Messen zu feiern oder 100 Psalter zu beten.39 Spezielle Texte für solche liturgischen Leistungen waren aber noch selten. Ein eigenes Officium defunctorum scheint erst ab dem 9. Jahrhundert verbreitet zu sein,40 und folglich wird die Totenmemoria seit dieser Zeit auch in zahlreichen Konzilsakten und Briefen erwähnt.41 Gleichzeitig nehmen auch in den wenigen erhaltenen privaten Gebetbüchern die Orationen für die Verstorbenen zu,42 während solche Orationes speciales um die Wende zum 9. Jahrhundert kaum anzutreffen sind.43 Amalarus von Metz († um 850) und Florus von Lyon († um 860) dagegen konnten bereits auf einen speziellen und eingeübten Ritus des Totengedenkens verweisen, den sie sowohl theologisch wie praktisch zu begründen verstanden.44
34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
Augustinus, De cura pro mortuis IV, 6, S. 631. Angenendt 1983, 189–195; Angenendt 2004, 563f. Liber sacramentorum Gellonensis Nr. 486–508, S. 464–481. Paxton 1990, 98f. Schneider 2004, 57. Schmid/Oexle 1974. Gamber 1972/73; Sicard 1978, 155; Brearley 2002. Constable 2000, 187; Schneider 2004, 60f. Waldhoff 1996/97, 208–211. Waldhoff 2003, 212–214. Angenendt 1983, 202; Constable 2000, 193–195.
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Die im Vorhergehenden aufgezählten Erweiterungen der biblisch-jüdischen wie der römisch-paganen Totenmemoria öffneten dem christlichen Verständnis einer Unterstützung der Verstorbenen im Jenseits neue Wege und schufen die Voraussetzungen für eine intensivere Form der Gebetspraxis, die sich mit ihren organisatorischen Erfordernissen im Hochmittelalter nahezu zu einer „Buchführung für den Himmel“45 ausweiten sollte. Die angestrebte Dauerhaftigkeit des Gebetes durch Wiederholung und eine gleichzeitig einsetzende Tendenz zur Individualisierung des Gedenkens erforderten Organisationsformen in den Institutionen und Gemeinschaften, die sich – auch für uns greifbar – in schriftlichen Zeugnissen sichtbar konkretisierten. Der Name wurde naturgemäß zum wichtigsten Element der Gedenkpraxis, da nur so ein persönlicher Bezug zu dem Verstorbenen hergestellt werden konnte. Bereits Augustinus spricht von einem gegenseitigen Aufschreiben des Namens als Zeichen des Bundes zwischen Gott und Mensch46 und bezieht sich damit auf die Vorstellung vom ‚Buch des Lebens‘, das im Alten Testament und in der Apokalypse des Johannes als sichtbares Verzeichnis der Seligen im Himmel beschrieben worden war.47 Namennennung und Namenerinnerung48 wurden damit wichtige, wenn auch nicht alleinige Gründe für ein Schriftlichwerden der liturgischen Memoria.49 Bis zum 9. Jahrhundert haben wir jedoch nur vereinzelte Hinweise auf die Namennennung im Zusammenhang mit liturgischer Memoria. Bruchstückhaft erhalten ist die aus der paganen Antike übernommene Tradition der Diptychen, die in der Karolingerzeit nochmals eine kurze Blüte erlebten, in ihrem Namenbestand bis in das 6. Jahrhundert zurück reichen, hier aber nicht näher untersucht werden sollen.50 Die Praxis der Namennennung wird erst ab dem 7. Jahrhundert in Einzelzeugnissen fassbar. Der schon erwähnte Bischof Bertchram von Le Mans bestimmte im Jahre 616 in seinem Testament, dass sein Name zum immerwährenden Totengedenken in den Kirchen von Le Mans, Paris und Metz in das ‚Buch des Lebens‘ eingetragen und an seinem Gedenktag verlesen werden solle.51 Ein Hinweis auf den Brauch solcher Namennennungen findet sich im gleichen Jahrhun45 46
47 48 49 50 51
Neiske 1997, 115. Augustinus, Enarrationes in Psalmos, Psalm 43, cap. 3, S. 483: ego ne speraui, et dereliquisti me, et sine causa credidi in te, et sine causa nomen meum scriptum est apud te, et nomen tuum scriptum est in me? Koep 1952, 31–33. Neiske 2002. Neiske 1997. Jakobi 1986. Borgolte 1982, 14.
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dert in den Canones Erzbischof Theodors von Canterbury († 690). Er schreibt nämlich im Kapitel De missa defunctorum neben der Totenmesse für die Mönche auch die Verlesung des Namens vor.52 Zu Beginn des 8. Jahrhunderts bittet Beda Venerabilis († 735) in der Widmung der Vita sancti Cuthberti den Konvent von Lindisfarne darum, in das ‚Album‘ der Kongregation namentlich eingetragen zu werden, damit für ihn wie für die eigenen Mönche oder familiares für die Sicherung des Seelenheiles gebetet werde.53 Beda benutzt mit der Bezeichnung ‚Album‘ einen schon von Bischof Chromatius von Aquileia († um 407) geprägten Begriff, der wiederholt auch bei Beda als Synonym zu Liber vitae begegnet;54 Alcuin verwendet den gleichen Begriff, um brieflich eine Verbrüderung mit Lindisfarne zu erbitten,55 und noch Sigebert von Gembloux († 1112) kennt den Ausdruck in dieser Bedeutung.56 Die ältesten Memorialnotizen, die als Frühformen necrologischer Aufzeichnungen angesehen werden können, entstanden im angelsächsischen Selsey (Northumbrien) gegen Ende des 7. Jahrhunderts. Beda Venerabilis berichtet in der Historia ecclesiastica über das Gedenken an den (heiligen) König Oswald († 642) und erwähnt in diesem Zusammenhang, ein Priester habe in annale suo nachgesehen, wann der Todestag Oswalds gefeiert werde.57 Damit war natürlich ein Martyrolog gemeint, in dem der Tag des Heiligen verzeichnet war, doch wird hier der allmähliche Übergang zur neuen Form des Totenkalenders fassbar, wie Eckhard Freise mit Verweis auf diese und andere, vor allem insulare Quellen des 8. Jahrhunderts herausgestellt hat. „Die necrologische Nutzung von Martyrologien und Kalendaren durch angelsächsische Geistliche ist tatsächlich aus Zeugnissen des 8. Jahrhunderts erschließbar.“58 Auf dem Kontinent sind die necrologischen Notizen in einem Weißenburger Martyrolog von 772 als eine frühe Form kalendarischer Gedenkauf52
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Canones Theodori Cantuarensis, cap. V, 4, S. 318: Missas quoque monachorum fieri per singulas septimanas et nomina recitare mos est. Vita sancti Cuthberti, S. 146: et me defuncto pro redemptione animae meae quasi familiaris et vernaculi vestri orare et missas facere, et nomen meum inter vestra scribere dignemini … ut in albo uestrae sanctae congregationis meum nunc quoque nomen apponeret. Chromatius Aquileiensis, Tractatus in Mathaeum, XVI, S. 263, Z. 23: non scriptos in albo senatus terreni, sed scriptos in albo angelorum in caelo. Beda Uenerabilis, In Ezram et Neemiam 1, Z. 559: quanta certitudine dominus summam electorum suorum in libro uitae conscribat et uelut in albo caeli consignet. Wollasch 1984, 216. Sigebertus Gemblacensis, Uita Theodardi Traiectensis, S. 35: eum … in albo uite cum martyribus ascribi fecit. Beda, Historia ecclesiastica IV, 14, S. 362. Freise 1984, 513.
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zeichnung zu nennen.59 Aus dem gleichen Kloster ist eine Übereinkunft des Jahres 776/77 überliefert, in der der Konvent sich dazu verpflichtete, für die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft einmal im Jahr, am 28. November, ein besonderes Gedenken mit Messfeiern, Psalmengesang und Gebeten einzurichten, ut huius pietatis opus et nobis proficiat ad salutem et illorum (scil.: defunctorum fratrum nostrorum) animabus impetret beatitudinem sempiternam. Die regelmäßige Erinnerung an die Verstorbenen war, wie der gleiche Text hervorhebt, bereits eine eingeübte Gewohnheit: nach der Lesung aus der Regel im morgendlichen Kapitel habe man täglich der verstorbenen Brüder des Klosters gedacht.60 Erste Hinweise auf einen solchen Brauch gibt es in der Kanonikerregel Bischof Chrodegangs von Metz († 766), dem Initiator des Gebetsbundes von Attigny. Das tägliche Totengedenken für die verstorbenen Mitglieder einer Gemeinschaft im Kapitelsaal scheint sich aber erst im Verlaufe des 9. Jahrhunderts durchgesetzt zu haben.61 Der Kapitelsaal war in besonderer Weise für das Gedenken geeignet, weil dieser Raum als Ort des irdischen und himmlischen Gerichts angesehen wurde.62 Feste pauschale Totengedenktage im Verlaufe eines Jahres sind aber auch schon aus der christlichen Antike bekannt.63 Solche Formen der liturgischen Memoria setzen natürlich auch necrologische Aufzeichnungen voraus, die aber im Falle des Klosters Weißenburg in dem aus späteren Jahrhunderten bekannten codicologischen Überlieferungszusammenhang etwa als Kapitelsbuch aus dieser frühen Zeit nicht vorliegen,64 wenngleich bereits die Necrologien des 9. Jahrhunderts zahlreiche Einträge von älteren Herrschern und Bischöfen enthalten, die aber auf anderem Wege, vielleicht über Herrscher- oder Bischofslisten, in das kalendarische Totengedenken gelangt sind. Auf ursprünglich insulare Sitten können die vielen Beispiele zurückgeführt werden, die in den Briefen des Bonifatius († 754) vor allem als Bitte um namentlichen Eintrag in das Gedenken befreundeter Gemeinschaften figurieren, und die in der Forschungsliteratur immer wieder gern zitiert werden. Hier handelt es sich nach Aussage der Quellen um unterschiedliche Formen von Rotuli mit Namen und Todesdaten der Verstorbenen.65 Diese oft in oder mit Briefen 59 60 61 62
63 64 65
Freise 1984, 518–520. Borgolte 1975, 15. Lemaitre 1984, 628–631; Angenendt 1984, 184. Das Bildprogramm des Kapitelsaals zahlreicher Klöstern verweist auf diese Vorstellung, vgl. Stein-Kecks 2004, 160–164. Rebillard 2003, 162f. Borgolte 1975, 6f. Vgl. die Beispiele bei Angenendt 1984, 160f., und Wollasch 1984, 218, sowie Freise 1984, 513.
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übersandten Namenlisten mit Nachrichten über Todesfälle sind in unterschiedlicher Ausprägung im gesamten Mittelalter anzutreffen. Sie bilden die praktische Voraussetzung für die Aufzeichnung der Namen in Gedenkbüchern und Necrologien. Zum Ende des 8. Jahrhundert konnte Alcuin von York († 804) an solche, durch persönlichen brieflichen Kontakt entstandenen, älteren Verbindungen mit angelsächsischen Gemeinschaften erinnern und sich auf ein pactum familiaritatis berufen, als er Bischof und Kathedralkapitel von Hexham (Northumbrien) um Aufnahme in das Gebetsgedenken bat.66 Die Namenlisten standen auf einzelnen Pergamentblättern, die wohl oft nur winzige Streifen waren, und es war bestimmt mühsam, sie aufzubewahren und in geeigneter Weise für die Memoria zu nutzen. Ihr Wert für ein Kloster läßt sich an einem Bericht aus den ‚Casus s. Galli‘ ablesen. Als nämlich bei einem Überfall der Ungarn im Jahre 926 alle das Kloster St. Gallen verlassen mussten, zog man sich auf einen befestigten Platz im Wald zurück. Man errichtete dort eine provisorische Kapelle als Gebetsraum: „darein wurden die Kreuze gebracht und die Behälter mit den Totenverzeichnissen, desgleichen auch fast der gesamten Kirchenschatz“. Die an dieser Stelle ‚Ditptychen‘67 genannten Namenlisten und Totenroteln gehörten also zu den wichtigsten Kostbarkeiten des Klosters! In den kürzlich erschienenen ersten Bänden der von Jean Dufour besorgten Edition mittelalterlicher Rotuli sind nur rund 20 Dokumente aus dem Zeitraum bis um 800 nachgewiesen. Angesichts der für das mehrbändige Gesamtwerk vorgesehenen Anzahl von mehr als 440 Stücken bis zum Jahr 1536 scheint das sehr wenig zu sein. Vor dem Hintergrund der in diesem Beitrag präsentierten schmalen Quellenbasis für das Totengedenken des frühen Mittelalters insgesamt beweist aber auch die Auswahl Dufours das allmähliche Anwachsen der neuen Gewohnheit bis zum Jahr 800. Allein neun von 19 Beispielen aus der Zeit vor dem 9. Jahrhundert sind der schon zitierten Briefsammlung des Bonifatius entnommen; ausgewählt sind nur solche Erwähnungen von Gebetsbitten, bei denen im Text von der Übermittlung von Namen gesprochen wird.68 Dieses Kriterium wird jedoch nicht immer beachtet. So fehlt etwa der Brief des Mainzer Bischofs Lul († 786) an thüringische Priester, mit dem zu Messfeiern für den verstorbenen Bischof Romanus von Meaux († 755) aufgerufen wird; die Bitte wird ausdrücklich mit dem Hinweis auf die Übersendung des Namens abgeschlossen. Es folgen der Namen des Bischofs sowie 66 67 68
Waldhoff 1996/97, 177. Casus s. Galli 51, S. 115: cum diptitiis capsê. Recueil des rouleaux des morts, Nr. 1–4, 8, 9, 12, 13, 14. Entsprechend: Briefe des Bonifatius Nr. 55, 81, 106, 38, 121, 114, 126, 127, 133.
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der zweier Laien.69 Im Briefwechsel Bischof Luls finden sich noch zwei weitere, von Dufour nicht berücksichtigte, Beispiele, in denen zum Zwecke des Totengedenkens den verbrüderten Partnern die Namen von Verstorbenen – teils mit Todesdatum – mitgeteilt werden.70 Auch fehlt in der Edition ein aus dem gleichen Codex überliefertes Formular für die Übersendung von Rotuli.71 Die Edition nennt weiter die schon erwähnten Vereinbarungen der Synoden von Attigny und Dingolfing, die zwar die Namen der Verpflichteten aufzählen, aber nicht eigens die später sicher nötigen Mitteilungen über den Tod Einzelner an alle Vertragspartner erwähnen.72 Es folgen verstreut nachzuweisende Formulare für die Übermittlung von Todesnachrichten an verbrüderte Klöster. Allein vier dieser Musterbriefe sind aus Murbach überliefert; sie sind in den Zeitraum von 774–792 datiert.73 Aus dem Jahr 800 stammt die Bestimmung eines Salzburger Konzils, mit der sehr umfassend verfügt wird, dass die Todesnachrichten von Bischöfen, Äbten, Mönchen und Nonnen im ganzen Bistum verbreitet werden sollten. Eigens wird hervorgehoben, dass dabei auch die Namen und Todesdaten mitgeteilt werden müssten.74 Älteren Datums ist ein Brief ebenfalls Salzburger Provenienz, der in engerem Sinne bereits als echter Rotulus anzusprechen ist. Darin werden Absender und Empfänger genannt, sowie auch der Name und der Todestag eines Verstorbenen.75 Da der Empfänger Bischof Virgil von Salzburg († 784) ist, haben wir damit eines der Dokumente, die zur Vorbereitung des unter Virgil entstandenen Salzburger Verbrüderungsbuches gedient haben könnten,76 allerdings fehlt der in dem Schreiben erwähnte Name im aktuellen Verbrüderungsbuch,77 was bereits in der von Dufour nicht benutzten kritischen Ausgabe des Briefes festgestellt worden war.78 Zuletzt ist noch ein aus Reichenau überliefertes, zu Beginn des 9. Jahrhun-
69
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72 73 74 75 76 77 78
Briefe des Bonifatius Nr. 113, S. 245 Z. 23: Misimus vobis nomen domni Romani episcopi, pro quo unusquisque vestrum XXX missas cantet et illos psalmos et ieiunium iuxta constitutionem nostram. Similiter pro duobus laicis nomine Megenfrith et Hraban X missas unusquisque vestrum cantet. Briefe des Bonifatius Nr. 117, S. 253 Z. 33; Nr. 122, S. 259 Z. 33. Briefe des Bonifatius Nr. 150, S. 289: Direximus itaque fratrum nostrorum nuper defunctorum nomina, ut eorum in vestris sanctis orationibus solito more memoriam habeatis et ad cetera deinceps monasteria eadem nomina scripta dirigatis, sicut et nos facimus, quoties de vobis sive de ceteris monasteriis defunctorum fratrum nomina veniunt. Recueil des rouleaux des morts, Nr. 5–6. Recueil des rouleaux des morts, Nr. 10–11, 15–16, 18. Recueil des rouleaux des morts, Nr. 17. Recueil des rouleaux des morts, Nr. 7. Verbrüderungsbuch Salzburg. Schmid 1983, 182; Diesenberger 2006, 109. Epistolae 4, 497 Anm. 4.
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derts entstandenes Formular zu nennen, aus dem ebenfalls hervorgeht, dass es üblich war, die Namen zum Gebetsgedenken an viele Klöster zu versenden. Die aufgeführten Namen der Verstorbenen lassen sogar vermuten, dass es sich um Laien gehandelt hat. Sie werden als fratres bezeichnet und sollen mit der ‚üblichen Memoria‘ bedacht werden.79 Die Anzahl der in der Auswahl Dufours zusammengestellten Rotuli steigt auch in den folgenden Jahrhunderten nur allmählich: zehn im 9. Jahrhundert, rund 30 im 10. und etwa 40 im 11. Jahrhundert. Diese Zahlen sind allerdings eher ein Beweis für die zunehmende Einengung der Definition von ‚Rotulus‘. Während es dem Herausgeber bei den Beispielen der ersten Jahrhunderte genügt, Texte zusammenzustellen, die im weitesten Sinne von einem mit Namennennung und Namenübermittlung zu praktizierenden Totengedenken sprechen, sind die für das Hochmittelalter ausgewählten Dokumente Rotuli im strengen Wortsinn. Jetzt handelt es sich um teils sehr lange Pergamentrollen, die von Kloster zu Kloster, von Kirche zu Kirche weitergereicht werden, damit man dort für die in der Rolle genannten Personen betet und ihre Namen in das eigene Totengedenken übernimmt. Zusätzlich wird der Aufenthalt des Rotulus in der jeweiligen Institution mit Nennung der Kirche dokumentiert und ein Segenswunsch für die Verstorbenen hinzugefügt; die Liste der Verstorbenen konnte auch um Namen aus dem eigenen Haus erweitert werden. Der Rotulus war damit zu einem Werkzeug eines übertriebenen und umfassenden – teils europaweiten – Totengedenkens geworden, das in äußerer Form und Textgestaltung nahezu zur Kunstform erstarrt war. Diese Extreme der liturgischen Memoria entsprechen dem spätmittelalterlichen Bemühen, mit einer nach Zehntausenden zählenden Menge von Messen das ewige Seelenheil zu sichern.80 Die Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert erweist sich also in der Zusammenschau der nachgewiesenen Belege als Zeit des Umbruchs im mittelalterlichen Totengedenken. Die Totenannalen von Fulda lassen sich bis in das Jahr 779 zurückverfolgen.81 Aus den Klöstern Reichenau und St. Gallen,82 aus Regensburg83 und Würzburg84 sind frühe Necrologien erhalten. Gleichzeitig entstehen die umfangreichen karolingischen Verbrüderungsbücher,85
79
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Recueil des rouleaux des morts, Nr. 19: Quapropter eorum memoriam consuetudinariam tam in vicem quam generalem missionem per cetera monasteria habere dignemini. Neiske 1990. Freise 1984, 503. Wollasch 1980. Wollasch 1988. Leng 2007. Schmid/Wollasch 1975, 14–18.
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die teils aus älteren Listen und Rotuli komponiert wurden, hinter denen sich wahrscheinlich Vorläuferredaktionen aus dem 8. Jahrhundert verbergen.86 Wie oben gezeigt, ändern sich im gleichen Zeitraum die Inschriften auf den Grabdenkmälern, sie bitten jetzt ausdrücklich um das Gebet für den Toten. Im Verlaufe des 9. Jahrhunderts finden die Gedanken an die Totenmemoria auch Eingang in literarische Werke. Die offenbar gezielte Verbreitung von Visionen, in denen zu konkreten Leistungen für Verstorbene aufgerufen und die heilbringende Wirkung des Gebetes in drastischen Bildern ‚bewiesen‘ wird, erwies sich als wirksame Propaganda für das neue Verständnis von Totensorge.87 Beispielhaft zu nennen ist hier vor allem die Visio Wettini.88 Auch das Muspilli enthält Elemente der Memoria als Hilfe mit Fasten und Almosen.89 Otfrid von Weißenburg konnte – nicht ohne Erfolg90 – im letzten Kapitel seiner Evangelienharmonie mit einer offenbar allen Zeitgenossen vertrauten Forderung an seine Nachwelt herantreten, wenn er seine Leser und seine Mitbrüder bat: „Unterlasst nicht das Gedenken, dass ihr Gnade für mich erbittet mit ganz hingegebener Liebe bei dem heiligen Gallus selbst.“91 Einmal mehr gibt sich auch für das Gebetsgedenken die Karolingerzeit als erster Höhepunkt frühmittelalterlicher Kultur zu erkennen, deren mentalitätsgeschichtliche Ausprägung den Keim für weitere Formen menschlicher Erinnerung und religiöser Jenseitssorge in sich trug, die weit über soziale und politische Veränderungen hinaus Bestand haben sollten.
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86 87 88 89 90 91
Geuenich 2003, 37f. Neiske 1986, 184. Schmid 1977. Geuenich 2003, 32–35. Ludwig 1987, 86. Ohly 1984, 16f.
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Augustinus, Enarrationes in Psalmos, Psalm 43: Sancti Aurelii Augustini Enarrationes in Psalmos I-L, hg. von Eligius Dekkers und Johannes Fraipont (= Corpus christianorum. Series latina 38) (Turnhout 1956) 481–493 Beda, In Ezram et Neemiam: Bedae Venerabilis, In Ezram et Neemiam libri III. In: Bedae Venerabilis Opera, pars II, Opera exegetica, hg. von David Hurst (= Corpus christianorum. Series latina 119A) (Turnhout 1969) 236–392 Beda, Historia ecclesiastica: Venerabilis Bedae historiae ecclesiastica gentis Anglorum, übers. von Günter Spitzbart (= Texte zur Forschung 34) (Darmstadt 1982) Briefe des Bonifatius: Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, hg. von Michael Tangl (Monumenta Germaniae Historica, Epistolae selectae 1) (Hannover 1916, Nachdruck 1989) Casus s. Galli: Ekkehard IV., St. Galler Klostergeschichten, übers. von Hans F. Haefele (= Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 10) (Darmstadt 1980) Canones Theodori Cantuarensis: Die Canones Theodori Cantuarensis, hg. von Paul Willem Finsterwalder. In: ders., Die Canones Theodori Cantuarensis und ihre Überlieferungsformen (Weimar 1929) Chromatius Aquileiensis, Tractatus in Mathaeum: Chromatius Aquileiensis, Tractatus in Mathaeum, hg. von Raymond Étaix und Joseph Lemarié (= Corpus christianorum. Series latina 9A) (Turnhout 1974) 185–489 Epistolae 4: Epistolae Karolini aevi 2, hg. von Ernst Dümmler (Monumenta Germaniae Historica, Epistolae 4) (Hannover 1895) Gregor von Tours, Gloria confessorum: Gregor von Tours, In Gloria confessorum, hg. von Bruno Krusch (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Merovingicarum, 1. Gregorii Turonensis Opera, Teil 2: Miracula et opera minora) (Hannover 1885) 744–820 Gregor von Tours, Liber vitae patrum: Gregor von Tours, Liber vitae patrum, hg. von Bruno Krusch (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Merovingicarum, 1. Gregorii Turonensis Opera, Teil 2: Miracula et opera minora) (Hannover 1885) 661–744 Liber sacramentorum Gellonensis: Liber sacramentorum Gellonensis, hg. von Antoine Dumas und Jean Deshusses (= Corpus christianorum. Series latina 159) (Turnhout 1981) Recueil des rouleaux des morts: Recueil des rouleaux des morts (VIIIe siècle–vers 1536), hg. von Jean Dufour, Volume premier (VIIIe siècle–1180) (= Recueil des historiens de la France, Obituaires 8/1) (Paris 2005) Sigebertus Gemblacensis, Uita Theodardi Traiectensis: Sigebertus Gemblacensis, Uita Theodardi Traiectensis, hg. von J. Schumacher, Sigebert de Gembloux, Vita et Passio s. Theodardi. In: Bulletin de la Société d’art et d’histoire du diocèse de Liège 51 (1971–75) 22–43 Regino, Sendhandbuch: Das Sendhandbuch des Regino von Prüm, hg. von Wilfried Hartmann (= Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 42) (Darmstadt 2004) Verbrüderungsbuch Salzburg: Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift A 1 aus dem Archiv von St. Peter in Salzburg, hg. von Karl Forstner (= Codices Selecti 51) (Graz 1974) Vita sancti Cuthberti: Vita sancti Cuthberti anonyma, hg. von Bertram Colgrave. In: Two Lives of saint Cuthbert. A Life by an anonymous monk of Lindisfarne and Bede’s prose Life, texts, translation and notes (Cambridge 1940)
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Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 221–233 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Freilassungen als Sicherung des Totengedächtnisses im frühen Frankenreich
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Freilassungen als Sicherung des Totengedächtnisses im frühen Frankenreich INGRID HEIDRICH
Die seit vier Jahrzehnten intensiv betriebene Erforschung der Memorialbücher und Nekrologien hat Gebetsgemeinschaften zum Totengedenken im Blick sowie Familiengruppen, deren Namengut und deren Verbindungen sowohl untereinander als auch zu bestimmten Klöstern mit den ableitbaren politischen Implikationen, und nutzt die Angaben der Todestage der in diesen Quellen aufgezeichneten Personen für deren Biographie. Dass es sehr früh schriftliche Namensaufzeichnungen solcher Personen gab, deren Totengedächtnis von einer kirchlichen Institution begangen werden sollte, bezeugt das aus dem Jahr 616 stammende Testament des Bischofs Bertram von Le Mans, der sowohl den von ihm begünstigten Kirchen von Le Mans, speziell der von ihm begründeten basilica St. Peter und Paul, in der er begraben zu werden wünschte, als auch dem Abt der basilica von Saint-Germain in Paris Eintrag und Verkündigung seines eigenen Namens im jeweiligen Liber vitae auftrug.1 Überliefert sind solche Texte dann freilich erst seit dem 9. Jahrhundert. Nicht zu vernachlässigen sind auch die praktischen Voraussetzungen für die Feier des Totengedächtnisses. Einige Bedingungen mussten erfüllt sein, um den würdigen Ablauf dieser liturgischen Handlung zu gewährleisten. Eine bestimmte Kirche musste Raum, Beleuchtung und Termin bereit stellen und der in ihr amtierende Geistliche zur Abhaltung der Feier verpflichtet werden. Deswegen ist es verständlich, dass im Mittelalter derjenige, der sein Begräbnis in der Kirche und/oder das kirchliche Totengedächtnis wünschte, selbst durch Schenkungen dafür sorgte oder seiner Familie Dotationen zu diesem Zweck auftrug. Tatsächlich finden wir derlei Verfügungen in den wenigen erhaltenen Testamenten und Testamentsfor1
Bertrams Testament wird hier und im folgenden nach der gegliederten und kommentierten Neuausgabe von Margarete Weidemann zitiert; Weidemann 1986, 18 der Beleg zu SaintGermain: Rogo abba (il)lustris loci illius, ut nomen meum in libro vitae recitetur, S. 46 der Beleg zu den Kirchen von Le Mans: Illud vero specialiter rogo, ut in suprascripta loca, ubi aliquid, non ut decuit, sed in quantum virtus praevaluit, delegavi, nomen meum et sacerdotes illorum in libro vitae iubeant adscribere et per singulas festivitates recitari.
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mularen des Frankenreiches im 7. und 8. Jahrhundert. Dieselben Texte liefern jedoch auch Zeugnisse für eine Praxis, die man weniger erwartet: Nicht nur Grundbesitz und unfreie Arbeitskräfte werden den Kirchen übereignet, sondern auch bestimmte Leistungen freigelassener Personen. Freilassungen galten als verdienstvolle Werke der Nächstenliebe; daher wurde sowohl bei solchen, die testamentarisch verfügt wurden, als auch bei denen, die der Herr oder die Herrin gesondert urkundlich festhalten ließen, als Motiv die Sorge um das eigene Seelenheil erwähnt. Aus dem frühen Frankenreich sind uns einige Testamente im Original oder in Abschriften erhalten und daneben Testamentsformulare.2 Von Freilassungen wissen wir aus erzählenden Quellen und vor allem aus den (fränkischen) Rechtsquellen. Wir kennen Freilassungsurkunden, also konkrete Textzeugnisse für die frühe Zeit jedoch nur in Form von Formularen (ingenuitas, carta ingenuitatis, libertas). Erst einzelne karolingische und nachkarolingische Königsurkunden werfen Lichtpunkte auf die königliche Freilassungspraxis, von der man aber nicht ohne weiteres annehmen kann, dass sie immer mit derjenigen anderer weltlicher Herren identisch war. Die fränkischen Rechte, die Lex Salica und vor allem die (spätere) Lex Ribuaria dokumentieren die Vielfältigkeit der Freilassungsmöglichkeiten,3 die uns ähnlich auch in den Formularen entgegen tritt. Wir wenden uns zunächst den Textzeugnissen für Freilassungen zur Sicherung des Totengedächtnisses in den merowingerzeitlichen Testamenten zu. Das Testamentsformular aus dem Formelbuch Marculfs, das dem Ende des 7. oder Anfang des 8. Jahrhunderts zuzuordnen ist, Marculf II 17, in dem der Verfasser sich bemüht, alle denkbaren Legate zu erfassen, erwähnt auch Freilassungen, die der Erblasser pro animae nostrae remedium vornimmt und für die er die Möglichkeit vorsieht, die Freigelassenen und deren Nachkommen zu oblata vel luminaria ad sepulchra nostra zu verpflichten.4 Dass mit den oblata vel luminaria einmal jährlich zu erbringende Leistungen an den Begräbnisort des freilassenden Herrn gemeint sind, ergibt sich aus der Freilassungsformel Marculf II 34.5 Zwei Testamente sind aus merowingischer Zeit als Originale erhalten. Sie sind als solche über jeden Fälschungsverdacht erhaben, und daher wol2
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Nonn 1972. Zu den einzelnen Texten und den Formularen vgl. die folgenden Anmerkungen. Lex Salica, 100-Titel-Text c. 37, Abs. 1 und 2, 150. Lex Ribuaria c. 57 und 58, 54–60. MGH Formulae, Marculf II 17, 87: Liberos, liberas, quos quasque pro animae remedium fecimus aut inantea facire volueremus et eis epistolas manu nostra firmatas dederemus, obsequium filiorum nostrorum habere cognuscant et oblata vel luminaria, iuxta quod ipsas epistolas continent, ad sepulchra nostra tam ipsi quam prolis eorum implere studiant. Ebd. 96: et oblata mea, ubi meum requiescit corpuscolum, vel luminaria annis singulis debeas procurare.
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len wir sie, um gesicherte Ergebnisse zu erhalten, auf die in ihnen dokumentierte Freilassungspraxis befragen. Beide sind auf Papyrus geschrieben und am Anfang, am Schluss und an den Rändern teilweise ausgefasert und nicht unerheblich beschädigt, wobei auch die Datierungen verloren gingen; sie stammen aber wahrscheinlich beide aus der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts. Beide betreffen in den Verfügungen überwiegend den Raum um die Flüsse Marne, Seine und Oise südöstlich und nördlich von Paris, ein Kerngebiet des merowingischen Frankenreiches, und sind im Archiv des Klosters Saint-Denis, der Grabkirche einiger Mitglieder des merowingischen Königshauses und dann auch der frühen Karolinger Karl Martell und Pippins des Jüngeren, des ersten karolingischen Königs, erhalten. Die Überlieferung durch das Archiv von Saint-Denis erklärt sich daraus, dass dieses Kloster entweder selbst zu den in den Texten Begünstigten zählte (wie im Testament des Idda-Sohnes), oder dass die mit den Verfügungen bedachten basilicae unter den Einfluss von Saint-Denis kamen. Das eine ist das Testament eines Sohnes einer Idda – der Name des Ausstellers ging verloren, nur der Name seiner genitrix ist erhalten.6 Das andere ist das Testament der Erminetrud, das Ulrich Nonn ausführlich erörtert hat.7 Beide Aussteller gehörten der in diesem Kerngebiet des Merowingerreiches begüterten wohlhabenden fränkischen „Oberschicht“ an, deren Familien, wie die beiden Urkunden zeigen, bereits Begräbniskirchen besaßen oder im Begriff waren, sich solche zu schaffen. Das Testament des Idda-Sohnes enthielt offenbar schon am jetzt zerstörten Anfang die Bestätigung von bereits getätigten Freilassungsverfügungen, von der jedoch in der erhaltenen Zeile 3 nur ein Bruchstück übrig geblieben ist: quasque liberos liberasque esse precipero, liberae liberaeque (!) permaneant. Die Formulierung hat eine Parallele im abschriftlich erhaltenen aber unverdächtigen Testament Bertrams von Le Mans.8 Im erhaltenen Mittelteil des Testaments wird die Freilassungsverfügung noch einmal aufgegriffen und zugleich gesagt, dass die Freigelassenen gesonderte Urkunden (aepistolae ingenuitatis) erhielten, in denen die Bedingungen ihrer Freilassung genau formuliert waren. Dies entspricht der in Anm. 4 genannten Formulierung 6 7
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CLA 13, Nr. 569, 80–89, von den Herausgebern datiert auf „2. Hälfte 7. Jh.?“. CLA 14, Nr. 592, 72–79, von den Herausgebern wenig präzise und ohne Erläuterung auf „6./7. Jh.“ datiert. Nonn 1982 datiert entsprechend den älteren Ausgaben auf „um 700“ und dürfte damit richtig liegen. Weidemann 1986, 7: si quos autem liberos esse iussero, liberae liberive sint toti. Nicht wörtlich aber inhaltlich entsprechend die Bestätigung von Freilassungen im Testament des Adalgisel/ Grimo, Levison 1948, 128: Omnimodis volo, quantumque per tabulas vel per epistolas seu quolibet titulo ingenuos dimisi vel quicquid per epistolas meas ad loca sancta seu merentibus personis contuli aut donavi, firma stabilitate permaneat.
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des Marculfschen Testamentformulars Marculf II 17, aber auch der Formulierung des in Anm. 8 zitierten Testaments des Adalgisel/Grimo. Explizit wird im Testament des Idda-Sohnes die Verpflichtung der Freigelassenen zur Fürsorge für das Seelenheil des ehemaligen Herrn und für die Kerzenlieferung an die Kirche von Saint-Martin in Chaussy an der Oise erwähnt, in der die Brüder des Ausstellers bereits begraben waren und in der er selbst hoffte, seine letzte Ruhestätte zu finden.9 Erminetrud setzte außer Besitz- und Sachlegaten an mehrere Kirchen und Verwandte in ihrem Testament für 52 Personen die Freilassung ohne Auflagen fest. Daneben nahm sie auch bedingte Freilassungen vor; für den Aspekt des Totengedächtnisses sind besonders diejenigen interessant, die die so Freigelassenen zu Leistungen gegenüber der basilica sancti Sinforiani (Saint-Symphorien des Vignes) verpflichten, in der Erminetruds Sohn Deorovaldus begraben war. Pro requiem Deorovaldi verfügte sie außer Sachlegaten (Zaumzeug, Pferd und Wagen, Rinder und lectaria), außer der Schenkung der villa Latiniaco in territurio Meldinse, außer der Vergabe von Viehherden mit ihren Hirten auch, dass der von ihr freigelassene Gundofredus mit der Arbeit seines Ochsengespanns dafür sorge, für die Grabkirche ihres Sohnes Wachs zu kaufen.10 An diese Bestimmung schließen weitere 25 Freilassungen ohne Auflagen an, die sie im Namen ihres Sohnes vornahm, vielleicht im Sinn eines Auftrags, den Deorovaldus seiner Mutter noch vor seinem Tod gegeben hatte. Dass das Testament nicht nach sorgfältigen Vorüberlegungen aufgezeichnet wurde, sondern eher spontan von Erminetrud diktiert wurde, wird an der zweifachen Nennung der beiden Personen Baudulfus und Swintharius deutlich. Zunächst werden die beiden ohne Bezug auf eine Freilassung zur Fürsorge für das Seelenheil des Deorovaldus verpflichtet; am Schluss der ganzen Freilassungsbestimmungen wird dann den beiden, die man von der Anordnung im Testament her als Freigelassene verstehen muss, aufgetragen, mit der Arbeit ihrer Ochsen dafür zu sorgen, dass die Begräbniskirche Saint-Symphorien die oblata erhalte.11 Die Parallele des Marculfschen Testamentsformulars oblata vel luminaria ad sepulchra nostra legt 9
10 11
CLA 13, Nr. 569, 84, Z. 43–51: Illud huic testamenti mihi inserendi conplacuit, ut, quos de servientibus meis per aepistolam ingenuitatis laxavi, in integra ingenuitate resedeant, tamen secundum quod eorum aepistolas loquetur et pro animae meae remedium et lumen praeferendum ad basilicae vestrae sancti Martini que vestro opere et labore in villa Chrausobaci, qui nuncopatur Calciacus construxistis, vel locum saepulturae meae, si fuerit an non fuerit, in qua germani meae requiescunt, hoc quod a saepe dictas basilecas dilegavi per hunc testamentum meum et ubi et ubi perpetualiter possedendum in dei nomine, prumpta et integra voluntate precipio et habendum possedendum relinquo. Zu den Bestattungen der fränkischen Herrenschicht und des Adels im 6. Jahrhundert vgl. auch Weidemann 1982, 18f. CLA 14, Nr. 592, 78 Z. 74f.: Cera ad baselica domni Sinfuriani conparetur. Ebd. Erstnennung 76 Z. 53–55, Zweitnennung 78 Z. 82f.: Boves quos baiolant, laborare praecipio unde oblata ad baselica domni Sinfuriani iugiter ministretur.
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das Verständnis „Wachs und Opfergaben“ nahe und macht zugleich deutlich, dass es sich für den Zeitraum Ende 7./Anfang 8. Jahrhundert um eine sehr verbreitete Praxis gehandelt haben muss. Wie oft Baudulfus und Swintharius die oblata zu entrichten hatten, sagt das Erminetrud-Testament nicht. Aus einer früheren Passage des Testaments noch vor den Freilassungsbestimmungen geht hervor, dass zwei andere Männer, Goderico und Gunderico, für die weder Freilassung noch Ochsengespann genannt werden, mit ihrer Arbeit täglich oblata für Saint-Symphorien, die Grabeskirche des Deorovaldus, zu erwirtschaften hatten, wie dieser Kirche im übrigen eine ganze Reihe von Unfreien geschenkt wurden, deren Arbeitsleistungen nicht spezifiziert werden.12 Dass im Gegensatz dazu für Baudulfus und Swintharius nicht ausdrücklich die tägliche Lieferung von oblata festgesetzt wurde, legt es nahe, in den Formularen nach einer Antwort auf die Frage nach der Terminierung der oblata zu suchen. Dies soll weiter unten geschehen. Zunächst zum Begriff oblata. Aus einer Stelle des ersten Bischofkapitulars des Erzbischofs Hinkmar von Reims (Mitte des 9. Jahrhunderts) geht hervor, dass die oblata Opfergaben des Kirchenvolkes, wohl meist Brot, waren, deren consecratio im Zentrum der Messfeier stand.13 Die Praxis solcher oblationes, und zwar im Zusammenhang mit Messen zum Seelenheil eines Toten, ist aber schon lange vor Hinkmars Zeit bezeugt, so für das Ende des 6. Jahrhunderts im Liber in gloria confessorum des Gregor von Tours. Gregor berichtet hier,14 dass eine Witwe der Grabkirche ihres verstorbenen Mannes für die täglichen Messfeiern Wein gestiftet habe celebrans cotidie missarum solemnia et offerens pro memoria viri. Brot und Wein für die Messfeiern (zum Totengedächtnis) sind also unter den oblata des Erminetrud-Testaments zu verstehen. Es erstaunt, dass, von Goderico und Gunderico abgesehen, nicht servi, die doch auch testamentarisch vermacht wurden, sondern liberti mit luminaria/cera und oblata beauftragt wurden. Die Bestimmungen des ErminetrudTestaments bieten eine Antwort an: Alle drei Freigelassenen, denen diese Leistungen oblagen, verfügten über boves, Ochsengespanne, die ihnen bei der Freilassung als Eigentum überlassen wurden und die sie als Pflugge12
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Die Schenkung der Unfreien ebd., 76 Z. 48–55, 59. Darunter Z. 50f.: Goderico et Gunderico in suprascribtam villam quem basilecae domni Sinfuriani deligavi, ita iubeo ut laborent, unde ad ipsa baselica oblata cotidiae ministretur. MGH Capitula episcoporum II, Hinkmar I c. 7 S. 37: ut de oblatis que offeruntur a populo et consecrationi supersunt, vel de panibus, quod deferent fideles ad ecclesiam … Zu der Darbringung von Oblationen durch die Gläubigen und zum Zusammenhang von Oblationen und Memoria vgl. auch Oexle 1976, 73 und 87. MGH SS rer. Merov. 1, 785 f. (c. 64).
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spanne (laborare) zum Eigenbedarf einsetzen, aber auch anderweitig (baiolare) etwa als (bezahlte) Pflugleistung für weniger Wohlhabende verwenden konnten. Das Ochsengespann setzte Gundofredus in die Lage, Geld zu erwerben und damit das Wachs zu kaufen, das er der Kirche liefern sollte. Gundofredus, Baudulfus und Swintaharius hatten mit ihren Ochsengespannen eine spezialisierte Erwerbsmöglichkeit, die offenbar den Wert des peculiare „normaler“ Freigelassener, die nur über Kleinbesitz (areolas, hospitiola, hortellos, vineolas) verfügen konnten, deutlich übertraf. Sie müssen also schon vor der Freilassung unter den servi eine Sonderstellung eingenommen haben. Dieser bessere Status ließ sie für die Leistungen zum Totengedächtnis als geeignet und vertrauenswürdig erscheinen. Bisher wurden, um die Ergebnisse abzusichern, die beiden im Original überlieferten merowingerzeitlichen Testamente in Bezug auf unsere Fragestellung analysiert. Die abschriftlich überlieferten Testamente der Zeit sind, wie Ulrich Nonn gezeigt hat, zu einem erheblichen Teil interpolations- oder fälschungsverdächtig und bringen übrigens für unser Thema keine zusätzlichen Gesichtspunkte. Eine wichtige Ausnahme ist jedoch zu machen: das eingangs schon erwähnte, in einer Abschrift des 12. Jahrhunderts erhaltene Testament des Bischofs Bertram von Le Mans aus dem Jahr 616. Es ist nicht nur über jeden Fälschungsverdacht erhaben, sondern bietet auch so viele zeitgenössische Einzelheiten, eine solche Ausführlichkeit und so zahlreiche zusätzliche Details zur Praxis von Freilassung und Totengedächtnis, dass es eine umfängliche Analyse verdient. Nachdem im Eingangsprotokoll des Bertram-Testaments, wie erwähnt (Anm. 8), alle früheren Freilassungen bestätigt werden, enthält die Urkunde gegen Schluss die Freilassung von 23 namentlich genannten Personen mit Frauen und Kindern,15 so dass man sicher auf eine ähnlich umfassende Zahl von freigelassenen Einzelpersonen käme wie im Testament der Ermintrud, zumal Bertram alle von ihm in Zukunft Freigelassenen in die Verfügung mit einbezieht. Sie alle werden dem Schutz der Kirche St. Peter und St. Paul unterstellt, die Bertram als seinen Begräbnisort wünscht. An ihre Freilassung wird die Verpflichtung geknüpft, dass sie an seinem Begräbnistag die oblata dorthin entrichten, und zwar, wie sich aus dem folgenden Text ergibt, jährlich.16 Am folgenden Tag soll der Abt von St. Peter und Paul
15 16
Weidemann 1986, 44 (Verfügung Nr. 67). Ebd.: ita ut unusquisque tempore depositionis suae (andere Hss. korrigieren: meae) conveniant, et oblata tantum nominis mei ante sanctum altarium offerant vel recenseant, et ministerium qualem egisse visi sunt unusquisque in Dei nomen in praedicta die observent. Dass depositio nicht nur auf den Begräbnistag zu beziehen ist, sondern das jährliche Gedenken des Begräbnistages meint, geht aus der folgenden Passage hervor (44 f.): Et abbas ille, cui basilica sancta ad regendum et gubernandum
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ein „würdiges Mahl“ (dignam refectionem) für sie geben. Das heißt also: die Freigelassenen sollen selber kommen, aktiv am Totengedenken ihres früheren Herrn teilnehmen; ihre oblata sind nicht als Abgaben gemeint, sondern binden sie in die Liturgie ein. Für ihren Aufwand werden sie durch das Mahl entschädigt, das zugleich das Gedenken an den verstorbenen Wohltäter festigt.17 Mit einer weiteren Verfügung sichert Bertram sein Totengedächtnis: Er kündigt an, in einer gesonderten Urkunde die Namen derjenigen besser gestellten und angeseheneren (nitidiores) Freigelassenen festzuhalten, die, so lange sie leben, für seine Grabstätte und deren Beleuchtung Sorge tragen sollen, und er dehnt diese Verpflichtung auf ihre Nachkommen aus,18 ebenso wie auch im Testamentsformular Marculfs (Anm. 4) die Nachkommen auf die Gewährleistung des Totengedächtnisses des Freilassers verpflichtet wurden. Hier haben wir also eine Parallele zu dem, was wir aus dem Erminetrud-Testament erschließen konnten: Es sind die besser gestellten Freigelassenen, denen die Fürsorge für das Totengedenken ihres vormaligen Herrn aufgetragen wird. Darüber hinaus ist dies, soweit ich sehe und abgesehen von dem im folgenden noch zu erörternden St. Galler Formular Nr. 16, der einzige Beleg für die Verpflichtung der Nachkommenschaft von Freigelassenen zum Totengedächtnis des vormaligen Herrn. Darüber hinaus nimmt Bertram seine namentlich genannten (freien) Freunde und seinen Neffen Sigechelmus mit dessen Nachkommen noch besonders in die Pflicht. Seine von ihm im Testament bedachten Freunde sollen jährlich am Tag seines Totengedächtnisses bei dessen Feier anwesend sein.19 Seinen an mehreren Stellen des Testaments reich mit Erbe ausgestatteten Neffen Sigechelmus fordert er auf, mit seiner Familie und seinen
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commissa fuerit, omni tempore de eo quod inibo a me collatum est, depositionem meam et lumen sepulturolae meae annis singulis taliter studeat celebrare. Zum Totenmahl als eucharistisches Mahl vgl. Oexle 1976, 71f. und 81, und in Verbindung mit einer Armenspeisung Oexle 1984, 411. Zu Kultmahlen in Kirchen vgl. auch Weidemann 1982, 223–225. Weidemann 1986, 46 (Verfügung Nr. 69): Libet superius hoc intimare debueram, quid cineribus meis deservire deberent, sed quia non habui integre perscrutatum de familia mea, quorum hoc agendum committerem. Ideo michi convenit, ut de quantiscumque villis sanctae basilicae domni Petri et Pauli heredis meae delegavi possidendas, ut singulos condomas de unaquaque villa qui nitidores esse noscuntur et nos vel basilicae sanctae fideliter deserviunt, volumus nomina eorum in una epistola conscribere et manu nostra firmare, ut integro relaxentur a servitio. Et ipsis pariter cum abbate de sepulturola mea – tam de luminario quam de cineribus meis – integra eis sit cura usque die ultimo vitae eorum. Tam illi quam soboles qui ex ipsis fuerunt procreati in perpetuo debent cum diligentia deservire, et ingenuitatis status illorum sub defensione ipsius abbatis debeat perpetualiter perdurare. Weidemann 1986, 43 (Verfügung Nr. 65): Illud itaque rogo atque iubeo, ut quanticumque amici mei vel fideles servientes fuerint, semper eis memor sit nutritura mea vel benefactum meum, quod circa illos impendidi, ut et ipsis post obitum meum cura sit, cum dies commemorationis meae evenerit, semper inibi adesse debeant et abbate loci illius solacium praebeant.
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Nachkommen jährlich zwei- bis dreimal seine Grabstelle zu besuchen und dabei Armenspeisungen vorzunehmen.20 Auch seine von ihm reich ausgestattete Grabkirche St. Peter und Paul wird zur Sicherung seines Totengedächtnisses zu jährlichen Schenkungen an Arme angehalten, die ebenso wie die Beleuchtung der Kirche aus den Einkünften der geschenkten Güter finanziert werden sollen.21 Nach der Untersuchung der Testamente, kommen wir nun zu den Freilassungsurkunden. Obwohl es nach dem Zeugnis der Testamente viele Freilassungsurkunden gegeben haben muss, sind nur wenige überliefert. Dies ist verständlich, da wir meist auf Empfängerüberlieferung angewiesen sind und die Schriftstücke aus dem Besitz der Empfänger, also hier der Freigelassenen, nur dann erhalten sind, wenn sie für eine geistliche Institution ein Interesse hatten und die Überlieferungsumstände überdies günstig waren. Über frühmittelalterliche Freilassungen informieren uns daher weniger die Urkunden, sondern vielmehr die erhaltenen Freilassungsformulare. Sie stammen aus dem 6. bis 8. Jahrhundert und überwiegend aus den römischrechtlich geprägten Teilen des Frankenreiches, aus Angers, Clermont-Ferrand, Tours und Bourges,22 und lehnen sich an die römische Form der Freilassung zum civis Romanus an. Aber auch aus den fränkisch oder alamannisch orientierten Teilen des Frankenreichs haben wir aus dem 8. und 9. Jahrhundert Freilassungsformulare.23 Sie weisen gelegentlich auf die schon im römischen Recht vorgegebenen verschiedenen Formen der Freilassung hin,24 und einige Formelsammlungen enthalten sogar mehrere For20
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Weidemann 1986, 43 (Verfügung Nr. 66): praecipio tibi, dulcissime nepos meus Sigechelmi, et filiis tuis rogo et adiuro per Deum omnipotentem, ut quamdiu vos Deus in saeculo superstitisse voluerit, una cum coniuges vestras vel sobolis vestris – si sanitas permiserit – semper annis singulis bis aut ter sepulturola mea visitis et pauperes, in quo potueritis, reficiatis. Zu Armenspeisungen in Verbindung mit dem Totengedächtnis vgl. auch Oexle 1984, 411, und Wollasch 1975. Weidemann 1986, 11 (Verfügung Nr. 4): Illud vero rogo atque iubeo abbatibus, qui per singula tempora sicut divina potentia aut gratia domnorum apostolorum eos inibi iusserat perdurare, ut omni tempore vitae eorum hoc sit eis potissimum observandum, ut de villis superius nominatas, quicquid exinde aut in tributum aut in suffragium annis singulis poterit obvenire, medietas ex hoc, quando fuerit mea commemoratio, pauperibus aut in vestimentum aut in aurum erogetur; alia medietas luminis exinde in sancta basilica omni tempore sufficienter accendatur … Zum aureus als Währung des frühen Frankenreiches vgl. auch Weidemann 1982, 344f. MGH Formulae, S. 11 f. Formulae Andecavences 23 (ingenuitas); S. 30 Formulae Avernenses 3 und 4 (libertatem, obsolutionem!); S. 141 f. Formulae Turonenses 12 (ingenuitas); S. 172 Formulae Bituricenses 9 (ingenuitas). Aus dem stärker fränkisch geprägten Teil des Frankenreichs: MGH Formulae, S. 95 f. Marculf II 32–34; S. 185 Cartae Senonicae 1 (in derselben Sammlung 12, S. 190 die Freilassung durch Schatzwurf); S. 228 Formulae Bignonianae 1 (Schatzwurf) und 2; S. 246 Formulae Salicae Merkelianae 14. Aus dem Teil alamannischen Rechts: S. 356 und 360 Formulae Augienses coll. B Nr. 21und 34; S. 382 und 406 Formulae Sangallenses Nr. 6, 16, 17. MGH Formulae, S. 172 Bituricenses 9.
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mulare für die im Frankenreich gebräuchlichen, unterschiedlichen Formen und Bedingungen der Freilassung.25 Viele erwähnen das Recht der soeben Freigelassenen, sich kirchlichem Schutz zu unterstellen.26 Dies liegt sicher auf einer anderen Ebene als die eben beschriebenen Leistungen der Freigelassenen an Kirchen zur Sicherung des Totengedächtnisses; denn bei allen Vorteilen des Status der Freigelassenen gegenüber dem Unfreienstatus ist nicht zu verkennen, dass für den Freigelassenen auch der Schutz des bisherigen Herrn entfiel. Dieser Schutzlosigkeit wirkte die Unterstellung unter Kirchenschutz entgegen. Aus alamannischem Rechtsgebiet ist die St. Galler Freilassungsformel (Carta libertatis) Nr. 16 überliefert, in der der Herr die Freilassung für 50 Personen mit der Auflage ausspricht, dass diese und ihre Nachkommen dem Kloster, dessen Schutz sie sich unterstellen (St. Gallen?), jährlich zu Pfingsten einen persönlichen Zins von zwei Denaren zahlen.27 Dies ist keine an das Totengedächtnis des Herrn gebundene Verpflichtung wie in den beiden Marculfschen Formularen und in den Testamenten Erminetruds und Bertrams, sondern wohl eine Gegenleistung für den vom Kloster gewährten Schutz und damit eine klare Vorstufe der aus dem Hochmittelalter wohl bekannten Zensualität.28 Es ist auch der einzige Beleg einer Freilassungsformel aus den Formelbüchern dafür, dass die Nachkommen in die Verpflichtung mit eingebunden werden. Wir haben Parallelen zu dieser Wachszins- oder Geldzinsleistung aus den stärker fränkisch geprägten Teilen des Frankenreiches.29 Einmal wird der Wachszins explizit als Gegenleis25
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Deutlichstes Beispiel: die drei bei Marculf (siehe Anm. 23) aufgeführten Freilassungsformulare 32 (sofortige Freilassung mit freier Wahl der defensio), 33 (Freilassung erst nach dem Tod des Herrn), 34 (Freilassung mit Verpflichtung zur Pflege des Totengedächtnisses des Herrn). Die Freilassung durch Schatzwurf, die alleinige in Königsurkunden bezeugte Form (vgl. unten Anm. 32 und D Lothar I.), fand nach Aussage der Rechtsquellen üblicherweise in Anwesenheit des Königs statt: Lex Salica c. 37 S. 150, Lex Ribuaria c. 57. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: MGH Formulae, S. 11 f. Formulae Andecavenses 23; S. 95 Marculf II 32; S. 273 Formulae Salicae Lindenbrogianae 9: mundeburde vel defensionem, ubicumque infra potestatem sancti illius sibi elegere voluerit, licentiam habeat eligendi. Ebenso dort S. 273 Nr. 10. S. 476 Coll. Flaviniacensis 8: der den Freigelassenen überlassene Besitz soll nach dessen Tod an die Kirche fallen, ubi eis patrocinio et deffensione constituimus; S. 246 Formulae Salicae Merkelianae 14. Vgl. auch die Beispiele im Text. MGH Formulae, S. 406. Schulz 1976; ders. 1982 (der zweite Beitrag ist eine Überarbeitung des ersten). Einen besonderen Fall schildert die Formel der Formulae Salicae Merkelianae 43 (MGH Formulae, S. 257), die die Freilassung eines Kindes (infantulum) bei der Taufe (in albis) durch einen magnificus zur Wachszinsigkeit (in luminibus) vorsieht. Die Freilassung von frisch Getauften (ohne Wachszinsigkeit) an kirchlichen Festtagen bezeugt auch das Testament des Bertram von Le Mans, Weidemann 1986, 45 (Verfügung 67): Illos vero quos de ratione aecclesiae per singulis festivitatibus in albis per epistolas relaxavi aut relaxavero, sicut epistolae eorum edocent, sub tuitione et defensione sanctae aecclesiae repedeant.
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tung für die kirchliche defensio definiert: sed pro infestatione malorum hominum basilica sancti illius habeat defensatricem et pro ipsa defensione ad festivitatem illius candelam unam de cera ad ipsa basilicae transsolvat, non pro ullo servicio requirendo, sed pro sua ingenuitate defensanda atque firmanda.30 Dass die Wachszinsigkeit als Gegenleistung für die kirchliche defensio mit der Leistung für das Totengedächtnis des freilassenden Herrn kombinierbar war, zeigt eine andere fränkische Formel.31 Der Herr und seine Ehefrau lassen den Unfreien mit sofortiger Wirkung frei; bis zu ihrem Tod verbleibt er unter ihrem Schutz. Für die Zeit nach dem Tod der Freilasser soll er aber die schützende Instanz nicht frei wählen können, sondern wird einer bestimmten Kirche zugeordnet, der er dann jährlich am Patronatsfest zum Seelenheil der Herren (in mercede nostra) eine bestimmte Summe zu entrichten hat. Schließt man von den Formularen auf die für die Freigelassenen Baudulfus und Swintharius im Erminetrud-Testament festgelegte Verpflichtung zur Gestellung der oblata – damit kommen wir auf eine bisher offen gelassene Frage zurück –, so ist wohl am ehesten von einer jährlich zu erbringenden Leistung auszugehen. Diese Verfahrensweise belegt auch das Bertram-Testament. Aus dem Kontext einer weiteren St. Galler Freilassungsformel (Carta libertatis) Nr. 17 wird deutlich, dass der Freigelassene eine geistliche Laufbahn anstrebt. Dieser Freilassungsgrund ist uns sowohl durch eine bischöfliche, in den Formulae imperiales Ludwigs des Frommen überlieferte Formel als auch durch konkrete, von Königen verfügte Freilassungen gut bekannt.32 Die erwähnte St. Galler Formel aber verbindet mit dem Ziel der geistlichen Laufbahn des Freigelassenen die Erwartung eines von diesem zu leistenden ständigen Gebets zugunsten des freilassenden Herrn und seiner Angehörigen, das wegen der größeren Nähe des zukünftigen Geistlichen zu Gott als umso wirksamer angesehen wird: unum de famulis meis … liberare disposui; ita ut divinis ipse mancipatus servitiis omni vitae suae tempore pro me atque meis secura ac libera mente orare non cesset, et per singulos sacrae promotionis gradus ascendens, vicinius et familiarius pro nobis misericordi Domino supplicare prevaleat. In vielfältiger Weise konnte also der Herr durch Freilassungen das Totengedächtnis für sich selbst oder Angehörige sichern: indem der für die geistliche Laufbahn bestimmte Freigelassene zu wirkungsvollem Gebet für 30 31
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MGH Formulae, S. 246 Formulae Salicae Merkelianae 14. MGH Formulae, S. 274 Formulae Salicae Lindenbrogianae 11. Der oben referierte Text: mundeburde vero vel defensionem post obitum nostrum aliubi penitus non requiratur nisi ad sancti illius ad defendendum, non ad inclinandum, et annis singulis ad solemnitatem sancti illius in mercede nostra dinarios tantos exsolvere faciat et, sicut diximus, semper valeat permanere bene ingenuus atque securus. MGH Formulae, S. 406 Coll. Sangall. 17; S. 328 Form. Imp. 2; MGH D Heinrich I. Nr. 10 von 926 zugunsten des Priesters Baldmunt. Anders liegt der Fall der Freilassung Dodas durch Lothar I. 851: MGH D Lothar I. Nr. 113. Sie war die Mutter eines Sohnes Lothars.
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seinen Wohltäter angehalten wurde oder indem die im Laienstatus verbleibenden Freigelassenen zu oblata, Kerzengestellung bzw. zu Zinszahlungen, die an einem bestimmten Tag einmal jährlich zu leisten waren, an eine bestimmte Kirche verpflichtet wurden, welche zumindest in zwei Fällen als Begräbnisort des Herrn bezeugt ist. Nur Bertram von Le Mans legte besonderen Wert darauf, dass die von ihm benannten Freigelassenen zur Feier seines Begräbnistages (depositio) mit den Gaben erscheinen sollten. Die anderen Quellen bieten keine Belege dafür, dass die dem Totengedächtnis dienenden Gebete oder Leistungen zur Feier des wiederkehrenden Sterbeoder Beisetzungstages zu erfolgen hatten. Wichtig war nur, dass sie regelmäßig, etwa jährlich, erbracht wurden. Abschließend sei noch auf eine interessante Parallele aus späterer Zeit hingewiesen. Als Heinrich V. im Jahr 1111 auf seinem Romzug dem Papst Paschalis II. die Lösung seines Vaters von der Exkommunikation abgenötigt hatte und dessen Beisetzung im August dieses Jahres im Speyerer Dom anordnen konnte, verband er den feierlichen Akt mit einer von ihm und dem Speyerer Bischof Bruno öffentlich bekundeten und dann schriftlich fixierten Gewährung von Freiheitsrechten für die Einwohner von Speyer, die jedoch an die Verpflichtung der Einwohner zur Armenspeisung am jährlichen Todestag des nunmehr beigesetzten Kaisers gebunden war und an die Teilnahmeverpflichtung der Einwohner bei Vigil und Totengedächtnismesse zu Ehren Heinrichs IV. mit Kerzen in den Händen (candelas in manibus teneant ).33 Der Status der Stadtbewohner wurde als ursprünglich unfrei verstanden. Erst in der Kaiserurkunde wurden ihnen mit Zustimmung des Stadtbischofs Freiheitsrechte verliehen; die Kerzengestellung der Speyerer von 1111 gemahnt an die uns aus den erörterten frühmittelalterlichen Formularen und Testamenten bekannten Verpflichtungen Freigelassener für die Gestellung von luminaria und candelae in den Begräbniskirchen ihrer ehemaligen Herren und zu deren Totengedächtnis, nur dass hier Anfang des 12. Jahrhunderts der Sterbetag des zu ehrenden Toten als Termin für die auferlegte Leistung bezeichnet wird und diese in ein feierliches liturgisches Geschehen eingebunden wird. Die Verpflichtung zur Armenspeisung im Zusammenhang des Totengedächtnisses, die wir bereits im Testament des Bertram von Le Mans kennen gelernt haben, wird in der Kaiserurkunde den Speyerern ebenfalls auferlegt.34 Dass die Verpflichtung nicht für Einzelpersonen fixiert, sondern den Speyerern generell (und also auch ihren 33 34
Remling Nr. 80, S. 88 f. Ebd.: ut in anniversario patris nostri sollempniter ad vigilias et missam animarum omnes conveniant, candelas in manibus teneant, et de singulis domibus panem unum pro elemosina dare et pauperibus erogare studeant.
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Nachkommen) auferlegt wird, hat eine Vorstufe in einigen Bestimmungen des Bertram-Testaments und in dem oben erörterten karolingerzeitlichen Sankt Galler Formular Nr. 16, das wir eher der Wachszinsigkeit als dem Totengedächtnis zugeordnet haben.
Quellen- und Literaturverzeichnis a) Quellen Chartae Latinae Antiquiores (CLA) Part 13 und 14, hg. von Hartmut Atsma und Jean Vezin (Zürich 1981 und 1982) Lex Ribuaria, 2. Bearbeitung, hg. von Karl August Eckhardt (Hannover 1966) Lex Salica, 100-Titel-Text, hg. von Karl August Eckhardt (Weimar 1953) MGH Capitula episcoporum II, hg. von Rudolf Pokorny und Martina Stratmann (Hannover 1995) MGH Diplomata Karolinorum. Die Urkunden Lothars I. und Lothars II., hg. von Theodor Schieffer (Berlin/Zürich 1966) MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae. Die Urkunden Konrads I., Heinrichs I. und Ottos I., hg. von Theodor Sickel (Hannover 1879/1884) MGH Legum sectio V, Formulae Merovingici et Karolini aevi, hg. von Karl Zeumer (Hannover 1882/1886) MGH SS rer. Merov. 1, hg. von Wilhelm Arndt und Bruno Krusch (Hannover 1884) Franz Xaver Remling, Urkundenbuch zur Geschichte der Bischöfe von Speyer Bd 1 (Mainz 1852)
b) Literatur Levison 1948: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze (Düsseldorf 1948) Nonn 1972: Ulrich Nonn, Merowingische Testamente. Studien zum Fortleben einer römischen Urkundenform im Frankenreich. In: Archiv für Diplomatik 18 (1972) 1–129 Nonn 1982: Ulrich Nonn, Erminetrud – eine vornehme neustrische Dame um 700. In: Historisches Jahrbuch 102 (1982) 135–143 Oexle 1976: Otto Gerhard Oexle, Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976) 70–95 Oexle 1984: Otto Gerhard Oexle, Mahl und Spende im mittelalterlichen Totenkult. In: Frühmittelalterliche Studien 18 (1984) 401–420 Schulz 1976: Knut Schulz, Zum Problem der Zensualität im Hochmittelalter. In: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters, Festschrift für Herbert Helbig (Köln/Wien 1976) 86–127 Schulz 1982: Knut Schulz, Zensualität und Stadtentwicklung im 11./12. Jahrhundert. In: Beiträge zum hochmittelalterlichen Städtewesen, hg. von Bernhard Diestelkamp (Köln/Wien 1982) 73–93
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Weidemann 1982: Margarete Weidemann, Kulturgeschichte der Merowingerzeit nach den Werken Gregors von Tours, Teil 2 (Römisch-Germanisches Zentralmuseum Monographien 3,2) (Mainz 1982) Weidemann 1986: Margarete Weidemann, Das Testament des Bischofs Berthramn von Le Mans vom 27. März 616 (Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Monographien 9) (Mainz 1986) Wollasch 1975: Joachim Wollasch, Gemeinschaftsbewußtsein und soziale Leistung im Mittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien 9 (1975) 268–286
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Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 235–248 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Exemplarisches Sterben.
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Exemplarisches Sterben. Der ‚Obitus beatissimi Isidori Hispalensis episcopi‘ des Klerikers Redemptus GERD KAMPERS
Wer Freunde hat, ist sie zu finden wert. (Gotthold Ephraim Lessing)
Trotz des auf uns gekommenen umfangreichen und eindrucksvollen Œuvres Isidors von Sevilla1 liegen die äußeren Lebensumstände des bedeutendsten Gelehrten des spanischen Wisigotenreiches wie bei den meisten seiner Zeitgenossen weitgehend im Dunkeln. Zwar kennen wir seinen Vater und seine Geschwister, aber weder seinen Geburtsort noch seinen Geburtstag. Die nach heutigen Vorstellungen insgesamt recht wenigen Nachrichten über ihn setzen eigentlich erst nach seiner Weihe zum Metropoliten der Kirchenprovinz Baetica ein und sie beschränken sich weitgehend auf seine Rolle als Wissenschaftler und als Person des kirchlichen und politischen Lebens. Einen ungewöhnlichen und – so die communis opinio2 – authentischen Bericht besitzen wir dagegen über die letzten Tage seines Lebens, das am 4. April 636 endete. Er stammt aus der Feder eines hispalenser Klerikers namens Redemptus. Das verlorene Original hatte die Form eines Briefes, dessen unbekannter Empfänger den Absender um eine genaue Schilderung der letzten Lebensphase Isidors gebeten hatte, deren Augenzeuge Redemptus offenbar gewesen war. Erst im Verlauf der Überlieferung wurde der Beginn des Schreibens, in dem Adressat und Absender genannt waren, durch
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Die Quellen zu seinem Leben bei García Moreno 1974, Nr. 179. Vgl. Fontaine 1991, Sp. 677–680; Ramos-Lissón 1996, Sp. 618–620; Díaz y Díaz 2002, S. 69–79. Siehe ferner die reichen Literaturangaben in der Ausgabe der Werke Isidors im Corpus Christianorum, Series Latina [= CCSL] CXI (Turnhout 1998); CXI A (Turnhout 2006); CXII (Turnhout 2003); CXIII (Turnhout 1998); CXIII A (Turnhout 2000); CXIII B (Turnhout 2006). Vgl. Martin 2006, 284–302.
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die Überschrift Obitus beatissimi Isidori Hispalensis episcopi ersetzt.3 Der Bericht des Redemptus4 lautet wie folgt: 1. Visum est mihi ut tuae sanctitati breuiter exponerem qualiter bonae recordationis dominus meus Isidorus, Hispalensis ecclesiae metropolitanus episcopus, poenitentiam acceperit, suamque confessionem erga Deum uel hominibus [sic] habuit, uel quomodo de hoc saeculo ad caelum migrasset, fideli praenotationis meae stilo tuae dilectioni notescerem. Quae res me primum conpulit pro hac sollicitudine, qua ex amore in eum offertis, uestrae caritatis agere; deinde, quia uera supprimere nequeo, et quod de eo (parua de multis) colligere potui, te orante, dicere cogor.
2. Dum finem suum, nescio qua sorte, iam prospiceret et fatigatum corpus aegritudine assidua subtiliter animae natura peruideret, tanta elemosina quotidianis diebus per sex pene menses seu amplius, plus erat solitus pauperibus ab eo est erogata, ut oriente sole usque in uesperum multis illis in accipiendam maneret substantiam.5 Post haec uulnere percussus est ita ut, dum febris in corpore conualesceret et cibum reiceret debilitatus stomacus, ad poenitentiam conualuit atque suos coepiscopos Iohannem6 scilicet et Eparcium7 beatissimos mox adesse fecit
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1. Es schien mir richtig, Eurer Heiligkeit in kurzer Form darzulegen, wie mein Herr Isidor guten Angedenkens, Metropolitanbischof der hispalenser Kirche, die Pönitenz empfing, und gegenüber Gott und den Menschen sein Schuldbekenntnis ablegte. Und ich möchte Eure Liebenswürdigkeit durch eine getreue Aufzeichnung des von mir vorher Erwähnten darüber informieren, wie er aus dieser Welt in den Himmel gelangt ist. In der Angelegenheit Eurer Zuneigung tätig zu werden, bewog mich in erster Linie der gegenwärtige Kummer, den Ihr aus Liebe zu ihm an den Tag legt; ferner weil ich nichts Wahres unterdrücken will und mich auf Deine Bitte hin verpflichtet sehe, zum Ausdruck zu bringen, was ich über ihn (und das ist wenig genug) zusammentragen konnte. 2. Als er, ich weiß nicht durch welche Schicksalsverkündung, sein Ende schon vorhersah und durch seinen von anhaltender Krankheit geschwächten Körper aufgrund der Natur seiner Seele gründlich hindurchsah, wurden von ihm täglich sechs Monate lang oder auch länger – und zwar mehr als gewöhnlich – so viele Almosen an die Armen ausgeteilt, dass er vom Sonnenaufgang bis zum Abend bei jenen vielen verweilen musste, während sie die Verpflegung
Vgl. ebenda, 279–283. Dort ebenfalls eine Auseinandersetzung mit den Versuchen, den Adressaten entweder als Braulio von Zaragoza oder als Honoratus, den Nachfolger Isidors auf dem Bischofsstuhl von Sevilla, zu identifizieren. Redempti clerici Hispalensis Obitus beatissimi Isidori Hispalensis episcopi, ed. Martin 2006, 379–388. Für eine Überprüfung meiner Übersetzung danke ich Helmut Castritius. Über die Bedeutung des Almosengebens vgl. Isidorus Hispalensis, Sententiae 3,60,6–10, ed. Cazier 1998, 322f. Vgl. García Moreno 1974, Nr. 213. Vgl. García Moreno 1974, Nr. 229.
Exemplarisches Sterben.
praesentes.8 Et dum a cellula sua ad basilicam sancti Vincentii martiris adduceretur, tanta agmina pauperum, clericorum, religiosorum 9 omnium cunctarumque huius ciuitatis plebium cum uocibus et magno ululatu eum susceperunt, ut, si ferreum possideret quispiam pectus, solueretur mox in lacrimis et lamentum totus. Et cum in praedicti martiris basilicam iuxta altaris cancellum in medio poneretur choro,10 mulierum turbas longius stare praecepit, ut in accipiendo ipse poenitentiam uirorum tantum, non illarum, circa eum cerneretur praesentiam.
3. Et dum a praedictis sacerdotibus ab uno cilicium, ab altero super se mitti exposceret cinerem,11 expandens manus ad caelum, ita exorsus est dicens: ‚Tu Deus, qui nosti corda hominum et publicano longe posito, dum pectus percuteret suum, dimittere peccata dignatus es, qui Lazarum dormientem de monumento post resulutionem carnis die quarta dignatus es resuscitare, et Abrahae patriarchae sinus eum reciperet uo-
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empfingen. Danach wurde er durch eine Wunde so sehr verletzt, dass er, während das Fieber in seinem Körper anstieg und der geschädigte Magen die Speisen zurückwies, erstarkte für die Pönitenz und die baldige Anwesenheit seiner seligsten Bischöfe, nämlich des Johannes [von Elepla] und Eparcius [von Italica], veranlasste. Und als er aus seiner kleinen Kammer zur Basilika des heiligen Märtyrers Vincentius hingeführt wurde, empfingen ihn so große Scharen der Armen, der Kleriker, aller Religiosen und der gesamten Bevölkerung dieser Stadt mit Geschrei und Wehklagen, dass, wenn jemand eine Brust aus Eisen besäße, er bald völlig in Tränen und Jammern aufgelöst würde. Und nachdem man ihn in die Kirche des besagten Märtyrers bei den Altarschranken mitten in den Chor gestellt hatte, ordnete er an, dass die Menge der Frauen weiter entfernt stehen sollte, damit er selbst beim Empfang der Pönitenz nur die Gegenwart von Männern und nicht von jenen um sich herum wahrnähme. 3. Und als er verlangte, dass einer der vorher genannten Bischöfe ihm das Büßergewand anlege und der andere ihn mit Asche bestreue, begann er mit zum Himmel erhobenen Händen folgendermaßen zu sprechen: ‚Du Gott, der Du die Herzen der Menschen kennst und der Du Dich herabgelassen hast, dem vor langer Zeit eingesetzten Steuerein-
Dass die Spendung der Pönitenz dem Bischof vorbehalten war, folgt aus c. 7 des 2. Konzils von Sevilla (619), ed. Vives 1963, 167f. Bei den religiosi handelte es sich um Personen, die sich zu einem asketischen Lebenswandel verpflichtet hatten. Vgl. Schmitz 1999, Sp. 1086. Den Altar als Ort für den Vollzug der poenitentia ordinaria wie der poenitentia in extremis nennen Liber Ordinum, ed. Ferotin 1904, Sp. 97, Z. 3–5; Caput de poenitentiae agendae ratione ex codice legum Patrum 2, ed. Lozano Sebastián 1979, 221; Vita Fructuosi 20, ed. Nock 1946, S. 127, Z. 14–16. Vgl. dazu unten, S. 244.
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luisti12 suscipe in hac hora confessionem meam, et peccata quae innumerabiliter contraxi, ab oculis differ tuis,13 non reminiscaris mala mea et iuuentutis delicta ne memineris.14 Tu, Domine, non posuisti poenitentiam iustis qui non peccauerunt tibi, sed mihi peccatori, qui peccaui super numerum harenae maris. Non inueniat in me hostis antiquus, quod puniat. Tu scis quia, postquam infelix ad onus istud, potius quam ad honorem,15 in hanc sanctam ecclesiam indigne perueni, peccare numquam sinui, sed ut inique agerem laboraui.16 Et quia Tu dixisti in quacumque hora peccator se a uiis suis conuerterit, omnes iniquitates suas traderes obliuioni, huius praecepti memor sum tui. Clamo utique cum spe et fiducia ad Te, cuius caelos aspicere non sum dignus prae multidudine peccatorum qui conuersantur in me. Adesto et suscipe orationem meam, et mihi peccatori dona ueniam postulatam.17 Quod si caeli non sunt mundi in conspectu tuo, quanto magis ego homo, qui bibi,
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nehmer die Sünden zu vergeben, wenn er an seine Brust schlage, der Du Dich herabgelassen hast, den schlafenden Lazarus nach der Auflösung des Fleisches am vierten Tag wieder zum Leben zu erwecken, und der Du wolltest, dass ihn der Schoß Abrahams aufnehme, nimm in dieser Stunde mein Schuldbekenntnis an und verbanne die Sünden, die ich unzählbar begangen habe, aus Deinen Augen, gedenke nicht meiner Übeltaten und erinnere nicht an die Verfehlungen meiner Jugendzeit. Du, Herr, bestrafst nicht die Gerechten, die nicht gegen dich gesündigt haben, sondern mich Sünder, der ich mehr Sünden begangen habe als die Zahl der Sandkörner des Meeres. Möge der alte Feind [d.h. der Teufel] in mir nicht finden, was er bestraft. Du weißt, dass ich, nachdem ich Unglücklicher in dieser heiligen Kirche
Der Bezug auf Lukas 18, 10–13 (Steuereintreiber/Zöllner) und Lukas 16, 19–31 (Lazarus) war offenbar fester Bestandteil der bei Spendung der Pönitenz gesprochenen Gebete. Vgl. Ordo penitentie, in: Liber Ordinum, ed. Ferotin 1904, Sp. 91, Z. 1–12; Oratio super penitentes in diebus dominicis, in: ebenda, Sp. 94, Z. 9–22. Das Bild von Abrahams Schoß begegnet zudem in zahlreichen Gebeten der Totenliturgie der wisigotischen Kirche. Vgl. Ordo in finem hominis diei, in: ebenda, Sp. 111, Z. 9–13 u. 115, 29–32; Ordo ad consecrandum nouum sepulchrum, in: ebenda, Sp. 122, 16–21. Vgl. Psalm 50, 11. Der Bezug auf diese Psalmstelle findet sich auch in Ordo de missa unius penitentis, in: Liber Ordinum, ed. Ferotin 1904, Sp. 351, Z. 22f.; Ordo in finem hominis diei, in: ebenda, Sp. 108, Z. 13f. Vgl. Psalm 24, 7. Auch Ordo penitentie, in: Liber Ordinum, ed. Ferotin 1904, Sp. 90, Z. 19 u. 29f., und Item ordo unius defuncti, in: ebenda, Sp. 349, Z. 42–44, nehmen Bezug auf diese Psalmstelle. Vgl. Isidorus Hispalensis, De ecclesiasticis officiis 2,5, ed. Lawson 1989, S. 62, Z. 144–148: Quapropter, quia lex peccatores a sacerdotio remouet, consideret se unusquisque et, sciens quia potentes potenter tormenta patiuntur, retrabat se ab hoc non tam honore quam onere, et aliorum locum qui digni sunt non ambiat occupare. Vgl. Jeremias 9,5 und Isidorus Hispalensis, Synonyma 1,16,9, ed. Elfassi 2001: De quibus per prophetam congrue dicitur: Docuerunt linguam suam loqui mendacium, et ut inique agerent laborauerunt. (Die Zitate sind von Martin 2006 übernommen, da mir die Edition nicht zugänglich war.) Vgl. Isidorus Hispalensis, Synonyma 1,52,15f., ed. Elfassi 2001 (vgl. Anm 16): […] si est spes in confessione, si est fiducia […]. Ebenda, 1,53,8: […] confessio peccati ueniam donat […] und ebenda. 1,53,15f.: Habeto spem in confessione, habeto fiduciam. Ferner ebd. 1,51,8: […] dum tempus est, clama […]. 1,56,17–20: Erumpe in uocem, exclama fortiter, plange iniquitates tuas, mala scelerum tuorum deplora.
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quasi aquas, iniquitatem, et sumpsi, ut claustra, peccatum?‘18
4. His igitur consummatis, corpus et sanguinem Domini cum profundo gemitu cordis, indignum se iudicans, ab ipsis suscepit pontificibus.19 Deinde eorundem sacerdotum et quicumque de clero erant, ciuium cunctarumque plebium ueniam precabatur, dicens: 20 ‚Deprecor uos, sanctissimi domini mei sacerdotes, sanctamque congregationem clericorum et populi, ut pro me infelice et pleno omne sorde peccati ad Domi-
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unwürdig eher zu dieser Last als zu einer Ehrenstellung gelangt war, niemals aufgehört habe zu sündigen, zudem [immer wieder] in Gefahr war, ungerecht zu handeln. Und weil Du gesagt hast, alle seine Ungerechtigkeiten würdest Du dem Vergessen anheim fallen lassen, zu welcher Stunde auch immer der Sünder sich von seinen [eingeschlagenen] Wegen abwenden wird, erinnere ich mich dieser Deiner Weisung. Jedenfalls rufe ich mit Hoffnung und Zuversicht zu Dir, dessen Himmel anzuschauen ich nicht würdig bin wegen der Menge der Sünden, die sich in mir aufhalten. Steh mir bei und erhöre mein Gebet und schenke mir Sünder die erbetene Verzeihung. Wenn vor Deinem Angesicht schon die Himmel unrein sind, um wieviel mehr ich Mensch, der die Sünde gleichsam wie Wasser getrunken und wie ein Schlund die Schuld als Nahrung aufgenommen hat?‘ 4. Nachdem er seine Rede so beendet hatte, empfing er mit tiefer Betrübnis des Herzens und sich selbst für unwürdig erklärend von den Bischöfen persönlich den Leib und das Blut des Herrn. Darauf bat er die Bischöfe und Kleriker, die Bürger und die gesamte Bevölkerung um Verzeihung, indem er sagte: ‚Ich bitte Euch, meine sehr heiligen Herren
Vgl. Isidorus Hispalensis, Synonyma, 1,71,18–22, ed. Elfassi 2001 (vgl. Anm. 16),: caeli non sunt mundi in conspectu tuo; quanto magis ego abhominabilis, et putredo et filius hominis uermis, qui ausi quasi gurges peccatum, et bibi quasi aquas iniquitatem. Den Empfang der Eucharistie unter beiderlei Gestalt, Sinnbild für die Vergebung der Schuld, belegen als Bestandteil der poenitentia in extremis der c. 7 des 4. Toletanum (636), ed. Rodríguez, in: Martínez Díez/Rodríguez, 2002, 193f., die Vitas sanctorum Patrum Emeretensium 2, Z. 79–84, ed. Maya Sanchez 1992, 19, und Caput de poenitentiae agendae ratione, 25 f., ed. Lozano Sebastián 1979, 224. Die Bitte um Verzeihung (indulgentia) erwähnen c. 7 des 4. Toletanum, ed. Rodríguez, in: Martínez Díez/Rodríguez 2002, 193f., die Oratio super penitentem in dominicis diebus, in: Liber Ordinum, ed. Ferotin 1904, Sp. 95, Z. 19–96, Z. 18, Ordo ad reconciliandum penitentem, in: ebenda, Sp. 96, Z. 19 – Sp. 100, Z. 21, Ordo de VIa feria in Parasceue, in: ebenda, Sp. 193, Z. 39 – Sp. 204, Z. 21, Caput de poenitentiae agendae ratione 26, ed. Lozano Sebastián 1979, 224.
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num uestra porrigatur oratio, ut qui meo merito eius non sum dignus impetrare clementiam, intercessu uestro merear consequi meorum ueniam delictorum. Dimitte mihi, obsecro, indigno, quod in unumquemque commisi uestrum. Si quem contempsi odio, si quem reieci impie caritatis consortio, si quem maculaui consilio, si quem laesi irascendo, dimitte mihi nunc petenti, immo et poenitenti.‘ Et dum magna uoce omnes pro eo indulgentiam cum lacrimis postulassent,21 et unicuique debiti sui uincula uel cirografa condonasset, circunstantes [sic] iterum admonuit dicens: ‚Sanctissimi domini mei episcopi et omnes qui adsunt, rogo et obsecro ut caritatem inuicem uobis exhibeatis, non reddentes malum pro malo, nec uelitis esse susurro in populo, non inueniat in uos hostis antiquus quod puniat, non repperiat a uobis relictum lupus rapax quem auferat, sed potius ereptum ab ore lupi pastor suis humeris congaudens reportet 22 ad hanc aulam.‘
5. Igitur post hanc confessionem uel orationem, residuam egenis et pauperibus mox dari iussit pecuniam. Cui tamen fideli sit dubium ut non statim, dimissa omnia facinora, adsociaretur
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Bischöfe, und die heilige Gemeinschaft der Kleriker und des Volkes, Euer Gebet für mich Unglücklichen und mit allem Schmutz der Sünde Gefüllten an den Herrn zu richten, damit ich, der ich nicht würdig bin, aufgrund meines Verdienstes um seine Gnade zu flehen, durch Eure Vermittlung die Vergebung zu erlangen verdiene. Ich bitte Euch inständig, mir Unwürdigem zu verzeihen, was ich gegen einen jeden von Euch gefehlt habe. Wenn ich jemanden aus Abneigung verachtet, wenn ich jemandem pflichtvergessen die Gemeinschaft der Liebe verweigert, wenn ich jemanden mit Absicht entehrt, wenn ich jemanden im Zorn verletzt habe, dann verzeiht mir, dem jetzt Bittenden und auch Büßenden. Und während alle mit lauter Stimme und unter Tränen Gnade für ihn verlangten und er jedem Einzelnen die Fesseln seiner Schulden erließ, indem er die Schuldscheine zurückgab, ermahnte er wiederum die Umstehenden und sprach: ‚Meine sehr heiligen Herren Bischöfe und alle Anwesenden, ich bitte und beschwöre Euch, dass Ihr Euch gegenseitig Liebe erweist, indem Ihr Böses nicht mit Bösem vergeltet, und dass Ihr nicht in einem zischelnden Volk sein wollt. Möge der alte Feind in Euch nicht finden, was er bestraft, und der reißende Wolf nicht einen von Euch Verlassenen finden, den er raubt, sondern vielmehr möge der Hirte den aus dem Rachen des Wolfes Entrissenen voll Freude auf seinen Schultern zu dieser Kirche tragen.‘ 5. Nach diesem Bekenntnis und Gebet ließ er alsbald das noch übrige Geld an die Bedürftigen und Armen verteilen. Welcher Gläubige zweifelt daran, dass
Vgl. c. 7 des 4. Toletanum, ed. Rodríguez, in: Martínez Díez/Rodríguez 2002, 193f., und Liber Ordinum, ed. Ferotin, Sp. 202, Z. 13–19. Vgl. Lukas 15, 4 f. und Isidorus Hispalensis, Sententiae 2,14,4f., ed. Cazier 1998, 125: Sicut in euangelio pastor ille exultat qui perditam ouem inuentam humeris suis gaudens reportat.
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coetibus angelorum? Interea ab omnibus osculari 23 studuit, dicens: ‚Si ex toto corde demiseritis ea quae et uos aduersa uel praua usque hactenus intuli, dimittet uobis Creator omnipotens omnia delicta uestra. Ita ut sacri fontis unda, quam hodie deuotus est populus percepturus, sit uobis in remissione peccatorum, et hoc osculum inter me et uos maneat in testimonium futurorum.‘
6. Conpletis his omnibus ad cellulam reductus est, post diem confessionis uel poenitentiae quartum, pastoralem iugiter curam finem suum consumauit in pace. Amen.
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er – wenn nicht sofort, dann nachdem ihm alle seine Missetaten vergeben worden sind – den Scharen der Engel beigesellt wurde? Inzwischen bemühte er sich darum, von allen geküsst zu werden, und sagte: ‚Wenn Ihr von ganzem Herzen das verzeiht, was ich bis jetzt an Widerwärtigkeiten und Schlechtigkeiten gegen Euch verübt habe, dann wird Euch der allmächtige Schöpfer all Eure Sünden vergeben. So wie der Strom der heiligen Quelle, den das gläubige Volk heute in sich aufnimmt, Euch zur Vergebung der Sünden gereiche, so möge dieser Kuss zwischen mir und Euch als ein Zeugnis für die Zukünftigen bleiben.‘ 6. Nachdem dies alles beendet war, wurde er in seine kleine Kammer zurückgeführt und am vierten Tag nach seinem Schuldbekenntnis und seiner Pönitenz beendete er zugleich mit seinem Ende sein Bischofsamt in Frieden. Amen.
Redemptus berichtet, dass Isidor während des letzten halben Jahres seines Lebens durch eine bereits länger andauernde Krankheit zunehmend geschwächt war. Um welches Leiden es sich dabei handelte und welche Art von Wunde das Fieber und die Magenprobleme kurz vor seinem Tode verursachte, erfahren wir nicht. Unerwähnt bleiben auch Maßnahmen zur Betreuung und medizinischen Versorgung des Patienten. Ebenfalls werden Auswirkungen der Erkrankung Isidors auf das von ihm bekleidete Amt und seine private Lebensgestaltung nicht berührt. Die eher beiläufigen und vagen Mitteilungen über die Ursachen, die zum Tod Isidors führten, lassen deutlich werden, dass es Redemptus nicht darum ging, Informationen für den letzten Teil einer Biographie des bereits zu seinen Lebzeiten hoch angesehenen und berühmten Bischofs und Gelehrten zu liefern.24 Redemptus beabsichtigte lediglich, wie er gleich zu Beginn seines Schreibens ausführt, seinem Adressaten zu schildern, wie Isidor die Poenitenz empfing, vor Gott und den Menschen sein Schuldbekenntnis ablegte und – der heutige Leser registriert es mit skeptischem Erstaunen –
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Vgl. Ordo in finem hominis diei, in: Liber Ordinum, ed. Ferotin 1904, Sp. 107, Z. 17–108, Z. 3. Zu einer gegenteiligen Ansicht vgl. Martin 2006, 282f.
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durch die getreue Aufzeichnung dieser Vorgänge dem Empfänger seines Schreibens bekannt zu machen, wie Isidor von dieser Welt in den Himmel gelangte. Der wesentliche Teil des Berichtes bezieht sich also nur auf einen Zeitraum von höchstens ein paar Stunden der etwa sechs letzten Lebensmonate Isidors. Bevor Redemptus sich an die Ausführung seines Vorhabens macht, ist ihm noch die Mitteilung wichtig, dass Isidor auf den herannahenden Tod mit einer Steigerung der Verteilung von Almosen reagierte. Die Konzentration auf die Ereignisse dieses kurzen Zeitraumes und die Genauigkeit ihrer Schilderung unterstreichen die außerordentliche Bedeutung, die Verfasser wie Empfänger ihnen offenbar zumaßen und die sich aus der christlichen Auffassung des Todes erschließt. Dieser bedeutet für den gläubigen Christen zwar auch das Ende des irdischen Lebens, zugleich aber – wegen der Unsterblichkeit der Seele – den Übergang zu einer ewig währenden transzendenten Existenz, in deren Verlauf es am Jüngsten Tag bei der Auferstehung der Toten zu einer Wiedervereinigung von Leib und Seele kommen wird.25 Über die Qualität des Lebens nach dem Tode entscheidet Gott als Richter, vor dem der Verstorbene Rechenschaft darüber abzulegen hat, ob er den sich aus der Heiligen Schrift herzuleitenden Anforderungen an ein christliches Leben gerecht geworden ist oder nicht. Im Zustand der Gnade Verstorbene gelangen im individuellen Gericht „sofort“ zur beseligenden Anschauung Gottes, im Zustand der Todsünde Gestorbene empfangen das Verdammungsurteil und im Zustand der Gnade Verstorbene, die noch einer Reinigung von lässlichen Sünden und zeitlichen Sündenstrafen bedürfen, gelangen erst nach einer Zeit der Läuterung zur Anschauung Gottes.26 Angesichts dieser eschatologischen Perspektive war und ist für den gläubigen Christen die Frage, ob er sich zum Zeitpunkt seines Todes im Zustand der Gnade befindet oder nicht, von entscheidender Relevanz. Von den nach der Taufe, die alle Sünden und Sündenstrafen tilgt,27 begangenen, mehr oder weniger schweren Verfehlungen während seines irdischen Lebens kann der getaufte Christ durch das Sakrament der Buße28 gelöst werden. Im wisigotischen Spanien unterschied man zur Zeit Isidors drei verschiedene Arten der Buße (poenitentia)29, von denen sich die private Buße/
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Vgl. Maier/Greshake 2001, Sp. 69–75; Kremer/Greshake 1993, Sp. 1195–1202. Vgl. Reiser/Lutz 1995, Sp. 515–519; Broer/Müller 1995, Sp. 1204–1208. Vgl. Faber 2000, Sp. 1288. Vgl. Sattler 1994, Sp. 845–853. Zum Folgenden vgl. einleitend García Villada 1933, Band 2, 2, 62–67; Orlandis 1991, 187–202. Weitere Literatur bei Martin 2006, 285, Anm. 17.
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Beichte zunehmend durchzusetzen begann. Von der früher geübten öffentlichen Buße (poenitentia publica) war die Kirche in der Spätantike immer mehr abgerückt, weil wegen der Öffentlichkeit des Schuldbekenntnisses den Poenitenten eine Gefährdung etwa durch die von ihnen Geschädigten oder durch die gerichtliche Ahndung ihrer Verbrechen drohte. Die private Buße, bei der der Poenitent seine Schuld Gott nur in Anwesenheit eines zum Schweigen verpflichteten Priesters gesteht, schrecke, so wurde argumentiert, den Gläubigen dagegen im Gegensatz zur öffentlichen Buße vom Empfang des Sakraments weniger ab, ohne das der Sünder bei schwerer Schuld den Stand der Gnade nicht wiedererlangen kann. Zudem konnte das nun auch weniger schwere Verfehlungen (sog. lässliche Sünden) umfassende Schuldbekenntnis und die Absolution im Geheimen beliebig wiederholt werden, während die öffentliche Buße ursprünglich nur einmal und nur bei schweren Vergehen (sog. Todsünden wie Mord, Ehebruch, Diebstahl, Apostasie, Häresie usw.) gewährt wurde. Bei schweren Vergehen, die öffentliches Ärgernis erregten, oder wenn der Sünder es als Zeichen besonderer Reue oder Erniedrigung ausdrücklich wünschte, wurde auch weiterhin die öffentliche Buße geübt. Nachdem ein Priester geprüft hatte, ob sich das Vergehen für ein öffentliches Bekenntnis eignete, wurde der Fall nach erneuter Beratung durch das Presbyterium dem Bischof zur Entscheidung vorgetragen. Erst danach konnte das öffentliche Bußverfahren eingeleitet werden, in dessen Verlauf dem Poenitenten nach dem öffentlichen Schuldbekenntnis die dafür angemessene Buße auferlegt wurde. Dabei zog man Bußbücher (libri poenitentiales) heran, die bereits in der Regula monachorum Isidors von Sevilla belegt sind. Der wohl um die Mitte des 7. Jahrhunderts entstandene Liber poenitentialis der Kirche des Wisigotenreiches sah etwa für Diebstahl folgende Bußen vor: „Wenn jemand einen schweren Diebstahl, d.h. von Rindern oder Pferden oder ähnlichen Sachen verübt oder die Stallungen niederreißt, so leiste er fünf Jahre lang Buße. Wer kleinere Tiere stiehlt, soll drei Jahre büßen. Wenn das Geraubte der Kirche gehört, soll die Buße sieben Jahre dauern. Wenn der Dieb das Gestohlene zurückgeben kann, dann verringert sich die Strafe auf 40 Tage. …“30 Die Aufnahme in den Stand des Büßers erfolgte am Aschermittwoch, an dem sich die Bußkandidaten vor dem Kirchenportal versammelten. Nachdem sie vom Archipresbyter in die Kirche geführt worden waren, warfen sie sich zu Boden und wurden mit Weihwasser besprengt. Darauf wurde – nach Tonsurierung der Männer – ihr Haupt mit Asche bestreut. Vom Boden auf-
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Zitat nach García Villada 1933, Band 2, 2, 65.
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gestanden, fassten sich die Poenitenten sodann an den Händen und wurden vom Bischof, der den ersten der Büßer bei der Rechten ergriff, aus der Kirche geleitet. Dort erfolgte die Bekleidung mit dem cilicium, dem aus Borsten gewebten Büßergewand, wobei der Bischof sagte: „Wir stoßen euch wegen eurer Sünden aus dem Schoß eurer heiligen Mutter, der Kirche, aus, so wie Adam wegen seiner Schuld aus dem Paradies vertrieben wurde. Möge Gott euch als Folge der Buße gewähren, zu ihr zurückzukehren.“31 Während der Zeit der öffentlichen Buße hatten die Poenitenten – angetan mit dem cilicium – an der Sonntagsmesse teilzunehmen, die sie allerdings zusammen mit den Katechumenen beim Beginn des Offertoriums verlassen mussten. Vor ihrem Auszug wurde um die Vergebung ihrer Schuld gebetet. Als Kommunionersatz empfingen sie in der Sakristei die Eulogie,32 geweihtes (nicht konsekriertes) Brot. Die Rekonziliation der öffentlichen Büßer durch Ablegen des cilicium und Anlegen eines sauberen Gewandes, Absolution und Empfang der Eucharistie erfolgte durch den Bischof in der Regel am Gründonnerstag. Bei drohender Todesgefahr konnte sie vorgezogen werden. In den öffentlichen Büßerstand konnte man aus frommer Gesinnung auch auf Verlangen aufgenommen werden, ohne schwer gesündigt zu haben. Wie im Fall Isidors geschah das zumeist in articulo mortis, weshalb man diesen Typ der Buße auch als poenitentia in extremis bezeichnete. Wie bei der poenitentia ordinaria wurde auch bei der poenitentia in extremis der Kandidat mit dem Büßergewand bekleidet und mit Asche bestreut. Redemptus erwähnt in seinem Brief die diesen beiden Handlungen normalerweise vorausgehende Tonsurierung nicht, da Isidor sie als Kleriker bereits empfangen hatte. Danach wurden drei von Psalmen und Segnungen unterbrochene Gebete für den Poenitenten gesprochen. Anschließend empfing er die Kommunion. Wem die poentitentia in extremis einmal gespendet worden war, der blieb bis zu seinem Tod im Büßerstand. Das bedeutete aber nicht seinen Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft, vielmehr wurde der Poenitent bei diesem Typ der Buße zu einem religiosus,33 einer Gott geweihten Person, d. h. er wurde in den geistlichen Stand versetzt. Als religiosus war er von nun an – auch bei Überleben der Todessituation – zu einem asketischen Leben in der Nachfolge Christi gemäß den evangelischen Räten (Armut, Keuschheit und Gehorsam) verpflichtet.34 Er durfte weder heiraten noch eine be31 32 33 34
Ebd. Vgl. Prostmeier/Kunzler 1995, Sp. 987–989. Siehe oben Anm. 23. Vgl. Frank/Grün/Windisch 1993, Sp. 1178–1183; Untergassmaier/Scheuer/Hintersberger/Korff 1995, Sp. 1048–1050.
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stehende Ehe fortsetzen. Die Ausübung weltlicher Geschäfte sowie öffentliche, politische und militärische Betätigungen waren ihm untersagt. Für diese Welt galt er als bereits gestorben – velut mortuus huic mundo. Diese Konsequenzen der Poenitenz wurden dem Kranken in einer Ermahnung durch den Priester ausdrücklich eingeschärft.35 Durch diese Abkehr vom Wirken in der Welt sollte eine erneute Verstrickung in Sünde und Schuld verhindert werden. So sollte die poenitentia in extremis dem Christen als krönender Abschluss des irdischen Lebens einen möglichst sicheren und nahtlosen Übergang zum ewigen Leben ermöglichen. Da viele Menschen eines plötzlichen Todes starben und im Bedarfsfall nicht immer ein Geistlicher zur Hand war, galt der Empfang der Poenitenz, der erforderlichenfalls auch im Hause des Kranken erfolgen konnte, als eine besondere Gnade. Dennoch wurde die poenitentia in extremis jungen Leuten wegen der mit ihr verbundenen und auch im Überlebensfall bis zum Tod andauernden rigorosen Folgen, namentlich wegen der Verpflichtung zur Ehelosigkeit bzw. des Verbotes, bestehende Ehen fortzusetzen, nicht gespendet.36 Auf dem skizzierten Hintergrund leuchtet nun ein, warum Redemptus seinen Bericht über das Hinscheiden Isidors auf den – sub specie aeternitatis – entscheidenden Moment des Empfangs der Poenitenz konzentrierte. Auch die Mitteilung des Redemptus, dass vor dem Empfang der Poenitenz die anwesenden Frauen aus dem Gesichtsfeld Isidors entfernt wurden, wird verständlich als Ausdruck des Strebens nach Keuschheit, dem sich Isidor als im Zölibat lebender Kleriker, der dem Rat Christi folgend um des Himmelsreiches willen auf Ehefrau und Kinder verzichtet hatte, besonders verpflichtet fühlte. Verständlich wird weiter, weshalb Redemptus berichtet, 35
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Ordo penitentie, in: Liber ordinum, ed. Ferotin 2004, Sp. 92, Z. 39- Sp. 93, Z. 18: Accepta penitentia, iam admonet eum sacerdos his admonitionibus, dicens: Hec secundum petitionem tuam data est tibi penitentia; et ideo moneo te, ut quamdiu in corpere isto uixeris, et peccare iam caueas, et propter preterita peccata timere, lugere et flere non desinas, et perpetrata mala plangere, et plangenda non perpetrare. Sed stude, ergo, amodo caste et iuste, honeste et sobrie, et pie, et temperanter in seculo vivere. Caue omnem impudicum sermonem et operam. Nullis seculi causis te admisceas: nicil temporale desideres: esto iam uelut mortuus huic mundo. Custodi temetipsum ab omni concupiscentia oculi, et ab omni lasciuia lingue, et ab omni praue cogitationis errore. Quicquid tibi uis ab aliquo fieri, hoc fac et tu alteri. Quod non uis alter ut faciat tibi, nec tu facias alteri. Hoc quod dico fac: cogita de temetipso. Si enim hoc custodire uolueris, et in te habebis gaudium, et feliciter uenies ad regnum celorum. – Amen. Item oratio viatica super infirmum iuuenem, in: Liber Ordinum, ed. Ferotin 1904, Sp. 86. Z. 19- Sp. 87, Z. 12: Deus omnipotens, qui diuersam humani generis necessitudinem prospiciens, multimoda consulationum tuarum genera contulisti: te supplices deprecamur, ut hunc famulum tuum horrende mortis periculo proximum propitia pietate respicias; ut cui nos pro iuuenili etate uel incerta professione iugum penitentie inponere non audemus, huius supplicationis uiatica professione subuenis, eique communionem dominici corporis ac sanguinis inpertias: stipendio uite suprestitis ad agendeam legitime penitentiam supplicamus ut tribuas, qut si eum accersiri preceperis, fidelium tuorum gregi eterne uite participatione coniugas. – Amen. Post hec communicat eum sacerdos.
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dass Isidor vor seinem Tod nicht nur ein halbes Jahr lang besonders viele Almosen verteilen ließ, sondern nach dem Empfang der Poenitenz auch sein gesamtes restliches Vermögen an die Armen und Bedürftigen verteilte und die Schuldscheine an seine Schuldner zurückgab.37 Durch das Almosengeben erwirbt der Gläubige nämlich gemäß dem Wort der Schrift einen Schatz im Himmel, mit dem noch nicht gebüßte Sündenstrafen getilgt werden können,38 und den Verzicht auf jeglichen Besitz verlangt das Evangelium als Voraussetzung für den Eingang in das Himmelreich.39 Vielleicht gehört auch die cellula,40 aus der Isidor zur Ablegung seines öffentlichen Schuldbekenntnisses und zum Empfang der Poenitenz in die Kirche des hl. Vincentius gebracht und in die er danach zurückgeführt wurde, in diesen asketischen Zusammenhang. Dann hätte sich Isidor – etwa zu besonderen asketischen Bußübungen und Kasteiungen – in eine Art Klause oder Einsiedelei zurückgezogen. Nimmt man die von Redemptus berichteten religiösen Aktivitäten zusammen, die Isidor unternommen hatte, seit er sein Ende nahen fühlte – Almosengeben, Empfang der Poenitenz, Schuldbekenntnis, Bitte um und Gewährung der Indulgenz, Schuldenerlass und Besitzverzicht –, dann hatte er damit alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die nach dem Verständnis seiner Zeit einem Christen zur Verfügung standen, um nach seinem Tod in das Himmelreich zu gelangen. Im Fall Isidors bestand deshalb für Redemptus auch kein Grund, daran zu zweifeln. Es ist dies nach den christlichen Maßstäben seiner Zeit „exemplarische Sterben“, das Redemptus mit seinem, gemessen an literarischen Kriterien bescheidenen, aber trotzdem höchst anschaulichen Bericht Zeitgenossen und Nachwelt als nachahmenswertes Beispiel vor Augen halten wollte. Deshalb erfahren wir auch kaum etwas über die äußeren Umstände von Isidors Ende, eine ganze Menge aber über die Einstellung des Redemptus und seiner Zeitgenossen zum Sterben und zum Tod als der für einen Christen entscheidenden Nahtstelle zwischen dem irdischen und dem ewigen Leben. Als bedeutsame Vorgänge des über sie hinausreichenden christlichen Le37
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Die Quelle lässt uns darüber im Unklaren, ob es sich bei den von Isidor vergebenen Darlehen um Naturalien oder Geld aus dem Vermögen der hispalenser Kirche oder um Privatvermögen Isidors handelte. Eine Armenkasse, wie sie der Bischof Masona in Mérida einrichtete, ist für Sevilla nicht überliefert. Vitas sanctorum patrum Emeretensium 5, 3, Z. 36–41, ed. Maya Sanchez: Tanta illi (scil. Masonae) cura erat pro omnium erumnas miserorum, ut ad baselicam sanctissime Eolalie diacono uiro uenerabili Redemto nomine, qui preerat, duo milia solidos dederit, e quibus, mox ubi aliquis urgente necessitate aduenerit, facta cautione, quantos uellet absque aliqua mora uel difficultate acciperet suiisque angustiis consuleret. Vgl. Giesen 1993, Sp. 423. Markus 10, 17–22. Vgl. Deichmann 1954, Sp. 942–944.
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bens werden sie deshalb nicht verdrängt. Im Fall Isidors, der das Ende seines Lebens in beeindruckender Konsequenz nach seinen auch in seinen Werken niedergelegten Glaubensüberzeugungen gestaltete,41 wird das Sterben geradezu zu einem – uns Heutigen schwer begreiflichen – öffentlichen Ereignis, an dem die gesamte Bevölkerung Sevillas, Klerus und Laien, Männer wie Frauen, beteiligt ist. Der die christliche Gemeinde der Stadt ergreifende Abschied von ihrem Bischof ist eingebettet in eine durch christlichen Ernst und Würde geprägte Liturgie, die in einer zutiefst humanen Geste, dem Kuss zwischen dem Sterbenden und seiner Umgebung, ihr auch heute noch anrührendes Ende findet.
Quellen- und Literaturverzeichnis a) Quellen Caput de poenitentiae agendae ratione ex codice legum Patrum, ed. Francisco-Javier Lozano Sebastián. In: La penitencia canónica en la España romano-visigoda (Publicaciones de la Facultad Teológica del Norte de España, Sede de Burgos, 45) (Burgos 1979) 219–227 Isidorus Hispalensis, Sententiae, ed. Pierre Cazier (Corpus Christianorum, Series Latina CXI) (Turnhout 1998) Isidorus Hispalensis, De ecclesiasticis officiis, ed. Christopher M. Lawson (CCSL CXIII) (Turnhout 1989) Isidorus Hispalensis, Synonyma de lamentatione animae peccatricis libri II, ed. J. Elfassi. In: Les Synonyma d’Isidore de Seville: édition critique et histoire du texte. Tesis Doctoral inédite, École Pratique des Hautes Études, IVe section: Sciences historiques et philologiques (Paris 2001) Liber Ordinum, ed. Ferotin 1904: Le Liber Ordinum en usage dans l’Église wisigothique et mozarabe d’Espagne du cinquième au onzième siècle, hg. von Marius Ferotin (Paris 1904, Nachdruck 1992) Martínez Díez/Rodríguez 2002: Gonzalo Martínez Díez/Felix Rodríguez, La colección canónica Hispana, Bd. 6: Concilios hispanos, tercera parte (Madrid 2002) Redempti clerici Hispalensis Obitus beatissimi Isidori Hispalensis episcopi, ed. José Carlos Martin (CCSL CXIII) (Turnhout 2006) 379–388 Vita Fructuosi, ed. Nock 1946: The Vita Sancti Fructuosi, hg. von Frances Clare Nock (Washington D. C. 1946) Vitas sanctorum Patrum Emeretensium, ed. Antonio Maya Sanchez (CCSL CXVI) (Turnhout 1992) Vives 1963: Concilios visigóticos e hispano-romanos, hg. von José Vives (Barcelona/Madrid 1963) 41
Vgl. Isidorus Hispalensis, Sententiae 2,13: De confessione peccatorum et paenitentia, ed. Cazier 1998, 120–126, und Isidorus Hispalensis, De ecclesiasticis officiis 2,17: De paenitentibus, ed. Lawson 1989, 80–83.
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b) Literatur Broer/Müller 1995: Ingo Broer/Gerhard Ludwig Müller, Art. Fegefeuer II. Biblischer Befund, III. Historisch-theologisch. In: LThK, Bd. 3 (1995) Sp. 1204–1208 Deichmann 1954: Friedrich Wilhelm Deichmann, Art. Cella. In: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 2 (1954) Sp. 942–944 Díaz y Díaz 2002: Manuel C. Díaz y Díaz, Isidoro el hombre. In: Julián González Fernández (Hg.), San Isidoro, doctor Hispaniae (Sevilla 2002) 69–79 García Moreno 1974: Luis A. García Moreno, Prosopografía del reino visigodo de Toledo (Salamanca 1974) García Villada 1933: Zacarías García Villada, Historia Eclesiástica de España, Madrid 1933 Giesen 1993: Heinz Giesen, Art. Almosen. In: LThK, Bd. 1 (1993) Sp. 423 Faber 2000: Eva-Maria Faber, Art. Taufe IV. Systematisch-theologisch 5. Sündenvergebung. In: LThK, Bd. 9 (2000), Sp. 1288 Fontaine 1991: Jacques Fontaine, Isidor von Sevilla. In: Lexikon des Mittelalters 5 (1991) Sp. 677–680 Frank/Grün/Windisch 1993: Karl Suso Frank/Anselm Grün/Hubert Windisch, Art. Askese III.-VI. In: LThK, Bd. 1 (1993) Sp. 1178–1183 Kremer/Greshake 1993: Jacob Kremer/Gisbert Greshake, Art. Auferstehung der Toten IV. Im Neuen Testament, V. Theologie- u. dogmengeschichtlich. In: LThK, Bd. 1 (1993) Sp. 1195–1202 Maier/Greshake 2001: Johann Maier/Gisbert Greshake, Art. Tod IV. Biblisch-theologisch, V. Systematisch-theologisch. In: LThK, Bd 10 (2001) Sp. 69–75 Martin 2006: José Carlos Martin, Introducción. In: Corpus Christianorum, Series Latina CXIII (Turnhout 2006) 284–302 Orlandis 1991: José Orlandis, La vida en tiempo de los godos (Madrid 1991) Ramos-Lissón 1996: Domingo Ramos-Lissón, Isidor von Sevilla. In: LThK, Bd. 5 (1996) Sp. 618–620 Prostmeier/Kunzler 1995: Ferdinand Rupert Prostmeier/Michael Kunzler, Art. Eulogie. In: LThK, Bd. 3 (1995) Sp. 987 Reiser/Lutz 1995: Marius Reiser/Bernd Lutz, Art. Gericht Gottes II. Biblisch-theologisch, III. Theologiegeschichtlich. In LThK, Bd. 4 (1995) 515–519 Sattler 1994: Dorothea Sattler, Art. Bußsakrament. In: LThK, Bd. 2 (1994) Sp. 845–853 Schmitz 1999: Heribert Schmitz, Religiosen. In: LThK, Bd. 8 (1999) Sp. 1086 Untergassmaier/Scheuer/Hintersberger/Korff 1995: Franz Georg Untergassmaier/Manfred Scheuer/ Benedikta Hintersberger/Wilhelm Korff, Art. Evangelische Räte I.-III. In: LThK, Bd. 3 (1995) Sp. 1048–1050
Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 249–296 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
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Memoria Silvestri. Zur frühen Erinnerungsund Verehrungsgeschichte des Tagesheiligen vom 31. Dezember WILHELM POHLKAMP
Man könnte meinen, der Tagesheilige vom 31. Dezember, der römische Bischof Silvester I. (314–335), sei ein sinnenfroher und feierfreudiger Mensch gewesen, wenn man sieht, wie vielfältige Traditionen und Brauchtümer, fröhliche und besinnliche Feiern auf der ganzen Welt mit seinem Tag verbunden sind. Tatsächlich hat das alljährliche bunte Treiben am Silvestertag jedoch nichts oder nur sehr wenig mit der Persönlichkeit, mit dem Leben und mit dem Wirken des römischen Bischofs Silvester I., soweit wir davon historische Kenntnis haben, zu tun, sondern das bunte Treiben gilt der Tatsache, dass der 31. Dezember als letzter Tag unseres bürgerlichen Kalenderjahres gefeiert wird. Über Silvester I. und seine fast 22jährige Amtszeit als Bischof von Rom, die weitgehend synchron zur Herrschaftszeit Konstantins des Großen (306–337), des ‚ersten christlichen Kaisers‘, verläuft, ist in Textzeugnissen und Denkmälern nur wenig überliefert, was vor dem kritischen Urteil der Geschichtswissenschaft Bestand hat. Diesem Urteil ist – dezidiert seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts – auch jener literarische Text zum Opfer gefallen, der seit der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert über das gesamte Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein als autoritative Quelle des ‚Wissens‘ über den römischen Bischof Silvester I. gegolten hat: die in der Stadt Rom selbst Ende des 4. bis Anfang des 5. Jahrhunderts entstandenen lateinischen Silvester-Akten (Actus Silvestri).1 Diese Silvester-Akten haben – zum Teil im Verein mit der von ihnen inaugurierten Konstantinischen Schenkung (Constitutum Constantini), einer der berühmtesten ‚Fälschungen‘ des Mittelalters aus dem späteren 8. Jahrhundert – zwar dem römischen Bi1
Vgl. die Zwischenbilanz zu allen Forschungsfeldern der Silvester-Akten bei Pohlkamp 1992 und zuletzt Pohlkamp 2007. Die vorgeschlagenen Datierungen des ältesten Textes der Actus Silvestri streuen inzwischen in den eineinhalb Jahrhunderten vom Pontifikat des Damasus (366–384) bis zum Pontifikat des Symmachus (498–514).
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schof Silvester I. eine glänzende Identität verschafft, erklären aber ebenfalls nicht die alljährlichen vielfältigen Begehungen des Silvestertages, der seinen Namen vielmehr der am 31. Dezember 335 erfolgten Beisetzung des Bischofs verdankt, ursprünglich also und – eher unbeachtet – auch heute noch Tag einer besonderen Memoria Silvestri ist. Den frühen Spuren dieser schon für 336, also schon für das Jahr nach Silvesters Tod gesicherten Memoria Silvestri nachzugehen, ist Absicht der folgenden Ausführungen. Einer guten Tradition wissenschaftlicher Hagiographie folgend, beginnen wir mit der Analyse der ‚hagiographischen Koordinaten‘,2 des Todes- bzw. Beisetzungstages und des Grabortes (eines Heiligen), weil diese Koordinaten für die angemessene liturgische oder kultische Memoria eines Verstorbenen relevant sind und in der Regel zugleich die historische Identität des Kommemorierten verbürgen (I.). Diese Garantie bieten die römischen Silvester-Akten allerdings nicht, weil ihrem Text Bezüge auf oder Angaben zu den ‚hagiographischen Koordinaten‘, also zu Tag und Ort der Beisetzung Silvesters I., gänzlich fehlen und weil darüber hinaus der Zeitpunkt, seit dem Silvester die kultische Verehrung eines Heiligen genießt, nach wie vor ungeklärt ist. Wenn somit eine wichtige Brücke der Authentizität zwischen der Abfassung der lateinischen Actus Silvestri und der schon 336 liturgisch kommemorierten Beisetzung Silvesters I. am 31. Dezember 335 fehlt, ist das von den Silvester-Akten überlieferte literarische Bild des römischen Bischofs Silvester I. zunächst kritisch als imaginär, zumindest aber als nicht besonders wirklichkeitsnah zu beurteilen, weil dieses literarische Bild aus der liturgischen und/oder kultischen Kontinuität der Memoria Silvestri seitens der römischen Kirche herausgenommen erscheint oder weil der Autor möglicherweise seinen Text gar nicht in den Dienst der frühen liturgischen und/oder kultischen Tradition Silvesters I. stellen wollte. Zumindest der erste Teil des ältesten lateinischen Textes der römischen Silvester-Akten, den wir mit der Formel Silvester confessor et episcopus überschreiben können,3 soll deshalb in unserem Ausblick wenigstens kurz analysiert werden im Hinblick auf die historische Wirklichkeitsnähe seiner Charakterisierung Silvesters als eines ‚Bekenners‘ (des christlichen Glaubens) während der letzten großen Christenverfolgung zu Beginn des 4. Jahrhunderts.
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Vgl. dazu Delehaye 1934, 7ff. Zu den damit angesprochenen Problemen einer historisch-kritischen Textausgabe der lateinischen Actus Silvestri, die – seit langem von uns angekündigt, aber noch immer nicht abgeschlossen – bis heute fehlt, sowie zu den zwar in gedruckter Form benutzbaren, aber letztlich unbrauchbaren Editionsalternativen vgl. Pohlkamp 1992, 133ff.
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Als ein besonderer Ort der Verehrung, vielleicht sogar einer gleichsam zeitgenössischen und lebensgeschichtlichen Erinnerung an den römischen Bischof Silvester I. in der Stadt Rom ist im Rahmen unserer Spurensuche eine alte Titelkirche (titulus) der stadtrömischen Christen am Hang des Mons Oppius in der Region des Esquilin zu untersuchen, die als möglicher Entstehungsort der römischen Silvester-Akten in Erwägung gezogen worden ist (II.). Die genaue Lokalisierung dieser Titelkirche ist noch immer umstritten, wie wir überhaupt bei unserer Spurensuche zur Erinnerungsund Verehrungsgeschichte Silvesters I., die uns in die frühe Zeit der stadtrömischen Christengemeinde(n) führt, manche literarische und/oder archäologische Unsicherheit vorläufig akzeptieren müssen. Zum Abschluss unserer Überlegungen wollen wir aus der Sicht der frühen Erinnerungsund Verehrungsgeschichte Silvesters I., ebenfalls nur sehr kurz, einen Ausblick auf die römische Silvester-Renaissance des späteren 8. Jahrhunderts versuchen, in der neben dem neuen Kultort S. Silvestro in capite wohl auch die berühmte Konstantinische Schenkung (Constitutum Constantini) entstanden sein dürfte.4
I. Der Ort des Grabes als Ort der Verehrung: Coemeterium Priscillae ad Sanctum Silvestrum Das alljährliche liturgische Gedächtnis Silvesters I. am 31. Dezember, dem Tag seiner Beisetzung, ist verbürgt durch eine als Depositio episcoporum bezeichnete Liste mit Anniversardaten von zwölf römischen Bischöfen, deren Pontifikate in die Zeit zwischen der Mitte des 3. und der Mitte des 4. Jahrhunderts datieren. Diese Liste ist überliefert beim so gen. ‚Chronograph von 354‘, einem unter Mitwirkung des berühmten Kalligraphen Furius Dionysius Filocalus in Codex-Format angelegten Konvolut chronographischer und chronologischer Texte, die sowohl Zeiterfahrung als Grundlage von Geschichtsbewusstsein wie auch Zeitgestaltung als Grundlage von Liturgie und Kult artikulieren.5 Von einem Christen (dem Kalligraphen Filocalus) gefertigt und für einen Christen (den als Empfänger genannten Valentinus) bestimmt,6 spiegelt das chronographische Konvolut das in der
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Das seit längerem angekündigte Buch von Johannes Fried über die Konstantinische Schenkung war mir erst kurz vor dem Abschluss des Manuskripts zugänglich und konnte deshalb hier nicht mehr berücksichtigt werden. Das gesamte Textmaterial des Chronographen von 354 ist an zwei verschiedenen Stellen ediert: 1) Chronographus anni CCCLIIII und 2) Fasti Furii Dionysii Philocali. Vgl. Peter Lebrecht Schmidt in: Herzog 1989, 178ff.; Rüpke 1995, 90ff.
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Praxis des Alltags tolerante Nebeneinander von christlicher und paganer Religionsausübung, wie es die Bürger und Bewohner der Großstadt Rom im gleichsam simultan gestalteten Jahresablauf von christlichem Festkalender (Feriale) und paganen Fasti Romani erleben konnten. Wir können auf den einzigartigen Zeugniswert des Chronograph von 354 – z. B. auf seine Verknüpfungen von zyklischer Jahreszeit und linearer Geschichtszeit oder auf die gleichsam synkretistische Parataxe von paganem Kultjahr und christlichem Kirchenjahr – hier nicht näher eingehen.7 Der Chronograph von 354 erlaubt uns detaillierte Einblicke in die Zeit des langsamen Wandels der paganen wie der christlichen Religion und natürlich des Verhältnisses der beiden Religionen zueinander, eines Wandels, der in der Stadt Rom selbst um die Mitte des 4. Jahrhunderts noch längst nicht abgeschlossen war. Im historischen Kontext dieses religionsgeschichtlichen Wandels markiert die Depositio episcoporum des Jahres 336 den Beginn der Erinnerungsund Verehrungsgeschichte des römischen Bischofs Silvester I., wie der folgende, zum leichteren Verständnis formal geringfügig abgeänderte Text zeigen kann:8 (27. Dezember) (30. Dezember) (31. Dezember) (10. Januar) (15. Januar) (7. März) (22. April) (2. August) (26. September)
VI III prid. IIII XVIII III X IIII VI
kal. Ianuarias kal. Ianuarias kal. Ianuarias idus Ianuarias kal. Feb. non. Mar. kal. Mai. non. Augustas kal. Octob.
Dionisi, in Callisti Felicis, in Callisti Silvestri, in Priscillae Miltiadis, in Callisti Marcellini, in Priscillae Luci, in Callisti Gai, in Callisti Stephani, in Callisti Eusebii, in Callisti
(gest. 268) (gest. 274) (gest. 335) (gest. 314) (gest. 304) (gest. 254) (gest. 296) (gest. 257) (gest. 309/310)
(8. Dezember) (7. Oktober) (12. April)
VI
idus Decemb. non. Octob. Idus Apr.
Eutychiani, in Callisti Marci, in Balbinae Iuli, in via Aurelia miliario III, in Callisti
(gest. 283) (gest. 336)
prid.
(gest. 352)
Man erkennt sofort, dass die ersten zehn, nach dem Kalenderprinzip geordneten Anniversardaten der römischen Bischöfe von der anlegenden Hand zwischen dem 31. Dezember 335 (dem Todesdatum Silvesters I.) und dem 7. Oktober 336 (dem Todesdatum von Silvesters I. Nachfolger Marcus) zusammengestellt worden sein müssen, während die beiden letzten Anniversardaten des Marcus (336) und des Iulius I. (337–352), der beiden 7 8
Zu diesen Perspektiven anregend Salzman 1990. Text s. Chronographus 70; die (von mir partiell korrigierten) Todesjahre der Bischöfe in runden Klammern hat Mommsen dem Editionstext beigegeben, die ‚übersetzten‘ Monatstage in runden Klammern habe ich zum besseren Verständnis zugefügt.
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unmittelbaren Nachfolger Silvesters I., später, aber noch vor dem Jahre 354, nachgetragen worden sind, weil sie die Kalenderreihenfolge nicht mehr einhalten. Nach der Angabe des jeweiligen Todestages gemäß dem römischen Kalender muss vor den Personennamen im Genitiv das Wort depositio (Beisetzung) und zwischen der Präposition in und dem jeweils zweiten Namen im Genitiv die Ablativform coemeterio ([im] Coemeterium, also ‚in der Katakombe‘ oder ‚auf dem Friedhof‘) ergänzt werden. Das uns besonders interessierende Anniversardatum Silvesters I. lautet also in seiner Vollform: ‚Am Vortage der Kalenden des Januar Beisetzung Silvesters im Coemeterium der Priscilla‘. Die Depositio episcoporum der anlegenden Hand von 336 lokalisiert außer dem Grab Silvesters I. nur noch ein weiteres Grab in das Coemeterium der Priscilla: das Grab des römischen Bischofs Marcellinus (296–304), dessen Beisetzung auf den 15. Januar datiert ist. Ohne auf die strittige Forschungsdiskussion des – sachlich in dieser Form unrichtigen – Befundes hier näher eingehen zu können, darf als deren bisher plausibelstes Ergebnis festgehalten werden, dass mit dem fünften Anniversareintrag der Depositio episcoporum von 336 nicht Marcellinus, sondern wohl nur dessen Nachfolger Marcellus (308/309) gemeint sein kann, dessen Beisetzung im Coemeterium der Priscilla in liturgischen Kalendern des 5. Jahrhunderts am 16. Januar, also nur einen Tag später als in der somit auf ihn gemünzten Notiz der Depositio episcoporum, kommemoriert wird.9 Obwohl die strittige Diskussion über die historischen Identitäten und die Pontifikate der beiden römischen Bischöfe Marcellinus und Marcellus offenbar nicht definitiv allgemein konsensfähig zu entscheiden ist,10 erscheint die Korrektur des MarcellinusEintrages der Depositio episcoporum zugunsten eines Marcellus-Eintrages im Sinne des etwas jüngeren Martyrologium Hieronymianum11 sachlich begründet. Die Beisetzung des Marcellinus im Coemeterium der Priscilla erfolgte nach dem Zeugnis der Pontifikatsbeschreibung dieses Bischofs im römischen Liber Pontificalis am 25. April.12 9
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Vgl. Kirsch 1924, 100f.; Caspar 1928, 321ff.; Schäfer 1932, 27ff.; Valentini/Zucchetti, Codice II, 12, Anm. 1; skeptisch dagegen Pietri 1976, 1, 392f. Zu dieser Diskussion vgl. außer Caspar 1928 noch Röttges 1956, Amore 1957, 1958 u. 1975, 69ff. Der Eintrag im Martyrologium Hieronymianum lautet: XVII kal. Feb. Romae, via Salaria, in cymiterio Priscillae, depositio Marcelli episcopi, zitiert nach Liber Pontificalis I, 10; vgl. Kirsch 1924, 100 mit den handschriftlich bezeugten Textvarianten (depositio) Marcelli episcopi, sancti Marcelli episcopi oder sancti Marcelli papae et confessoris. Amore 1975, 70f. Die kurze Beschreibung des Pontifikates des Marcellinus im römischen Liber Pontificalis schildert, legendarische Tradition rezipierend, den angeblichen Abfall des Bischofs vom christlichen Glauben, der unter dem Druck der letzten großen Verfolgung geopfert und Weihrauch gespendet habe, um dann fortzufahren: Et post paucos dies,
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Die Angaben der Beisetzungs- oder Graborte in der ursprünglichen Version der Depositio episcoporum von 336 vermitteln den Eindruck, als habe zu Beginn des 4. Jahrhunderts ein Ortswechsel der römischen Bischofssepultur, der so gen. ‚Papstgruft‘, vom Coemeterium des Calixtus südlich der Mauern Roms an der Via Appia hin zum Coemeterium der Priscilla nördlich der Mauern Roms an der Via Salaria nova stattgefunden. Dieser Eindruck bestätigt sich auf den ersten Blick angesichts des Befundes, dass vierzehn Gräbern römischer Bischöfe im Calixtus-Coemeterium immerhin sieben solcher Gräber im Priscilla-Coemeterium gegenüberstehen. Denn nach den Pontifikatsbeschreibungen des römischen Liber Pontificalis sind im Coemeterium der Priscilla außer den in der Depositio episcoporum von 336 (bzw. 354) kommemorierten Marcell[in]us (308/309) und Silvester I. (314–335) sowie dem bereits genannten Marcellinus (296–304) noch beigesetzt worden Liberius (352–366),13 Siricius (384–399),14 Caelestinus (422–432)15 und Vigilius (537–555).16 Die Papstgruft des Calixtus-Coemeterium und die über das Priscilla-Coemeterium verteilten Bischofs- bzw. Papstgräber lassen sich in ihrer Bedeutung und topographischen Geschlossenheit nicht auf eine Stufe stellen. Gleichwohl könnte das Priscilla-Coemeterium eine Ausweichmöglichkeit vor dem Druck der Diokletianischen Verfolgung zu Beginn des 4. Jahrhunderts und ihrer Konfiskation christlicher Immobilien gewesen sein.17 Weitergehende Erklärungen oder Deutungen – etwa auch im Hinblick auf das zum ersten Mal bei Leo d. Gr. (440–461) im Jahre 461 vorgenommene und spätestens seit Symmachus
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paenitentiam ductus, ab eodem Diocletiano pro fide Christi cum Claudio et Cyrino et Antonino capite sunt truncati et martyrio coronantur. Et post hoc factum iacuerunt corpora sancta in platea ad exemplum christianorum dies XXV ex iussu Diocletiani. Et exinde Marcellus presbiter collegit noctu corpora (cum presbyteris et diaconibus cum hymnis) et sepelivit in via Salaria, in cymiterio Priscillae, in cubiculum qui patet usque in hodiernum diem, quod ipse praeceperat paenitens dum traheretur ad occisionem, in crypta iuxta corpus sancti Criscentionis, VII kal. mai.; Liber Pontificalis, I, 162; bis auf einige Wortvarianten auch schon in der ersten Ausgabe aus dem früheren 6. Jh., vgl. ebd. I, 73. Liber Pontificalis, I, 208: Qui etiam sepultus est via Salaria, in cymiterio Priscillae, V id. Sept. Liber Pontificalis, I, 216: Qui etiam sepultus est in cymiterio Priscillae, via Salaria, VIII kal. Mart.; ebd. 217, Anm. 6, wird hingewiesen auf den abweichenden Beisetzungstermin im Martyrologium Hieronymianum: VI kal. decemb. Liber Pontificalis, I, 230: Qui etiam sepultus est in cymiterio Priscillae, via Salaria, VIII id. April. Liber Pontificalis, I, 299, über den unglücklichen, in Syrakus auf Sizilien verstorbenen Vigilius: Cuius corpus ductus Romae sepultus est ad sanctum Marcellum Via Salaria; dazu Borgolte 1989, 73f.: „ … es handelte sich um die alte Priscilla-Katakombe, wo neben dem hl. Papst Marcellus auch dessen Nachfolger Silvester I., Liberius, Siricius und Coelestin I. ruhten. Die beste Erklärung für die ungewöhnliche Grabwahl liegt darin, dass die Römer Vigilius’ Willfährigkeit gegenüber Kaiser Justinian in der Frage der Drei Kapitel missbilligten und ihm deshalb das ehrenvolle Begräbnis beim heiligen Petrus verweigerten.“ So Styger 1935, 116; Picard 1969, 734f.; skeptisch Borgolte 1989, 36f.
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(498–514) traditionsbildend gewordene Begräbnis des römischen Papstes in oder bei der Vatikanischen Petersbasilika18 – verbieten sich angesichts des nicht definitiv gelösten Problems der Identität(en) des Marcellinus und des Marcellus. Das Coemeterium Priscillae ist eine der am häufigsten besuchten und trotz vieler noch immer offener Fragen eine der am besten untersuchten und dokumentierten Katakomben der Stadt Rom.19 Die schon vor über drei Jahrzehnten von dem Ingenieur und Archäologen Francesco Tolotti publizierten präzisen Vermessungen und behutsamen Auswertungen20 sind so positiv aufgenommen worden,21 dass der Nichtfachmann sich der (Gedanken-)Führung des Archäologen bedenkenlos anschließen kann. Der Begriff ‚Katakombe‘ bezeichnet, wie man weiß, in der archäologischen Fachsprache „einen großräumigen unterirdischen christlichen Friedhof, gekennzeichnet von einer engen Verflechtung von Gängen und Grabkammern, die intensiv für Bestattungen genutzt wurden“.22 Abgesehen von ihrer weiten Ausdehnung, die nicht primär Ergebnis einer systematischen Planung ist, sondern Spuren einer vorcoemeterialen Nutzung des Areals als Baustoffgrube (Arenarium) sowie als wassertechnische oder hydraulische Leitungssysteme und Reservoire manifestiert, zeichnet die Priscilla-Katakombe ihr Bestand an Martyrer- und Papstgräbern aus. Sie verdankt ihren Ursprung nicht unmittelbar der Anlage eines christlichen Gemeindefriedhofs, sondern wuchs aus mehreren vorausgehenden und zunächst privat genutzten Anlagen zusammen, zu denen neben Höhlungen, Kanälen und Reservoiren auch erste (private) Bestattungen gehört haben dürften. Das besondere Interesse unserer Spurensuche gilt zwei bestimmten Regionen der PriscillaKatakombe: 1) der Region der so gen. ‚Kryptoportikus‘, in deren Umfeld 18 19 20 21
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Vgl. Borgolte 1989, 49ff. Vgl. unlängst noch Sommer 2003, 5f. Vgl. Tolotti 1968, 1970, 1973 und 1978. Vgl. Reekmans 1978, 281f.; Reekmans 1979, 33f.; in seiner Rezension von Tolotti 1970, in: Byzantinische Zeitschrift 74 (1981) 350–354, rühmt Hugo Brandenburg das Buch als „Markstein in der Katakombenforschung und vielleicht eines der wichtigsten Bücher, die in den letzten Jahrzehnten auf dem Gebiete der spätantiken und frühchristlichen Archäologie erschienen sind“ (350), um dann zu resümieren: „keine der bisherigen Ansichten über Ursprung, Entwicklung und Chronologie der Katakombe ist danach heute noch zu vertreten“ (352); vgl. außerdem Weiland 1994, 183: „Es ist sicher nicht zu hoch gegriffen, wenn man behauptet, dass dieses Buch [sc. Tolotti 1970] in der Erforschung der Katakombentopographie Maßstäbe gesetzt hat, hinter die man nicht mehr zurückgehen sollte.“ Fiocchi Nicolai 2000, 9 und ebd. mit dem Hinweis: „Der Begriff ist von der römischen Ortsbezeichnung catacumbas abgeleitet, mit der im 4. Jahrhundert ein am 3. Meilenstein der Via Appia gelegener Ort benannt wurde, der von mehreren Senken und größeren Sandsteingruben gekennzeichnet war (catacumbas vom griechischen « = „bei den Mulden“).
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sich mit Hilfe der Erkenntnisse Tolottis mögliche Gräber römischer Bischöfe identifizieren lassen, und 2) der Region des so gen. ‚Hypogäum der Acilii‘, oberhalb derer sich eine zweiteilige Memorialbasilika befindet, über deren Funktion und Bedeutung noch immer gestritten wird – ein Streit, der sich ebenfalls durch Tolottis Erkenntnisse beenden lassen könnte.23 Da Inschriften oder Epigramme, welche die besonderen Gräber von Martyrern und auch von römischen Bischöfen in der Priscilla-Katakombe kennzeichnen, kaum in situ erhalten sind, sind wir auf literarische Zeugnisse wie den römischen Liber Pontificalis und auf reale oder erinnerte Wahrnehmungen von spätantiken oder frühmittelalterlichen Rompilgern angewiesen, letztere freilich nur dann, wenn sie sich in Itineraren, in so gen. ‚Pilgerführern‘ verschriftet und erhalten haben. In der Ursprungsversion des Liber Pontificalis aus dem früheren 6. Jahrhundert ist die Beschreibung von Silvesters I. Grab eher karg und wenig erhellend, wenn es heißt: Sepultus est via Salaria, in cimiterio Priscillae, miliario ab urbe Roma III, prid. kal. ian.24 Bevor wir die Itinerare oder ‚Pilgerführer‘ des 7. Jahrhunderts zur genaueren Lokalisierung des Silvester-Grabes hinzuziehen, sollten zwei für die frühe Verehrungsgeschichte des Bischofs relevante Zeugnisse zu Wort kommen: 1) die so gen. Papyri von Monza und 2) ein Katalog von insgesamt siebzehn stadtrömischen Coemeterien aus dem 7. Jahrhundert. Bei den Papyri von Monza handelt es sich um eine im Domschatz dieser norditalienischen Bischofstadt aufbewahrte Buchführung und zugleich Etikettierung für kleine Ampullen, die mit Öl aus den Grablampen berühmter Heiliger in den stadtrömischen Katakomben gefüllt waren, die ein sonst nicht näher bekannter (Kleriker) Johannes zur Zeit Papst Gregors des Großen (590–604) der Langobardenkönigin Theodelinde aus Rom besorgt hatte.25 Aus der PriscillaKatakombe hat dieser Johannes Öl von mehreren Martyrergräbern und aus den beiden Grablampen der römischen Bischöfe Marcellus und Silvester als eine Art von ‚Berührungsreliquien‘ mitgebracht,26 offenbar standen von allen in der Katakombe beigesetzten römischen Bischöfen nur diese beiden im Ruf der Heiligkeit. Der Katalog der stadtrömischen Coemeterien aus dem 7. Jahrhundert nennt an erster Stelle unter den siebzehn Katakomben Cy-
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Aus Platzgründen können nicht alle im Folgenden berücksichtigten Befunde Tolottis ausführlich diskutiert und einzeln dokumentiert werden; deshalb sei summarisch auf die Langversion Tolotti 1970 und auf die ‚handlichere‘ Kurzversion Tolotti 1978 verwiesen. Liber Pontificalis, I, 81; die jüngere zweite Version hat im Anschluss an die Lokalisierung des Silvester-Grabes den singulären Zusatz, ebd. I, 187: Qui vero catholicus et confessor quievit … Valentini/Zucchetti, Codice II, 29–47 sowie Itineraria Romana 283–295. Valentini/Zucchetti, Codice II, 41 und Itineraria Romana 292.
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miterium Priscillae ad sanctum Silvestrum via Salaria.27 Wie die Depositio episcoporum von 336 bzw. 354 benennt auch die Ursprungsversion des römischen Liber Pontificalis aus dem früheren 6. Jahrhundert bei der Angabe von Silvesters Grabort das Coemeterium noch nach seiner namengebenden Eigentümerin Priscilla, die das Areal der Gemeinschaft der stadtrömischen Christen geschenkt und wohl zu der Familie der Acilii (Glabriones) gehört hat, die dort private Grabplätze besaß. Auch die Pontifikatsbeschreibung des Papstes Johannes I. (523–526) im Liber Pontificalis erwähnt, dass dieser renovavit cymiterium Priscillae.28 Die Pontifikatsbeschreibung Papst Hadrians I. (772–795) im Liber Pontificalis spricht erneut von einer Renovierung des an der Via Salaria in Ruinen gefallenen cymiterium sancti Silvestri confessoris atque pontificis aliorumque sanctorum multorum.29 Zwischen dem früheren 6. und dem späten 8. Jahrhundert wurde, so deuten wir diesen toponymen Befund, der ursprüngliche Name des Priscilla-Coemeterium aufgegeben zugunsten seiner Umbenennung nach dem dort 336 beigesetzten und besonders verehrten heiligen Confessor und Pontifex Silvester I. Für uns wird dieser Wandel begrifflich erst im Katalog der 17 stadtrömischen Coemeterien aus dem 7. Jahrhundert erkennbar, dessen Zusatz ad sanctum Silvestrum zum ursprünglichen Namen cymiterium Priscillae deshalb nicht vorschnell auf die oberirdische Memorialbasilika fokussiert werden darf. Silvesters Grabplatz war offenbar zu einem das gesamte Coemeterium überstrahlenden Ort der Verehrung des Bischofs geworden. Wo aber ist sein Grab dort zu suchen? Die Ausgrabungen auf dem Areal der Priscilla-Katakombe von 1890 und 1906 haben oberhalb des so gen. ‚Hypogäum der Acilii‘ eine nicht sehr große, in ihrer konkreten Baugestalt jedoch komplexe Coemeterial- oder Friedhofskirche sichtbar werden lassen, die aus zwei kleinen, unmittelbar hintereinander stehenden und nachträglich noch räumlich miteinander verbundenen basilikalen Memorialbauten besteht, deren Böden im Innern mit Gräbern (formae) bedeckt waren und jeweils eine in den unterirdischen Bereich der Priscilla-Katakombe führende Treppe aufwiesen.30 Die ältere (AA)31 der beiden Memorialbasiliken datiert in die ersten Jahrzehnte des 27
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Valentini/Zucchetti, Codice II, 49–66, das Zitat 60; Itineraria Romana 297–301, das Zitat 299. Liber Pontificalis, I, 276. Liber Pontificalis, I, 509. Zu den im Folgenden diskutierten archäologischen Befunden vgl. Tolotti 1970, 112f. und 305 ff. sowie Tolotti 1978, 283ff. Zur leichteren Identifizierung der von uns angesprochenen topographischen Punkte und Flächen des Katakombenareals übernehmen wir die Kennzeichnungssiglen Tolottis aus Buchstaben, Zahlen und Buchstaben-Zahlen-Kombinationen.
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4. Jahrhunderts und hat erst später nachträglich eine Apsis (CC) erhalten. Die jüngere Memorialbasilika (BB), die von Anfang an eine an die Vorderfront der älteren (AA) angrenzende und daher stark abgeflachte Apsis gehabt hat, datiert wohl auch noch in die erste Hälfte des 4. Jahrhunderts und ist möglicherweise erst an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert mit der älteren Basilika zu einer einzigen Memorialbasilika verbunden worden. Die beiden kleinen Basiliken – die ältere (AA) noch ohne die Apsis (CC) – wurden auf einer durch Mauern eingefriedeten Fläche von einigen hundert Quadratmetern errichtet, in deren Nordwestecke sich ein aus zwei Räumen bestehender Bau befunden hat, der seinerseits für die Errichtung der älteren Basilika (AA) abgerissen worden ist. Erst die nachträgliche Apsis (CC) der älteren Basilika (AA) hat das auf solche Weise vorgegebene und teilbebaute Areal überschritten. Der pagane Vorgängerbau der zwei ursprünglich selbstständigen christlichen Memorien datiert ins spätere 2. oder frühe 3. Jahrhundert. Anders als die ältere Forschung meinte, diente dieser Vorgängerbau nach Tolotti nicht der Erholung der Lebenden, sondern der Kommemoration der dort beigesetzten Toten. Auf dem Areal könnte sich – ebenfalls nach Tolottis Erkenntnissen – die in jedem Fall oberirdisch (sub divo) zu positionierende Sepultur der römischen Familie der Acilii Glabriones befunden haben. Wenn diese Annahmen zutreffen, kann man nach dem Bau der christlichen Memorien von einer pagan-christlichen Kontinuität memorialer Benutzung sprechen, die darüber hinaus aufzeigt, dass einfache christliche Bauten bei Martyrer- oder Heiligengräbern aus Traditionen des Totengedenkens hervorgegangen sind, und die zugleich sozusagen topographisch den historischen Zusammenhang zwischen Totenkult und Martyrer- oder Heiligenverehrung unterstreicht.32 Der ältere Memorialbau (AA) und der jüngere Memorialbau (BB) oberhalb des ‚Hypogäum der Acilii‘ dürften wie die schließlich aus beiden neugeschaffene Memorialbasilika dem Gedächtnis aller im Priscilla-Coemeterium beigesetzten Toten – einschließlich der römischen Martyrer und der römischen Bischöfe – gewidmet gewesen sein. Die Deutungstradition, die sich bald nach den Ausgrabungen auf dem Areal der Priscilla-Katakombe gebildet hat, enthält faszinierende Vorstellungen, die jedoch spätestens nach den bahnbrechenden Forschungsergebnissen Tolottis aufzugeben sind, so z. B. die Vorstellung, dass man über die in der Katakombe beigesetzten Martyrer deren Entstehungs- und Benutzungszeit bis in das apostolische Zeitalter zurück verlängern könne, oder die Vorstellung, dass in der Katakombe mit ihren liturgisch-kultisch nutz-
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Vgl. dazu auch Tolotti 1968, 305.
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baren unterirdischen Räumlichkeiten ein frühes Zentrum der römischen Christengemeinde zu erblicken sei – lange vor der innerstädtischen Lateranbasilika, einem Geschenk des ersten christlichen Kaisers Konstantin an den römischen Bischof Silvester, und auch noch vor der berühmteren Calixtus-Katakombe mit ihrer eindrucksvollen Papstgruft.33 Da die Nutzung der stadtrömischen Katakomben für christliche Begräbnisse frühestens seit der Zeit zwischen dem Ende des 2. und der Mitte des 3. Jahrhunderts nachweisbar ist,34 sind solche Vorstellungen längst Forschungsgeschichte. Hartnäckig gehalten bis heute hat sich jedoch die schon von Giovanni Battista de Rossi (1822–1894), dem Begründer der wissenschaftlichen christlichen Archäologie, geäußerte Vorstellung, dass die in den frühmittelalterlichen ‚Pilgerführern‘ (Itinerare) erwähnten vier von insgesamt sieben römischen Bischöfen bzw. Päpsten, die in der Priscilla-Katakombe beigesetzt worden sind, ihr Grab in der oberirdischen Memorialbasilika gefunden haben müssten.35 Die oberirdische, aus zwei Memorialbauten zusammengesetzte Coemeterialbasilika wurde und wird in Anpassung an den Sprachgebrauch der Itinerare als basilica oder ecclesia s. Silvestri bezeichnet, ohne zu differenzieren, ob es sich um eine von Silvester erbaute Kirche handelt, was zumindest partiell zutreffen dürfte, oder ob Silvester in dieser Kirche beigesetzt worden ist, sie also nach ihrem vermeintlichen Patrozinium auch ‚S. Silvestro alla Via Salaria‘ genannt werden könnte. Die Auffassung, dass in der oberirdischen Coemeterialbasilika der Priscilla-Katakombe eine mit der Papstgruft der Calixtus-Katakombe konkurrierende Päpste-Sepultur existiert habe, kann sich – zumindest auf den ersten Blick – auf das Zeugnis der nur in einer einzigen Handschrift des ausgehenden 8. Jahrhunderts überlieferten, jedoch zwischen 625 und 649 verfassten Notitia ecclesiarum urbis Romae berufen, die nach ihrer zunächst in Salzburg, heute in Wien aufbewahrten Handschrift auch als ‚Itinerarium Salisburgense‘ bezeichnet wird36. Die Notitia bietet keine vollständige Beschreibung der in der Titelformel als ecclesiae bezeichneten Katakomben Roms, sondern beschränkt sich darauf, die Aufmerksamkeit der Rompilger zielstrebig auf die – aus der Sicht des früheren 7. Jahrhunderts – wichtigsten 33
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Zu solchen Traditionen und Deutungen vgl. die gebündelte Wiedergabe bei Leclercq 1948, Sp. 1804 ff. Fiocchi-Nicolai 2000, 17. Zur Auffassung de Rossis, der an eine ursprünglich dreichorige Basilika dachte mit zwei Papstgräbern im linken Chor und zwei weiteren Papstgräbern im rechten Chor sowie dem Hauptaltar mit dem Grab der Martyrer Felix und Philippus im mittleren Chor vgl. Tolotti 1970, 255ff. Noch Fiocchi-Nicolai 2000, 56 spricht von der „Basilika mit den Gräbern der Märtyrer Felix und Philipp und Papst Sylvesters“ oberhalb des Hypogäum der Acilii. Vgl. Valentini/Zucchetti, Codice II, 67–99; Itineraria Romana 303–311.
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Gräber jeder Katakombe zu lenken. Die verschriftete topographische Wahrnehmung dieses ‚Pilgerführers‘, der in seiner kurzen Beschreibung des Priscilla-Coemeteriums außer wenigen Martyrern vier römische Bischöfe bzw. Päpste namentlich erwähnt, ist ohne konkrete Autopsie vor Ort weder in der Reihenfolge der einzelnen Lokalisierungen noch und vor allem in der Logik der Unterscheidung zwischen oberirdischem und unterirdischem Niveau der Katakombe problemlos nachzuvollziehen. Wir können uns aber auch hier dem scharfsichtigen Blick und der behutsamen Auswertung des Ingenieurs und Archäologen Tolotti anvertrauen und bieten wie er den Text, nach Informationseinheiten strukturiert, in (deutscher) Übersetzung:37 „(1) Danach gehst du dieselbe Strasse (= die Via Salaria nova) hinauf bis zur Kirche des heiligen Silvester, (2) wo eine große Anzahl Heiliger ruht: (3) an erster Stelle der heilige Papst und Bekenner Silvester und zu seinen Füßen der heilige Papst Siricius und auf der rechten Seite der Papst Caelestinus und der Bischof Marcellus; (4) die Martyrer Philippus und Felix sowie eine Anzahl Heiliger unter dem Hochaltar, (5) und in einer Höhle der Martyrer Crescentius, (6) und in einer anderen (Höhle) die Martyrerin Prisca, und Fimitis (?) ruht in dem Cubiculum, bevor du (wieder) hinausgehst, (7) und in einer anderen (Höhle) die heilige Martyrerin Pudentiana und (die heilige Martyrerin) Praxedis.“ Die erste von insgesamt sieben Informationseinheiten des Textes gibt gleichsam die Adresse der Katakombe an der Via Salaria nova an, benennt das Areal aber nicht mehr nach der ehemaligen Besitzerin Coemeterium Priscillae, sondern orientiert sich stattdessen an dem monumentalen ‚Wahrzeichen‘ des Coemeterium: an der oberirdischen ‚Kirche des heiligen Silvester‘
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Wir können hier aus Platzgründen nicht ausführlicher die sehr detaillierte Analyse des Textausschnitts bei Tolotti 1970, 253ff., und deren Zusammenfassung bei Tolotti 1978, 312 ff., behandeln und beschränken uns auf eine Ergebniswiedergabe. Der im Folgenden gebotene lateinische Text wird zitiert nach Itineraria Romana 306: 10. Postea ascende[n]s eadem via (sc. Salaria) ad sancti Silvestri ecclesiam; ibi multitudo sanctorum pausat; primum Silvester sanctus papa et confessor, et ad pedes eius sanctus Syricus (i.e. Siricius) papa, et in dextera parte Caelestinus papa et Marcellus episcopus, Philippus et Felix martires et multitudo sanctorum sub altare maiore; et in spelunca Crescencius martir, et in altera sancta Prisca martir; et Fimitis (korrumpiert?) pausat in cubiculo quando exeas, et in altera sancta Potenciana martir et Praxidis; die Lesartenkritik haben wir der Übersichtlichkeit wegen in runden Klammern in den Text selbst integriert; zum Text s. auch Valentini/Zucchetti, Codice II, 76f.
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(sancti Silvestri ecclesia). Die Auslassung des ursprünglichen Namens der Katakombe teilt die Notitia ecclesiarum urbis Romae mit den beiden anderen hier zu berücksichtigenden ‚Pilgerführern‘, dem Itinerar De locis sanctis martyrum, quae sunt foris civitatis Romae, zeitgenössisch zur Notitia in den Jahren 635 bis 645 entstanden,38 und das so gen. ‚Itinerarium Malmesburiense‘, zwar erst in den Gesta regum Anglorum Wilhelms von Malmesbury (IV, 351–352) aus dem früheren 12. Jahrhundert überliefert, aber wohl schon zwischen 648–682 entstanden.39 Das Itinerar De locis sanctis orientiert sich mit dem blassen Hinweis, dass an derselben Via Salaria nova Silvester ruhe40 ebenso am monumentalen ‚Wahrzeichen‘ der Priscilla-Katakombe wie das ‚Itinerarium Malmesburiense‘ mit dem konkreten Hinweis, dass der Pilger, wenn er vom Stadttor, das ursprünglich ‚Salzstraßen-Tor‘, zeitgenössisch jedoch ‚St.-Silvester-Tor‘ hieß, komme, nach einiger Zeit zur ‚Basilika des heiligen Silvester‘ gelange, der dort von einem Marmorsarkophag umschlossen liege.41 Die im Itinerar De locis sanctis wie auch im ‚Itinerarium Malmesburiense‘ folgende Beschreibung der Priscilla-Katakombe, deren namentlich genannte Martyrer und Bischöfe nur partiell untereinander und mit den Namensnennungen der Notitia ecclesiarum urbis Romae übereinstimmen, wirken relativ unstrukturiert. Ganz anders die Beschreibung der Katakombe in der Notitia, die klar strukturiert ist, die konkrete Raumwahrnehmungen suggeriert und die wir deshalb im Rahmen unserer Suche nach dem Grab Silvesters als Glücksfall der Überlieferung werten können. Nach der summarischen Feststellung, dass in der Priscilla-Katakombe eine Menge Heiliger ruhe (2), erfolgt sogleich und an erster Stelle der Hinweis auf das Grab des ‚heiligen Papstes und Bekenners Silvester‘ im topographischen Kontext der drei weiteren Bischofs- bzw. Papstgräber des ‚heiligen Papstes Siricius‘ sowie des ‚Papstes Caelestinus‘ und des ‚Bischofs
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Vgl. Valentini/Zucchetti, Codice II, 101–131; Itineraria Romana 313–322. Vgl. Valentini /Zucchetti, Codice II, 133–153; Itineraria Romana 323–328. Vgl. den Text Itineraria Romana 320: 24. Iuxta eandem viam Salariam sanctus Silvester requiescit [; ad pedes eius sanctus Siricius papa], et alii quamplurimi, id est sanctus Caelestinus [papa], sancta Potentiana, sancta Praxidis, sanctus Marcellus [episcopus], sanctus Crescentianus, sanctus Maurus, sanctus Marcellinus, sancta Prisca [sancta Fimitis (?)], sanctus Paulus, sanctus Felicis unus de VII, sanctus Philippus unus de VII, sanctus Semetrius, et in una sepultura [sub altare maiore] CCCLXV. Die Zufügungen in eckigen Klammern sind vom Editor Fr. Glorie offenbar zum besseren Verständnis des unvollständig wirkenden Textes aus der entsprechenden Beschreibung in der Notitia ecclesiarum urbis Romae übernommen; vgl. Valentini/Zucchetti, Codice II, 116f. Vgl. den Text Itineraria Romana 325f.: 5. Quarta porta et via Salaria, quae modo sancti Silvestri dicitur. … Deinde basilica sancti Silvestri, ubi iacet marmoreo tumulo coopertus; et martyres Caelestinus, Philippus et Felix; et ibidem martyres trecenti sexaginta quinque in uno sepulchro requiescunt; et prope Paulus et Crescentianus, Prisca, Semetrius, Praxedis, Potentianapausant; vgl. Valentini/Zucchetti, Codice II, 116f.
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Marcellus‘ (3).42 Silvester ist offenbar nicht nur Namengeber der oberirdischen Coemeterialbasilika als des monumentalen ‚Wahrzeichens‘ der Katakombe, sondern sein Grab ist aus der Sicht der frühmittelalterlichen Pilger und der sie leitenden Itinerare zugleich zum wichtigsten oder Hauptgrab des gesamten Coemeteriumsareals geworden. Kein Wunder also, dass dieser verehrungsgeschichtliche Befund, der die Ausstrahlung des SilvesterGrabes auf das gesamte Priscilla-Coemeterium bezeugt, die moderne Vorstellung von einer Grabeskirche Silvesters I. mit dem Patrozinium dieses römischen Bischofs suggeriert hat.43 Die klar strukturierte Beschreibung der Notitia ecclesiarum urbis Romae autorisiert in keiner Weise die Schlussfolgerung, dass sich das Silvester-Grab im räumlichen Kontext der drei anderen Gräber oberhalb der Katakombe in der aus zwei kleinen Memorialbauten gebildeten Coemeterialbasilika befindet. Das Silvester-Grab bildet in dieser Beschreibung schließlich auch den Orientierungspunkt für die Raumwahrnehmung der gesamten Vier-Bischöfe- bzw. Vier-Päpste-Sepultur durch den Autor der Notitia, insofern er aus der Sicht eines Betrachters deutlich zwischen einer linken Seite mit dem Silvester-Grab und ‚zu dessen Füßen‘ dem Siricius-Grab und einer rechten Seite mit den Gräbern des Caelestinus und des Marcellus unterscheidet, wobei nach der Logik der Aufzählung – gleichsam um eine Blickachse des Betrachters gruppiert – das Silvester- und das Caelestinus-Grab wie das Siricius- und das Marcellus-Grab miteinander korrespondieren. Sich dieses sepulkrale Ensemble in der oberirdischen Coemeterialbasilika, möglicherweise sogar in der später dem älteren Memorialbau (AA) zugefügten und nicht sehr geräumigen Apsis (CC) als dem einzig angemessen ausgezeichneten Grabort, vorzustellen, ist schwierig, zumal wenn man berücksichtigt, dass die Notitia ecclesiarum urbis Romae im Anschluss an die Vier-Bischöfebzw. Vier-Päpste-Sepultur von den zwei Martyrern Philippus und Felix spricht, die zusammen mit einer Anzahl Heiliger ‚unter dem Hochaltar‘ (sub altare maiore) ruhen (4). Diese Lokalisierung muss man wohl auf die zugefügte Apsis (CC) der oberirdischen Coemeterialbasilika beziehen, in der Reste eines Grabes (ö) gefunden worden sind, das in der Richtung der Achse der gesamten Basilika positioniert gewesen und vom Autor der Notitia als Hoch- und zugleich (Martyrer-)Grabaltar identifiziert worden ist.44 42
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Auf die unterschiedliche Charakterisierung der vier römischen Bischöfe – a) des Silvester, des Siricius und des Caelestinus als ‚Papst‘, des Marcellus aber (nur) als ‚Bischof‘, b) des Silvester und des Siricius als ‚heilig‘ und c) des Silvester zusätzlich noch als ‚Bekenner‘ – näher einzugehen, erfordert eine Analyse solcher Attributierungen im gesamten Text der Notitia, was hier nicht möglich ist. Zu Entstehung, Funktion und Tradition einer Grabeskirche vgl. Kötting 1984. Vgl. Tolotti 1970, 315ff.; Tolotti 1973; Tolotti 1978, 283ff.
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Da das Martyrium des Philippus und des Felix, die nach legendarischer Tradition zwei der insgesamt sieben Söhne der römischen Heiligen Felicitas gewesen sind, ins 2. Jahrhundert datiert, die beiden Martyrer also lange vor der Errichtung der Apsis (CC) der oberirdischen Coemeterialbasilika im unterirdischen Bereich der Katakombe beigesetzt worden sind,45 vertritt Tolotti die plausible Auffassung, dass die sterblichen Reste der beiden Martyrer nach Fertigstellung von Apsis (CC) und Grabaltar (ö) aus der unterirdischen Katakombe in die oberirdische Coemeterialbasilika transferiert worden sind. Eine solche Translation innerhalb des Katakombenareals, möglicherweise unter Billigung oder sogar auf Veranlassung des römischen Bischofs Damasus (366–384), der den beiden Martyrern – offenbar noch ohne Kenntnis der späteren Tradition der Felicitas-Söhne – ein Epigramm gewidmet hat,46 eine solche Translation also ließ sich als Verbesserung der Grabesruhe rechtfertigen und verstieß somit nicht gegen das gerade in den 80er Jahren des 4. Jahrhunderts verschärfte römische Recht der Unversehrtheit von Gräbern.47 Unmittelbar nach der Beschreibung des Martyrergrabes in der oberirdischen Coemeterialbasilika führt der Autor der Notitia ecclesiarum urbis Romae uns – gleichsam antipodisch zum Martyrergrab ‚unter dem Hochaltar‘ – in die unterirdische Katakombe mit dem Hinweis auf ‚die Höhle des Martyrers Crescentius‘ (5), und in diesem Bereich bleiben auch die Lokalisierungen der weiteren Martyrergräber (6, 7), auf die hier nicht näher einzugehen ist. Die kurze, fragmentarische Beschreibung der Priscilla-Katakombe will, wie andere Beschreibungen in anderen Itineraren oder ‚Pilgerführern‘ auch, dem Orientierungsbedürfnis frühmittelalterlicher Rompilger dienen, die das Coemeterium nicht besichtigen, sondern die wichtigsten Gräber der dort ruhenden Heiligen zum eigenen Seelenheil oder zur spirituel45
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Die ebenfalls beim Chronograph von 354 überlieferte Depositio martyrum, ein Festkalender aller von der römischen Kirche gefeierten Martyrergedächtnisse, kommemoriert am 10. Juli in der ihr eigentümlichen Kurzform alle sieben Söhne, die jedoch auf vier verschiedene Coemeterien verteilt sind; s. Chronographus 71: VI idus [Iulias] Felicis et Filippi in Priscillae / et in Iordanorum, Martialis Vitalis Alexandri / et in Maximi Silani. Hunc Silanum martirem Novati furati sunt. / et in Pretextatae, Ianuari. Zu den legendarischen Traditionen vgl. Text und Kommentar der Depositio martyrum bei Valentini/Zucchetti, Codice II, 20f. Erstmals entwickelt wurde diese Hypothese bei Tolotti 1970, 317f., danach erneut behandelt und mit einer Parallele in S. Nazario zu Mailand aus der Zeit des Bischofs Ambrosius, der die Reliquien der heiligen Nazarius und Celsus in die Basilika transferiert und ein Epigramm verfasst hat; vgl. auch die Zusammenfassung bei Tolotti 1978, 283f. und 294. Das Epigramm des Damasus, der offenbar nur sehr wenig über die von ihm mit einem Epigramm bewidmeten Martyrer Philippus und Felix wusste, hätte an den Längsseiten des Grabaltars (ö) in der Apsis (CC) der Coemeterialbasilika ausreichend Platz gefunden. Zum Epigramm selbst vgl. Schäfer 1932, 63ff. Zu dieser Problematik Kötting 1958, 1964, 1965 und 1984.
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len Erbauung besuchen wollten. Man darf deshalb auch nicht eine sachlich neutrale Beschreibung der Topographie einer Katakombe erwarten, die, moderner Wahrnehmungslogik folgend, vom oberirdischen zum unterirdischen Bereich fortschreitet. Stattdessen beginnt die Beschreibung in der Notitia mit dem monumentalen ‚Wahrzeichen‘ des Coemeteriums, an dem der auf der Via Salaria nova wandernde Pilger sich orientieren kann und das, analog zu der von den übrigen literarischen Zeugnissen gespiegelten toponymen Entwicklung, das Coemeterium selbst in der Wahrnehmung der Pilger wie der Pilgerführer zu einer ‚Silvester-Katakombe‘ hat werden lassen. Folgerichtig wird der Pilger deshalb auch sofort mit dem wichtigsten oder Hauptgrab der Katakombe, dem Grab Silvesters I., im topographischen Kontext einer Vier-Bischöfe- oder Vier-Päpste-Sepultur konfrontiert. Erst danach erfolgt der Hinweis auf den Grabaltar der zwei angeblichen Felicitas-Söhne und Martyrer Philippus und Felix, der trotz eines den beiden Martyrern gewidmeten und an den Längsseiten des Altars angebrachten Epigramms nicht die gleiche Ausstrahlung gehabt zu haben scheint wie das Grab Silvesters, der ja nicht Martyrer, sondern ‚nur‘ Bekenner (Confessor) gewesen ist. Die aus dem Überlieferungsglücksfall der äußerst präzisen Beschreibung des Coemeteriums der Priscilla in der Notitia ecclesiarum urbis Romae abgeleitete Wahrnehmungslogik der frühmittelalterlichen Rompilger und die auf dem gleichen Wege rekonstruierbar gewordene Vier-Bischöfe- oder Vier-Päpste-Sepultur innerhalb des Coemeteriums vermeiden zwar plausibel die Schwierigkeit, sich in der räumlichen Enge der oberirdischen Coemeterialbasilika an hervorragender Stelle, also in der wohl erst im späteren 4. Jahrhundert hinzugefügten Apsis (CC), neben dem Grabaltar der beiden Martyrer auch noch diese Sepultur vorstellen zu sollen. Die historisch-literarische Problemlösung bliebe indessen ein zwar logisches, aber nur theoretisches Konstrukt ohne Bezug zur Realität der Priscilla-Katakombe, gäbe es nicht den zweiten, wissenschaftlichen Glücksfall, dass es der scharfsichtigen Kombinationsgabe des Ingenieurs und Archäologen Tolotti gelungen ist, ein bis in Einzelheiten hinein passendes topographisches Pendant zur Vier-Bischöfe- oder Vier-Päpste-Sepultur der Notitia zu finden.48 Entdeckt wurde dieses Monument im unterirdischen Areal der Katakombe bereits bei den Ausgrabungen von 1901, aber – infolge der damaligen Fixiertheit auf die oberirdische sancti Silvestri ecclesia als Ort der vier Bischofs- oder Papstgräber – nicht in der von Tolotti erschlossenen Bedeutung erkannt. Es handelt sich um eine achteckige Krypta (g25) nördlich der so gen. Krypto-
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Vgl. Tolotti 1970, 237ff., 243, fig. 11.3 und tavola III sowie Tolotti 1978, 307ff.
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portikus (g1), des wohl schönsten, sepulkral wie liturgisch genutzten Stückes der gesamten Katakombe. Dieses Oktogon (g25), das von der älteren Forschung als ‚Nymphaeum‘ ( = ‚Nymphengrotte‘) bezeichnet, inzwischen jedoch längst als Mausoleum identifiziert worden ist, zeigt durch die Unregelmäßigkeit seines Grundrisses, dass sich sein Erbauer bereits bestehenden topographisch-baulichen Vorgaben der Katakombenregion anpassen musste, dass es sich also um eine jüngere Veränderung gehandelt hat. Das oktogonale Mausoleum (g25) enthält vier halbkreisförmige Nischen im Wechsel mit vier rechteckigen Nischen bzw. Öffnungen. Anfangs enthielt das Mausoleum (g25) ein einziges Grab (), im Norden und somit gegenüber dem ursprünglichen Haupteingang gelegen, der eine Zuwegung von der Kryptoportikus (g1) her ermöglichte. In späterer Zeit wurde der Haupteingang durch die Anlage eines zweiten großen Arkosolgrabes () blockiert, das seinerseits nun gegenüber dem ältesten oder Ursprungsgrab () liegt. Seit diesem Zeitpunkt gelangt man in das oktogonale Mausoleum (g25) durch einen ‚Seiteneingang‘, der es mit dem von der älteren Forschung ‚Andron‘ ( = ‚Männersaal‘) genannten, breiten Gang (g20) verbindet. Zu einem noch späteren Zeitpunkt wurde vor dem großen Arkosolgrab (), dessen Wanne ungewöhnlich hoch gelegen ist, und zwar unmittelbar auf den Boden davor, ein drittes Grab () angelegt. Neben dem (chronologisch) zweiten Grab () befindet sich eine zylindrische Mensa, eine ähnliche Mensa ist wohl auch für das Ursprungsgrab () anzunehmen. Für solche Mensen sind zwei Funktionen denkbar: entweder können darauf dem Toten bei einem zu seinen Ehren abgehaltenen Mahl Spenden dargebracht werden oder darauf brannte fortwährend eine Öllampe. Eine Mensa macht aus dem ihr zugeordneten Grab zwar noch kein Martyrergrab, sie darf jedoch als Zeichen einer besonderen Verehrung des dort Beigesetzten gewertet werden. In die ersten (zwei) Jahrzehnte des 4. Jahrhunderts datierbar, ist das oktogonale Mausoleum (g25) für den in dem Ursprungsgrab () Beigesetzten errichtet worden, bei dem es sich vielleicht um einen Martyrer der letzten Verfolgung gehandelt hat, weil die aufwändige Sepultur das Grab zu einem besonderen Grab macht, es gleichsam im Kontext der Priscilla-Katakombe ‚monumentalisiert‘. Auch der im (chronologisch) zweiten Grab () Beigesetzte genoss besondere Verehrung, was wenige Jahrzehnte nach dem Ende der Verfolgung durchaus bedeuten kann, dass die Person die Verfolgung ebenfalls erduldet, aber überlebt hat und in diesem Sinne als Bekenner (Confessor) gelten darf. Für das (chronologisch) dritte Grab () ist keine besondere Verehrung auszumachen, für den dort Beigesetzten war es wahrscheinlich schon Auszeichnung genug, überhaupt ein Grab in diesem oktogonalen Mausoleum (g 25) zu erhalten.
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Auf den archäologischen Befund des oktogonalen Mausoleums (g25) passt nach Tolottis ebenso behutsamer wie plausibler Deutung die in der Notitia ecclesiarum urbis Romae des 7. Jahrhunderts beschriebene Vier-Bischöfe- oder Vier-Päpste-Sepultur ziemlich genau. Wenn man von dem von der älteren Forschung unzutreffend als ‚Andron‘ bezeichneten breiteren Gang (g20) aus das Mausoleum (g25) betritt und dabei, weil dies der einzig verbliebene Eingang war, die Perspektive der Pilger des 7. Jahrhunderts einnimmt, lässt sich das nunmehr auf der rechten Seite positionierte Ursprungsgrab () dem Marcellus (308/309), das auf der linken Seite etwas erhöht liegende Arkosolgrab () dem Silvester (314–335) und das ebenfalls auf der linken Seite (tiefer) liegende Grab () dem Siricius (384–399) zuschreiben. Allein das vierte Grab des Caelestinus (422–432) in der Sepulturbeschreibung der Notitia hat heute in dem oktogonalen Mausoleum (g25) keine empirische Entsprechung mehr, lässt sich jedoch problemlos auf der rechten Seite oberhalb des Marcellus-Grabes rekonstruieren. Die noch sichtbare Konfiguration des Silvester-Grabes () und des Siricius-Grabes () auf der linken Seite, bei der ersteres oberhalb von letzterem positioniert ist, erklärt gleichsam empirisch die Aussage der Notitia, dass Siricius ‚zu Füßen‘ (ad pedes) Silvesters ruhe.49 Wenn das oktogonale Mausoleum (g25) zu Ehren des Marcellus errichtet worden ist, wenn außerdem Marcellus nach dem ihm von Damasus gewidmeten Epigramm wohl von dem als ‚Tyrann‘ bezeichneten Augustus Maxentius ins Exil geschickt worden und dort schließlich gestorben ist,50 ist zu fragen, wer dem Marcellus das Mausoleum errichten ließ. Sein unmittelbarer Nachfolger Eusebius (309 oder 310?) wurde nach wenigen Monaten, wie seinem ihm von Damasus gewidmeten Epigramm zu entnehmen ist, ebenfalls von Maxentius ins Exil nach Sizilien verbannt und starb dort.51 Die sterblichen Überreste des Eusebius dürfte wohl dessen Nachfolger Miltiades (311–314) im Calixtus-Coemeterium an der Via Appia beigesetzt haben. Es ist schwer vorstellbar, dass und weshalb Miltiades, der selber auch im Calixtus-Coemeterium beigesetzt ist,52 den Marcellus nicht in diesem Coemeterium, sondern in dem neu errichteten oktogonalen Mausoleum (g25) des Priscilla-Coemeterium an der Via Salaria nova beigesetzt haben soll. Also käme am ehesten Silvester I. für die Errichtung des okto49
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Diesen Befund hat Tolotti 1970, 256f., zusätzlich gesichert durch Vergleich mit einer – hier nicht näher zu behandelnden Aussage der Inschriftensammlung (Sylloge) von Verdun aus der zweiten Hälfte des 8. oder dem Beginn des 9. Jahrhunderts. Vgl. Schäfer 1932, 27ff. Vgl. Schäfer 1932, 34ff. Dies bestätigt für Eusebius und Miltiades die oben zitierte Depositio episcoporum von 336 bzw. 354.
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gonalen Mausoleums (g25) in der Priscilla-Katakombe in Betracht,53 wo er dann selber auch begraben und besonders verehrt worden ist. Was bisher häufig von der oberirdischen Coemeterialbasilika, die jedoch dem Gedenken aller dort Beigesetzten gewidmet war, vermutet wurde, trifft also besser auf das unterirdische Mausoleum (g25) zu. Zu den übrigen im Priscilla-Coemeterium nach dem Zeugnis des Liber Pontificalis beigesetzten römischen Bischöfen bleibt festzustellen, dass Liberius (352–366) und Vigilius (538–555) in den frühmittelalterlichen Itineraren oder ‚Pilgerführern‘ nicht auftauchen, dass Tolotti jedoch einen möglichen Grabort des Liberius glaubt identifizieren zu können, dass dieser Grabort jedoch keinesfalls in dem oktogonalen Mausoleum (g25) gesucht werden darf.54 Das Grab des Marcellinus (296–304) gilt als sicher identifiziert, wie seine Pontifikatsbeschreibung im Liber Pontificalis angibt,55 westlich des ‚Hypogäum der Acilii‘ und unmittelbar neben dem Grab des Martyrers Crescention, eines Opfers der Diokletianischen Verfolgung. Die Beschreibung der Notitia ecclesiarum urbis Romae nennt ihn Crescentius und lokalisiert sein Grab in einer unterirdischen spelunca. Crescention, der einzige Martyrer, dessen Namen man auch heute noch in der Priscilla-Katakombe lesen kann, und Marcellinus, der römische Bischof, der lange im Verdacht stand, während der Diokletianischen Verfolgung – sei es durch Weihrauchopfer oder sei es durch Auslieferung heiliger Schriften und geweihter Kultgeräte oder sei es durch beides – einer vorübergehenden Apostasie schuldig geworden zu sein, ruhten unterhalb der Coemeterialbasilika in zwei nebeneinander liegenden Cubicula. Bei der Zuweisung eines Cubiculum an jeden von beiden half die vor der Mitte des 4. Jahrhunderts erfolgte Ausmalung eines dieser Cubicula, wo die alttestamentliche Szene der drei standhaften jungen Hebräer im Feuerofen dargestellt wird, die das goldene Standbild 53
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So auch Borgolte 1989, 36, der jedoch die archäologischen Ergebnisse und mehr noch die behutsamen Deutungen Tolottis eher skeptisch beurteilt. Überhaupt ist, was hier nicht näher darzulegen ist, die zwischen archäologischer Akzeptanz und historischer Skepsis schwankende Resonanz der Arbeiten Tolottis schwer nachzuvollziehen. Tolotti 1970, 234ff., spricht von einem großen, mit einer Apsis versehenen Mausoleum (g7) am östlichen Ende der Kryptoportikus, das von den ersten Jahrzehnten bis zum Ende des 4. Jahrhunderts genutzt worden sei und in dem (im Unterschied zu dem engräumigeren oktogonalen Mausoleum [g25]) das insgesamt 54 Verse zählende Epigramm des Damasus für seinen unmittelbaren Vorgänger hätte untergebracht werden können. Liber Pontificalis, ed. Duchesne, I, 73 (rekonstruierte Ursprungsfassung): Hier wird zunächst Bezug genommen auf die angebliche Apostasie des Marcellinus während der Diokletianischen Verfolgung, eine Schuld, die der Bischof jedoch durch den Martyrertod zusammen mit einigen Gefährten bereut und getilgt habe. Tunc Marcellus presbiter collegit noctu corpora sanctorum et sepelivit in via Salaria, in cimiterio Priscillae, in cubiculum qui patet usque in hodiernum diem, quod ipse preceperat penitens dum traheretur ad occisionem, in cripta, iuxta corpus sancti Criscentionis, VII kal. mai.
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des Königs Nebukadnezar nicht verehren wollten (Dn 3).56 Diese Szene hätte, wenn sie im Cubiculum des Crescention (CII bzw. C1) dargestellt gewesen wäre, einen unzulässigen Affront gegenüber dem im Nachbarcubiculum (CI bzw. C2) ruhenden, der vorübergehenden Apostasie verdächtigten Marcellinus bedeutet, während umgekehrt diese Szene im Cubiculum des Marcellinus eine Apologie oder sogar Rehabilitation am eigenen Grabe suggeriert hätte. Dies spricht dafür, das Cubiculum mit der alttestamentlichen Szene als Grabort des Marcellinus zu identifizieren.57 Unsere Spurensuche zur frühen Erinnerungs- und Verehrungsgeschichte Silvesters I. hat, ungeachtet der weiter zu diskutierenden Probleme der historischen Identitäten des Marcellinus und seines unmittelbaren Nachfolgers Marcellus, das Ergebnis gebracht, dass das Silvester-Grab in der Priscilla-Katakombe an der Via Salaria nova ein Ort intensiver und im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten immer ausstrahlungskräftiger gewordenen Verehrung dieses römischen Bekenners und Bischofs gewesen ist.
II. Ein Ort der Erinnerung oder ein Ort der Verehrung: Titulus Equitii – Titulus Silvestri – S. Martino ai Monti Es wäre interessant zu wissen, in welcher konkreten Form die Verehrung Silvesters I. in der Priscilla-Katakombe stattgefunden hat, doch darüber ist leider nichts überliefert. Man kann jedoch annehmen, dass zum Beispiel jede private Kommemoration und Verehrung des Bischofs in dem oktogonalen Mausoleum (g25) mit der Vier-Bischöfe- oder Vier-Päpste-Sepultur möglich war, wo zumindest die Gräber des Marcellus und des Silvester durch Mensen mit brennenden Öllampen darauf und somit als Ort besonderer Verehrung durch die römischen Christen gekennzeichnet waren. Das Marcellus-Grab war außerdem seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts mit einem Epigramm des Papstes Damasus (366–384) bewidmet. Gemeinschaftliche liturgische Begehungen der Memoria Silvestri hätten auf den breiteren Gang (g20) vor dem Mausoleum (g25) oder, was wahrscheinlicher ist, in die nahe gelegene Kryptoportikus (g1) oder sogar in die oberirdische Coemeterialbasilika ausweichen können, die ja – in eindrucksvoller Nutzungskontinuität zu ihrem paganen Vorgängerbau – dem Gedenken aller in der Katakombe Beigesetzten dienen sollte. Solche gemeinschaftlichen Gedenkgottesdienste zu Ehren Silvesters I. werden mit dazu beigetragen ha56 57
Tolotti 1970, 299ff. Vgl. Tolotti 1978, 297. Die jeweilige Doppelsigle erklärt sich aus dem unterschiedlichen Siglengebrauch in Tolotti 1970 und 1978.
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ben, dass die partiell noch von ihm selbst erbaute und ausgestattete oberirdische Coemeterialbasilika in der Vorstellung der Pilger zur sancti Silvestri ecclesia (basilica) geworden ist, für die der Bischof als Titular in der zweifachen Bedeutung des Gründers und des heiligen Patrons gegolten hat. Seit dem Beginn der christlichen Martyrerverehrung, also etwa seit der Mitte des 2. Jahrhunderts, und seit dem Vorhandensein christlicher Gemeindefriedhöfe mit den Gräbern auch von Martyrern aus den Gemeinden selbst, also etwa seit der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert, wandelte sich auch das Totengedenken von einer mehr familiären zu einer gemeindlichen Begehung.58 So wurde z. B. das aus der pagan-religiösen Umwelt übernommene familiäre Totengedächtnismahl, das am Beisetzungstage selbst und an bestimmten Gedenktagen stattfinden konnte, zunächst nach und nach ergänzt und schließlich ersetzt durch die christliche Eucharistiefeier. Gleichwohl gingen Nichtchristen wie Christen ganz selbstverständlich von der Anwesenheit der Toten, der einfachen wie der besonderen Toten, in ihren Gräbern aus, weil sich so das Gedächtnis sinnfällig durch wiederkehrende konkrete Kontaktaufnahme mit dem Toten an seinem Grab pflegen und vor allem als „Teil der geschuldeten Sorge der Lebenden für den Toten“ abgelten ließ.59 Die Vorstellung von der Gegenwart des Toten im Grabe manifestiert sich in besonderer Weise bei der Verehrung der Martyrer als Fürsprecher (Interzessoren), der man einen „doppelten lokalen Bezug“ zuschreiben kann, insofern sie sich „primär auf eine lokale Persönlichkeit bezieht und den Kult an einem Ort ausübt, der materiell die größte Nähe zum Verehrten verspricht, seinem (oder ihrem) Grab“.60 Diese Ortsbindung, für die im Rahmen des Martyrerkultes auch der Schauplatz der Hinrichtung als Erinnerungs- und Verehrungsort in Frage kam, konnte problematisch werden, wenn das liturgische oder kultische Gedächtnis zu einer gemeindlichen Begehung wurde und der Grabort des kommemorierten Verstorbenen oder Martyrers keinen geeigneten Raum für einen solchen Gedächtnisgottesdienst bot, wie er in der Regel in innerstädtischen Gotteshäusern, in den so 58 59 60
Vgl. dazu Kötting 1984, 201ff. Gessel 1980, 63 und 64, das Zitat. Rüpke 1995, 476. Zu der hier wie im allgemeinen Totenkult vorausgesetzten Anwesenheit des Verstorbenen beim Grab vgl. Gessel 1980, 63: „Altchristlich betrachtet wird man hier die Form einer allgemein geübten Volksfrömmigkeit sehen müssen, die einerseits archaische Gewohnheiten des Totenkults fortführt, ohne sich im einzelnen der diesem Kult zugrunde liegenden Vorstellungen noch reflexiv bewußt zu sein, die aber andererseits unter Vernachlässigung der gelehrten und nur von einer Minderheit gelebten Theologie von einer lokalen Bindung des Toten an sein Grab bis zum Zeitpunkt der leiblichen Auferstehung ausgeht.“ Über die Schwierigkeit, die Anwesenheit des heiligen Fürsprechers bei Gott und seine gleichzeitig enge Verbindung mit dem Grab als dem ‚Haus des Toten‘, vgl. auch Kötting 1964, 85.
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gen. Titelkirchen vorhanden war. Denn im gesamten vorchristlichen Altertum galten Regeln und/oder Gesetze, dass die Ruheplätze der Verstorbenen nicht im Umkreis oder in der Nachbarschaft der Lebenden angelegt werden durften.61 In Rom wurde dieses Verbot noch bis zum Ende des 4. Jahrhunderts immer wieder eingeschärft, lagen daher pagane wie christliche Coemeterien außerhalb der Stadtmauern. Zwar konnte das Problem räumlicher Enge im oberirdischen wie unterirdischen Bereich der Katakomben durch den Neubau größerer, gottesdiensttauglicher Coemeterialbasiliken gelöst werden, was nach dem ‚Frieden der Kirche‘ unter Konstantin dem Großen – z. B. bei der vatikanischen Petrus-Basilika – auch tatsächlich geschah. Aber die Eucharistiefeier als Bestandteil der gemeindlichen Gedächtnisfeiern erforderte einen Presbyter. An den Coemeterialkirchen gab es jedoch im 4. und 5. Jahrhundert keine fest angestellten Presbyter, so dass die liturgische Betreuung – z. B. bei der Beisetzung der verstorbenen Gläubigen und bei den Gedenkgottesdiensten für diese, aber auch bei den jährlichen Festtagen zu Ehren der in einer Katakombe verehrten Martyrer – den innerstädtischen Titelkirchen zukam, was zu einer engeren Bindung geführt hat zwischen außer- oder vorstädtischen Coemeterien und diesen innerstädtischen Titelkirchen, die ihrerseits regelmäßig von Presbytern und anderen Klerikern betreut wurden. Eine besondere Beziehung zur Verehrung der römischen Martyrer oder zur Heiligenverehrung überhaupt hatten die Titelkirchen ursprünglich nicht.62 Über eine spezifische Beziehung zwischen dem Coemeterium der Priscilla an der Via Salaria nova nördlich der Stadtmauern Roms, wo wir das Grab Silvesters I. identifizieren können, und einer bestimmten innerstädtischen Titelkirche gibt es bisher keine gesicherten Kenntnisse. Deshalb ist die Frage nicht so leicht zu beantworten, weshalb der Nichtmartyrer Silvester I. ausgerechnet in dem titulus Equitii, für den auch der jüngere Name eines titulus Silvestri überliefert ist, am Hang des Oppius, eines Promunturium oder Sporns des Esquilin, besonders verehrt wurde. Die Antwort fällt auch deshalb schwer, weil wiederum – wie schon bei der konkreten Lokalisierung von Silvesters Grab in der Priscilla-Katakombe – literarische Zeugnisse und archäologische Befunde nicht zueinander zu passen scheinen. Die Verwirrung ist besonders deutlich in der Beschreibung von Silvesters I. Pontifikat im römischen Liber Pontificalis, allerdings nicht in dessen Ursprungsversion, sondern in der wohl um die Mitte des 6. Jahrhunderts überarbeiteten zweiten Version. Nach kurzen, von legendarischen SilvesterTraditionen imprägnierten, einleitenden Sätzen heißt es dort, dass Silvester 61 62
Vgl. Kötting 1984, 199f. Vgl. Kirsch 1918, 136f. und 201ff.; Pietri 1976, 1, 121ff.
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auf dem innerstädtischen Grundstück eines seiner Presbyter mit Namen Equitius eine Kirche errichten ließ und diese Kirche als ‚römische Titelkirche gründete‘, und zwar in der Nachbarschaft der Domitianischen Thermen, und diese Titelkirche werde ‚bis zum heutigen Tage‘ titulus Equitii genannt; im Anschluss daran folgt eine Liste über die Ausstattung der Kirche mit liturgischen Geräten und Liegenschaften.63 Am Ende der Pontifikatsbeschreibung Silvesters, die man wegen ihres hauptsächlichen Inhalts besser als Beschreibung der kirchlichen Bautätigkeit des Kaisers Konstantin des Großen und seiner Familie bezeichnen könnte, ist erneut die Rede von der Gründung einer römischen Titelkirche durch Silvester: Hisdem temporibus constituit beatus Silvester in urbe Roma titulum suum in regione III iuxta thermas Domitianas qui cognominantur Traianas, titulum Silvestri. Nach einer zweiten Liste über die Ausstattung des titulus Silvestri, die beträchtliche Unterschiede zur ersten Liste des titulus Equitii aufweist,64 aber wie diese auf die Schenkergenerosität des Kaisers Konstantin zurückgeführt wird,65 folgt noch der Hinweis: Obtulit et omnia necessaria titulo Equiti.66 Die Unterschiede bei der Lokalisierung der Titelkirche(n) in den beiden Notizen lassen sich harmonisieren zu der Ortsangabe ‚bei den Trajansthermen‘.67 Obwohl die beiden Aussagen über die Titelkirchen-Gründung(en) Silvesters offensichtlich spätere Zufügungen der überarbeiteten jüngeren Version des römischen Liber Pontificalis sind und quellenkritisch zumindest Zurückhaltung geboten scheint, die naheliegende Frage, ob Silvester I. nun eine Titelkirche oder zwei Titelkirchen gegründet hat, ist – erst einmal gestellt – gleichsam nicht wieder zurückzunehmen, und um ihre Beantwortung wurde und wird noch immer gestritten. Man kann dabei idealtypisch zwei hauptsächliche Argumentationsfolgen unterscheiden. Für die ältere Forschung mit Johann Peter Kirsch und René Vielliard als Protagonisten waren zwei Titelkirchen in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander nicht vorstellbar.68 Misstrauisch gegenüber den erst in der jüngeren Version des Liber Pontificalis in die Beschreibung des Silvester-Pontifikates integrierten 63
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Liber Pontificalis, I, 170: Hic fecit in urbe Roma ecclesiam in praedium cuiusdam presbiteri sui, qui cognominabatur Equitius, quem titulum Romanum constituit, iuxta termas Domitianas, qui usque in hodiernum diem appellatur titulus Equitii … Vgl. dazu Vielliard 1931, 117ff.; vgl. auch Vielliard 1928. Vgl. Liber Pontificalis, I, 170, den Hinweis ex dono Augusti Constantini sowie I, 187, den Hinweis ubi donavit Constantinus Augustus. Dieser Hinweis sowie der gesamte Satz über die Gründung des titulus Silvestri s. Liber Pontificalis, I, 187; zum gesamten Problem vgl. Pietri 1976, 1, 17ff. Coarelli 1975, 204, zu den Trajansthermen: „Im Gegensatz zu dem, was einige späte Quellen überliefern und einige moderne Wissenschaftler kritiklos übernommen haben, wurde der Bau nicht von Domitian begonnen. Das Bauwerk ist rein trajanisch.“ Dazu und zum folgenden vgl. Kirsch 1918, 42ff. sowie Vielliard 1931, 5ff.
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Kurzberichten über die Gründung des titulus Equitii und des titulus Silvestri argwöhnte man entweder gedankenloses Auseinanderreißen von Urkunden- oder Aktenmaterial zu ein und derselben Titelkirche durch den jüngeren Redaktor des Liber Pontificalis oder – noch darüber hinausgehend und das möglicherweise unterschiedliche Quellenmaterial harmonisierend – rekonstruierte man einen Titularwandel für ein und dieselbe Kirche vom titulus Equitii zum titulus Silvestri. Diese Auffassung konnte sich stützen auf das Zeugnis von zwei Listen mit Unterschriften von Presbytern der römischen Titelkirchen, die an der 499 unter Symmachus (498–514) und an der 595 unter Gregor dem Großen (590–604) veranstalteten römischen Synode teilgenommen und die ihrem Namen die jeweilige Titelkirche hinzugefügt haben, in der sie ihren spirituellen und pastoralen Dienst verrichteten.69 Der uns besonders interessierende Befund dieser Listenzeugnisse besagt, dass die Liste zu 499 drei Unterschriften mit der Herkunftsangabe des titulus Equitii und keine Unterschrift mit dem Zusatz titulus Silvestri enthält, während die Liste zu 595 zwei Unterschriften mit der Herkunftsangabe des titulus Silvestri und keine Unterschrift mehr mit dem Zusatz des titulus Equitii aufwies. Dieser Befund wurde als Indiz für einen zwischen 499 und 595 erfolgten Titularwandel vom Presbyter Equitius zum Gründer und Bischof Silvester gewertet, der in der Titelkirche besonders verehrt worden sei. Ein solcher Titularwandel war an sich nichts Besonderes, er kam bei römischen Titelkirchen vom 4. bis 6. Jahrhundert häufiger vor. In der Regel wurde in solchen Fällen der ältere Titular, bei dem es sich um den Gründer und zumeist Vorbesitzer der in eine Kirche umgewandelten Liegenschaft handelte, ersetzt durch einen in der Titelkirche verehrten oder mit ihr besonders verbundenen Heiligen, bei dem es sich meistens um eine Martyrerin oder einen Martyrer handelte.70 Grundsätzlich konnte auf solche Weise auch der ältere Titular, Gründer der Kirche und/oder Vorbesitzer der Liegenschaft, zum Martyrer oder Heiligen befördert werden. Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung entstand in Rom eine lebendige und phantasievolle hagiographische Literatur.71 Nur wenn man von einigen Details der beiden Kurzberichte des Liber Pontificalis abstrahiert, scheint das skizzierte Schema eines Titularwandels auf die Angaben zum titulus Equitii und zum titulus Silvestri anwendbar zu sein: Der Presbyter Equitius, der der römischen Kirche zu gottesdienstlichen Zwecken eine Liegenschaft schenkte, auf der sein Bischof Silvester eine Titelkirche gründete, wurde als Titular er69
70 71
Der Quellenbefund ist in zwei gut miteinander vergleichbaren Listen aufgearbeitet und verglichen bei Kirsch 1918, 7f. Zu solchen Titularwechseln vgl. Kirsch 1918, 146ff. Vgl. dazu Kirsch 1918, 148ff.
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setzt durch eben diesen Silvester, der folgerichtig – in der historischen Rückschau unbezweifelt als Heiliger geltend – spätestens eineinhalb Jahrhunderte nach seinem Tod (335) in der Titelkirche so verehrt wurde, das ihm neben der Funktion ihres Gründers auch die Funktion ihres heiligen Patrons zugesprochen wurde. Somit wäre der umbenannte titulus Silvestri, den wir wegen seiner vermuteten Lage am Hang des Mons Oppius als ‚S. Silvestro ai Monti‘ bezeichnen können, in dieser doppelten Funktion seines Titulars in dessen früher Erinnerungs- und Verehrungsgeschichte ein Konkurrent der oberirdischen Coemeterialbasilika der Priscilla-Katakombe gewesen, die wir aus der Sicht der frühmittelalterlichen Pilger als ‚S. Silvestro alla Via Salaria‘ bezeichnen können. In dem Ehrgeiz, die Ursprünge des Systems der römischen Titelkirchen als der ekklesialen Infrastruktur zur spirituellen und pastoralen Versorgung der über die Großstadt Rom verstreuten einigen Zehntausend Christen72 in vorkonstantinische oder zumindest in frühkonstantinische Zeit zu datieren, wurde in der älteren Forschung erwogen, dass Silvester schon als Presbyter im titulus Equitii gewirkt habe und dass dies zusätzlich seine besondere Verbundenheit mit der Titelkirche erklären könnte.73 Eine derartige Vermutung widerspricht jedoch der wörtlichen Aussage des Liber Pontificalis, dass der Presbyter Equitius dem Bischof (nicht dem Presbyter!) Silvester eine Liegenschaft zur Gründung einer Titelkirche überlassen habe, oder sie stellt die Zugehörigkeit der beiden Kurzberichte über die Gründung von Titelkirchen zur Pontifikatsbeschreibung Silvesters überhaupt in Frage. Schwierigkeiten bereiten der Hypothese vom Titularwandel ein und derselben Titelkirche auch noch andere konkrete Aussagen der jüngeren Redaktion des Liber Pontificalis. In dem ersten Kurzbericht über die Gründung der Titelkirche des Equitius heißt es, dass diese bis zum heutigen Tage (usque in hodiernum diem) als titulus Equitii bezeichnet werde. Unklar ist, auf welche Zeit das ‚bis zum heutigen Tage‘ zu beziehen ist, auf die Zeit, aus der das vom Redaktor der überarbeiteten jüngeren Version des Liber Pontificalis benutzte Quellenmaterial stammte, oder auf die Zeit des Redaktors selbst, also auf etwa die Mitte des 6. Jahrhunderts. Selbst wenn die Zeit der Entstehung des benutzten Quellenmaterials gemeint sein sollte, bleibt die abschließende Bemerkung des zweiten Kurzberichts über die Gründung einer Titelkirche des Silvester erklärungsbedürftig, dass Silvester nach der Gründung dieser Titelkirche noch alles Erforderliche für die Titelkirche des 72 73
Vgl. dazu Fürst 1967, 14ff. Vgl. Vielliard 1931, 21ff., behauptet nicht nur, dass Silvester im Titulus des Equitius als Presbyter liturgischen und pastoralen Dienst erfüllt hat, sondern charakterisiert diese Auffassung als bei dieser Titelkirche beheimateten Volksglauben.
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Equitius veranlasst habe (Obtulit et omnia necessaria titulo Equiti). Denn dieser Schlussbemerkung muss man entnehmen, dass zum Zeitpunkt der Gründung des titulus Silvestri durch Silvester der ebenfalls von ihm gegründete titulus Equitii – zumindest in der Vorstellung des Redaktors – weiter existiert hat, dass also das oben genannte usque in hodiernum diem auf die Zeit des Redaktors zu beziehen ist und dass die von ihm nachträglich in die Beschreibung von Silvesters I. Pontifikat eingeschobenen Kurzberichte nicht auf einen Titularwechsel ein und derselben Titelkirche, sondern auf die Existenz zweier Titelkirchen nebeneinander am Hang des Mons Oppius hinweisen. Befragen wir also die 1927–1930 gewonnenen archäologischen Befunde und vertrauen uns dabei der (Gedanken-)Führung Richard Krautheimers an, der diese Befunde – vorläufig abschließend – 1971 präsentierte und den wir als Repräsentanten der zweiten Argumentationsfolge betrachten können, die eher der Annahme von zwei Titelkirchen am Hang des Mons Oppius zuneigt.74 An der Stelle des Mons Oppius, an der man den titulus Equitii oder den titulus Silvestri oder beide suchen muss, erhebt sich heute die Kirche S. Martino ai Monti, bisweilen im Blick auf ein historisches Doppelpatrozinium auch SS. Silvestro e Martino ai Monti genannt. In ihrer frühmittelalterlichen Bausubstanz geht diese Kirche auf die Päpste Sergius II. (844–847) und Leo IV. (847–855) zurück. Westlich dieser Martinskirche und unterhalb der an die Kirche grenzenden Gebäude des Konvents der Karmeliter befinden sich gut erhaltene und inzwischen abgesicherte Räumlichkeiten eines römischen Hauses aus dem 3. Jahrhundert, dessen Bodenniveau zehn Meter tiefer liegt als dasjenige der aktuellen Martinskirche und dessen Erdgeschoss insgesamt zwölf Raumeinheiten, zum überwiegenden Teil mit Gewölbejochen, aufweist.75 Dieses römische Haus, genauer der Kern des Gebäudes, der im Erdgeschoss aus einem großen Raum mit zwei in der Mitte befindlichen Pfeilern und sechs Gewölbejochen besteht, ist allgemein als titulus Silvestri identifiziert worden, weil er sich zur Versammlung einer kleineren Gemeinde zu eignen scheint. Oberhalb der Raumeinheit C76 an der Südwestecke des römischen Hauses hat es übrigens im Bereich der mittelalterlichen Konventsgebäude zeitweilig eine mit Fresken geschmückte Kapelle gegeben, die dem Hl. Silvester geweiht war. Diese Kapelle, die das gleiche Bodenniveau wie die aktuelle Martinskirche gehabt hat, wurde 1927 im Zusammenhang mit 74 75
76
Zum Folgenden vgl. Krautheimer 1971, 87ff. Übersichtlich wiedergegeben in Grundrissen auf tavola III bei Krautheimer 1971. Das römische Haus ist heute von der Krypta der Martinskirche aus zu erreichen. Um die von uns gemachten Angaben schnell und effektiv überprüfen zu können, werden die von Krautheimer 1971, tavola III gewählten Siglen übernommen
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den damaligen Ausgrabungen und Restaurierungen vollständig und ersatzlos abgerissen.77 Die ursprüngliche, vorchristliche Nutzung des Saales mit den zwei Mittelpfeilern und den sechs Gewölbejochen ist noch immer nicht überzeugend geklärt. René Vielliard und andere haben ihn als Versammlungsort einer christlichen Gemeinde schon im 3. Jahrhundert identifizieren zu können geglaubt, während Krautheimer dies für noch längst nicht bewiesen hält. Konkrete gesicherte Beweise für eine christliche Nutzung des Saales als Versammlungs- und Kultraum fehlen bis zum Beginn des 6. Jahrhunderts. Dagegen könnte der Saal in vorchristlicher Nutzung eine Art Bazar oder überdachter Markt gewesen, also kommerziell genutzt worden sein. In seiner Pontifikatsbeschreibung des Symmachus (498–514) teilt der Liber Pontificalis mit, dass dieser Papst innerhalb der Stadt Rom basilicam sanctorum Silvestri et Martini neu gebaut habe iuxta Traianas.78 Die Lokalisierung des Kirchenneubaus ‚bei den Trajansthermen‘ führt uns in die Umgebung der Titelkirche auf dem Mons Oppius. Die historiographische (zugleich ‚schismatische‘) Konkurrenzschrift zum römischen Liber Pontificalis, das nur fragmentarisch erhaltene, zwischen 514 und 519 entstandene so gen. Fragmentum Laurentianum (Veronense) beschreibt denselben Vorgang mit den Worten: Hic (sc. Symmachus) beati Martini ecclesiam iuxta sanctum Silvestrem Palatini inlustris viri pecuniis fabricans et exornans, eo ipso instante dedicavit.79 Der wohl dem Symmachus nahestehende Autor des Liber Pontificalis spricht also vom Neubau einer (Doppel-) Kirche mit dem (Doppel-)Patrozinium Silvesters und Martins (von Tours), der Autor des Fragmentum, der dem damaligen Gegenpapst Laurentius verbunden ist, spricht dagegen vom Bau einer Kirche ‚neben dem heiligen Silvester‘, also neben einem Oratorium (einer Kirche/Kapelle) Silvesters oder gar neben dem titulus Silvestri. Entweder hatte – nach der Hypothese des Titularwandels – dieser Wandel vom titulus Equitii zum titulus Silvestri in dem römischen Gebäude westlich der Martinskirche, das mit der Lokalisierung des Fragmentum Laurentianum (Veronense) gemeint sein muss, schon stattgefunden oder – nach der Hypothese von den möglicherweise zwei Titelkirchen – das römische Gebäude war von Beginn seiner christlichen Nutzung an dem Andenken und der Verehrung Silvesters gewidmet. Im zweiten Fall müsste die christliche Nutzung des römischen Gebäudes aus dem 3. Jahrhundert später begonnen haben, als man bisher annimmt. Krautheimer geht davon aus, dass die von Papst Symmachus (498–514) neu erbaute Kirche des Hl. Martin, die im 77 78 79
Krautheimer 1971, 96. Liber Pontificalis, I, 262. Liber Pontificalis, I, 46
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Fragmentum Laurentianum iuxta sanctum Silvestrem lokalisiert wird, gleichsam in das Gebäude des alten titulus Equitii hineingebaut worden sein müsse, und dass die dreischiffige Martinskirche auf solche Weise die ihr an Ort und Stelle vorausgehende, ältere Titelkirche baulich wie rechtlich ersetzt haben dürfte. Diese Hypothese stützt sich nicht allein auf archäologische Befunde, sondern beruht leider auch auf einer falschen Lesart der Unterschriften der römischen Synode von 499, der zufolge die Presbyter der Titelkirche des Equitius bei ihrer Unterschrift ihre kirchliche Zugehörigkeit nicht einfach mit presb. Tit. Aequitii angegeben, sondern stattdessen als presb. Sci. Martini tit. Aequitii, also mit der zusätzlichen Herkunftsangabe der Kirche des Hl. Martin unterzeichnet haben sollen. Endgültig zu überprüfen sein wird diese Hypothese, der jüngst mit guten Argumenten widersprochen worden ist, wohl erst durch neue Grabungen unter der jetzigen Kirche S. Martino ai Monti, unter der sich nach Krautheimers Hypothese Reste der alten Titelkirche des Equitius befinden könnten.80 Wir können die komplizierte Diskussion über die so schwer miteinander harmonisierbaren literarischen und archäologischen Befunde hier nicht detaillierter ausbreiten, halten aber als wichtiges Teilergebnis unserer Spurensuche zur frühen Erinnerungs- und Verehrungsgeschichte Silvesters I. fest, dass Papst Symmachus die Kirche des Hl. Martin von Tours unmittelbar neben einem Ort der besonderen Verehrung seines Vorgängers Silvester gebaut hat, mag dieser Verehrungsort nun ein Oratorium, eine Kapelle oder eine regelrechte Titelkirche in den Räumen eines spätrömischen Hauses gewesen sein. Die Möglichkeit, dass dieser Verehrungsort Silvesters durch Titularwechsel im alten Equitius-Titel entstanden ist, hat für unsere Spurensuche keine unmittelbare Bedeutung. Denn das für den christlichen Kult umgewandelte Haus kann, wie oben festgestellt wurde, auch kein Schauplatz von Silvesters angeblichem Presbyterdienst in der Titelkirche des Equitius und deshalb auch kein biographischer Erinnerungsort an den späteren Bischof Silvester gewesen sein. Dass es sich jedoch um einen Ort der besonderen Verehrung Silvesters vom 6. bis 9. Jahrhundert gehandelt hat, steht außer Zweifel, weil dieser Befund durch die ältesten konkreten Beweise für eine christlich-kultische Nutzung des römischen Hauses bestätigt wird. Dessen Kern- oder Hauptraum mit den zwei Mittelpfeilern und den 80
Östlich an das römische Haus, das im späteren 5. oder frühen 6. Jahrhundert zur Titelkirche Silvesters umgewandelt worden ist, stoßen Reste eines Gebäudes P aus römischer Zeit, dessen größerer Teil aber von S. Martino ai Monti überbaut worden ist; vgl. Krautheimer 1971, 123ff. Die Hypothese Krautheimers, die sich auf die angebliche Unterschrift der Presbyter als presb. Sci. Martini tit. Equitii stützt, widerlegt Wirbelauer 1993, 159ff., in einem kurzen, sehr plausiblen Kapitel „SS. Silvestro e Martino ai Monti“ ebd., 160 und Anm. 192, mit dem Hinweis auf das fehlerhafte Zitat der Unterschriftenliste von 499.
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sechs Gewölbejochen weist ein in der so gen. ‚Bischofsnische‘ unterhalb des Gewölbejochs F angebrachtes Mosaikbild auf, das aller Wahrscheinlichkeit nach Silvester I. gewidmet ist und als ältestes bekanntes Bild des Bischofs gelten darf. Dieses im Laufe der Jahrhunderte stark in Mitleidenschaft gezogene Mosaik zeigt eine mit Pontifikalgewändern bekleidete männliche Person, deren rechte Hand im Segens- und/oder Redegestus erhoben ist, während die verhüllte linke Hand einen Codex oder ein Buch hält.81 Ob und, wenn ja, in welcher Tradition dieses Bild des bischöflichen Lehrers Silvester steht, ist nicht geklärt. Es könnte beeinflusst sein von den römischen Silvester-Akten (Actus Silvestri), deren ältere lateinische Ursprungsfassung A(1) ins späte 4. bis frühe 5. Jahrhundert datiert, deren jüngere lateinische Ursprungsfassung B(1) etwa zeitgenössisch zu dem SilvesterBild des Silvester-Titulus auf dem Esquilin entstanden sein dürfte.82 Denn der dritte und umfangreichste Teil beider Ursprungsfassungen stellt Silvester als Protagonisten der christlichen Religion in eine Disputation mit zwölf Rabbinen als Repräsentanten der jüdischen Religion über den wahren (monotheistischen) Gottesglauben, bei der jede Partei die gegnerische Partei durch deren eigene Heilige Schrift zu widerlegen sucht: Juden mit Hilfe des Neuen Testaments gegen Christen und Christen mit Hilfe des Alten Testaments gegen Juden.83 Das Pseudo-Decretum Gelasianum aus dem früheren 6. Jahrhundert gibt in seinem ‚Bücher-Index‘ (Decretum de libris recipiendis et non recipiendis) – nicht ohne Sorge, aber gleichsam unter dem Druck der römischen ‚Katholiken‘ – die actus beati Silvestri apostolicae sedis praesulis zur Lektüre frei, obwohl der Autor des Textes unbekannt sei (was eigentlich zur Zurückhaltung mahnen sollte), weil jedoch die Silvester-Akten von vielen ‚Katholiken‘ Roms und in anderen Kirchen gelesen werden.84 Wenn auch vielleicht noch nicht im Bild des bischöflichen Lehrers Silvester des titulus Silvestri bei S. Martino ai Monti an der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert, so doch sicher an gleicher Stelle um die Mitte des 9. Jahrhunderts ist der Einfluss der römischen Silvester-Akten auf den besonderen Verehrungsort Silvesters I. nachweisbar. Denn auf einem Pfeiler (p) des 81
82
83 84
Zu dem häufig erwähnten Mosaikbild vgl. Vielliard 1931, 50ff., 51, fig. 22 „Le pape saint Silvestre – Mosaique de Symmaque (498–514)“ sowie 52, fig. 23 „Niche épiscopale“. Pohlkamp 1992, 152ff. der Vergleich der beiden Ursprungsfassungen A(1) und B(1) der Actus Silvestri sowie 178f. zur Datierung der Fassung B(1) an die Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert; vgl. auch Pohlkamp 1988, 420 mit Anm. 25. Dazu Pohlkamp 2007, 95ff. von Dobschütz 1912, 42, 222ff. (IV,4): … item actus beati Silvestri apostolicae sedis praesulis, licet eius qui conscripserit nomen ignoretur, a multis tamen in urbe Roma catholicis legi cognovimus et pro antiquo usu multae hoc imitantur ecclesiae.
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Saales mit den zwei Mittelpfeilern und den sechs Gewölbejochen ist dargestellt ein Bild, auf dem Silvester, vor dem Tempel der altrömischen Göttin Vesta am Forum Romanum stehend, einen schrecklichen Drachen (= eine große Schlange) bezwungen hat, mit der – wie das gesamte Fresko – nicht mehr vollständig lesbaren Bildunterschrift: + VBI S[AN]C[TV]S SILVESTER ORE [LIGAT oder: LIGAVIT] DRACONE[M].85 Mit anderen Fresken hat dieses Bild Papst Leo IV. (847–855) dort angebracht, der seinerseits ebenfalls als ‚Drachenbezwinger‘ in das kulturelle Gedächtnis der Christenheit eingegangen ist.86 Ein Indiz für die bereits an der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert stärker werdende Verehrung Silvesters I. ist indessen eine von den Karmeliten neben S. Martino ai Monti 1632 in ihrem Garten gefundene, stark angegriffene Silberschale, die einst eine Glasschale mit Öl getragen hat und als (Hänge-)Lampe benutzt worden ist. Die Lampe wurde u. a. auf Grund der am oberen Rand laufenden Inschrift in die Zeit vom Ende des 4. bis zum Anfang des 6. Jahrhunderts, überwiegend jedoch ins spätere 5. Jahrhundert datiert.87 Die Inschrift, die die Lampe als ein Votivgeschenk an Silvester I. deklariert, lautet nach einem zu Beginn gesetzten Christogramm: SANCTO SILVESTRIO ANCILLA SVA VOTVM SOLVIT. Diese Votivgabe indiziert private Verehrung, nicht jedoch offizielle Approbation und kultische Verehrung, welche die römische Kirche auch noch zu dieser Zeit lediglich den Martyrern zugestand. Dazu passt der liturgiegeschichtliche Befund, dass die römische Kirche bis ins 6. Jahrhundert die alljährliche Memoria Silvestri offenbar nur als einfaches liturgisches Depositionsgedächtnis begangen hat, wenn die römischen Christen, unter denen nach dem Zeugnis des Pseudo-Decretum Gelasianum die Silvester-Akten (actus beati Silvestri apostolicae sedis praesulis) wie ein literarischer Bestseller kursierten, Gott in liturgischen Orationen baten, er möge dem confessor et episcopus Silvester die Gemeinschaft der Heiligen (sanctorum societas) und die ewige Seligkeit (beatitudo sempiterna) gewähren.88 Mit solchen Gebetsbitten feierte man keinen Martyrer oder Heiligen, die eher als Interzessoren für andere bei Gott angerufen wurden. Wie es scheint, hat sich bei der offiziellen Memoria Silvestri seit der Depositio episcoporum von 336 nichts geändert. Denn rö85
86 87 88
Vielliard 1931, 95 und 98, fig. 48; zu der in den römischen Silvester-Akten überlieferten Erzählung von Silvesters Sieg über eine große Schlange (draco) und die religionsgeschichtliche Auswertung dieser Erzählung vgl. Pohlkamp 1983 mit ausführlicher Berücksichtigung der älteren Forschungsdiskussion; neuerdings Pohlkamp 2007, 107 ff. das Kapitel über: „Vom Schlangen-Kult der römischen Vestalen zur Verehrung des ‚Höchsten Gottes‘ des Kaisers Konstantin.“ Dazu Pohlkamp 1983, 48f. Vielliard 1931, 121ff. und 122, fig. 63 bis 125, fig. 66. Pohlkamp 1992, 187.
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mische Bischöfe, die als Martyrer und Heilige kultisch verehrt wurden, sind in die ebenfalls beim ‚Chronograph von 354‘ überlieferten Depositio martyrum eingetragen, die zusammen mit der Depositio episcoporum das Feriale, den Festkalender der römischen Kirche bildete.89 Das jährliche Gedächtnis der in der Depositio episcoporum genannten Bischöfe muss sich von demjenigen der in der Depositio martyrum genannten Martyrer-Bischöfe liturgisch unterschieden haben.90 Die Memoria eines Martyrers ist treffend als „ein aus dem Rahmen des Alltags gehobenes Totengedächtnis“ charakterisiert worden.91 Ein wichtiger Unterschied zwischen dem Gedächtnis einfacher Christen und den Kommemorationen von Martyrern und Bischöfen besteht darin, dass das Totengedächtnis der Martyrer und Bischöfe nicht mehr Privatangelegenheit von Angehörigen war, sondern von der Gemeinde bzw. von der Kirche als solcher begangen wurde.92 Solange Angehörige oder auch Freunde das Totengedächtnis hielten, mag dieses für zwei bis drei Generationen gesichert gewesen sein. Der liturgisch gefeierte Kult der Martyrer ist also, von der Bedeutung der jeweils kommemorierten Person abgesehen, vor allem dadurch vom normalen Totenkult verschieden, „daß ihn die offizielle Gemeinde besorgt, wodurch zugleich seine unbeschränkte Fortdauer verbürgt ist. Erst im 4. Jh. gewinnt der Märtyrerkult nach außenhin die uns vertraute Gestalt einer großartigen Festlichkeit, die sich unter Beteiligung von viel Volk in einer prächtigen Kirche vollzieht.“93 Dass sich die römische Kirche in vergleichbarer Weise der Memoria ihrer Bischöfe annimmt, mag eine Begründung finden in dem Gedanken, dass diese als die Repräsentanten der apostolischen Überlieferung (traditio apostolica) galten, deren Orthodoxie durch eine bis in das ‚apostolische Zeitalter‘ zurückgeführte, lückenlose Bischofsliste gewährleistet war. Die über das normale, von der Kirche spirituell, pastoral und liturgisch betreute Totengedächtnis hinausgehende Memoria römischer Bischöfe, die nicht Martyrer waren, sondern allenfalls – wie Silvester I. – als Bekenner (confessor) galten, ehrte dann nicht primär persönliche Heiligkeit, sondern Amtscharisma oder Amtsheiligkeit.94 Eine Liste der römischen Bischöfe, die von Petrus und Paulus bis Liberius (352–366) reicht und ‚Catalogus Liberianus‘ genannt wird, aber nicht ganz lückenlos ist, bietet auch der ‚Chro-
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Chronographus 71 f.; Valentini/Zucchetti II, 17ff. Vgl. Aigrain 1953, 14ff. Stuiber 1960, 29, im Anschluss an Franz Josef Dölger. Dazu und zum Folgenden Stuiber 1960, 29ff. Stuiber 1960, 30. Zum Verhältnis von persönlicher Heiligkeit und Amtsheiligkeit im Kontext der Papstgeschichte vgl. Fuhrmann 1998, 26ff.
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nograph von 354‘ unmittelbar im Anschluss an die Depositio martyrum.95 Der Eintrag Silvesters I. in die Depositio episcoporum führt selbst bei einem Bekenner-Bischof wie ihm nicht automatisch zu kultischen Ehren. Dass Papst Symmachus (498–514) entweder eine (Doppel-)Kirche mit dem (Doppel-)Patrozinium der Heiligen Silvester und Martin oder dem gallischen Bischof allein, aber unmittelbar neben dem Heiligtum bzw. der Titelkirche Silvesters eine neue Kirche errichtet hat und dass durch eine solche (titularische) Gemeinschaft oder (ekklesiale) Nachbarschaft der breiter akzeptierte Bekenner-Bischof Martin von Tours dem einheimischen BekennerBischof Silvester I. zu besonderer (kultischer) Verehrung auf dem Mons Oppius verholfen habe96, ist eine ingeniöse, aber nicht zu beweisende Vermutung. Eine weitere, im Kontext römischer hagiographischer Legenden des 5. bis 7. Jahrhunderts auf den ersten Blick durchaus plausible Hypothese betrifft die mögliche Beziehung der Titelkirche des Equitius, die nach der Hypothese vom Titularwandel später titulus Silvestri geheißen haben soll, zu den römischen Silvester-Akten (Actus Silvestri). Der hochangesehene Bollandist und wissenschaftliche Hagiograph Hippolyte Delehaye hat bei seiner Zeugniskritik dieser hagiographischen Legenden eher en passant angeregt, dass ein Dichter diese in ihrer Mehrheit unförmigen und unbedeutenden Texte verweben könnte zu einem Epos der Roma Christiana ‚von der Gründung der Mutter und Herrin der Kirchen durch den heiligen Petrus über die blutigen Kämpfe der Verfolgungen bis zum Triumph unter Silvester und Konstantin‘.97 Er würdigte gleichwohl die Actus Silvestri als ‚Krönung des Legendarium Romanum‘ und ordnete sie somit einer Sammlung hagiographischer Texte zu, die zwar als kodikologische Einheit nicht erhalten und auch nicht sicher nachweisbar ist, deren einzelne Stücke jedoch als gleichsam traditioneller römischer Fundus in allen größeren Passionaren und Legendaren des mittelalterlichen Abendlandes begegnen.98 Der Text der römischen Silvester-Akten ist tatsächlich fast ausschließlich in hagiographischen Textsammlungen überliefert und ist folglich Jahrhunderte lang als
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Chronographus 73 ff. Vielliard 1931, 56, bezeichnet diese Verbindung als ‚geniale Lösung‘, bei der sich der stadtrömische Confessor Silvester und der auswärtige Confessor Martin von Tours gegenseitig stützten, um eine Verehrung zu erlangen, die in Rom noch immer eifersüchtig nur den Martyrern vorbehalten war. Delehaye 1927, 38, wo er fortfährt: „Mais l’homme de génie qui aurait pu nous donner cette ouvre d’art n’a point paru, et le sentiment que nous avons de la grandeur du sujet fait mieux comprendre la pauvreté des légendes qui nous restentet le manque d’inspiration et d’originalité des créations populaires.“ Delehaye 1936, 12 (das Zitat) und 7ff.
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Werk eines Hagiographen zu Ehren Silvesters I. benutzt worden. Diesem Überlieferungsmedium verdanken die Silvester-Akten übrigens auch ihre weite Verbreitung und ihr außerordentliches Ansehen während des gesamten Mittelalters. Die ältere Forschung hat nicht immer genau zwischen diesem überlieferungs-, rezeptions- und wirkungsgeschichtlichen Befund und den entstehungsgeschichtlichen Absichten des römischen Verfassers unterschieden. Erst wenn sich sicher nachweisen ließe, dass die Kirche von Rom ihren Bischof Silvester I. schon zur Entstehungszeit der ältesten (lateinischen) Textfassung, also im späten 4. bis frühen 5. Jahrhundert, als heiligen Bekenner-Bischof kultisch verehrt hat, dürfte man annehmen, dass die römischen Silvester-Akten von zeitgenössischem Silvester-Kult inspiriert worden sind und dass ihr unbekannter römischer Autor den Text in hagiographischer Absicht verfasst hat. Dieser Nachweis lässt sich gegenwärtig für die Entstehungszeit der älteren (lateinischen) Ursprungsfassung A(1) nicht und für die Entstehungszeit der jüngeren (lateinischen) Ursprungsfassung B(1), also etwa ein Jahrhundert später, nur schwer erbringen.99 Die Zuordnung der Silvester-Akten zum ‚Legendarium Romanum‘ durch Delehaye hat schon vor drei Jahrzehnten der Hypothese den Weg geebnet, dass die alte Titelkirche des Equitius, später umbenannt in die Titelkirche Bischof Silvesters I., der Entstehungsort der Actus Silvestri gewesen sein müsse.100 Auf solche Weise habe die Abfassung der Silvester-Akten, die im späteren 5. Jahrhundert durch ein Gemeindemitglied der alten Titelkirche am Mons Oppius erfolgt sei, profitieren können von zwei kirchengeschichtlichen Entwicklungen: 1) von der in der gesamten christlichen Welt zu beobachtenden, in Rom selbst jedoch nur sehr zögerlich sich durchsetzenden Erweiterung der ursprünglich allein den Martyrern vorbehaltenen kultischen Ehren auf solche verehrungswürdigen Personen, die nicht (mehr) für ihren Glauben das Martyrium erlitten hatten; 2) von einer spezifischen religiös-topographischen Entwicklung in der Stadt Rom selbst, wo man sich darum bemühte, die Verehrung herausragender Personen wie z. B. der Martyrer, die in einer der römischen Katakomben oder sogar in deren
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Die dafür erforderliche form- und redaktionsgeschichtliche Untersuchung der beiden Ursprungsfassungen A(1) und B(1) wird durch das Fehlen einer leider immer noch nicht abgeschlossenen historisch-kritischen Textausgabe der lateinischen Silvester-Akten behindert. Zum Wert der bisher benutzbaren gedruckten Textausgaben, der zur Vorsicht mahnt, vgl. Pohlkamp 1992, 132ff. Dazu der wie stets sehr hypothesenfreudige Loenertz 1975, 426f., mit dem Verdacht, man wollte auch mit Hilfe der römischen Silvester-Akten den Nicht-Martyrer Silvester zur Verehrung in der Titelkirche des Equitius gleichsam endlich ‚kanonisieren‘; 439: Um die Entwicklung der kultischen Verehrung Silvesters zu fördern, habe ein Gläubiger, vielleicht ein Kleriker, des titulus Equiti die Actus Sylvestri verfasst.
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oberirdischen Coemeterialbasiliken erfolgte, mit bestimmten innerstädtischen Kirchen, den alten Titelkirchen, zu verknüpfen, die zunächst nach ihren Gründern benannt wurden, nach der Verknüpfung jedoch dem Patrozinium des neuen Heiligen (Martyrers) gewidmet wurden. Die Geschichte solcher realen oder besser imaginären Translationen erzählen dann die hagiographischen Texte des Legendarium Romanum. Wie Papst Symmachus (498–514) durch seine zu Ehren Silvesters vorgenommenen Verschönerungen der alten Titelkirche, so habe auch die Abfassung der Actus Silvestri die Kanonisierung des Bekenner-Bischofs Silvester befördert, wie es die Frömmigkeit des einfachen Volkes verlangt habe. Wie oben bereits angemerkt, sind besondere Beziehungen zwischen dem Coemeterium Priscillae an der Via Salaria nova und der angeblich im Laufe des 6. Jahrhunderts in titulus Silvestri umbenannten Titelkirche des Equitius am Mons Oppius, welche die vermutete Entstehung der Actus Silvestri in dieser Titelkirche stützen könnten, zwar grundsätzlich möglich, bisher aber konkret nicht nachgewiesen. Schwerer wiegt dagegen der literarische Befund, dass die römischen Silvester-Akten – im Gegensatz zu den hagiographischen Legenden des Legendarium Romanum, die sich gleichsam an die neuen Patrozinien von innerstädtischen Titelkirchen ankristallisiert haben – mit keinem Wort die alte Titelkirche, sei es des Equitius oder sei es des Silvester, am Mons Oppius oder deren unmittelbare Umgebung oder die gesamte Esquilinische Region als solche erwähnen.101 Die Hypothese, die den Ursprung der Actus Silvestri in der Pfarrgemeinde der alten Titelkirche sucht, erklärt also weder die Verehrung Silvesters durch das einfache Volk an dieser Stelle, wie sie die im Garten von S. Martino ai Monti gefundene Votivlampe des späteren 5. Jahrhunderts manifestiert, noch das Fehlen jeglicher Inspiration des Textes der römischen Silvester-Akten durch sein vermeintliches Entstehungsambiente. Es gibt jedoch noch eine weitere Erklärung für die besondere Verehrung des confessor et episcopus Silvester in der nach ihm benannten Titelkirche am Mons Oppius, mit der wir uns am Schluss unserer Spurensuche noch kurz beschäftigen wollen. In seiner hagiopanegyrischen Vita des ersten christlichen Kaisers Konstantin des Großen teilt uns Eusebius, der ‚Vater der Kirchengeschichtsschreibung‘, mit (III,7), dass Bischöfe von überall her an dem vom Kaiser einberufenen ersten ökumenischen Konzil zu Nicaea 325 teilgenommen hätten, dass der Bischof der alten Kaiserstadt Rom jedoch aus Altersgrün101
Vielliard 1931, 22, sieht darin ein Indiz für die Echtheit der Tradition, dass Silvester in der Titelkirche des Equitius gewohnt und seinen Dienst als Presbyter verrichtet habe, während ein apokrypher Autor Silvester in die herrlichen Bauten des gleichzeitigen Kaisers Konstantin positioniert hätte.
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den nicht persönlich teilgenommen habe, sondern sich durch zwei römische Presbyter habe vertreten lassen. „Spätestens in den Zwanziger Jahren des 5. Jahrhunderts“ beginnt in der Überlieferungsgeschichte der Beschlüsse dieses Konzils eine Entwicklung, an deren Ende zur Zeit des Papstes Symmachus (498–514) die eher dürftige Rolle des Papsttums auf dem Konzil zu Nicaea aus römischer Sicht nachhaltig revidiert und Silvester I. „zur ausschlaggebenden Gestalt“ des Konzils geworden war.102 In einer nachträglich den Synodalbeschlüssen von Nicaea hinzugefügten Vorrede wurde behauptet, „daß alle Beschlüsse zur Billigung an den Bischof der Stadt Rom geschickt werden sollten“.103 Nachdem bereits eine römische Synode im Jahre 485 von einer Bestätigung der Nicaenischen Synodalbeschlüsse durch Silvester I. gesprochen hatte, ließen bald darauf die fingierten Akten einer römischen Synode von 275 Bischöfen, die angeblich unter der Leitung Silvesters I. in den Domitiansthermen (also in den Trajansthermen) stattfand, Silvester die Beschlüsse von Nicaea ausdrücklich bestätigen, und darin wurde diese Synode von dem ebenfalls fingierten Briefwechsel zwischen Silvester I. und den Konzilsvätern von Nicaea 325 zusätzlich beglaubigt.104 Unter den so gen. ‚Symmachianischen Apokryphen‘, die das Schisma zwischen Papst Symmachus und dem Gegenpapst Laurentius zugunsten des ersteren propagandistisch begleiteten, ist als wichtigstes (fingiertes) Dokument ein Constitutum Silvestri überliefert, das sich als Protokoll einer weiteren römischen Synode der 284 Bischöfe ausgibt, die bald nach der angeblichen Taufe des Kaisers Konstantin des Großen durch Silvester I., wie sie ausführlich in den römischen Silvester-Akten geschildert wird, unter der Leitung Silvesters sowie in Anwesenheit des Kaisers und seiner Mutter Helena „in den Domitiansthermen, die jetzt Trajansthermen heißen“ getagt haben soll.105 Das Constitutum Silvestri ist nachweislich von der älteren Ursprungsfassung A(1) der römischen Silvester-Akten beeinflusst und damit 102 103
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Caspar 1930, 121; vgl. Wojtowytsch 1981, 88f. … et placuit ut omnia, quae statuta sunt, mitterentur ad episcopum urbis Romae probanda zitiert nach der deutschen Übersetzung bei Wojtowytsch 1981, 89, ebd. Anm. 87 der lateinische Text. Die in diesem Kontext relevanten apokryphen lateinischen Texte sind aus einer überaus komplexen Text- und Überlieferungsgeschichte heraus mustergültig ediert und, mit deutschen Übersetzungen versehen, bequem zu benutzen im Textanhang über „Die Symmachianischen und Laurentianischen Documenta“ bei Wirbelauer 1993, 171–346; zur Synode der 275 Bischöfe ebd. 324ff., und zum Briefwechsel mit den Konzilsvätern von Nicaea ebd. 304ff. (in laurentianischer wie in symmachianischer Ausführung); vgl. auch Pohlkamp 1992, 180f. (mit Hinweisen auf alternative, ältere Editionen). Die Synode der 284 Bischöfe, deren Protokoll das Constitutum Silvestri zu sein vorgibt, in einer 1. Fassung mit deutscher Übersetzung Wirbelauer 1993, 228ff., und in einer 2. Fassung ebd. 308ff.
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zugleich das älteste erhaltene wirkungs- und rezeptionsgeschichtliche Testimonium der actus beati Silvestri apostolicae sedis praesulis. Der letzte und wohl berühmteste Beschluss des fingierten Synodalprotokolls verfügt: „Niemand aber wird den ersten Stuhl richten, da alle Stühle vom ersten Stuhl mit Gerechtigkeit gelenkt werden wollen. Weder vom Kaiser, noch von allen Klerikern, noch von Königen, noch vom Volk soll der Richter gerichtet werden.“106 Da die gesamte (fingierte) Synode mit der in den Silvester-Akten überlieferten, angeblichen römischen Taufe Kaiser Konstantins des Großen verknüpft wird, ist es sinnvoll, der im Constitutum Silvestri deklarierten Nichtjudizierbarkeit des Bischofs der römischen prima sedes das Konstantinische Primatsprivileg gegenüberzustellen, das etwa ein Jahrhundert früher der Autor der älteren Ursprungsfassung A(1) der Actus Silvestri den neugetauften Kaiser dem ‚Pontifex der römischen Kirche‘ hat ausfertigen lassen, dem zufolge ‚auf dem gesamten römischen Erdkreis die Priester diesen [sc. den Pontifex] so zum Haupt haben sollen wie alle Richter den Kaiser‘.107 Durch diese Verknüpfung erscheinen die Deklaration der Nichtjudizierbarkeit und das Konstantinische Primatsprivileg wie zwei Seiten einer Medaille. Die von den römischen Silvester-Akten inaugurierte Tradition von der ‚Konstantinischen Wende‘ auf dem Boden der alten Hauptstadt am Tiber und die aus dem Unbehagen über die relativ klägliche Rolle des römischen Papsttums auf dem ersten ökumenischen Konzil zu Nicaea 325 erwachsene Tradition von der Aufwertung Silvesters I. zur maßgeblichen Persönlichkeit dieses Konzils, die zunächst beide getrennt voneinander entstanden sind und sich entwickelt haben, verschmelzen zu einer Zeit, die man als Silvester-Renaissance des späten 5. bis frühen 6. Jahrhunderts bezeichnen kann. In dieser Zeit kursieren unter Roms ‚Katholiken‘ die actus beati Silvestri apostolicae sedis praesulis als literarischer Bestseller, höchstwahrscheinlich – wie im Falle des Constitutum Silvestri – in der Textgestalt der älteren Ursprungsfassung A(1). Denn erst in dieser Zeit ist die jüngere Ursprungsfassung B(1) der Silvester-Akten entstanden, deren Autor aus seiner A(1)-Vorlage das Konstantinische Primatsprivileg bezeichnenderweise nicht übernommen, sondern ersatzlos gestrichen hat. Wohl auch erst in dieser Zeit lebt die besondere Verehrung Silvesters in der Titelkirche neben der neuen Kirche 106
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Nemo enim iudicabit primam sedem, quoniam omnes sedes a prima sede iustitia desiderant temperari. neque ab augusto, neque ab omni clero, neque a regibus, neque a populo iudex iudicabitur; lateinischer Text und deutsche Übersetzung s. Wirbelauer 1993, 246 und 247. In der ältesten Textfassung A(1) lautet der ganze Satz: Quarta die privilegium ecclesiae Romanae pontifici contulit, ut in toto orbe Romano sacerdotes ita hunc caput habeant sicut omnes iudices regem. Die Tagesangabe bezieht sich auf die Oktav nach der (österlichen) Taufe Konstantins durch Silvester; dazu Pohlkamp 1988, 464ff.
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S. Martino ai Monti am Mons Oppius auf, wie der (Um[?]-)Benennung als titulus Silvestri und das an Ort und Stelle wohl von Papst Symmachus angebrachte Silvester-Mosaik bestätigen, und Symmachus hatte, so könnte man hinzufügen, allen Grund, sich auch dem literarischen Bild seines Vorgängers Silvester, wie es die ‚Symmachianischen Apokryphen‘ unter dem Einfluss der Silvester-Akten gezeichnet haben,108 verbunden zu fühlen für die Hilfe beim Ausgang des Papstwahlschismas mit Laurentius. Wenn darüber hinaus die fingierten römischen Synoden der 275 Bischöfe und der 284 Bischöfe (mit dem Constitutum Silvestri als Synodalprotokoll), die die Beschlüsse des Konzils von Nicaea bestätigt haben sollen, als Tagungsort die Trajansthermen angeben, die ihrerseits für die Lokalisierung der Titelkirche – sei es des Equitius oder sei es des Silvester – am Mons Oppius unverzichtbarer topographischer Orientierungspunkt gewesen sind, wundert es niemanden mehr, dass diese Titelkirche zum Ort besonderer Silvester-Verehrung werden konnte, allerdings erst, so glauben wir einschränken zu sollen, im geschichtlichen Kontext der spätantiken Silvester-Renaissance.
Ausblick Unsere Spurensuche zur frühen Erinnerungs- und Verehrungsgeschichte Silvesters I. hat keine gesicherten Anhaltspunkte für eine mögliche historische Einordnung der römischen Silvester-Akten in diese Geschichte erbracht. Weil dem ältesten Text der actus beati Silvestri apostolicae sedis praesulis Hinweise auf Silvesters Grabort in der Priscilla-Katakombe und auf seine Beisetzung am 31. Dezember (335) und somit die unverzichtbaren ‚hagiographischen Koordinaten‘ fehlen, kann er nicht zur Förderung der kultischen Verehrung des römischen Bischofs Silvester I. verfasst und auch nicht als textliches Substrat bei der Gestaltung dieser kultischen Verehrung benutzt worden sein, wenn auch die Überlieferungs- und Verbreitungsgeschichte aller Fassungen der Actus Silvestri in hagiographischen Gebrauchshandschriften das genaue Gegenteil suggerieren. Die römischen SilvesterAkten können aber auch nicht in jene geschichtliche Entwicklung integriert werden, in der die vorstädtische coemeteriale Martyrer- oder Heiligenverehrung eine Verbindung mit den innerstädtischen Titelkirchen eingegangen ist, sei es durch mentale Übertragung eines Patroziniums oder später durch reale Reliquientranslation. Weil die Silvester-Akten keine Anspielung auf die alte Titelkirche am Mons Oppius oder auf irgendeine andere Titelkirche
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in Rom enthalten, teilen sie auch nicht die Funktion der legendarischen römischen Passionen des 5. bis 7. Jahrhunderts, den Pilgern als Wegweiser in der Stadt zu dienen und zugleich das Ansehen der Titelkirche und des in ihr verehrten Heiligen zu rühmen.109 Die vom Autor der römischen SilvesterAkten für seine literarische Inszenierung der ‚Konstantinischen Wende‘ in der alten Hauptstadt am Tiber gewählten topographischen Kulissen sind keine einfachen Stadtviertel oder Titelkirchensprengel, sondern das Forum Romanum mit dem Kapitol und dem Tempel der Vesta, das Forum des Kaisers Trajan mit seiner eindrucksvollen Basilica Ulpia als pagane Stadtzentren sowie die innerstädtische Lateranbasilika und der Lateranpalast als Episcopium (Patriarchium) des Bischofs von Rom und die großen Coemeterialbasiliken der Apostel Petrus und Paulus als Hauptorte der Roma Christiana.110 Wenn man also überhaupt ein christlich kirchliches Ambiente für die Entstehung der actus beati Silvestri apostolicae sedis praesulis identifizieren will, käme eher der christliche Lateran in Frage. Denn deren Schilderung der angeblich römischen (österlichen) Taufe des dabei zugleich vom Aussatz des Christenverfolgers geheilten Kaisers Konstantin des Großen, der zum Dank für Taufe und Heilung an Ort und Stelle den Grundstein zu einer Basilika legt, liest sich wie eine aitiologische Erzählung zum alten Salvator-(Heiland-)Patrozinium der Lateranbasilika.111 Diese notwendige Korrektur von Thesen der älteren Forschungsdiskussion soll indessen nicht leugnen, dass die römischen Silvester-Akten, zumal der erste Teil der ältesten Fassung A(1), den wir mit Silvester confessor et episcopus überschreiben, hagiographische oder besser hagiopanegyrische Tendenzen erkennen lässt. Dieser erste Teil, der seinerseits wiederum zweigeteilt ist, schildert zunächst wie eine Lebensbeschreibung den geistlichen Werdegang Silvesters, der als kleiner Junge bereits von seiner Mutter Justa in die Obhut eines Presbyters Cyrinus gegeben wird. Dessen geistliche Erziehung trägt Früchte in der dem jungen Silvester nachgerühmten zentralen christlichen Tugend der Gastfreundschaft (hospitalitas). Die frühzeitige Trennung von der Mutter und die Erziehung durch einen Presbyter statt durch den eigenen leiblichen Vater112 lässt zunächst auf die literarische Intention einer spirituellen Biographie schließen, die jedoch sogleich dadurch wieder gesprengt wird, dass der weitere Text eine literarische ‚Passio‘ des 109
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Schon ein erster Vergleich der Silvester-Akten mit den von Kirsch 1918, 148ff., zusammengestellten Inhaltsskizzen der Passionen lässt dies klar erkennen. Darauf habe ich in meinen Publikationen seit 1983 immer wieder hingewiesen. Pohlkamp 1983, 371ff. und Pohlkamp 1988, 464ff. Der leibliche Vater Silvesters wird in den Silvester-Akten nicht genannt, ist aber aufgeführt in der Pontifikatsbeschreibung Silvesters I im römischen Liber Pontificalis, I, 75 (und 170): Silvester natione Romanus, ex patre Rufino.
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(historischen) römischen Martyrers Timotheus, eines Opfers der Diokletianischen Verfolgung, den Silvester beim Grab des Apostels Paulus beisetzen lässt, in die ebenfalls literarischen ‚Acta‘ des Bekenners Silvester integriert. Wegen der durch seine ausgeprägte Gastfreundschaft begründeten Wohngemeinschaft mit dem aus Antiochia nach Rom gekommenen Timotheus und wegen seines in einem Gerichtsprozess gegenüber dem römischen Stadtpraefekten bekundeten Glaubens wird Silvester, der sich noch im Laienstand befindet, zu Kerkerhaft verurteilt, wegen des überraschenden (aber von Silvester während des Prozesses prophezeiten) Todes des Stadtpraefekten aber nicht mehr als Martyrer hingerichtet. Von den christlichen Volksscharen und dem Bischof Miltiades aus dem Kerker befreit, fordern alle, Silvester solle ihr Presbyter werden ( presbiterum sibi fieri omnes exposcunt, Fassung A[1]). Nach seiner Ordination zum Presbyter (Quo ordinato presbitero, Fassung A[1]) ist er ein so begnadeter Prediger Christi, dass es niemanden gibt, der ihn nicht von ganzem Herzen liebt und ihn ‚Diener Gottes‘ akklamiert (qui non illum ex affectu diligeret et hunc esse dei famulum acclamaret (Fassung A[1]). Silvesters klerikale Laufbahn endet mit seiner Wahl zum Bischof von Rom. Die Schilderung dieser Bischofswahl bildet die narrative Achse des ersten Teils der Fassung A(1) der Actus Silvestri, und sie enthält zugleich die zentrale Aussage zum Confessorentum Silvesters: ‚Als aber Bischof Miltiades zu Christus heimging, wurde vom ganzen Volk der heilige Silvester [zu dessen Nachfolger] gewählt. Das Votum aller Kleriker und Laien fiel einmütig aus. Und als er (Silvester) sich laut als ‚unwürdig‘ beteuerte, wurden diesem Ruf heilige Rühmungen entgegengehalten und es wurde akklamiert, dass er, bevor er Presbyter war, Confessor Christi zu sein verdient habe. Durch solche Zurufe der Volksscharen gedrängt, wurde er zum Bischof der Stadt Rom erhoben; und dass er dies zu sein verdiente, lässt sich anhand seiner Taten darlegen.‘113 Der anschließende Katalog der Tugenden und Taten des neuen Bischofs liest sich wie eine Kirchenordnung, die sich an apostolischen Traditionen, aber erkennbar auch an zeitgenössischen Problemen und Idealen des späteren 4. bis früheren 5. Jahrhunderts orientiert. Nach der Wahlschilderung in der Fassung A(1) ist es also das in altkirchlichem Sinne verstandene Charisma eines ‚Bekenners Christi‘, das Silvester zum geeigneten Nachfolger seines (historischen) Vorgängers Miltiades (311– 113
Fassung A(1): Melchiade autem episcopo migrante ad Christum ab omni populo sanctus Silvester eligitur. Vox omnium clericorum et laicorum una efficitur. Cumque se clamaret indignum, obiciebantur huic voci sancta praeconia et, quoniam, antequam presbiter esset, confessor Christiesse meruit, clamabatur. His assertionibus populorum artatus levatur urbis Romae episcopus; et quia hoc esse meruit, operibus declaratur.
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314) durch einmütige Akklamationswahl von Klerus und Volk werden lässt. Die Bedeutung des Bekenner-Charismas für Silvesters Bischofswahl in der älteren Ursprungsfassung A(1) der römischen Silvester-Akten wird deutlich bei dem Vergleich mit der Parallelstelle in der etwa ein Jahrhundert jüngeren Ursprungsfassung B(1), deren Autor – trotz seiner A(1)-Vorlage – von einem Bekenner Silvester nicht mehr spricht und sich mit der einmütigen Akklamationswahl des Bischofs zufrieden gibt.114 Um wieviel näher der Autor der Fassung A(1) mental der Verfolgungsvergangenheit und dem altkirchlichen Bekenner-Charisma steht, beweist auch die Form, in der, wie oben gezeigt, Silvester unmittelbar nach seiner triumphalen Befreiung aus dem Kerker auf Drängen des Volkes zum Presbyter ordiniert wird. In der Fassung B(1) hat Silvesters Befreiung aus dem Kerker nicht die gleiche Wirkung wie in A(1); wird doch in B(1) nur gesagt, dass der junge Silvester im Alter von 30 Jahren von Bischof Miltiades zum Diakon (nicht zum Presbyter) gemacht worden sei. Ohne auf die Unterschiede im klerikalen Cursus honorum bis zu Bischofswahl Silvesters, d. h. auf seine Zugehörigkeit zum römischen Presbyterium in A(1) und zum römischen Diakonenkollegium in B(1), näher eingehen zu können, ist hier wenigstens kurz auf die altkirchliche Auffassung über die Stellung des Confessor in der Kirche einzugehen.115 Nach der um 215 in Rom entstandenen Kirchenordnung des Hippolyte muss ein Bekenner, der für seinen Glauben ins Gefängnis geworfen wird, ohne den Martyrertod zu erleiden, nicht formell zum Presbyter geweiht werden, weil er die Presbyterwürde schon durch sein Bekenntnis erlangt. Um die Mitte des 3. Jahrhunderts, zur Zeit Bischof Cyprians von Karthago, wurde diese Bestimmung dahingehend abgewandelt, dass einem Confessor, der vor der staatlichen Behörde ein Bekenntnis abgelegt und dafür Kerkerhaft erduldet hatte, nur noch die Anwartschaft auf ein kirchliches Amt zugesprochen wurde. In der älteren Ursprungsfassung A(1) der Actus Silvestri erwirbt sich Silvester durch sein Bekenntnis vor dem römischen Stadtpraefekten und die anschließende Kerkerhaft nur die Anwartschaft auf das Presbyterat, seine konkrete Aufnahme in das römische Presbyterium erfolgt jedoch durch formelle Ordination. Auch diese Perspektive, zu der es in der jüngeren Ursprungsfassung B(1) der Actus Silvestri keine Parallele gibt, unterstreicht die Bedeutung des confessor et episcopus Silvester aus der Sicht des Au114
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Fassung B(1): Sancto igitur Miltiade migrante ad dominum omnium clericorum ac laicorum voce Silvester eligitur, ita ut nullus in his omnibus inveniretur, qui non in eius electione clamaret. Sanctus vero Silvester aetatis suae excusationem opponens, quantum se accusabat indignum, tantum dignus ab omnibus clamabatur. Quid multa; auctore deo levatur episcopus, et ita cotidiana doctrina populos invitabat, ut ad praedicationem eius copiosa turba concurreret, quae Christo crederet idola denegaret. Zum Folgenden vgl. Pohlkamp 1983, 365f.
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tors von A(1), während der Autor von B(1) sich im historisch-situativen Kontext der spätantiken Silvester-Renaissance vielleicht schon an einem Bild des Bischofs orientiert hat, wie es im Ambiente der Symmachianischen Apokryphen oder gar der alten Titelkirche auf dem Mons Oppius in Rom anzutreffen war. Der Autor der älteren Ursprungsfassung A(1) der römischen SilvesterAkten hatte nicht nur eine authentischere Vorstellung von der Verfolgungsvergangenheit als der Autor der jüngeren Ursprungsfassung B(1), sondern gibt möglicherweise mit seinem ersten Teil über den confessor et episcopus Silvester sogar die historische Wirklichkeit wieder. Das gilt selbstverständlich nicht für die einzelnen Motive und Inszenierungen im A(1)-Text wie z. B. das Ersticken des römischen Stadtpraefekten an einer Fischgräte in der Nacht nach dem Prozess gegen Silvester, und auch für die Einzelmaßnahmen im Katalog der Tugenden und Taten des neuen Bischofs Silvester Anknüpfungspunkte an die historische Wirklichkeit des 4. und 5. Jahrhunderts zu finden, erweist sich bisher als eher schwierig. Es geht vielmehr um die Frage, ob der historische Bischof Silvester I. Confessor in der Diokletianischen Verfolgung gewesen ist oder ob er von seinen Zeitgenossen und den unmittelbar nachfolgenden Generationen als Confessor im altkirchlichen Sinne zumindest wahrgenommen und respektiert worden ist. Die zweite Möglichkeit scheint nach aktuellem Kenntnisstand zutreffend zu sein, bedarf aber noch weiterer Untersuchung und soll deshalb auch nur noch ausblickhaft skizziert werden. Schon länger wird in diesem Zusammenhang von der Forschung eine besondere Form der Anrede des gerade neu gewählten (historischen) Bischofs Silvester I. in einem Brief des Konzils von Arles 314 diskutiert. Neben kirchendisziplinarischen und ähnlichen Problemen beschäftigte sich dieses von Kaiser Konstantin dem Großen einberufene Konzil mit dem Schisma zwischen den römisch-katholischen Kirchen und den donatistischen Gemeinden in Nordafrika.116 Damit setzte es das letztlich in gleicher Sache am Protest der Donatisten gescheiterte Konzil von Rom 313 unter Silvesters Vorgänger Miltiades fort. Da Miltiades inzwischen verstorben war, hätte an seiner Stelle Silvester nach Arles reisen und an dem Konzil von 314 teilnehmen sollen. Dem nur fragmentarisch überlieferten Brief der Konzilsväter an Silvester I. ist zu entnehmen, dass dieser nicht teilnehmen konnte, weil, wie es die Konzilsväter in wohlgesetzten Worten formulieren, er nicht den Ort verlassen konnte, wo täglich ‚die Apostel‘ sitzen und wo tagtäglich das von ihnen (im Martyrium) vergossene Blut die Herrlichkeit
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Vgl. dazu Girardet 1989.
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Gottes (dei gloriam) bezeuge.117 Mit gesunder Skepsis befragt, ist nicht ganz klar, ob dies auch die Worte Silvesters oder deren (veränderte) Wiedergabe durch die Konzilsväter waren und ob sie nicht vielleicht ein konkretes Problem des gerade ins Amt gekommenen römischen Bischofs mystifizieren. Man kann durchaus mit Schwierigkeiten Silvesters zu Beginn seines Pontifikates rechnen, die sich hinter diesen Worten verbergen und die – wie im Donatistenschisma – mit der Aufarbeitung der jüngsten Verfolgungsvergangenheit zu tun hatten. Denn die letzte große Verfolgung hat, wie wir aus den Damasus-Epigrammen für seine beiden bischöflichen Vorgänger Marcellus (308–309) und Eusebius (309 oder 310), den unmittelbaren Vorgängern des Miltiades und des Silvester, wissen, auch in Rom selbst eine gespaltene Kirche hinterlassen. Silvester konnte Rom nicht verlassen, ohne dass seine vermutlichen Gegner Oberhand gewonnen hätten.118 Bei der Frage nach der Wirklichkeitsnähe des Bildes vom confessor et episcopus Silvester in der älteren Ursprungsfassung A(1) der römischen SilvesterAkten ist also die Zeit der Diokletianischen Verfolgung in Rom selbst wie die Aufarbeitung dieser Zeit nach dem ‚Frieden der Kirche‘ in Rom bis etwa zur Mitte des 4. Jahrhunderts mit in Betracht zu ziehen. Interessanter noch ist die von den Konzilsvätern in Arles gebrauchte Anrede als gloriosissime papa.119 Wie wir wissen, wurde auch der Martyrerbischof Cyprian von Karthago in einem Schreiben des römischen Klerus im Jahre 250, also während der Christenverfolgung des Kaisers Decius, als (beatissime ac) gloriosissime papa angeredet.120 Im historisch-situativen Kontext dieser Verfolgung kann eine solche Anrede nur den Respekt vor einem standhaften Confessor Cyprian von Karthago manifestieren. Wir zögern also nicht, mit Hans Ulrich Instinsky zu schlussfolgern, „daß Silvester mit der Anrede gloriosissime papa von den Bischöfen (sc. in Arles 314) als Confessor aus der Zeit der Verfolgung geehrt wird.“121 Wir fügen jedoch hinzu, dass noch genauer zu prüfen sein wird, ob es sich dabei um die Diokletianische Christenverfolgung selbst oder um deren strittige, schismatisierende Aufarbeitung im (angeblichen) ‚Frieden der Kirche‘ gehandelt hat. Auf jeden Fall bestätigt sich einmal mehr unsere schon öfter diskutierte Auffassung, dass der Autor der älteren Ursprungsfassung A(1) der römischen Silvester-Akten mit dem ersten, hagiopanegyrischen Teil seines Textes nicht eine, sondern mehrere literarische Absichten verfolgt hat. Erstens will er, wie die Konzilsväter von 117
118 119 120 121
Der Brief ist abgedruckt als Nr. 20 bei Maier 1987, 160ff., die herangezogene Stelle ebd., 163. Diese historisch mögliche Situation sieht Speigl 1985, 40f., als gegeben. S. den Text bei Maier 1987, 162,18f. Instinsky 1955, 91; dieses und weitere Zeugnisse hat zusammengestellt Wolf 1958. Instinsky 1955, 91.
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Arles 314 den (historischen) Confessor Silvester rühmen. Silvester I. galt als ‚Bekenner Christi‘ wie sein Vorgänger Marcellus, dessen unterirdisches Mausoleum in der Priscilla-Katakombe er hat herrichten lassen und in dem er offenbar auch selber beigesetzt werden wollte. Weil beide nicht das Martyrium erlitten haben, ist Silvester in der Depositio episcoporum (und nicht in der Depositio martyrum) von 336 notiert und hätte Marcellus (und nicht Marcellinus) dort ebenfalls eingetragen sein müssen. Dessen ungeachtet hat, was Damasus in seinem Epigramm für Marcellus bewirkt hat, der Autor der ältesten Fassung A(1) der Actus Silvestri mit seinem von uns als confessor et episcopus Silvester titulierten ersten Textteil bewirken wollen: das Gedächtnis des historischen Bekenners Silvester als alte römische Tradition wach zu halten. Darüber hinaus wollte und musste er diesen Bekenner gegen die Invektiven aus Donatistenkreisen verteidigen, die noch bis ins frühe 5. Jahrhundert seine Amtsdignität und seine Amtsführung zu verdunkeln drohten.122 Wenn Mit- und unmittelbar Nachlebende den historischen Silvester I. als Bekennerbischof im altkirchlichen Sinn respektiert haben, sollte die kritische Geschichtswissenschaft der Gegenwart ihm diesen Respekt nicht verweigern. Dass der historische Silvester ein solcher Confessor gewesen ist, dürfte kaum allgemein bekannt sein. Was man dagegen weiß oder zu wissen glaubt über Silvesters Leben und Wirken, geht auf den großen Einfluss der im Mittelalter weit verbreiteten römischen Silvester-Akten zurück. Dass wir diese Silvester-Akten nicht einfach überspringen oder beiseite schieben können, sondern gleichsam durch sie hindurch einen Weg zum historischen Silvester I. suchen müssen, wenn wir mit der aus sonstiger Zeugnisarmut geborenen Fundamentalkritik an einem absolut leeren und damit auch wohl bedeutungsleeren Pontifikat von fast 22 Jahren Dauer nicht zufrieden sind, muss wohl auch nicht besonders begründet werden. Dass solches Vorgehen Erfolg haben kann, sollte unsere Spurensuche zur frühen Erinnerungs- und Verehrungsgeschichte deutlich gemacht haben, die bewusst nicht mit einem kritischen Zeugnisverhör der römischen Silvester-Akten begonnen hat. Wir können die weitere Erinnerungs- und Verehrungsgeschichte Silvesters hier nicht mehr bis ins 8. oder 9. Jahrhundert hinein verfolgen. Deshalb zum Schluss nur noch ein paar kurze Hinweise: Wie es scheint, hat man in der Roma Christiana nach der spätantiken Silvester-Renaissance Silvester und die Silvester-Akten aus dem Blick verloren. Erst im Laufe des 7. Jahrhunderts kehren beide durch die zahllosen Rompilger, die Silvester aus den Actus Silvestri kannten und sein Grab in der Priscilla-Katakombe
122
Vgl. dazu Pohlkamp 1984, 367ff.; Pohlkamp 2007, 93f.
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aufsuchten, ins römisch-kirchliche (Geschichts-)Bewusstsein zurück. Im 8. Jahrhundert schließlich, als die in den Katakomben ruhenden Martyrer und Heiligen vor den plündernden Langobarden geschützt und ins Stadtinnere gebracht werden mussten, erhielt Silvester im Kloster bei S. Silvestro in capite einen neuen Erinnerungs- und Verehrungsort. Die damit skizzierte weitere Geschichte der Erinnerung und Verehrung Silvesters bedarf noch mancher Untersuchung, um die neue römische Silvester-Renaissance des 8. Jahrhunderts besser verstehen und historisch einordnen zu können.123 Es wäre allerdings nur schwer nachzuvollziehen, wenn die Konstantinische Schenkung (Constitutum Constantini ), die ganz offensichtlich durch das in den Silvester-Akten (Actus Silvestri ) überlieferte Konstantinische Primatsprivileg inspiriert und motiviert worden ist,124 nicht in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, nicht im historisch-situativen Kontext der zweiten römischen Silvester-Renaissance und nicht in der Roma Christiana selbst entstanden sein sollte.125
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123
124 125
Dazu Ewig 1976, 86: „Überblickt man diese Zeugnisse zu Silvesterkult und -legende, so erscheint die unverkennbare Silvesterrenaissance unter Stephan II. und Paul I. doch nicht ohne Zusammenhang mit der vorausgehenden Zeit.“ Vgl. Pohlkamp 1988, 435ff. und bes. 441 ff. Jürgen Miethkes Rezension des mir erst kurz vor Abschluss des Manuskripts zugänglich gewordenen neuen Buches von Johannes Fried zur Konstantinischen Schenkung entnehme ich, dass Fried für eine Entstehung des Textes im Frankenreich der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts votiert. Dazu Miethke: „Es bleiben auch andere, auch widersprechende Annahmen möglich. Selbst die Annahme einer Entstehung des Textes im Rom des späteren 8. Jahrhunderts ist auch in Zukunft nicht ausgeschlossen.“; Jürgen Miethke: Rezension zu: Fried, Johannes: Donation of Constantine and Constitutum Constantini. The Misinterpretation of a Fiction and its Original Meaning. With a Contribution by Wolfram Brandes: „The Satraps of Constantine“ (Berlin 2007). In: H-Soz-u-Kult, 30. 08. 2007, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007–3–159 (aufgerufen am 22. 11. 2007).
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Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 297–316 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Memoria im frühmittelalterlichen (Erz-)Bistum Köln
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Memoria im frühmittelalterlichen (Erz-)Bistum Köln HEINZ FINGER
Einleitende Vorbemerkungen zum Memoria-Begriff und zur Kölner Quellenlage Memoria ist ein zwar sehr weit gefasster, aber nicht eigentlich mehrdeutiger Begriff. Seine etymologischen Wurzeln berührten sich im Laufe der Sprachgeschichte mit denen von minne1 und sein Wortfeld erstreckt sich weiter als die romanischen und germanischen Sprachen.2 In seinem Ursprung meint Memoria keineswegs eine mehr oder weniger wertfreie Erinnerung, sondern das bewusste „sich-erinnern“, ein „eingedenk sein“, in seiner weiteren Entwicklung sogar das „liebende Gedenken“. Im Verständnis der modernen Mediävistik hat Memoria einen speziellen Sinn, ist aber auch weit davon entfernt eine eng gefasste Bedeutung zu haben, wie der von Otto Gerhard Oexle verfasste Artikel „Memoria, Memorialüberlieferung“ im Lexikon des Mittelalters belegt.3 Memorialüberlieferung im engsten Sinne meint bekanntlich die mittelalterlichen Schriftquellen, die in ihrer Entstehung auf die Sorge für das Seelenheil der Verstorbenen zurückgehen, also vor allem Nekrologien und Konfraternitätsbücher. So eng soll der Begriff Memoria im Folgenden nicht 1
2
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Kluge/Seebold 1995, 561 [Artikel] „Minne“: „In den germanischen Sprachen hat sich das Wort mit einem anderen berührt, das vor allem in gt. gaminthi ‚Gedächtnis‘, anord. minni n. ‚Erinnerung‘ greifbar wird.“ – Noch weit engere sprachliche Beziehungen zwischen „memoria“ und „minne“ ergeben sich, wenn man den m.E. plausiblen Ausführungen von Dorothea Wiercinski folgt, die als ursprüngliche Bedeutung von „minne“ Inhalte wie „caritas“, „fraternitas“(!), „auxilium“ und „inspiratio“ annehmen: Wiercinski 1964, 7–15. Walde/Hofmann 1954, 67–68 [Lemma] „memor / memoria“. – Dort werden Beispiele aus dem Altindischen und Walisischen aufgeführt und sogar die Verwandtschaft mit griechisch « (Zeuge) behauptet. Oexle 1993, Sp. 510–513. – Zur Erweiterung der inhaltlichen Bedeutung trug auch die verbreitete Absicht der Mediävistik bei, die Memoria „im transkulturellen Vergleich“ sehen zu wollen. Vgl. Borgolte 2005, 28. Schließlich wurde sogar von der „Erforschung der Memoria als eines totalen sozialen Phänomens“ gesprochen: Körntgen 2005, 29.
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gefasst werden. Am Anfang historisch durchgängig nachweisbaren christlichen Totengedenkens steht oft – ganz sicher aber im Rheinland – das Gebet an der Grabstätte. Nicht zufällig nennt die Archäologie der Spätantike und des Frühmittelalters mit einem Raum überbaute Grabstätten ebenfalls „Memoria“. Diese Memorienbauten stehen hier keineswegs im Mittelpunkt, werden aber nicht aus der Untersuchung ausgeschlossen. Auch Stiftungen pro salute animarum werden berücksichtigt. Beides steht nämlich am Anfang der mittelalterlichen Memorialkultur im Kölner Sprengel. Die schriftliche Memorialüberlieferung beginnt nicht am Nullpunkt der Gesamtsorge um das Totengedenken durch Fürbittgebet. Ausgeschlossen wird hier aber die Commemoratio unter sozusagen umgekehrten Vorzeichen, das Gebet um die Fürbitte solcher Verstorbener, die, als vollendet angesehen, Gegenstand einer kultischen Verehrung sind und als Heilige gelten. Das Gebiet der frühmittelalterlichen Kölner Diözese ist in Bezug auf Memorialzeugnisse alles andere als besonders quellenreich. Die Gründe sind vielfältig. Neben dem Zufall der Überlieferung spielt sicher auch die Tatsache eine Rolle, dass die großen bischöflichen monasteria (die stadtkölnischen wie die von Xanten und Bonn) eben keine „Klöster“, sondern eher Frühformen der Kollegiatskirchen waren. Dies heißt natürlich nicht, dass in solchen Gemeinschaften die Memoria eine geringere Rolle spielte als in eigentlich klösterlichen, sondern nur, dass dort die Weitergabe der Memorialüberlieferung vielleicht auf Grund der an mönchischen Normen gemessenen geringeren Konventsdisziplin weniger gesichert war. Im Einzelnen können die Ursachen für die ungünstige Quellenlage hier nicht erörtert werden. Diese zwingt aber dazu, die vorhandenen Quellen eher exzessiv auszulegen. Dies bedeutet zwar nicht, Spekulationen Tür und Tor zu öffnen, wohl aber die Memoria auch dort zu erkennen, wo sie nicht primärer Gegenstand der jeweiligen Quelle ist. Daher werden Kalendarien u. ä. aus Manuskripten der Kölner Dombibliothek verstärkt herangezogen, bei denen die Memorialeintragungen eindeutig sekundärer Natur sind.
Das älteste Totengedenken für Kölner Bischöfe und die Vorgängerbauten der Severinskirche Wesentlich für die Erforschung der Kölner Memorialüberlieferung ist die Tatsache, dass diese für das Domstift erst in spätkarolingischer Zeit einsetzt.4 Dies bedeutet natürlich nicht, dass es nicht schon in früherer Zeit 4
Georgi 1998, 241.
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eine bedeutende Memoria für Kölns Oberhirten gegeben hat. Ihr Zentrum war möglicherweise eine gemeinsame Bischofsgruft in oder bei der südlich der ehemaligen Römerstadt gelegenen Coemeterialbasilika, der späteren Severinskirche. Belegen lässt sich dort allerdings nur das Begräbnis der Kölner Bischöfe Giso (692/694-ca. 711) und Anno I. (ca. 711 – ca. 715), und zwar dadurch, dass beide später im Zusammenhang mit dem Neubau der Krypta neue Grabmäler erhielten.5 D. h., anders als in Mainz6 und vor allem in Trier7 ist eine der gemeinsamen Memoria gewidmete Sammelgrabstätte der spätantiken und merowingerzeitlichen Bischöfe bestenfalls eine Hypothese. In jedem Fall stellen die Vorgängerbauten der Severinskirche das vom Kult an eindeutigen Heiligengräbern zu unterscheidende, älteste Zeugnis für eine deutliche und überindividuelle christliche Memoria im Bereich der Stadt Köln dar. Der spätantike Memorialbau als historischer Kern für die gesamte spätere Entwicklung ist unbezweifelbar. Es ist aber nicht einmal beweisbar, dass dieser tatsächlich, wie bis vor wenigen Jahrzehnten nie bezweifelt, das Grab des Bischofs Severinus enthielt. Wenn dem so war, was immerhin wahrscheinlich bleibt, dann handelte es sich beim Bau wie bei der Erhaltung um die Pflege einer echten Memorialstätte, denn als Heiliger wurde Bischof Severin wohl erst in der Karolingerzeit verehrt.8 Dem widerspricht nicht die für lange Zeit singuläre Bezeichnung Severins als beatus und sanctus durch Gregor von Tours.9 In den knapp vor 600 in Auxerre entstandenen Zufügungen zum sogenannten Martyrologium des hl. Hieronymus wurde er nicht erwähnt.10 Das Kernproblem besteht in der Frage, wie weit die früheren Erweiterungs-, Um- und Neubauten der Memorialkapelle an der Stelle der späteren Severinskirche Fortführung einer echten Memorialüberlieferung oder ob sie
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Wolff 1984, 479 und 486. Dort existierte seit dem 5., vielleicht schon 4. Jahrhundert ein Bischofsbegräbnis auf dem Gräberfeld westlich der Stadt im Bereich der späteren Kirche St. Hilarius. Gierlich 1990, 146–155. In Trier scheinen schon in der Spätantike zwei verschiedene Bischofsbegräbnisse existiert zu haben, ein älteres auf dem Gräberfeld südlich der Stadt (seit dem 3. Jahrhundert!) im Bereich der späteren Eucharius-Matthias-Kirche und ein jüngeres nördlich der Stadt (seit dem 4. Jahrhundert) im späteren Bereich von St. Maximin (Gierlich 1990, 14–60). Dabei hat das jüngere das ältere nicht absolut ersetzt, sondern nur zunehmend an Bedeutung gewonnen. Um 900 entstand in Köln die Vita sancti Severini; kaum eher ist sein Patrozinium für die ehemalige Coemeterialbasilika, die zuvor den Heiligen Cornelius und Cyprianus geweiht war, anzunehmen. Greg. Tur. De virtutibus S. Martini, 140. Mart. Hieron, 1–195.
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der Umwandlung in eine Gemeinde- bzw. Seelsorgekirche zu verdanken waren. Die letztere Auffassung vertrat Gerta Wolff 1984,11 und sie ist nicht einfach zu widerlegen.12 Dennoch erscheint diese Vorstellung nach Abwägung der verschiedenen Argumente weniger wahrscheinlich als die Annahme, dass die Memorialtradition an Bedeutung weiter zunahm und die Vergrößerung des Kultgebäudes veranlasste.13 In der Absicht, das Totengedenken in Liturgie und Gebet zu verwirklichen, muss dann aber auch der Grund für die schon früh dort angesiedelte Klerikergemeinschaft gesehen werden.14 Kurz nach 700 muss spätestens das nach einer Nachricht von 94815 angeblich schon von Bischof Severin begründete monasterium mit der Dedikation an die Heiligen Martyrerbischöfe Cornelius und Cyprianus tatsächlich bestanden haben. Man hätte sonst zwischen etwa 711 und 715 kaum die Kölner Bischöfe Giso und Anno I. dort bestattet. Der Memoria für viele Bischöfe und andere dort begrabene Christen war unzweifelhaft auch der zu Beginn des 8. Jahrhunderts errichtete Neubau der Kapelle als regelrechte „erste Stiftskirche“ mit Westchor16 verpflichtet. Dafür spricht, dass ihr Bauherr kaum jemand anders als Bischof Anno I. gewesen sein kann.
Das Gedenken an den Chorbischof Heribert und die Memoria für die Erzbischöfe Hildebald (784/87–818) und Hadebald (819–841) In einer der berühmtesten Kölner Domhandschriften, der in Köln selbst um 800 entstandenen sog. „Kölner Enzyklopädie“ (Codex 83 II der Diözesan- und Dombibliothek Köln),17 befindet sich fol. 72v–76v ein Kalenda11 12 13
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Wolff 1984, 478. Finger 2007, 65 Anm. 143. In der grundsätzlichen Frage der Annahme oder Nicht-Annahme von früheren Seelsorgekirchen neben der Kathedrale innerhalb einer Bischofsstadt (oder vor deren Toren) herrscht in der gegenwärtigen Forschung größter Dissens. Für diese Annahme votierten (sogar mit Köln- bzw. Rheinlandbezug) Hugo Borger und Ernst Dassmann (Borger 1979, 83; Dassmann 1993, 125–127 und 129–130). – In Anbetracht der strikten Verbote mehrerer Synoden (u.a. Agde 506, Orléans 541) selbst für abgelegene Landgemeinden, dort an Hochfesten überhaupt Messen zu lesen, die der Kathedrale vorbehalten waren, scheint es mir allerdings unwahrscheinlich, unmittelbar südlich im Weichbild von Köln überhaupt eine Gemeindekirche anzunehmen. Wolff 1984, 479. Diese ist in einer (verfälschten) Urkunde des Kölner Erzbischofs Wichfried (924–953) aus diesen Jahren enthalten: Regesten der Erzbischöfe von Köln I, Nr. 338. Wolff 1984, 479. Heusgen 1947; von Euw 1998.
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rium. In dieses wurde vor dem Jahre 81818 folgende Eintragung zum 12. März gemacht: Obiit Heribertus choriepiscopus. Diese wird man, ohne dass dieses weit hergeholt ist, als Erinnerung zum Gebetsgedenken auffassen dürfen. Der hier genannte Heribert war zusammen mit Theganbert († 848), der auch Propst von St. Cassius in Bonn war, und Hildebert († 862) einer der insgesamt nur drei für Köln nachgewiesenen Chorbischöfe „älterer Art“, also solcher, die die Bischofsweihe empfangen hatten.19 Chorbischof Hildebert, der in St. Gereon begraben wurde,20 war im Übrigen der wahrscheinliche Gründer einer Bruderschaft, die ausschließlich als Gebetsvereinigung zur gemeinsamen Erlangung des Seelenheils aufzufassen ist.21 Diese dürfte die älteste diesbezüglich nachweisbare Fraternitas sein, die nicht gleichzeitig anderen Zwecken diente.22 In derselben „Kölner Enzyklopädie“ folgt fol. 76v–79r auf das Kalendarium ein Cyclus paschalis für die Jahre 798 bis 949. Dort ist zum Jahr 814 der Tod Karls des Großen (Obitus Karoli) verzeichnet und zum Jahr 818 der Tod des Erzbischofs Hildebald (Obitus Hildibaldi episcopi). Beide Eintragungen stehen auf fol. 76v, und zumindest die auf Hildebald bezogene könnte auch im weitesten Sinne Aufforderung zum Gebetsgedenken gewesen sein. Deutlicher auf eine Memoria für Erzbischof Hildebald verweist eine Eintragung im Memorienbuch von St. Gereon. Dieses ist der erste Teil eines Liber ordinarius,23 der im 12. und 13. Jahrhundert geschrieben wurde und sich heute als Codex 241 in der Diözesan- und Dombibliothek befindet.24 Der Anfang, das Memorienbuch (fol. 1v–14v), entstand zwischen 1131 und 1137 und weist Nachträge bis etwa 1260 auf.25 Inhaltlich reicht es 18 19 20 21 22
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Von den Brincken 1968, 150. Oediger 1972, 201. Regesten der Erzbischöfe von Köln I, Nr. 182. Oediger 1972, 270. Eine solche Bruderschaft, die grundsätzlich einen anderen Hauptzweck hatte, war beispielsweise die der Lupusbrüder, die, wenn auch sehr alt, letztlich unbestimmten Alters ist (Der Überlieferung nach geht sie gar auf den hl. Kölner Bischof Kunibert im 7. Jahrhundert zurück). – Die Memoria Kuniberts und ihre Verbindung mit der Kunibertskirche, der von Kunibert selbst gegründeten Clemenskirche, wird hier nicht behandelt, da sie wohl von Anfang an Teil kultischer Heiligenverehrung war. Die Klassifikation dieser Handschrift als Liber ordinarius ist nicht ganz eindeutig. In der älteren Literatur wird sie auf Grund ihrer inhaltlichen Zusammensetzung auch gelegentlich ganz unbestimmt als Collectar bezeichnet. Diese Handschrift kam erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts in die Dombibliothek. 1892 war sie noch in Privatbesitz. Folge dieser Tatsache war, dass das in der Handschrift enthaltene Memorienbuch erst seit 1901/05 von der Forschung (durch Karl Heinrich Schäfers und Wilhelm Kisky) ausgewertet werden konnte. Heusgen 1957, 5–18.
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bis ins 8. Jahrhundert zurück, und beinahe so alt dürften auch seine älteren Quellen sein, zu denen die Memorieneintragung für Erzbischof Hildebald ganz sicher gehört. Bei diesem Eintrag wird zusätzlich vermerkt, dass Hildebald den alten Hochaltar von St. Gereon gebaut hat (qui fecit antiquum cyborium). Dass die in St. Gereon besondere Memoria des ersten Erzbischofs unter den Kölner Oberhirten damit zusammenhängt, dass Hildebald in der Gereonskirche begraben wurde, wird niemand bezweifeln. Die Tatsache seiner dortigen Bestattung ist schriftlich allerdings erst in einem Memorialbuch des Stiftes aus dem 14. Jahrhundert (heute im Historischen Archiv des Erzbistums Köln) festgehalten worden. Fast genauso alt wie die Memoria Hildebalds ist die für zwei weitere Mitglieder seiner (mutmaßlichen) Familie. Am 3. Januar 842 schenkte der Kölner Elekt Liutbert26 zusammen mit seinem Vater Hasbald27 dem Bonner Cassiusstift (ecclesia sanctorum Martini Cassii et Florentii) für das eigene Seelenheil und die Sündenvergebung seines Onkels, des Erzbischofs Hadebald und seiner Mutter Regigarda ( pro absolutione avunculi mei Hathabaldi archiepiscopi seu et genetricis meae Regigardae) Besitz im Auelgau.28 Sicher ist, dass Liutbert, der Sohn des Hasbald und der Regigarda, ein Neffe Hadebalds war und dass er nach einer anderen Quelle einen neben Hadebald weiteren Vaterbruder mit Namen Helmbald besaß. Helmbald ist als Bruder Erzbischof Hadebalds auch durch das älteste Ausleihverzeichnis der Kölner Dombibliothek aus dem Jahre 833 ausgewiesen.29 Dass die Brüder Hadebald, Hasbald und Helmbald Neffen Erzbischof Hildebalds waren und somit Liutbert dessen Großneffe, ist nicht stringent beweisbar, aber auf Grund der doppelten Übereinstimmung in den Namen (gleicher Anlaut des ersten und Identität des zweiten Bestandteils) mehr als wahrscheinlich. Allenfalls könnte man annehmen, dass Hildebald zwar ein Verwandter, aber kein direkter Onkel seines Nachfolgers im Bischofsamt Hadebald war.
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Liutbert hat das Amt des Kölner Erzbischofs nie regulär ausgeübt. In der wahrscheinlich unter Erzbischof Willibert (870–889) entstandenen Bischofsliste ist er daher auch nicht genannt. Er hat sich nicht gegen seinen Konkurrenten Hilduin (der dort bezeichnenderweise auch nicht genannt wird) durchsetzen können. Jener war als Abt von Saint-Denis nach dem Tode Hildebalds diesem als Erzkaplan gefolgt, ein Amt, das Hildebalds Nachfolger in Köln, Erzbischof Hadebald, also nicht ausübte. Zeitweilig hat Liutbert sich aber wohl im rechtsrheinischen Anteil des Kölner Sprengels etablieren können. Ob er je die Bischofsweihe empfing, ist nicht mit absoluter Sicherheit zu klären. Die auch überlieferte Namensform „Asbald“ ist als spätrömisch-romanische Schreibung mit Hauchpsilose anzusehen. Wisplinghoff 1972, Nr. 65. Decker 1895, 228.
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Wichtige weitere „alte“ Eintragungen im ältesten Memorienbuch von St. Gereon Zum alten Totengedenken, das aus älteren verschollenen Manuskripten in das Memorienbuch übernommen wurde, gehören mit großer Sicherheit die Eintragungen folgender Personen, die vor dem Jahr 1000 gestorben sind: Zum 30. April ist der Todestag des Propstes Adelbert vermerkt, der in den letzten Jahren des 9. Jahrhunderts dem Gereonsstift vorstand.30 Der 11. April ist als Todestag des 923 verstorbenen Kölner Erzbischofs Hermann I. („des Frommen“) verzeichnet, der 16. Mai als Todestag des 961 verstorbenen Bischofs Gottfried von Speyer.31 Zum 29. Juni ist der Tod des 976 verstorbenen Kölner Erzbischofs Gero vermerkt, zum 9. Juli der Tod des Erzbischofs Wichfrid, der von 923/24 bis 953 Kölner Oberhirte war. Der 18. Juli ist als Todestag des 969 verstorbenen Erzbischofs Folkmar angemerkt, zwei Tage zuvor der 16. Juli als Todestag eines Pfalzgrafen Hermann. Mit letzterem kann wohl nur Hermann „der Kleine“ (Hermannus pusillus) gemeint sein, der am Ende des 10. Jahrhunderts verstorbene Vater des berühmten Pfalzgrafen Ezzo. Zum 30. August wird der Tod des der Mitte des 9. Jahrhunderts angehörenden Bischofs Wichfrid von Verdun vermerkt.32 Ob der mit dem selben Todestag angegebene Bertolfus episcopus Polensis identisch mit dem istrischen Bischof Bertold von Pola ist, wie Heusgen vermutete, scheint mir sehr fraglich.33 Im September sind neben der bereits genannten Memorialeintragung für Erzbischof Hildebald auch die Todestage der Erzbischöfe Willibert (870–889), der 11. des Monats,34 und Warin (976–985), am 21. September, vemerkt. Der 11. Oktober ist als Todestag Erzbischofs Bruno I. (953–965) vermerkt,35 der 12. November als der von Heilwich, der Ehefrau des zum 16. Juli genannten Pfalzgrafen Hermann. Die Eintragung Bischof Othwins von Hildesheim (954–984) zum 30. November36 gehört gewiss auch zu den 30 31 32
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Nattermann 1960, 112. Nach anderer Überlieferung verstarb Bischof Gottfried am 17. Mai. Das genaue Todesjahr ist in der Forschung nicht sicher. Todesdatum war ziemlich eindeutig der 31., nicht wie hier vermerkt der 30. August. Heusgen, 1931, 14 Anm. 64. – Pola (heute kroatisch Pula) lag im letzten Viertel des 10. Jahrhunderts im immer noch byzantinisch orientierten Machtbereich von Venedig und gehörte zur Kirchenprovinz von Grado. Willibertus archiepiscopus ist nach einem nicht identifizierbaren Laien Ruotgerus eingetragen, der dem Gereonsstift Besitz in Hasbanien übertrug und wahrscheinlich Jahre vor dem Erzbischof verstarb. Zusammen mit Erzbischof Bruno wird an diesem Tag der Tod eines Akolythen Azelinus, wohl eines Stiftsmitglieds, genannt. Der in Hildesheim memorierte Todestag von Bischof Othwin war der 1. Dezember.
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„alten“ Verzeichnungen. Der am 27. Dezember genannte Baldericus episcopus dürfte mit Bischof Balderich von Utrecht († 975) identisch sein. Während hier nur auf die Eintragung vor 1000 gestorbener bedeutender Personen näher eingegangen wurde, ist zu beachten, dass dieses Memorienbuch auch in den aus weit älteren Vorlagen stammenden Teilen zum größten Teil Mitglieder des St.-Gereon-Stiftes berücksichtigt, die meist schwerlich zu identifizieren sind. Wie groß unter den sonstigen Klerikern (der Weihegrad ist wie üblich stets angegeben) der kölnische und der außerkölnische Anteil ist, muss offen bleiben. Bei den verzeichneten Laien scheint es sich für die Frühzeit überwiegend um Angehörige des nordlotharingischen Adels zu handeln, die der Kirche von St. Gereon Stiftungen für ihr Seelenheil vermachten. Außer den Ezzonen (bzw. ihren Vorfahren) ließen sich bei genauerer Untersuchung wohl noch einzelne Mitglieder der Familie der Matfridinger/Gerhardiner identifizieren. Besonderes Interesse für weitere Forschungen könnten die Eintragungen der Bischöfe beanspruchen, vor allem derjenigen, die nicht zur Kölner Provinz gehörten. Bemerkenswert ist die Memorialeintragung einzelner Frauen mit besonderem religiösen Status (sanctimoniales, inclusae), die vermutlich schon zu Lebzeiten in einer besonderen Gebetsgemeinschaft mit dem Gereonsstift standen.
Die ältesten Memorien des Xantener Viktor- und des Bonner Cassiusstiftes und die frühe Memorialüberlieferung der Konvente von Werden und Essen Die monasteria und späteren Stiftskirchen von Xanten und Bonn waren in ihrer Stellung der Gemeinschaft von St. Gereon in Köln sehr ähnlich. Beide, deren Rang untereinander während des gesamten Mittelalters nie wirklich geklärt wurde, übertrafen St. Gereon noch an Bedeutung, da sie im Frühmittelalter so etwas wie geistliche Nebenresidenzen der Kölner Erzbischöfe darstellten. Im näher am Bischofssitz gelegenen Bonn nahmen die Erzbischöfe sogar selbst die Stellung des Konventsleiters (Abbas) wahr. Beide Kirchen könnten auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit als fakultative und keineswegs kontinuierliche „Sitze“ von Chorbischöfen angesehen werden. Das älteste erhaltenene Xantener Totenbuch, heute als Hs. 101 in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster, wurde kurz nach 1044 geschrieben.37 Dabei wurde zum guten Teil eine Vorlage benutzt, deren da37
Oediger 1958, XV–XVI.
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tierbare Eintragungen 870 einsetzten.38 Diese Vorlage scheint nicht ihrerseits auf eine noch ältere zurückzugehen, sondern entstand wohl ohne einen unmittelbaren Vorgänger erst nach 863, dem Jahr der Zerstörung Xantens durch die Normannen. Die Eintragung von Verstorbenen, die nicht der eigenen Gemeinschaft angehörten, beziehen sich überwiegend auf Personen, die im Kölner Sprengel gelebt haben. Kleriker aus der Stadt Köln sind dabei besonders reichlich vertreten. Die beiden unmittelbaren Nachfolger Gunthers, die Erzbischöfe Willibert und Hermann I. werden genannt. Der dann folgende Kölner Oberhirte Wichfried scheint zu fehlen, falls sein Name nicht gründlich verschrieben ist. Die dann folgenden des 10. Jahrhunderts Bruno I., Folkmar, Gero, Warin und Everger sind alle enthalten. Ebenfalls erwähnt ist der Kölner Suffraganbischof Egilbert von Utrecht (24. Oktober [899]) und der im Kampf gegen eine Adelskoalition gefallene lotharingische König Zwentibold (13. August [900]). Beide sind im ältesten Memorienbuch von St. Gereon nicht genannt. Die Memoria Zwentibolds hat im gesamten Kölner Sprengel auch sonst keine Bedeutung gehabt. Dies ist deshalb interessant, weil sie innerhalb des Bistums Lüttich in einer freilich begrenzten Region so großes Gewicht hatte, dass sich aus ihr seine kultische Verehrung als Königsheiliger entwickelte.39 Für das Cassiusstift in Bonn ist eine im 10. Jahrhundert mit dem Kloster Reichenau bestehende Gebetsbrüderschaft anzunehmen.40 Aus der Tatsache, dass im Reichenauer Dokument unter der Überschrift De monasterio sanctorum Martini, Cassi et Florentii41 auch Frauennamen aufgeführt sind, hat man geschlossen, dass der Bonner Gemeinschaft auch sorores angegliedert waren.42 Auf die Memoria von Laien im Bonner Stift kann man indirekt auf Grund von Schenkungen für das Seelenheil der jeweiligen Stifter schließen. So schenkte 895 ein Engilbert der Cassiuskirche Besitz in Stieldorf und
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Älteste datierbare Eintragung ist die vom Todestag (30. Juni) des 870 verstorbenen Kölner Erzbischofs Gunther. Zwentibold wurde in der Kirche des von der Abtei Prüm abhängigen Frauenkonvents Susteren begraben, wo nacheinander zwei Töchter des letzten autonomen lotharingischen Königs Äbtissinnen waren (Die Auffassung, sein Grab befinde sich in Echternach, ist frühneuzeitliche Legende). Sein Kult verbreitete sich in Teilen der späteren Lütticher Dekanate Susteren, Maaseik (Masseyk) und Wassenberg und hielt sich dort wohl bis zum Ende des Mittelalters. Höroldt 1957, 174. Libri confraternitatum 1884, 326; Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau 1979, pag. 135. Denselben Schluss zog Oediger für Xanten aus einigen der Frauennamen im oben behandelten ältesten Totenbuch von St. Viktor.
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Dattenfeld ob […] requiem animarum.43 Diese Urkunde steht nicht allein, aber in ihnen allen insgesamt Memorienstiftungen zu sehen, wäre methodisch äußerst bedenklich. Dies gilt vor allem für eine Stiftung, die noch dem 7. Jahrhundert (692)44 angehört, also einer Zeit, als es wohl eine den Bonner Martyrern geweihte Kirche, aber vermutlich noch keine voll entwickelte Klerikergemeinschaft an dieser gegeben hat. Ein völlig anderer Sachverhalt ergibt sich bei Schenkungen des 9. Jahrhunderts, bei denen zwar nicht expressis verbis von einer Memoria die Rede ist, wo aber ausdrücklich auf die Liturgie der Kanoniker Bezug genommen wird.45 Ganz anders als bei einer erzbischöflichen Eigenkirche wie St. Cassius oder einer Kirche, die wie St. Viktor zumindest unter sehr deutlichem erzbischöflichen Einfluss stand, verhält es sich mit der Memoria von Gemeinschaften, die wie die in Werden und in Essen, obwohl im Erzbistum gelegen, schon von ihrer Gründung her stärkste Beziehungen zu anderen Bistümern aufwiesen. Zwar war nicht die Art der Memoria verschieden, wohl aber der Personenkreis der Kommemorierten. Unter den im Kölner Sprengel gelegenen Klöstern ist für die Abtei Werden die Memorialtradition recht gut erforscht.46 Schriftliche Zeugnisse, selbst indirekt in Abschriften überlieferte, sind allerdings erst seit dem 12. Jahrhundert überliefert. Dass in diesem auch die frühesten Äbte aufgeführt sind, beweist freilich, dass deren Todestage immer schon als Anniversarien beachtet wurden und das Gebetsgedenken von ihrem jeweiligen Lebensende an bestanden hat. Das bedeutendste Zeugnis für die Memoria der Äbte47 aus Liudgers Familie, also für Hildigrim den Älteren (809–827), Gerfrid (827–839), Thiatgrim († 840),48 Altfrid (ca. 840–849) und Hildigrim den Jüngeren, ist ihr gemeinsames Begräbnis in unmittelbarer Nähe des Klostergründers St. Liudger. D. h., obwohl die meisten von ihnen Bischöfe waren,49 sind sie nicht in der Kathedrale oder sonst in ihrer Bischofsstadt, 43 44 45
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Levison 1932, 231. Ebenda, 236–237. Beispielsweise bei einer Schenkung, die im Jahre 848 vier Personen (Gundard, Albert, Rutbald und Erkenbert) für das Seelenheil einer offenbar bereits Verstorbenen (Guthana, Mutter der vielleicht als Brüder anzusehenden Stifter?) machen: ebenda, 238–239. Fremer/Sander 1999, 80–87. Gelegentlich werden die Liudgeriden-Äbte (durchaus quellenmäßig) auch als rectores bezeichnet. Bei Thiatgrim ist zwar sicher, dass er in der gemeinsamen Grablege der Rektoren-Äbte bestattet wurde und dass er zur Familie Liudgers gehörte, aber dass er wirklich die Leitung des Klosters innegehabt hat, ist nicht ganz sicher. Hildigrim der Ältere war Bischof von Chalons-sur Marne und Gründer des Bistums Halberstadt, Altfrid war Bischof von Münster und Hildigrim der Jüngere Bischof von Halberstadt.
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sondern bei ihrem Verwandten Liudger begraben worden. Somit gab es eine ausgeprägte Familien-Memoria der Stifterfamilie von Werden, des genus sacerdotale. Die Memoria des Klostergründergeschlechts wurde von diesem ganz bewusst organisiert. Dabei kam Bischof Altfrid eine besondere Rolle zu. Er war es, der die gemeinsame Krypta bauen ließ.50 Die schon vorhandenen Einzelgräber seiner Verwandten bezog er in eine echte Familiengrabstätte ein, und er verband diese mit der Klosterkirche. Diese, die ursprünglich ein Salvatorpatrozinium hatte, bekam wohl unter Altfrid den Klostergründer als Nebenpatron. Liudger ist als solcher spätestens 847 nachgewiesen.51 Am interessantesten in unserem Zusammenhang sind die Memorialteile eines Essener Sakramentars, einer Handschrift, die sich heute unter der Signatur D1 in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf befindet.52 Die dort enthaltenen Memorieneintragungen wurden 1986 von Volkhard Huth untersucht.53 Es folgte eine intensive weitere Beschäftigung mit diesen Namenverzeichnungen.54 Nach 875 trug man in ein ursprünglich als Martyrologium angelegtes Kalendarium Namen für das Totengedächtnis ein. So wurde daraus schließlich ein Nekrolog.55 Unter den dort verzeichneten Bischöfen findet sich (wie für das damalige Stift Essen zu erwarten) kein Kölner Erzbischof, aber vier Bischöfe von Hildesheim, darunter auch Bischof Ebo (845–851), der zuvor Erzbischof von Reims gewesen war (Bemerkenswert ist, dass auch ein wohl erst nach der Mitte des 10. Jahrhunderts dem Codex eingefügtes Diptychon56 keine Kölner Oberhirten enthält.).
Der karolingische Domneubau und die Bischofsmemorien des 9. und 10. Jahrhunderts Die schon bald wieder unterbrochene Reihe der bischöflichen Bestattungen in der Kathedrale beginnt in Köln nicht zufällig mit Erzbischof Willibert (870–889). Dieser hat am 27. September 870 zu Beginn seines Pontifikats den sog. „Alten Dom“, also den Neubau des 9. Jahrhunderts,
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Fremer/Sander 1999, 82. Ebenda. Dausend 1920; Semmler 1994a; ders. 1994b. Huth 1986. Bodarwé 2004, 220–222; Schilp 2003; ders. 2004. Fol. 217r–222r. Genauer ein Nekrolog in Form eines Diptychon, fol. 8v–11r.
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geweiht.57 Willibert starb am 11. September 889 und fand als erster Kölner Oberhirte, von dem dies bekannt ist, in seiner Bischofskirche seine letzte Ruhestätte.58 Auch sein Nachfolger Erzbischof Hermann I. (889/90–924) wurde dort begraben.59 Dann wurde erst wieder Erzbischof Gero (969–976) im Dom beigesetzt60 wie auch dessen übernächster Nachfolger Everger (985–999).61 Nun folgte ein Zeitraum von einem halben Jahrhundert bis zur nächsten Bischofsbestattung in der Kathedrale.62 Es ist also eindeutig so, dass sich im frühmittelalterlichen Köln keine feste Tradition einer Bischofsgrablege in der Kathedrale herausgebildet hat. Nur einzelne Erzbischöfe wurden dort begraben und deren Grabstätten waren an den verschiedensten Stellen über den Baukörper verteilt. Die im Zeitraum zwischen Willibert und Everger nicht in der Kathedrale bestatteten Kölner Oberhirten scheinen sich ihr Grab an anderem Ort mit Bedacht gewählt zu haben. Für einige unter ihnen ist dies auch eindeutig beschrieben. Bemerkenswert ist, dass für die große Mehrzahl all dieser Bischöfe, ganz gleich, wo sie ihr Grab wählten, eine deutlich nachweisbare Memorienstiftung existiert hat. Erzbischof Williberts Todestag, der 11. September,63 wurde langfristig durch Anniversarien im Dom kommemoriert.64 Bei seinem Jahrgedächtnis wurden später sechs statt der üblichen vier Anniversarkerzen angezündet.65 Die Memoria für Erzbischof Hermann I. wurde später mit der von Hermann III. verwechselt. Grund war wohl die ebenfalls erfolgte Verwechslung der Gräber. Hermanns I. („des Frommen“) übernächster Nachfolger war Bruno I. („der Heilige“). Bruno (953–965) wurde auf seinen Wunsch in St. Pantaleon bestattet. Es ist überliefert, dass sich der Domklerus nach seinem Tode zunächst einem Begräbnis außerhalb der Kathedrale widersetzte, 57
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Annales Fuldenses 1960, 78. Dort ist von der am 26. September begonnenen Kölner Synode und der anschließenden Domweihe die Rede: […] etiam domum sancti Petri eatenus minime consecratam dedicaverunt. – Das Datum des 27. September findet sich u. a. im oben erwähnten Kalendar der Hs. 45 der Kölner Dombibliothek mit dem Eintrag: Dedicatio ecclesie sci Petri in Colonia. Catalogus archiepiscoporum Coloniensium, 348: Hic ecclesiam beati Petri Colonie dedicavit, in qua et sepultus est (Hier und im Folgenden wird nur der Catalogus zitiert, auch wenn andere die Aussage verifizierende Quellen vorhanden sind.). Ebenda, 338. Ebenda, 339. Ebenda. – Über das Grab von Geros unmittelbarem Nachfolger Warin (976–985) ist nichts bekannt. Diese erfolgte erst 1056 nach dem Tode Erzbischof Hermanns II. (ebenda, 340), also außerhalb des hier interessierenden Zeitraums. Siehe oben Anm. 34 mit Bezug auf die Eintragung im Memorienbuch von St. Gereon. Georgi 1998, 241 (mit Angabe der Quellen). Ebenda.
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bevor er nach langer Beratung zustimmte.66 Seine vorauszusetzende Memoria67 wurde von seiner kultischen Verehrung absorbiert; schon bald nach seinem Tod wurde er als Heiliger verehrt. Die Memoria Erzbischof Brunos wurde durch die von seinem Nachfolger Folkmar in Auftrag gegebene Vita Brunonis des Ruotger sozusagen so groß und bedeutsam angelegt, dass sie geradewegs zum Heiligenkult wurde und das mit einer Memoria grundsätzlich intendierte Fürbittgebet gegenstandslos wurde. Die Verfertigung der Vita selbst wird man freilich noch nicht der Hagiographie im engeren Sinne, sondern der Memoria zuordnen müssen, denn expressis verbis ist in ihr von der Heiligkeit Brunos noch nicht die Rede. Über Brunos Nachfolger Folkmar (965/66–969) lassen sich keine Aussagen zum eigenen Begräbnis machen. Die Memoria für Erzbischof Gero (969–976) war in ganz besonderer Weise ausgeprägt, sonst hätte man sein Grab nicht als einziges Domgrab des 10. Jahrhunderts später in den 1248 begonnenen Domneubau verlegt. In gewisser Weise stellt Geros Memoria einen Grenzfall dar, denn auch dieser Erzbischof wurde als Heiliger betrachtet, nur nicht mit der Eindeutigkeit wie sein Vorvorgänger Bruno. Schließlich verlor er im Spätmittelalter die noch im 14. Jahrhundert für die Stadt Köln bezeugte kultische Verehrung. Seine nicht zuletzt auch durch die Existenz des Gero-Kreuzes68 sozusagen verbürgte Memoria aber blieb erhalten. Unterstützt wurde die Erinnerung an ihn auch durch die auf Thietmar von Merseburg zurückgehende Legende über sein Begräbnis.69
Vereinzelte Memorieneintragungen in zwei Handschriften des 10. Jahrhunderts aus der Kölner Dombibliothek In den beiden Domhandschriften 45 und 88 sind Kalendarien enthalten, die knappe Nekrologeintragungen aufweisen. Die Handschrift 45, ein Psalterium mit Glossen,70 ist entweder kurz nach der Mitte oder im letzten Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts geschrieben worden.71 Auf fol. 8r bis 15v befin66 67 68
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Ruotger, Vita Brunonis, c. 48, S. 51. Vgl. auch seine Eintragung ins Memorienbuch von St. Gereon, siehe oben Anm. 35. Für die Bewertung der mittelalterlichen Tradition ist es unerheblich, dass in der neueren Forschung gelegentlich Geros zweiter Nachfolger Everger als Stifter dieses Kreuzes angesehen wird. Finger 2002, 24–25; ders. 2005, 132. Von Euw 1985; Plotzek 1998. Wahrscheinlicher ist m.E. die spätere Datierung. – Auch die Provenienz der Handschrift ist bislang nicht eindeutig bestimmt. Vertreten wird ihre Entstehung in Köln oder in
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det sich ein Kalendarium, in dem um das Jahr 1000 und bis 1040 sehr wenige Namen von Verstorbenen zugefügt wurden. Einige, ebenfalls sehr wenige Nekrologeintragungen stammen von der Hand des Schreibers und sind wohl von Anfang an vorhanden gewesen. Als nachträglich für das Gebetsgedenken eingetragene Todestage erscheinen die der Kaiserin Kunigunde (3. März [1033/39]), Kaiser Heinrichs II. (13. Juli [1024]) und des Kölner Erzbischofs Everger (19. Juli [999]). Bei Handschrift 88 handelt es sich um das jüngere der beiden alten gregorianischen Sakramentare der Dombibliothek.72 Im Unterschied zum älteren, dem sog. „Pamelius-Sakramentar“, wurde dieses jahrhundertelang in der Kathedralliturgie Kölns benutzt.73 Geschrieben wurde es in Fulda im dritten Viertel des 10. Jahrhunderts und dann in Trier im vierten Viertel desselben Jahrhunderts vollendet. In Köln wurden dann mehrere Apologieformeln als Stillgebete des Priesters hinzugefügt.74 Auf fol. 3r bis 8v findet sich ein Kalendarium. Dieses wurde zwar in Fulda geschrieben, war aber von Anfang an für Köln bestimmt (Das Skriptorium von Fulda war spezialisiert auf Kalendarien und übernahm daher Auftragsarbeiten.75). Eigenartigerweise kam der Codex aber zunächst nach Trier, wo das Kalendarium im trierischen Sinne ergänzt wurde, bevor es dann seinen wahrscheinlich ersten Bestimmungsort Köln erreichte. Dort erhielt das Kalendar dann vom 10. bis 12. Jahrhundert einzelne Memorialeintragungen. Hervorzuheben sind diejenigen für den Kölner Bischof Ricolf (Rihholf, 17. Januar [777]) und für einen schwer eindeutig zu identifizierenden Grafen Poppo (19. März).
Zusammenfassung Da die Memoria im weiteren Sinne zu den Grundgegebenheiten jeder religiös bestimmten Ethik gehört und im engeren Sinne eine der wichtigsten Ausdrucksformen mittelalterlicher Frömmigkeit ist, lässt sie sich in der lateinischen Kirche des Westens speziell anhand der Memorienstiftungen und der Gebetsbruderschaften für alle Teilkirchen voraussetzen. Selbstverständlich macht die Kölner Kirche da keine Ausnahme. Das FüreinanderBeten nimmt gerade in den geistlichen Gemeinschaften – die aber dabei die
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St. Gallen, in letzterem Fall wohl als Auftragsarbeit. Am sinnvollsten erscheint wohl, die Entstehung in Köln nach einer Vorlage aus St. Gallen anzunehmen. Amiet 1955. Odenthal/Surmann 1998, 394–395. Odenthal 1995; ders. 2004. Palazzo 1994.
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Laien einschließen! – natürlich auch im Kölner Sprengel einen zentralen Ort in der Liturgie ein (Die formale Trennung von Privatgebet und Liturgie, definitorisch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der katholischen Kirche vollzogen, ist für das frühe Mittelalter unangemessen.76). Dieser theoretisch unumstößlichen Tatsache steht die Feststellung gegenüber, dass die konkreten Quellenbelege dafür in der Kölner Diözese (so überwältigend groß dort ihre Fülle im Hochmittelalter erscheint) für die frühere Zeit weder an Umfang noch Aussagekraft zufrieden stellen. Vor der Entstehung oder Wiedererstehung des Kölner Metropolitanverbandes um 80077 war die Kölner Diözese ein Grenzbistum des fränkischen Reiches, gelegen an den äußersten Grenzen der Christenheit. Diese periphere Lage bedingte keineswegs eine Blüte kirchlichen Lebens, so sehr auch ein Kölner Bischof wie St. Kunibert, verklärt durch die Tradition, hervorleuchtet. In hochkarolingischer Zeit in das Zentrum der fränkischen Reichskirche gerückt,78 litt die Kölner Kirche in höchstem Maße und mehr als andere Bistümer unter den Reichsteilungen der Erben Karls des Großen.79 Es ist daher kein oder besser nicht nur Zufall, dass die Quellenüberlieferung auch in Bezug auf die Memoria nicht die umfangreichste ist. Dem mag man ein sehr gewichtiges Argument entgegenhalten, die teilweise sehr eindrucksvolle Memorientradition aus rechtsrheinischen Gebieten, die oft schon fast unmittelbar nach deren Christianisierung einsetzte. 76
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Sie wurde stringent erst mit Kanon 1256 des (alten) Codex Iuris Canonici von 1917 formuliert. Zur These einer spätantiken Kölner Metropolie zuletzt: Finger 2001, 55. Dies war gleichermaßen der persönlichen Rolle Hildebalds als archicapellanus (seit 791) wie der Angliederung Sachsens durch Karl den Großen mit der Gründung von neuen Suffraganbistümern Kölns in Westfalen zu verdanken. Letztere zerschnitten nicht nur faktisch für einige Zeit die Kölner Kirchenprovinz, sondern zerteilten politisch sogar das Gebiet der Erzdiözese. In den vierziger Jahren des 9. Jahrhunderts gab es wohl sogar zwei konkurrierende Kandidaten, Hilduin und Liutbert (siehe oben Anm. 26), für den Kölner Erzstuhl, die zeitweilig durch den Rhein getrennte Bereiche beherrschten und die deshalb beide in Köln später nicht als legitim und memorienwürdig angesehen wurden. Hinzu kam als Höhepunkt der Krisenzeit noch die Exkommunikation Erzbischof Gunthers durch Papst Nikolaus I. seit 863 im Zusammenhang mit dem Ehehandel König Lothars II. Dass auch bei diesem insgesamt sieben Jahre als Exkommunizierter amtierenden Bischof trotz dessen großen Leistungen für die Kölner Kirche die Memoria Schaden nahm, ist geradezu selbstverständlich. Die Erinnerung an Erzbischof Gunther, also sozusagen seine Memoria im allgemeinsten, nicht „technischen“ Sinne, war äußerst zwiespältig. Einerseits lobte ihn der Kölner Klerus in einem Brief an den Papst anlässlich der Wahl seines Nachfolgers geradezu mit Überschwang (Regesten der Erzbischöfe von Köln I, Nr. 239), andererseits entstand bald die Legende, der hl. Viktor selbst habe den frevelhaften Oberhirten erschlagen, als dieser trotz Exkommunikation in Xanten die Messe haben lesen wollen. (Dennoch ist in späterer Zeit gerade in Xanten – siehe oben Anm. 38 – seine Memoria förmlich begangen worden.)
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Hier wurden neue Strukturen aufgebaut, die dann ungebrochen tradiert wurden. Im Kölner Sprengel gab es hingegen noch im 9. Jahrhundert ältere kirchliche Administrationsformen, die dann später „modernisiert“ wurden; ein wichtiger Schritt war dabei die partitio Coloniensis des Erzbischofs Gunther (866).80 Eindeutig ist, dass nicht die Pflege der Memorien in Köln zu wünschen übrig ließ, sondern dass die Detailkenntnisse davon auf Grund der Quellenlage nicht optimal erkennbar sind. Daher ist das hier gezeichnete Bild in gewisser Weise bruchstückhaft. Ziel war es, dennoch einen Überblick zu gewinnen. Ein Aspekt konnte mit gutem Gewissen vernachlässigt werden, die kölnischen Memorien in Oberitalien. Diese sind nämlich gut erforscht.81 Ein anderer Aspekt, der hier fehlt, ist die Untersuchung der Frage, ob sich der durch Dieter Geuenich erforschte Einfluss der anianischen Reform auf das Gebetsgedenken82 auch im Kölner Sprengel nachweisen lässt. Hierzu gibt es nur die Entschuldigung, dass es mir nicht möglich war, einen solchen Nachweis zu erbringen. Vielleicht wird dies anderen in Zukunft gelingen. Überhaupt versteht sich die vorliegende Untersuchung nur als Teil eines Anfangs in der Erforschung der frühmittelalterlichen Kölner Memorien. Als wichtigstes Ergebnis ist festzuhalten, dass die im Hinblick auf das Thema bisher (mit Ausnahme der kölnischen „Außenseiter“ Werden und Essen) nur wenig erforschte Kölner Diözese keinen „weißen“ Fleck in Bezug auf die Memorialüberlieferung darstellt. Um dies zu belegen, war es wichtig, die nur bruchstückhafte Memorientradition in den Kölner Domhandschriften 45, 82 II und 88, die bislang nicht unbekannt war, stärker als üblich zu werten.
Quellen- und Literaturverzeichnis a) Quellen Annales Fuldenses 1960: Annales Fuldenses. In: Reinhold Rau, Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte. Bd. 3 (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe. Bd. 7) (Darmstadt 1960) 19–177 Von den Brincken 1968: Anna-Dorothee von den Brincken [Bearb.], Die Totenbücher der stadtkölnischen Klöster und Pfarreien. In: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 42 (1968) 137–175 Cat. archiepiscoporum Col.: Catalogus archiepiscoporum Coloniensium. In: MGH SS 24, 336–353
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Wisplinghoff 1994, Nr. 218. Ludwig 1999; ders. 2004; ders. 2005. Geuenich 1989.
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Greg. Tur., De virtutibus S. Martini: Gregorius episcopus Turonensis, De virtutibus sancti Martini. In: MGH SS rer. Mer. I, 2 (Hannover 1885, Nachdruck 1969) 134–211 Levison 1932: Wilhelm Levison [Bearb.], Die Bonner Urkunden des frühen Mittelalters. In: Bonner Jahrbücher 136/137 (1932) 217–270 Libri confraternitatum 1884: Libri confraternitatum Sancti Galli, Augiensis, Fabariensis, ed. Paul Piper (MGH Libri confraternitatum) (Berlin 1884) Mart. Hieron.: Martyrologium Hieronymitanum. In: AA SS Nov. II/1, 1–195 Memorialcodex San Salvatore 2000: Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore/ Santa Giulia in Brescia, hg. von Dieter Geuenich/Uwe Ludwig (MGH Libri memoriales et necrologia, NS 4) (Hannover 2000) Oediger 1958: Friedrich Wilhelm Oediger, Das älteste Totenbuch des Stiftes Xanten (Die Stiftskirche des hl. Viktor zu Xanten, Bd. II, 3) (Kevelaer 1958) Ruotger, Vita Brunonis: Ruotgers Lebensbeschreibung des Erzbischofs Bruno von Köln, hg. von Irene Ott (MGH SS rer. Germ., NS 10) (Weimar 1951) Verbrüderungsbuch Reichenau: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, hg. von Johanne Autenrieth/Dieter Geuenich/Karl Schmid (MGH Libri memoriales et necrologia, NS 1) (Hannover 1979) Wisplinghoff 1972: Erich Wisplinghoff [Bearb.], Rheinisches Urkundenbuch. Ältere Urkunden bis 1100. Bd. 1 (Bonn 1972) Wisplinghoff 1994: Erich Wisplinghoff [Bearb.], Rheinisches Urkundenbuch. Ältere Urkunden bis 1100. Bd. 2 (Düsseldorf 1994)
b) Literatur Amiet 1955: Robert Amiet, Les sacramentaires 88 et 177 du Chapitre de Cologne. In: Scriptorium 9 (1955) 76–84 Bodarwé 2004: Katrinette Bodarwé, Sanctimoniales litteratae: Schriftlichkeit und Bildung in den ottonischen Frauenkommunitäten Gandersheim, Essen und Quedlinburg (Münster 2004) Borger 1979: Hugo Borger, Die Abbilder des Himmels in Köln (Köln 1979) Borgolte 2005: Michael Borgolte, Zur Lage der deutschen Memoria-Forschung. In: Memoria. Erinnern und Vergessen in der Kultur des Mittelalters (Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient 15) (Bologna/Berlin 2005) 21–28 Dassmann 1993: Ernst Dassmann, Die Anfänge der Kirche in Deutschland (Stuttgart 1993) Dausend 1920: Hugo Dausend, Das älteste Sakramentar der Münsterkirche zu Essen, literarhistorisch untersucht (Liturgische Texte und Studien. I,1) (Mönchen-Gladbach 1920) Decker 1895: Anton Decker, Die Hildebald’sche Manuskriptensammlung des Kölner Doms. In: Festschrift der dreiundvierzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner (Bonn 1895) 215–251 Von Euw 1985: Anton von Euw, [Artikel zu Dom-Hs. 45] Kalendar und Psalterium mit Kommentar. In: Ornamenta Ecclesiae, Kunst und Künstler der Romanik. Katalog zur Ausstellung des Schnütgen-Museums in der Josef-Haubrich-Kunsthalle. Bd. 1 (Köln 1985) 434–435 Von Euw 1998: Anton von Euw, [Artikel zu Dom-Hs. 83,II] Kompendium der Zeitrechnung, Naturlehre und Himmelskunde. In: Glaube und Wissen im Mittelalter. Die Kölner Dombibliothek (München 1998) 136–156
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Finger 2001: Heinz Finger, „Drîer künege kamarære“. Zu Selbstverständnis und Selbstdarstellung der Kölner Kirche und ihrer Erzbischöfe im Mittelalter. In: Analecta Coloniensia 1 (2001) 51–88 Finger 2002: Heinz Finger, „Gehütete Hirten“ – Die Kölner Erzbischöfe des Mittelalters unter himmlischer Führung. Ein Beitrag zu Visionsschilderungen und sogenannten „Jenseitsbotschaften“ in erzählenden Geschichtsquellen. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 205 (2002) 17–34 Finger 2005: Heinz Finger, Zu Inthronisation und Begräbnis der Bischöfe, insbesondere der Kölner Erzbischöfe, im Mittelalter. Ritual und „Inszenierung“ am Anfang und Ende bischöflicher Amtszeiten. In: Analecta Coloniensia 5 (2005) 125–146 Finger 2007: Heinz Finger, Die Kölner Pfarre St. Kolumba im Kreis der alten stadtkölnischen Pfarreien. Ein Überblick aufbauend auf den Forschungen Eduard Hegels. In: Der Kolumbapfarrer Kaspar Ulenberg und die Geschichte der Kolumbapfarre (Libelli Rhenani 20) (Köln 2007) 15–94 Fremer/Sander 1999: Torsten Fremer/Gabriele Sander: Memoria und Verbrüderung. Zur Gedenküberlieferung des Klosters Werden im Mittelalter (800–1300). In: Das Jahrtausend der Mönche. Klosterwelt Werden 799–1803, hg. von Jan Gerchow (Ausstellung im Ruhrlandmuseum Essen, 26. März bis 27. Juni 1999) (Köln 1999) 80–87 Georgi 1998: Wolfgang Georgi, Die Grablegen der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter. In: Dombau und Theologie im mittelalterlichen Köln. Festschrift zur 750-Jahrfeier der Grundsteinlegung des Kölner Domes und zum 65. Geburtstag von Joachim Kardinal Meisner, hg. im Auftrag des Metropolitankapitels von Ludger Honnefelder/Norbert Trippen/Arnold Wolff (Studien zum Kölner Dom 6) (Köln 1998) 233–265 Geuenich 1989: Dieter Geuenich, Gebetsgedenken und anianische Reform – Beobachtungen zu den Verbrüderungsbeziehungen der Äbte im Reich Ludwigs des Frommen. In: Monastische Reformen im 9. und 10. Jahrhundert, hg. von Raymund Kottje/Helmut Maurer (Vorträge und Forschungen 38) (Sigmaringen 1989) 79–106 Gierlich 1990: Ernst Gierlich, Die Grabstätten der rheinischen Bischöfe vor 1200 (Quellen und Abhandlungen zur mittelalterlichen Kirchengeschichte 65) (Mainz 1990) Heusgen 1931: Paul Heusgen, Das älteste Memorienbuch des Kölner Gereonsstiftes. In: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 13 (1931) 1–28 Heusgen 1947: Paul Heusgen, Die komputistische Handschrift der Kölner Dombibliothek. In: Colonia Sacra 1. Festgabe für Wilhelm Neuß, hg. von Eduard Hegel (Köln 1947) 11–18 Höroldt 1957: Dietrich Höroldt, Das Stift St. Cassius zu Bonn von den Anfängen der Kirche bis zum Jahre 1580 (Bonner Geschichtsblätter 9) (Bonn 1957) Huth 1986: Volkhard Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift D1 als Memorialzeugnis. Mit einer Wiedergabe der Namen und Namensgruppen. In: Frühmittelalterliche Studien 20 (1986) 213–298 Kluge/Seebold 1995: Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. von Elmar Seebold (23. erw. Aufl. Berlin/New York 1995) 561 [Artikel] „Minne“ Körntgen 2005: Ludger Körntgen, Herrschaftslegitimation und Heilserwartung. Ottonische Herrscherbilder im Kontext liturgischer Handschriften. In: Memoria. Erinnern und Vergessen in der Kultur des Mittelalters (Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient 15) (Bologna/Berlin 2005) 29–49
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Ludwig 1999: Uwe Ludwig, Transalpine Beziehungen der Karolingerzeit im Spiegel der Memorialüberlieferung. Prosopographische und sozialgeschichtliche Studien unter besonderer Berücksichtigung des Liber vitae von San Salvatore in Brescia und des Evangeliars von Cividale (MGH, Studien und Texte 25) (Hannover 1999) Ludwig 2004: Uwe Ludwig, Kölner Namen im Gedenkbuch von San Salvatore/Santa Giulia in Brescia. In: Mittelalter an Rhein und Maas. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins. Dieter Geuenich zum 60. Geburtstag (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 8) (Münster u.a. 2004) 43–56 Ludwig 2005: Uwe Ludwig, Das Gedenkbuch von San Salvatore in Brescia. Ein Memorialzeugnis aus dem karolingischen Italien. In: Memoria. Erinnern und Vergessen in der Kultur des Mittelalters (Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient 15) (Bologna/ Berlin 2005) 169–200 Nattermann 1960: Johannes Christian Nattermann, Die Goldenen Heiligen. Geschichte des Stiftes St. Gereon zu Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 12) (Köln 1960) Odenthal 1995: Andreas Odenthal, Zwei Formulare des Apologietyps der Messe vor dem Jahre 1000. Zu Codex 88 und 177 der Kölner Dombibliothek. In: Archiv für Liturgiewissenschaft 37 (1995) 25–44 Odenthal 2004: Andreas Odenthal, Die Messe Gregors des Großen? Überlegungen zu den Auswirkungen der bonifatianisch-karolingischen Liturgiereform auf den Meßordo anhand des Fuldaer Sakramentars Codex 88 der Kölner Dombibliothek. In: Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek. Erstes Symposion (Libelli Rhenani 12) (Köln 2004) 67–107 Odenthal/Surmann 1998: Andreas Odenthal/Ulrike Surmann, [Artikel zu Dom-Hs. 88] Sakramentar. In: Glaube und Wissen im Mittelalter. Die Kölner Dombibliothek (München 1998) 394–400 Oediger 1972: Friedrich Wilhelm Oediger, Das Bistum Köln von den Anfängen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (Geschichte des Erzbistums Köln, hg. von Eduard Hegel. Bd. 1) (2. Aufl. Köln 1972) Oexle 1993: Otto Gerhard Oexle, [Artikel] „Memoria, Memorialüberlieferung“ in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 6 (München 1993) Sp. 510–513. Palazzo 1994: Eric Palazzo, Les Sacrementaires de Fulda. Étude sur l’iconographie et la liturgie à l’époque ottonienne (Liturgiegeschichtliche Quellen und Forschungen 77) (Münster 1994) Plotzek 1998: Joachim M. Plotzek, [Artikel zu Dom-Hs. 45] Psalter mit Glossen. In: Glaube und Wissen im Mittelalter. Die Kölner Dombibliothek (München 1998) 219–224 Regesten der Erzbischöfe von Köln I: Regesten der Erzbischöfe von Köln. Bd. 1 (Bonn 1954–1961, Nachdruck Düsseldorf 1978) Schilp 2003: Thomas Schilp, Gebetsgedenken in der Krise? Zu den Namenslisten der Essener Frauengemeinschaft in einer Sakramentarhandschrift des 9. Jahrhunderts. In: Festschrift für Franz-Josef Heyen zum 75. Geburtstag (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 105/1) (Mainz 2003) 157–164 Schilp 2004: Thomas Schilp, Liturgisches Gedenken zur Bewältigung einer Krisensituation: Überlegungen zu den Namenslisten in einer Essener Sakramentarhandschrift des 9. Jahrhunderts. In: Mittelalter an Rhein und Maas. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins. Dieter Geuenich zum 60. Geburtstag (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 8) (Münster 2004) 57–68
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Semmler 1994a: Josef Semmler, Bemerkungen zu drei liturgischen Handschriften der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf. In: Bücher für die Wissenschaft. Festschrift für Günter Gattermann zum 65. Geburtstag (München u. a. 1994) 201–212 Semmler 1994b: Josef Semmler, Ein karolingisches Meßbuch der Universitätsbibliothek Düsseldorf als Geschichtsquelle. In: Das Buch in Mittelalter und Renaissance, hg. von Rudolf Hiestand (Studia humaniora 19) (Düsseldorf 1994) 33–57 Walde/Hofmann 1954: Alois Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch. 3. neubearb. Aufl. von Johann Baptist Hofmann. Bd. 2 (Heidelberg 1954) 67–68 [Lemma] „memor / memoria“ Wiercinski 1964: Dorothea Wiercinski, Minne. Herkunft und Anwendungsgeschichten eines Wortes (Niederdeutsche Studien 11) (Köln/Graz 1964) Wolff 1984: Gerta Wolff, St. Severin. In: Köln: Die Romanischen Kirchen. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. von Hiltrud Kier/Ulrich Krings (Stadtspuren 1) (Köln 1984) 474–517
Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 317–340 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Zur Frühgeschichte des Klosters Kempten
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Zur Frühgeschichte des Klosters Kempten. Eine Untersuchung zu den Konventslisten des Klosters unter Abt Tatto HANSMARTIN SCHWARZMAIER
Der Versuch, auf ein vor fünfzig Jahren bearbeitetes Thema zurückzukommen, besitzt einen eigentümlichen Reiz. Er bietet die Möglichkeit, damals Erforschtes und Dargestelltes aufzugreifen und zu hinterfragen, dies vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Forschung, die in vielen Fragen in Neuland vorgestoßen ist.1 Dabei kann es nicht darum gehen, ihre Wege insgesamt nachzuvollziehen. Vielmehr soll an einem einzelnen Beispiel ein älterer Ansatz aufgegriffen und in die Fragen der neueren Forschung eingebracht werden, um auf diese Weise das wissenschaftliche Gespräch weiterzuführen. Es gilt den Anfängen des Klosters Kempten im 8. und in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts, also in der Endphase des alemannischen Herzogtums und seiner Eingliederung in das fränkische Reich der karolingischen Könige.2 An der Iller gelegen, die dann die Diözesen Augsburg und Konstanz scharf voneinander abgrenzte und das spätere Kemptener Stiftsgebiet durchschnitt, das jedoch in seiner Gesamtheit augsburgisch wurde, liegt es zugleich im schwäbisch-bairischen Grenzgebiet oder, um es in der Geographie des früheren Mittelalters auszudrücken, im Osten Alemanniens. Dies bedeutet zugleich, dass die zu Beginn des 19. Jahrhunderts festgelegte Landesgrenze zwischen Württemberg und Bayern Kempten mitsamt dem Allgäu, entlang den Grenzen des Stiftsgebietes, Bayern zuwies, so dass sich von nun an zwei sich voneinander abgrenzende Forschungsberei1
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Dem Vf. möge erlaubt sein, nach 50jähriger wissenschaftlicher Arbeit, die vom Freiburger Arbeitskreis von Gerd Tellenbach und seinen Schülern, namentlich von Karl Schmid, ihren Ausgang nahm, an ältere eigene Arbeiten anzuknüpfen, auch wenn die Forschung teilweise darüber hinausgekommen ist. Doch verbindet ihn der hier vorgelegte Rückblick mit vielen der in der Literaturliste genannten Wissenschaftlern, unter denen der Jubilar besonders und in Dankbarkeit zu nennen ist. Zu Kempten in seiner Frühzeit Schwarzmaier 1961, insbes. 7–47; Dertsch 1966, Xff.; Blickle 1968, 3–29; Tüchle 1970, 390ff.; Handbuch der Bayerischen Geschichte, Band 3,2, 152–167.
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che in die Themen früh- und hochmittelalterlicher Geschichte teilten. Auch aus diesem Grunde ist, aus alemannischer Sicht, das östliche „Stammesgebiet“ stets etwas weniger beachtet worden, während das Bodenseegebiet mit seiner schwäbischen Metropole Konstanz, mit den Klöstern Reichenau und St. Gallen das Geschichtsbild zu dominieren vermochte. Davon wird gleich zu sprechen sein. Dabei hat man schon immer bemerkt, wie sehr die Frage der Frühgeschichte dieses Raumes von der schriftlichen Überlieferung bestimmt ist, jenen Aufzeichnungen, die wir vor allem den Mönchen der Bodenseeklöster verdanken. Diese haben, oftmals in sehr viel späterer Zeit, dasjenige aufgezeichnet, was ihnen aus ihrer Sicht der Dinge wichtig schien. Ihre Erzählungen sind aufs engste mit der christlichen Missionierung verknüpft und damit mit einer Schriftlichkeit der Mönche, die mit den Mitteln antiker Erzähltradition die Tätigkeit der ersten Missionare des Landes, die inzwischen als Heilige verehrt wurden und deren Wundertaten sie zu rühmen wussten, niederschrieben, manchmal aus eigenem Miterleben, doch oftmals auch in der Nachgestaltung älterer schriftlicher oder mündlicher Überlieferung. Das Genus der Hagiographie tritt uns in den verschiedenartigsten Erscheinungen entgegen,3 besitzt jedoch stets den eigentümlichen Charakter einer panegyrischen Darstellung, die wir in ihrer Eigenart zu verstehen haben, wenn wir ihren historischen Quellenwert ergründen wollen.4 Dies ist hier nicht auszuführen, doch wird man gerade bei der Betrachtung der frühen Heiligenviten Dinge im Auge behalten, die uns immer wieder bei dem Versuch begegnen werden, anhand der Wanderung der frühen Mönche, der monachi peregrini ein Stück der damaligen Realitäten zu erfassen.5 Denn allenthalben begegnet man ihnen entlang den alten Römerstraßen, bei den Überresten römischer Zivilisation, und stets hört man von ehemals blühenden Städten, deren steinerne Bauten noch lange vorhanden waren, ehe sie doch verfielen oder niederbrannten und als Ruinen stehen blieben.6 Nur kurze Strecken wagten sich die Missionare in das unerschlossene Gebiet hinein, in dem sich eine vorwiegend heidnische Bevölkerung feindselig zeigte, und nur der Rückhalt, den sie bei christlichen Adeligen und Vornehmen des Landes genossen, ermöglichte es ihnen, ihre Stellung zu befestigen. Aus diesem Spannungsfeld heraus hat man die Personenkreise der Heiligenviten zu betrachten, die wenigen in ihnen genannten Bischöfe und Kleriker, Herzöge und Grafen, an denen wir die Geschichte jener Zeit 3 4 5 6
Prinz 2002, 49. Graus 1974. Angenendt 1972. Czysz 1995, 177ff., 463–468; Keller 1987, 2ff.
Zur Frühgeschichte des Klosters Kempten
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orientieren.7 Ein sich ständig wiederholendes Element ist der Streit zwischen den Eremiten und Klostergründern und den örtlichen Gewalthabern um die Waldnutzung im Zuge der Rodungstätigkeit, und auch hinter dem geläufigen Bild von der Vertreibung der die teuflische Macht verkörpernden wilden Tiere durch die frommen Mönche steckt die Vorstellung von einer Wildnis, bei deren Rodung die Jagdgebiete der Herren gemindert wurden.8 Das 7. und beginnende 8. Jahrhundert, in das man diese Geschichten einordnen möchte, lässt hier Restvorstellungen erkennen, die in die Anfänge klösterlicher oder eremitischer Niederlassungen hineinführen und, am Rande einer mönchischen Überlieferung und gleichsam als deren Zufallsprodukt, etwas von der Wirklichkeit des Lebens im alemannischen Raum der Frühzeit zu erkennen geben.
Das Zeugnis der Magnusvita Doch nun zum ostalemannischen Raum: Alles, was wir über die erste Phase der Kemptener Klostergeschichte wissen, entstammt der Vita sancti Magni, jenes Heiligen also, der in Füssen als der Begründer des dortigen Klosters verehrt wird, in dem seine Gebeine ruhen.9 Zuvor jedoch, so will es die Vita, habe er unter dem Namen Magnoald in der Begleitung des Heiligen Gallus im Bodenseegebiet gewirkt, ehe dieser, um 650, in Arbon starb und am Ort seiner Verehrung, dem nach ihm benannten St. Gallen bestattet wurde.10 Die Vorgänge, die in der Vita sancti Galli erzählt werden, sind dann, teilweise wörtlich, in die Magnusvita eingegangen, zusammen mit Elementen aus der Vita Columbani, soweit sie die Verhältnisse im Bodenseegebiet betrafen. Die politischen Vorgänge um den in Überlingen amtierenden Herzog Gunzo, die aus der Gallus- in die Magnusvita hinübergetragen wurden, führen in die älteste alemannische Herrschaftsgeschichte und sind insbesondere in der jüngeren Forschung intensiv auf ihren Realitätsgehalt hin untersucht worden.11 Doch im Anschluss an die mit dem hl. Gallus
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Keller 1976, insbes. 19 ff.; allgemein Geuenich 1997, 97ff. Graus 1974, 151f., 159 f.; Lorenz 1998, 285. Zur älteren Fassung der Magnusvita zuletzt Walz 1989, mit kritischer Edition (einschl. Übersetzung), mit Datierungsansatz des ausgehenden 9. Jahrhunderts im Umkreis Ermenrichs von Ellwangen und möglicherweise im Kloster Ellwangen. Zur späteren Fassung des Otloh von St. Emmeram, um 1068, vgl. Coens 1963 sowie die Übersetzung von Spahr 1970, 81ff. Gallusvita, hier nach Frank 1975, 233–266 (deutsch). Für die ältere Zeit bezieht sich dies bereits auf die der Magnusvita zugrunde liegende Gallusvita, vgl. Anm. 7.
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verbundenen Geschichten wird der Erzählfaden in der Magnusvita weitergesponnen, wobei Magnoald und sein Genosse Theodor in Verbindung mit Ereignissen gebracht werden, die sich nach dem Tode des hl. Gallus in Alemannien und am Grab des Heiligen abspielten, und die Namen, die nun genannt werden, jene des fränkischen Hausmeiers Pippin, Otmars von St. Gallen und andere, weisen in eine sehr viel spätere Zeit des 8. Jahrhunderts. Dies gilt auch für Magnus selbst, wie ihn die Vita von nun an nennt. Der „historische Magnus“, so nimmt man an, sei um das Jahr 700 im alemannisch-rätischen Raum geboren worden; die Vermutungen über sein Todesdatum schwanken zwischen dem Jahr 750 und einem konkreten Datum 773/5, und damit sind die chronologischen Probleme angesprochen, die sich hier wie bei nahezu allen Heiligenviten stellen. Die Fortsetzung der Magnusvita spielt dann in der Tat im 8. Jahrhundert und berührt, stärker als ihr erster Teil, die Frage nach ihrem „historischen Kern“, die zu vielen Diskussionen und Ableitungen Anlass gab.12 Dies führt nun unmittelbar in den Umkreis von Kempten, und in diesem Zusammenhang müssen wir der Magnusvita weiter folgen. Der Bericht von einer Blindenheilung in Bregenz leitet diesen Erzählstrang ein, und danach, so schreibt die Vita, seien Magnoald und Theodor in Begleitung eines Priesters Tozzo, der ortskundig war, nach Kempten gekommen (ad locum qui vocatur Campidona), das an der Iller gelegen war.13 Die dortige schöne Stadt (oppidum valde formosum, sed ex toto desertum) sei gänzlich verlassen gewesen – ein Topos der Vitenliteratur im Hinblick auf eine ehemalige römische Siedlung mit ihren in alemannischer Zeit aufgelassenen Steinbauten.14 Und dann folgt auch gleich das zweite in der Vitenliteratur gängige Bild von einem offenbar ausgedehnten Jagdgebiet um Kempten, das jedoch von Bären, Wölfen und Schlangen heimgesucht sei. Natürlich gelingt es dem Heiligen, die Schlange Boas zu töten und die vom Teufel besessenen Tiere allesamt zu vertreiben, somit den Ort, also Kempten, zu reinigen. Auf diese große Wundertat hin habe Theodor seinen Gefährten mit dem neuen Namen „Magnus“ benannt, da dieser den Ort nicht nur von Schlangen, sondern von Dämonen gesäubert habe. Doch während dann Theodor bei einer dort erbauten Kirche zurückblieb, sei Magnus, wiederum geführt von Tozzo, zu Bischof Wikterp nach Epfach weitergezogen, der ihm schließlich gestattet habe, nach Füssen weiter-, oder sollte man sagen westwärts, also zurückzureisen, wo der inzwischen alt gewordene Magnus sein Leben beschließen wollte. Auch dort freilich gebe es wilde Tiere, und 12 13 14
Dertsch 1970, 13ff.; Volkert 1985, Nr. 4 S. 17 ff. Walz 1988, Kap. 17 S. 144. Otloh-Fassung bei Coens 1973, Kap. 16 S. 205. Grundsätzlich Keller 1976, 2f. mit Anm. 7.
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dort pflege König Pippin im Wald die Jagd auszuüben (rex Pippinus ad suam venationem exercendam illum saltum, ad opus suum tenet).15 Als Magnus auch in Füssen die wilden Tiere vertreibt, habe der König ihm und seinem Kloster das gesamte Waldgebiet überlassen und habe darüber sogar eine Urkunde ausgestellt. Im gleichen Jahr wie Bischof Wikterp sei Magnus in seinem Kloster gestorben, Tozzo hingegen sei der Nachfolger Wikterps in Augsburg geworden.16 Zuvor hätten Tozzo und Wikterp Theodor in Kempten besucht und hätten dort die Weihe der Kirche vorgenommen, die Theodor – mit großer Mühe, da die Einwohner des Ortes ihm viele Leiden zufügten – am Ufer der Iller erbaut hatte.17 Bei aller legendären Topik in der Erzählweise der Vitenschreiber hat man versucht, diesen Teil anhand der bekannten Namen chronologisch zu ordnen, was naturgemäß mit Schwierigkeiten verbunden war, die in den Zeitsprüngen der Magnusvita begründet sind. König Pippin in Füssen als Nutznießer eines Königsforstes – eine merkwürdige Vorstellung. Doch die Nennung seines Bruders Karlmann, der Mönch geworden war, der im Jahr 754 aus Italien ins Frankenreich zurückkehrte und dort im gleichen Jahr starb, enthält ein festes Datum, und so hat man die Schenkung Pippins in Füssen in dieses Jahr eingereiht, auch wenn darüber keine Urkunde vorliegt.18 Nicht anders verhält es sich bei Bischof Wikterp, den auch andere Quellen nennen, so ein zum Jahr 740 datierter Rotulus aus Benediktbeuren, und von da ausgehend hat man die Weihe der Kirchen im Kempten und Füssen in die unmittelbaren Jahre danach gesetzt.19 Seinen Tod datiert man nach der Magnusvita kurz nach Magnus’ Tod, den die einen nach 750, andere 772/3 ansetzen; dies lässt einen großen Spielraum von 20 Jahren, in denen sich, wie zu zeigen sein wird, entscheidende Dinge ereignet haben. Doch erst mit dem Tode des Heiligen setzen Berichte ein, die in immer stärkerem Maße mit den Namen bekannter Personen verbunden sind, und dies hat Georg Waitz veranlasst, wenigstens diesen spätesten Teil der Magnusvita unter dem Titel „Translatio sancti Magni“ in die Scriptores-Ausgabe der Monumenta aufzunehmen, Angaben, die man, so meinte man, zumindest überprüfen sollte.20 Pippins Tod (768) wird in der Vita mit den 15 16
17 18 19
20
Walz 1989, Kap. 19 S. 154; Coens 1973, Kap. 18 S. 210. Volkert 1985, 20. Den aus der Magnusvita bekannten Namen Tozzos kennen auch die späteren Augsburger Bischofslisten. Weitnauer 1953, 166–183. Volkert 1985, S. 19 Nr. 7. Dort auch zu den folgenden Daten. Schmid 1983, 111ff., der von einem „kaum zu steigernden Durcheinander von Meinungen“ über Wikterp spricht; seine Lösungsversuche betreffen zugleich die Frühgeschichte des Bistums Augsburg. MGH SS 4, 425–427.
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Herzögen Odilo und Gottfried in Verbindung gebracht, die in Baiern und Alemannien eingesetzt worden seien. Doch tatsächlich ist Gottfried schon 709 gestorben, in Odilo erblickt man seinen Sohn, der von 736–748 in Baiern amtierte,21 und so ist die Nachricht über die schweren Kämpfe im Osten Alemanniens, in deren Verlauf das dortige Gebiet verwüstet wurde, ebenso wenig zur Datierung geeignet wie jene, Theodor sei im Verlaufe dieser Kämpfe aus Kempten nach St. Gallen zurückgekehrt, wo Abt Otmar, 744 erstmals als Abt erwähnt, gestorben 759, ihn aufnahm. Die Magnusvita führt an dieser Stelle Karl den Großen ein, lässt ihn die zerstörten Klöster restituieren, also auch Kempten, Füssen, St. Afra in Augsburg, und bestellt Bischof Sintpert in Augsburg zum Garanten seiner Fürsorge in diesem Gebiet. Der Schlussteil der Vita führt dann in die Mitte des 9. Jahrhunderts, als Bischof Lanto von Augsburg, zusammen mit Erzbischof Otgar von Mainz († 847), die Erhebung der Gebeine des hl. Magnus in Füssen veranlasst haben soll. Man bringt dies in Verbindung mit der Kirchenorganisation in der Mainzer Kirchenprovinz, und wenig später, so D. Walz, ist auch die früheste Redaktion der Magnusvita entstanden.22 Es kann nicht der Sinn dieses kurzen Überblicks sein, alle diese Angaben zu hinterfragen und den Versuch zu unternehmen, die Unstimmigkeiten aufzulösen, die sich hierin verbergen. Dies ist in zahllosen Detailuntersuchungen geschehen. Hier geht es um die Kempten betreffenden Angaben, die ihrerseits in die Betrachtung der Königs- und Papstdiplome Kemptens hinüberführen. Doch was haben wir bisher über Kempten erfahren und was lässt sich aus dieser legendären Überlieferung ableiten? Man hört von einer römischen Siedlung – einmal oppidum, auch castrum genannt –, die immer wieder verwüstet und von den Einwohnern verlassen worden sei. Die wegen der Jagd hierher gekommenen Menschen seien von den Würmern und Schlangen vertrieben worden, die hier hausten. Nach der Tötung des teuflischen Drachens, so die Vita, baute Magnus ein oraculum parvulum, und Tozzo, zunächst der einzige Priester der Reisegesellschaft, missionierte in den benachbarten Ortschaften, ehe er mit Magnus weiterzog und Theodor zurückließ. Es folgt ein längerer Zeitraum, Magnus gründet Füssen und Theodor baut in Kempten eine Kirche an der Iller, also unterhalb der römischen Siedlung,23 wird von den Einwohnern bedrückt, aber Bischof Wikterp steht ihm bei und weiht die Kirche. Doch die Bedrückungen dauern an und Theodor kehrt nach St. Gallen zurück; an seiner Stelle habe Abt Otmar 21 22 23
Jarnut 1977, 273–284 und weitere Lit. Volkert 1985, Nr. 34–36 S. 36 f.; Walz 1989, 66. Zum oraculum Walz 1989, Kap. 18 S. 148; zur ecclesia parvula ebd., Kap. 23 S. 170. Weitnauer 1953.
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einen Mönch Perchtgoz nach Kempten geschickt. Danach erscheint Kempten nur noch im Zusammenhang mit der Restitution des Klosters und seiner Privilegierung durch Karl den Großen, stets in Verbindung mit den Augsburger Bischöfen. Dahinter verbergen sich mehrere Phasen eines gestreckten Verlaufs einer „Klostergründung“, die sich, wie sich zeigte, zeitlich schwer festlegen lassen. Die Missionszelle von Magnus, Tozzo und Theodor – man sollte die Namen beibehalten, auch wenn sie nirgends anders überliefert sind als in der Vita – steht in einer bereits christlich geprägten, ehemals städtischen Siedlung in eher heidnischer Umgebung. Daraus entsteht im zeitlichen Abstand von ein bis zwei Jahrzehnten eine größere Kirche, die unter Abt Otmar von St. Gallen mit Mönchen besetzt wird, dies um die Mitte des 8. Jahrhunderts und sicherlich noch unter König Pippin. Doch damit ist die Frage der eigentlichen Machthaber im alemannisch-baierischen Grenzraum angesprochen, denn dass Pippin selbst, der fränkische König, in den dortigen Waldgebieten zu jagen pflegte, kann man ausschließen. Was die Abgrenzung der Diözesen Konstanz und Augsburg anbelangt, die scharf entlang der Iller gezogen ist, so bleiben für Kloster Kempten entscheidende Fragen offen. Für die Frühzeit wird man Kempten eher zum Einflussbereich von Konstanz zu rechnen haben, ehe es in späterer Zeit zur Augsburger Diözese gehörte, unabhängig von der Exemtion des Klosters von den Rechten des Bischofs.24 Andererseits wurde darauf hingewiesen, wie stark damals der Einfluss des baierischen Herzogtums war, das über das Lechgebiet nach Westen hinausgegriffen habe und in diese baierisch-alemannische Grenzzone vorgestoßen sei, in dem die Klöster Kempten, Ottobeuren und Füssen entstanden, im Norden das Kloster Ellwangen.25 Zwar sei, so stellte man fest, die Erschließung dieses Gebietes von St. Gallen ausgegangen, doch seien die Missionare, wie es die Magnusvita zu berichten weiß, zu Bischof Wikterp in Epfach vorgedrungen und von dort aus, also gleichsam aus dem Osten, seien die Zellengründer Magnus und Theodor nach Füssen und Kempten zurückgekehrt, seien die dortigen Klosterkirchen geweiht worden. Noch also bewegt man sich in einem Überschneidungsraum verschiedenster kirchlicher und politischer Interessen. Dies gilt nun auch für die Machtverhältnisse in dieser Umbruchzeit, in der es im alemannischen wie im baierischen Einflussbereich schwere Kämpfe gab, die erst mit der endgültigen Niederwerfung des alemanni24
25
Die Darlegung von Büttner 1961, hier 99, ist in diesem Punkt unklar, wie er überhaupt in seinem klassischen Werk die Grenzziehung zwischen Konstanz und Augsburg sehr knapp behandelt. Jahn 1991.
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schen Herzogtums durch König Karlmann ihr Ende fanden. Die Gegensätze sind an vielen Indizien abzulesen, am deutlichsten im St. Gallen Abt Otmars, einem Zentrum alemannischer Opposition.26 Doch man hat auch Bischof Wikterp einer bedeutenden fränkischen Adelssippe zugeordnet, die ihre Sonderinteressen gegen den fränkischen König, aber auf der Basis bedeutender Güter aus Königsland, vertrat. Auf dieser Basis seien die Klöster Füssen und Kempten und sicherlich auch Ellwangen und das baierische Schäftlarn entstanden, nicht unter dem Einfluss des fränkischen Königs, sondern eher im Gegensatz zu ihm.27 Die in der Magnusvita immer wieder aufscheinende Zerstörung der alten Römerorte, so auch die Zerstörung Kemptens und nicht zuletzt der alten Metropole Augsburg seien so zu erklären. Diese vieldiskutierten Vorgänge ergeben nur ein blasses Bild für die Landschaft um Kempten, und die bisher ausgewerteten Nachrichten sind aus Geschichtsbildern späterer Zeit zusammengefügt worden, die nur wenig von dem erkennen lassen, was sich tatsächlich ereignet hat. In der nächsten Phase unseres Überlegungsvorganges stoßen wir auf eine insgesamt bessere Grundlage.
Urkundliche Überlieferung Anders als etwa in den Nachbarklöstern Ellwangen und Ottobeuren gibt es für Kempten keinen „Gründungsbericht“ des Klosters, der dieses in seiner späteren, benediktinischen Gestalt an einen mit einem Stifter verbundenen „Gründungsakt“ knüpft und der mit einem „Gründungsdatum“ in Einklang steht. Diese Vorgänge in ihrer stufenweisen Abfolge haben wir kennen gelernt, ohne zu wissen, mit welcher Art von Kloster man in Kempten zu rechnen hat. Und doch beginnt die klostereigene Überlieferung mit einem Paukenschlag, d. h. einer auf den karolingischen König bezogenen Urkundenfolge. Da hat sich vor allem eine Urkunde Kaiser Ludwigs des Frommen von 815 erhalten, ein im Original überliefertes Diplom mit aufgedrücktem Siegel, ein unzweifelhaft echtes Stück, übrigens kurz nachdem auch Ellwangen eine im Original erhaltene und wie es scheint echte Königsurkunde erhalten hatte.28 Ludwig nimmt das Kloster unter Abt Teothun in 26 27 28
Sprandel 1958. Schmid 1983, 137. Da die Monumenta-Edition der Urkunden Ludwigs des Frommen nach wie vor nicht vorliegt, was deren Beurteilung sehr erschwert, wird nach Böhmer-Mühlbacher (BM2) zitiert, die Texte nach den Monumenta Boica (MB). Hier BM2 582 zu 815, Text in MB 28,2 Nr. 5
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seinen Schutz und verleiht ihm die Immunität. Der Abt, so heißt es im Text, habe eine Immunitätsurkunde Karls des Großen vorgelegt (genitoris nostri Karoli serenissimi augusti), die sich jedoch in dieser Form nicht erhalten hat. Stattdessen existieren gleich zwei angeblich in Rom ausgestellte Urkunden Karls des Großen zum Jahr 773 und eine weitere und gleichzeitige Papst Hadrians.29 Auch diese liegen in der Form angeblicher Originale vor, die jedoch aus der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert stammen und als Fälschungen anzusprechen sind. Als Abt ist in diesen Urkunden der uns aus Hermann dem Lahmen bekannte Audegar genannt, erstmals auch die Königin Hildegard als Petentin und, in der Papsturkunde, als diejenige, auf deren Bitte hin das Kloster die Reliquien der römischen Heiligen Gordian und Epimachus erhalten habe. Zugleich hat eine Hand des 12. Jahrhunderts diese drei Urkunden in ein damals gefertigtes Kopialbuch des Klosters Kempten eingetragen, in das eine zweite, aber frühere Hand insgesamt 26 Urkunden von 815 (der schon genannten Kaiserurkunde) bis 1076 eingeschrieben hat.30 Dem ist zweierlei zu entnehmen: Die urkundliche Überlieferung Kemptens hatte offenbar schon mit Karl dem Großen, vor 800, und vielleicht noch zu Lebzeiten der Königin Hildegard, also vor 783, begonnen, zuerst in der Form einer einfachen Schutzurkunde, in der wohl die Gemahlin des Königs als Petentin aufgeführt war. Dieser Teil der Überlieferung erhielt eine neue Bearbeitung, die, so nimmt man an, im ausgehenden 11. Jahrhundert auf der Reichenau verfasst wurde. Sie baut auf einer mit dem Chronikwerk Hermanns des Lahmen verbundenen Überlieferung auf, die den Namen Abt Audegars, die handelnde Beteiligung der Königin Hildegard und die Übertragung der Reliquien der Heiligen Gordian und Epimachus enthielt.31 Hermann, der mit den Verhältnissen in Kempten vertraut war, hat dies nicht ohne persönliche Anteilnahme in sein Werk aufgenommen, wobei man eher mit einer mündlichen Tradition aus Kempten rechnen sollte. Diese Vorstellungen wurden in die neu abgefassten Urkunden Karls und Papst Hadrians eingefügt, Dinge, die inzwischen zum Kemptener, auf der Reichenau rezipierten Überlieferungsgut geworden waren. Die Urkunde von 815 enthält nichts von alledem, aber sie leitet die schon erwähnte, eklatante Reihe der Kemptener Königsurkunden ein, darunter allein neun wei-
29
30 31
S. 9 zu 814; hierzu Abb. in Kirche in Bayern 1984, S. 45 ff. Nr. 14; Ludwig der Deutsche hat das Diplom bestätigt (862 März 23). MGH DKarol.I 222 und 223, dazu die Papsturkunde Jaffé 2400. Zum Fälschungszusammenhang Schwarzmaier 1961, 135ff. Sämtliche Urkunden aufgelistet bei Schwarzmaier 1961, 21f. Schmale 1974, 137ff., der die große Sammelarbeit Hermanns, verbunden mit chronologischen Angaben, hervorhebt.
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tere Diplome auf den Namen Ludwigs des Frommen, die großenteils im Original überliefert und unverdächtig sind. Bemerkenswert unter ihnen ist jedoch die nicht im Original überlieferte Urkunde vom 1. September 839 an das Kloster St. Maria und der Ludwigs Mutter, der Königin Hildegard, dort beigesetzten Heiligen Gordian und Epimachus; es privilegiert das Recht der freien Abtswahl.32 Wenn wir diese Urkunde als echt ansehen, so enthält sie den Kern der späteren Hildegardverehrung in Kempten, für die es bis dahin keinen Hinweis gibt. Diese ältesten Königsurkunden für Kempten – die privaten Schenkungsurkunden, wie sie für St. Gallen in so reichem Maße vorliegen, gibt es hier nicht – gelten einem Kloster, das offenbar seit Karl dem Großen dem König nahestand und das insbesondere die Gunst Ludwigs des Frommen erfuhr. Nach der Notitia de servitio monasteriorum gehörte es einer privilegierten Gruppe von Klöstern an, und man wird annehmen können, dass schon Karl diese Sonderstellung eingeleitet hat, die sich in beträchtlichen Besitzrechten zeigt. Dazu gleich noch mehr. Doch die erhaltenen gefälschten Karlurkunden für Kempten enthalten erstmals jene Hildegardtradition, die schließlich in der Vorstellung gipfelte, die zweite Gemahlin Karls d.Gr., die Alemannin Hildegard, sei die Wohltäterin Kemptens gewesen, ja sogar die Gründerin des Klosters, in dem sie begraben liege.33 Um zu erörtern, wann sich diese Tradition bildete, die dann auch im benachbarten Ottobeuren, wohl von Kempten abgeleitet, übernommen wurde, mag ein Exkurs über sie am Platze sein.
Hildegardtraditionen: Die heilige Königin Hildegard, 758 geboren, um 771 mit König Karl vermählt, 783 verstorben, nachdem sie insgesamt neun Kinder geboren hatte, teilt das Schicksal vieler Frauen und Königinnen, über die man so gut wie nichts weiß, obwohl sie in Begleitung ihres Mannes sein Schicksal und dasjenige des von ihm regierten Reiches teilte. Über ihre Herkunft gibt es jene bekannte und stets zitierte Stelle in Thegans Lebensbeschreibung Ludwigs des Frommen, der sein Werk mit zwei Genealogien einleitet, jener des heiligen Arnulf von Metz, die er über fünf Generationen bis zu Karl dem Großen führt, und jene des Alemannenherzogs Gottfried, die über vier Generationen bis zur beatissima regina Hildigarda reicht; beide Genealogien klingen an Matthäus 1 an, des32 33
BM2 998; Text MB 31,1 Nr. 40 S. 89. Hierzu siehe unten. MGH DKarol. I,222: sed quoniam predicta coniunx nostra in eodem coenobio locum sepulture se habituram ordinavit …
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sen Genealogie von Abraham auf Christus führt. Thegan allerdings zitiert Abraham nochmals, da unter seinen Nachkommen immer wieder einer der jüngeren Söhne zum Erben ausersehen gewesen sei bis hin zum verheißenen Christus, und so habe es sich auch bei Ludwig, dem Sohn Karls verhalten.34 Thegan selbst, Chorbischof in Trier, verfasste sein Werk um das Jahr 837. Hildegard nennt er nobilissimi generis Suavorum puellam, legt also Wert auf den Nachweis ihrer Herkunft aus vornehmstem alemannisch-schwäbischen Geschlecht, ohne zu erwähnen, wer ihr Vater war, der ihm nicht unbekannt gewesen sein kann. Doch seine Genealogie nennt lediglich ihre Mutter Imma, während der Vater Gerold, aus fränkischem Adel, erst durch die moderne Forschung namhaft gemacht werden konnte.35 Auch mit der Chronologie hapert es bei Thegan, denn während Arnulf von Metz, der Ahnherr der Karolinger, um 640 gestorben ist, wissen wir von Gottfried, dass er im Jahr 709 verstarb. Für die vier Generationen nach ihm bis zu Hildegards Geburt sind es nur 50 Jahre, und es gibt viele Theorien über die Abfolge der bei Thegan genannten Huoching und Nebi, von denen Letzterer auch in der Vita sancti Galli und bei Hermann dem Lahmen zum Jahr 724 vorkommt. Doch erst ein Gedenkbucheintrag der verstorbenen Wohltäter der Reichenau, in dem Nebi aufgeführt ist, hat hier mehr Sicherheit gebracht, freilich auch die Vermutung, Nebi sei, wie sein Schwiegersohn Gerold, Franke gewesen. Durch seine Einheirat in die Familie Gottfrieds sei es ihm gelungen, nach 746 zur Versöhnung des alemannischen Adels mit den fränkischen Herrschern und ihren Machthabern beizutragen.36 Dabei ist niemals daran gezweifelt worden, dass Karl, der damals 24jährige König, nachdem er sich von der langobardischen Königstochter Desideria getrennt hatte, nicht nur eine schöne, wenn auch blutjunge Frau an sich band, sondern dass er damit eine politische Ehe schloss, die Versöhnungscharakter haben sollte und die Reste des alemannischen Adels in die großfränkische Adelsgesellschaft einband. Denn offensichtlich legte Thegan Wert auf die alemannische Herkunft der Königin, obwohl diese im agnatischen Sinne gar nicht gegeben war. Er tat dies ganz im Sinne der biblischen Genealogie, wonach sich zwei überaus vornehme Geschlechter verbanden, um in Ludwig den Kaiser, den von Gott Gesegneten hervorzubringen, den Thegan als das Muster aller herrscherlichen und menschlichen Tugenden preist. Da er beim Grabe seiner Mutter in St. Arnulf in Metz bestattet wurde, des heiligen Vorfahren der Karolinger, fiel auch auf Hildegard das
34 35 36
Quellen zur Geschichte der Alemannen IV, 58, wo die Thegan-Ausgaben zitiert sind. Borgolte 1986, 121. Borgolte 1986, 184.
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Odium der Heiligkeit, das sich im Laufe der Jahrhunderte in legendären Zügen zum wirklichen Heiligenbild ausweiten sollte.37 Dieses Heiligenbild hat auch in Kempten seinen Niederschlag gefunden, doch die Frage ist, wann es dort entstanden ist. Die auf den Namen Karls des Großen überlieferten Königsurkunden und diejenige Papst Hadrians von 773 sind, wie schon festgestellt wurde, Fälschungen aus dem Ende des 11. Jahrhunderts, und die Frage nach dem „echten Kern“ endet bei einer schwer nachprüfbaren Überlieferung, die in das Chronikwerk Hermanns von der Reichenau eingegangen ist. Die vielen Urkunden Ludwigs des Frommen für Kempten, an der Spitze das Original von 815, erwähnen die Königin, die Mutter des Kaisers, zunächst nicht, und erst jene von 839, also ein Jahr vor dem Tode Ludwigs ausgestellt, privilegiert das Kloster pro memoria matris nostrae Hildigardae und bringt sie in Verbindung mit dem Erwerb der Reliquien der hll. Gordian und Epimachus. Dies ist zugleich die letzte Urkunde des Kaisers für Kempten, und sie fällt in eine Zeit, in der sich Ludwig erneut mit seinen Söhnen auseinandersetzen musste, schon vom Tode gezeichnet – damals hat ja auch Thegan die Vita Ludwigs abgefasst. Dass Ludwig der Fromme zu Kempten ein enges Verhältnis hatte, wurde schon erwähnt. Die Späteren haben dies auf Hildegard hin gedeutet. Sie hätte nicht nur, wie es im 12. Jahrhundert formuliert wird, Kempten zu ihrer Grablege bestimmt, sondern sei tatsächlich, so meinte man im Spätmittelalter, in Kempten bestattet worden. Die auf Ludwig folgenden Könige haben dann in regelmäßiger Reihenfolge Kempten privilegiert, Ludwig der Deutsche noch zu Lebenszeit des Vaters und erneut nach seinem Tod, Otto I. schon 939 mit einem alle Vorgängerdiplome bestätigenden Text, den auch Otto II. wieder aufnahm; hier, 983, sind erstmals wieder die Hl. Gordian und Epimachus aufgeführt. Die folgenden Nachrichten in Kempten sind Hermann dem Lahmen zu entnehmen, der die Schicksale der Abtei immer wieder beschreibt: Herzog Ernst von Schwaben, Bischof Gebhard von Regensburg, zuletzt Rudolf von Rheinfelden hatten die Herrschaft über die Abtei inne. Aus dieser Zeit fehlen die Königsurkunden bis zu Heinrich IV.38 Nochmals zurück zu Hildegard. Vielfach wurde gemutmaßt, ob sie die Erbin alten alemannischen Herzogsgutes gewesen sei, ob ihr wenigstens mütterliches Erbe aus frühem, vielleicht aus Konfiskation stammendem Königsgut gehört habe, das dann in Schenkungen an die in ihrem Namen begabten Klöster einging. Dies lässt sich weder hier noch anderswo nachweisen. Güterschenkungen Gerolds, des Vaters der Königin und seiner Ge37 38
Schreiner 1975. Wie Anm. 30.
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mahlin Imma betreffen das Kloster Lorsch mit Gütern am nördlichen Oberrhein, und in späterer Zeit hat man vor allem auf den Besitz des jüngeren Gerold am oberen Neckar und in Nagold geachtet,39 in noch späterer Zeit in allen Teilen Alemanniens südlich und nördlich des Bodensees, ohne dass man es wagen könnte, von hier aus die Brücke zur frühen alemannischen Herzogsfamilie zu schlagen und auch die Königin Hildegard in diesen Erbgang einzubeziehen. Für Kempten gibt es ebenfalls keine nachweisbaren Belege, will man nicht die Translation der hll. Gordian und Epimachus direkt auf Hildegard und eine damit verbundene Schenkung beziehen, wie es die spätere Überlieferung will. Die Urkunden für unseren Raum enthalten keine in die Frühzeit zurückreichende Hildegardtradition. Nach wie vor bewegen wir uns im Bereich der Legende und der Legendenbildung, auch wenn diese Splitter frühester Überlieferung aufgreift und verarbeitet. Erst unser letzter Untersuchungsgang löst sich aus diesem Geflecht verschriftlichten Erzählgutes.
Das Zeugnis der Gedenkbücher Die folgenden Darlegungen sind im besonderen Maße den tiefgreifenden Untersuchungen verpflichtet, die Karl Schmid und sein Schülerkreis den Verbrüderungsbüchern von St. Gallen und der Reichenau gewidmet hat und die in der Neuausgabe des Reichenauer Verbrüderungsbuches gipfelte. Dieter Geuenich hat daran großen Anteil.40 Zu beginnen ist mit einem Reichenauer Eintrag. Die Nomina fratrum de monasterio quod Chambituna nominatur sind im Reichenauer Verbrüderungsbuch von mehreren Händen eingetragen, von denen die erste der Anlagezeit, also um 824, zugehört.41 In insgesamt sieben Kolumnen finden sich insgesamt 250 Namen, die man auf Kempten bezogen hat.42 Aber wie bei allen in den Verbrüderungsbüchern eingetragenen Mönchslisten gibt es auch bei den Kemptener Listen Schwierigkeiten, die der Klärung bedürfen. Die Liste beginnt mit dem Namen Teothun, ohne Zusatz, den man jedoch auf den Kemptener Abt dieses Namens beziehen kann. Er ist im Privileg Ludwigs des Frommen von 815 genannt, danach urkundlich nicht mehr. Doch da sein Nachfolger Tatto erst 831 aufgeführt wird – dazwischen liegt keine Urkunde – kann Teothun noch lange gelebt und regiert haben, vielleicht sogar bis nach 824, als die 39 40 41 42
Borgolte 1986, 120 mit weiterer Lit. Das Verbrüderungsbuch 1979; Schmid 1983; Subsidia Sangallensia 1986. Das Verbrüderungsbuch 1979, Tafel 42/43 = Piper 1884, col. 158–164. Schwarzmaier 1961, 41–43, zum Folgenden Anm. 125.
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Kemptener Liste zusammengestellt und an die Reichenau geschickt wurde. Dafür spricht auch eine weitere Reichenauer Notiz, in der ein Abt Teothun, zusammen mit Bischof Wolfleoz von Konstanz, Abt Erlebald der Reichenau und Abt Milo von Ottobeuren aufgeführt wird, ein Eintrag, der frühestens 823 zu datieren ist, als Erlebald Abt wurde.43 Einen Einschnitt in der Kemptener Liste kann man nach dem Namen Peringer, an 65. Stelle, sehen; danach folgt erneut der Name Deothun und danach 50 weitere Namen, die man als Verstorbene aus der Zeit der ältesten Eintragsschicht ansprechen könnte, also vor 824 verstorbene Kemptener Mönche.44 Ein Problem besonderer Art besteht darin, dass sich danach eine weitere Gruppe mit 40 Namen nahtlos anschließt, die zunächst der Kemptener Totenliste zugerechnet worden waren, ehe sich herausstellte, dass es sich hierbei um Mönche des Klosters Fulda handelt, die anscheinend auf einen zunächst freien Raum eingeschrieben wurden, vielleicht weil für den weiter vorne stehenden Fuldaer Konvent der Platz ausging. Doch gibt es bisher keine Erklärung dafür, weshalb diese Fuldaer Liste so unvermittelt und von gleicher Hand in den Kemptener Eintrag eingefügt wurde.45 Die frühere Annahme einer sehr umfangreichen Totenliste, die von Theotun angeführt wird, also eine große Konventstärke in ältester Zeit vermuten lässt, erwies sich danach als zu hoch gegriffen. In der fünften Kolumne der mit Chambituna bezeichneten Listen beginnt dann mit den Namen Hunrat-Isanhart-Isanheri eine weitere Namenfolge von insgesamt 90 Mönchen, die sich eindeutig Kempten zuweisen lassen. Zum Vergleich dient der Eintrag im St. Galler Verbrüderungsbuch mit den dort eingeschriebenen Nomina fratrum de Campidona, einem Konvent des Abtes Tatto mit insgesamt 122 Namen.46 Der Eintrag in dem von Karl Schmid so gen. jüngeren St. Galler Verbrüderungsbuch mag nach 830 geschrieben worden sein.47 Er deckt sich völlig mit den Reichenauer Namen des Nachtrags und zwar bis Namen 97 (Ratpot-Zeizarn), danach folgen in St. Gallen weitere 25 Namen, die im Reichenau-Eintrag fehlen. Sieht man von einer anderen Art der Einordnung der Namen im Reichenau-Eintrag
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Ebd., 41 Anm. 125 nach Reichenauer Verbrüderungsbuch, Tafel 125. Der Einschnitt nach 65 Namen, der paläographisch nicht erkennbar ist, ergab sich daraus, dass die dort, also sozusagen am Schluss stehenden Namen in der späteren Tattoliste, am Anfang stehend, enthalten sind, also dort die älteren Mönche, in der Teothunliste die jüngeren Mönche kennzeichnen. Doch ist dies hypothetisch, zumal nicht klar ist, ob der hier stehende Deothun mit dem am Anfang stehenden Abt identisch ist oder einen jüngeren, gleichnamigen Kemptener Mönch meint. Freise 1978, 540ff. mit Liste XD der Fuldaer Mönche. Verbrüderungsbuch St. Gallen Bl. 48, col. 202–205 der Zählung bei Piper 1884. Schmid 1986, 154.
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ab, vielleicht infolge einer bei der Abschrift der Namen vertauschten Reihenfolge, dann sind die beiden Listen des „Tatto-Konventes“ deckungsgleich. Doch merkwürdigerweise fehlt in der Reichenauer Liste der Name Tattos, der als Abt eigentlich an der Spitze stehen sollte. Der Name des Abtes fehlt hier ganz, während er die St. Galler Liste anführt. Dass der St. Galler Eintrag im „Älteren Verbrüderungsbuch von St. Gallen“ in fragmentarischer Form nochmals zu finden ist, kann hier unberücksichtigt bleiben.48 Wie ist dieser Befund zu interpretieren? Da haben wir den „TeothunKonvent“, um 825, mit dem Abt an der Spitze, aber nicht als Abt genannt, mit mindestens 65 Namen, danach, wie wir meinen, eine Totenliste der gleichen Zeit mit ca. 50 Namen, an deren Spitze wiederum ein Deothun steht, der wohl damals verstorben ist, als die Liste abgesandt wurde. Wie weit diese Totenliste zurückreicht, lässt sich schwer sagen – sicherlich nicht bis in die Anfangszeit der Mitte des 8. Jahrhunderts, zumal in ihr die einzigen uns bekannten Namen der St. Galler Mönche Autgar – Perehtcoz fehlen. Doch immerhin wird man vor 815 mit einem wenn auch nicht riesigen Konvent in Kempten zu rechnen haben. Ganz merkwürdig ist jedoch der Namenbestand des „Tatto-Konvents“ mit seinen 122 Mönchen (St. Gallen), von denen 95 in der Reichenau-Liste stehen. Datiert man den Reichenauer Eintrag um 835, den St. Galler Eintrag mit seinen Nachträgen um 840, so bemerkt man nicht nur einen starken Zuwachs unter Tatto, was sich, wie gleich zu zeigen sein wird, durchaus erklären lässt. Vielmehr fällt auf, dass es zwischen der Teothun-Liste und den Tatto-Listen sehr wenig Überschneidungen gibt, obwohl die beiden Listen doch eigentlich nur etwa zehn Jahre voneinander liegen können. Nur die offensichtlich ältesten Mönche des Tatto-Konventes, insgesamt acht Namen, kommen auch im Teothun-Konvent vor, dort unter den jüngeren Mönchen.49 Aber es ist doch kaum denkbar, dass innerhalb von zehn Jahren, also vor 830/35, nahezu alle Kemptener Mönche aus der Zeit Teothuns verstorben sind, es sei denn, dieser hätte damals aus generell überalterten Mönchen bestanden – immer vorausgesetzt, dass unsere Datierungen stimmen. Nach der generellen Feststellung, in einem Konvent dieser Größe sei üblicherweise mit zwei bis drei verstorbenen Mönchen pro Jahr zu rechnen, verlangt der hier aufgezeigte Befund nach einer Erklärung.50 Dabei ist hier einzuflechten, dass auch der Konvent des Nachbarklosters Ottobeuren im Verbrüderungsbuch der Reichenau eingetragen ist, mit einem um 830 bemerkenswert kleinen Konvent unter 48 49 50
Schmid 1986, 130/31 mit Abbildung der Seite. Wie Anm. 44; vgl. Schwarzmaier 1961, Anm. 128. Zur „Sterbequote“ auf der Reichenau vgl. Rappmann 1998, 48ff.
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Abt Milo und weiteren 20 Mönchen, jedoch einer Hinzufügung von weiteren 105 Namen von späterer Hand, so dass man auch hier, falls es sich dabei um einen späteren Konvent handelt, mit einer starken Zunahme von Mönchen rechnen müsste.51 Was also hat sich in Kempten zugetragen? Die reiche Urkundenüberlieferung der Abtei bietet die einzige Möglichkeit, sich ein Bild von den tatsächlichen Vorgängen zu verschaffen. Dies führt zu Kaiser Ludwig dem Frommen und der von ihm geförderten monastischen Bewegung, das Reformwerk Benedikts von Aniane.52 Um es zu wiederholen: Woher Abt Teothun stammt und wann er in Kempten Abt wurde, weiß man nicht und man kennt keinen seiner Vorgänger aus der Zeit Karls des Großen. Doch es hat den Anschein, dass auch er den benediktinischen Reformkreisen nahe gestanden hat, ehe ihn Tatto in Kempten ablöste. Schon zuvor, erkennbar an den Schutzurkunden von 814 für Ellwangen und 815 für Kempten, hatte Ludwig der Fromme die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass auch in den Randgebieten Alemanniens seine Herrschaftsrechte in den königsnahen Klöstern durchgesetzt wurden.53 Danach nennt die dichte Folge der Königsurkunden ab 831 in Kempten Abt Tatto. Der Reichenau-Eintrag des Teothun-Konventes, der jedoch diesen, an der Spitze stehend, nicht als Abt, ihn vielleicht aber am Ende ein zweites Mal als Verstorbenen nennt, worauf der Nachfolgekonvent folgt, wenige Jahre später und wiederum ohne Abt, lässt vermuten, dass nach Teothuns Tod, bald nach 824, ein Vakuum eingetreten ist, ehe Abt Tatto in Kempten eingesetzt wurde, wie gesagt vor 831, eher ein paar Jahre früher. Tatto von Kempten aber, diese Identifizierung wurde in der neueren Reichenauer Literatur festgehalten und in der Folgezeit akzeptiert, war ein berühmter Mann, einer der führenden Köpfe seiner Zeit.54 Tatto gehört zu den bedeutenden Vertretern der Reichenauer Klosterschule unter Abt Heito (bis 823), zusammen mit Erlebald, Heitos Nachfolger, mit Wetti und Grimald. Tatto war Schüler des Visionärs Wetti, ehe dieser 824 starb.55 Vor allem aber war Tatto der Lehrer Walahfrid Strabos, der ihm eines seiner Gedichte widmete und der seinen Meister zu würdigen wusste, bei aller Verschiedenheit der Charaktere und Anschauungen. Est homo probus, felix, spectabilis, aptus, sagt Walahfrid von ihm. In seinem Auftrag schickte der 51 52 53 54
55
Schwarzmaier 1961, 18f. mit Tafel nach S. 12. Hierzu auch Geuenich 1998, 99ff. Zu Ellwangen BM2 521. Hartig 1925, 627f., danach Schwarzmaier 1961, 142 Anm. 127; Geuenich 1989, 84ff.; Zettler 1998, 254. Schmid 1983, 32ff.
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junge Walahfrid poetische Huldigungsbriefe unter anderem an Thegan in Trier, den späteren Verfasser der Vita Ludowici. Tatto, so kann man den poetischen Äußerungen seines Schülers entnehmen, war eine eher kühle und kritische Natur, dem die auf das Weltende zielenden, mit bösen Vorzeichen einer Endzeit verbundenen Visionen seines Lehrers Wetti nicht zusagten. Doch sei er ein frommer und sittenstrenger Mönch gewesen. Als Knabe habe er, aus vornehmer Familie stammend, die Palastschule in Aachen besucht, ehe er auf der Reichenau das Mönchsgewand anzog und das Leben im Kloster der glänzenden Karriere des am Hofe wirkenden Weltpriesters vorzog.56 Und dann erfährt man, dass sich Tatto, auf Geheiß Heitos und zusammen mit Grimald, einem der Reichenauer Mönche dieses Namens,57 in Aachen und vielleicht auch in Benedikts Abtei Kornelimünster aufhielt, nach 817 aber vor 821, als Benedikt starb, und dort studierten die beiden das Leben der Mönche anianischer Observanz, und von dort schickten sie eine Abschrift der Benediktsregel nach Hause, die sich in St. Gallen erhalten hat.58 Spätestens damals also sind die Grundtexte der Aachener Reformen auch in die Reichenau gelangt, wo sie sogleich ihre tiefgreifende Wirkung entfalteten.59 Die Briefe, welche die beiden Mönche damals an ihren Abt Heito und an den Mönch Reginbert auf der Reichenau schrieben, haben sich erhalten, wenn auch ohne Namensnennung der Absender. Nicht nur ihren Worten, so schreiben sie, möge der Abt Vertrauen schenken, sondern vor allem den Berichten über das beispielhafte Leben bei Benedikt und seinen Brüdern. Dann zählen sie in zwölf Punkten auf, was ihnen aufgefallen war, setzen dies aber stets in Verbindung zum Ordensleben auf der Reichenau und verdeutlichen, was ihnen wichtig erscheint. Heito, so heißt es abschließend, möge dies alles sogleich umsetzen.60 Dass dabei die Gemeinschaft mit den anderen Klöstern im Reich eine große Rolle spielt, versteht sich, und der Zusammenhang mit den Verbrüderungen, denen unsere besondere Aufmerksamkeit gilt, tritt deutlich in Erscheinung, aber auch die Bedeutung der Profess der Mönche als eigentliches Prinzip ihrer Rangordnung im Kloster ist zu beachten.61 Dass es über diesen Fragen auf der Reichenau zu Spannungen innerhalb des Konventes kam, ist bekannt und lässt sich daran erkennen, dass Abt Heito 823 resignierte und Erlebald Platz
56 57
58 59 60 61
Hartig 1925, 627. Nicht zu verwechseln mit Abt Grimald von St. Gallen, dem späteren Erzkaplan; Geuenich 1988, 55–68. Rothenhäusler/Beyerle 1925, 281f., Abb. S. 266. Schmid 1977 (1983), 24–41 bzw. 514–531. Rothenhäusler/Beyerle 1925, 282. Zettler 1998, 252.
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machte. Ob auch dies zum Weggang Tattos beigetragen hat, darüber kann man nur spekulieren. Denn damals oder doch wenig später wurde Tatto Abt in Kempten. Damit, so scheint uns, war ein religiös-theologisches wie ein kirchenrechtliches Programm verbunden. Letzteres betrifft die strenge Regulierung jener Klöster, die sich den Gesetzen der Benediktsregel zuordneten, und wer mag daran zweifeln, dass Tatto dieser in der von ihm vertretenen Form in Kempten zur Geltung verhalf, dass er vielleicht gerade deshalb in der Abtei an der Iller eingesetzt wurde, um dort das Reformwerk einzuführen, das er in Aachen studiert hatte. Und man sollte auch nicht daran zweifeln, dass es der Kaiser selbst war, der den Reichenauer Abt dazu veranlasste, einen seiner gelehrtesten und dem Reformkreis zugehörigen Mönche nach Kempten zu schicken, in ein Kloster, dem seine besondere Aufmerksamkeit galt. Campidona ubi praesenti tempore venerabilis Tatto abba pastor et rector esse dinoscitur, so heißt es in der Ingelheimer Urkunde Ludwigs von 831,62 und in der Urkunde von 839, die Kempten das Privileg der freien Abtwahl erteilt, heißt es von den Äbten: qui ipsam congregationem secundum regulam sancti Benedicti regere valeant.63 Und in der Tat lassen sich die Auswirkungen der Aachener Synode von 817 nirgends so handgreiflich fassen wie in Kempten. Die Urkunden des Kaisers aus den Dreißigerjahren bekunden dies: Freie Abtwahl (839), Befreiung des Klosters von Kriegsdienstlasten und Gastungspflichten (832, 834), Schenkungen von Zehnten zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Klosters (831) sowie das Recht der Behandlung des Klostergutes entsprechend demjenigen des Fiskalgutes (833).64 Zu dieser wirtschaftlichen und rechtlichen Sicherstellung treten Urkunden, die Kempten in den Besitz von Zellen setzte, also mit Priestern oder Mönchen besetzte Kirchen, die sicherlich ursprünglich adelige Eigenkirchen gewesen waren, ehe sie Fiskalbesitz wurden. Zunächst ist es die Zelle Stöttwang (bei Kaufbeuren), die offenbar schon von den uns nicht bekannten Stiftern Karl dem Großen übergeben worden war:65 ut ipsa cella in melius crescat et monachi ibi degentes sub potestate praedicti monasterii Campitonense eiusque rectorum consistant. Zugleich ist dies die erste Besitzübertragung Ludwigs des Frommen an Tatto, und aus der Nennung des jungen Prinzen Karl und des Mönches Guntbald, des bei Nithard genannten engsten Helfers Ludwigs des Frommen, in der darüber ausgestellten Urkunde hat man geschlossen, damit sei 62 63 64 65
BM2 889 = MB 31,1 Nr. 25 S. 60. BM2 998 = MB 31,1 Nr. 40 S. 84. BM2 998 (839), 929 (834), 899 (831), 921 (833). BM2 883 = MB 28,2 Nr. 12 S. 19; hierzu Dertsch 1960, 75 mit einer schwer nachvollziehbaren Vermutung zu den Anfängen der Zelle.
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Tatto als treuer Helfer des Kaisers für seine Dienste belohnt worden.66 Damit ist die andere, die politische Seite angesprochen, denn wir sahen ja, wie stark Ludwig seit dieser Zeit gerade Kempten und seinem Abt Tatto verbunden war. Noch spektakulärer als die Übertragung von Stöttwang an Kempten ist jene der Aldrichszelle (Martinszell bei Kaufbeuren). Sie hatte zuvor dem königlichen Kaplan Ratulf (Ratold), dem späteren Bischof von Verona gehört, der sie gegen die Zelle Hirschzell im Augstgau (Kaufbeuren) an Kempten vertauschte. Diese sollte jedoch ihrerseits nach Ratolds Tod an Kempten zurückfallen (839).67 Sicherlich kann man diese Vorgänge, wie es Peter Blickle in vorbildlicher Präzision getan hat, ganz im Zeichen eines beträchtlichen Ausbaues des Klosterbesitzes sehen, der sich auf beiden Seiten der Iller zu einer großen Grundherrschaft ausdehnte, zugleich als Ausdruck einer Politik, die Kempten als hochprivilegiertes Kloster in den Machtbereich Kaiser Ludwigs einbaute. Es bildete auch in Zukunft eine königliche Machtbasis in dieser Grenzlandschaft, aber auch eine gewaltige Verfügungsmasse. Dies darzustellen erforderte ein eigenes Kapitel.68 Doch mit Ratold, auch er zunächst ein Reichenauer Mönch und Mitglied der Klosterschule, der sich dann als Bischof bis zu seinem Tod (847) in seine Zelle, Radolfzell, zurückzog, klingt noch einmal jenes Thema an, das auch für Kempten unter Abt Tatto bestimmend wurde: Der geistliche Auftrag in einer geordneten monastischen Gemeinschaft. Von daher erhalten auch die Übergaben von Zellen an inzwischen reformierte Klöster eine über die Besitzpolitik hinausführende Bedeutung. Anzunehmen ist, dass dort Priester nach eigenen Gewohnheiten gelebt haben, ehe sie an die benediktinische Norm angeschlossen wurden.69 Ob sich dahinter Vorgänge verbergen, die in ihrer Vielschichtigkeit erst allmählich erkannt werden,70 die wir jedoch im Übergang von Teothun zu Tatto erschließen oder auch nur vermuten konnten? Haben sich hier im Zuge einer strengen benediktinischen Regulierung bestehende priesterliche und monastische Gemeinschaften aufgelöst, haben Mönche das Kemptener Kloster verlassen, während andere, die Tatto aus der Reichenau mitgebracht haben könnte, den im Zuge königlicher Privilegierung und immenser Güterschenkungen stärker werdenden Konvent von Kempten bevölkerten? Wir wissen nicht, ob Abt Tatto in Kempten eine Klosterschule nach dem Muster der Reichenau aufzog. Man möchte es annehmen angesichts 66 67 68 69 70
Wie Anm. 64. Zu dem in tironischen Noten genannten Guntbald siehe Nithard hist. I,3. BM2 990 = MB 31,1 Nr. 38 S. 83. Blickle 1968, 14, in Verbindung mit Dertsch 1966, 133. Zu Martinszell auch Blickle, 284. Lorenz/Zotz 2005, darin Semmler 2005. Geuenich 1989 und 1998.
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der gelehrten und zugleich frommen Mönche, denen er begegnet ist: Ratolt von Verona wurde schon erwähnt, und die Erwähnung Ellwangens lenkt den Blick noch einmal auf den Mönch, Abt und späteren Bischof von Passau, Ermenrich, der seinerseits, als Schüler Walahfrid Strabos, der Reichenauer Schule angehört hatte, ehe ihn sein Weg nach Ellwangen zurückführte.71 Er galt lange Zeit als der Verfasser der Magnusvita in ihrer frühesten Fassung, die er im Auftrag Bischof Lantos von Augsburg bearbeitet haben soll.72 Gleichgültig ob die Vita nun in Ellwangen oder doch auf der Reichenau entstanden ist, werden wir mit Ermenrich noch einmal auf das Inselkloster geführt, seine reiche Bibliothek und das Wissen, das seine Mönche dort gespeichert haben bis zu dem, was Hermann der Lahme dann in sein enzyklopädisches Werk aufgenommen hat. Auch Kempten hat an diesem Wissenskosmos partizipiert, und man darf Abt Tatto als den Vermittler ansehen, der dies alles kannte und vielleicht auch mit nach Kempten nahm. Und doch: Alte Handschriften aus Kempten fehlen ganz, und was über das Kloster geschrieben wurde, auch die angeblich frühen Urkunden, die Kemptens Frühgeschichte dokumentieren, ist auf der Reichenau entstanden. Von daher hat Tatto als Abt von Kempten keine Spuren hinterlassen. Und doch sprechen die Urkunden, die der Kaiser für ihn ausstellen ließ, eine deutliche Sprache. Die Entwicklung des Traditionsbewusstseins der Kemptener Mönche fällt in seine Zeit, die Besinnung auf die Translation römischer Märtyrerreliquien, erstmals 832. Die Annäherung Kaiser Ludwigs an das Kloster, wo er die Memoria seiner Mutter pflegen ließ und wo sie schließlich mit dem Erwerb der Heiligenreliquien in Verbindung gebracht wurde (839), enthält Vorstellungen, die sich erst unter Abt Tatto herausgebildet haben. Sie gehen Hand in Hand mit den Errungenschaften jener „anianischen“ Reformbewegung, die auch Kempten erreichte, ohne dass wir wissen, wie intensiv sie dort wirkte. Sie hat in Kempten und in den dem Kloster übertragenen Zellen ältere Formen kanonischen Lebens durch das Regelwerk Benedikts ersetzt und hat Kempten in die Gemeinschaft der benediktinischen Klöster eingegliedert. So erhielt es Anteil an der geistigen und geistlichen Gemeinschaft der Mönche in der Mitte des 9. Jahrhunderts. In der königlichen Tradition, die Tatto vertrat, ist Kempten geblieben. Wenn die erschlossene Datierung einer Urkunde Ludwigs des Deutschen zum Jahr 844 stimmt, so war damals Bischof Erchanbert von Freising sein
71 72
Walz 1989, 59ff. mit weiterer Literatur. Walz 1989, 192.
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Nachfolger als rector des Klosters,73 ohne dass man freilich daraus schließen müsste, dass Tatto gewaltsam von seinem Abtstuhl verdrängt wurde, zumal auch er (831) rector genannt wird. Doch wie Erchanbert waren auch die späteren Äbte, Salomon und Waldo, als Bischöfe in Konstanz und Freising Klosterherren und gehörten zugleich Adelsfamilien mit weit gespannten Verwandtschaftsbeziehungen an, denen alle geistlichen Ämter und Positionen offen standen.74 Sie führten die Kemptener Entwicklung weiter, die bis zu Bischof Ulrich von Augsburg dem Kloster mächtige bischöfliche Klosterherren bescherte. Insofern war die strenge benediktinische Reformzeit, die Kempten unter Tatto erfuhr, eine Episode, die nur für kurze Zeit ihre geistige Kraft entfaltete. Bestehen blieb die Bindung an den König, die dem Kloster Perioden großer Macht, aber auch Perioden des Niedergangs bescherte.
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73
74
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Beiträge zur Archäologie
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Hansmartin Schwarzmaier
Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 343–362 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Archäologische Belege für das Fehdewesen während der Merowingerzeit
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Archäologische Belege für das Fehdewesen während der Merowingerzeit HEIKO STEUER
Fehde Die Fehde1 während der Merowingerzeit wird vom ausgehenden 5. bis zum frühen 9. Jahrhundert in den meisten Leges, in historischen Erzählungen und in den Kapitularien erörtert, wo sie auch als Rache oder Blutrache besprochen wird. Bei Gregor von Tours wird zum Jahr 585 eine blutige Fehde zwischen ranghohen Familien geschildert (Historiarum libri decem VII, 47), bei der wechselseitig auch bewaffnete Knechte (pueri) erschlagen und Sachgüter geraubt wurden. Diese Fehde wird 588 fortgesetzt (Hist. IX, 19), wobei es auch um gezahltes Wergeld geht. Es heißt u. a.: ‚Ein Chramnesind sagte bei einem Gastmahl: „Wenn ich den Tod meiner Verwandten nicht räche, so verdiene ich nicht ferner ein Mann zu heißen; ein schwaches Weib muss man mich dann nennen.“ Sofort löschte er die Lichter und spaltete jenem [dem Sichar] mit seinem Schwert den Kopf.‘ (‚Nisi ulciscar interitum parentum meorum, amittere nomen viri debeo et mulier infirma vocare‘. Et statim extinctis luminaribus, caput Sichari seca dividit.).2 Manchmal führte die Fehde zur Ausrottung ganzer Familien,3 wie bei Gregor von Tours überliefert (Hist. X 27): Wegen einer gestörten Heiratsbeziehung zwischen zwei Familien „wuchs der Zorn des Jünglings derart, daß er über seinen Schwager herfiel und ihn mit Hilfe seiner Leute tötete; er selbst wurde darauf von denen erschlagen, mit welchen jener dahergezogen war, und von beiden Seiten blieb niemand mehr übrig mit Ausnahme eines
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E. Meineke, E. Kaufmann, Fehde, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (hinfort RGA) Bd. 8, 1994, 279–285; H. Beck, Blutrache I. Philologisches, H. Böttcher, Blutrache II. Rechtshistorisches, in: RGA Bd. 3, 1978, 81–85 bzw. 85–101. Nach Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten. Auf Grund der Übersetzung W. Giesebrechts neubearbeitet von Rudolf Buchner (Darmstadt 1972). H. Böttcher (wie Anm. 1) 91.
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einzigen, der keinen Gegner mehr fand. (Quae iracundia, cum emendatio criminati non succederet, usque adeo elata est, ut inruens puer super cognatum suum, eum cum suis interficeret atque ipse ab his, cum quibus venerat ille, prosterneretur nec remaneret quispiam ex utrisque nisi unus tantum, cui percussor defuit.) Aus dem Pactus Alamannorum (7. Jahrhundert) sei dazu beispielhaft nur zitiert: „Wenn jemand einem anderen den Schädel bricht, so dass das Gehirn erscheint, zahle er 12 Schillinge (Si quis alteri caput frigerit, sic ut cervella pareat, solvat solidos XII ).4 Es folgen detaillierte Angaben zu geringeren Verletzungen am Schädel. In der Lex Alamannorum (8. Jahrhundert) heißt es zum Beispiel: Wenn ein Freier einen Freien tötet, büße er ihn mit zweimal 80 Schillingen seinen Söhnen … (Si quis liber liberum occiderit, conponat eum bis LXXX solidos ad filius suos) (LVIII. [LX.]).5 Die Fehde ist seit dem germanischen Altertum nicht Sache des Einzelnen, sondern der gesamten Verwandtschaft und ihrer Freunde;6 die Bußsumme konnte wegen ihrer Höhe meist ein einzelner Freier nicht aufbringen, sondern sie war auf Verwandtenhaftung zugeschnitten. Alle die Maßnahmen der Volksrechte blieben aber ohne Erfolg. Die Quellen der Merowingerzeit lassen erkennen, dass es sich bei den Fehdeführenden um die „besseren Leute“, die homines potentes der Quellen handelt.7 Doch vielfach ist der Eindruck der Geschlechterfehde,8 wie er allgemein als charakteristisch angesehen wurde, in den Volksrechten doch nicht so eindeutig bestätigt; die Bestimmungen beziehen sich da allein auf den Täter, nur manchmal werden die Verwandten erwähnt. Die Fehde gehörte zum Lebensstil der Elite, des ranghohen freien Kriegers, der von freien Gefolgsleuten und von Knechten begleitet sein konnte, entsprechend dem kriegerischen Charakter jener Epoche.9 Über die Häufigkeit und Intensität des Fehdewesens kann man der schriftlichen Überlieferung wenig entnehmen. Allein die regelmäßig angeführten Bußbestimmungen in den Leges sprechen dafür, dass die Fehde eine gewissermaßen zum alltäglichen Leben gehörende Verhaltensweise der ranghöheren Familien gewesen ist.
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C. Schott, Lex Alamannorum. Das Gesetz der Alemannen. Text – Übersetzung – Kommentar zum Faksimile aus der Wandalgarius-Handschrift Codex Sangallensis 731. Veröff. der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft Augsburg in Verbindung mit dem Alemannischen Institut Freiburg i.Br., Reihe 5b (Augsburg 1993) 52f. Schott 134f. Fehde (wie Anm. 1) 282. Fehde (wie Anm. 1) 285. Blutrache (wie Anm. 1) 90f. J.-P. Bodmer, Der Krieger der Merowingerzeit und seine Welt. Eine Studie über Kriegertum als Form der menschlichen Existenz im Frühmittelalter (Zürich 1957).
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Die Verfügung des Hausherrn über Leib und Leben zwang die Hausgemeinschaft (Männer, Frauen, Kinder, Knechte oder Sklaven), Fehden zu übernehmen. Familien- und Geschlechterfehden wurden bestimmt von Verwandtenbindung und Gefolgschaftstreue. Die altnordische Literatur und vor allem die Isländersagas haben dazu eine Fülle von Vorkommnissen überliefert, die auch immer wieder zur Beschreibung der Fehde in älteren Epochen herangezogen werden, wie sie andererseits bei Tacitus und anderen antiken Schrifttellern zu finden sind.10 Hans Kuhn hat das Fehdewesen im alten Island ausführlich beschrieben, wodurch eine plastische Vorstellung von der Intensität und Nachhaltigkeit derartiger Auseinandersetzungen zu gewinnen ist, und gewissermaßen vorstaatliche Zustände charakterisiert, die zur blutigen Selbstjustiz führten,11 denen während der Merowinger- und Karolingerzeit durch die Leges vergeblich beizukommen versucht wurde. Aus der Sagazeit sind Hunderte von Fehden überliefert.12 Es wird auch deutlich, wie komplex die Verflechtungen gewesen sein konnten, an einer Fehde teilzunehmen, welche Verwandtschafts- und Freundschaftsverhältnisse sowie Gäste dazu verpflichtet waren und wieviele männliche Hausgenossen hinzugezogen wurden. Die Größe der kämpfenden Parteien betrug in Island zwischen 5 und 20 Mann; höhere Zahlen scheinen übertrieben und weisen dann schon auf reguläre Kriegszüge hin.13 So nannte Gregor von Tours die oben erwähnte Fehde des Sichar ein bellum civile.14 Die Auseinandersetzungen fanden in Island schließlich nicht mehr nur zwischen Sippen statt, sondern gewissermaßen zwischen zwei Parteien.15 Die brutalste Form im Streit war der Mordbrand, das Verbrennen der feindliche Gruppe in ihrem Gehöft, d.h. die Eingeschlossenen starben in der Regel an Rauchvergiftung oder verbrannten, was keinerlei Spuren am Skelett hinterlässt.16 In einzelnen Fällen haben auch Frauen die Rache für einen erschlagenen Angehörigen selbst übernommen.17
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H. Beck, Germanische Menschenopfer in der literarischen Überlieferung, in: H. Jankuhn (Hrsg.), Vorgeschichtliche Heiligtümer und Opferplätze in Mittel- und Nordeuropa. Abh. Akad. Wiss. in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, Dritte Folge Nr. 74 (Göttingen 1970) 240–258, hier 254–256. H. Kuhn, Das Alte Island. Erweiterte Neuausgabe 1878 (Düsseldorf Köln 1971) 123ff.; zu den isländischen Sagas auch H. Böttcher, Blutrache § 9 (wie Anm. 1) 94 ff. mit Hinweis auf Arbeiten von Konrad Maurer und Andreas Häusler. H. Kuhn (wie Anm. 11) 126. H. Kuhn (wie Anm. 11) 132. E. Kaufmann, Fehde, in: RGA Bd. 8, 1994, 284. H. Böttcher (wie Anm. 1) 96. H. Kuhn (wie Anm. 11) 134. H. Kuhn (wie Anm. 11) 144.
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Archäologischen Befunde Über neue archäologische Grabungsbefunde bekommt man einen Zugang zum Phänomen der Fehde, und zwar im Rahmen von Bestattungssitten des sog. Reihengräberkreises im östlichen Merowingerreich, also bei Alemannen, Franken, Thüringern und Bajuwaren. Beispielfälle – die Mehrfachkriegerbestattungen – werden in Auswahl im Folgenden beschrieben.18 Mehrfachbestattungen der Merowingerzeit sind seit langem bekannt. H. Lüdemann hat sie in einem Katalog zusammengestellt und auf Regelerscheinungen hin analysiert.19 Es fällt auf, dass sich die Toten in derartigen Gräbern oft gegenseitig umarmen, sich an den Händen halten oder Arm in Arm liegen, so dass der Bezug aufeinander eindeutig ist.20 Oft handelt es sich um Krieger mit Bewaffnung aus Spatha und Sax, z.B. bei der Doppelbestattung von Fridingen Grab 94,21 von Altenerding Grab 887/88822 oder von Mühlhausen.23 Manchmal lässt sich die geschlechtliche Zusammensetzung der Mehrfachbestattungen erkennen, was zeigt, dass nicht nur Krieger gemeinsam begraben wurden. Vielfach handelt es sich bei Doppelbestattungen um Frauen mit einem ungeborenen oder einem Kleinstkind, aber auch zwei Frauen oder Mann und Frau wurden zusammen bestattet, und alle Befunde sprechen für einen gleichzeitigen Tod. Männer- und Frauendoppelbestattungen kommen etwa gleich häufig vor. Die Datierung von Krieger-Mehrfachbestattungen weist vor allem in die jungmerowingischen Epochen II und III (etwa 630/40 bis 720).24 Doppelgräber sind relativ häufig, schon Dreifachbestattungen sind selten und Mehrfachbestattungen bilden die Ausnahme.25 Lüdemann führt 1994 erst eine Dreifachbestattung an, von Mindelheim Grab 48a-c, und eine Sechsfachbestattung, von Herrsching Grab 9/10.26
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H. Steuer, Totenfolge, in: RGA Bd. 35, 2007, 189–208. Vgl. auch T. Schneider, Untersuchungen zu Männermehrfachbestattungen in der Merowingerzeit. Magisterarbeit Freiburg i. Br., 2006. H. Lüdemann, Mehrfachbelegte Gräber im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Problem der Doppelbestattungen. Fundberichte aus Baden-Württemberg 19/1, 1994, 421–589. H. Lüdemann (wie Anm. 19) 433. H. Lüdemann (wie Anm. 19) 451 Abb. 10. H. Lüdemann (wie Anm. 19) 473 Abb. 20. H. Lüdemann (wie Anm. 19) 493 Abb. 22. Zeitangaben nach H. Ament, Chronologische Untersuchungen an fränkischen Gräberfeldern der jüngeren Merowingerzeit im Rheinland. Berichte der Römisch-Germanischen Kommission 57, 1976, 285–336; K. W. Zeller, Bestattungsformen und Beigabensitte, in: Die Bajuwaren. Von Severin bis Tassilo 488–788 (München 1988) 229–236. H. Lüdemann (wie Anm. 19) 515. H. Lüdemann (wie Anm. 19) 475.
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Die Dreifachbestattung Grab 754 von Schleitheim gehört zu einer Familie aus Mann, Frau und Kind.27 Es scheint überhaupt so, dass familiäre Bindungen der Hauptgrund für Mehrfachbestattungen waren. Nirgendwo gäbe es, so Lüdemann, konkrete Anhaltspunkte für einen unnatürlichen Tod der Beteiligten, wie eine Toten- oder Witwenfolge, für Selbstopferung im Rahmen einer Weihung,28 wie das noch P. Paulsen am Beispiel der Gräber von Niederstotzingen annahm, oder aus einem Treueversprechen heraus.29 In den Kammergräbern 3a-c und 12a-c von Niederstotzingen aus dem frühen 7. Jahrhundert lagen jeweils drei Tote mit Waffenausstattung aus Spatha, Sax und Schild, in Grab 12 der Anführer zudem mit Helm und Panzer mit zwei Begleitern (Abb. 1).30 Gedeutet wurde dieser Befund zeitweilig als Totenfolge und im Sinne der merowingischen Hofämter des Mundschenks und Marschalls.31 Um 600 war jedoch in diesem Gebiet nahe der Donau das Christentum schon weit verbreitet; fast in Sichtweite standen zur Zeit der Bestattung Kirchen, so dass – da zudem in der schriftlichen Überlieferung jeglicher Hinweis auf mögliche Totenfolge in diesen Jahrhunderten fehlt – hier kaum von einem solchem Ereignis auszugehen ist, sondern eine andere Erklärung für den sichtlich gleichzeitigen Tod der drei Krieger zu suchen ist. Zudem scheint es sich in Niederstotzingen bei der jeweils dritten Person um eine, wenn auch als Krieger bewaffnete Frau gehandelt zu haben, wozu später noch Stellung genommen wird. In den letzten Jahren sind auf süddeutschen Gräberfeldern der Merowingerzeit häufiger Bestattungen entdeckt worden, meist große Kammern, in denen mehrere mit Waffen ausgestattete Männer beigesetzt worden waren. Damit verliert der bisher als Sonderfall betrachtete Befund von Niederstotzingen seine Einzigartigkeit. Die Mehrfachbestattung von Kriegern spiegelt ein wiederkehrendes Verhaltensmuster. Diese Krieger hatten sich im Grab bei den Händen gefasst, oder die Hände des einen Kriegers lagen über den benachbarten Toten. Von gleichzeitiger Bestattung ist auszugehen und somit auch von einem gleichzeitigen Tod. Da bei den modernen Grabungen häufig am Skelett schwerwiegende
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A. Burzler u.a., Das frühmittelalterliche Schleitheim – Siedlung, Gräberfeld und Kirche (Schaffhausen 2002) 62ff., 317 f., Teil 2, Katalog S. 198. H. Lüdemann (wie Anm. 19) 535. P. Paulsen, Alamannische Adelsgräber von Niederstotzingen (Kr. Heidenheim). Veröff. des Staatlichen Amtes für Denkmalpflege Stuttgart, Reihe A 12/1 (Stuttgart 1967). P. Paulsen (wie Anm. 29) 12/I, Taf. 77 Plan von Grab 3 a-c, Taf. 83 Plan von Grab 12 a, b und c; D. Quast, Niederstotzingen, in: RGA Bd. 21, 2002, 191–194: 191 Abb. 27: Gräberfeldplan, 193 Abb. 28: Grab 3. D. Ellmers, Fränkisches Königszeremoniell auch in Walhall. Beiträge zur Schleswiger Stadtgeschichte 25, 1980, 115–126.
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Abb. 1 Niederstotzingen, Kr. Heidenheim, Grab 3 a-c (nach P. Paulsen, wie Anm. 29, Taf. 77).
Verletzungen erkannt werden können, ist vom Tod im Kampf, also von Gefallenen auszugehen. Bei diesen drei bis acht toten Kriegern in einem Grab ist also keinesfalls eine Totenfolge anzunehmen, auch wenn gewisse Rangunterschiede an der Art der Bestattung zu erkennen sind, nämlich die Teilung der Kammer und ein Qualitätsunterschied bei den Waffen selbst und bei der Waffenkombination. Im Folgenden werden diese Kriegerbestattungen in aufsteigender Zahl von drei bis acht Gefallenen beschrieben. In einem Grab bei Inzighofen, Baden-Württemberg, wurden während der jüngeren Merowingerzeit um 700 drei männliche Tote gemeinsam bestattet,32 und zwar fernab der Siedlungen auf einer einsamen Felskuppe 32
H. Reim, Spätbronzezeitliche Opferfunde und frühmittelalterliche Gräber – Zur Archäologie eines naturheiligen Platzes über der Donau bei Inzighofen, K. Sigmaringen. Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 2005 (Stuttgart 2006) 61–65, 62 Abb. 4: Grab I–III.
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über der Donau. An der nördlichen Kammerwand lag ein 20jähriger Mann, ausgestattet mit einem Reitersporn, an der südlichen Kammerwand ein etwa 40 Jahre alter Mann, ebenfalls mit einem Reitersporn, und zwischen den beiden Erwachsenen ein acht- bis neunjähriger Junge, der ebenfalls am linken Fuß einen Sporn trug. Jeweils mehrere schwere Hieb- und Stichverletzungen mit verschiedenen Waffen zeigen,33 dass alle drei Reiter34 im Kampf zu Tode gekommen sind, vielleicht ein Vater mit seinen beiden Söhnen (Abb. 2 a, b). Auf dem Gräberfeld in Straubing-Bajuwarenstraße lagen drei Krieger im Grab 170/171/172 und in einem großen Grabhügel von Regensburg-Harting drei Jugendliche, Befunde, die immer noch mit der Deutung der Mehrfachbestattung von Niederstotzingen Grab 3 verglichen und als Beispiele für Totenfolge interpretiert werden.35 Im Dreifachgrab II–IV von Büttelborn in Hessen lagen die Skelette mit sich überkreuzenden Armen, ein Schädel war von einem Schwerthieb gespalten;36 im Doppelgrab 269 vom selben Gräberfeld lagen zwei Männerskelette, ebenfalls mit Hiebverletzungen am Schädel. In Etting bei Ingolstadt wurde auf einem Gräberfeld in einem Kreisgraben von 15 m Außendurchmesser eine geteilte Holzkammer (Grab 3) der Zeit um oder bald nach 700 ergraben. Im südlichen Kammerteil lagen zwei mit Sax bewaffnete Männer, die Sporen trugen und mit golddurchwirkten Gewändern bekleidet waren. Beide weisen Schädelverletzungen auf, und im Bereich der Arme berührten sie sich. Die nördliche Kammerhälfte war beraubt; in ihr wurden ein Männerskelett und Skelettreste einer verstreuten Bestattung nachgewiesen. Auf demselben Gräberfeld gibt es eine weitere Doppelbestattung und ein unmittelbar danebenliegendes Kriegergrab (Grab 18 und 19); die Toten, alle drei Reiter, gekennzeichnet durch Sporen, werden als Knechte und Herr gedeutet.37 33
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J. Wahl, Tatort Inzighofen: Eine frühmittelalterliche Mehrfachbestattung mit multiplen Gewalteinwirkungen von der Eremitage. Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 2005 (Stuttgart 2006) 66–68 mit den Abb. 50–53 mit den Verletzungsspuren. H. Reim (wie Anm. 32) 64 Abb. 48. K. W. Zeller (wie Anm. 24) 235 Abb. 158; so auch noch K. H. Rieder, Edle Herrschaft – Separate Bestattungsplätze der adeligen Gesellschaft zwischen Merowinger- und Karolingerzeit in der Region Ingolstadt, in: Vom Werden einer Stadt. Ingolstadt seit 806 (Ingolstadt 2006) 36–41, hier 41: zu den beiden Doppelbestattungen im großem Hügel von Ingolstadt-Etting (Mundschenk und Marschall). H. Göldner, „ … südlich und nördlich des Dornheimer Pfades“ – Die Wiederentdeckung des fränkischen Reihengräberfeldes bei Büttelborn. Hessen Archäologie 2002 (Stuttgart 2003) 136–140. A. Ledderose, Ruhestätten der letzten freien Baiern? – Die Bestattungsplätze von Großmehring und Etting, in: Vom Werden einer Stadt: Ingolstadt seit 806 (Ingolstadt 2006)
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Abb. 2 a Inzighofen, Kr. Sigmaringen. Grab I–IV (nach H. Reim, wie Anm. 32, 62 Abb. 44).
46–51, hier 48f., und K. H. Rieder, Edle Herrschaft – Separate Bestattungsplätze der adeligen Gesellschaft zwischen Merowinger- und Karolingerzeit in der Region Ingolstadt, a.a.O.36–41, hier 39f. mit Plan Abb. Seite 40 oben; ders., Ein Adelsgräberfeld des frühen Mittelalters auf der ICE-Trasse bei Etting. Das archäologische Jahr in Bayern 1996 (Stuttgart 1997) 143–145 mit Plan Abb. 104; Schneider (wie Anm. 18) 15f. – Nur als Ergänzung noch angeführt, aus einem anderen Gebiet weiter im Westen: J.-P. Urlacher u.a., La nécropole mérovingienne de La Grande Oye à Doubs, Dép. Doubs (1998) 50 Fig. 38: Grab 267 A-C, eine Dreifach-Kriegerbestattung.
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Abb. 2 b Skelettschema der Individuen 1–3 der Gräber I–III mit Pfeilmarkierungen zur Lage der tödlichen Verletzungen (nach J. Wahl, wie Anm. 33, 68, Abb. 53).
In Inningen, Stadt Augsburg, wurde ein Vierergrab (Grab 2) entdeckt, datiert in die erste Hälfte bis Mitte des 7. Jahrhunderts, in einem kleinen Gräberfeld mit nur zehn Bestattungen, davon einige weitere Männergräber mit Waffenausstattung.38 Vier Krieger waren gemeinsam in einer 2,30 × 2,10 m großen Holzkammer beigesetzt. Drei waren mit Sax und Spatha bewaffnet. Der vierte nördlich am Rand liegende Mann trug nur einen Sax, doch zwei Lanzen. Er war kleiner und jünger als die drei anderen. Die vier 38
L. Bakker, Ein kleines Gräberfeld des frühen Mittelalters aus Inningen, Stadt Augsburg, Schwaben. Das archäologische Jahr in Bayern 2004 (Stuttgart 2005) 123–125.
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Schildbuckel lagen zweimal auf dem linken und zweimal auf dem rechten Knöchel der toten Krieger. Der zweite Mann von Süden hatte eine massive Schädelverletzung, dem kleineren Saxträger war sein rechter Oberschenkelknochen durchgetrennt – das Bein war an der richtigen Stelle ins Grab gelegt worden –, beides eindeutig zum Tod führende Kampfverletzungen (Abb. 3). In einer Hofgrablege, Bestattungen innerhalb einer Siedlung am Hofzaun, westlich des Gräberfeldes II bei Straubing-Alburg/Hochwegfeld lagen in einer Fünffach-Bestattung des 7. Jahrhunderts (Grab 493/2000 und 2002) vier Männer und eine Frau. Trotz der weitgehenden Beraubung weisen die Reste von auffällig reichen Beigaben auf besondere Ranghöhe der Toten hin.39 Der Tote in der Mitte war mit Goldtextilien bekleidet. Erhalten sind insgesamt 5,5 m lange Goldbrokatbänder, zweimal 2,75 m gesponnene Goldlahne und Seide von rotgefärbten Beinkleidern mit Bommel, umwickelt vom Schuh bis unters Knie mit langen Borten, wozu das Bild des Kriegers in der Kirche von Mals als Vergleich herangezogen wird.40 Im Bereich der Handgelenke und der Unterschenkel sowie bei der rechts von ihm liegenden Frau fanden sich goldgeschmückte Ärmelborten. Anscheinend war hier ein hochgestelltes Ehepaar (?) zusammen mit drei Begleitern bestattet worden, die zugleich zu Tode gekommen sind. Auch im thüringischen Mühlhausen – Gräberfeld 3 – soll es neben Kriegerdoppelbestattungen auch eine Bestattung von vier adulten Männern (Grab 35) gegeben haben, von denen einer eine tödliche Schwerthiebverletzung am Schädel hatte.41 Beim Bau der ICE-Trasse wurden in Großhöbing bei Ingolstadt42 im Tal der Thalach größere Teile dörflicher Siedlungen – bzw. einer Wandersiedlung43 – des 6. bis 10. Jahrhunderts durch Oberflächenfunde nachgewiesen, 39
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S. Möslein, Die „goldenen“ Schuhriemen. Archäologie in Deutschland 2005, Heft 3, 8–13; ders., „… longissimae illae corrigiae …“ – Ein einzigartiger Goldtextil-Befund zur männlichen Beinkleidung der späten Merowingerzeit aus Straubing-Alburg (Niederbayern). Jahresberichte des Historischen Vereins Straubing 105, 2003 (2005) 79–118. S. Möslein (wie Anm. 39) 13. T. Schneider (wie Anm. 18) 29; B. Schmidt, Die späte Völkerwanderungszeit in Mitteldeutschland. Katalog Nord- und Ostteil (Berlin 1976) 149. M. Nadler, Die Rettungsgrabungen entlang der ICE-Neubaustrecke Nürnberg-Ingolstadt im Jahre 1998. Beiträge zur Archäologie in Mittelfranken 4, 1998, 221–246; ders., E. Weinlich, Die Gräber der Herren von Höbing. Das archäologische Jahr in Bayern 1997 (Stuttgart 1998) 139–142; M. Nadler, Fürsten, Krieger, Müller. Archäologie in Deutschland 2000, Heft 3, 6–11; ders., E. Weinlich, Am Einfallstor nach Bayern – Der Herr von Höbing, in: Vom Werden einer Stadt. Ingolstadt seit 806 (Ingolstadt 2006) 42–45. H. Zimmermann, Wandersiedlung, in: RGA Bd. 35, 2007, 623–624; H. Steuer, Standortverschiebungen früher Siedlungen – von der vorrömischen Eisenzeit bis zum frühen Mittelalter, in: G. Althoff u.a. (Hrsg.), Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid
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Abb. 3 Inningen, Stadt Augsburg, Grab 2 (nach L. Bakker, wie Anm. 38, 124 Abb. 130).
außerdem ein Reihengräberfeld des 6. bis 8. Jahrhunderts teilweise untersucht und zudem im Flusstal mehrere Mühlenplätze, zwei davon dendrodatiert vom 6. bis 10. Jahrhundert. Auf dem Gräberfeld, dessen Größe auf 1000 Bestattungen geschätzt wird, sind mehrere große Hügel mit Kreisgräben ausgegraben worden, die große Kammern einschlossen. Im Grabhügel 143 mit 16 m Durchmesser und doppeltem Kreisgraben lagen in einer zweiteiligen Kammer von 5 m Länge, 3,10 m Breite und 2 m Tiefe unter dem zum fünfundsechzigsten Geburtstag (Sigmaringen 1988) 25–59; R. Schreg, Dorfgenese in Südwestdeutschland – Das Renninger Becken im Mittelalter. Materialhefte zur Archäologie 76 (Stuttgart 2006) 33ff.
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Baggerplanum fünf schwer bewaffnete Krieger, die im Kampf zu Tode gekommen sind, in einem, dem südlichen Kammerteil zwei Krieger, im anderen drei Krieger (Abb. 4). Die Bewaffnung bestand aus Spatha oder Sax. Der vornehmste Krieger, etwa 30–35 Jahre alt, im Süden der südlichen Zweierkammer trug einen Mantel mit Goldbrokatborten und eine besonders wertvolle Spatha. Die drei Krieger im nördlichen Kammerteil lagen eng beieinander mit eingehakten Armen und ineinander gelegten Händen. Die Schädel aller Männer wiesen Hieb- und Stichverletzungen auf. Sie sind zu Anfang des 8. Jahrhunderts sicherlich gleichzeitig gefallen und dann gemeinsam bestattet worden. Ihr aufwändiges Grab lag mitten im Friedhof der Dorfgemeinschaft und zeigt, dass die Toten zur Gemeinschaft gehörten. Bei diesen Toten handelt es sich eindeutig um gefallene Krieger; denn an ihren Skeletten und am Schädel sind Verletzungen von Hiebwaffen erkennbar, die zum Tod geführt haben. Diese Krieger – wie auch die anderen aus solchen Mehrfachgräbern – sind nicht im Kampf auf einem fernen Schlachtfeld zu Tode gekommen; denn man hätte die Leichen nicht in dem – über die Skelette fassbaren – Zustand über größere Entfernungen in die Heimat bringen können. Auch handelt es sich sichtlich nicht um Fremde, die zufällig bei diesem Dorf durch kriegerische Ereignisse umgekommen sind, sondern – wie die Lage und die Zurichtung der Bestattung zeigen – um Leute aus dem Dorf. Man kann auch davon ausgehen, dass sie zur Elite in der Siedlung gehörten, zum örtlichen Adel oder zum Adel, der – bei möglichem Streubesitz – auch an diesem Ort über Besitz verfügte. Der Rang der Krieger spiegelt sich in der üppigen Waffenausstattung und in der mit Goldborten besetzten Kleidung. Zur prächtigen Kleidung des Herrn von Großhöbing44 gibt es inzwischen verschiedene Parallelen, meist auch aus Mehrfach-Kriegergräbern, z. B. in Straubing-Alburg. Zum Prachtmantel mit Goldbrokateinfassungen des Herrn von Großhöbing aus dem Fünfer-Grab 143 gibt es in frühmittelalterlichen Handschriften Bilder als Vergleichbeispiele auf königlichem Niveau. Beim Herrn von Straubing-Alburg aus dem Vierer-Grab 493/2002 sind es sich kreuzende Goldbrokatbänder der Beinbekleidung mit silbervergoldeten Schnallen und Bommeln, zu der es ebenfalls aus karolingerzeitlichen Handschriften Miniaturen mit Bildern vom König und ranghohen Amtsträgern gibt. 44
A. Bartel, M. Nadler, K. Kreutz, Der Prachtmantel des Fürsten von Höbing – Textilarchäologische Untersuchungen zum Fürstengrab 143 von Großhöbing. Bericht der Bayerischen Bodendenkmalpflege 43/44, 2002/03, 229–249; S. Möslein, Ein einzigartiger Goldtextil-Befund der späten Merowingerzeit aus Straubing-Alburg (Niederbayern) – Vorbericht, a.a.O. 251–259; A. Bartel, Die Goldbänder des Herrn aus Straubing-Alburg. Untersuchungen einer Beinkleidung aus dem frühen Mittelalter, a.a.O. 261–272.
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Abb. 4 Großhöbing bei Ingolstadt, Grab 143 (nach A. Bartel, M. Nadler, K. Kreutz, wie Anm. 44, Abb. 4).
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Auf dem Reihengräberfeld Ergolding bei Landshut fand sich in Grab 244, umgeben von einem Kreisgraben von 14 m Durchmesser, eine Sechsfachbestattung innerhalb einer großen Grabkammer der Maße 4,60 × 2,20 m, datiert in das späte 7. Jahrhundert. Drei Männer in der westlichen Kammerhälfte waren je mit einer Spatha und einem Schild, zwei davon zudem mit einem Sax oder einer Lanze ausgerüstet; sie waren mit Sporen ausgestattet, also Reiter; der Tote im Süden hatte weitere wertvolle Beigaben. Außerdem lag ein Leichenbrandhäufchen zwischen den Beinen des im Norden bestatteten Kriegers, der als Waffe einen awarischen Säbel trug. In der östlichen Hälfte der Kammer lagen ebenfalls drei Männer, von denen nur einer mit einem Sax bewaffnet war, die anderen beiden (Männer?) waren ihrer Ausstattung beraubt. Alle waren zusammen bestattet worden, wie die enge Lage nebeneinander und die teils überkreuzten Arme zeigen, was den Eindruck hervorruft, dass sie sich bei den Händen hielten.45 In einer Dreifachbestattung Grab 187 auf demselben Gräberfeld lagen drei Männer mit einander überlagernden Armen; der mittlere Tote wies drei unverheilte Schwerthiebverletzungen auf.46 In einer Doppelbestattung von Giengen a.d. Brenz-Hürben im Kreis Heidenheim lagen zwei Krieger übereinander im Grab, von denen der obere mit der rechten Hand die linke Faust des unteren Kriegers umklammerte.47 Die Rangfolge der toten Krieger wird außer über die Qualität der Beigabenausstattung auch darin ausgedrückt, dass der Ranghöchste jeweils im Süden der Kammer niedergelegt ist (Niederstotzingen Grab 3; Büttelborn; Großhöbing; Inningen Grab 2; Ergolding Grab 244; Bootkammergrab von Haithabu48). Eine größere Zahl der Toten weist sichtbare Hiebverletzungen auf, meist am Schädel, die zum Tode geführt haben. Somit kann davon ausgegangen werden, da alle gemeinsam bestatteten Krieger auch zur selben Zeit getötet worden sind, dass eine innere persönliche Bindung zwischen den Männern bestanden hat. 45
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H. Koch, Zur Chronologie des bajuwarischen Gräberfeldes von Ergolding, Hagnerleiten, Lkr. Landshut, in: Vorträge des 24. Niederbayerischen Archäologentages, 2006, 191–199; ders., S. Stelzle-Hüglin, Das bajuwarische Reihengräberfeld von Ergolding. Das archäologische Jahr in Bayern 2001 (Stuttgart 2002) 111–114. H. Koch, S. Stelzle-Hüglin (wie Anm. 45) 194. P. Paulsen (wie Anm. 29) 140; M. Menninger u. a., Im Tode vereint. Eine außergewöhnliche Doppelbestattung und die frühmittelalterliche Topographie von Giengen a.d. Brenz-Hürben, Kr. Heidenheim. Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 2003 (Stuttgart 2004) 158–161. Auch das Bootkammergrab von Haithabu mit der wikingerzeitlichen Dreifachbestattung von Kriegern gehört in diesen Zusammenhang: E. Wamers, König im Grenzland. Neue Analyse des Bootkammergrabes von Haidaby. Acta Archaeologica (Kopenhagen) 63, 1994, 1–56.
Archäologische Belege für das Fehdewesen während der Merowingerzeit
357
Nun gibt es auch Grabbefunde, die einfach nur die Folge kriegerischer Auseinandersetzungen allgemein sind, ohne dass der Hinweis auf eine Fehde gegeben ist. Auf dem frühmittelalterlichen Gräberfeld von Schortens, Friesland, waren in Grab 217, Nord-Süd ausgerichtet, zwei Krieger mit Spatha und Sax sowie bronzenen Sporen bestattet. Zwei Denare aus der ersten Prägeperiode Karls des Großen von 768–790/94 datieren die Doppelbestattung ans Ende des 8. Jahrhunderts. Einem der Männer steckte eine Pfeilspitze im Bereich des linken Auges; der Schädel war wie die anderen Knochen vergangen, aber ohne Zweifel hatte das in den Kopf eingedrungene Geschoss zum Tod geführt (Abb. 5).49 In Brankovice, Mähren, wurde die Bestattung von vier Toten in einem Grab innerhalb eines Siedlungsbefundes 509, einer ehemalige Vorratskammer, ausgegraben. Einer der Toten, 30–50 Jahre alt und von auffälliger Größe, hatte eine Pfeilspitze im Beckenknochen. Der Befund erscheint so, dass hier vier besiegte und getötete slawische oder ungarische Krieger in Eile, aber trotzdem sorgfältig bestattet wurden, datiert ins 9./10. Jahrhundert.50 Neben den sorgfältig angelegten Mehrfachbestattungen von Kriegern der Merowingerzeit gibt es auch Massengräber, die deutlich rasch und wenig ordentlich bestattete Tote direkt auf einem Schlachtfeld bergen. Ein Beispiel ist das Gräberfeld von Aldaieta im Baskenland, wo 116 Tote unregelmäßig, auch in unterschiedlicher Lage zu den Himmelsrichtungen, in mehreren Einzel- und mehrheitlich in Kollektivgräbern mit bis zu 15 Bestatteten begraben worden sind. Während die Skelette durcheinander und einzelne Glieder verstreut lagen, fällt die sorgfältige Ausstattung der Toten mit Grabbeigaben, vor allem auch mit Waffen auf. Die Toten werden als bis zu 80 % männliche Kriegsgefallene eines fränkischen Heeres aus dem mittleren Drittel des 6. Jahrhundert gedeutet, aber auch etwa 12 % Kinder und Jugendliche mit Waffenbeigabe und 13 % Frauen sind dabei. Leichte Waffen herrschen vor, Schwerter und Schilde fehlen, man nimmt einen Tross an, der niedergemacht und dann bestattet worden ist.51 49
50
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B. Herrmann, Ein Leichenschatten mit besonderer Aussagemöglichkeit. Mit einem Beitrag von H. Rötting. Archäologisches Korrespondenzblatt 13, 1983, 499–502; H. Rötting, Zur Bestattung und Repräsentation im friesischen und fränkischen Stil im Spiegel herausgehobener Grabanlagen von Schortens, Ldkr. Friesland, in: Über allen Fronten. Nordwestdeutschland zwischen Augustus und Karl dem Großen (Oldenburg 1999) 231–248. E. Drozdová, D. Parma, J. Unger, Hromadny hrob obˇeti slovansko-mad’arského stˇretu v 9.–10. století u Brankovic (A mass grave of victims of a Slavic/Magyar conflict in the 9th-10th century at Brankovice (southern Moravia). Archaeologicky rozhledy 57, 2005, 167–179. H. W. Böhme, Der Friedhof von Aldaieta in Kantabrien – Zeugnis für ein fränkisches Schlachtfeld des 6. Jahrhunderts? Acta Praehistorica et Archaeologica 34, 2002, 135–150.
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Abb. 5 Schortens, Friesland, Grab 217 (nach B. Herrmann, H. Rötting, wie Anm. 49, Abb. 1).
Archäologische Belege für das Fehdewesen während der Merowingerzeit
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Bei den Hügelgräbern von Sutton Hoo sind in der Nähe des Königsgrabes Mehrfachbestattungen ausgegraben worden, die als Ergebnis von Hinrichtungen oder als Menschenopfer interpretiert werden,52 als geopferte besiegte Gegner; denn einerseits ist ihre Bestattung in größeren Gruppen an diesem Ort bemerkenswert, und andererseits unterscheiden sie sich von normalen Gräbern. Wären es Abhängige der in den Hügeln Bestatteten, dann wären sie sorgfältig ebenfalls im Hügel oder nahebei begraben worden. In einer Gruppe des 7./8. Jahrhunderts liegen 18 Tote in ungeregelter Ausrichtung, teilweise mit dem Gesicht nach unten oder mit gebrochenem Genick. Der Schädel kann fehlen oder fand sich in einer anderen Grabgrube. In der zweiten Gruppe beim Hügel 5 mit 11 Bestattungen waren einige enthauptet, und der Schädel lag zu Füßen des Toten, auch gibt es Hinweise auf Erhängung. Diese Befunde deuten auf Hinrichtung von Feinden oder Übeltätern oder auf ein Massaker hin.53 Die Hinrichtung von besiegten Feinden als religiöse Menschenopfer ist quer durch die Epochen nachweisbar.54 Bei der wikingerzeitlichen Trelleborg auf Seeland gibt es Massengräber, in denen Männer im Alter zwischen 20 und 35 Jahren lagen. In einem der Gräber waren fünf Männer mit einander umschlingenden Armen niedergelegt, in einem anderen mit elf Bestattungen waren die Toten so niedergelegt, dass davon drei mit dem Kopf im Westen und zwei obenauf mit den Köpfen im Osten positioniert waren. Auch diese Mehrfachbestattungen von Kriegern erfolgten bewusst mit sorgfältiger Behandlung der gefallenen oder getöteten Krieger.55 Nur einige der archäologischen Befunde vor allem aus der Merowingerzeit sind aussagefähig, um als Ergebnis einer Fehde angesehen zu werden. Häufiger ist die gemeinsame Bestattung von Kriegergruppen oder -gefolgschaften nach gemeinsamem Kampftod. Ursachen für den gemeinsamen Tod können aber auch Krankheiten, Vergiftungen, Unfälle, Seuchen, die Justinianische Pest (wofür als Beispiel das Frauengrab von Aschheim im Folgenden noch beschrieben wird), Hinrichtung oder Opfer gewesen sein; auch Mord, Überfall von Räubern, von feindlichen Heerhaufen, Lynchjustiz von Nachbarn, Bestrafung durch die Familie sowie Mordbrand, dies auch im Rahmen einer Fehde, sind zu berücksichtigen.
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53 54 55
H. Ellis Davidson, Human sacrifice in the Late Pagan Period in North-Western Europe, in: M. O. H. Carver (Hrsg.), The Age of Sutton Hoo. The Seventh Century in Northwestern Europe (Woodbridge 1992) 331–340. H. Ellis Davidson (wie Anm. 52) 332. H. Beck (wie Anm. 10). St. W. Andersen, Trelleborg, in: RGA Bd. 31, 2006, 157–160, hier 159.
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Jeder merowingerzeitliche Krieger, der zu einer Gruppe von Gefallenen gehörte, hätte statt in einer Mehrfachbestattung auch bei gleichzeitigem Tod aller Kämpfer einzeln auf dem Gräberfeld in jeweils einem eigenen Grab, vielleicht in der Nähe von Angehörigen, mit seinen Waffen bestattet worden sein können. Auch benachbarte Kriegergräber auf den Friedhöfen könnten somit zur Gruppe der zeitgleich Gefallenen gehören, so wie J. Werner die großen Dreifachgräber 3 und 12 von Niederstotzingen als Gefolgsleute des Mannes in Grab 9 deutete.56 Doch wurde vor allem während der späten Reihengräberzeit, im 7. Jahrhundert und um 700, immer wieder die Gruppenbestattung, zumeist auf dem Friedhof der Siedlung, gewählt. Deshalb steht für diese Form der Mehrfachbestattung eine positive Entscheidung der bestattenden Gemeinschaft dahinter, die den Zusammenhalt der Gruppe über den Tod hinaus wahren wollte. Diese Beziehung kann schon zuvor bestanden haben, im Sinn einer Waffenbrüderschaft, einer Kriegergefolgschaft oder eines Ziehsohnverhältnisses bzw. einer Waffensohnschaft, wie das in schriftlichen Quellen für gesellschaftlich hohes Niveau häufiger überliefert ist. Sie könnte aber auch erst durch das kriegerische Ereignis und den gemeinsamen Tod erzeugt worden sein. Es ging jeweils um Kampf zwischen Gegnern aus der Nähe. Der archäologische Befund der mehrfachen Kriegerbestattung spiegelt das Fehdewesen. Mehrere anthropologische Befunde bezeugen, dass die Krieger tatsächlich im gemeinsamen Kampf zu Tode gekommen sind. Dafür sprechen einerseits die mehrfach am Skelett nachgewiesenen Verwundungen und andererseits die Bestattung inmitten des Gräberfeldes der Siedlungsgemeinschaft. Die zahlreichen Wergeldbestimmungen in allen Leges oder in Kapitularien für Totschlag sind Reaktion auf die wahrscheinlich zahlreichen Fehden und Versuche, diese Art der Vergeltung einzudämmen. Hinzu kommen weitere Befunde, die für Gruppenzusammengehörigkeit oder gar Kriegergefolgschaft sprechen. Die toten Krieger hielten sich bei den Händen; es gab Rang- und Altersunterschiede zwischen ihnen. Bei den Vielfachbestattungen der Merowingerzeit war der südliche, meist älteste Krieger am reichsten und sorgfältigsten ausgestattet, der nördlichste deutlich ärmer ausgerüstet. Insgesamt spiegeln fast alle Mehrfachbestattungen von Kriegern den hohen, „adligen“ Rang einer Elite, zu deren Lebensstil Kampf und Fehde gehört haben. 56
J. Werner, Adelsgräber von Niederstotzingen bei Ulm und von Bokchongdong in Südkorea. Jenseitsvorstellungen vor der Rezeption von Christentum und Buddhismus im Lichte vergleichender Archäologie. Abh. Bayer. Akad. d. Wiss. Phil.-Hist. Klasse N.F. 100 (München 1988) 7.
Archäologische Belege für das Fehdewesen während der Merowingerzeit
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Auffällige Befunde stützen zusätzlich die Deutung als Ergebnis von Fehden, das sind Hinweise auf mögliche Familienverbände. Es hat bewaffnete Frauen – und auch Jugendliche – gegeben, die mit anderen Kriegern zusammen gefallen und dann gemeinsam bestattet worden sind. Anscheinend lagen schon im ausgeraubten sog. Königsgrab von Muˇsov aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. zwei Männer und eine Frau, und zu den Beigaben zählten außer Waffen sechs Gürtelgarnituren und zahlreiche Sporenpaare, also auch eine mehrfache männliche Ausstattung.57 Der im Grab der Merowingerzeit von Inzigkofen für sein Alter von 8–9 Jahren ungewöhnlich große Junge, der wie 13 und älter wirkte, war Reiter und wurde im Kampf getötet wie ein Erwachsener. Jüngste aDNAAnalysen haben weiterhin gezeigt, dass unter den Kriegern in Mehrfachbestattungen auch Frauen waren. So zeigt sich, dass im Dreiergrab 3a-c von Niederstotzingen mit drei schwer bewaffneten Kriegern einer davon eine Frau war. Bestattung 3a an der Südseite der Kammer war ein großer, kräftiger Mann im Alter zwischen 20 und 30, 3b war ein Mann im Alter zwischen 50 und 60 Jahren und 3c eine kleine, nicht eben kräftige Person, was schon N. Creel und P. Paulsen 1967 aufgefallen war.58 Die aDNA-Bestimmung hat diesen dritten Krieger als weiblich identifiziert; der Krieger 3b und die waffenführende Frau 3c sind mütterlich verwandt, der junge Mann 3a könnte denselben Vater gehabt haben wie die junge Frau 3c, d. h. sie wären uneheliche Geschwister.59 Beim Dreifachgrab 12 von Niederstotzingen wird für 12c bemerkt, dass man dieses Skelett, ohne Beigaben auf einem Reihengräberfeld gefunden, ohne den geringsten Zweifel als weiblich eingestuft hätte. Weitere Parallelen weiblich wirkender Skelette mit Waffenbeigabe sind bekannt.60 Im Gräberfeld von Kirchheim am Ries fanden sich vier Männerdoppelbestattungen, eine Dreierbestattung (Nr. 81, 87 und 88) und eine Viererbestattung (Nr. 279, 282, 286, 289).61 Von der Dreierbestattung werden über aDNA zwei Tote als männlich und eine Person als weiblich identifiziert, die zudem alle mütterlich miteinander verwandt waren, während im Vierergrab drei weibliche Personen und ein Mann bestattet sind, von denen zweimal Mutter und Kind bestimmt werden konnten. In zwei Dreifachbestattungen auf dem Gräberfeld von Hailfingen (Grab 50 und Grab 81 a-c) lagen eben57 58
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J. Tejral, Muˇsov, in: RGA Bd. 20, 2002, 425–433. N. Creel, Die menschlichen Skelettreste, in: P. Paulsen (wie Anm. 29) Teil II, 27–32, hier 28; M. Zeller, Molekularbiologische Geschlechts- und Verwandtschafts-Bestimmung in historischen Skeletten. Diss. Tübingen, 2000 [internet-Veröff.], 39. M. Zeller (wie Anm. 58) 114, 118. N. Creel (wie Anm. 58) 30. M. Zeller (wie Anm. 58) 389.
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falls jeweils zwei Männer und eine Frau; die beiden Frauen lagen südlich im Grab.62 Auf dem Gräberfeld von Aschheim-Bajuwarenring gibt es eine größere Zahl von Doppelbestattungen, drei Dreifachgräber, ein Vierfach- und ein Fünffachgrab. Im Doppelgrab 166/167 sind zwei Frauen bestattet worden, von denen jede nur eine der beiden Fibeln eines Bügelfibelpaares vom nordischen Typ als Beigabe mitbekommen hat. Die anthropologische Knochen- und aDNA-Untersuchung hat gezeigt, dass die beiden Frauen miteinander verwandt sind, die eine ist etwa 48 Jahre alt, die andere etwa 13–16 Jahre, was für Mutter und Tochter spricht, die zeitgleich bestattet worden sind. Sie sind an der Pest gestorben, der Pesterreger yersinia pestis ist nachgewiesen.63 Die schriftliche Überlieferung erwähnt für die Mitte und zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts Pestepidemien, Prokop und andere berichten über den Ausbruch der Pest 541,64 die als justinianische Pest bezeichnet wird. Weiterhin wird für 543/544 die Pest in Gallien, 546 im Rheinland erwähnt. Da die meisten Doppel- und Mehrfachbestattungen aber mehrheitlich in die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts datiert werden, kann es sich in vielen Fällen nicht um Pestopfer handeln. Zusammenfassend darf man sagen: Die Merowingerzeit und das frühe Mittelalter waren – wie andere Epochen auch – eine kriegerische Zeit. Die Männer, aber auch manchmal Frauen, waren häufig in Kämpfe verwickelt, nicht nur bei größeren kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern auch bei der nachbarschaftlichen Fehde. Davon spricht nachdrücklich die schwere Bewaffnung mit Hieb- und Stoßwaffen wie Schwert und Sax, die einem hohen Prozentsatz der Männer – und einigen Frauen – als Beigaben mit ins Grab gelegt wurden. Davon sprechen aber auch die Kampfspuren und Hiebverletzungen, die an den Skeletten zu beobachten sind. Sie zeugen einerseits anhand verheilter Hiebspuren von wiederholten Kämpfen und andererseits von brutaler Gewalt anhand der mehrfachen tödlichen Schädelverletzungen.65 In den Mehrfachbestattungen findet man nur die Getöteten einer Partei der Fehde; Erschlagene der zweiten Partei müssten dann an einem anderen Platz auf demselben Gräberfeld oder bei einem anderen Dorf bestattet worden sein.
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M. Zeller (wie Anm. 58) 114–117. D. Gutsmiedl, Die justinianische Pest nördlich der Alpen?, in: B. Päffgen u. a. (Hrsg.), Cum grano salis. Festschrift für Volker Bierbrauer zum 65. Geburtstag (Friedberg 2005) 199–208, hier 200 Abb. 2. D. Gutsmiedl (wie Anm. 63) 208. J. Wahl, U. Wittwer-Backofen, M. Kunter, Zwischen Masse und Klasse. Alamannen im Blickfeld der Anthropologie, in: Die Alamannen (Stuttgart 1997) 337–348, hier 344–346.
Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 363–382 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Zur Bedeutung von Aschaffenburg im frühen Mittelalter
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Zur Bedeutung von Aschaffenburg im frühen Mittelalter HORST WOLFGANG BÖHME
„Schon die Identifizierung und Lokalisierung der genannten Ortsnamen [aus der Kosmographie des Ravennater Geographen], aber auch die Bewertung und Interpretation des in sehr verderbter Form überlieferten Textes bereiten große, wohl kaum je zu bewältigende Schwierigkeiten“.1 Diese pessimistische, aber generell durchaus richtige Einschätzung des verehrten Kollegen und Jubilars Dieter Geuenich bezieht sich – unausgesprochen – wohl auch auf die Gleichsetzung von ascapha mit Aschaffenburg als eine der civitates in der patria Suavorum quae et Alamannorum patria, wenngleich gerade diese spezielle Identifizierung von den meisten Gelehrten seit dem frühen 19. Jahrhundert bis heute weitgehend akzeptiert wurde,2 obwohl außer der Namensähnlichkeit kaum weitere Argumente anzuführen waren. Dank einiger aussagekräftiger archäologischer Funde und Befunde der jüngsten Zeit hat sich die Quellensituation jedoch deutlich verbessert, so dass heute weiterführende Überlegungen angestellt werden können, die vielleicht auch den Jubilar zu überzeugen vermögen. 1995–96 und nochmals 1999 bot sich auf dem Aschaffenburger Stiftsberg die seltene Gelegenheit, zwei geplante Rettungsgrabungen durchzuführen, die sich gezielt auf solche Flächen konzentrierten, die nicht durch unterkellerte Bebauung des Spätmittelalters oder der Neuzeit nachhaltig gestört waren und die somit die Möglichkeit eröffneten, auf weitgehend unverfälschte vormittelalterliche Siedlungsstrukturen zu stoßen.3 Wenn auch – auf Grund der verhältnismäßig kleinen Ausgrabungsflächen – nicht alle Erwartungen erfüllt wurden, konnten doch so viele Funde und Befunde des
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3
Geuenich 1997, 71. Schnetz 1918, 57–63 (mit Hinweis auf die entsprechende Deutung durch C. G. Reichard 1822); Staab 1976, 49 mit Anm. 118; Dinklage 1957, 51–56; Fischer 1989, 256. Ermischer u. a. 1996; Dapper u.a. 1997; Scherbaum 2000. – Für weitere Hinweise auf Funde und Befunde der Ausgrabungen danke ich Markus Marquardt und Martin Höpfner, beide Museen der Stadt Aschaffenburg.
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4.–7. Jahrhunderts freigelegt werden, die Anlass bieten, mit neuen Argumenten die Diskussion um die Aschaffenburger Frühgeschichte zu beleben.4 Ohne einer detaillierten Analyse und Auswertung der gesamten Grabungsergebnisse vorgreifen zu wollen, sei es an dieser Stelle erlaubt, auf drei ausgewählte Fundgegenstände näher einzugehen, die möglicherweise ein helleres Licht in das Dunkel von Aschaffenburgs Frühzeit bringen können und zugleich neue Gesichtspunkte zur politisch-militärischen Organisation der rechtsrheinischen Gebiete während des 4. und 5. Jahrhunderts ergeben. Die auf den ersten Blick wenig spektakulären Objekte umfassen ein Kammfragment und eine bronzene Riemenzunge (Abb. 1, 1–2)5 sowie eine Siliqua von Constantin III. (407–411).6
Bemerkungen zu dem Kamm Bei dem Beinkamm aus Aschaffenburg handelt es sich ohne Zweifel um ein Exemplar der einreihigen Dreilagenkämme mit (annähernd) halbkreisförmig erweiterter Griffplatte,7 die sich markant von etwa zeitgleichen Kämmen mit dreieckigem Griffteil oder gar von zweireihigen Kämmen unterscheiden. Zu den unverwechselbaren Charakteristika dieser Toilettegegenstände gehören der keilförmige Querschnitt8 und die röhrchenförmigen Bronzeniete.9 Bis zum Ende der Zeitstufe Eggers C 3 (bis etwa 375/80 n. Chr.) waren derartige Kämme und deren Vorformen mit schwach aufgewölbtem Griffteil ausschließlich im Bereich der Sîntana de Mure¸s-Cˇernjachov-Kultur (SMCˇ-Kultur)10 verbreitet, die sich weiträumig zwischen Siebenbürgen und Walachei im Westen und den Steppengebieten östlich des Dnepr erstreckte und mehrheitlich mit den Siedelgebieten ostgermanisch-gotischer Völkerschaften (gentes Gothicae) in Verbindung ge-
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Bereits in dem zweiten Grabungsbericht (Dapper u.a. 1997, 177) heißt es: „Die entscheidende Frage nach dem alamannischen „ascapha-(burg)“ darf inzwischen als gelöst gelten. An der alamannischen Besiedlung des Aschaffenburger Stadtberges kann kein Zweifel mehr bestehen“. Scherbaum 2000, 82 Abb. 80, 3–4. Dapper u.a. 1997, 177. Thomas 1960, 104–114 (Typ III). Dieser entsteht dadurch, dass sich die mittlere beinerne Lage des Kammes vom gezähnten Unterteil zum oberen Nacken meist spürbar erweitert und fast doppelte Stärke erreicht. Freilich kommen daneben auch massive bronzene oder eiserne Niete vor. Einen guten Überblick bietet Gomolka-Fuchs 1999.
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Abb. 1 Dreilagiger Beinkamm und bronzene Riemenzunge des 4./5. Jahrhunderts vom Aschaffenburger Stadtberg (nach J. Scherbaum).
bracht wird.11 In der SMCˇ-Kultur spielten Kämme mit halbkreisförmig erweiterter Griffplatte jedenfalls eine dominierende Rolle.12 Erst seit dem letzten Viertel des 4. Jahrhunderts (Stufe Eggers D 1 = etwa 375/80 bis 410/20 n. Chr.) findet man diese typischen SMCˇ-Kämme nun auch außerhalb ihres eigentlichen Kulturkomplexes: im mittleren Donaugebiet, im östlichen Mitteleuropa, im Elbe-Saale-Gebiet sowie an Mittelrhein und Mosel,13 wobei die eindeutig ältesten Exemplare, die zweifelsfrei auch noch in den jüngsten Bestattungen der SMCˇ-Gräberfelder vorkommen, wie die unverwechselbaren Kämme mit Tierbildern und Wellenbandrahmung,14 nur aus Fundplätzen an der mittleren Donau zwischen Eisernem Tor und Carnuntum stammen, von den zwei Fundorten in den slowakischen Bergen abgesehen.15 Es handelt sich demnach in fast allen
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Bierbrauer 1999. – Zu diesem vermutlich polyethnischen Kulturkomplex gehörten offenbar nicht allein Greuthungen („Ostgoten“) und Terwingen („Westgoten“), sondern als weitere gentes Gothicae auch Heruler, Rugier, Skiren und evtl. auch die sog. Ost-Burgunden. Pohl 2004, 98; Doma´nski 1998. In den jüngst vollständig publizierten Gräberfeldern dieser Kultur (Bârlad-Valea Seac˘a, Mih˘al˘as¸eni) machten derartige Kämme 68 % (39 Exemplare) bzw. 62,2 % (51 Exemplare) sämtlicher Toilettegegenstände aus: Palade 2004; S¸ ovan 2005. Tejral 1988, 225; Koch 1993, 18f. mit Verbreitungskarte und Fundliste. Werner 1988, 284 mit Abb. 23. Zu ergänzen sind auf der Verbreitungskarte bei Werner 1988, 283 Abb. 22 einige Nachträge und die bisher nicht berücksichtigten Kämme mit Wellenbandrahmung: In der Slowakei (Vyˇsn´y Kubín, Vrbov), an der Donau (Unterlanzendorf bei Wien, Matrica, Singidu-
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Horst Wolfgang Böhme
Fällen um spätrömische Kastelle an den Grenzabschnitten der Provinzen Pannonia I, Valeria, Pannonia II und Moesia I. Da das plötzliche und gehäufte Auftauchen von SMCˇ-Kämmen in militärischem Zusammenhang kaum zu übersehen ist, wurde dieses Phänomen zu Recht mit ostgermanisch-gotischen Truppen in Verbindung gebracht, die nach 375 Zuflucht vor den Hunnen suchten und anschließend im Rahmen der spätantiken Reichsverteidigung Verwendung fanden. Die Kämme belegen also direkt die Anwesenheit von „gotischen Völkern“, zumal Kämme zum persönlichen Besitz des Einzelnen gehörten und kein Handelsgut waren.16 Wie die zahlreichen Vorkommen in der Provinz Moesia I belegen,17 ist eine ausschließliche und einseitige Verbindung solcher archäologisch nachgewiesener ostgermanischer Söldner an der Donaufront mit den schriftlich bezeugten „Foederaten“ der gotisch-alanischen Alatheus-Safrax-Gruppe, die 379/80 in Pannonien angesiedelt wurden,18 nicht statthaft. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass nach 375/76 zahlreiche Goten und andere Ostgermanen in das Reichsheer aufgenommen wurden und in verschiedenen Garnisonen an der mittleren bis unteren Donau ihren Dienst versahen. Nur wenig später finden sich die typischen SMCˇ-Kämme weiter westlich auch in mehreren Militäranlagen der Provinzen Raetia II und Germania I, wie etwa Eining, Neuburg, Alzey oder Bad Kreuznach, die aber vermutlich nicht direkt aus dem SMCˇ-Bereich stammen, sondern wohl von ostgermanischen Truppen aus dem Mitteldonaugebiet mitgebracht wurden. Dabei könnte es sich durchaus bereits um jene Militäreinheiten des Heermeisters Bauto gehandelt haben, mit deren Hilfe er 383 nach Raetien eingefallene Alamannen zurückwies.19 Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass erst nach dem Sieg des Kaisers Theodosius mit seinem gotischhunnischen Heer über den Usurpator Magnus Maximus 38820 entsprechende Truppen in die raetischen und germanischen Kastelle einziehen konnten.21
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num, Viminacium, Korbovo-Obala) und in der SMCˇ-Kultur (Independent9a, Bârlad-Valea Seac˘a, Mih˘al˘as¸eni). Vgl. dazu Petkovi´c 1995, 64f. und 130 sowie Taf. 9–10. Dies betont zu Recht Koch 1993, 18. Petkovi´c 1995, Karte 5. Demandt 1989, 126. Demandt 1989, 129. Demandt 1989, 132. Diesen Zeitansatz vertritt auch Keller 1979, 60. Seiner Interpretation zufolge gehörten ostgermanisch-gotische Einheiten zur jüngsten Kastellbesatzung von Neuburg. Dieser Datierung entspricht auch der Befund des Kastells Alzey, da dort ein Kamm mit halbkreisförmig erweiterter Griffplatte aus den Schichten der Periode 1 (370 – ca. 407 n. Chr.) stammt: Oldenstein 1987, 328ff. und 341–346 mit Abb. 11.
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Abb. 2 Verbreitungskarte ostgermanisch-gotischer Kämme mit halbrund erweiterter Griffplatte in spätrömischen Militärzusammenhängen. Zum Fundstellennachweis vgl. Anm. 23.
Es kann aufgrund der Funde und Befunde von Alzey, Neuburg und Eining22 davon ausgegangen werden, dass seit dem späten 4. Jahrhundert ostgermanisch-gotische Militäreinheiten auch in Raetien sowie an Rhein und Mosel zum Einsatz kamen bzw. garnisoniert wurden (Abb. 2).23 So könnte auch der Kamm von Aschaffenburg im Zuge solcher Truppenverschiebungen an den Untermain gelangt sein, sofern sich der militärische Charakter des Stadtberges in spätrömischer Zeit nachweisen ließe. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass SMCˇ-
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Gschwind 2004, 207–214. Auf der Karte sind die hier behandelten Kämme außerhalb der SMCˇ-Kultur verzeichnet, die aus sicheren (gefüllte Kreise) und wahrscheinlichen (offene Kreise) spätantiken Militärzusammenhängen stammen. Aus Platzgründen können allein die Fundorte (ohne Literaturhinweise) von Westen nach Osten aufgeführt werden: Köln (2 Exemplare), PolchRuitsch, Mehring, Trier (5 Ex.), Bad Kreuznach (2 Ex.), Alzey (2 Ex.), Wiesbaden, Aschaffenburg, Eisenberg, Kaiseraugst, Neuburg, Eining (7 Ex.), Regensburg, Lauriacum, Mautern, Unterlanzendorf, Carnuntum (4 Ex.), Györ, Brigetio (8 Ex.), Tokod (3 Ex.), Pilismarót, Aquincum, Csákvár (2 Ex.), Matrica (2 Ex.), Intercisa (6 Ex.), Gomolava, Singidunum, Sapaja (4 Ex.), Viminacium, Castrum Novae, Cantabaza, Campsa, Pontes, Kobovo-Obala, Hinova, Bordej, Gamzigrad. – Die früher vermutete Zerstörung von Kastell Tokod – vor seiner Fertigstellung – um 370 (Koch 1993, 18) ist zu revidieren, da es mittlerweile Münzen von Arcadius und Honorius gibt und die Anlage bis ins 1. Drittel des 5. Jahrhunderts weiter bestand: Prohászka 2005, 18–21.
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Kämme der Stufe D 1 (ca. 375/80 – 410/20) nicht nur in spätrömischen Kastellen und anderen Militärstandorten angetroffen werden, sondern sich fast ebenso häufig in germanischen Siedlungen und Gräbern außerhalb des Römischen Reiches finden, sporadisch im Bereich der Przeworsk-Kultur (Polen) und im oberen Theiß-Gebiet, gehäuft zwischen Mitteldonau und March, im Prager Becken und im Elbe-Saale-Winkel. Ihr recht plötzliches Auftreten in diesen Regionen wird mit dem Einströmen geflüchteter oder vertriebener Personengruppen aus der SMCˇ-Kultur in Verbindung gebracht, die sich in den Siedlungen der ansässigen, bodenständigen Bevölkerung niederließen.24 Mit solchen versprengten ostgermanischen Migranten – zeitgleich mit der Verwendung der genannten Foederaten und Soldaten im römischen Heer an Rhein und Donau in Stufe D 1 – kann auch in geringem Maße in Süddeutschland gerechnet werden, da entsprechende Kämme aus einem Grab in Trebur sowie aus zwei Siedlungen in Geldersheim und EichstättLandershofen bekannt wurden.25 Sie sind formal und zeitlich zu trennen von den späteren Kämmen mit stark aufgewölbtem glockenförmigen Griffteil des Main-Neckar-Gebietes, die bereits ins mittlere Drittel des 5. Jahrhunderts zu datieren sind (Stufe D 2) und vermutlich mit erneuten Migrationsbewegungen aus Mitteldeutschland, Böhmen und dem Mitteldonaugebiet zu verbinden sind26 Mit diesen Kammformen endet ihre Entwicklung um die Mitte des 5. Jahrhunderts.27 Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, dass der Kamm aus Aschaffenburg höchstwahrscheinlich mit ostgermanisch-gotischen Personen gegen Ende des 4. Jahrhunderts dorthin gelangte, ohne dass zunächst
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Diese Meinung vertreten, auch in Hinblick auf andere aus der SMCˇ-Kultur stammende Kulturerscheinungen: Istvánovits/Kulcsár 1999, 93; Tejral 1999, 234–237; Schmidt 1985, 294. Trebur: Möller 1987, Taf. 104, 13. – Geldersheim: Pescheck 1978, Taf. 74, 3. – EichstättLandershofen: Bayerische Vorgeschichtsblätter, Beiheft 18 (2006) 12 und 39 Abb. 9, 1. Wiesbaden-Schützenhofstraße: Altertümer unserer heidnischen Vorzeit Band 5 (Mainz 1911) Taf. 72, 1359. – Groß-Umstadt: Möller 1987, Taf. 53, 1.3. – Wenigumstadt: Stauch 2004, Taf. 90, 5. – Mingolsheim: Wahle 1925, 60 Abb. 31. – Heilbronn: Veeck 1931, Taf. 10, B 1–2; Koch 1993, 19 Abb. 20. – Herten: Garscha 1970, Taf. 14, B 5. – Außerdem gehören die „westgotischen“ Kämme aus Aquitanien zu diesen jüngeren Formen, die frühestens 419 in diese Region gelangt sein können: Beaucaire-sur-Baïse, Bapteste und Seviac: Kazanski 1993, 185 Abb. 2, 2.17. Die gelegentlich vertretene Meinung, die Kämme mit glockenförmigem Griffteil seien das ganze 5. Jahrhundert in Gebrauch gewesen (Koch 1993, 18), bezieht sich auf das so genannte Grab 25 von Stößen mit einer frühen S-Fibel. Das offenbar vermischte Inventar sollte künftig bei der Datierung keine Berücksichtigung mehr finden: Bemmann 2001, 73f. mit Abb. 10.
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zu entscheiden ist, ob diese als spätrömische Militärangehörige oder als Migranten anzusprechen sind.28
Die scheibenförmige Riemenzunge Das fast vollständig erhaltene bronzene Riemenende vom Aschaffenburger Stadtberg (Abb. 1, 2) kann als „klassischer“ Vertreter der punzverzierten scheibenförmigen Riemenzungen angesprochen werden,29 die offenbar regelmäßig Bestandteil von sog. Punzverzierten Gürtelgarnituren der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts waren.30 Als formale Vorläufer dürfen spätantike runde Riemenzungen mit seitlichen, peltaförmig durchbrochenen Henkeln und erhöhtem Perlrand31 angesprochen werden, die zumeist aus Gräbern mit Militärgürteln der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts stammen und mehrheitlich aus Pannonien und Noricum bekannt sind. Diese scheibenförmige Grundform wurde gelegentlich in unbeholfener, plumper Weise sowohl in den Donauprovinzen als auch in Nordgallien nachgebildet, fand aber – als Ergebnis einer gelungenen Imitation – erst im südwestdeutschen Gebiet seit der Zeit um 400 n. Chr. eine feste, verbindliche Typenausbildung in Gestalt der angesprochenen punzverzierten Riemenzungen mit scheibenförmigem Ende. Deren frühere typologische Gliederungsversuche durch J. Werner, Verf. und H. Steuer32 schlossen noch mehrere nicht zugehörige Exemplare mit ein (u. a. ältere Vorformen sowie unspezifische, wenig gelungene Nachahmungen)33 und konzentrierten sich bisher zu wenig auf die besonderen
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Bei der ethnischen Interpretation von „ostgermanischen“ Funden im Rhein-Main-Gebiet war man bisher allzu sehr bemüht, den archäologischen Nachweis allein für „Burgunden“ zu erbringen, womit man sich den Blick für andere Deutungsmöglichkeiten verstellte. Dies betraf auch die Kämme mit halbkreisförmig bzw. glockenförmig erweiterter Griffplatte (Martin 1997 a, 164 mit Abb. 163), obwohl die beiden zeitlich zu trennenden Formengruppen mit „Burgunden“ offensichtlich nichts zu tun haben. Böhme 1974, 77. Böhme 1974, 62–64. Es handelt sich bei ihnen augenscheinlich um eine eigenständige Variante der Amphoraförmigen Riemenzungen: Sommer 1984, 53ff.; Martin 1991, 38 mit Abb. 17. – Nachzutragen sind folgende Exemplare: Krefeld-Gellep Grab 5781, Leithaprodersdorf und Halbthurn/Burgenland (alle mit erhöhtem Perlrand, aber ohne die peltaförmig durchbrochenen Henkel). Werner 1958, 411f. mit Abb. 15; Böhme 1974, 77 mit Fundliste 374f. (Nr. 55–87) und Karte 18; Steuer 1990, 180ff. mit Fundliste auf S. 202–205. Auszuscheiden aus der Betrachtung sind folgende Nummern der Fundliste bei Steuer 1990, 202ff. (Nr. 1–2, 5–8, 10, 29, 39, 48–54, 58–68, 72–74 = 29 Exemplare)
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Charakteristika der punzverzierten Scheibenriemenzungen im engeren Sinne, wobei freilich ihre große Variationsbreite zu berücksichtigen ist, die kaum einmal identische Stücke hervorgebracht hat und wohl auf individuelle, dezentrale und oft wenig professionelle Werkstätten hindeutet.34 Kennzeichnend für die scheibenförmigen Riemenzungen im engeren Sinne sind nämlich 1.) die Umbildung der einstigen durchbrochenen Henkel in mehr oder weniger stilisierte Pferdeköpfe, 2.) die gelegentliche Imitation der ehemaligen Randperlung durch eine aufgenietete bzw. angedeutete Zierröhrchenbordüre und 3.) die sich stets wiederholenden Punz- und Kerbmuster wie gegenständige Spitzdreiecke, Sichelbögen, Kreisaugen und vor allem eine sechsstrahlige Rosette aus zusammengesetzten Spitzovalen, die generell Kerbschnittmotive älterer Militärgürtel nachahmen. Fasst man alle punzverzierten Riemenzungen mit diesen Kriterien zusammen, ergibt sich eine Gruppe von 54 Exemplaren, die sich – unter Berücksichtigung der erwähnten individuellen, oft eigenwilligen Gestaltung – drei Varianten zuweisen lassen: A) scheibenförmige Exemplare mit ausgeprägten Tierköpfen und typischen Punzmustern,35 B) scheibenförmige Exemplare mit degenerierten, oft kaum noch zu erkennenden Tierköpfen und typischen Punzmustern,36 C) scheibenförmige Riemenzungen ohne Tierköpfe, aber mit typischen Punzmustern.37
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Dadurch unterscheiden sich die so genannten Punzverzierten Gürtelgarnituren, zu denen diese Riemenzungen mehrheitlich gehören, von den nur wenig jüngeren so genannten Einfachen Gürtelgarnituren des mittleren 5. Jahrhunderts des nordgallischen Raumes. Vgl. Böhme im Druck. Dazu gehören 25 Exemplare, vgl. Steuer 1990, 202ff. Nr. 25, 31–38, 40–47 und 71 sowie folgende Nachträge: Vorderer Taunusrand, evtl. Altkönig: Museum Eschborn (freundlicher Hinweis von Hermann Ament, Mainz). – Aschaffenburg (Abb. 1, 2). – Zellingen: Bayerische Vorgeschichtsblätter, Beiheft 13 (2000), 148 Abb. 77, 14. – Gaukönigshofen: Edel und frei. Franken im Mittelalter, hg. von W. Jahn, J. Schumann und E. Brockhoff (Stuttgart 2004), 91 Abb. 6 und neue Zeichnung, die Bernd Steidl, München, verdankt wird. – Großeibstadt: Hoffmann 2004, Taf. 23, 4. – Reißberg bei Scheßlitz: Bayerische Vorgeschichtsblätter, Beiheft 14 (2001) 139 Abb. 68, 10. – Eggolsheim-Drosendorf: Ebd. 18 (2006) 193 Abb. 85, 3. Folgende 10 Stücke sind dieser Variante zuzuweisen, vgl. Steuer 1990, 202ff. Nr. 16–17, 19, 21–24, 27, 30, 53. 19 Fundstücke lassen sich hier aufführen, vgl. Steuer 1990, 202ff. Nr. 3–4, 9, 11–15, 18, 20, 26, 28, 55–57 sowie die nicht abgebildeten Nrn. 69–70. Diese beiden inzwischen publizierten Exemplare und zwei Nachträge stammen aus Kahl am Main Grab 125: Teichner 1999, Taf. 39. – Gangolfsberg bei Oberelsbach: Hoffmann 2004, Taf. 33, 7. – Sulzfeld: Hoffmann 2004, Taf. 40, 20. – Burg Neideck bei Wiesenttal-Muggendorf: Bayerische Vorgeschichtsblätter, Beiheft 16 (2004) 183 Abb. 94, 8.
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Alle Riemenzungen dieser drei Varianten, die leider zumeist als Einzelstücke ohne näheren Fundzusammenhang entdeckt worden sind und daher kaum nähere Datierungsanhalte bieten, finden sich recht konzentriert im rechtsrheinischen Limeshinterland, der sog. Alamannia (22 Exemplare), im mainfränkischen Limesvorland (16 Exemplare) oder in militärischen Anlagen (10 Exemplare) entlang der Grenzen der Alamannia (Abb. 3). Nur sechs Stück aus Nordwest-Deutschland, aus Trier und Südfrankreich liegen außerhalb dieser Kernzone.38 Diese auffallend enge regionale Begrenzung auf das elbgermanisch-alamannische Siedlungsgebiet und die unmittelbare spätrömische Grenzzone an Donau, Iller und Oberrhein lässt den begründeten Verdacht aufkommen, dass die Punzverzierten Gürtelgarnituren – einschließlich der zugehörigen scheibenförmigen Riemenzungen – als vereinfachte Derivate der älteren aufwändigen kerbschnittverzierten Militärgürtel39 des späten 4. und frühen 5. Jahrhunderts fast ausschließlich zur Militärausrüstung von „Alamannen“ während der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts40 gehört haben, die offenbar ihre Dienstverpflichtung als Söldner der spätrömischen Armee überwiegend in der Alamannia selbst sowie in den nahe gelegenen Grenzkastellen abgeleistet haben. Dies mag auch erklären, warum die oft wie ein Behelf oder Ersatz wirkenden Beschläge vermutlich dezentral im Alamannengebiet selbst gefertigt wurden und kaum in reichsrömischen Werkstätten. Immerhin stammen 15 Exemplare von rechtsrheinischen Höhensiedlungen, wie Zähringer Burgberg, Runder Berg, Gelbe Bürg oder Wettenburg bei Urphar,41 auf denen einheimisches Metallhandwerk nachgewiesen ist.42 Die Aschaffenburger Riemenzunge kann nach diesen Ausführungen als ein deutlicher Hinweis auf die Anwesenheit von alamannischen Söldnern auf dem Stiftsberg gelten. 38
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Das Vorkommen von spätrömischen Militärgürtelteilen – auch aus der rechtsrheinischen Alamannia – in der wichtigen Provinzhauptstadt und Kaiserresidenz Trier (bis ca. 395, später wieder unter Constantin III. und Jovinus 407–413) ist keineswegs ungewöhnlich, da dort stets mit Militär zu rechnen ist. – Der Grabfund von Saint-Andéol in der Provence wurde bereits früher als Zeugnis angeworbener alamannischer Söldner im Heer von Constantin III. bzw. Jovinus interpretiert (Böhme 1977, 19–21), so dass die dortige Gürtelgarnitur mit scheibenförmiger Riemenzunge – weit entfernt vom mutmaßlichen Herstellungs- und Verbreitungsgebiet – nicht überrascht. Böhme 2000. Böhme 1986, 499ff. – Zu den ältesten Punzverzierten Garnituren der Zeit um 400 dürfte jene aus Basel-Aeschenvorstadt gehören, während die aus St. Andéol (historisch um 411/13) und jene aus den Gräbern von Schleitheim-Hebsack und Mainz-Kostheim bereits in die fortgeschrittene 1. Hälfte bzw. um die Mitte des 5. Jahrhunderts zu datieren sind. Scheibenförmige Riemenzungen stammen ferner vom Reißberg bei Scheßlitz, vom Gangolfsberg bei Oberelsbach sowie vermutlich vom Altkönig oder einer anderen Höhe des Vordertaunus. Zum Handwerk auf Höhensiedlungen vgl. Steuer 1990, 177–179; Böhme 1977, 15f.
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Abb. 3 Verbreitungskarte scheibenförmiger Riemenzungen mit und ohne Tierköpfen und typischer Punzverzierung. Zum Fundstellennachweis vgl. Anm. 35–37.
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Die Siliqua von Constantin III. Zu den ungewöhnlichsten Funden aus den Aschaffenburger Grabungen gehört eine seltene Silbermünze des Usurpators Constantin III. (407–411), der zu Beginn des 5. Jahrhunderts eine kurze, von heftigen Kämpfen erfüllte Herrschaft in Gallien zu errichten vermochte.43 Um seine stets gefährdete Machtstellung zu festigen, war er gezwungen, nicht nur die meist aus Germanen bestehenden Truppen im Norden Galliens an sich zu binden, sondern auch zusätzlich rechtsrheinische Söldner zu gewinnen. Diese offensichtlich erfolgreichen Bemühungen werden sowohl durch schriftliche Quellen44 als auch durch Münzfunde45 bestätigt. Denn man ist heute allgemein der Ansicht, dass die Gold- und Silberprägungen der unmittelbar aufeinander folgenden Gegenkaiser Constantin III. und Jovinus (411–413) nur als Werbegelder und Soldzahlungen für ihre germanischen Truppen gedient haben können, zumal die meisten jener Solidi und Siliquae aus germanischen Gräbern der Belgica bzw. aus rechtsrheinischen Schatzfunden vorliegen. Die Kartierung dieser ohnehin spärlichen Fundmünzen durch J. Werner, die uns den „Wirkungskreis“ der Kaiser beiderseits des Rheins aufzeigt, konnte durch mehrere Neufunde, zu denen auch das Exemplar aus Aschaffenburg gehört, in erfreulicher Weise ergänzt werden (Abb. 4).46 Sie belegt neben der Anwerbung von vermutlich fränkischen Söldnern im nordwestdeutsch-niederländischen Gebiet, vor allem auch die Rekrutierung von „Alamannen“ an Untermain und in der Wetterau sowie aus den raetischen Donaukastellen. Es dürfte daher ein bezeichnendes Licht auf die Bedeutung von Aschaffenburg im frühen 5. Jahrhundert werfen, dass Hinweise auf einstige römische Werbegelder nicht nur von der unweit gelegenen „alamannischen“ Höhensiedlung Glauberg stammen, sondern auch von diesem markanten Platz am Main. 43 44 45 46
Drinkwater 1998; Scharf 2005, 124–145. Hoffmann 1995; Böhme 1977, 20 Anm. 19. Werner 1958, 400–404 mit Abb. 21. Als Nachträge zu der Fundliste bei Werner 1958, 412f. seien folgende Siliquae genannt aus Daverden bei Verden: Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 42, 1973, 92. – Mainz-Kastel: Fundberichte aus Hessen 2, 1962, 158–167. – Aschaffenburg (Dapper u.a. 1997, 177.– Bürgle bei Gundremmingen: Das Archäologische Jahr in Bayern 1985 (Stuttgart 1986) 122ff. – Epfach: Ebd. – Burghöfe: Das Archäologische Jahr in Bayern 1989 (Stuttgart 1990) 147f. – Ostallgäu: Die Römer zwischen Alpen und Nordmeer. KatalogHandbuch Rosenheim (Mainz 2000) 391 Nr. 153. – Straubing: Moosbauer 2005, 202 (Siliqua des Jovinus). – Ein weiterer Solidus von Constantin III. stammt aus einem Schatzfund in Limburg: Haalebos 1999, 95. – Jüngst wurde eine neue Siliqua Constantins III. aus Oßmannstedt bei Weimar publiziert: Archäologie in Deutschland 2007, Heft 6, 55 (nicht kartiert).
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Abb. 4 Verbreitungskarte von Solidi und Siliquae der Gegenkaiser Constantin III. (Kreis) und Jovinus (Quadrat). Zum Fundstellennachweis vgl. Anm. 46.
Aschaffenburg als „alamannische Höhensiedlung“ Als Nachweis für eine der zahlreichen und charakteristischen Höhensiedlungen des 4./5. Jahrhunderts in Süd- und Südwestdeutschland47 hat oft schon eine geringere Anzahl von weniger auffallenden Objekten genügt als jene, die durch die Ausgrabungen auf dem Stiftsberg entdeckt wurden, sofern die Funde nur auf einem Berggipfel zu Tage traten. Die drei hier vorgestellten und analysierten archäologischen Fundstücke würden folglich bei entsprechender topographischer Lage völlig ausrei47
Steuer 1990, 146–168; Hoeper 2003.
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chen, eine Höhensiedlung der angesprochenen Art in Aschaffenburg zu postulieren. Die hier geäußerte Vermutung wird nachhaltig gestützt und unterstrichen durch die übrigen Funde der mehrjährigen Grabungen, unter denen sich eine größere Anzahl spätrömischer Keramik (Mayener Ware, rädchenverzierte Argonnensigillata und Reibschüsseln) und wenige Glasgefäßfragmente sowie handgemachte germanische Tonware und Metallobjekte befinden. Außerdem konnte ein kleiner Rennofen mit Schlackenresten freigelegt werden, der örtliche Eisenverarbeitung bezeugt.48 Zusammen mit einigen Grubenhäusern und Pfostenlöchern von Holzgebäuden der späten Kaiserzeit ergibt sich das Bild einer umfangreichen Siedlung des 4./5. Jahrhunderts, die bei näherer Betrachtung keineswegs im Flachland, sondern auf einem recht steilen, tafelbergartigen Plateau angelegt worden war, das sich markant 15–30 m aus der Flussebene des Mains bzw. der näheren Umgebung erhebt. Dieser annähernd dreiseitige Stadtberg mit den Eckpunkten Stiftsberg, Badberg und Schlossberg misst etwa 400 m in der Länge bzw. 300 m an der Südostfront und umfasst ca. 5 ha Fläche. Die Topographie und Größe des Aschaffenburger Stadtberges war also, wie schon gelegentlich vermutet, geradezu prädestiniert für eine frühgeschichtliche Befestigungsanlage vom Typ Glauberg oder Gelbe Bürg. Durch die erwähnten neuen Funde und Befunde wird diese bisher nur von der Lokalforschung erwogene Möglichkeit fast zur Gewissheit, auch wenn die zu erwartende Randbefestigung bis heute nicht nachgewiesen werden konnte, da sie höchstwahrscheinlich unter oder im Bereich der mittelalterlichen Wehrmauer verborgen ist. Für die hier vorgetragene Interpretation des Stadtberges als mutmaßlich befestigte Höhensiedlung des 4./5. Jahrhunderts sprechen nicht allein die genannten Kleinfunde, sondern vor allem auch die ungewöhnlich hohen Anteile spätrömischer Importkeramik, die von normalen germanischen Siedlungen nicht bekannt sind, jedoch in den „klassischen“ befestigten Höhensiedlungen Glauberg und Wettenburg bei Urphar49 in vergleichbarem Umfang angetroffen werden. Als weiterer Hinweis auf die Existenz einer „alamannischen“ Höhensiedlung können nun einige Körpergräber der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts angeführt werden, die nur 300 m von der Südostecke des Stadtberges entfernt in der Schweinheimer Straße angeschnitten wurden und einen zeittypischen Spitzbecher aus Glas sowie spätrömische Tongefäße enthielten.50 Wahrscheinlich handelt es sich bei diesen Bestattungen um einen Aus48 49
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Ermischer u.a 1996; Dapper u.a 1997; Scherbaum 2000. Spors 1986; freundlicher Hinweis von Dieter Neubauer, damals Würzburg, auf die Befunde von der Wettenburg. Koch 1967, 122 und Taf. 2, 1–3.
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schnitt des zur Höhensiedlung gehörenden Friedhofes. Die aus dem römischen Rheinland stammenden Grabbeigaben wie die entsprechenden Siedlungsfunde belegen, dass die Bewohner dieses offenbar recht bedeutenden Platzes enge Kontakte zu den spätrömischen Provinzen unterhielten und anscheinend mühelos in den Besitz von qualitätsvollen Luxusgütern gelangen konnten. Die von der Forschung bislang nur wenig beachtete, außerordentlich verkehrsgünstige und geschützte topographische Höhenlage des Aschaffenburger Stadtberges fordert es in Verbindung mit den dort entdeckten archäologischen Funden überwiegend militärischen Charakters und mit den nahe gelegenen zeitgleichen Körpergräbern geradezu heraus, diesen Fundplatz in die Reihe der „alamannischen“ Höhensiedlungen des 4./5. Jahrhunderts zu stellen.
Stellung und Funktion von Aschaffenburg im 4. und 5. Jahrhundert Bereits in anderem Zusammenhang wurde die Vermutung geäußert, dass das Hinterland des Obergermanisch-Raetischen Limes nach 260 nicht gänzlich der römischen Kontrolle entglitten sei und dass die sich dort niederlassenden elbgermanischen Bevölkerungsgruppen, die erst in ihrer neuen Heimat als Alamanni bezeichnet wurden, in der Folgezeit zu Abgaben und militärischen Leistungen verpflichtet wurden.51 Dieser Militärdienst erstreckte sich wohl in erster Linie auf die Verteidigung des Limeshinterlandes (seit etwa 300 Alamannia genannt, als römische Raumbezeichnung), das somit wie ein militärischer Schutzschild die Oberrheinfront und Gallien vor Einfällen aus dem Barbaricum bewahren sollte.52 In der Zeit Constantins I. und seiner Söhne bestand ein gutes Einvernehmen zwischen dem Römischen Reich und den vertragsmäßig verpflichteten Alamannen, deren oberste Gefolgschaftsführer zu den höchsten Kommandostellen im Reichsheer aufsteigen konnten.53 Mit dem Dynastiewechsel 364 änderten sich die relativ harmonischen Beziehungen der Römer zu den Alamannen, denn alamannische Führungskräfte fehlten fortan in der spätrömischen Militärhierarchie. Auch hielt man seit den Wirren der 51
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Nuber 1993, 103; Castritius/Schallmayer 1997, 6f.; Schallmayer 1998, 150–153; Böhme 2005, 423f.; Böhme im Druck. Die Alamannia als breite „Pufferzone“ sollte wohl wie das Glacis einer Festung die Rheinlinie von den germanisch besiedelten Gebieten jenseits des ORL trennen. Martin 1997 b.
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Magnentiuszeit (350–353) das bisherige Verteidigungskonzept zum Schutz des Oberrheins durch ein breites Vorfeld in Gestalt der von Alamannen verteidigten Alamannia nicht mehr für ausreichend, und unter Valentinian I. wurde daher in kurzer Zeit zwischen 368 und 375 eine dichte Kette von Kastellen und Burgi zwischen Straßburg und Mainz als neue lineare Verteidigung der Rheinfront angelegt.54 Erst seit dieser Zeit entstanden wohl auf Veranlassung der Römer östlich des südlichen Oberrheins befestigte Höhenstationen, wie Zähringer Burgberg, Kügeleskopf und Geißkopf,55 die vermutlich dem Schutz des rechtsrheinischen Vorfeldes der neuen Rheingrenze im Bereich der Brisigavi dienen sollten.56 Bald folgten ähnliche Höhensiedlungen auch im Innern der Alamannia, ja sogar im Limesvorland. Zu diesen neuartigen Anlagen gehörten der Dünsberg, der Glauberg, die Wettenburg bei Urphar oder der Reißberg bei Scheßlitz sowie die vermutete, hier erstmals vorgestellte Befestigung des Aschaffenburger Stadtberges. Manche dieser Höhensiedlungen werden als repräsentative Sitze von Angehörigen der alamannischen Oberschicht zu deuten sein, die auch nach den politischen Veränderungen der 350er bis 370er Jahre weiterhin im Dienste Roms standen und in diesen herrschaftlichen Zentren ihre kriegerischen Gefolgschaften um sich versammelten, wie u. a. die zahlreichen Militärgürtelteile und der hohe Anteil spätrömischer Importkeramik nahelegen. Die meisten Alamannen dürften ihrer Verteidigungspflicht östlich des Rheins in der Alamannia nachgekommen sein, sofern sie nicht in regulären Militäreinheiten außerhalb ihrer näheren Heimat zum Einsatz kamen. Auf die überwiegend regionale Verwendung vieler alamannischer Söldner scheint auch die oben erwähnte kleinräumige Verbreitung von Militärgürtelbeschlägen der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts hinzuweisen (vgl. Abb. 3). Während der kurzen Herrschaft des Gegenkaisers Constantin III. müssen nicht wenige Alamannen des Untermaingebietes – durch reiche Soldzahlungen angelockt – Kriegdienste in Gallien angenommen haben. Zu ihnen gehörten augenscheinlich auch Bewohner der „Aschaffenburg“. Mehrere Körpergräber mit Langschwert, Militärgürtel und Halsring aus Wiesbaden, Kostheim, Frankfurt-Praunheim, Büdesheim und Kahl am Main der 1. Hälfte und Mitte des 5. Jahrhunderts werden mit alamannischen Söldnerführern in Verbindung gebracht,57 die offenbar noch bis zum Ende
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Böhme 2005, 424f.; Böhme im Druck. Hoeper 2003. Böhme im Druck. Böhme im Druck.
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römischer Herrschaft in Gallien und am Rhein (um 455) ihren Militärdienst östlich des Rheins erfüllt haben. Während einige der alamannischen Höhensiedlungen schon im mittleren 5. Jahrhunderts an Bedeutung verloren haben oder aufgegeben wurden (z. B. Zähringer Burgberg, Wettenburg bei Urphar, Reißberg bei Scheßlitz), konnten andere ihre zentralörtliche Funktion als mutmaßliche Herrschaftssitze einheimischer Eliten wenigstens bis in die Zeit um 500 bewahren (Glauberg, Gelbe Bürg, Runder Berg). Es spricht vieles dafür, dass zu diesen fortbestehenden Großsiedlungen in Höhenlage auch unser Stadtberg gehört hat, wie sonst könnte ascapha, das man nach den neuen archäologischen Entdeckungen nun wohl unbedenklich mit Aschaffenburg gleichsetzen darf, vom Ravennater Geographen noch im ausgehenden 5. Jahrhundert als eine der civitates in der Alamannorum patria hervorgehoben werden. Aschaffenburg spielte als außerordentlich verkehrsgünstiger Zentralort am Main – ähnlich wie die ebenfalls nur wenig vor dem alten Limes gelegene Befestigung auf dem Glauberg – selbst noch in der Merowingerzeit eine nicht zu unterschätzende Rolle, fanden sich doch auf dem Stadtberg zwei bemerkenswert qualitätvolle Schmuckstücke, nämlich ein goldener Nadelkopf des 7. Jahrhunderts als Einzelfund und ein Paar Goldohrringe der Zeit um 700 aus dem Grab einer hochrangigen Dame.58 Auch sei in diesem Zusammenhang auf die Reste eines karolingerzeitlichen Kirchenbaus aus Stein hingewiesen, die unter dem Chor der heutigen Stiftskirche freigelegt wurden.59 Die überragende Bedeutung Aschaffenburgs im Hochmittelalter, die recht unvermittelt in der 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts mit der Gründung des Kollegiatstifts St. Peter und Alexander in Erscheinung trat,60 basiert also auf gewichtigen Grundlagen der Merowinger- und sogar der Völkerwanderungszeit, wie die Interpretation der archäologischen Funde und Befunde dargelegt hat. Damit ist Aschaffenburg beim jetzigen Forschungsstand die einzige alamannische Höhensiedlung des 4./5. Jahrhunderts, die offenbar kontinuierlich bis heute ihre zentralörtlichen Funktionen nicht nur erhalten, sondern sogar erweitern konnte.61 58 59 60 61
Dapper u.a. 1997, 177; Koch 1967, Taf. 4, 2–3. Fischer 1989, 257. Decker-Hauff 1957. Wesentlich für diese Siedlungsentwicklung wird die zwar durch Steilhänge geschützte, aber gleichwohl verkehrsmäßig zu Wasser und zu Land gut erreichbare Lage Aschaffenburgs gewesen sein, während alle anderen völkerwanderungszeitlichen Höhensiedlungen in Abseitslage spätestens im 10./11. Jahrhundert (Gelbe Bürg mit Ungarnwall, Runder Berg mit Adelsburg) endgültig verlassen wurden. Nur auf dem Glauberg wurde zwischen 1247 und 1253 der vergebliche Versuch einer Stadtgründung unternommen: Decker/Wolf 2001, 65–69.
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Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 383–404 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
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Archäologische Beiträge zur frühen Geschichte Duisburgs von ersten Anfängen bis heute GÜNTER KRAUSE
Ausgangssituation Duisburg gehört zu den Orten mit einer weit zurückreichenden historischarchäologischen Forschungstradition. Sie beruht auf dem seit dem Mittelalter vorhandenen Bewusstsein der Bürger, in einer Stadt mit einer langen und bedeutenden Geschichte zu leben. Der meisterhafte Stadtplan des Johannes Corputius von 1566 mit seiner Beschreibung der Stadt ist ein gutes Zeugnis dafür. Er spiegelt das Selbstverständnis der humanistisch gebildeten Duisburger dieser Zeit. Man nahm an, dass Duisburg mindestens bis in die Römerzeit zurückreichte. Das zeigt schon die Überschrift auf diesem Stadtplan (in deutscher Übersetzung): Wahrhaftige und ganz genaue Zeichnung Duisburgs, der uralten Stadt, des ehemaligen Königssitzes der Franken und zugleich ihr ureigenstes und so nach dem Leben geschaffenes Bild, dass nichts daran fehlt.1 In der Legende zu diesem Stadtplan findet sich auch ein kurzer Abriss der Stadtgeschichte: Er führt von der sagenhaften Gründung in frührömischer Zeit zum frühfränkischen Königssitz des 5. Jahrhunderts Dispargum=Duisburg, über den Gregor von Tours in seiner fränkischen Geschichte berichtet,2 weiter von der blühenden Handelsstadt des Mittelalters zur damaligen Gegenwart, die er auf die vorteilhafteste Weise zu schildern weiß, obwohl Duisburg inzwischen seine direkte Lage am Rhein verloren hatte.3 Corputius ist sich dessen bewusst. Er beschreibt den ehemaligen Lauf des Rheines bis vor die Stadt und erlebt im Frühjahr 1566 selbst, wie bei einem Hochwasser der Rhein in sein altes Bett direkt vor die Mauern Duisburgs zurückkehrt.4 Der einschneidende Verlust der Rheinanbindung, dessen Datum nicht genauer überliefert ist, führte dazu, dass Duisburg sich von einer Handels1 2 3 4
Milz/von Roden 1993, 11. Gregor von Tours, Histor. Franc. Lib. II 9. Johannes Corputius, in: Milz/von Roden 1993, 50ff. u. 61. Milz/von Roden 1993, 31.
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stadt zu einer Ackerbürgerstadt wandelte. Bernard Moller schildert diesen Verlust in seiner 1596 herausgegebenen dichterischen Beschreibung des Rheinlaufes eindringlich, samt den wenig dauerhaften Bemühungen Duisburgs, mit einem Graben zum Rhein den Fluss wieder vor die Stadt zurückzuholen:5 Duisburgs Mauern vermeidet der Rhein mit entzogenem Laufe Und veränderter Art flieht es der zürnende Strom. Doch das entzogene Wasser, das strafend versagte den Bürgern Nun die Natur, mit Kunst brachten sich’s jene zurück. Von den Ufern des Rheines in langem Wege ein Graben Ward gezogen und läßt kleinere Boote zur Stadt. Vormals gelangten dahin selbst Schiffe von ragendem Baue; Kaum die wuchtige Fracht mochte zu fassen der Kai. Damals war hierselbst, wo arm kaum einer der Kaufleut’, Durch die günstige Lage wahrlich ein glücklicher Markt. All das ist nun gewandelt im Umschwung menschlichen Loses, Alles verlor die Stadt mit dem entzogenen Fluss. Auch noch im 18. und 19. Jahrhundert war das Bewusstsein, in einer Stadt mit einer bedeutenden Vergangenheit zu leben, ungebrochen und dieses zum Teil aus ganz praktischen Gründen. Der Koblenzer Turm, der höchste der Stadtbefestigung, wurde noch das ganze 18. Jahrhundert über in Stadtbesitz erhalten, weil ihm als Symbol der gegenseitigen Zollfreiheit von Duisburg und Koblenz Bedeutung zukam. Diese war wohl schon in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts vereinbart worden. Es waren Duisburger Kaufleute, die nach 1820 die Initiative ergriffen, die Stadt mit Hilfe der Dampfkraft wieder mit Rhein und Ruhr zu verbinden. Man nutzte ganz bewusst den technischen Fortschritt, um, wie man sich damals ausdrückte, den Rhein wieder in sein altes Bett vor der Stadt zu zwingen (Abb. 1). Ausdrücklich wollte man damit an die große Zeit der Stadt im Mittelalter anknüpfen, was auch gelang. Duisburg entwickelte sich erneut zum Hafen- und Handelsort und zum Zentrum von Stahl und Eisen. Heinrich Averdunk, dessen Stadtgeschichte von 1894 die Grundlage für die Beschäftigung mit Duisburgs geschriebener Geschichte bildet,6 kam zum Ergebnis, dass „Duisburg eine der ältesten deutschen Städte sei, soweit sie nicht von den Römern begründet sind“.7 Diese Überzeugung, die wir im 5 6 7
Übersetzung ins Deutsche nach Genthe 1881, 69. Averdunk 1894. Averdunk 1902 a, 9f.
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Grunde auch schon bei Corputius finden, teilte Averdunk sicher mit seinen gebildeten Mitbürgern in Duisburg um 1900. Er war der Motor bei der Gründung einer Duisburger Altertumskommission 1896, die man 1902 in einen Altertums- und Museumsverein umwandelte. Beide wurden von der Stadtverordnetenversammlung und zahlreichen Bürgern mitgetragen.8 Das Museum fand 1902 seinen Platz im Dachgeschoss des neuen Rathauses auf dem Burgplatz,9 erbaut auf älteren Vorgängern an der Stelle der mittelalterlichen Königspfalz. Heinrich Averdunk hat mit diesem Museum als erster versucht, für eine größere Öffentlichkeit „die alte Geschichte Duisburgs ins rechte Licht zu setzen … um unseren Mitbürgern Gelegenheit zu geben, sich mit Duisburgs Vergangenheit bekannt zu machen und bei der Jugend die Anhänglichkeit an die Heimat zu wecken und zu pflegen“.10 Seine Bemühungen haben aber auf lange Sicht nicht zum gewünschten Erfolg geführt, denn das Bewusstsein, Einwohner einer alten Stadt mit einer bedeutenden Geschichte zu sein, ist mehr und mehr geschwunden. Es hatte lange zur Identität, Unverwechselbarkeit und zum Bürgerstolz beigetragen. Mit der Schenkung der Sammlungen des Museumsvereins an die Stadt, die 1913 einen eigenen Museumsbau dafür versprach, begann eine Entwicklung, die nicht zum Erfolg dieses von den Bürgern initiierten Museumsprojektes beitrug. Die Kreise, die vor dem Ersten Weltkriege die Träger des Museumsgedankens waren und die „Duisburger Altertümer“ mit zusammengetragen hatten,11 spielten danach keine Rolle mehr oder wandten sich den schönen Künsten zu. Die öffentliche Hand allein erwies sich auf lange Sicht dafür als ungeeignet. So ist auch die jüngere Museumsgeschichte von weiteren Brüchen bestimmt.
Von ersten Anfängen archäologischer Forschung bis zum Zweiten Weltkrieg Sehr viel später als mit den schriftlichen Quellen begann man sich vor Ort auch mit den nur noch im Boden überlieferten archäologischen Zeugnissen Duisburgs und seiner Umgebung zu beschäftigen. Die ersten Nachrichten über Altertümer aus dem Duisburger Stadtgebiet und seiner Umgebung stammen aus dem Jahre 1820. Sie beziehen sich auf die oberirdisch sichtba8 9 10 11
Kraume 2002, 70ff. Averdunk 1902 a. Averdunk 1902 a, Vorwort. Genthe 1881, 7; Averdunk 1902 a, 13ff.
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Abb. 1. Gebiet der Stadt Duisburg seit dem Mittelalter. Kartenausschnitt aus der topographischen Karte der Kreise Ruhrort, Duisburg, Mülheim a. d. Ruhr, Stadt- und Landkreis Oberhausen von 1904. Zu Duisburg gehörte seit altersher das Ratsdorf Duissern, direkt an der Ruhr gelegen (siehe Abb. 2), mit dem Ruhrübergang und dem Duissernschen Berg (Kaiserberg). Von seiner Spitze, dem so genannten „Schnabelhuk“, hatte man einen weiten Blick in alle Richtungen. Durch Duissern führte der Hellweg, die alte Handelsstraße, nach Osten. Sie überquert in Mülheim-Broich die Ruhr. Zum Schutze vor Wikingerüberfällen in das östlich gelegene Gebiet wurde in Mülheim-Broich eine Sperrfestung gegen die Wikinger angelegt.
ren Grabhügelfelder der späten Bronze- und frühen Eisenzeit, die das Heidegebiet am Rande des Stadtwaldes von Großenbaum bis zum Kaiserberg in einer Breite von rund 500 Metern durchzogen (Abb. 1).12 Durch menschliche Tätigkeit waren sie bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vielfach angeschnitten worden und hatten dabei die Überreste von Urnen mit verbrannten Menschenknochen und Beigefäßen freigegeben.
12
Wilms 1872, 1ff.; Genthe 1881, 3ff. mit Taf. 1; Averdunk 1902 a, 24ff.
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Schon seit den 1840er Jahren war das königliche Gymnasium in Duisburg der Ort, an dem die „Duisburger Altertümer“ gesammelt und später auch erforscht wurden.13 Die ersten archäologischen Ausgrabungen führte der Oberlehrer des Duisburger Gymnasiums Moritz Wilms von 1867–1871 in der Umgebung von Duisburg im Auftrage des Duisburger wissenschaftlichen Vereines mit seinen Schülern an Wochenenden durch. Er berichtete in den Bonner Jahrbüchern nicht nur über seine Tätigkeit, sondern fasste auch zum ersten Male den damaligen Erkenntnisstand zusammen.14 Neben den Grabungsfunden aus den großen Hügelgräberfeldern sind es ganz besonders die von ihm schon richtig erkannten Grabfunde fränkischer Zeit, die seit 1853 an der Düsseldorfer Str./Ecke Friedrich-Wilhelm-Str., ganz in der Nähe der Duisburger Altstadt (Abb. 2, 3), zum Vorschein gekommen sind.15 Wilms war nicht nur an den archäologischen Funden interessiert. Er versuchte die historische Überlieferung mit den archäologischen Quellen zu verbinden. Als erster fragte er sich, ob das genannte fränkische Gräberfeld ein Beweis dafür sein könnte, dass das frühfränkische Dispargum Duisburg ist.16 Nach Moritz Wilms’ frühem Tode war es der Direktor des königlichen Gymnasiums in Duisburg, Hermann Genthe, selbst promovierter Archäologe, der die Duisburger Altertümer-Sammlung des Gymnasiums in einer Schrift erneut zusammenfassend behandelte und in einem Katalog mit Abbildungen vorgestellt hat.17 Er kannte ebenfalls die frühen historischen Nachrichten zu Duisburg genau und setzte wie Wilms die archäologischen Funde zu diesen in Beziehung.18 Ihre sichere Datierung wurde aber erst im Laufe des 20. Jahrhunderts erarbeitet. Alt-Duisburg hielt er für eine fränkische Gründung aus dem 4. Jahrhundert n. Chr., zu der er den erwähnten fränkischen Friedhof zählte. Er kannte die Nachricht über den Normannenüberfall und -aufenthalt von 883/8419 und wusste, dass Duisburg in den Jahrhunderten darauf eine bedeutende Stadt der deutschen Könige und Mitglied der Hanse war. Außerdem war er der Überzeugung, dass Duissern
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14 15
16 17 18 19
Das älteste überlieferte Stück aus dieser Sammlung ist ein Schwert aus dem 12. Jahrhundert, beim Bau des Ruhrkanals vor dem Schwanentor 1843 gefunden, siehe Krause 1983, 23 ff. mit Abb. 2, 3 u. Abb. 3, 3. Weitere Nachrichten von Funden, die bei diesen Baggerarbeiten zutage kamen, sind bei Genthe 1881, 68 überliefert. Wilms 1872. Wilms 1872, 33f. mit Abb. auf Taf. 6/7; Genthe 1881, 57ff. mit Taf. 2, 1–21, Taf. 3, 1, 33, 36; Siegmund 1998, 474ff. Wilms 1872, 34f. mit Anm. 1. Genthe 1881. Genthe 1881, 61ff. Regino von Prüm, MGH SS rer. Germ. 50 (Hannover 1890) 122.
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Abb. 2. Duisburg und Umgebung mit alten Rhein- und Ruhrläufen. I Auxiliarkastell Asciburgium (1. Jahrhundert n. Chr.); II Kleinkastell Werthausen (2.–3. Jahrhundert n. Chr.); A Rheinverlauf bis zum 1. Jahrhundert n. Chr.; B zwischen etwa 100 und 10. Jahrhundert; C Verlauf nach dem Durchbruch bei Essenberg; D heutiger Rheinverlauf; 1 Duisburg mit Burgberg (a) in den Stadtmauern vom Ende des 13. Jahrhunderts; 2 spätkarolingischer Töpferbezirk; 3 Tonlagerstätten und Tonentnahmegruben; 4 Alter Ruhrübergang mit Doppelniederungsburg; 5–8 römerzeitliche Funde; 9 Spätfränkischer Friedhof; 10 Abschnittswall auf dem Duissernschen Berg.
von alters her zu Duisburg gehört haben musste (Abb. 1–2).20 Genthe beschäftigte sich auch ausführlich mit dem ehemaligen Rheinlauf vor Duisburg. Er glaubte, dass es noch im Mittelalter hart am Rhein oder doch zumindest an einem Rheinarm gelegen hatte und bildete dessen möglichen Verlauf auf einer Karte Duisburgs und seiner Umgebung mit den archäologischen Fundplätzen zusammen ab.21 Nur so meinte er, Duisburgs überlieferte Bedeutung als Handelsstadt erklären zu können. Aus dem Kreise der Lehrer des Duisburger Gymnasiums stammte auch Heinrich Averdunk.22 Er hat sich in seiner Stadtgeschichte ebenfalls eingehend mit den Veränderungen des Rheinlaufs vor der Stadt befasst, von dem er sicher war, dass er in alten Zeiten unmittelbar vor der Stadt gelegen 20 21 22
Genthe 1881, 64ff. Genthe 1881, 66ff. mit Taf. 1, alter Rheinlauf. Averdunk hatte selbst noch 1869 zusammen mit Wilms Grabhügel untersucht, siehe Wilms 1872, 37f. Zu seiner Bedeutung in der Duisburger Geschichtsforschung siehe Kraume 2002, 57–92.
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Abb. 3. Duisburger Altstadt mit eisenzeitlichen, römischen und fränkischen Siedlungsresten von der 1. Hälfte des 5. (frühfränkisch) bis ins 8. Jahrhundert. 1 Fränkischer Königshof im Bereich der späteren Pfalz; 2 Alter Markt; 3 Fränkischer Friedhof des 5.–8. Jahrhunderts. Der Rhein lag etwa seit dem 2. Jahrhundert bis zum Durchbruch noch vor 1000 direkt vor den Mauern der Stadt, desgleichen die Ruhr. Danach lag Duisburg noch bis in das 14. Jahrhundert an einem schiffbaren Altarm des Rheines.
hatte,23 ebenso mit der Lage des Hafens. Auf einer beigefügten Karte24 hat er den angenommenen alten Verlauf eingetragen. Er schloss aus der Schenkung der durch die Verlagerung entstandenen Neulande, dem heutigen Neuenkamp, 1278 an die Bürger der Stadt durch den königlichen Vogt, dass der Durchbruch zwischen 1270 und 1275 stattgefunden haben musste, Duisburg aber nach den zahlreichen Nachrichten über seine umfangreichen Handelsaktivitäten noch lange an einem Nebenarm gelegen habe, der im Laufe des 15. Jahrhunderts versandete.25 Im ersten Teil seiner Stadtgeschichte sprach er sich noch eindeutig gegen die Gleichsetzung Duisburgs mit dem Dispargum des Gregor von Tours aus.26 In den Nachträgen und Berichtigungen dazu änderte er seine Mei-
23 24 25 26
Averdunk 1894, 67. Ebenda, nach 339. Averdunk 1894, 67ff. Averdunk 1894, 222
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nung vollständig. Dies geschah unter dem Einfluss einer 1894 veröffentlichten Arbeit des Pfalzenforschers Konrad Plath,27 in der dieser darzulegen versuchte, dass Duisburg Dispargum sei. Averdunk stimmte Plath vorbehaltlos zu und folgerte daraus: „So ist der Name Duisburgs mit einem der bedeutsamsten weltgeschichtlichen Ereignisse verbunden: es ist der Ausgangspunkt für die wichtigste Staatenbildung in christlicher Zeit“.28 Wenig später gab er diese Ansicht wieder auf.29 Es besteht der Verdacht, dass Averdunks völlige Abkehr von der Gleichung Duisburg=Dispargum, für die es eine lange Überlieferungstradition in Duisburg gibt,30 nicht ganz rational begründet ist. Als eben dieser Konrad Plath folgerichtig die Gelegenheit nutzen wollte, beim Rathausbau in Duisburg auf dem Burgplatz nach dem Castrum Dispargum des Gregor von Tours zu suchen, um eine Bestätigung für seine Theorien von 1894 zu finden, betrachtete ihn die von Averdunk angeführte Duisburger Lokalforschung als Eindringling. Er konnte nur 1897 bei der ersten und 1900 bei der zweiten Bauphase für viel zu kurze Zeit Ausgrabungen auf dem Burgplatz durchführen (zur Situation siehe Abb. 2, 1 u. 3,1). Plaths weitere Mitwirkung bei den angeblich längst in Aussicht genommenen eigenen Nachforschungen der Altertumskommission wurde von Averdunk als ganz überflüssig bezeichnet.31 Für diese besaß man weder die Qualifikation noch die Fragestellungen. Sie waren offensichtlich nur vorgeschoben. Die von Plath gefundenen und in Zeichnungen und Fotos dokumentierten großen Mauerzüge hielt er richtig für Reste der mittelalterlichen Königspfalz. Averdunk erklärte sie völlig abwegig als Grundmauern des Pfarrhauses neben der Salvatorkirche.32 Er lehnte Konrad Plaths Angebot, ihm seine Zeichnungen und Fotos zur Verfügung zu stellen, ab. Seiner Meinung nach war der fränkische Herrensitz nicht auf dem zentralen Burgplatz gelegen, zumal beim Rathausbau keine fränkischen Scherben gefunden worden seien.33 Mit der feindlichen Haltung gegenüber Konrad Plath wurde sicher die große Chance einer sachlich gebotenen Zusammenarbeit mit dem archäologisch und als Burgenforscher besser ausgebildeten Spezialisten vertan. Gerade an dieser Stelle, „der Burg“, hatten die Hauptgebäude der mittelalterlichen Königspfalz gestanden, deren Reste nun für immer verloren wa-
27 28 29 30 31 32 33
Plath 1894. Averdunk 1894, 738ff. Averdunk 1902 a, 7f. Siehe Milz 1985, 1f. Abschnitt 3. Milz 1996, 13f.; Kraume 2002, 73ff. Averdunk 1902 b, 7 ff. Averdunk 1902 a, 8 mit Anm. 1
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ren. Plath hat seine Grabungsergebnisse nicht veröffentlicht. Seine Unterlagen sind im letzten Weltkrieg in Frankfurt verbrannt.34 Mit Plaths Abwehr wurde anscheinend die in den Augen Averdunks mit diesem verbundene Dispargum-Frage, Grund seines Erscheinens in Duisburg, gleich mit beerdigt, ebenso die von ihm gefundene mittelalterliche Königspfalz. 1902 umging Averdunk die Dispargumfrage regelrecht:35 „Diese von altersher bewohnte Gegend hieß in römischer Aussprache Deuso. Der zu Cöln 258–267 residierende Kaiser Postumus ließ Münzen schlagen zu Ehren des Donnergottes von Deuso (Herculi Deusoniano u. Deusoniensi). Dieser Hercules oder Donar wird im nahen Walde unter heiliger Eiche verehrt worden sein, wo heute noch der heilige Brunnen zu finden ist … Zu Deuso im Lande der Franken wurde 374 der erste Angriff der Sachsen zurückgeschlagen, so erzählen römische Schriftsteller. Es waren nämlich an die Stelle der ersten Germanen andere getreten, welche in dem großen Stamm der Franken mit aufgingen. Ihre Grabstätte befand sich zu beiden Seiten der Friedrich-Wilhelmstr. … Ein Merowinger, so hieß das älteste fränkische Königsgeschlecht – hatte hier seinen Sitz, seine Burg; daher der Name Deusoburg=Duisburg. Dieser Herrensitz mag sich an den alten Aufgang zu dem Burghügel, das Stapeltor, angeschlossen haben.“ Aus dem frühfränkischen Königssitz der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts Dispargum=Duisburg wurde die Duis-Burg, ein fränkischer Königshof Duisburg, dessen Entstehung man in das 8. Jahrhundert setzte.36 Praktisch schied Duisburg seit dieser Zeit für die nächsten 100 Jahre bei der Suche nach Dispargum aus.37 Mit der Ergänzung der römischen Ortsbezeichnung Deuso zu Deusoburg=Duisburg und seinen Mutmaßungen zu einem Herculesheiligtum hat Averdunk der Spekulation und Phantasterei Tor und Tür geöffnet und leider Nachfolger gefunden, die dieses weiter auf die Spitze getrieben haben.38 Deuso wird von der Forschung inzwischen mit guten Gründen mit dem Ort Diesen in Brabant gleichgesetzt.39 Eigentlich waren aber zu dieser Zeit die schriftlichen Quellen zur frühen Geschichte Duisburgs weitgehend ausgewertet und die wichtigsten Fragen angesprochen bzw. hätten gestellt werden können: Wie alt ist Duisburg wirklich? Seit wann und wie lange lagen Rhein und Ruhr in unmittelbarer
34 35 36 37 38 39
Nur ein Plan seiner Ausgrabungen vom Juni 1900 hat sich erhalten. Siehe Binding 1969, 4. Averdunk 1902 a, 7f. z. B. Tischler 1959, 172; Milz 1985, 3, Absatz 2. So zuletzt noch Krause 2000 a, 13. Zuletzt Krause 2000 a, 13ff. u. 2000 b, 62 ff. mit weiterer Literatur. Krause 2000 b, 63 mit Anm. 9.
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Nähe der Stadt? In welcher Beziehung stehen die zahlreichen archäologischen Fundstätten und Funde aus der Umgebung der Stadt zu Alt-Duisburg? Wo befand sich die Burg, d. h. der vermutete frühe Königssitz und seine Nachfolger? Wie war sie beschaffen gewesen und wie weit reichte er wirklich zurück? Wo lag die zugehörige Siedlung und wie war sie beschaffen? Wo befand sich der Hafen des frühgeschichtlichen bis mittelalterlichen Duisburg? Wo hatte das Wikingerlager von 883/84, über das Regino von Prüm berichtet, gelegen? Gibt es Spuren ihres Aufenthaltes? Wo lag die bereits 893 für Duisburg bezeugte Niederlassung friesischer Händler?40 Wie alt ist die Stadtbefestigung, die der Stadtplan von 1566 und der Urkataster von 1823/25 zeigen?41 Gab es noch andere Befestigungen? Doch die Zeiten waren ungünstig. Die Pläne für ein eigenes Museum zerschlugen sich im Ersten Weltkrieg und eine weitere ernsthafte und zielgerichtete Bodenforschung unterblieb in Alt-Duisburg für viele Jahre. Die Altertümersammlung im Dachgeschoss des Rathauses mit den wenigen frühen Funden vom Rathausbau war nach dem Ausscheiden Averdunks 1919 ohne wirklichen Leiter. Seit 1926 wurde sie von dem Geologen und Heimatforscher Eduard Wildschrey betreut. Er beobachtete in den 1920er Jahren zum ersten Male den Befestigungsgraben der Königspfalz und barg aus der Baugrube des Kaufhauses C&A in der Duisburger Altstadt 1929 neben karolingischen Scherben die erste römische Keramik. Aber er träumte von einer griechischen Handelskolonie an dieser Stelle und von einem Römerhafen, für die er aber jeden Beweis schuldig blieb: Duisburg sei von der griechischen Kolonie Massilia an der Rhônemündung um 600 v. Chr gegründet worden und seit dieser frühen Zeit existent.42 Ihm folgte 1930 der Prähistoriker Rudolf Stampfuß, Leiter des Hamborner Heimatmuseums. In Hamborn hatte ebenfalls eine bürgerschaftliche wissenschaftliche Gesellschaft seit 1921 begonnen, die Archäologie des unteren Niederrheins zu erforschen und in wenigen Jahren durch eigene Grabungen eine umfangreiche archäologische Sammlung zusammengebracht, die seit 1925 der Öffentlichkeit in Hamborn zugänglich war.43 Nach dem Zusammenschluss von Duisburg und Hamborn 1929 führte er die zwischen40 41 42 43
Milz 1985, 3. Ebenda, Taf. 1 u.3. Krause 2000 a und b. Stampfuß 1929 u. 1973. R. Stampfuß (1904–1978), jahrzehntelang wissenschaftlicher Kopf dieser Gesellschaft, hat die Grundlagen für das bürgerschaftliche Engagement bei der archäologischen Arbeit des Duisburger Museums bis in die 1990er Jahre geschaffen. Mitglieder dieser Gesellschaft waren bis in die jüngste Zeit die wichtigsten bürgerschaftlichen Helfer bei den Ausgrabungen des Duisburger Museums. Ohne sie wäre die getane Arbeit nicht zu leisten gewesen.
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zeitlich völlig verwahrlosten Sammlungen im Duisburger Rathaus mit den Hamborner Beständen zusammen.44 Die 1930er Jahre und der Zweite Weltkrieg waren weiterhin für eine Erforschung der frühen Geschichte Duisburgs wenig günstig. Der Krieg brachte die Einstellung der Museumsarbeit und Auslagerung der Museumsbestände, deren archäologischer Teil den Krieg relativ gut überstanden hatte. Da sie erst seit 1969 wieder dauerhaft in einem dafür geeigneten Museumsbau gezeigt werden konnten, waren sie fast 30 Jahre aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden. Nach 1990 ist dies erneut der Fall.45
Nachkriegszeit bis heute Schon in der frühen Nachkriegszeit begann der Prähistoriker Fritz Tischler, Nachfolger von Stampfuß, sich intensiver mit der Erforschung der kriegszerstörten Duisburger Altstadt zu beschäftigen. Die „Entrümpelung“ und der Wiederaufbau führten in der Altstadt zu ganz neuen Straßentrassen und zur Beseitigung großer Teile der Stadtmauer und alter Bausubstanz, somit zum Verlust des historischen Stadtbildes.46 Die intensiven Bemühungen Fritz Tischlers und seiner Mitarbeiter am Niederrheinischen Museum, wie das städtische Heimatmuseum seit 1942 hieß, um die archäologisch-baugeschichtliche Untersuchung und Dokumentation der heute verlorenen Stadtmauerabschnitte47 sind von großem Wert, ebenso wie Beobachtungen beim Abriss der Ringbebauung der Pfalz und zum Pfalzgraben und in anderen Teilen der Duisburger Altstadt. Seine Ausgrabungen in der kriegszerstörten Salvatorkirche auf dem Burgplatz in den 1950er und frühen 1960er Jahren erbrachten wichtige Ergebnisse zur Baugeschichte der Kirche und ihrer älteren Vorgänger wie auch zur mittelalterlichen Pfalz auf dem Burgplatz.48 Trotz aller Bemühungen kam es aber noch zu keiner systematischen Erforschung der Altstadt und ihres Umfeldes. Dazu hätte man möglichst viele Bodenaufschlüsse systematisch archäologisch erfassen und zueinander in Beziehung setzen müssen. Nur so kann ihr Potential ausgeschöpft
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Tromnau 2000, 301f. Das von Tromnau 1992, 36f. beschriebene ganz überwiegend archäologische Museum existierte in Duisburg in dieser Form schon nicht mehr. Krause 1997, 249ff. Milz 1982, 137, 149ff. Binding 1969, 17f. u. 35ff. Die erste Erwähnung einer Kirche in Duisburg stammt aus dem Jahre 893.
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werden und nur so kann man zu neuen Erkenntnissen und immer wieder neuen Fragstellungen gelangen. Deshalb kam Fritz Tischler auch nicht über die Ergebnisse Averdunks hinaus, was das Alter und die Entstehung Duisburgs angeht. Er hat seine Erkenntnisse 1959 folgendermaßen zusammengefasst:49 „Im Gebiet der Duisburger Altstadt sind weder ein römischer Hafen noch vorgeschichtliche Funde in den vergangenen 15 Jahren beobachtet worden, obwohl große Flächen bei der Enttrümmerung und Neubebauung der Altstadt freigelegt wurden. Die Besiedlung beginnt hier irgendwann in der fränkischen Zeit im Laufe des 6./7. Jahrhunderts (soweit wir im Augenblick aufgrund der Funde sagen können). Der oft genannte Hellweg lief ursprünglich im flachen Sand-Heidegebiet nördlich der Ruhr zum Rhein. Erst als die fränkische Burg, die Duis-Burg zu Anfang des 8. Jahrhunderts gegründet wurde, zweigte man einen Nebenarm zur Duisburger Altstadt ab. Ich glaube weniger denn je an die Existenz einer massiliotischen Faktorei. Wir haben noch nicht einmal eine einheimische Siedlung aus vorgeschichtlicher Zeit entdeckt; die Funde der Hallstatt- und Latènezeit liegen weiter im Süden und an den Ufern der Ruhr östlich der mittelalterlichen Stadt …“ Bis auf die Ablehnung der griechischen Faktorei Wildschreys ist aber keine der Annahmen Tischlers heute noch gültig. Sein allzu früher Tod 1967 hinderte ihn selbst daran, die Ergebnisse seiner Untersuchungen abschließend zu veröffentlichen. Dies geschah erst nach seinem Tode in Teilen.50 Es bedeutete einen weiteren Kontinuitätsbruch in der Erforschung des frühen Duisburg und in der Betreuung der Museumssammlungen, zu denen auch die Funde aus Duisburgs Frühgeschichte gehörten.51 Eine neue Generation von Wissenschaftlern musste sich erst das Rüstzeug für die Weiterarbeit auf diesem besonders anspruchsvollen Gebiet der Archäologie und Bauforschung erwerben und auch ein dafür günstiges Umfeld vor Ort finden. Dies begann nach der Mitte der 1970er Jahre vor allem mit der Bearbeitung der Untersuchungen Fritz Tischlers an der Duisburger Stadtmauer durch den Mittelalter-Historiker und Stadtarchivar Joseph Milz, der gleichzeitig die historischen Quellen zur Stadtmauer mit heranzog und mit den Ergebnissen der baugeschichtlichen Untersuchun49 50 51
Tischler 1959, 172 Binding 1969; Milz 1982. Sie gehören heute mit den nach Tischler hinzugekommenen umfangreichen Materialien nicht mehr zu den Museumssammlungen und befinden sich unbetreut in dafür völlig ungeeigneten Magazinen dem Verfall ausgesetzt und für Fremde zugänglich, siehe Krause 2004 b, 124ff. Einem der jüngeren Kontinuitätsbrüche in der Betreuung der Museumssammlungen ist auch das Fragment eines arabischen Bronzekessels mit arabischer Inschrift aus den Duisburg-Ruhrorter Häfen, wohl karolingischer Zeitstellung, undokumentiert zum Opfer gefallen.
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gen Tischlers in Beziehung setzte. Die wenigen ganz unbedeutenden archäologischen Funde aus diesen Untersuchungen, die kaum zu einer Datierung der Stadtmauer beitrugen, wurden vom Verfasser vorgelegt.52 Die Ergebnisse dieser Auswertung der Tischlerschen Untersuchungen zur Stadtmauer bildeten den Ausgangspunkt für alle jüngeren archäologischbaugeschichtlichen Untersuchungen der Stadtbefestigung und zur frühen Stadtentwicklung, die zu ganz neuen und überraschenden Erkenntnissen führten.53 Im Sommer 1980 wurde in einem Leitungsgraben über den Alten Markt in der ehemaligen Duisburger Altstadt von einem engagierten Bürger das lange gesuchte Duisburg der Zeit seiner ersten gesicherten historischen Erwähnung, des Wikingeraufenthaltes von 883/84, entdeckt (Abb. 3,2 u. 4,1). Das städtische Niederrheinische Museum, seit langem für die archäologische Bodendenkmalpflege in Duisburg zuständig, wurde daraufhin auf besonderen Wunsch des Oberbürgermeisters beauftragt, Duisburgs Geschichte weiter intensiv archäologisch zu erforschen. Dies geschah rund 15 Jahre mit zahlreichen Mitarbeitern auch aus der Duisburger Bürgerschaft.54 Auf dem Alten Markt wurden über 5 Meter mächtige Siedlungsschichten in einem dauerfeuchten Milieu angetroffen.55 Damit war klar, dass die Duisburger Altstadt von überschaubarer Größe ein außerordentliches Potential zur Erforschung der Genese und Entwicklung der mitteleuropäischen Stadt besitzt, das nicht nur für den Archäologen, sondern auch für zahlreiche andere Disziplinen wertvolles Untersuchungsmaterial liefern konnte (Abb. 4,1). Nicht nur der Alte Markt, sondern auch große Teile der Altstadt liegen in verlandeten Rheinschlingen (Abb. 3–4) mit gut erhaltenen organischen Überresten, die vielfältige Erkenntnisse zur Entwicklung menschlicher Lebensformen in den letzten 2000 Jahren versprachen. Ein 1983 in einer Baugrube neben dem Alten Markt gewonnenes Pollenspektrum aus den Verlandungssedimenten des römischen Rheins, der hier bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. geflossen ist (Abb. 2 u. Abb. 3, 2), erbrachte schon früh den Nachweis einer durchgehenden Besiedlung der Duisburger Altstadt seit Beginn der Verlandung. Sie fand sich bei intensiven Beobachtungen aller Boden-
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Milz 1982, 135ff. mit Beitrag Krause zu den Funden 167ff. Krause 1993 u. 1997. Krause 1992 a, 35f.; ders. 2004 b, 117 f. Krause 1992 a, 9ff.; ders. 1992 b, 93 ff. und 1994. Zum Schrifttum zu Duisburg bis 1992 siehe Castens/Krause 1992.
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Abb. 4. 1 Schnitt vom Burgberg zum Innenhafen (überhöht), nach Bohrungen des geologischen Landesamtes NRW (GLA) und Beobachtungen beim Stadtbahnbau, die Situation am Alten Markt wurde in diesen Schnitt hineinprojiziert. 1 Grenzen Flusssand/Auelehm nach Bohrungen am Alten Markt (Nahtrinne); 2 Spurenschicht des 5. Jahrhunderts; 3 karolingisches Pflaster um 900 und Pfalzgraben des 10. Jahrhunderts; 4 Pflaster des späten 13. Jahrhunderts; 5 Pflaster des 18./19. Jahrhunderts; II Altes Rheinufer mit Hafenbereich des 9.–14. Jahrhunderts. 2 A.B Schnitte durch die Auenstufe 2 (verlandetes römisches Rheinbett des 1. Jahrhunderts n. Chr.) und 3 (verlandetes Rheinbett aus der älteren Eisenzeit) mit Grund- und Hochwasserständen (HW), schematischen Darstellungen von Brunnen (B) und Kloaken (K) sowie ehemaliger und heutiger Oberfläche (zur Lage der Schnitte siehe Abb. 3 A.B).
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aufschlüsse am Rande und oberhalb des verlandeten Flussbettes auf der dicht bebauten Niederterrasse (Abb. 3). Die Zusammenarbeit zwischen dem Verfasser als zuständigem Archäologen und dem Duisburger Archivdirektor Joseph Milz bildete dabei den Kern eines sich nach und nach entwickelnden großen interdisziplinären Forschungsprojektes zur Genese Duisburgs. Es hat einen fortlaufenden Prozess der Erkenntnisfindung in Gang gesetzt. Der Gewinn aus dieser Zusammenarbeit übertrifft alle geschilderten früheren Einzelbemühungen um ein Vielfaches, und dies trotz der weitaus ungünstigeren Umstände nach dem Wiederaufbau der Stadt. Die frühe Geschichte Duisburgs muss neu geschrieben werden.56 Voraussetzung für ein solches Projekt war die Behandlung Alt-Duisburgs als ein großes zusammenhängendes Bodendenkmal und die Entschlüsselung wesentlicher Züge der historischen Topographie und ihres Wandels (Abb. 2–4).57 In interdisziplinärer Zusammenarbeit gelang es, alle vorhandenen Vorkenntnisse zu durch Bauvorhaben bedrohten Fundstellen zu sammeln und präzise Fragestellungen zu erarbeiten, denen dann bei Bodenaufschlüssen nachgegangen wurde. Dabei interessierten die Kontexte, wie z. B. der Schichtenaufbau einer Baugrube vom geologischen Untergrund bis heute und ihre Dokumentation, nicht schöne Funde. Es wurde deutlich, dass die älteren Untersuchungen überwiegend die frühen Kulturschichten gar nicht erreicht oder erkannt hatten. Nach rund 15jähriger Tätigkeit verfügt die Duisburger Stadtarchäologie heute über ein umfangreiches Fundmaterial aus zahlreichen Kontexten verschiedenster Art, die ein zusammenhängendes Bild der Entwicklung Duisburgs von frühesten Anfängen ergeben. Wichtig war dabei, dass alle geborgenen Funde und Proben aufgehoben wurden, um zu einer Auswertung verfügbar zu bleiben.
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Dies soll in einem Band der Duisburger Forschungen geschehen, der 2008 erscheinen wird (Autoren J. Milz und G. Krause). Übersicht bei Krause 2002. Wirkliche Forschungsgrabungen sind in einer Großstadt selten möglich. Durch das Ausnützen von möglichst zahlreichen durch Bauarbeiten bedingten Bodeneingriffen für die archäologische Arbeit kann man dies kompensieren. Es bedarf aber guten Willens, eines langen Atems, eines großen Einsatzes und der Mitarbeit qualifizierter und hoch motivierter Freiwilliger um dieses, meist bei laufenden Bauarbeiten, zu leisten.
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Neue Erkenntnisse im Überblick Die wichtigsten Ergebnisse können hier nur kurz zusammengefasst werden: 1. Zum Alter Duisburgs: Es wurden zwei größere eisenzeitliche Siedlungsbereiche in der Duisburger Altstadt vor der Marienkirche und an der Niederstraße erfasst, die etwa ins 5.–4. Jahrhundert v. Chr. gehören (Abb. 3 u. 4, 2A).58 Damit gewinnen wir Anschluss an die großen spätbronzezeitlichen bis früheisenzeitlichen Gräberfelder und die zugehörigen Siedlungen außerhalb der Duisburger Altstadt. Eine ununterbrochene Siedlungsentwicklung ist aber erst seit der 1. Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. nachweisbar. Wahrscheinlich entstand in dieser Zeit in der Duisburger Altstadt ein römischer Brückenkopf mit dem zentralen Burgplatz an einem Rheinübergang als Mittelpunkt zur Kontrolle des Ruhrmündungsgebiets und des späteren Hellwegs. Die West-Ostverbindung, später als Hellweg bekannt, führte ursprünglich vom Stapeltor an der Ruhr entlang nach Duissern (Abb. 2–3). Dort lag an der Kreuzung mit dem vom Süden kommenden Weg der Ruhrübergang, durch eine Doppelniederungsburg gesichert.59 Schon zu dessen Kontrolle und zur Beherrschung der von einem Höhenzug gebildeten Ostflanke Duisburgs musste Duissern und sein östliches Vorfeld zu Duisburg gehören (Abb. 1). Vom nördlichsten Ausläufer dieses Höhenzuges, dem Duissernschen Berge, direkt östlich des Ruhrübergangs gelegen, hatte man eine hervorragende Aussicht in alle Richtungen. Seine zu den Seiten steil abfallende Spitze war durch einen Abschnittswall unbekannten Alters gesichert (Abb. 2).60 Es verwundert deshalb nicht, dass wir aus Duissern wie aus Duisburg römische Funde kennen (Abb. 2–3), von den zahlreichen älteren ganz abgesehen. Die Sicherung der Ostflanke mit dem Ruhrübergang war zu allen Zeiten der frühen Existenz Duisburgs unabdingbar. Ob die Siedlungslücke zwischen Eisenzeit und römischer Epoche nur eine Forschungslücke und Duisburg doch noch einmal bis zu 500 Jahre älter ist, könnte am Ende nur eine kontinuierliche und wie oben beschriebene wissenschaftliche Beobachtung aller Bodenaufschlüsse in Alt-Duisburg und seiner Umgebung erbringen, die aber seit langem unmöglich gemacht worden ist.
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Krause 1992 a, 38 und 44, Abb. 31 zur Siedlung an der Niederstraße. Die Masse der Funde ist bisher unpubliziert. Krause 2005 a. Eine auf dem Wall gefundene Randscherbe aus dem späten 9.–10. Jahrhundert macht aber deutlich, dass er zu dieser Zeit bereits vorhanden war.
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2. Zur Lage von Rhein und Ruhr: Es lassen sich inzwischen drei Rheinverlagerungen vorgeschichtlicher und geschichtlicher Zeit nachweisen, alle durch archäologische Befunde datiert. Zu diesen Rheinverlagerungen gehören unterschiedlich hoch gelegene Auenstufen (Abb. 2–4). Die älteste Rheinverlagerung wird durch die oben genannten eisenzeitlichen Siedlungsfunde unterhalb der Niederstraße aus dem Uferbereich eines verlandeten prähistorischen Rheinlaufes etwa ins 4. vorchristliche Jahrhundert datiert (Abb. 3 u. Abb. 4, 2A). Sie wurden sowohl unter wie auch in den Verlandungssedimenten in einer Schichtmächtigkeit von 1, 30 m angetroffen. Die zweite Rheinverlagerung fällt in das 1. Jahrhundert n. Chr. Die dritte, die zum Verlust des Hauptstromes des Rheines vor der Stadt führte, gehört noch in die Zeit vor 1000.61 Duisburg lag danach bis gegen Ende des 14. Jahrhundert noch an einem schiffbaren Altarm des Rheines, der als Hafen diente (Abb. 4, 1,II). 3. Zur Beziehung der zahlreichen archäologischen Fundstätten und Funde aus der Umgebung zu Alt-Duisburg: Für die eisenzeitlichen und römerzeitlichen Funde ist diese Frage oben schon angesprochen worden. Gleichartiges Fundmaterial findet sich in der Altstadt. Zugehörig zu dieser ist auch der fränkische Friedhof an der Düsseldorfer/Ecke Friederich-Wilhelm Str., der um die Mitte des 5. Jahrhunderts einsetzt (Abb. 3, 3).62 4. Zur Lage der Burg, d. h. des seit dem Mittelalter überlieferten frühfränkischen Königssitzes und seiner Nachfolger, seiner Beschaffenheit und seinem wirklichen Alter: Nachdem sich am Rande des Burgplatzes zum Alten Markt hin und an der Beekstraße beträchtliche Siedlungsspuren der 1. Hälfte bis Mitte des 5. Jahrhunderts nachweisen ließen (Abb. 3 u. 4, 1 Schicht 3),63 der Zeit des Castrum Dispargum, hat sich Milz der Mühe unterzogen, die historische Überlieferung zu Dispargum erneut kritisch zu würdigen. Er kommt zu dem Schluss, den Konrad Plath schon 1894 gezogen hatte:64 „Duisburg ist die Urbs prima et sides regia Francorum Disparcum, d. h. die erste Stadt und Königssitz der Franken Dispargum’“ des Gregor von Tours. Es hat als einziger der dafür in Frage kommenden Duisburgorte den archäologischen Nachweis für seine Existenz in dieser Zeit erbringen können und besitzt eine seit dem Mittelalter über Jahrhunderte reichende Ortstradition, Dispargum zu sein. Die genannten frühfränkischen Funde und
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Zur Rheinverlagerung im 1. Jahrhundert n. Chr. siehe Krause 2000, 17f.; zur Verlagerung im 10. Jahrhundert siehe Krause 2005 b, 42 f. mit weiterer Literatur. Schon in das 3. Jahrhundert n. Chr. gehört ein einzelnes dort gefundenes Brandgrab, siehe Genthe 1881, 20f. Kat. Nr. 81, Taf. 2, 20. Krause 1992 b, 93 ff., 123 ff., 146 ff. mit Abb. 10–18, 21–31. Siehe auch Krause 1994. Milz 2007, 14 und 2008 in Vorbereitung (wie Anm. 56).
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Abbruchreste römischer Bauten vom Rande des Burgplatzes aus Tuff, Travertin und Marmor legen nahe, dass das Castrum Dispargum auf dem Burgplatz gestanden und römische Wurzeln gehabt hat.65 5. Zur Lage der zugehörigen Siedlung und zu ihrer Beschaffenheit: Die Siedlungsfunde streuen seit römischer Zeit über größere Teile der späteren Altstadt zwischen Dickelsbach und Ruhrmündung (Abb. 3), sind aber noch relativ spärlich, wohl weil die Siedlung hauptsächlich auf der bis heute überbauten und stark gestörten Niederterrasse gelegen haben dürfte und der zugehörige und genutzte Auenbereich des 2.–10. Jahrhunderts (Abb. 3 u. Abb. 4, 1 u. 4, 2B) immer wieder vom Hochwasser überspült worden ist. Spätkarolingische Funde sind in der ganzen Ost-Westerstreckung der Duisburger Altstadt schon in großem Umfange vorhanden.66 6. Zur Lage des Hafens des frühgeschichtlichen bis mittelalterlichen Duisburg: Der Hafen lässt sich seit dem letzten Drittel des 9. Jahrhunderts am ehemaligen Rheinufer nachweisen, wie zahlreiche Funde zur frühen Schifffahrt belegen.67 Er hat sicherlich seine Fortsetzung an der alten Ruhrmündung vor dem Stapeltor gefunden, die im Gegensatz zur Rheinfront ganzjährig hochwasserfrei war. Der Durchbruch des Rheines im 10. Jahrhundert brachte keine Beeinträchtigung der Hafenaktivitäten, da Duisburg danach an einem Altarm lag, der nicht mehr dem Hochwasser ausgesetzt war. Ältere Hafenanlagen sind im gleichen Bereich zu erwarten, aber durch Wälle und Gräben der Stadtbefestigung und jüngere Eingriffe überprägt und kaum noch zu erfassen. Der seit dem letzten Drittel des 9. Jahrhunderts als Marktplatz genutzte Alte Markt lag am Hafen im Zentrum Duisburgs und war lange mit dem Schiff zu erreichen (Abb. 3, 2 u. 4, 1,II). 7. Zum Platz des Wikingerlagers von 883/84, über das Regino von Prüm berichtet, und zu archäologischen Spuren des Wikingeraufenthaltes: Der Platz des Wikingerlagers ist nach wie vor nicht gesichert. Vermutlich hat es an der Ruhrmündung vor dem Stapeltor im hochwasserfreien Bereich gelegen. Spuren der Zerstörung durch den Wikingerüberfall und -aufenthalt haben sich an zahlreichen Stellen der Duisburger Altstadt nachweisen lassen, darunter Reste verbrannter Häuser und verstreute menschliche Skelette und Knochen.68 8. Zur bereits 893 für Duisburg bezeugten Niederlassung friesischer Händler: Sie lag nach Ausweis der archäologischen Untersuchungen nicht 65 66
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Krause 1992 b, 93 ff., 120 ff., 145 ff. mit Abb. 9 ff. Siehe die noch durch weitere Funde (nach 1990) zu ergänzende Fundstellenübersicht bei Krause 1992 b, 6 f. Abb. 4. Krause 2003 a und 2003 b. Krause 2005 a, 44ff.
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im Bereich der späteren Altstadt. Vermutet wird sie am Hellweg vor dem Stapeltor oder im Ortsteil Duissern an der Ruhr (siehe Abb. 2 u. 3). 9. Zum Alter der Stadtbefestigung und zu weiteren Befestigungen in der Duisburger Altstadt: Die älteste Stadtbefestigung mit Wall und Graben wurde noch im 10. Jahrhundert angelegt, nachdem der Rhein bei Duisburg durchgebrochen war und der Hauptstrom sich verlegt hatte. Es ist noch nicht klar, ob diese Befestigung schon das ganze Gebiet der Duisburger Altstadt umschlossen hat, ebenso wie die urkundlich überlieferte erste steinerne Stadtmauer von 1120/25, die auf dem Wall errichtet wurde. Sie ist noch heute in Teilen bis zur vollen Höhe erhalten. Schon in einer Urkunde von 1129 werden die Einwohner Duisburgs als Bürger (cives) bezeichnet. Zu dieser Zeit scheint die Stadtwerdung bereits abgeschlossen.69 Älter als die Stadtbefestigung ist die Befestigung der Königspfalz auf dem Burgplatz. Sie entstand wohl nach dem Wikingerüberfall zusammen mit dem Ausbau des Königshofes zur Pfalz. Der Graben der Pfalzbefestigung wurde schon bald durch die erste Stadtbefestigung mit Wall und Graben überflüssig und verfüllt.70 Im Bereich des Burgplatzes ist durchaus noch mit älteren Befestigungen zu rechnen.
Fazit Die interdisziplinären stadtarchäologischen Untersuchungen in der Duisburger Altstadt in den 1980er und frühen 1990er Jahren haben unser Wissen um die frühe Geschichte Duisburgs vorangebracht. Das in Duisburg seit dem Mittelalter vorhandene Bewusstsein, in einer Stadt mit einer langen und bedeutenden Geschichte zu leben, hat sich als gut begründet erwiesen. Sie macht das ganz Besondere und Unverwechselbare dieser Stadt aus, das sie mit keiner anderen teilt. Der vorzeitige Abbruch der Untersuchungen und der Ausschluss des Verfassers und seiner bürgerschaftlichen Helfer von jeder Weiterarbeit und Beobachtung von Bodenaufschlüssen wie die mangelnde Bereitschaft der Stadt, den erreichten Wissensstand überhaupt zu erhalten, könnten aber am Ende dazu führen, dass sogar die umfangreichen Ausgrabungsmaterialien mit ihrem längst nicht ausgeschöpften Erkenntniswert das gleiche Schicksal erleiden wie die Arbeiten Konrath Plaths. Sie sollten vielmehr ein Ansporn sein, ernsthaft weiter zu forschen und die bereits gesicherten und noch im Stadtboden vorhandenen archäologischen Zeugnisse einer bedeutenden Vergangenheit zu pflegen 69 70
Krause 1993; ders. 1997 und 2006; Porsche 2000, 85–112. Zur Pfalz zuletzt Krause 2004 a, mit weiterer Literatur.
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und zu achten und mit Bürgerstolz im städtischen Museum der Allgemeinheit zugänglich zu machen.71 Es ist zu hoffen, dass es nicht noch einmal rund 100 Jahre dauern wird, bis es wieder dazu kommt, dass die ungeschriebene frühe Geschichte Duisburgs gezielt weiter erkundet werden kann. Der Jubilar hat die hier vorgestellten Forschungsarbeiten und Erträge in seiner Duisburger Zeit mit großem Interesse und Freude verfolgt, jedoch die jüngste Entwicklung mit Bestürzung ansehen müssen.72
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Die hier vorgestellten Erkenntnisse sind nicht in die im Sommer eröffnete Dauerausstellung zur Stadtgeschichte unter dem Titel „Die neue Geschichte einer alten Stadt“ im Kultur- und Stadthistorischen Museum Duisburg eingeflossen. Sie sind unerwünscht, da sie offensichtlich zu einer „neuen Geschichte“ Duisburgs nicht passen, die aber immer nur die alte sein kann, höchstens besser erforscht und besser erklärt. Siehe dazu Krause 2004 b. Die aus ihrem damaligen Sitz, dem Duisburger Museum, 1995 verbannte archäologische Gesellschaft, ohne deren langjähriges Engagement die archäologischen Forschungen in Duisburg nicht möglich gewesen wären, fand im Fachbereich des Jubilars an der Duisburger Universität freundliche Aufnahme und eine Heimstatt für gemeinsam veranstaltete Vorträge.
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Beiträge zur Geschichte des frühen Mittelalters
Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 407–429 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Alte Geschichte und Europa
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In der Phase der Anfechtung unserer Gegenstände in den späten 1960er Jahren – der hier zu Ehrende mag sich erinnern – erfuhr die Mittelalterliche Geschichte eine besondere Kränkung dergestalt, dass prominente Vertreter der Altertumswissenschaft ihrer Epoche das Attribut des „nächsten Fremden“ verliehen, was unausgesprochen die im Kontinuum der Zeit zwischen uns und der Antike liegende Epoche des Mittelalters zum übernächsten Fremden machte.1 Eine solche Konstruktion rechtfertigt sich nun nicht aus dem allgemeinen Lauf der Geschichte, vielmehr aus der Geschichte der spezifischen Rezeption, die das Altertum in den nachfolgenden Zeiten erfahren hat. Diese Rezeption macht einen guten Teil dessen aus, was den Gegenstand „Europa“ identifiziert. Was aber wird, wenn die Rezeption zumal im Zeichen der Globalisierung nachlässt? Es bleibt ihre Bedeutung in der Rekonstruktion einer Vorgeschichte des europäischen Mittelalters, doch beide Epochen, wie auch die Frühe Neuzeit, verlieren in den allgemeinbildenden Schulen rasant an Boden. Ihr lange Zeit kanonisiertes didaktisches Potential droht verloren zu gehen. Die hier angedeuteten Zusammenhänge möchte ich im Folgenden an einem freilich nicht zufällig gewählten Beispiel bedenken. Meine Geschichte beginnt mit Herodot, dessen Werk aus der Mitte des klassischen fünften Jahrhunderts v. Chr. die Literaturgeschichte der Alten als den Anfang der Geschichtsschreibung betrachtete. Wir folgen auch heute dieser Einschätzung, stellen inzwischen vielleicht noch das Alte Testament daneben: Herodot ist darüber hinaus für uns überhaupt der Anfang eines nicht mehr abbrechenden historiographischen Erzählfadens, der die alten Zeiten von der Antike über das Mittelalter bis auf uns als ein Kontinuum in Erinnerung hält: der europäische Faden der Weltgeschichte, das europäische Narrativ. Bevor Herodot seinen ereignisgeschichtlichen Faden in der jüngeren Vergangenheit beginnt, der unmittelbaren Vorgeschichte der Abfolge Ioni-
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Hölscher 1965, 81 (1994, 278); Meier 1970, 176.
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scher Aufstand, Marathon, Thermopylen, Salamis und Plataiai, den sog. Perserkriegen (500–479), referiert er, wie Perser, Griechen und andere Zeitgenossen diese Ereignisse sehr allgemein und unter Bemühen der griechischen Sagen weit aus der Vergangenheit herleiteten, um sich dabei gegenseitig die Schuld zuzuweisen, die Schuld an einem immer wieder aufflammenden Konflikt zwischen zwei Größen, die dann Europa und Asien genannt werden. Es fängt an mit einer Kette gegenseitiger Frauenraube, die Griechen seien es aber gewesen, sagen die Perser, die schließlich in einer gewaltigen Überreaktion bloß wegen eines Frauenraubes gegen Asien gezogen seien und das Reich des Priamos zerstört hätten. So bezeugt uns Herodot, wie der Troianische Krieg aus der Diskussion der Schuldfrage zur Vorgeschichte der Perserkriege wurde und zum frühen Beleg eines grundsätzlichen Gegenübers von Europa und Asien. Das geschah aber erst, als man in der Verarbeitung der Perserkriege nach Salamis und Plataiai die Schuldfrage stellte und dabei nach den beiden Erdteilen stereotypisierte. Herodot selbst lässt die Sagen dann auf sich beruhen und wird die Schuldfrage anders beantworten. Allerdings nimmt auch er die Stilisierung der Gegner, der Griechen und der Perser, als Gegenüber von Europa und Asien auf. Troia hat in den letzten Jahren wieder viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Wenn die Archäologen über die Bedeutung dieser Ikone der Grabungswissenschaft sprechen, reden sie gerne vom Platz am Kreuzweg der beiden Kontinente. Dieser Topos ist ein klassischer Anachronismus: Die Zeiten, mit denen es die Ausgräber Troias vor allem zu tun haben, dem dritten und zweiten Jahrtausend v. Chr., gliederten die Erdoberfläche nicht so, wie wir es seit der klassischen Antike gewohnt sind. Wie aber kommen wir dazu, so zu reden?2 Auch hier gibt uns Herodot Auskunft. Sein vielgestaltiges Werk enthält eine Reihe von größeren Exkursen zur Ethnologie, Landeskunde und Geographie seiner Handlungsräume. So berichtet er mit einer gewissen Distanz, doch auch Zustimmung, weil es sich nun einmal als Konvention so ergeben habe, über Erdkarten, die ihren Gegenstand, die Erdoberfläche, in drei Teile einteilten: Europa, Asien und Libyen (später Afrika). Bei den Leuten vor ihm, die er für diese Einteilung verantwortlich macht, glauben wir zu wissen, dass es sich um ionische Geographen der Generation vor Herodot handelt, namentlich Hekataios von Milet, der beim Ionischen Aufstand eine Rolle spielte. Auf ihn wohl bezog sich Herodot des Näheren, als er davon 2
Demandt 1998 versammelt die Belege unter eigenwilliger Systematik. Europa und Asien trenne „keine Grenze auf der Erde, sondern nur eine Grenze in den Köpfen“ (148). Im Folgenden wird es um diese Köpfe gehen.
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schrieb, wie manche Leute „Erdkarten zeichneten“ (4,36). Das Schema der drei Erdteile wird uns hier erstmals überliefert. Er stellte sich den Erdkreis, die Oikumene, als vier gleiche Segmente vor. Die zwei nördlichen Segmente bilden Europa, die beiden südlichen Afrika im Westen und Asien im Osten. Das Mittelmeer trennt die beiden westlichen Segmente, der Fluss Phasis in Kolchis (Georgien) ist die Fortsetzung der gedachten West-Ost-Achse, die die beiden östlichen Segmente trennt. Herodot berichtet von einer Variante (4,45), gemäß der Asien die beiden östlichen Segmente einnimmt; der Tanaïs (Don) ist danach Ausgangspunkt der Nord-Süd-Achse, die die beiden nördlichen Segmente zwischen Asien und Europa teilt. Diese Tanaïs-Variante setzte sich in der antiken Tradition durch und galt bis weit in die Frühe Neuzeit. Die abstrakteste Variante des Schemas bildeten – in unserer genordeten Vorstellung um 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn gedreht – die mittelalterlichen T-Karten. Auch die moderne Schulbuchdefinition der Grenze zwischen Europa und Asien geht noch von der Mündung des Don aus (und springt seit dem 18. Jahrhundert weiter nach Osten zum Ural).3 Das Zentrum auch noch unserer Vorstellung einer solchen Grenze bilden aber Bosporus und Dardanellen, der antike Hellespont. Dass dieses Schema zunächst einfach der Gliederung des gewachsenen geographischen Wissens der Griechen4 diente, geht schon daraus hervor, dass die Heimat des Hekataios, Ionien, mit seinem ausgeglichenen Klima die Mitte des ‚Weltbildes‘ darstellte, wenn wir der Charakterisierung Ioniens durch Herodot folgen (1,142), die keine Rücksicht darauf nimmt, dass die Ionier Mitte des sechsten Jahrhunderts Teil des Perserreiches wurden und als Griechen auf der asiatischen Seite des Hellespont lebten, ohne dass dieser Sachverhalt das Erdteileschema relativierte. Mit anderen Worten: die ‚weltanschaulich‘ aufgeladene Deutung des Erdteileschemas als Begründung eines grundlegenden Gegensatzes Europa-Asien erklärt nicht dessen Entstehung, geschieht vielmehr später, in einem zweiten Schritt: bei der Interpretation der Perserkriege, kurz gesagt als Folge von Marathon und Salamis.5 Wir besitzen die ausführliche Darstellung der Perserkriege im Werk des Herodot aus dem kleinasiatischen Halikarnass, eine Generation nach den 3 4
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Parker 1960; Cecere 2006. Prontera 2001 verweist auf zwei Quellen der Erfahrung: die griechische Kolonisation um das Mittel- und das Schwarze Meer („von Gibraltar bis Kolchis“) und die altorientalische Achse „von Meer zu Meer“ (dem Mittelmeer und dem Persischen Golf), ergänzt um die Achse des jungen Perserreiches von Persepolis nach Ekbatana im Hochland von Iran. „Das Asien des Aischylos, des Herodot, des Hippokrates […] besteht aus dem Teil der Erde, der durch Achämeniden regiert wird und der sich dem Europa der Sieger entgegenstellt“: Prontera 2001, 132.
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Ereignissen. Doch Herodots Deutung des Geschehens hat ein Vorbild unmittelbar nach den Ereignissen: Die älteste uns erhaltene Tragödie, „Die Perser“ des Aischylos, aufgeführt in Athen 472 v. Chr., handelt von der Niederlage der Perser. Die Deutung des griechischen Sieges von Salamis ist bei Aischylos und Herodot eine religiöse: Die Hybris des Xerxes, sein mehr Wollen als einem Menschen zukommt, sein die den Menschen gesetzten Grenzen nicht Kennen, erklärt sein Verderben, das die Tragödie des Aischylos dramatisch ins Bild setzt und Herodot in sprechenden Szenen und Gesprächssituationen darstellt. Die frevelhafte Grenzüberschreitung geschieht am Hellespont; beide Autoren gestalten die Schiffsbrücke über die Dardanellen als das Joch, „das beider Erdteile Küste verbindet“ (Aischylos, Perser 131 f.). Herodot lässt Xerxes sagen: „Wir dehnen das persische Land so weit aus; daß es mit dem Himmel zusammenstößt. Denn dann wird auf kein Land die Sonne scheinen, das an das unsere grenzt, sondern sie alle werde ich zusammen mit euch zu einem einzigen Land machen, wenn ich durch ganz Europa gezogen bin“ (7,8). Nach Salamis lässt Herodot den Themistokles sagen: „Nicht wir, sondern die Götter und Heroen waren die Sieger; sie wollten nicht, daß ein einziger über Asien und Europa zugleich als König herrsche“ (8,109). In Herodots einleitender Passage, der Diskussion der Schuldfrage am großen Krieg, heißt es schon: „Asien nämlich und die darin wohnenden Völker nennen die Perser ihr eigen, Europa aber und die griechische Welt ist nach ihrer Auffassung davon abgesondert“ (1,4). Sich daran nicht gehalten zu haben, macht Xerxes’ Hybris aus, die ihn scheitern lässt – so deuten die Griechen im Zeugnis von Aischylos und Herodot das Geschehene. Die Konfrontation des Xerxeszugs heißt in unseren beiden ereignisnahen Quellen: ganz Asien zieht gegen ganz Griechenland. Aischylos’ Tragödie spielt am Perserhof. Dem Chor der Alten erzählt die Königsmutter Atossa von einem ahnungsvollen Traum (181 ff.): Zwei schöne Frauen, Schwestern, eine wohnt in Griechenland, die andere in Asiens Reich, fanden sich beide vor Xerxes’ Wagen gespannt. Die eine hielt leicht lenkbar die Zügel im Mund, die andre bäumte sich auf und „bricht das Joch mitten durch“. Freiheit ist also das Thema. Die Griechen „sind niemandes Knecht“ (242), zahlen niemandem Tribut (587), ihre Rede ist frei (591– 594), ihre Anführer sind vor dem Volk rechenschaftspflichtig (213). Die Perser dagegen haben einen Herrscher, dem alle gehorchen (169 u. ö.), der mit riesigem Heer gegen Griechenland zieht, das reiche Asien gegen das karge Land der Griechen, Europa (799). Es siegte aber Qualität gegen Quantität, so das Deutungsschema unserer Quellen. Die Qualität besteht im Bewusstsein der Freiheit, gegen die der Reichtum und die physische Übermacht nicht bestehen konnten.
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Neben das Gegenüber von Europa und Asien trat – schon bei Herodot – als polarisierender Topos das Gegenüber von Griechen und Barbaren.6 Lesen wir Herodot, müssen wir zwischen zwei großen Gruppen von Barbaren unterscheiden. Wenn er im berühmten Einleitungssatz davon spricht, sein Thema sei auch zu fragen, weshalb Griechen und Barbaren miteinander Krieg führten, meint er vor allem die Perser, nicht z. B. die Skythen und Äthiopier, die wie die Griechen Objekte persischer Expansion geworden waren. Die einen sind die Barbarenstämme, deren einfache Lebensweise durchaus auch idealisiert wird und deren Armut es wie bei den Griechen Herodot eher verwunderlich erscheinen ließ, dass sie Gegenstand persischer Expansion wurden. Barbaren wie das Perserreich waren auch die Babylonier und die Ägypter, alte Kulturen, denen vor allem Herodots Bewunderung, nur gelegentlich auch Befremdung gehört. Deutlich Herodots Kritik erfahren allerdings die Reichsbildungen der Assyrer, Lyder, Meder und Perser: Herrschaft über andere Länder auszuüben über ein bestimmtes Maß hinaus strafen die Götter. In den Generationen nach Herodot werden die Barbaren dann insgesamt im Gegensatz zur eigenen Welt oft deutlicher negativ bewertet. Sprichwörtlich ist ein Satz aus Euripides’ Iphigenie in Aulis (1400 f.) von 406 v. Chr., den Aristoteles in seiner ‚Politik‘ dann wieder zitierte: „Daß Griechen über Barbaren herrschen, ist recht und billig, nicht aber Barbaren über Griechen. Das eine nämlich ist Knecht, die aber sind Freie“ (Aristoteles, Politik 1,2, 1252b8). In seiner Verfassungstypologie formulierte Aristoteles für die Monarchie bei den Barbaren: „Da die Barbaren in ihrem Charakter von Natur aus sklavischer sind als die Griechen, und die in Asien noch mehr als die in Europa, ertragen sie die despotische Herrschaft klaglos“ (Politik 3,14, 1285a19 ff.). Die in Umrissen uns bekannten Persiká des Ktesias aus dem Anfang des 4. Jahrhunderts „is not without some adumbration of the ‚Orientalism‘ of the modern period.“7 Die attischen Redner des 4. Jahrhunderts pflegten die Rückerinnerung an die Perserkriege mit dem stereotypisierten Feindbild Freiheit vs. Barbarei/ Knechtschaft, Qualität vs. Quantität, Europa vs. Asien, so z. B. Lysias in seiner Gefallenenrede von 391 v. Chr. (2,20 ff.).8 ‚Herrschaft‘ wird als ‚Orientalische Despotie‘ gegen griechische Freiheit gestellt. Trotz dieser Verallgemeinerung ist klar, dass ‚Griechenland‘ dabei vor allem das klassische Athen und dessen Selbstverständnis repräsentiert; die Erinnerung an Marathon und Salamis bleibt auf dieses fokussiert.9 Daran hält sich auch Alexan6 7 8 9
Cobet 1996. Briant 2002, 7. Albertz 2006, 67–80. Hölkeskamp 2001.
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der der Große, der seinen Eroberungszug in umgekehrter Richtung, nach Osten,10 symbolisch in eine Reihe mit Troia und Salamis stellt, seine Eroberung also aus dem Inhalt der politischen Aufladung (Despotismus vs. Freiheit) legitimiert. Den Gegensatz Griechen-Barbaren mit den politischen Assoziationen von Marathon und Salamis überträgt in der Generation vor Alexander der athenische Redner Isokrates vom Politischen ins Kulturelle: „Unsere Stadt [Athen] hat auf dem Gebiet intellektueller und rhetorischer Fähigkeiten alle anderen Menschen so weit zurückgelassen, daß die Schüler Athens Lehrer der anderen geworden sind, und Athen hat es fertiggebracht, daß der Name der Griechen nicht mehr eine Bezeichnung für ein Volk, sondern für eine Gesinnung zu sein scheint und daß eher Grieche genannt wird, wer an unserer Bildung (paídeusis) als wer an unserer gemeinsamen Abstammung teilhat“ (Panegyrikos von 380, Kap. 50). In ein solches Verständnis des Gegensatzes konnten die römischen Eroberer der griechischen Welt eintreten. Alexander und seine hellenistischen Nachfolger hatten mit den neuen Metropolen wie Alexandria, Antiochia und Pergamon, die übrigens alle nicht in Europa lagen, das Bild des klassischen Athen durch eine allgemeinere Vorstellung von griechischer Kultur ersetzt; die Philosophenschulen, auch die Erinnerung an Marathon und Salamis erhielten allerdings Athen eine besondere Rolle in der kulturellen Tradition der Griechen und Römer. Die hellenistischen Könige erscheinen in dieser Tradition weniger als der Kultur feindliche Herrscher, vielmehr als Freunde und Förderer der Künste und Wissenschaften; im Zentrum dieser ‚Rückerinnerung‘ steht die Bibliothek von Alexandria, als deren Erben wir noch unsere Bibliotheken verstehen können. Die ‚Freiheit‘ der Griechenstädte wurde im Wettbewerb der Könige um den Besitz dieser Städte eine Formel der politischen Propaganda. Die Erinnerung an die klassischen Perserkriege wie deren ‚Erwiderung‘ durch den Alexanderzug nutzten dann wieder die römischen Kaiser in der Auseinandersetzung mit Parthern und Sassaniden und machten so die Tradition der Griechen auch zu der ihren.11 Plutarch, der für die Römer wie für die Griechen schrieb, formulierte: „Als die Griechen bei Salamis, der Mykale und Plataiai die Freiheit Griechenlands besiegelt hatten, gaben sie diese an die übrige Menschheit weiter“.12 An die Stelle des Hellespont als Grenze
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Diesen Perspektivenwechsel reflektiert Cartledge „Thermopylae“ 2006, XII f. angesichts seines vorausgehenden Buchprojekts „Alexander the Great“ 2004. Ziegler 2007; Jung 2006, 205ff. und 344ff.; Spawforth 1994, 233–247; Kienast 1994, 299– 322, hier 319. Plutarch, Moralia 350 B (in der Schrift „Kommt den Athenern mehr Ruhm zu im Krieg oder im Frieden?“).
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zweier Welten war durch das Imperium Romanum allerdings der (obere) Euphrat getreten. Im Bild von der Abfolge der vier Weltreiche sind – ungeachtet der politischen Realität – die Perserreiche der Parther und Sassaniden an den Rand gedrängt: Rom herrscht in den Selbstdarstellungen von Politik, in Dichtung und Geschichtsschreibung über Europa und Asien (und Afrika: als erstes ‚Weltreich‘ über die ganze Oikumene).13 Das geographische Schema der drei Erdteile blieb also erhalten; es wirkt über die antiken Geographen in Mittelalter und Neuzeit fort bis auf uns. Unter dem Vorzeichen der römischen Expansion nach Westen und Norden ergab sich aber zugleich ein neuer Befund für die Vorstellung dessen, was Europa sei.14 Polybios stellte bereits im 2. Jahrhundert v. Chr. den Westen Europas als dasjenige Gebiet heraus, dessen Eroberung erst den Anspruch auf die Herrschaft „nahezu der ganzen Oikumene“ rechtfertige (1,2). Dieser Anspruch erhielt durch die Expansion unter Caesar und Augustus bis Rhein und Donau eine neue Qualität und der Begriff Europa eine neue Dimension. Diese Dimension profilierten schon die Zeitgenossen. Der Geograph Strabon füllte seine Umrisse und qualifizierte es unter den Erdteilen als „bezüglich Tüchtigkeit der Männer und Vorzüglichkeit der Verfassungen (politeíai) am wohlgeratensten“ (2,5,26 = C 126f.); er historisierte diese Vorstellung, indem er den zweiten Punkt, die Form des politischen Lebens – gemeint ist das Leben der Bürger in einer Stadt (pólis) – auf die römische Expansion zurückführte. Die Politisierung des geographischen Begriffs wird hier erneuert. Ein Lob dieses Europa finden wir in der astronomischen Schrift des Manilius in einer längeren Aufzählung von Griechenland über Gallien und Germanien bis Spanien; Italien und Rom bilden den Mittelpunkt, Athen und Sparta den Anfang, Athen freilich nicht mit den Perserkriegen, sondern dank seiner Rhetorik, Sparta allerdings dank seiner militärischen Stärke (1,768 ff.). Von Interesse dürfte sein, dass dem europagestützten Reichsbewusstsein der Römer in der Orakelliteratur der Sibyllinischen Bücher ein in unbestimmter Zukunft wieder die Herrschaft ergreifendes Asien entgegengehalten wird (z. B. 3,350–355). In Spätantike und Frühem Mittelalter finden wir den Begriff Europa als Raum geschichtlicher Identität aus der Perspektive zweier Instanzen verwendet, einmal aus der Perspektive der gedachten Fortsetzung des westlichen, lateinischen Imperiums, wenn „die Europäer“ von außen, durch gleichsam unzivilisierte Völker, angegriffen werden, den Goten, Hunnen, Langobarden, Arabern oder Ungarn, zum andern aus der Perspektive der
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Klein 2007. Ein Befund, den Kienast 1994 detailliert herausgearbeitet hat und dem ich hier folge.
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römischen Kirche, wenn „der neue Kulturraum der lateinischen Christenheit“ im Westen als die eigene Welt zusammenfassend angesprochen werden soll.15 Rom ist jedesmal der Bezugspunkt. Den Sieg Karl Martells 732 und das Frankenreich Karls des Großen verbanden zeitgenössische Quellen mit dem Attribut Europa.16 Das Hohe und das Späte Mittelalter dagegen sprechen wenig von Europa, vielmehr von christianitas, die allerdings ausdrücklich mit Europa identifiziert wird.17 In der ersten Kreuzzugspredigt 1095 sprach Papst Urban II. davon, dass die Ungläubigen Europa bedrohten, doch seien die christlichen Europäer – hier scheint die antike Tradition durch – an Gelehrsamkeit und Tapferkeit den Asiaten überlegen.18 Der dritte Kreuzzug setzte 1190 in einer zeitgenössischen Quelle über die Dardanellen „von Europa nach Asien“19. Der vierte Kreuzzug 1204 gegen Konstantinopel verwandelte übrigens die Lateiner in den Augen der Byzantiner in Barbaren.20 In den 1280er Jahren gliedern die Schriften des Alexander von Roes das christliche Europa von Byzanz bis Spanien und schreiben in der Nachfolge der Antike und der translatio imperii den Römern das sacerdotium, den Franken-Deutschen das imperium und den Franken/GalliernFranzosen das studium, die Wissenschaften, zu.21 Im Zusammenhang von 1453, als die Osmanen Konstantinopel eroberten, also in der Zeit der (west-)europäischen Renaissance, wird Byzanz/Konstantinopel als den Christen und damit Europa verloren beklagt, so dass wir unter dem Vorzeichen der Türkenfurcht seither das Erdteileschema politisch deutlich neu aufgeladen finden. Die Gegensätze Christentum-Islam, Europa-Asien, Westen-Osten sind für die neuzeitlichen Europäer zu verschiedenen Sprechweisen der einen gleichsam welthistorischen Polarität geworden. Reisende aktualisierten und erweiterten durch ihre Berichte das Bild des Orient, so Jean Chardin, der zwischen 1665 und 1677 mehrere Jahre, oder Engelbert Kaempfer, der 1684/85 zwanzig Monate im Isfahan der Safawiden weilte.22 Die Anschau15 16 17
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Belege bei Fuhrmann 1994, 16–22; Zitat 21. Belege bei Kienast 1994, 321. Fuhrmann 1994, 22–25. Karageorgos 1992, 137–164, hier 138–141. Gegen die gängige „Ansicht von der Seltenheit mittelalterlicher Belegstellen für die spezifische Verwendung des Europa-Begriffes“ polemisiert schon Sattler 1971, 32–35. Belege bei Karageorgos 1992, 139f. Karageorgos 1992, 141. Karageorgos 1992, 155–157. Fuhrmann 1994, 25–34; Karageorgos 1992, 142. Jean Chardin, Journal du voyage en Perse et aux Indes orientales, 1686. Engelbert Kaempfer, Am Hofe des persischen Großkönigs 1684–1685 [=Das erste Buch der Amoenitates exoticae, 1712], hg. [d. h. aus dem Lateinischen] von Walther Hinz, 2. Aufl. Tübingen 1984, 20–45. Zum Kontext Osterhammel 1998, bes. 275 f.
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ung des Orient reicht nun vom Osmanenreich über Persien und Indien bis China und Japan. Die durchaus differenzierenden Berichte der Europäer werden im aufgeklärten Diskurs von Montesquieus ‚De l’esprit des lois‘ von 1748 im Lichte von Aristoteles’ Verfassungstypologie unter das Bild der ‚orientalischen Despotie‘ gebracht; Europa gehört die Freiheit, Asien ist der Erdteil, wo der Despotismus zu Hause ist.23 Traditionswirksamer locus classicus für die ‚orientalische Despotie‘ ist Hegels Bild vom Lauf der Weltgeschichte von Asien nach Europa.24 Sprecher der ersten Stunde ist Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II. Auf dem Frankfurter Türkentag 1454 rief er zur Rückeroberung Konstantinopels auf, und hier kommt das alte Griechenland ganz im Sinne der Humanisten ins Spiel: Nunc contrita deletaque Graecia … „Nun ist Griechenland verwüstet und zerstört; welch kultureller Verlust uns daraus erwachsen ist, wißt ihr alle, da euch ja bekannt ist, daß die gesamte Bildung der lateinischen Welt aus griechischen Quellen stammt“ … omnem doctrinam ex Graecorum fontibus derivatam.25 Wenige Wochen, nachdem Konstantinopel gefallen war, hatte Piccolomini an Nikolaus von Kues geschrieben: „Ich gestehe, an vielen Orten stehen bei den Lateinern die Wissenschaften in Blüte, in Rom, Paris, Bologna [usw.], doch Bächlein sind dies alles, aus den Quellen der Griechen abgeleitet. […] Ich kann den Schmerz nicht unterdrücken, sehe ich diesen Verlust an Texten. […] Wer wird bezweifeln, daß die Türken nun alle Denkmäler der Literatur dem Feuer übergeben?“26 Es geht hier, wie gesagt, um die griechische Kultur
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Montesquieu, De l’esprit des lois, 1748, B.5, Kap.14 und immer wieder: B.2, Kap.5; B.3, Kap. 10; B.17, Kap. 5 f. B.24, Kap.3 f. werden nach diesem Schema Christentum und Islam gegenübergestellt. Georg Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte [1822–1831], Einleitung: Einteilung [Werke in 20 Bänden, Bd. 12, Frankfurt am Main 1970, bes. 134] und unmittelbar „zum Kriege mit den Persern“ [ebenda 315]. Schulin 1958. ‚Despotie, Despotismus‘ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter u.a., Bd. 2, 1972, 132–146; Hella Mandt in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von O. Brunner u.a., Bd. 6, 1990, 686f. unter dem Lemma ‚Tyrannis. Despotie‘. Die Neubearbeitung von Grimms Deutschem Wörterbuch belegt Bd. 6, 1983, 769: „daß heute die Laune eines orientalischen Despoten genügt, um […] unsere Winterheizung zum Problem zu machen“ (aus dem vielfach aufgelegten Buch des liberalen Ökonomen Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach/Zürich 1958, 68). Im Jahr davor, 1957, erschien Karl A. Wittfogels klassische Studie ‚Oriental Despotism‘ als „eine vergleichende Untersuchung totaler Macht“ (so der Untertitel der deutschen Ausgabe, Köln 1962); er setzt an mit Autoren wie Montesquieu, zielt auf Sowjetrussland und China und endet das Buch mit einem der Dialoge Herodots über griechische Freiheit und persische Knechtschaft (7,135). Oratio de Constantinopolitana clade, in: Opera quae extant omnia, Basel 1551, 678–689, Zitat S. 682; vgl. Fuhrmann 1994, 39. Enea Silvio Piccolomini. Papst Pius II. Ausgewählte Texte hg., übers. und eingeleitet von Berthe Widmer, Basel 1960, 446f. Vgl. Karageorgos 1992, 148f.
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insgesamt, wie sie die Renaissance-Humanisten im Blick hatten, das Griechenland, wie es der Hellenismus verallgemeinerte, um das Griechenland Alexandrias, Roms und Konstantinopels, nicht nur des klassischen Athen. Größer noch, fuhr Piccolomini fort, sei der Schaden für den christlichen Glauben, habe er doch den ganzen Erdkreis eingenommen; nun komme er selbst in Europa nicht zur Ruhe. „Viel ist es, was Tataren und Türken diesseits von Tanais und Hellespont halten, und die Sarazenen besetzen bei den Spaniern ein Reich.“27 Die Geographie ist wieder politisch aufgeladen, auch ohne dass Marathon und Salamis aufgerufen werden. Das wird anders mit dem Klassizismus seit Mitte des 18. Jahrhunderts.28 Hier zunächst die immer wieder zitierte Formulierung des Philosophen John Stuart Mill (in der Besprechung der ersten Bände der ersten modernen wissenschaftlichen Geschichte des antiken Griechenland von George Grote im Jahre 1846): „The battle of Marathon, even as an event in English history, is more important than the battle of Hastings“; ohne den normannischen Sieg, fuhr Mills fort, mochten die Briten und Sachsen weiter in den Wäldern gewandert, also Barbaren geblieben sein.29 Hegel hatte in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte in den 1820er Jahren zugespitzt: „Das Interesse der Weltgeschichte hat hier auf der Waagschale gelegen.“30 Max Weber formulierte 1906: „Und d a ß jene Schlacht die ‚Entscheidung‘ zwischen jenen ‚Möglichkeiten‘ brachte oder doch sehr wesentlich beeinflußte, ist offenbar der schlechthin einzige Grund, weshalb u n s e r – die wir keine Athener sind – historisches Interesse überhaupt an ihr haftet.“31 Die Philhellenen Europas, die zwischen 1821 und 1830 zur 27 28
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Bei Widmer (wie Anm. 26), 448f. „Europe is superior to other parts of the world in learning power and abilities of its inhabitants“, so eine harmlose Formulierung im „Classical Dictionary“ von 1788, in der Ausgabe von 1850, 262 (zitiert nach Demandt 1998, 153). John Stuart Mill, Grote’s History of Greece [1846], in: Ders., Essays on Philosophy and the Classics, ed. J. M. Robson, Toronto 1978, 272–279, Zitat 273. Grote stellte seine Darstellung der Perserkriege unter die Perspektive von Freiheit vs. Sklaverei und versteht den griechischen Sieg als Voraussetzung für die Entfaltung der athenischen Demokratie. Ionischer Aufstand, Marathon und Salamis werden allerdings erst im 4. (1847) und 5. (1849) Bd. behandelt; als Endpunkt seiner Darstellung setzte er die Zeit Alexander des Großen (Bd. 12, 1856). Grotes Werk wurde alsbald ins Deutsche übersetzt: Geschichte Griechenlands, 6 Bde. Leipzig 1850–1856. Hegel (wie Anm. 24) 315. Meier 1993, 219 nahm dieses Zitat zum Motto seines Kapitels über die Perserkriege. Flaig 1994 antwortete darauf mit dem kritischen Essay „Europa begann bei Salamis. Ein Ursprungsmythos neu erzählt“. Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl. Tübingen 1968, 215–290, Zitat 274. In der Sache nimmt er Eduard Meyers Geschichte des Altertums. Bd. IV, Stuttgart 1901 [in der 3. Aufl. 1939, 397] auf.
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Unterstützung des griechischen Unabhängigkeitskampfes gegen das Osmanische Reich aufriefen, aktualisierten zusammen mit den intellektuellen und gelehrten Patrioten vor allem der säkularen griechischen Diaspora die Türkenfeindschaft unter dem Vorzeichen des Klassizismus; die Parallelen zu den Thermopylen, Marathon und Salamis waren ihnen schnell zur Hand.32 Das auf Athen fixierte Bild der antiken Griechischen Geschichte finden wir eingefroren in deren seitdem eingespielter konventioneller Periodisierung: Ihre ‚Klassische Zeit‘ beginnt mit den beiden für „Freiheit“ stehenden Daten: der Vertreibung der Tyrannen aus Athen 510, gefolgt von den Reformen des Kleisthenes, die die engere Geschichte der Demokratie einleiteten, und den Siegen von 490 und 480 in den Perserkriegen, die „Griechenland befreiten“. Die klassische Zeit endet in der konventionellen Periodisierung 338, als Philipp und Alexander von Makedonien bei Chaironeia die Stadt Athen, gerne abstrahiert zu „der Griechischen Polis“, und deren Verbündete schlugen – „das Ende der griechischen Freiheit“. Der – von Grote nicht behandelte – Hellenismus steht in diesem Bild ambivalent sowohl für diesen Verlust der Freiheit als auch dafür, dass dieser Sieg wiederum die Voraussetzung dafür war, dass Alexander der Große die griechische Kultur zu verbreiten vermochte. Deren Existenz – so weiter das klassizistische Bild – setzte allerdings wiederum die Siege von Marathon und Salamis voraus. Die Gründung des modernen Griechenland 1830 wählte – vor allem auf Betreiben der bayrischen Regentschaft – Athen als seine Hauptstadt. Dessen komplexes nation building hatte dann allerdings die Vor-Vorvergangenheit Athen mit der aktuellen Vergangenheit Byzanz zu vereinen; die politische Geschichte des jungen Staates wurde bis zur Katastrophe von 1922 erheblich davon bestimmt, „die große Idee“ verwirklichen zu wollen, Konstantinopel zu gewinnen und Byzanz wieder herzustellen.33 Im westlichen Europa aber nahm Athen weiter unzweideutig auf der Bühne der Griechischen Geschichte die Mitte ein. Thomas Mann sprach die europäische Selbstverständlichkeit dieses Sachverhalts 1931 vor den Schülern seines Gymnasiums, dem Lübecker Katharineum, aus. In einem Brief an den Direktor schrieb er anschließend: „Nur ein Zufall war es ja zum Beispiel nicht, wenn auch ich in meiner Ansprache die Jugend auf die Perserkriege hinweise, um ihren Europäerstolz zu wecken“.34 In seiner Rede hatte er die europäische Rezeption auf den allgemeinsten Punkt gebracht, Qualität gegen Quantität: „Als teuerste geschichtliche Erinnerung sollte der Jugend 32 33 34
Höpken 2006, zu Griechenland 426–432. Ebenda Aus dem Neufund mehrerer Briefe Vorabdruck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. 2. 2002, 53: Edo Reents, Liebäugeln Sie nicht mit der Barbarei!
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noch immer die Epoche der Perserkriege gelten: der Entscheidungssieg des form-gewillten Geistes über die sarmatische Masse, der Auserlesenheit über sklavisches Gewimmel“.35 Die Forschung dieser Zeit zu dem ersten Historiker der Perserkriege, Herodot, der dieses Gewimmel ja ins Gigantische quantifiziert hatte, lesen wir heute eher als ein Zeugnis der Zeit als eine Interpretation des Herodot. Max Pohlenz’ die Forschung bis in die 1960er Jahre dominierendes Herodotbuch von 1937 mit dem programmatischen Untertitel „Der erste Geschichtsschreiber des Abendlandes“ zog eine lange Linie von Marathon und Salamis ins zwanzigste Jahrhundert, wenn er vom „Freiheitskampf“ als dem „welthistorischen Entscheidungskampf“ sprach, „den das Hellenentum gegen asiatischen Imperialismus zu führen hat“. Sein aktualisierender Bezug zum Ersten Weltkrieg – die „östlichen Heeresmassen“ des Xerxeszuges verglich er mit der ‚russischen Dampfwalze‘ – wird von den Lesern des Neudrucks 1961 unschwer mit dem Kalten Krieg verbunden worden sein.36 Doch bildet der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945 einen deutlichen Einschnitt in der Rezeptionsgeschichte der Perserkriege. Unser Thema erhielt in Heinrich Bölls Kurzgeschichte von 1950: „Wanderer, kommst du nach Spa …“ eine (ent-)sprechende Interpretation. „… nach Sparta, verkündige dorten, du habest / uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl“, fährt in der Übersetzung Schillers 1795 Simonides’ Grabepigramm für die dreihundert Spartaner unter Leonidas, die 480 v. Chr. die Perser unter Xerxes an den Thermopylen zurückzuhalten versucht hatten, fort. Bölls Erzählung war für meine und die folgende Generation verbreitete Schullektüre. Darin lässt der Autor den Ich-Erzähler, einen Gymnasiasten, vom letzten Aufgebot am Kriegsende, dem Volkssturm, fürchterlich verstümmelt in den zum Lazarett verwandelten Zeichensaal seiner alten Schule getragen, auf die eigene Schönschreibübung blicken. Jenes Epigramm hatte nicht vollständig auf die Tafel gepasst. Wir dürfen interpretieren: Die klassische Bildung war gewissermaßen im Halse stecken geblieben. Einen konkreten Anstoß dazu wird die Rede gegeben haben, die Hermann Göring am 30. Januar 1943, am Tag vor der Kapitulation von Stalingrad, über den Reichsfunk an die Wehrmacht und die eingeschlossenen Soldaten gehalten hatte. Darin rief er wortgewaltig das Beispiel der Ther35
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Thomas Mann, Reden und Aufsätze. Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 10, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1974, 316–327, Zitat 322. Max Pohlenz. Herodot. Der erste Geschichtsschreiber des Abendlandes, Stuttgart 1937 (Nachdruck ebenda 1961); Zitate 10 und 128f. Belege dafür, dass Pohlenz nicht alleine steht, bei Cobet 1971, 34–39.
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mopylen auf, zitierte Simonides’ Grabspruch und formulierte die Analogie: „Immer und zu allen Zeiten ist Deutschland der Wall gewesen, an dem sich die östlichen Horden brachen. Heute steht nun Deutschland für ganz Europa auf äußerster Wacht“.37 Noch im März 1945 erinnerte Carl Diem, Organisator der Berliner Olympiade 1936, auf dem Reichssportfeld Hitlerjugend und Volkssturmmänner an die Thermopylen.38 Allerdings ging die Unschuld der humanistischen Tradition in Schüben verloren. Nüchtern führt jetzt eine Historikerin – nota bene – der jüngsten Generation die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen bis in die Geschichte der Bundesrepublik und in unsere Tage. Dabei macht sie darauf aufmerksam, dass die Instrumentalisierung der Thermopylen für Stalingrad und die letzten Züge des Reiches das Bild des vorbildhaften Opfertods zwar für viele tabuisiert hatte, aber die „durch die apokalyptische Rhetorik des Kalten Krieges neu aufgeladene Antithese von europäischem Abendland und barbarischem Osten“ die Perserkriege als deren Gründungsgeschichte alsbald wieder aufleben ließ.39 Oskar Kokoschka malte 1954 für die Hamburger Universität ein nicht leicht zu entschlüsselndes Triptychon mit dem Titel „Thermopylae oder Der Kampf um die Errettung des Abendlandes“. Zwar formulierte der Künstler in einem Brief 1958: „Europäer sein heißt immer wieder den Barbaren in sich selber zu bekämpfen“40, aber in einem Brief von 1954 hatte er sein Bild konkreter interpretiert: „Denke an die Russen in Europa, und Du wirst die Aktualität verstehen und warum es nach Hamburg bestimmt ist, wo einige Kilometer weiter weg die Tataren ihre Pferde tränken.“ Reclams Monographie zum Bild verallgemeinert 1961: „Ein Volk, das nicht mehr mit ungebrochener Kraft an seine Bestimmung glaubt, hat den Sieg verwirkt.“41 Die Perserkriege werden seit dem Generationswechsel auf den Lehrstühlen der Altertumswissenschaft um die Mitte der 1960er Jahre42 von der 37
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Appell des Reichsmarschalls an die Wehrmacht am 10. Jahrestag der Machtergreifung, in: Deutschland im Kampf, hg. von A. I. Berndt und H. von Wedel, Lfg. 1–116, Berlin 1939–1944, 78–94, Zitat 83. Vgl. Gehrke 2006, 13–29; Albertz 2006, 293–308. Albertz 2006, 329. Ebenso noch Hitler selbst bei seinem letzten Geburtstag, dem 20. April 1945, im Führerbunker zu seiner Entourage: Rebenich 2006, 207. Zynisch mag man an eine prognostische Erläuterung dieser Rezeption vom Katheder herunter denken, liest man mit Wiesehöfer 1992, 70 in Helmut Berves Spartabuch von 1937/1944/1966 zu Leonidas und den Thermopylen den Satz: „Wie die Größe, so lag auch die Wirkung der Tat gerade in ihrer Nutzlosigkeit“ (Berve, Leipzig 1944, 79). Albertz 2006, 330–344: Ausblick. Zwischen Rettung des Abendlandes und Vergessen: Die Schlacht an den Thermopylen nach dem Zweiten Weltkrieg; Zitat 331. Brief vom 19. 3. 1958 (meine Hervorhebung). Heise 1961, 6. Alle Belege bei Albertz 2006, 332–335. Zu dieser Periodisierung Cobet 2005, 14–105, hier 21.
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Forschung zunehmend nüchterner betrachtet.43 Gleichzeitig ging die Abendlandrhetorik zurück, die Schulcurricula und -bücher stellen aber die Perserkriege erwartungsgemäß weiter unter den Topos Freiheit vs. Knechtschaft. Im Griechenlandkapitel von Frédéric Delouches verdienstvollem „Europäischen Geschichtsbuch“ von 1992 schreibt die griechische Autorin zu Salamis: „Die Freiheit der Griechen war gerettet und Europa vorläufig einer asiatischen Vormacht entzogen.“44 Die Bundeszentrale für politische Bildung verteilt jetzt eine nüchterne „Europäische Geschichte“ von Manfred Mai, die sich an junge Leser wendet. Auch dort wird bei Marathon und Salamis „für Freiheit gegen Unterdrückung, […] für Europa gegen Asien“ gekämpft, dies wird allerdings deutlich als eine Perspektive – der Griechen, der Europäer – auf die Ereignisse formuliert.45 Die Arbeit der historischen Forschung46 vollzieht sich in den letzten Jahren auf zweierlei Wegen, 1) der stets erneuerten quellenkritischen Rekonstruktion der Ereignisse – das traditionelle Geschäft der Historiker seit dem 19. Jahrhundert – und 2) der in den letzten Jahren geradezu überbordenden Rezeptionsgeschichte:47 Diesen zweiten Faden habe ich bisher verfolgt unter der Frage, wie die Perserkriege in Anspruch genommen wurden für ein geschichtliches Subjekt Europa. Für einen Moment will ich den ersten Faden aufgreifen und ein paar Worte zu dem sagen, wie die Historiker heute die Ereignisse der Perserkriege ‚rekonstruieren‘.48 Die erste Feststellung besteht darin, dass die Quellen alle griechisch sind, ja, man muss sagen, vor allem aus athenischer Perspektive verfasst wurden, also aus dem Selbstbewusstsein der Macht, die Athen nach den Perserkriegen im sog. attisch-delischen Seebund über viele
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Kraft leitete 1964 seine „Bemerkungen zu den Perserkriegen“ ein: „Bekanntlich wurden die Perserkriege speziell von der deutschen Forschung des 19. Jh. in allzu enger Parallelisierung mit modernen Entwicklungen als Nationalkrieg der Griechen gegen die Perser gedeutet. Von dieser Auffassung hat man seit einigen Jahrzehnten mehr und mehr sich frei zu machen versucht.“ Wegweisend Walser 1959. Die Entwicklung eines politischen Freiheitsbegriffs gehört erst zur Verarbeitung des Sieges gegen die Perser, nicht zu dessen Voraussetzungen: Raaflaub 1985/ 2004, Kap. III.1. Europäisches Geschichtsbuch. Eine Initiative von Frédéric Delouche, Stuttgart 1992, 51. Europäische Geschichte. Erzählt von Manfred Mai. Mit einer kleinen Länderkunde der europäischen Staaten, München 2007; Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Bd. 622, Bonn 2007, 18. Jüngste Monographien: Blösel 2004; Cawkwell 2005; Cartledge 2006. Allein für unser Thema a) die ältere Generation: Wiesehöfer 1992; Flashar 1996; Gelzer 1997; Nouhaud 1997; Gehrke 2000; Hölkeskamp 2001. 2002; Rebenich 2002; Gehrke 2003; Hölkeskamp 2005; Rebenich 2006; Gehrke 2006; Cartledge 2006, 153–195. b) jetzt auch als Qualifikationsarbeiten: Jung 2006; Albertz 2006. Schuller 2002, 128f. resümiert die einschlägigen Forschungsfragen.
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Griechenstädte errungen hatte – mit der Legitimation, Griechenland gerade vor den Persern gerettet zu haben.49 Viele Städte und Landschaften hatten allerdings auf persischer Seite gestanden, andere hatten abgewartet, wer der Sieger sein würde, und der Historiker Thukydides lässt die Korinther später davon sprechen, die Polis Athen sei zum Tyrann über die Griechen geworden (1,124,3). Die Tribute, die Athen einforderte, folgten vielleicht sogar persischem Vorbild.50 Thukydides macht die Brutalität dieser Herrschaft im Melierdialog (5,84–114) überdeutlich. Auch versucht die Forschung, die persische Perspektive einzunehmen, obwohl erzählende Quellen von dieser Seite fehlen. So „war der Krieg in Europa nur einer unter vielen Konflikten am Rande ihres Reiches“.51 Die Perserkriege hatten 499 mit dem Ionischen Aufstand begonnen, an dessen Ende Milet 494 zerstört wurde. Kriegsgrund war nicht der Freiheitsdrang der Milesier und Ionier, sondern waren eher persönliche Interessen des Tyrannen Aristagoras von Milet und innere Interessengegensätze der ionischen Städte.52 Marathon war „das unrühmliche Ende einer ansonsten erfolgreichen Ägäisexpedition, sicher nicht der gescheiterte Auftakt eines persischen Versuches der Unterwerfung Griechenlands oder gar Europas“ – allerdings wichtig für „die Entstehung einer athenischen politischen Identität“.53 Salamis und Plataiai waren glänzende Siege über das Perserheer; sie sicherten Griechenlands außenpolitische Unabhängigkeit – „Athen stieg in ihrer Folge zur Hegemonialmacht in Griechenland auf“.54 Aber „daß [Xerxes bei der Sicherung des Reiches] im Ergebnis viel erfolgreicher war als uns die griechischen Zeugnisse glauben machen wollen, in denen er als intoleranter, einfallsloser und militärisch-politisch […] gescheiterter Despot erscheint, ist in den letzten Jahren deutlich herausgestellt worden“.55 Tragen wir schließlich ein paar Punkte zusammen, die eine Vorstellung davon vermitteln können, was ein persischer Sieg für die Griechen hätte bedeuten können. Die Blütezeit des archaischen Milet, Metropole für Kunst, Philosophie
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Detailliert Hölkeskamp 2001 und jetzt Jung 2006. Herodot 6,42. Wiesehöfer 1999, 35; Briant 2002, 875. Bruno Bleckmann im Oldenbourg Geschichte Lehrbuch Antike: Wirbelauer 2004, 30. Die aktuelle Autorität ist Briant 2002. Kap. 4 u. 12f. argumentiert er insbesondere gegen das von der griechischen Überlieferung inspirierte Bild einer Dekadenz der persischen Herrschaft seit und in der Folge der Niederlage gegen die Griechen. Vgl. Brosius 2006, 22–25 und 76–78. Briant 2002 bes. 150–152; Walter 1993. Einwirkende Faktoren der persischen Vorherrschaft behält mehr im Spiel Welwei 1999, 27–30. Wiesehöfer 1999, 31. Ebenda 34. Ebenda 32.
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und Handel in den Jahrzehnten vor dem Ionischen Aufstand,56 fällt in eine Zeit persischer Oberhoheit. Themistokles, Sieger von Salamis, endete als Herrscher griechischer Städte des persischen Kleinasien: die Grenzen zwischen den Kulturen waren nicht geschlossen. „Vielleicht wäre der Neubau des Parthenon durch eine Spende des Großkönigs ermöglicht worden, so wie auch der Tempel von Jerusalem im sechsten Jahre des Darius, 515 v. Chr., mit persischem Gelde wieder errichtet worden ist.“57 Im Alten Testament sind es die Perserkönige Kyros und Dareios, die die Juden aus der Babylonischen Gefangenschaft befreien, und wir verdanken es auf gewisse Weise persischem Herrschaftsinteresse, dass diese in der Tora ihre Gesetze kanonisierten. Wir dürfen uns also fragen, ob ein persischer Sieg die Griechen wirklich an der Entfaltung einer eigenen Kultur gehindert hätte.58 Nun also zurück zur Rezeptionsgeschichte. Sie führt zu einem letzten Schritt: Was sollen oder besser: wollen wir den Perserkriegen nun und künftig an Bedeutung abgewinnen? Vergewissern wir uns zunächst.59 Für wie gebrochen auch immer man die humanistische Tradition hält, die antike Tradition ist in den Gegenständen unserer Kultur auf alle möglichen Weisen gegenwärtig. Und das gilt nicht nur für Kunst, Literatur und Theater, ihre Stoffe wie ihre Formen. Die Grundlagen des Systems unserer wissenschaftlichen Disziplinen schuf Aristoteles. Das ganze Netz Wirklichkeit abstrahierender und transzendierender Begrifflichkeit in den modernen westlichen Sprachen steht bei allem Wandel in einer Kontinuität zur einschlägigen Sprache der alten Texte. Es bleibt am Anfang des kulturellen Gedächtnisses Europas der große Block der Alten Geschichte, verstanden als der Anfang unserer säkularen Kultur universalistischen Geltungsanspruchs, mit dem Anspruch allgemeiner d. h. globaler Geltung. Ein nicht klassizistisch verstellter Blick sieht auf einen komplexen historischen Prozess der Traditionsbildung; Homer und Herodot stehen dabei als Kürzel für eine Fülle ganz unterschiedlicher Texte, und das Alte Testament ist eine Sammlung in einem längeren historischen Prozess gestalteter Texte:
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Cobet u.a. 2007. Demandt 2001, 85. Wiesehöfer 2002, 225f. Cobet u.a. 2000.
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Homer Altes Testament Herodot Hellenismus Rom Christentum Renaissance Aufklärung usw.
Europäische Geschichte – dies eine selten bemerkte Banalität – ist nicht die Geschichte des geographischen Raumes Europa, sondern diejenige, die Europa als seine Geschichte erinnert. Der Alte Orient – Ägypten und Babylon – sind im europäischen Narrativ über das Alte Testament stets gegenwärtig geblieben; dass die Entzifferungen und Ausgrabungen seit dem 19. Jahrhundert unsere Quellen in einer den Zusammenhalt der Altertumswissenschaft zunehmend überdehnenden Weise vermehrten, ist auch ein Ausfluss dieser Tradition. Der Hellenismus bildet gleichsam ihren Angelpunkt. Zu einem so fokussierten Schulcurriculum lesen wir in dem gerade erschienenen UTB basics-Band „Alte Geschichte studieren“: „Der Vorteil gegenüber den traditionellen Curricula ist, dass sich nicht zu Beginn der historischen Zeit die Perserkriege in den Vordergrund schieben, und mit ihnen das Bild eines scheinbar grundsätzlich gegebenen Gegensatzes von Europa und Asien, von Griechen und Barbaren, von Freiheit und Despotie. Diese von Athen in der Zeit des Seebunds geförderten und politisch instrumentalisierten Zuschreibungen sind weder für die politische und kulturelle Geschichte der Antike insgesamt, noch für die antike Wahrnehmung repräsentativ“.60 Aber auch dann könnte man natürlich argumentieren: Die Bedeutung Alexandrias und des Hellenismus ist ohne die Kultur des klassischen Athen nicht denkbar, und dieses wiederum setzt Marathon und Salamis voraus.
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Blum/Wolters 2006, 24. Der Bezug ist Cobet 1995.
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Im Vorwort zu seinem neuen Buch von 2006, „Thermopylae“, mit dem dezidierten Untertitel „The battle that changed the world“, blickt Paul Cartledge zurück auf sein vorausgehendes Buch zu „the world-changing course of Alexander the Great“ (2004). Er spielt Perserkriege und Alexanderzug nicht gegeneinandner aus und macht zugleich aufmerksam auf den Hauch politischer Korrektheit, der die Versuche umweht, aus Furcht vor dem Vorwurf von Eurozentrismus und Orientalismus61 in der älteren der beiden Geschichten die Seite der Perser zu stärken und die Gefahren ihres Sieges für die griechische Seite zu mildern. „Trotz allem“, heißt es in Werner Dahlheims erfolgreichem Buch für eine posthumanistische Generation: „Die erfolgreiche Abwehr des persischen Angriffs veränderte die Welt. Ihre universalhistorische Bedeutung liegt in seinem ersten und wichtigsten Ergebnis offen zutage: der Größe Athens.“62 Auch Cartledge nimmt Hegel auf und formuliert selbst entschieden: „We professional historians are at least all agreed that […] Greece – Classical Greece – is one of the major taproots of our own Western civilization“. Dabei verschiebt er allerdings das Gewicht von der Wirkungs- auf die Rezeptionsgeschichte: „This is not so much in the sense that there is an unbroken continuity of direct inheritance, but rather in the sense that there has been a series of conscious choices made“ (S. XII).63 Greifen wir also noch einmal die schon öfter gestellte Frage auf: „Was wäre gewesen, wenn die Perser 480 v. Chr. […] die Flotte Athens bei Salamis geschlagen hätten?“ In diesen Satz aus der Einleitung eines erfolgreichen Buches mit dem Originaltitel „What if“, erschienen 1999, finden wir die Bewertung eingeschoben: „an dem wohl wichtigsten Tag in der Geschichte des Westens“. Victor David Hanson, Autor des entsprechenden Kapitels, Althistoriker und lautstarker politischer Essayist im heutigen Amerika, vergleicht darin Salamis mit Hiroshima 1945 und der Landung der Alliierten in der Normandie 1944. Salamis „erwies sich [für Asien] als die
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Edward W. Said, Orientalism. Western Conception of the Orient, London 1978. Dahlheim 2002, 178. In demselben Sinne Schuller 2004: „[…] das Fernhalten dieses orientalischen Großreichs aus Europa war eine welthistorische Tat“, weil erst durch die Perserkriege „und ihre Folge in Athen der erste Höhepunkt der europäischen Kunst, weil erst durch sie das Theater, die Geschichtsschreibung, ja sogar die voll ausgebaute Demokratie entstanden sind“ (69); ausführlicher ders.: Hauptstadt des Geistes. Der Althistoriker Wolfgang Schuller über den Aufstieg Athens zum kulturellen Zentrum der Antike, in: Der Spiegel 2006/48 (27. 11. 06), 198f. Vgl. Meier 1993 (wie Anm. 30). Cartledge 2006 aktualisiert die Reflexion über die Thermopylen als einer der „Westerners, post 9/11 [2001]“ mit der scharfen Frage, „whether any definition of our civilization and its cultural values would justify our dying for them, or even maybe killing for them – as the suicide hijackers […] clearly were“ (198f.).
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letzte Chance, die westliche Kultur im Keim zu ersticken“.64 Dazu formuliert er mit Hegel: „Niemals ist in der Geschichte die Überlegenheit der geistigen Kraft über die Masse […] in solchem Glanz erschienen“.65 Entspannter und auf der Höhe der kritischen Forschung wägt Alexander Demandt in seinem Büchlein „Ungeschehene Geschichte“ von 1984 verschiedene Denkmöglichkeiten ab:66 1. Angesichts der Widerstände an den Rändern des Perserreiches hätten die Griechen unter spartanischer Führung die Perserherrschaft bald wieder abgeschüttelt; diese Antwort auf die hypothetische Frage erscheint ihm die wahrscheinlichste. 2. erinnert er an John Stuart Mill und die lange Tradition seiner klassizistischen Perspektive: ohne Marathon und Salamis „keine Renaissance, kein Humanismus, keine Moderne“. 3. Ein persischer Sieg 480 hätte die Griechen vor der tyrannischen Herrschaft Athens und schließlich vor dem blutigen Peloponnesischen Krieg bewahrt. Auch „wäre denkbar, daß die Perser die Geistesfreiheit ebenso geschont hätten wie zuvor in den Griechenstädten Kleinasiens. […] Die schon vorher am Hofe der Perser starken griechischen Einflüsse hätten sich ungehindert entfalten können […]. Der Hellenismus hätte 150 Jahre früher begonnen.“ Schule ist der öffentliche Ort, wo Geschichte in einem parlamentarisch verantworteten, allerdings stark bürokratisch organisierten Prozess an die nächsten Generationen weitergegeben wird. Ihre Interpretationen verbinden mit der Vermittlung von vergangenen Ereignissen und Daten Auslegungen, die werthaltige Bedeutung zur Orientierung der Heranwachsenden einzuprägen geeignet sein sollen. Was Marathon und Salamis angeht, immer noch jedenfalls in den Schulbüchern – ob auch in der Praxis des Unterrichts, weiß ich nicht – Teil des eisernen Bestandes,67 haben wir mit dem Europabezug ein hoch aktuelles Element solcher Orientierung vor uns. Europa ist in der globalisierten Welt allerdings in vor ein, zwei Generationen nicht vorstellbarer Deutlichkeit zu einer partikularen Größe geworden.68 64 65 66 67
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Hanson 2000, 28–51, Zitat 28 u. 32. Ebenda 30. Zu Hegel vgl. Anm. 24. Demandt 2001, 83–85. Arand 2003 zitiert 181 aus dem Lehrplan Geschichte für die Sekundarstufe II Nordrheinwestfalen von 1999 zum ‚antiken Zeitfeld‘ den Vorschlag: „Das antike Griechenland – ein reales Ideal unserer politischen Kultur oder ein konstruiertes Ideal politisierender Historiker und historisierender Politiker? Die Bedeutung der Perserkriege für die Herausbildung des abendländischen Geschichtsbewusstseins.“ Als ein Desiderat formuliert Arand: „Jedes Thema also, das eine Dekonstruktion fertiger, klassischer Narrationen zuläßt, ist in der Oberstufe für die ‚Alte Geschichte‘ wünschenswert“ (183). Vgl. Untersuchungen wie Eckhardt Fuchs, Provincializing Europe, in: Across Cultural Borders. Historiography in global perspective, hg. von dems./ B. Stuchtey, Lanham, Maryland 2002, 1–26; Vinay Lal, Provcializing the West, in: Writing World History 1800–2000,
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Nun leben wir aber nicht mehr nur in einer globalisierten Welt (nicht Weltgesellschaft), aber Deutschland und viele Länder Europas sind neue Gesellschaften insofern, als wir zum Einwanderungsland wurden. Das klingt konkreter, wenn wir uns vor Augen halten, dass in jeder Schulklasse, nun auch in den Universitäten in jedem Proseminar der Geschichte Jugendliche und junge Erwachsene vor uns sitzen, in deren ‚Narrativ‘ ganz andere Daten als 490/480 eine Bedeutung haben. Wie gehen wir damit um? Wie sollen wir ihnen die Bedeutung dieser Daten erklären – zumal deren Bewertung selbst seine Eindeutigkeit verloren hat?69 Meine höchst akademische, also umständliche, ja verlegene Antwort lautet: Den Heranwachsenden ‚mit Migrationshintergrund‘ können wir Marathon und Salamis nur zusammen mit seiner europäischen Rezeptionsgeschichte und als Merkposten des europäischen Narrativs erklären, dessen Verbindlichkeit zu einem interessanten Streitpunkt geworden ist. Was für mich allerdings nicht zur Disposition steht, ist das Medium, sind die methodischen Mittel dieses Streits, wie sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als ein unverbrüchliches Element der europäischen (Geschichts-) Kultur ausgebildet wurden: der kritische Umgang mit der Überlieferung, also das Historisieren der Tradition, das schließlich die Perspektivität auch ihrer Rezeption erfasst hat.
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Alte Geschichte und Europa
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Justus Cobet
Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 431–449 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Wurde der Name der Alemannen doch schon 213 erwähnt?
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Wurde der Name der Alemannen doch schon 213 erwähnt? HELMUT CASTRITIUS / MATTHIAS SPRINGER
Im Jahre 1984 veröffentlichte Matthias Springer (M. S.) in den „Abhandlungen und Berichten des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden“ einen Aufsatz mit der Überschrift „Der Eintritt der Alemannen in die Weltgeschichte“.1 Seine Ergebnisse lassen sich in folgendem Satz zusammenfassen: Die Alemannen wurden zum ersten Mal am 21. April 289 erwähnt. Bis 1984 hatte unwidersprochen die Meinung gegolten, dass sie der römischen Welt seit 213 bekannt gewesen wären – so schlecht diese Ansicht auch begründet war. Aus dem angeblich 213 erfolgten Eintritt der Alemannen ins Licht der Überlieferung wurden äußerst weitreichende Schlüsse gezogen, zum Beispiel der: „Als höhere Organisationsformen bildeten sich spätestens seit dem 2. Jh. u. Z. die Stammesverbände heraus, die mit der Erwähnung der Alemannen im Jahre 213 erstmals schriftlich bezeugt sind.“2 Dieser Satz hatte M. S. zu der Frage veranlasst, wieso in jenem Jahr „die Stammesverbände … erstmals schriftlich bezeugt“ worden wären. Er fand darauf zwar keine Antwort, gelangte jedoch zu der Erkenntnis, dass 213 von den Alemannen ebenso wenig die Rede war wie von den Stammesverbänden.3 M. S.s Aufsatz, der also seit 1984 gedruckt vorlag, ließ sich in bibliographischen Werken nicht ermitteln. Er fehlt auch in den „Jahresberichten für deutsche Geschichte“, obwohl diese Bibliographie im Berliner AkademieVerlag herausgegeben wurde, wo auch die „Abhandlungen und Berichte des Staatlichen Museum für Völkerkunde Dresden“ erschienen. Die erste Bezugnahme auf M. S.s Darlegungen findet sich in Hagen Kellers 1989 veröffentlichtem Aufsatz „Alamannen und Schwaben nach den
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3
Springer 1984. Bruno Krüger, in: Die Germanen. Geschichte und Kultur der germanischen Stämme in Mitteleuropa, Bd. 1 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 4/1) (1. Aufl. Berlin 1976) 11. Zu diesen Gebilden siehe Springer 2006b.
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Schriftquellen des 3. bis 7. Jahrhunderts“.4 Und genannt wurde sein Beitrag auch in einigen Anmerkungen des Werkes „Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u. Z.“, das von 1988 bis 1992 erschien.5 Völlig unabhängig von M. S. war inzwischen Helmut Castritius (H. C.) zum selben Ergebnis gelangt;6 diese Meinung setzte sich auch weitgehend durch. Seit wenigen Jahren häufen sich allerdings die Versuche, der alten Ansicht wieder zur Geltung zu verhelfen, so unter anderem durch Rübekeil 2003.7 Rübekeil ist Sprachwissenschaftler. Er will „die Namen zur Überprüfung ethnischer Kategorien heran“ziehen und richtet an die Historiker die mahnenden Worte: „Erst die Kenntnis des wissenschaftlichen Instrumentars gibt verwertbare Antworten.“8 Wer wollte diesem Satz widersprechen? Nur muss ihn umgekehrt der Historiker auch an einen Sprachwissenschaftler richten dürfen, zum Beispiel dann, wenn es um die Quellenkritik geht. Es sei sogleich bemerkt, dass es Rübekeil nicht gelungen ist, neue Gründe dafür zu finden, dass die Alemannen bereits 213 genannt worden wären. Der Leser seiner Ausführungen muss aber den Eindruck gewinnen, dass M. S. und H. C. einige Sachverhalte nicht berücksichtigt hätten, von denen er spricht. Um diesen Eindruck zu beseitigen, bleibt nichts anderes übrig, als die Ergebnisse der Darlegungen aus dem Jahre 1984 zu wiederholen, sofern sie diese Sachverhalte betreffen. Die Begründungen werden dabei zum Teil erweitert. Bei anderen Punkten wird hingegen lediglich auf den Aufsatz M. S.s von 1984 verwiesen. Überhaupt nicht berücksichtigt werden im Folgenden die frühen tatsächlichen Belege des Alemannennamens, also die aus der Zeit von 289 bis zum Ende des 4. Jahrhunderts stammenden.9 Die alte Ansicht, dass die Alemannen 213 in Erscheinung getreten wären, geht davon aus, dass ihr Name in der „Römischen Geschichte“ des 4 5 6
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Keller 1989, 110–111. Griechische und lateinische Quellen, Bd. 3, 622f. u. 629. Castritius 1986; dieses Manuskript des Zwettler Symposions von 1986 „Typen der Ethnogenese“ lag den Teilnehmern bereits 1985 vor, auf dem Symposion selbst erhielt H. C. von Joachim Herrmann den Hinweis auf M. S.s Arbeit, konnte sie jedoch nicht bibliographisch erfassen und sie deshalb auch nicht in der Publikation des Zwettler Symposions 1990 berücksichtigen (Castritius 1990). Hierin zeigt sich die ganze Absurdität des deutsch-deutschen Wissenschaftsbetriebs, vgl. auch Castritius 1998, 353 Anm. 14. Die Nichtberücksichtigung der Bemerkungen Okamuras (Okamura 1984, bes. 122–124) geht auf das Konto der zeitlichen Koinzidenz. Rübekeil 2003. Leider hat Klaus-Peter Johne 2006 in dasselbe Horn gestoßen: Johne 2006, 257–261. Rübekeil 2003, 114 u. 115. Springer 1984, 113–130.
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Cassius Dio († um 235 n. Chr.) vorkäme. Dazu bemerkt Rübekeil: „Die entsprechenden Stellen sind allerdings nur in Bearbeitungen aus byzantinischer Zeit erhalten. Aus diesem Grund wird der Zeugniswert besagter Dio-Stelle bestritten, und so gilt heute als Erstbeleg des Alamannennamens ein panegyrisches Gedicht aus dem Jahre 289.“10 Damit der Irrtum nicht Wurzeln schlägt, sei darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Panegyricus von 289 um eine Rede, also um ein Prosawerk, handelt und nicht um ein Gedicht. Was nun Dios „Zeugniswert“ angeht, so wird er nicht deshalb bestritten, weil „die entsprechenden Stellen … nur in Bearbeitungen aus byzantinischer Zeit erhalten“ sind, sondern weil der Name der Alemannen bei Cassius Dio nirgendwo vorkommt – weder in den Teilen seiner Römischen Geschichte, die in ihrem Wortlaut vorliegen, noch in denen, die von der neuzeitlichen Wissenschaft erschlossen worden sind. Erhalten sind von Cassius Dios umfangreichem Werk lediglich die Bücher 36 bis 60 und in einer besonderen Überlieferung Teile der Bücher 77 und 78 (bei Boissevain 78 und 79; zu der unterschiedlichen Zählung siehe unten). Diese besondere Überlieferung liegt in einer Unzialhandschrift vor. Was wir von den anderen Büchern unter dem Namen des Cassius Dio lesen, ist nur bruchstückhaft auf uns gekommen, nämlich in Gestalt byzantinischer Auszüge, die vom 10. bis zum 12. Jahrhundert angefertigt worden sind. Von diesen Auszügen sind die Konstantinischen Exzerpte an erster Stelle zu erwähnen. Man nennt sie so, weil der byzantinische Kaiser Konstantin VII. „Porphyrogenitus“ († 959) sie hat herstellen lassen. Übrigens enthalten sie keineswegs bloß Auszüge aus Cassius Dio. Neben diese Sammlungen treten die Geschichtswerke des Xiphilinos (11. Jahrhundert) und des Zonaras (12. Jahrhundert). Beide Verfasser haben nämlich das Werk ihres Vorgängers aus dem 3. Jahrhundert entweder unmittelbar oder mittelbar ausgebeutet. Es leuchtet ein, dass die untergegangenen Abschnitte der „Römischen Geschichte“ des Cassius Dio nur als Trümmer wiedergewonnen werden können. Dabei geht es nicht allein um die Textherstellung, sondern auch um die Anordnung der Bruchstücke innerhalb der Bücher, ja sogar um die Verteilung der Auszüge auf die einzelnen Bücher. So hat U. Ph. Boissevain, dem wir die maßgebliche Ausgabe verdanken, die Einteilung der Bücher 61–80 gründlich verändert. Daraus folgt übrigens auch die unterschiedliche Bezeichnung der oben genannten Bücher 78
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Rübekeil 2003, 116 mit Anm. 8 (auch zum Folgenden).
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und 79 (statt 77 und 78). Boissevain druckte die einzelnen Auszüge in der Reihenfolge, die er als die richtige ansah, behielt jedoch die eingebürgerte Zählung bei. Folglich ist nach dieser zu zitieren. Diese Ausführungen sind wichtig, damit man nicht glaubt, dass sich die fraglichen Ereignisse in der Reihenfolge abgespielt hätten, in der wir sie in den Ausgaben des Cassius Dio lesen – unabhängig davon, ob wir der eingebürgerten Anordnung oder der Boissevains folgen. Wie der Herausgeber selber bemerkt hat, ist seine Einteilung zwar besser als die alte, aber keineswegs sicher.11 Besonders misslich ist jedoch der Sachverhalt, dass aus der Reihenfolge der Konstantinischen Exzerpte und dem Aufbau der Erzählung bei Zonaras und Xiphilin chronologische Schlüsse „nur mit einer Fehlergrenze von bis zu drei und mehr Jahren gezogen werden dürfen, eine Regel, die so gut wie ausnahmslos nicht befolgt wird …“, wie Eduard Schwartz schon 1899 festgestellt hat.12 Seinen Hinweis müssen wir uns merken. Zu den Konstantinischen Exzerpten gehören die Excerpta de sententiis. Diesen kommt in Bezug auf die Überlieferungsgeschichte des Alemannennamens besondere Bedeutung zu; denn als Boissevain im Jahre 1900 den dritten Band seiner Cassius Dio-Ausgabe veröffentlichte, hielt er #A (Alamannôn Gen.) für eine echte Lesart der Excerpta de sententiis und setze sie dementsprechend in den Text des Cassius Dio.13 Doch befand Boissevain sich hier im Irrtum, worauf er sechs Jahre später selber hingewiesen hat: 1906 gab er nämlich die Excerpta de sententiis als solche heraus. Zu diesem Zweck verglich er den Palimpsest, der sie überliefert, nochmals aufs genaueste. In seiner Vorrede zur Ausgabe der Excerpta de sententiis erklärte er dann ausdrücklich: „Wo die Auszüge aus Dio und Petrus von meiner Ausgabe abweichen , ist die neue Lesart maßgeblich.“14 Demnach muss der von Boissevain hergestellte Text des Cassius Dio an der betreffenden Stelle folgendermaßen lauten: #A « #A « … „Als Antoninus gegen die Albaner zog …“ Die Aussage bezieht sich auf den Kaiser Caracalla (reg. 211–217), der in den erzählenden Quellen #A «/Antoninus genannt werden konnte. Caracalla war sein Spitzname. Im Zusammenhang mit Caracalla war von Albanern bei Cassius Dio schon vorher die Rede: #A «/Albanùs (Akk.). Die betreffende Stelle 11 12 13
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Boissevain, in: Cassius Dio, Bd. 3, XI. Schwartz 1959, 399. Cassius Dio 77, 14, 2, hg. v. Boissevain, Bd. 3, 390; diese wichtige und unangreifbare Textkorrektur nicht berücksichtigt bei Castritius 1990, 73 Anm. 18. Boissevain, in: Excerpta de sententiis, VII, Anm. 2 (lat.).
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stammt aus den Excerpta de virtutibus et vitiis, die einen anderen Teil der Konstantinischen Exzerpte bilden. Boissevain hat hier #A«/Alamannùs in den Text gesetzt (77, 13, 4), wobei er sich auf die Lesart der Excerpta de sententiis berief, welche Lesart er im Jahre 1900 ja noch für echt hielt.15 Nachdem er sie 1906 selber als falsch erwiesen hatte, ist also sowohl hier (77, 13, 4) als auch 77, 14, 2 der Name der Albaner einzusetzen. Nun findet der Leser in Boissevains Ausgabe des Cassius Dio noch drei Stellen, wo ihm die Alemannen zu begegnen scheinen: Es handelt sich um 77, 13, 6; 77, 14, 2 und 77, 15, 2. 77, 13, 6 ist aus den Excerpta de virtutibus et vitiis übernommen. Dabei enthält die Angabe „77, 14, 2“ nicht etwa einen Druckfehler. Vielmehr hat Boissevain in diesem Paragraphen drei verschiedene Auszüge vereint: erstens denjenigen aus den Excerpta de sententiis, den wir vorhin behandelt haben, zweitens einen aus den Excerpta de virtutibus et vitiis und drittens einen aus dem Werk des Xiphilinos. 77, 15, 2 geht wiederum auf die Excerpta de virtutibus et vitiis zurück. Derjenige der unter 77, 14, 2 gedruckten drei Auszüge, der den Excerpta de virtutibus et vitiis entnommen ist, weist ebenso wie 77, 13, 6 die Lesart #A /Alambannôn (Gen.) auf. Mit einem Buchstaben weniger heißt es bei 77, 15, 2 #A /Alambanôn. Ein solches Wort kommt anderswo nicht vor. Da erlag man der Versuchung, es in *#A/*Alamannôn zu verschlimmbessern. Hier war Immanuel Bekker (1785–1871) in seiner Ausgabe des Cassius Dio mit schlechtem Beispiel vorangegangen. Boissevain ist ihm leider gefolgt. Wenn man schon die Alamban(n)oi durch einen bekannten Namen hätte ersetzen wollen, dann hätte sich viel eher Alban(n)oi angeboten, womit sich das in Alambannoi erhaltene und kaum zu athetierende - - eher erklären ließe. Auf jeden Fall ist der Name der Alemannen nur durch eine Konjektur in die Römische Geschichte des Cassius Dio geraten! Hätte Boissevain den Cassius Dio n a c h den Excerpta de sententiis herausgegeben (und nicht vorher), dann wäre er bei der Übernahme von Bekkers Konjektur wahrscheinlich vorsichtiger gewesen. Bei der Art von Textkritik, die zur Einschmuggelung der Alemannen ins Geschichtswerk des Cassius Dio führte, mag auf das hübsche Beispiel hingewiesen werden, an das Sengebusch 1880 in seiner Vorrede zu Papes Griechisch-Deutschem Wörterbuch erinnert hat: „Ich will hier ein warnendes Stücklein von jemandem erzählen, welcher eine neue Auflage eines geschichtlichen Werkes über einen Krieg des 18. Jahrhunderts besorgte. Dieses Buch sagte irgendwo in dem Bericht über eine Belagerung, seit der Belage-
15
Cassius Dio 77, 13, 4, hg. v. Boissevain, Bd. 3, 388. Siehe auch den textkritischen Apparat.
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rung von Alexia habe man dergleichen nicht gesehn. ‚Alexia, – Alexia‘, sprach der Herausgeber bei sich, ‚hm, das ist doch offenbar verkehrt; das – das muß Alexandria heißen.‘ Sprachs und schrieb und ließ den Verfasser sagen, seit der Belagerung von Alexandria habe man dergleichen nicht gesehn. Vor solchen Alexia-Besserungen habe ich mich möglichst zu hüten versucht und habe lieber etwas stehen lassen, was mir unrichtig zu sein schien, als durch Ausstreichen die Spur des vom Verfasser Beabsichtigten verwischt.“16 Zur Erläuterung des lustigen Missgriffs, der den Leser nach Ägypten führte, sei bemerkt, dass mit „Alexia“ der gallische Ort Alesia gemeint war, den Caesar im Jahre 52 v. Chr. eroberte und zerstörte. Die vorausgegangene Belagerung galt als eine der bemerkenswertesten Leistungen der Kriegsgeschichte. Als der unglückliche Herausgeber das bedeutsame Ereignis nach Alexandria verlegte, stand er möglicherweise unter dem Eindruck der Tatsache, dass Caesar ja auch in der ägyptischen Stadt in Kriegshändel verstrickt wurde. Wenn die Überlieferung über den berühmtesten Römer ebenso dürftig wäre wie die übers dritte Jahrhundert, erschiene heutigen Historikern die Erzählung von der Belagerung „Alexias“ vielleicht als Zeugnis für Caesars Taten in Ägypten; und wir würden belehrt, dass er Alexandria belagert hätte, während er selbst in Wirklichkeit in der Burg dieser Stadt belagert wurde: Wegen einer falschen Lesart hätte sich der geschichtliche Zusammenhang in sein Gegenteil verkehrt. So lernen wir, dass man rätselhafte und sonst nicht bezeugte Namen lieber stehen lassen soll, als an ihnen herumzubessern. Nun schreibt Rübekeil, dass man nur den Buchstaben weglassen müsse, um die Alambanni zu Alamannoi zu machen.17 Wenn diese Vorgehensweise Schule machen sollte, könnten wir die gesamte Namenkunde an den Nagel hängen. So brauchen wir nur einen Buchstaben zu verändern, um die Remer (ein gallisches Volk) in Römer zu verwandeln oder die jütische Halbinsel in eine jüdische. Ein weiteres Beispiel wollen wir aus Cassius Dio selber nehmen: Unser Geschichtsschreiber erwähnt die „Maiaten“: M/Maiátai. Die „Maiaten“ und die Kaledonen hätten die beiden Hauptvölker Britanniens gebildet. Alle anderen Bewohner der Insel wären unter diesen beiden Namen zu erfassen gewesen.18 Die Stelle ist bei Xiphilinos überliefert. 16
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Dr. W. Papes Griechisch-deutsches Wörterbuch, Bd. 1, 3. Auflage bearbeitet von M. Sengebusch (6. Abdruck Braunschweig 1914) XIII. Rübekeil 2003, 116 Anm. 8. Cassius Dio, 76, 12, 1, hg. v. Boissevain, Bd. 3, 366; ferner 75, 5, Bd. 3, 346: M«/Maiátais (Dat. pl.); ΖΕ, Β, , Bd. 3, ΖΑ: M/Maiatôn (Gen. pl.). Hinzu kommt 76, 11, 1, Bd. 3, 366, Anm.: M«/Maiátas (Akk. plur.). Im Unterschied zu den anderen Stellen stammt diese aus der Exzerptensammlung eines unbekannten Verfassers (und nicht aus Xiphilinos).
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Dieselbe Aussage findet sich im 6. Jahrhundert bei Jordanes: Cunctos tamen in Caledoniorum Meatarumque concessisse nomina Dio auctor est celeberrimus scriptor annalium.19 Jordanes (oder sein Gewährsmann Cassiodor) hat nicht etwa die „Römische Geschichte“ des Griechen Cassius Dio in der Hand gehabt, sondern dürfte den „Dio“ für einen Verfasser lateinischer Annalen gehalten zu haben. Das heißt, Jordanes verdankte die Nachricht einem lateinischen Zwischenglied. Nun werden die „Maiaten“ oder „Maeaten“ anderswo nicht erwähnt. Sie bilden also eine genauso befremdliche Erscheinung wie die „Alambanner“. Im Grunde sind sie noch absonderlicher, denn Cassius Dio sprach ihnen ja die Rolle zu, eines der zwei britischen Hauptvölker zu sein. In dieser Eigenschaft hätten sie doch wohl öfter hervortreten müssen. Da hätte es eigentlich nahegelegen, mit ihrem Namen ebenso umzugehen wie mit dem der Alambanner: Man hätte bloß M/Maiátai zu M/Maiôtai „berichtigen“ müssen, und schon hätte man den vielgenannten Namen Maioten oder Maeoten erhalten. Allerdings wäre man dann am Asowschen Meer angekommen. Da Cassius Dio die Maiaten jedoch eindeutig nach Britannien verlegt, ließ man ihren Namen lieber stehen. Bei den Alambannern hatte man solche Hemmungen nicht. Man machte aus ihnen Alemannen, weil man dachte, dass die Vorgänge, in deren Zusammenhang der rätselhafte Name vorkommt, sich während des Feldzuges abgespielt hätten, den Caracalla 213 gegen Germanen führte. In Wirklichkeit gehören die Ereignisse in den Osten des Römischen Reichs. Oben hat uns Eduard Schwartz gelehrt, dass die größte erreichbare Genauigkeit, die bei der zeitlichen Zuordnung der Bruchstücke des Cassius Dio zu erreichen ist, drei Jahre beträgt. Caracalla regierte von 211 bis 217. Die Handlungsfreiheit, Rom zu verlassen, erlangte er, nachdem er seinen Bruder Geta hatte ermorden lassen. Die Untat geschah im Dezember 211 (oder gar erst im Februar 212).20 Es bleiben also fünf Jahre, auf die wir die Nachrichten des Cassius Dio über Caracallas Regierung verteilen können. Bei einem Fehlerbereich von mindestens drei Jahren dürfte die Zuordnung der Ereignisse einigermaßen unsicher sein. Das heißt, die Bruchstücke der „Römischen Geschichte“ des Cassius Dio müssen nach den Angaben der einschlägigen anderen Quellen zeitlich eingeordnet werden – und nicht nach einem vorgefassten Zeitgerüst. Dazu gleich mehr. Zuvor aber noch etwas zur Behandlung von Namen:
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Iordanes 1991, 7f. Bei Cassius Dio, hg. v. Boissevain, Bd. 3, 366, Anm. mit abweichenden Lesarten. Kienast 1996, 166.
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Im Zusammenhang mit der Textverderbnis, aus der die angeblichen Nennungen der Alemannen hervorgegangen sind, ist auf Folgendes hinzuweisen: Die Unzialhandschrift, die Teile des 78. Buchs überliefert (nach Boissevain also des 79. Buchs) hat an einer Stelle die Lesart A/ALBINIOI. Offensichtlich ist Albanioi in den Text zu setzen, was Boissevain unter Berufung auf Falcone (Falconius) getan hat. Die Träger des Namens bildeten jedoch kein Volk, sondern waren die Angehörigen der Legio II Parthica, die ihr Lager auf dem Mons Albanus hatte, also nicht weit von Rom. Von diesem Standort hatten die betreffenden Soldaten ihre Bezeichnung.21 Nun aber zur Regierung des Caracalla: Dass der Kaiser 213 einen Feldzug nach Germanien unternommen hat, wissen wir aus Inschriften. Sie unterrichten uns sogar genau über die Dauer des Unternehmens: Am 11. August 213 war der Kaiser „im Begriff, die rätische Reichsgrenze zu überschreiten, um ins Barbarenland zu ziehen und die Feinde zu vernichten“ (per limitem Raetiae ad hostes extirpandos barbarorum terram introiturus est). Am 6. Oktober 213 wurde in Rom Caracallas „Germanensieg“ (victoria Germanica) gefeiert.22 Das heißt, der Feldzug war beendet.23 Er hatte keine zwei Monate gedauert. Der Erfolg brachte dem Kaiser den Siegernamen Germanicus ein. Wenn Caracalla gewusst hätte, dass seine Feinde die Alemannen gewesen wären, hätte er sich *Alamannicus nennen können. Das hat er aber nicht getan. Dem Kaiser und seinen Zeitgenossen waren demnach die Alemannen unbekannt. Ihr Name kommt weder in den zeitgenössischen Inschriften noch auf den damaligen Münzen vor. Ebenso fehlt er im Werk des griechischen Geschichtsschreibers Herodian († nach 238), obwohl dieser Verfasser auf Caracallas Taten an der Donau und seine Beziehungen zu den Germanoí eingeht. Caracallas Vorstoß über die rätische Grenze war überhaupt von geringer Bedeutung, was bereits aus der Kürze des Unternehmens hervorgeht. Bis ins 19. Jahrhundert wusste man das. Erst danach hat die Forschung vermittels umfangreicher Kettenschlüsse den Zug des Kaisers zu einem gewaltigen Unternehmen aufgewertet.24 Es ist vielmehr so, dass die von Cassius Dio herrührenden Auszüge, die man auf diesen Feldzug Caracallas bezogen hat, in Wirklichkeit über Taten oder Untaten des Kaisers in Asien und Ägypten berichten. 21 22
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Cassius Dio 78, 34, 5, hg. v. Boissevain, Bd. 3, 443, Z. 5 u. Anm. Springer 1984, S. 106 f. In der Inschrift vom 6. Oktober 213 heißt es natürlich ob salutem victoriamque Germanicam. Mein damaliges Zitat enthielt einen Druckfehler. A. R. Birley, Caracalla. In: Der Neue Pauly, Bd. 2, 1997, Sp. 981 meint sogar, dass die victoria Germanica schon „Ende September“ 213 gefeiert worden sei. Zur Auseinandersetzung mit diesen Ansichten siehe Springer 1984, 107f.
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Bei Cassius Dio 77, 13, 4f. werden nämlich Begebenheiten geschildert, die sich nach Herodian in Ägypten abgespielt haben, worauf schon 1906 hingewiesen worden ist.25 Die fraglichen anderen Stellen des Cassius Dio beziehen sich auf Asien und nicht auf Europa. Zu „77, 14, 2“ (richtig: 77, 14, 1) schreibt Rübekeil: „Die Erwähnung der Osrhoener ist kein Grund, die Szene in den Orient zu verlegen, da osrhoenische Einheiten auch in Germanien eingesetzt worden sind.“26 Wie aber Carcopino schon 1925 nachgewiesen hat, sind osrhoënische Hilfstruppen in Europa frühestens unter Alexander Severus (222–235) eingesetzt worden. Der betreffende Aufsatz ist bei M. S. zitiert27 und hätte unbedingt zur Kenntnis genommen werden müssen. Übrigens erwecken Rübekeils weitere Ausführungen in der genannten Anmerkung den befremdlichen Eindruck, als ob er Cassius Dio als die Vorlage der Inschrift CIL 6, 2086 ansähe. Man könnte geradezu behaupten, dass die bloße Nennung von Osrhoënern als römischen Hilfstruppen genüge, um den Zusammenhang der Exzerpte 77, 14, 1–2 mit Caracallas Feldzug von 213 auszuschließen. Doch sprechen noch andere Gründe für eben diesen Schluss: Die bei Cassius Dio 77, 14, 1 genannten osrhoënischen Truppen kämpften gegen „Kennen“ (K/Kénnoi). So jedenfalls heißen diese Leute bei Xiphilinos, in dessen Werk die Mitteilung steht. Der sonderbare Name „Kennen“ kommt sonst nur noch in einer der Handschriften vor, die den Text des Geschichtsschreibers Florus überliefern, hier natürlich in der lateinischen Form Cenni. Aus dieser Textfassung hat Jordanes die Bezeichnung übernommen.28 Sonst werden „Kennen“ nicht genannt (wiederum mit der Einschränkung, dass es in diesem Zusammenhang belanglos ist, was die hoch- und spätmittelalterlichen Nutzer des Jordanes einfach in ihre Schriften übernommen haben). Bei Xiphilinos ist der Name der Kennen mit der Erläuterung keltikòn éthnos versehen, was nach unserer Begriffsbildung als „ein germanisches Volk“ wiederzugeben wäre. Bei dieser Erläuterung handelt es sich vermutlich um eine in den Text eingedrungene Randglosse. Wenn die „Kennen“ Leute gewesen wären, von denen Cassius Dio im Zusammenhang mit Caracallas Zug nach Germanien gesprochen hätte, wäre die Hinzufügung überflüssig gewesen, dass es sich bei ihnen um ein germanisches Volk gehandelt habe,
25 26 27 28
Springer 1984, 103 mit Verweis auf die Arbeit von M. Bang. In: Hermes 41 (1906) 623–629. Rübekeil 2003, 116 Anm. 8. Springer 1984, 104. Springer 1984, 103f.
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denn die Bewohner Germaniens waren nun einmal Germanen – in der Ausdrucksweise des Cassius Dio also keltikà éthn¯e. Bei dem aus Xiphilinos stammenden Exzerpt, das unter Cassius Dio 77, 14, 2 eingereiht wird, ist
/Germaníkeian (Akk.) zu lesen.29 Der dionische Urtext scheint besagt zu haben, dass Caracalla sich am Ende eines Feldzugs nach Germanikeia/Germanikia zurückgezogen habe. Diese Stadt lag in der Landschaft Kommagene, die zur Provinz Syrien gehörte. An sie grenzte das Land Osrhoëne mit seiner Hauptstadt Edessa, in der Caracalla während des Winters 216/17 weilte. 50 km weiter südlich, nämlich bei Carrhae, wurde er 217 ermordet.30 Unmittelbar auf die Schilderung von Caracallas Ende folgt bei Xiphilinos die Mitteilung, dass der Kaiser sich mit „Skythen“ und Germanen (K «/Keltoús [Akk.]) umgeben hatte (Cassius Dio 78, 6, 1).31 Das heißt, von Germanen konnte auch außerhalb Germaniens die Rede sein. Die Bemerkung ist nötig, denn manche der einschlägigen Darstellungen erwecken den Eindruck, als ob Germanen nur in Germanien vorkämen. Wenn aber der König Herodes über eine germanische Leibwache verfügte, folgt daraus nicht, dass er in Germanien regiert hätte. Unsinn ergeben jedenfalls die Lesart /Germanían (Akk.) und der daraus folgende Schluss, Caracalla habe sich „nach Germanien“ zurückgezogen (Cassius Dio 77, 14, 2). Da der Kaiser 213 in Germanien Krieg führte, kann er sich nicht „nach Germanien“ zurückgezogen haben. Xiphilinos erzählte von den gefangenen Frauen der „Kennen“, dass sie den Tod der Sklaverei vorgezogen hätten. Eben dieses heldenmütige Verhalten hätten nach den Excerpta de sententiis die Frauen der „Alambanner“ und nach den Excerpta de virtutibus et vitiis die Frauen der Chatten und der „Alambanner“ gezeigt. Alle drei Mitteilungen sind in der Ausgabe des Cassius Dio unter 77, 14, 2 vereint. Die schwankenden Lesarten – einerseits „Kennen“, andererseits „Chatten“ – lassen den Schluss zu, dass der Text des Cassius Dio an der betreffenden Stelle schon verderbt war, als die Auszüge angefertigt wurden. In den erhaltenen Teilen der „Römischen Geschichte“ jedenfalls kommen die Chatten mehrmals vor.32 So lag es nahe, dass einer der Mitarbeiter Konstantins VII. ihren Namen an die Stelle eines unleserlichen oder unerklärlichen Wortes setzte. Was die angebliche Nennung des Namens der Alemannen angeht, die von Agathias (6. Jahrhundert) dem Asinius Quadratus (3. Jshrhundert) zu29 30 31 32
Springer 1984, 105. Kienast 1996, 163. Cassius Dio, hg. v. Boissevain, Bd. 3, 408 f. Cassius Dio, hg. v. Boissevain, Bd. 4, 140 (Verweise).
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geschrieben wird, so wurde bereits ausreichend dargelegt, dass Agathias sie aus einem Sammelwerk übernommen hat, in dem der betreffende Vermerk irrtümlich unter dem Namen des Asinius erschien.33 Warum Aurelius Victor in den sechziger Jahren des 4. Jahrhunderts dazu kam, dem Kaiser Caracalla einen Vernichtungssieg über die Alemannen „am Main“ zuzuschreiben, muss hier nicht wiederholt werden.34 Auf jeden Fall bleibt die Unmöglichkeit, dass Caracalla zwischen dem August und dem Oktober 213 von der rätischen Reichsgrenze an den Main (und anscheinend wieder zurück) marschiert wäre. Enmann hatte bereits 1883 darauf hingewiesen, dass dieser angebliche Alemannensieg nirgendwo sonst als bei Aurelius Victor erwähnt wird.35 Wer Victors Nachricht für glaubwürdig hält, trägt nach den Regeln der historischen Kritik die Beweislast und muss darlegen, warum die anderen Quellen, vor allem die des 3. Jahrhunderts, von Caracallas Sieg an den Ufern des Mains keine Kenntnis haben. Es sei daran erinnert, dass Aurelius Victor keine Sonderstellung einnahm, wenn er Völkernamen in eine Zeit verlegte, der diese Namen noch unbekannt waren.36 Es bleibt Rübekeils Geheimnis, wie er zu der Behauptung kommt, dass Aurelius Victor den Cassius Dio „als Hauptquelle für Caracallas Alemannenkriege benutzt“ hätte.37 Die Mitteilung des lateinischen Geschichtsschreibers über Caracallas Alemannensieg beschränkt sich auf einen Satz mit genau elf Wörtern. Daraus macht Rübekeil gleich Kriege in der Mehrzahl. Obendrein muss man ihn so verstehen, dass bei Cassius Dio der Main genannt worden wäre. Aber der Fluss kommt in griechischen Quellen überhaupt nicht vor.38 Man staunt, warum Rübekeil sich mit einem solchem Eifer auf ein Gebiet geworfen hat, das mit der Etymologie nichts zu tun hat: Er tat das, um seine Ableitung des Namens der Alemannen auch mit außersprachlichen Dingen zu rechtfertigen. Den Namen bringt er mit der Mannus-Überlieferung zusammen, wie sie bei Tacitus steht, und die Namenträger mit den Sueben: Die „Alamanni“ hätten „die Tradition der uns nur unter dem Namen Suebi bekannten *Manni“ fortgesetzt. „Wenn man sich der ethnozentrischen Mannus-Tradition … zuordnen wollte, so geschah das … unter dem Namen … Suebi. Wir beobachten das … noch im 3. Jahrhundert. Cassius Dio kennt einen engeren und einen weiteren Suebenbegriff … Zwar datiert 33 34 35 36 37 38
Springer 1984, 122–127. Springer 1984, 108–111. Enmann, 372. Dazu Springer 2006 (Völker- und Stammesnamen). Rübekeil, 118. Castritius 2001 (Main), 176.
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der historische Kontext ins Jahr 29 vor unserer Zeit, aber die ethnographische Notiz entspringt durchaus Dios eigenem Horizont, das heißt, Caracallas Alamannenkriegen. Besagte Zuordnung lokalisiert Dio in der Nähe des Rheins …“39 Caracalla hat am Rhein keinen Krieg (und erst recht nicht mehrere Kriege) geführt. Sein Germanenfeldzug ging von der Donau aus. Auch wenn jenseits der Grenzen der Provinz Rätien zum Jahre 213 Alemannen erwähnt worden wären, blieben Rübekeils Äußerungen über den rheinischen Gegenwartshorizont des Cassius Dio unhaltbar. Über die Etymologie des Wortes Alemannen haben wir nicht zu sprechen. Wir möchten aber etwas zur Verwendung des Namens sagen: Es lässt sich nicht nachweisen, dass im germanischen Munde Alemannen jemals als Selbstbezeichnung eines Volkes oder Stammes gebraucht worden wäre. Die altgermanischen Entsprechung des Wortes Alemannen ist anscheinend nicht über eine Verwendung hinausgekommen, wie sie später bei dem Wort Wikinger zu beobachten ist. Als Volks- oder Stammesname blieb der Name Sueben > nhd. Schwaben in dauerndem Gebrauch. Im romanischen Munde ist dagegen die Entsprechung des Wortes Alemannen zum Völker- und Stammesnamen aufgestiegen, zunächst als Bezeichnung der Schwaben. Wie Walafrid Strabo († 849) ausdrücklich feststellte, bezeichneten beide Namen dasselbe Volk (gens). Die romanischen Nachbarn (gentes, quae Latinum habent sermonem) redeten von Alamanni und vom Land Alamannia; aber im germanischen Sprachgebrauch (usus barbarorum) heißen „wir Sueui und das Land Suevia“, sagte der Schwabe Walafrid.40 Wie er sich die Entstehung dieses Zustands erklärte, braucht uns nicht zu beschäftigen. Usus barbarorum ist keineswegs abwertend gemeint. Die Wortwahl ergab sich daraus, dass die Menschen des Frühmittelalters Schwierigkeiten hatten, ihre jeweilige Muttersprache mit einem Namen zu versehen. Wenn hier die Wörter romanisch und germanisch verwendet werden, wird damit Walafrid und seinen Zeitgenossen jedoch keineswegs unterstellt, dass sie über die Begriffe des Romanischen und des Germanischen verfügt hätten. Im Unterschied zu Rübekeil geht es Johne bei seinem Bemühen, die Alemannen zu 213 nachzuweisen, um Folgendes: Caracallas damaliger Feldzug sei darauf zurückzuführen, dass „die militärische Demonstration des Kaisers … sich gegen ein neues, von den Römern als gefährlich eingestuftes Kräftepotential im Vorfeld des Limes gerichtet haben“ müsse … „In diesen Gegnern wird man die Alamannen zu sehen haben.“41 Die Meinung, 213 sei 39 40 41
Rübekeil, 138. Walafrid, Vita Galli, Prologus, in: MGH SS rer. Merov., Bd. 4, 282 u. 280. Johne, 259.
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der Limes bedroht gewesen, hat aber überhaupt keine Grundlagen. Zu dieser Einsicht war Hans Zeiß bereits 1940 gekommen (Zeiß unterstützte Ludwig Schmidt damals bei der Überarbeitung seines Werkes „Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung“.).42 Die Vorstellung, im Jahre 213 sei der Limes ernsthaft bedroht gewesen, beruht letztendlich einerseits auf dem Glauben, dass die Römer nur dann Krieg geführt hätten, wenn sie ihre Grenzen hätten verteidigen müssen, und andererseits auf der heute weitgehend aufgegebenen Auffassung, die Stammesbildung der Alemannen sei bereits im Vorfeld des Limes erfolgt und damals bereits abgeschlossen gewesen (s. u.). Mit den Ereignissen des Jahres 213 und auf diese Weise mit den Alemannen hat man auch eine weitere Nachricht aus den Excerpta de virtutibus et vitiis in Verbindung gebracht, weil diese in dieser Sammlung unmittelbar auf die Geschichte von den heldenmütigen Frauen der „Chatten und Alambanner“ folgt.43 Wir lassen den betreffenden Auszug in der Übersetzung von Otto Veh folgen: „Auch viele der unmittelbar am Ozean rings um die Elbemündungen wohnenden Völkerschaften schickten Gesandtschaften an ihn und baten um seine Freundschaft, in Wirklichkeit aber wollten sie nur Geld von ihm erhalten; hatte er nämlich ihren Wunsch erfüllt, so griffen ihn viele unter Kriegsdrohungen an, und doch kam er mit allen zu friedlichen Abkommen. Denn selbst wenn die vorgeschlagenen Bedingungen ihren Absichten nicht entsprachen, so ließen sie sich doch angesichts der Goldstücke fesseln.“44 So weit entspricht die Übersetzung der griechischen Vorlage. Dann geschieht aber etwas Schlimmes: Veh fügt den Namen „Antoninus“ ein, obwohl im gesamten Exzerpt gar kein Personenname vorkommt. Richtig müsste die Übersetzung weiter lauten: „Er schenkte ihnen vollwertige Münzen, während er für die Römer nur verfälschtes Silber und Gold zur Verfügung hatte …“ Das heißt, man weiß nicht, auf welchen Kaiser sich die Erzählung im Urtext bezogen hat. Freilich haben bereits die Mitarbeiter Konstantins VII., die das betreffende Exzerpt anfertigten, die Nachricht mit Caracalla verbunden. Sonst wäre sie nicht an der betreffenden Stelle eingereiht worden. Daraus folgt aber nicht, dass die Mitteilung einen Bezug zum Bericht des vorhergehen42
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Sächsische Landesbibliothek. Staats- und Universitätsbibliothek. Msc. Dresd. App. 530, 116 (Zeiß brieflich am 1. März 1940 an Schmidt). Excerpta de virtutibus et vitiis, Nr. 378, Bd. 2, 395. Cassius Dio, 77, 14, 3 hg. v. Boissevain, Bd. 3, 391. Cassius Dio, übersetzt v. O. Veh, Bd. 5, 401. Übrigens müsste es wohl „rings um die Elbmündung“ heißen. Im griechischen Text steht zwar die Mehrzahl «/ekbolàs (Akk.), doch wird das Wort bei Cassius Dio bzw. in den Auszügen öfter wie ein plurale tantum gebraucht. Siehe den Index graecitatis (= Cassius Dio, hg. v. Boissevain, Bd. 5), 243f.
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den Exzerpts gehabt hätte, also dem von den heldenmütigen Frauen. Sie steht vielmehr im Zusammenhang mit den folgenden zwei Exzerpten, die den Umgang des Kaisers mit dem Geld behandeln oder zumindest darauf eingehen.45 Nun steht eines fest: Germanen, die an der Elbmündung zu Hause waren, können den Kaiser Caracalla 213 oder später nicht „angegriffen haben“, wie es in dem Exzerpt heißt. Die Unmöglichkeit bleibt auch dann bestehen, wenn man !"$ /epéthento als „ihm zusetzen“, „ihn bedrängen“ auffasst. Wo soll denn dieser persönliche Verkehr stattgefunden haben (der doch etwas anderes war als das vorherige Eintreffen von Abgesandten)? An der Donau oder in Rom? Oder gar im Osten des Reichs? Wenn sich die Nachricht in ihrer ursprünglichen Gestalt wirklich auf Caracalla bezog, kann sie nur die ersten Monate seiner Regierung betreffen (oder seine Wirksamkeit zu Lebzeiten seines Vaters Septimius Severus). Dieser verstarb am 4. Februar 211 in York. Seit 208 hatte sich die gesamte kaiserliche Familie, also auch Caracalla, in Britannien befunden. Hier auf der Insel oder unmittelbar nach der Rückkehr aufs Festland, das heißt in Gallien, mag der junge Kaiser tatsächlich mit Germanen von der Elbmündung in Berührung gekommen sein – was immerhin ein bemerkenswerter Sachverhalt wäre. Jedenfalls wird man den Verdacht nicht los, dass das Exzerpt, das die Leute von der Elbmündung erwähnt, erst im 10. Jahrhundert auf Caracalla bezogen worden ist. Es sei angemerkt, dass die Leute von der Elbmündung keinen Namen erhalten. Ebenso wenig kommen im griechischen Text Wörter vor, die als „Völkerschaften“ oder „Stämme“ wiederzugeben wären. Wer glaubt, dass Caracallas Auftreten in Süddeutschland die Bewohner der Nordseeküste zu einem Angriff auf den Kaiser veranlasst hätte, setzt eine politische Einheit Germaniens voraus, die erst Karl der Große hergestellt hat. Übrigens ist nicht auszuschließen, dass unter den merowingischen Königen zeitweise ein ähnlicher politischer Zustand eingetreten war wie um 800. Im Jahre 213 war davon jedoch noch nichts zu spüren. Die Leute von der Elbmündung hatten nichts mit Caracallas Feldzug nach Süddeutschland zu tun. Bleckmanns 2002 erschienener Aufsatz könnte den Eindruck erwecken, als sei das für die Ersterwähnung der Alemannen einschlägige Quellenmaterial jedenfalls nicht komplett einer genuin althistorischen Methodik unterworfen worden. So bricht er eine Lanze für die Aussagekraft und Wichtigkeit der lateinischen Historiographie des 4. Jahrhunderts für die Er45
Excerpta de virtutibus et vitiis, Nr. 379 f., Bd. 2, 395. Cassius Dio, 77, 14, 4–15, 2, hg. v. Boissevain, Bd. 3, 391.
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eignisse und Verhältnisse des frühen 3. Jahrhunderts und merkt vor allem kritisch an, dass bisher unberücksichtigt geblieben sei, dass in einem Fall der verlorene Originaltext so rekonstruiert werden könne, dass darin das dionische Urbild mindestens erkennbar sei.46 Es handelt sich um die Passage Cassius Dio 77, 14, 1–3, in der über Sterben bzw. Selbsttötung tapferer Frauen eines Volkes berichtet wird, ein Sachverhalt allerdings, der nicht so einmalig war, dass man ihn unbedingt auf dasselbe Ereignis beziehen müsste (wenn man ihn nicht sogleich für ein Wandermotiv hält). Das dionische Urbild hinter den „drei v o n e i n a n d e r u n a b h ä n g i g e n byzantinische Exzerptoren“47 zu erkennen, bereitet Bleckmann wohl deshalb keine Schwierigkeit, weil er die Namen für geringfügig (!) korrumpiert hält und für die in den Exzerpten überlieferten Namen Kennoi (Xiphilinos), Alambannoi (Excerpta de virtutibus et vitiis), Albannoi (Excerpta de sententiis= Petros Patrikios) einen eindeutig germanischen Kontext unterstellt. Die stärkere (sic!) Entstellung – Kennoi statt Alamannoi – erklärt Bleckmann mit dem längeren Überlieferungsweg bis Xiphilinos (2. Hälfte des 11. Jahrhunderts) und der Benutzung einer Minuskelhandschrift des Dio-Texts, in der vom ursprünglichen Alemannennamen lediglich noch ein -- übrig geblieben sei.48 Es ist zweifellos davon auszugehen, dass sich der Text des Cassius Dio bereits in frühbyzantinischer Zeit in einem sehr schlechten Zustand befand und dass bereits damals mehrere Bücher verloren gegangen waren.49 Das rechtfertigt aber in keiner Weise, Kennen (Kennoi) etwa durch einen anderen, bekannten Namen zu ersetzen bzw. in ihm den Alemannennamen erkennen zu wollen. Hier verbietet sich nach den allgemein anerkannten philologischen Maßstäben jegliche Konjektur50, und zudem ist es durchaus möglich, dass es diesen Namen und das damit bezeichnete Volk wirklich gegeben hat. Die angeblich auf ein und denselben Zusammenhang und auf ein und dasselbe Ereignis – den Alemannenkrieg Caracallas – verweisenden, byzantinischen Exzeptoren entnommenen Textstellen sind für die vexata quaestio der Ersterwähnung der Alemannen jedenfalls unbrauchbar. Weder im vollständig erhaltenen Geschichtswerk Herodians noch in dem Komplex der Siegernamen der römischen Kaiser ist bekanntlich die Existenz von Alemannen und des Alemannennamens für das 3. Jahrhundert bezeugt; vielmehr wird ausschließlich der Germanenname verwendet. 46 47 48 49 50
Bleckmann 2002, 145–171. Ebd. 147. Ebd. 148f. Vgl. Springer 1984, 105. Briefl. Mitteilung des germanistischen Philologen Wolfgang Haubrichs vom 11. 12. 2007.
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Bleckmann51 erklärt dies im Falle Herodians damit, dass dieser Autor generell nur sehr eingeschränkt als historische Quelle benutzt werden könne, da er an historischen Fakten und konkreten Namen nicht interessiert gewesen sei. Diesen hoffernen, moralisierenden Autor hätten Bildungs- und Klassenunterschiede gewissermaßen meilenweit von Cassius Dio getrennt. Andererseits gesteht Bleckmann nicht nur zu, dass Herodian das dionische Geschichtswerk – wenn auch gewissermaßen als Steinbruch – benutzte, sondern stellt auch einen Zusammenhang zwischen Cassius Dio 77, 13, 4f. (Niedermetzelung befreundeter Jungmannschaften im Zusammenhang eines Feldzugs Caracallas gegen die Albanoi (!)) und Herodian 4, 9, 4–8 (Massaker unter der alexandrinischen (!) Jugend) dergestalt her, dass letzterer als sekundäre und willkürlich variierende Quelle „allzu spezifischen Angaben des Cassius Dio (etwa über die Alamannen) verschleiert“ habe.52 Warum die kaukasischen Albaner wie auch die „wirklichen“ Alanen als Angriffsziel eines römischen Feldzugs unter Caracalla als ausgeschlossen anzusehen seien,53 ist nun völlig unerfindlich. Was die Siegestitulaturen der römischen Kaiser und das Fehlen des Siegernamens Alamannicus im gesamten 3. und noch weit bis in das 4. Jahrhundert hinein betrifft, so ist die Erklärung Bleckmanns54 dafür durchaus bedenkenswert. Danach folgte der Gebrauch der Siegestitulaturen eigenen Gesetzen und rekurrierte gerade nicht auf die Identität der jeweils besiegten Völker. Die inschriftlich55 für Constantius II. bezeugte Siegestitulatur Germanic(us) Alamamnicus (sic!) ist jedoch zweifellos nicht als eine präzisierende Variante des Siegernamens Germanicus anzusehen, sondern geht offensichtlich auf ein Versehen des Steinmetzes zurück56 und ist ein Beleg dafür, dass man sich erst allmählich an den Alemannennamen gewöhnen musste (deshalb wohl auch die verkehrte Schreibung Alamamnicus). Ein Anliegen des Aufsatzes von Bleckmann ist es nachzuweisen, dass die lateinische (abbreviatorische) Geschichtsschreibung des 4. Jahrhunderts noch eine in den Grundzügen zuverlässige Erinnerung an die Ereignisse des 3. Jahrhunderts besonders im Hinblick auf die Germaneneinfälle nach Italien bewahrt hätte,57 dabei auf einem qualitätsvollen Bericht der senatorischen Historiographie fußend. Er schränkt jedoch selbst diese Berichter51 52 53 54
55 56 57
Bleckmann 2002, 151–153. Ebd. 153. Ebd. 152. Ebd. 167–169. Warum aber dann die Annahme von Siegernamen wie Arabicus und Adiabenicus durch Caracalla? – Belege bei Kneißl, 230. ILS 732. Kneißl 2002, 126. Bleckmann 2002, 160–166.
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stattung auf die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts ein. Dem wird man sicher beipflichten können, denn es kann doch kein reiner Zufall sein, dass diese besonders die Alemannen betreffenden Notizen erst für die Zeit von 259/260 an einsetzen. Die späten Nachrichten über Alemannensiege der Kaiser Valerian/Gallienus58, des Gallienus und des Claudius Gothicus könnten der Reflex einer Überlieferung sein, die im späten (!) 3. Jahrhundert entstand und sich in Spuren in der erhaltenen Geschichtsschreibung des 4. Jahrhunderts tradiert hat. Die Erläuterung des Alemannennamens durch Agathias, der sich dabei auf Asinius Quadratus beruft, ist für den Beweis einer Ersterwähnung der Alemannen bereits zum Jahre 213 bedeutungslos. Wohl aber ist der Hinweis auf die „gemischte“ Herkunft der Alemannen einer Überlegung wert, wenn man ihn von vornherein nicht in die Rubrik einer in der antiken Ethnographie weit verbreiteten topischen Deutung einordnen will. Für Bleckmann59 ist damit im Hinblick auf die eigentliche Bedeutung des Alemannennamens („Vollmenschen“, „Ganzmenschen“) ein Hinweis auf ein Nebeneinander von positiver Selbstbezeichnung und negativer Fremdbezeichnung gegeben, eine durchaus plausible Überlegung. Aus der Agathias-Notiz, für die noch eine Zwischenstufe anzunehmen ist, aber zu schließen, die Identität des Stammes müsse schon längere Zeit – damit ist etwa eine Generation vor Asinius Quadratus gemeint – bekannt gewesen sein, hat jedoch den Charakter eines Zirkelschlusses. Dies scheint Bleckmann selbst bemerkt zu haben, wenn er formuliert: „Für die Alemannen in der Zeit des Asinius Quadratus scheint diese Voraussetzung durchaus gegeben, wenn man das Zeugnis des Cassius Dio gelten läßt“ (Dieses Zeugnis existiert jedoch nicht, vielmehr lediglich mehr oder weniger korrekte und verkürzte späte Wiedergaben des ursprünglichen Dio-Textes.). Im gerade erschienenen, eine beachtenswerte Leistung darstellenden Alemannenbuch von Drinkwater wird im Anschluss an Bleckmann an der Ersterwähnung der Alemannen zum Jahre 213 festgehalten.60 Der Umfang der Kämpfe und die gesamte Kampagne Caracallas wird aber stark heruntergespielt, die kaum organisierten Eindringlinge („scattered raiders“), darunter einige, die sich Alamanni genannt hätten, seien eher Räuberbanden gleichzusetzen. Auch müsse der Alemannenname 289 schon länger in Gebrauch gewesen sein, weil man sonst den Panegyriker von 289 des Neologismus hätte zeihen müssen.61 Was die Herkunft und die Frühgeschichte 58 59 60 61
Castritius 2001a, 388. Bleckmann 2002, 156. Drinkwater 2007, 43ff. Ebd. 44.
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der Alemannen betrifft, so ist Drinkwaters Hauptanliegen, dass die Ethnogenese der Alemannen deutlich später und im ca. 260 von den Römern vor allem aus internen Gründen aufgegebenen heutigen Südwestdeutschland erfolgte.62 Drinkwater63 verwirft damit die (alte) Vorstellung von der Wanderung und Landnahme einer sozusagen präexistenten alemannischen gens im ehemaligen obergermanisch-rätischen Limesgebiet. Anders als Bleckmann differenziert Drinkwater64 in anerkennenswerter Weise zwischen dem Alter eines Namens und seiner Anwendung auf eine ethnische Neuheit wie etwa auf die Alemannen und erklärt im Anschluss an Überlegungen von Wenskus65 die bei Agathias (Asinius Quadratus) vorliegende Deformation des Namens als eine pejorative Fremdbezeichnung. Für das Problem der Ersterwähnung der Alemannen kann man jedoch aus der Deutung des Alemannennamens, seines Alters und seiner Herkunft66 keinen Nutzen ziehen.
Quellen- und Literaturverzeichnis a) Quellen Cassius Dio Cocceianus, Historiarum Romanorum quae supersunt, hg. v. U. Ph. Boissevain, Bd. 1–5 (Berlin 1895–1931, Nachdruck Hildesheim 2002) Cassius Dio, Römische Geschichte, Bd. 1–5, übersetzt von O. Veh (Düsseldorf 2007) Excerpta de sententiis, hg, v. U. Ph. Boissevain (Excerpta historica iussu Imp. Constantini Porphyrogeniti confecta, Bd. 4) (Berlin 1906, Nachdruck Hildesheim 2003) Excerpta de virtutibus et vitiis, Teil 1 und 2, hg. v. Th. Büttner-Wobst/A. G. Roos (Excerpta historica iussu Imp. Constantini Porphyrogeniti confecta, Bd. 2, 1/2) (Berlin 1906/1910, Nachdruck Hildesheim 2003) Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u. Z., hg. v. J. Herrmann, Bd. 1–4 (Schriften und Quellen der Alten Welt, Bd. 37, 1–4) (Berlin 1988–1992) Iordanes 1991: Iordanis de origine actibusque Getarum, hg. v. F. Giunta/A. Grillone (Fonti per la storia d’Italia, Bd. 117) (Rom 1991) ILS: Inscriptiones Latinae Selectae, ed. H. Dessau (Berlin 1892ff.)
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Drinkwater nennt diesen Vorgang ethnogenesis sur place, worin man ihm durchaus folgen kann. Drinkwater 2007, 61: „The idea that central Germanic peoples were on the move at this time has been rejected in the case of the Alamanni, …“. Drinkwater 2007, 64–68. Wenskus 21977, 508–511. Castritius 1998, 359–362.
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b) Literatur Bleckmann 2002: Bruno Bleckmann, Die Alamannen im 3. Jahrhundert: Althistorische Bemerkungen zur Ersterwähnung und zur Ethnogenese. In: Museum Helveticum 59 (2002) 145–171 Castritius 1990: Helmut Castritius, Von politischer Vielfalt zur Einheit. Zu den Ethnogenesen der Alemannen. In: Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern, Teil 1, hg. v. H. Wolfram/W. Pohl (Denkschriften der Akademie der Wissenschaften Wien, Philos.-hist. Kl. 201) (Wien 1990) 71–84 Castritius 1998: Helmut Castritius, Semnonen – Juthungen – Alemannen. Neues (und Altes) zur Herkunft und Ethnogenese der Alemannen. In: Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ 496/97, hg. v. D. Geuenich (Reallexikon für Germanische Altertumskunde, Erg.Bd. 19) (Berlin/New York 1998) 349–366 Castritius 2001a: Helmut Castritius, Krokus. In: RGA Bd. 17 (Berlin/New York 2001) 388–389 Castritius 2001b: Helmut Castritius, Main. In: RGA Bd. 19 (Berlin/New York 2001) 176–177 Drinkwater 2007: John F. Drinkwater, The Alamanni and Rome 213–496 (Caracalla to Clovis) (Oxford 2007) Enmann 1883: Alexander Enmann, Eine verlorene Geschichte der römischen Kaiser (Philologus, Supplbd. 4) (Göttingen 1883) Johne 2006: Klaus-Peter Johne, Die Römer an der Elbe (Berlin 2006) Keller 1989: Hagen Keller, Alamannen und Sueben nach den Schriftquellen des 3. bis 7. Jahrhunderts. In: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989) 89–111 Kienast 1996: Dietmar Kienast, Römische Kaisertabelle (Darmstadt 1996) Kneißl 1969: Peter Kneißl, Die Siegestitulatur der römischen Kaiser (Hypomnemata 23) (Göttingen 1969) Okamura 1984: Lawrence Okamura, Alamannia devicta: Roman-German Conflicts from Caracalla to the First Tetrarchy (A.D. 213–305) (Diss. Michigan 1984) Rübekeil 2003: Ludwig Rübekeil, Was verrät der Name Alamannen über ihr Ethnos? In: Alemannien und der Norden (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Erg.-Bd. 43) (Berlin/New York 2003) 114–141 Schwartz 21959: Eduard Schwartz, Cassius Dio. In: Ders., Griechische Geschichtsschreiber (Leipzig 21959) 394–450 Springer 1984: Matthias Springer, Der Eintritt der Alemannen in die Weltgeschichte. In: Abhandlungen und Berichte des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden 41 (1984) 99–138 Springer 2006a: Matthias Springer, Völker- und Stammesnamen. § 2. Historisch. In: RGA Bd. 32 (Berlin/New York 2006) 500–506 Springer 2006b: Matthias Springer, Völkerverbände. In: RGA Bd. 32 (Berlin/New York 2006) 506–509 Wenskus 21977: Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes (Köln/Wien 21977)
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Helmut Castritius / Matthias Springer
Nomen et Fraternitas – RGA-E Band 62 – Seiten 451–489 © 2008 Walter de Gruyter · Berlin · New York
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Heiliges Land – Helgoland und seine frühen Namen HEIKE GRAHN-HOEK
Die ersten Berichte, welche die Wissenschaft der Insel Helgoland zugeordnet hat, nennen für die von ihnen jeweils beschriebene Insel verschiedene Namen. Diese Namen sind in Form und Inhalt abhängig vom kulturellen und sprachlichen Umfeld der jeweiligen Autoren und von den Bedingungen der schriftlichen und mündlichen Überlieferung ihrer Aussagen.1 Zu der grundsätzlichen Quellenproblematik bei der Identifikation einer Insel, die uns mit unterschiedlichen Namen überliefert ist, kommen im Nordseeküstenbereich die ständigen natürlichen Veränderungen hinzu, die aus Meer Land und aus Land Meer machen. Diese Veränderungen spielen über einen Zeitraum von mehr als 2300 Jahren seit der Erwähnung Helgolands durch Pytheas von Massilia (4. Jahrhundert vor Chr.) bis heute eine wichtige Rolle. Soweit wir auf die angedeuteten Probleme hier nicht näher eingehen können, verweisen wir auf die reichlich vorhandene Literatur.2 Hier möchten wir der Frage nachgehen, ob sich auf dem Hintergrund der Ergebnisse der 1
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Auch andere Inseln im Nordseeküstenbereich werden mit unterschiedlichen Namen erwähnt. So nennt Plinius (nat. hist. 4,97) von den 23 den Römern bekannt gewordenen Inseln die drei berühmtesten namentlich: erstens Burcana (wohl eine Vorgängerinsel von ‚Borkum‘), die von den Römern auch Fabaria (‚Bohneninsel‘) genannt wurde, zweitens die von den römischen Soldaten nach dem Bernstein (gl(a)esum) benannte Insel Glaesaria, die von den ‚Barbaren‘ Austeravia genannt wurde, und drittens Actania. Während Strack 1968/1, 195 und Goetz/Welwei 1995/1, 109 in ihren Übersetzungen alle fünf Namen auf nur eine Insel beziehen, deuten die Stelle m.E. richtig Detlefsen 1904, 40, Gutenbrunner 1939, 79f. und H. Ditten bei Herrmann 1988, 329. Der Plinius-Text lautet: XXIII inde insulae Romanis armis cognitae. earum nobilissimae Burcana, Fabaria nostris dicta a frugis multitudine [nach Detlefsen, 40f., besser überliefert: similitudine] sponte provenientis, item Gläsaria a sucino militiae appellata [a] barbaris Austeravia, praeterque Actania. Dafür, dass es sich hier um mehrere Inseln handelt, spricht nicht nur der Plural nobilissimae, sondern auch das Wort item deutet auf eine Aufzählung mehrerer Inseln. Es wird gebraucht, „wenn von verschiedenen Gegenständen die gleiche Aussage gemacht wird“: Hans Rubenbauer/J. B. Hoffmann, Lateinische Grammatik, neubearb. von R. Heine (München 111989) § 198. Mit praeterque Actania setzt Plinius die Aufzählung der namentlich bekannten Inseln fort. Zu Glaesaria und Austeravia auch Plin. nat. hist. 37,42. Vgl. zu Baunonia (Plin. nat. hist. 4,94: Scythia Baunonia): Gutenbrunner 1939, 68; Schmidt 1941/1969, 5; Wenskus 1961, 530. Zur Überlieferung siehe auch die grundsätzlichen Bemerkungen von Detlefsen 1904, 1f. Meyer/Packross/Rickmers 1987; Meineke/Ahrens/Weisgerber 1999.
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geologischen,3 der archäologischen4 und der historischen Forschung, insbesondere der Entdeckungsgeschichte des Nordens in der Antike,5 auch mit dem Blick auf neuere Erkenntnisse der Religionsgeschichte der Frühzeit,6 gestützt auf die Schriftquellen, Argumente finden lassen, die einen weiteren Beitrag zur Zuordnung von Namen und Ortsbeschreibungen zu der Insel Helgoland leisten können.
1. Abalus Die älteste schriftliche Nachricht, die mit dem Anspruch auf eine gute Wahrscheinlichkeit auf Helgoland bezogen worden ist, stammt von Pytheas von Massilia. Die südfranzösische Stadt Marseille war zu Lebzeiten des Pytheas, im 4. Jahrhundert vor Chr., eine griechische Kolonie. Pytheas hat selbst eine für die Entdeckungsgeschichte des Nordens in der Antike sehr wichtige Reise7 in das in seiner Zeit unbekannte Nordmeer unternommen.8 Dabei gelangte er u. a. bis ins Mündungsgebiet der Elbe9 und erwähnt eine dort gelegene Insel des Nordmeeres mit Namen Abalus. Auf den ersten Blick spricht weniger der Name als seine Beschreibung dieser Insel dafür, dass er Helgoland gemeint hat.10 Nach Plinius d. Ä. beschreibt Pytheas die Entfernung der Insel Abalus vom Festland, das deutlich als das Wattenmeer erkennbar ist,11 mit einer Ta3 4 5 6
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Hillmer 1980; Spaeth 1990. Ahrens 1980. Detlefsen 1904; Timpe 1989. Beck et al. 1992, bes. Timpe 1992; Wenskus 1994; Maier 2003, mit Lit. 185–199; auch die Anmerkungen von Herbert Jankuhn in: Much 31967; vgl. Veil 2002. Timpe 1989, 323–332; vgl. 337–345. Sein in griechischer Sprache verfasster Reisebericht ist fragmentarisch in lateinischer Sprache überliefert bei Plinius d. Ä.: Plin. nat. hist. (Buch) 37, (cap.) 35.36.42; zu Timaios und Strabon siehe unten Anm. 84 ff. bzw. 92. Timpe 1989, 329f. Kurz zur damaligen geomorphologischen Situation Gutenbrunner 1939, 67. Plin. nat. hist. 37,35; Detlefsen 1904, 12ff. Die bei Plin. nat. hist. 37,35 wiedergegebene Beschreibung des Wattenmeeres (und der Gezeiten) nach der durch andere Autoren fragmentarisch überlieferten (siehe dazu Gutenbrunner 1939, 67) Schilderung des Pytheas gilt als die älteste antike Aussage hierzu: Pytheas [credidit: Detlefsen 1904, 4] Guionibus, Germaniae genti, accoli aestuarium oceani Metuonidis nomine spatio stadiorum sex milium; ab hoc diei navigatione abesse insulam Abalum. Goetz/Welwei 1995/1, 123, übersetzen: „Pytheas (glaubte), (Bernstein entstehe bei) den Guionen, einem Volk Germaniens, das in einer Niederung am Ozean namens Metuonis in einem Gebiet von 6000 Stadien wohnt“. Als Wattenmeer identifiziert die Stelle zuerst Detlefsen 1904, 5f., 9–12. Nach Detlefsen geht die Definition von aestuaria bei Isidor etym. 13,18,1 (aestuaria, per qua(e) mare vicissim tam accedit quam recedit) auf Sueton zurück. Hier auch zum sprachlichen
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gesreise. Diese Entfernungsangabe ist, gemessen an den Ansprüchen, die man an Maßangaben in Quellen dieser Zeit haben darf, recht genau und traf in der Nordsee bei den geographischen und schifffahrtshistorischen Voraussetzungen des vierten vorchristlichen Jahrhunderts12 sowohl von der südlichen13 als auch von der östlichen14 Nordseeküste aus nur für Helgoland zu.15 Wichtig ist, dass Plinius/Pytheas in diesem Zusammenhang als weiteres Identifizierungsindiz die erste Beschreibung des Wattenmeeres liefert, von dem aus man nach Abalus aufbrechen musste. Nach Pytheas soll „dorthin der Bernstein im Frühling von den Wellen getrieben“ worden sein.16 D. h. man fand hier den Bernstein besonders nach den (Herbst- und) Frühjahrsstürmen, wie es – wenn auch in sehr geringer Menge – auch heute noch auf Helgoland der Fall ist. Außerdem sollen die Bewohner der Insel Abalus den Bernstein anstelle von Holz (oder Torf) als Brennmaterial benutzt haben.17 Zwar haben manche Historiker diese Mitteilung ins Reich der Sage verweisen wollen, sie hat aber insbesondere auf der baumarmen Insel Helgoland mit ihrer relativ großen Entfernung zu den Wäldern, d. h. Holzlieferanten, des Festlandes eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Hier sei daran erinnert, dass auch der heutige, erst viel später entstandene Name ‚Bernstein‘ (‚Brennstein‘)18 auf dessen leichte Brennbarkeit verweist. Aus einer Bemerkung des Plinius geht im Übrigen hervor, dass auch ihm noch die Ausnutzung der Brennbarkeit des Bernsteins mittels Dochten aus Bernsteinabfall bekannt war.19 Etwa ein halbes Jahrhundert nach ihm berichtet Tacitus, dass auch die Aestier gegenüber ihrem Reichtum an Bernstein zunächst sehr gleichgültig waren, bis die Putz-
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Ursprung des Namens Metuonis als griechische Form aus germanischer Wurzel (fries. mêden) mit der Bedeutung terra palustris; eine Deutung, die nach Timpe 1989, 329f., bis heute unwiderlegt ist; vgl. auch Much 1924, 103; zu ‚Wattenmeer‘ auch Plin. nat. hist. 16,2; Tac. Ann. 1,70; Pomp. Mela 3,31 u. 54; Gutenbrunner 1939, 65ff.; siehe auch unten mit Anm. 92. Ellmers 2004, 24f.; Göttlicher 2006, mit Lit. 159–184. Vgl. Ahrens 1980, 31. Noch zum Jahre 1806 liegt der genaue Bericht einer Reise mit dem Segelschiff von Husum/Nordstrand nach Helgoland vor, die ebenfalls einen Tag ‚reine Fahrzeit‘ in Anspruch nahm. Siehe Schumacher 1841/1983, 353f. Probleme mit Ebbe und Flut und widrigen Winden, die immer wieder ein Auslaufen verhinderten, zogen sich dagegen über Tage hin. Siehe Wenskus 1985, 97; Gutenbrunner 1939, 68; Detlefsen 1904, 12f. Plin. nat. hist. 37,35: … Abalum. illo per ver fluctibus advehi[electrum: Detlefsen 1904, 4] et esse concreti maris purgamentum; incolas …; weiter folgende Anm. Plin. nat. hist. 37,35: incolas pro ligno ad ignem uti eo proximisque Teutonis vendere; vgl. Plin. nat. hist. 16,2 Kluge/Seebold 1999, 100. Plin. nat. hist. 37,47. Über Bernsteinabfälle als Brennmaterial auch von Schwerin 1896, 2/Ms. Århammar, 3 mit Anm. 4; Mischer/Eichhoff/Hävernick 1970, 112 Anm. 8.
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sucht der Römer den Bernstein zu einem Schmuckstein gemacht habe.20 Auch wenn das angesichts der archäologischen Funde so nicht bestätigt werden kann, ist doch keineswegs auszuschließen, dass man den Bernstein, solange er reichlich vorhanden und noch nicht zum kostbaren Handelsobjekt mit den Römern geworden war, nicht nur als Schmuck oder für kultische Gegenstände benutzte, sondern auch als Brennmaterial verwendete. Schließlich sollen nach Pytheas/Plinius die Bewohner dieser Insel den Bernstein auch an die ihnen unmittelbar benachbarten Teutonen (proximisque Teutonis) verkauft haben.21 Die Erwähnung der Teutonen, die durch ihr gemeinsames Auftauchen mit den Kimbern im römischen Reich des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts relativ gut geographisch eingeordnet werden können, ist ebenfalls ein starkes Argument für Helgoland, weil dieser Stamm damals südlich der Kimbern etwa im heutigen Land Schleswig siedelte22 und der nächste Seeweg von Helgoland zum Festland über damals noch weitere vorgelagerte Inseln23 in Richtung auf die heutige Halbinsel Eiderstedt führte. Wenn die Bewohner von Abalus ihren Bernstein an die Teutonen verkauften, so ist dies ein Hinweis auf einen von dieser Insel ausgehenden Bernsteinhandel.24 Die Angabe des Pytheas deckt sich mit der hauptsächlich aus archäologischen Quellen gewonnenen Erkenntnis, dass der „erste Fernhandel“ mit Bernstein „von Jütland aus auf der Elbestraße“ stattfand,25 so dass eine Anbindung der vor der Elbmündung liegenden Insel an diese sehr wahrscheinlich ist.26 Bekannt ist den Historikern aus der Antike und dem frühen Mittelalter ein lebhafter Bernsteinhandel von der Ostsee, besonders ins römische Reich der Kaiserzeit. Da es in den Baltischen Staaten noch heute große
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Tac. Germ. c. 45. Plin. nat. hist. 37,35; Detlefsen 1904, 13f. Wenskus 1961, Anhang, Karte zum 4. Jh. vor Chr.; Timpe 1989, 341f.; vgl. 365f., 369. Auch wenn man sich über den zeitlichen Ansatz und die Dauer der Loslösung Helgolands vom Festland in der Forschung nicht ganz einig ist – die Angaben schwanken zwischen dessen Beginn um etwa 4000 vor Chr. und 2500 vor Chr. (Beuker 1988, 108; vgl. Hillmer 1980, 26) –, so stimmt man doch in der Annahme überein, „daß eine Inselkette noch eine recht beträchtliche Zeit dem Angriff des Meeres Widerstand geleistet hat, teilweise vielleicht bis an die Schwelle unserer Zeitrechnung heran“ (Ahrens 1966, 238; vgl. Pratje 1952, 20–25). Anders, aber ohne neue Begründung, jetzt von Carnap-Bornheim/Hartz 2007, 73. Wenskus 1985, 97. Bohnsack 1976, 290; dazu Gandert 1957, 59ff. Eine Verbindung dieses jütisch-elbischen Bernsteinmarktes mit dem „wenig später“ in der frühen Bronzezeit zu beobachtenden Bernsteinmarkt „in der Wessex-Kultur Südenglands“, der Spuren bis in die mykenische Kultur Griechenlands hinterlassen hat, ist belegt. Siehe Bohnsack 1976, 290, 293; Weisgerber 1996, 417f.; vgl. Gandert 1957, 59f. mit Anm. 238; auch unten mit Lit. Anm. 67; vgl. aber auch Kehnscherper 1969, 12.
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Bernsteinvorkommen gibt, ist dies eine leicht nachvollziehbare historische Tatsache. Anders sieht es mit der Nordseeküste aus. Zwar kommen auch hier heute noch Funde zutage, auf Helgoland aber eher selten.27 Für die Vergangenheit bedeutet das, dass es hier auch in früheren Zeiten grundsätzlich Bernstein gab.28 Aus dem gegenwärtig geringen Bernsteinvorkommen sollte nicht von vornherein geschlossen werden, dass dies vor zwei- bis dreitausend Jahren nicht anders war, sondern zunächst nur, dass die Vorräte heute einigermaßen erschöpft sind. Auch ein früher Bernsteinhandel über See war in der älteren Forschung bekannt.29 Dieses Wissen verlor sich allerdings weitgehend, seit man sich dem besser nachweisbaren späteren Ostsee-Bernsteinhandel zugewandt hatte. Reinhard Wenskus hat darauf hingewiesen, dass man den Bernsteinhandel über See ohne Begründung – teilweise bis hin zur grundsätzlichen Leugnung – aus den Augen verloren hat, um ihn durch die Rekonstruktion von ‚Bernsteinstraßen‘30 auf dem Festland entlang von Fundlinien zu ersetzen.31 Die Missachtung dieser alten Auffassung ging so weit, dass auch solche Belege, die auf die Nordsee bezogen sind, für den Ostsee-Bernsteinhandel in Anspruch genommen wurden,32 zumal da der Bernstein der Nordsee mit dem der Ostsee (Succinit) aus naturwissenschaftlicher Perspektive übereinstimmt bzw. sich von Bernsteinarten anderer geogra-
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Enzyklopädie 1979, 442f. (‚Bernstein‘); vgl. auch Rottländer 1974, 78 (Verbreitungskarte); Wenskus, 1985, 97; Andrée 1951, 71: „Die Westküste der Jütischen Halbinsel, das erste Bernsteinland der Alten“; vgl. ebd. 25. Behre 2002, 314: „Durch erosiv angeschnittene Braunkohlenflöze am Nordseegrund wurde (d)er (Bernstein) freigesetzt und trieb an der Küste an“. Zu größeren Bernsteinvorkommen auf Helgoland noch im 16. und 17. Jahrhundert siehe von Schwerin 1896, 2/Ms. Århammar, 3). Wenskus 1985, 93ff.; vgl. Gutenbrunner 1939, 47–50 über die Bedeutung des Seeweges gerade für die griechische Kolonie Massalia. Diese ‚Bernsteinstraßen‘ hat man sich nicht als Wege oder Straßen zu denken, sondern als eine Art Fundlinie, aus der man entsprechende Transportwege erschlossen hat. – Bohnsack 1976, 290. Wenskus 1985, 103: Das „Bernsteinhandelssystem über See entspricht eigentlich älteren Auffassungen, die freilich im Laufe der Zeit ohne deutlich erkennbare Gründe aufgegeben wurden, so daß A. Bertholet 1934 den Bernsteinhandel über See schließlich überhaupt leugnete“. Vgl. Lasserre 1979, 377: „Die Ostsee blieb lange bei den Mittelmeervölkern unbekannt trotz des Bernsteinhandels“. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn der frühe Bernsteinhandel von der Nordsee ausging. Gandert 1957, 59f., verweist auf drei über Flusssysteme führende ‚Bernsteinstraßen‘, die alle mit der Unterelbe beginnen. Vgl. Gutenbrunner 1939, 70: „man schloß aus den kaiserzeitlichen Verhältnissen, der ostpreußische Bernstein habe schon zur Zeit des Pytheas den Handel beherrscht“; vgl. Detlefsen 1904, 5 mit Anm. 3. Detlefsen 1904, 25, sieht in einer Mitteilung des Philemon (um 100 vor Chr.; vgl. Plin. nat. hist. 37,33) „die älteste Kunde vom samländischen Bernstein“.
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phischer Herkunft doch deutlich abhebt,33 bezüglich seiner Zusammensetzung – wenn auch nicht im Blick auf die jeweilige ‚Wander-‘ und Umlagerungsgeschichte – geologisch gleicher Entstehung ist34 und generell als ‚baltischer Bernstein‘ bezeichnet wird.35 Mit der Geschichte des Bernsteins und des Handels mit ihm ist ein weiteres Forschungsproblem verbunden. Es herrscht nämlich gerade im Zusammenhang mit dem Bernsteinhandel keine Klarheit darüber, welche antiken Quellen zu welchem Zeitpunkt die Ostsee überhaupt schon kannten und diese von der dem großen Oceanus zugerechneten Nordsee unterschieden. Nach den Schriftquellen der Antike war aber die Nordsee vor der Ostsee bekannt. Weder Pytheas noch Caesar haben Jütland als Halbinsel zwischen Nord- und Ostsee gesehen.36 Plinius beschreibt die Ostsee als „ungeheuren Meerbusen namens Codanus“ und erst Tacitus kannte die Ostsee als mare Suebicum (‚Binnenmeer‘?).37 Da die antike Entdeckungsgeschichte nicht das Ergebnis von „reinen“ Forschungsfahrten war, sondern sich entweder aus Kaufmannsfahrten, vornehmlich der Griechen, oder aus militärischen Unternehmungen der Römer ergab, erweist sich der OstseeBernstein im Zusammenhang mit der Entdeckung der Ostsee und ihrer Verkehrsanbindung an das römische Reich erst seit der römischen Kaiserzeit als ein bedeutendes Handelsprodukt.38 In vielen Fällen können daher die frühen schriftlichen Quellen nur die Nordsee gemeint haben.39 Erst in 33
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Mischer/Eichhoff/Hävernick 1970, 119–122; Rottländer 1974, 79f.; Beck 1996 mit weiterer Lit. Zu den verschiedenen paläogeographischen Erklärungsmodellen siehe Krumbiegel/ Krumbiegel 1996, 31ff.; Weitschat 1996, 77–82; auch schon Andrée 1951, bes. 17 f., 23–29. Vgl. Ganzelewski 1996, 19f. Timpe 1989, 337, 347f.; Castritius 2002 a, 315. Eine Umschiffung Jütlands wird zuerst unter Tiberius berichtet. Lasserre 1979 c, 377 f.; Wolters 1994, 79f.; Castritius 2002 b, 357–360, 358. Zu Plin. nat. hist. 4,96 siehe Gutenbrunner 1939, 77f.; zu Tac. Germ. c. 45; vgl. Timpe 1989, 372; Castritius 2002 b, 359. Wolters 1994, 84 Anm. 22, bezweifelt, dass Tacitus „die Ostsee schon als Binnenmeer kannte“. Selbst wenn dies doch der Fall war, scheint mit dem gelegentlich Nord- und Ostsee umfassenden Oceanus-Begriff des Tacitus die „Einheit des Ozeans“ nicht grundsätzlich in Frage gestellt; vgl. ebd. 78 mit Anm. 2; auch Tac. Germ. c. 17: exterior Oceanus. Timpe 1989, 372; vgl. Geerlings 1996, 497; Hennig 1941; Andrée 1951, 87; Gutenbrunner 1939, 79; Castritius 2002 a, 315. Die erste Bezeichnung der Antike für die Nordsee findet sich bei Plin. nat. hist. 4, 103 in der Formulierung mare Germanicum. Tac. Germ. c. 45, erwähnt dagegen zum ersten Mal für die Ostsee, die er doch wohl als Binnenmeer ansieht (Lit. wie Anm. 36), den Namen mare Suebicum. Daneben benutzen aber beide den Begriff Oceanus. Castritius 2002 a, 315, weist auf Lit. (Lasserre 1979 b, S. 267–270; ders. 1979 a, 157f.; Wolters 1994, 77–95, 78) hin, nach der Tacitus die Ostsee in seinen Oceanus-Begriff einbezogen habe. Wenn Tacitus aber einerseits die Ostsee als mare Suebicum kennt, sie andererseits aber auch in seinen Oceanus-
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jüngerer Zeit gelangte die Problematik in die Überlegungen auch zur Geschichte des Bernsteinhandels und hat auch hier zu einem allmählichen Umdenken geführt.40 Während man die Bernsteinroute von Jütland über die Elbe bereits in die Bronzezeit (1800–700 vor Chr.) datiert, lässt sich die Oststraße, die von der Ostsee ausging, erst für die Eisenzeit (700–240 vor Chr.) belegen.41 Noch für die Zeit des fünften bis siebten nachchristlichen Jahrhunderts wird angenommen, dass Teile der Bernstein-Grabbeigaben in Nordwesteuropa von der Nordseeküste stammen.42 Die zeitliche Priorität der Bekanntheit des Nordsee-Bernsteins vor der des Ostsee-Bernsteins entspricht auch der Entdeckungsgeschichte von Nord- und Ostsee durch die Antike.43 Ein wichtiger Punkt der Fehleinschätzung des Nordsee-Bernsteinhandels besteht auch darin, dass er zeitlich zumindest teilweise mit der Brandbestattung der Urnenfelderkultur (1250–700 vor Chr.) zusammenfiel, so dass die wichtigsten Fundorte der Archäologen für den Bernstein der Insel Abalus und ihrer Umgebung, nämlich praehistorische Gräber, schon aus diesem Grunde weitgehend ausfallen.44 Für den Archäologen sind hauptsächlich Körpergräber wichtige Fundorte auch von Bernstein.45 Jedoch liegen für die sogenannte Dolmenzeit – nach den tischähnlichen Steinkistengräbern der Jungsteinzeit und der frühen Bronzezeit (ca. 2500–1550 vor
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Begriff einbezieht, wird man im Einzelfall prüfen müssen, welche sachlichen Argumente jeweils für die Nordsee oder die Ostsee als Teil des Oceanus sprechen und wird gerade im Zusammenhang mit der Frage des Bernsteinhandels an Nord- und Ostsee den Einfluss der Forschungsgeschichte auf die jeweilige Deutung zu berücksichtigen haben. Verwechslung von Nord- und Ostsee im Übrigen schon bei Pomponius Mela (um 43/44 nach Chr.): dazu Detlefsen 1904, 29ff.; Gutenbrunner 1939, 65f. Detlefsen 1904, 26, weist auch darauf hin, dass „die regelmäßige Ebbe und Flut das sichere Kennzeichen des Ozeans“ gewesen sei und dass man erst mit der Erkenntnis, dass die Weichsel nicht unmittelbar in den von Ebbe und Flut geprägten Ozean mündete, begann, die „Ostsee“ von der Nordsee zu unterscheiden, wobei es zunächst zu vielen Irrtümern kam; vgl. ebd. 30, 35. Behre/Castritius 2002; Bohnsack 1976. Ein recht früher Ansatz des Ostsee-Bernsteinhandels noch bei Andrée 1951, 84–92, bes. 90: „Seit etwa 500 v. Chr. hat der samländische Bernstein den jütischen Handel nach dem Süden verdrängt. Seit 50 n. Chr. hat nachweislich ein direkter Handel zwischen Römern und Ostgermanen bestanden“. Bohnsack 1976, 290; vgl. Behre 2002, 314; Hennig 1941, 242; vgl. Andrée 1951, 87–92. Wie oben Anm. 27. Timpe 1989, 315, 320, 322, 328f.; 329: „Die für die frühe Entdeckungsgeschichte wichtige Fahrt des Pytheas im späten 4. Jahrhundert vor Chr. reichte nicht erheblich über die Deutsche Bucht hinaus“. „Die oft geäußerte Vermutung, Pytheas habe auch Jütland umfahren und die Ostsee erreicht, ist abwegig und wird jetzt überwiegend abgelehnt“. Vgl. aber Gutenbrunner 1939, 50–62 zu Thule/Norwegen. Bohnsack 1976, 290, 292; Andrée 1951, 86. Bohnsack 1976, 290 mit Lit. Körpergräber mit Funden liegen erst für die ältere Eisenzeit der Hallstatt-Kultur und der frühen La Tène-Kultur (ca. 750–500 vor Chr.) vor.
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Chr.) – Bernsteindepotfunde im nördlichen Jütland vor, für die man kultische Bedeutung annimmt.46 Vielleicht darf auch die Kombination von Helgoländer Flint und Bernstein in dem Fund von Velsen (Niederlande)47 als weiteres Indiz für einen Bernsteinhandel auf Helgoland gelten. Möglicherweise lässt sich auch die Erwähnung von Felsen als Bestandteil einer Bernsteininsel durch Mithridates48 als Argument für Helgoland als Bernsteininsel deuten. Den deutlichsten Hinweis auf Bernstein in der Nordsee noch im ersten nachchristlichen Jahrhundert liefert aber Plinius d. Ä., von dem wir wissen, dass er selbst an der Nordseeküste, im Chaukenland, gewesen ist. Er nämlich lokalisiert eine andere, als Glaesaria (‚Bernsteininsel‘)49 bezeichnete Insel deswegen als Nordseeinsel, weil er von ihr im Zusammenhang mit einem Flottenunternehmen des Germanicus im Jahre 15/16 nach Chr. berichtet, von dem man weiß, dass er zwar in die Nordsee, nicht aber in die Ostsee gelangt ist.50 Den archäologischen und den aus den Schriftquellen gewonnenen historischen Argumenten für die zeitliche Priorität des Bernsteinhandels von der Nordsee lässt sich ein sprachwissenschaftliches Argument hinzufügen. Und zwar ist der Name Glaesaria gebildet aus dem lateinischen Lehnwort glaesum/glesum, das seinerseits auf das westgermanische Wort *glasa-n für ‚Bernstein‘ zurückgeht.51 Zu den Westgermanen gehörten die Elb-, Weser-, Rhein- und Nordseegermanischen Stämme.52 Wenn aber das Wort aus dem Westgermanischen stammte, dann kam auch die Sache zuerst aus dem Gebiet, in dem diese Sprache gesprochen wurde.53 Die historische Gesamtsituation des Bernsteinhandels an der Nordsee und die Tatsache, dass es noch im 19. Jahrhundert in Dithmarschen einen lebhaften Bernsteinhandel gab, widerlegen das Argument, dass Helgoland aus „geologischen Gründen“ als Bernsteininsel des Pytheas ausscheidet.54 46 47 48 49 50
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Jahn 1956, 31f.; anders Becker 1954/1957 (mir nicht zugänglich). Beuker 1988, 111, vgl. 104. Plin. nat. hist. 37,39. Wahrscheinlich eine ‚Vorgänger-Insel‘ des heutigen Borkum. Siehe oben Anm. 1. Plin. nat. hist. 35,42: Certum est gigni in insulis septentrionalis oceani et ab Germanis appellari glaesum, itaque et ab nostris ob id unam insularum Glaesariam appellatam, Germanico Caesare res ibi gerente classibus, Austeraviam a barbaris dictam …; vgl. Tac. Ann. 2, 23f.; vgl. auch Hanslik 1979, 769. Kluge/Seebold 1999, 326: aus westgerm. *glasa-n. Vgl. Georges 1913/1962, 1, 2938: glaesum, glesum (Tac. Germ. c. 45; Plin. nat. hist. 37,42). Stedje 1999, 51. So stellte schon Much 31967, 512, fest, dass glesum aus dem Westgermanischen in die lateinische Sprache gekommen sei, „im Zusammenhang damit, daß ihnen zunächst der Nordsee-Bernstein und seine Fundstätten bekannt wurden, die ja auch im vorgeschichtlichen Bernsteinhandel die weit überragende Rolle spielten“; vgl. auch oben Anm. 25. So Ahrens 1980, 38; ders. 1999, 295.
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Selbst wenn in unmittelbarer Umgebung des heutigen Helgoland mit ‚größeren‘ (?) Bernsteinvorkommen von geologischer Seite auch für die Zeit des Pytheas nicht gerechnet wird, bleibt die von Reinhard Wenskus im Anschluss an Gutenbrunner gut begründete Möglichkeit, „daß Helgoland im Rahmen eines größeren Systems von insularen Handelsplätzen als Bernsteinstapel im 4. vorchristlichen Jahrhundert eine besondere Rolle gespielt hat.“55 Die in der wissenschaftlichen Diskussion angeführten Gegenargumente gegen einen bedeutenden Bernsteinhandel von der Nordsee aus lassen sich somit sämtlich widerlegen: 1. Das erste Argument weist auf den Mangel an schriftlicher Überlieferung hin: Die schriftliche Überlieferung der römischen Antike setzt aber erst ein, als die wichtigste Zeit des Nordsee-Bernsteinhandels schon vorbei ist. Die Berichte über den Ostsee-Bernstein überlagern seit dem 1. Jahrhundert vor Chr. die frühere Bedeutung des Nordsee-Bernsteinhandels.56 2. Das zweite Argument macht auf das seltene Vorkommen von Bernstein in den Gräbern der Nordseeanrainer aufmerksam. Nun findet man aber Bernsteinbeigaben besonders in sog. Körpergräbern. Die Zeit des Nordsee-Bernsteinhandels fällt aber zusammen mit der Sitte der Brandbestattungen der Urnenfelderkultur (1250–700). Wenn man den Verstorbenen dieser Kultur Bernstein mitgegeben haben sollte, so wäre er sicherlich mit verbrannt. Bernsteinfunde in Urnen sind also nicht zu erwarten.57 3. Wenn es richtig ist, dass man auf Abalus den Bernstein als Brennmaterial benutzt hat, so spricht auch das für eine frühe Erschöpfung der Vorkommen. 4. Auch wenn Bernstein kein Bestandteil der Geologie Helgolands ist, schließt das ein Vorkommen angeschwemmter Bernsteinstücke, wie es noch in der Gegenwart belegt ist, für das Jahrtausend vor Chr. auch in grö55
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Wenskus 1985, 97f.; Gutenbrunner 1939, 68–71. Siehe auch schon von Schwerin 1896, 3/Ms. Århammar, 4). Nachweislich war in der Bronzezeit die der englischen Südküste vorgelagerte Insel Wight ein wichtiger Zinn-Umschlagplatz, obwohl hier selbst keine Zinnvorkommen nachzuweisen sind, diese sich vielmehr auf der Insel Ictis, dem heutigen St. Michel’s Mount (vor Penzance) befanden (Wenskus 1985, 94ff.; vgl. Much 1924, 103). Entsprechendes gilt für die Insel Quessant 22 Kilometer vor der bretonischen Küste. D. h. der jeweilige Umschlagplatz einer Ware war keineswegs mit dem Ort des natürlichen Vorkommens identisch. Vielmehr lag eine Geheimhaltung der Orte des natürlichen Vorkommens im Interesse derjenigen, die vom Verkauf der Rohstoffe profitierten. Diese Geheimhaltung war in der Antike geradezu die Regel. Siehe auch Andrée 1951, 88; Timpe 1989, 373. Vgl. jetzt auch Salomon 2005, 86ff. Timpe 1989, 372f. Bohnsack 1976, 290; vgl. auch Kehnscherper 1969, 22.
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ßerer Menge nicht aus, wie es uns Pytheas über Plinius mitteilt. In jedem Fall zeigt aber das Beispiel der Insel Wight, die zwar Zinn-Umschlagplatz, selbst aber nicht Quelle des Rohstoffes war, dass auch die geologische Bernstein-Situation Helgolands nicht dagegen spricht, die Insel Abalus mit Helgoland als Insel des Bernsteinhandels zu identifizieren.58 Ein weiterer Grund dafür, dass Helgoland wahrscheinlich schon in der Bronzezeit ein bedeutendes wirtschaftliches Zentrum war, liegt in seinem reichen und leicht zugänglichen Kupfererzvorkommen.59 Wenn auch eine Kupferverhüttung auf Helgoland selbst erst für das Mittelalter nachgewiesen scheint,60 so ist doch „nicht anzunehmen, daß ein so leicht zugängliches und so reiches Vorkommen leicht verhüttbarer Erze nicht genutzt worden sein soll“61. Dies gilt vor allem, wenn man bedenkt, dass Helgoland „die einzige für den praehistorischen Menschen im Norden erreichbare Kupfererzlagerstätte“62 war und dass Bronze vor allem eine Legierung aus Kupfer und Zinn ist. Dass die wirtschaftliche Bedeutung Helgolands zeitlich sogar noch sehr viel weiter zurückreicht, zeigen der geologische63 und der archäologische64 Befund, auf die wir hier nur verweisen können – allerdings nicht ohne anzumerken, dass es einen Fund von – nachweislich Helgoländer – rotem
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Wie oben Anm. 54. Lorenzen 1965; Ahrens 1980, 38, 40; Weisgerber 1999, 295f. Funde von scheibenförmigen Kupferbarren, die bei Helgoland von Hans H. Stühmer aus dem Wasser geborgen wurden, und die durch Buntsandsteinspuren, vor allem aber durch eine computergestützte Spurenelementanalyse des Kieler Geologen Horst D. Schulz als Helgoländer Kupfer identifiziert wurden (Stühmer et al. 1978; Spaeth 1990, bes. 12–15; vgl. Lorenzen 1965), datiert man in die Zeit des 12.–14. Jahrhunderts nach Chr. (Willkomm, in: Stühmer et al. 1978, 27). Obwohl Vergleiche von Bleiisotopen die These nicht stützen konnten, „daß die Kupferfunde aus dem Meer vor Helgoland etwas mit den dortigen Erzen zu tun haben“ (Weisgerber 1999, 296; vgl. aber Hänsel, in: Stühmer et al. 1978, 32 f.), beweist doch der Fund von Fragmenten von Öfen und von Schlackenresten, d.h. einer regelrechten Kupferverarbeitungsstätte mit einer nahezu kompletten, aus Rohkupferscheiben und Gußkuchen bestehenden ‚Schmelzofenfüllung‘ (Stühmer 1980, 51; ders. et al. 1978, bes. Schulz, 25; Hänsel, 32 mit Abb. 17), dass das Kupfer auf Helgoland verhüttet wurde. Da das Helgoländer Kupfererz sehr leicht abbaubar war (Hänsel, in: Stühmer et al. 1978, 28), ist es eher unwahrscheinlich, dass es nicht schon seit der frühesten Metallzeit, d. h. bereits vor Beginn der eigentlichen Bronzezeit, verwendet wurde (vgl. Hänsel, in: Stühmer et al. 1978, 28–35; Hänsel/Schulz 1980, 19f., 11–14 mit Bild 5). Dass es darüber keine schriftlichen Nachrichten gibt, könnte ähnlich wie im Falle des Zinns mit der Geheimhaltung aus wirtschaftlichen Gründen zu tun haben (vgl. oben Anm. 54). – Siehe auch Salomon 2005, 86f. – Für freundliche Auskünfte danke ich Herrn Hans H. Stühmer. Weisgerber 1999, 295. Ahrens 1980, 38. Hillmer 1980; Spaeth 1990. Ahrens 1980.
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Feuerstein, wahrscheinlich als Teil einer religiösen Opferniederlegung,65 in den nordöstlichen Niederlanden (Een; Provinz Drenthe) gibt, der auf die Zeit zwischen 3000–2500 vor Chr., d. h. in die ältere Jungsteinzeit, datiert wird.66 Schließlich sei wenigstens angemerkt, dass man in einem der dreizehn bronzezeitlichen Grabhügel der Insel, dem sogenannten ‚Moderberg‘, als Grabbeigaben zwei eigenartige Goldspiralen gefunden hat, für die es im gesamten Norden keine Entsprechungen gibt.67 Ähnliche Goldspiralen aus der Mykenischen Kultur Griechenlands (1580–1200 vor Chr.) legen den Gedanken an einen Einfluss aus Südosten jedenfalls nahe, zumal da die Zeit der Mykenischen Kultur in die Zeit der helgoländischen Hügelgräber (ca. 1800–700) fällt. Außerdem hat man schon vor einigen Jahrzehnten mit naturwissenschaftlichen Methoden nachgewiesen, dass der in Mykene gefundene Bernstein aus dem Norden stammt.68 Die Annahme einer solchen Verbindung zur etwa gleichzeitigen mykenischen Hochkultur findet eine Stütze in dem Nachweis, dass es auch zwischen Mykene und der WessexKultur einen Austausch von Bernsteinfertigprodukten gegeben hat.69 Vor allem aber ist ein Zusammenhang mit der bronzezeitlichen Wanderung der „Nord- und Seevölker“ zu erschließen.70 So hat auch die doch wohl auf die Erkundungen des Pytheas zurückgehende Gleichsetzung der „heiligen Insel Elektris“ des Apollonios von Rhodos (3. Jahrhundert vor Chr.) mit Helgoland einige Wahrscheinlichkeit,71 lag sie doch in der Nähe des Flusses Eridanos, der nach Hekataios am Rande der Welt in den nördlichen Ozean floss.72 Einen konkreten Hintergrund dieser Gleichsetzung bilden vier griechische Münzen aus dem 4. und 3. Jahrhundert vor Chr., die man in Husum, Flensburg, im Amt Haderslev und bei Hamburg fand.73 Wenn Helgoland aber in praehistorischer Zeit ein bedeutendes Handels- und Wirtschaftszentrum war, so entspricht es der allgemein akzep65 66 67 68
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Beuker 2002, 59; vgl. Müller 2002. Beuker 1988, 105 Ahrens 1980, 32 (Moderberg); vgl. Vahlendieck 1992, 77. Beck 1996; Bohnsack, 1976, 290; vgl. Andrée 1951, 84–92, bes. 85 f.; auch Gandert 1957, 59–62. Bohnsack 1976, 290. Vgl. auch oben mit Anm. 26 und unten mit Anm. 93. Kehnscherper 1969. Wenskus 1985, 98, zu Apollonios von Rhodos, Argonautika, 4,504f. (Übersetzung nach W. O. Schmitt, bei Herrmann 1988, 56f.): „Schnell bestiegen sie [d.h. die Argonauten] das Schiff und ruderten ohne Rast, bis sie zur heiligen Insel Elektris kamen [%’ & #H ' & ], die höher als die anderen aufragt und nahe am Fluß Eridanos liegt“. Siehe die Weltkarte des Hekataios (um 500 vor Chr.), in: Weltatlas 1, 61978, 12c. Vgl. auch Wenskus 1985, 98. Diesen wichtigen Hinweis gibt Salomon 2005, 86 mit Anm. 13; vgl. Ahrens 1966, 186f.
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tierten Auffassung vom Ineinandergreifen aller Lebensbereiche in dieser Zeit,74 dass dieser Position auch ein kultischer Mittelpunkt entsprach, der durch Tabuisierung des Ortes einen geschützten Raum bzw. eine „neutrale“ oder „asylgewährende“ „Stätte der Begegnung“ schuf.75 Daher verwundert es auch nicht, dass der mythisch-religiöse Aspekt gerade bei der Namengebung Helgolands eine dominierende Rolle gespielt hat. Dafür ist auch der Name Abalus ein Indiz.76 Schon Rudolf Much hat den Namen im Zusammenhang mit mythisch-religiösen Vorstellungen ähnlich wie Avallonia und insula pomorum als Namen für eine „paradiesische örtlichkeit“ gedeutet.77 Abalus gehe wie diese auf alte mythische Vorstellungen des Apfel(baume)s zurück. Auch Gutenbrunner sah einen Zusammenhang zwischen dem Namen Avalon der keltischen Mythologie, dem ‚Land der Seligen‘, und dem germanischen Abalus.78 Die später vertretene Auffassung, dass „eine germ. ‚Apfelinsel‘ des 4./3. Jh. … auch als mythologische Vorstellung unwahrscheinlich“ sei,79 ist durch archäologische und sprachliche Befunde widerlegt.80 In einer neueren Arbeit hat Reinhard Wenskus vielfältige Beziehungen zwischen der griechischen und der nordseegermanischen Mythologie aufgezeigt, die diesen Befund stützen.81 Verbindungen und Übereinstimmungen bestehen in besonderem Maße zu bzw. mit den Mythen um die Gestalt des Herakles/Herkules, dessen Nähe zum germanischen Donar/Thor bemerkenswert ist.82 Zu diesen Mythen gehört auch der um „die goldenen Äpfel der Hesperiden“, deren Garten Apollodor (2. Jahrhundert vor Chr.) in der Nähe der Hyperboreer am nördlichen Rand der Welt lokalisiert.83 Auch fügt sich diese Deutung des Namens in 74
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Ahrens 1980, 38: „Stellt man schließlich in Rechnung, daß im Unterschied zu heutigen Denk- und Empfindungsgewohnheiten Religion früher keine isolierte Lebenskategorie, sondern untrennbar mit allen anderen Bereichen verbunden war, so liegt es nahe, einem Ort, welcher durch sein äußeres Erscheinungsbild als eine Besonderheit der Schöpfung gelten durfte, der zugleich ein bedeutender Rohstofflieferant war und der schließlich noch als Sitz mächtiger Familien galt – die großen Grabhügel lassen das vermuten – einem solchen wirklich herausragenden Ort, dazu noch mitten im Meer, eine herausgehobene Stellung auch im Religiösen zuzuerkennen“. Vgl. auch Much 1924, 102ff. Wenskus 1985, 92f., 98, 88 mit Lit. Anm. 29; vgl. Ahrens 1980, 40; Salomon 2005, 86ff. Meineke 1999, 293; Laur 1951, 436–444. Much 1924, 102f. Gutenbrunner 1939, 71f.; vgl. Ranke 1973, 6.: akymr. aball < *abalo, ‚Apfelbaum‘. Ranke 1973, 6. Kuhn/Hopf/(Ranke) 1973, 368ff.; schon in vorsolonischer Zeit (vor der Mitte des 7. Jahrhunderts vor Chr.) sind Äpfel in griechischen Quellen nachgewiesen (Hopf ebd. 371). Wenskus 1994, bes. 210 f. Wenskus 1994, 185 Anm. 39/4, 211f. Vgl. auch unten Abschnitte 3 und 4. Wenskus 1994, 210f.; vgl. die Weltkarte des Hekataios (um 500 vor Chr.), in: Weltatlas 1, 61978, 12f.
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die Geschichte der Insel Abalus/Helgoland in praehistorischer Zeit gut ein. Unleugbar scheint insgesamt ein Zusammenhang zwischen der Rolle des paradiesischen Apfelbaumes in der christlich-abendländischen Kulturgeschichte84 und den „goldenen Äpfel(n) der Hesperiden“ der antiken Mythologie, „die auf den Inseln der Seligen im westlichen Okeanos angesiedelt wurden.“85
2. Basilia/Basileia und die Atlantis-Hypothese von Jürgen Spanuth Auch der griechische Autor Timaios von Tauromenion (Taormina; ca. 350–250 vor Chr.)86 basiert zumindest teilweise auf Pytheas. Von ihm sagt Plinius, er habe für die von Pytheas beschriebene Insel Abalus den Namen Basilia/(Basileia/B ) gebraucht.87 Beide Namen sind im Zusammenhang mit mythisch-religiösen Vorstellungen als Namen für eine im heidnischen Sinne ‚heilige‘ Insel gedeutet worden.88 Während Abalus auf alte mythische Vorstellungen des Apfel(baume)s als ‚Paradiesbaum‘ verweist, bedeutet Basileia soviel wie ‚königliche Insel‘, wobei das Wort ‚königlich‘ auf einen göttlichen oder von Göttern abstammenden Herrscher zu beziehen ist. Unter anderem bei dem Namen Basileia/B setzt Jürgen Spanuth mit seiner Atlantis-Hypothese an, nach der auch die (mythische) ‚Königsinsel‘ des Atlantis-Reiches mit Helgoland gleichzusetzen sei,89 da auch in der Atlantis-Darstellung bei Platon eine (mythische) ‚Königsburg‘ als B erwähnt wird.90 Da Spanuth versuchte, eine mythologische Erzählung als ganze realistisch zu erklären, stießen auch seine zum Teil richtigen und bemerkenswerten Einzelbeobachtungen in der wissenschaftlichen Welt auf
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Aus dem christlichen Bereich sei erinnert an den (abendländischen) ‚Apfel‘ (biblisch nur: ‚Frucht‘), den Eva Adam im Paradies reicht; man denke auch an den alten keltischen Namen Avalon für die britische Insel und schließlich an die Rolle des Apfels in der griechischen Mythologie. Vgl. Demandt 2002, passim: Register, 333. Demandt 2002, 22; vgl. auch Homann 1976; (Kuhn)/Hopf/(Ranke) 1973, 371; zu „goldenen“ Äpfeln auch (Kuhn/Hopf)/Ranke 1973, 372. Breitenbach 1979, 835–837. Plin. nat. hist. 37,36: huic [(der Darstellung des) Pytheas] et Timaeus credidit, sed insulam Basiliam vocavit. Ausführlich zu Basilia/Abalus und Basilia/Balcia in der antiken Überlieferung Detlefsen 1904, 14–19 bzw. 21–23, vgl. 18. Much 1924, 101–104. Spanuth 1976, 501 mit weiteren Titeln. Dazu Laur 1978, 170 mit Lit. Vgl. Grabowski 1954. Platon, Kritias, 115 c 6; 116 a 2. Siehe auch Wenskus 1985, 99 mit Anm. 108.
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Ablehnung.91 Mit deutlicher Distanz zu dieser euhemeristischen Methode hat Reinhard Wenskus es unternommen (mit dem Hauptaugenmerk auf die salfränkische Frühgeschichte), unter Vorlage einer beeindruckenden Fülle von Material innere Gemeinsamkeiten der griechischen und der nordseegermanischen Mythologie und mögliche Übertragungswege oder -stationen aufzuzeigen.92 Wenngleich fehlende Systematik, Widersprüche und Überschneidungen in den Religionen der Griechen und der Germanen einen systematischen Vergleich nicht zulassen,93 ergeben sich doch gerade mit den im Zusammenhang mit Helgoland stehenden mythologischen Gestalten (Herkules, Nerthus)94 so deutliche Beziehungen zu Gestalten der griechischen Mythologie, dass Zufälligkeit eher unwahrscheinlich ist.95 Da die religionsgeschichtlichen Beobachtungen von Wenskus sich über den nordwestlichen Nordseeküstenbereich bis Skandinavien erstrecken, sollte hier nicht unerwähnt bleiben, dass mit Funden von nachweislich Helgoländer Feuerstein in den nordöstlichen Niederlanden, besonders dem von Een in der Provinz Drenthe, nachgewiesen ist, dass es zwischen diesem Gebiet und Helgoland, als kürzester Seeverbindung nach Norden, schon etwa 3000 bis 2500 vor Chr. Kontakte gab.96 Da auch Geologen von der Einzigartigkeit des weiß-schwarz-roten Helgoländer Feuersteins in der antiken 91
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Indem er auf einzelne Argumente der Beweisführung Spanuths eingeht, die zu dessen geographischem Gesamtbild gehören, lässt sich auch Grabowski 1954, wenn auch mit entgegengesetzter Zielrichtung, auf dieselbe Methode ein. Heute weiß man, dass es allenfalls zu neuen historischen Erkenntnissen führen kann, wenn man versucht, Einzelelemente der Erzählung einem damals vorhandenen historischen Wissen zuzuordnen. Hierbei könnten auch Einzelbeobachtungen Spanuths anregend sein. So etwa die Beobachtung, dass ein ‚stromaufwärts fließender‘ Fluss nicht das Phantasiegebilde einer verkehrten Welt sein muss, sondern dass sich dahinter durchaus die Auswirkungen der Meeresflut auf von den Gezeiten abhängige Flüsse verbergen können, in die ja zweimal täglich das Wasser in umgekehrter Richtung hineinströmt (Spanuth 1976, 379f.). Auch die mehrfach von Platon (Timaios 25d, Kritias 108e) erwähnte „schlammige Umgebung“ der Atlantis-Königsinsel, die diese „unbefahrbar und unerforschbar“ machte, kann zweifellos als Hinweis auf eine Kenntnis des Nordsee-Wattenmeeres gewertet werden, zumal die Charakterisierung durch Platon im Kern den antiken Beschreibungen des Wattenmeeres entspricht. Die Vorstellung, dass sich ein – möglicherweise besonderes – Ereignis in der ägyptisch-griechischen Überlieferung spiegelt, das mit der Entstehung der Nordsee oder ihrer Ausbreitung nach Süden zu tun hat, scheint mir nicht ausgeschlossen. Vgl. auch Kehnscherper 1969, bes. 9 ff., 12 ff. Eine weitere fachkundige Untersuchung der von Spanuth herangezogenen ägyptischen und griechischen Schriftquellen wäre wahrscheinlich nicht uninteressant. – Siehe auch unten mit Anm. 96. Wenskus 1994, bes. 211 f. Vgl. Wenskus 1994, bes. 247 f. Siehe unten Abschnitte 3 und 4. Wenskus 1994, bes. 187, vgl. 180, 220 (Mykene/Kreta). Beuker 1988, 107, auch 98–106, 96f., 113; Beuker 2002, 59; vgl. jetzt auch die Karte bei Carnap-Bornheim/Hartz 2007, 70; auch oben mit Anm. 64–68.
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Welt ausgehen,97 liegt der Gedanke nahe, dass aus der mythischen AtlantisErzählung Platons, des nur wenige Jahrzehnte älteren Zeitgenossen des Pytheas, die Kenntnis eben dieses Feuersteins hervorgeht.98 Auch wenn der Versuch, die ‚Königsinsel‘ des mythischen Atlantis-Reiches mit einer realen Insel identifizieren zu wollen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, so können doch auch mythische Erzählungen in den Kernen ihrer Teile grundsätzlich historische Nachrichten enthalten, die von ungewöhnlichen Dingen und Ereignissen in der Welt berichten.99 Auch der Name ‚Atlantis‘ selbst gehört in den mythisch-religiösen Bereich, geht er doch zurück auf Atlas, den Bruder des Prometheus und der Okeanide Klymene, der sich am westlichen Rand der Welt befindet und die Aufgabe hat, den Himmel zu stützen, damit er sich nicht mit dem Meer vermischt. Auch er spielt wie der Apfel(baum) in der Sage der Hesperiden, als deren Vater er galt, eine Rolle.100 Mag man ihn zunächst im westlichen Mittelmeer lokalisiert haben – ein nordwestafrikanisches Gebirge wird schon von Herodot unter diesem Namen erwähnt101 und trägt ihn noch heute –, so mussten er und seine Sage im Bewusstsein der Antike mit den Fortschritten der Entdeckung des Nordens immer weiter nach Norden vorrücken, weil sein Platz am Rande der Welt war, wo Himmel, Wasser und Erde sich zu vermischen schienen. Das war im Bewusstsein der (gelehrten) Antike wohl spätestens seit der Zeit des Pytheas (auch schon Platons oder Solons [ca. 640–560 v. Chr.]?) die Gegend, in der das Land nicht Land, das Meer nicht Meer und die Luft nicht Luft, sondern alles ein ‚Gemisch‘ war. Diesen Eindruck vom Wattenmeer und von der Nordsee als dem ‚Rand der Welt‘ vermittelt neben Pytheas/Plinius und Tacitus102 besonders Strabon in seiner Wiedergabe des Pytheas-Berichtes: „Pytheas, von dem sich [anstatt ‚sie‘; Vf.in] hätten viele täuschen lassen, indem er ganz Britannien, so weit es zu-
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Beuker 1988, 96f. Platon, Kritias, 116 a, b; Übersetzung Nestle 1941, 292f. (116 a): „Die Steine dazu aber, welche teils weiß, teils schwarz und teils rot waren, brachen sie unten an den Abhängen [des weißen Kreidefelsens?, Vfin.] der … Insel ringsherum“. Vgl. Spanuth 1976, 362. In dieser Frage handelt es sich nicht um Steine des roten Buntsandsteinfelsens, wie in der Literatur zum Teil fälschlich angenommen, sondern um den Helgoländer Feuerstein, der in sich weiß, schwarz und rot ist und der im weißen Kreidefelsen eingelagert war, wo er ringsherum herausgebrochen werden konnte. Vgl. auch Wenskus 1994, 187 mit Anm. 49, 211, 213f.; auch unten mit Anm. 105. Vgl. Platon, Timaios 23 a. Leglay 1979, 712f. Bux/Schöne/Lamer 61963, 56. Tac. Ann. 2, 23f.; (24): Quanto violentior cetero mari Oceanus et truculentia caeli praestat Germania, tantum illa clades novitate et magnitutine excessit, hostilibus circum litoribus aut ita vasto et profundo ut credatur novissimum ac sine terris mare; vgl. auch unten.
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gänglich sei, bereist zu haben vorgebe … zugleich aber auch seine Erzählungen von Thule und jenen Gegenden beifüge, wo fernerhin weder Land für sich bestehend vorhanden sei, noch Meer, noch Luft, sondern ein der Seelunge ähnliches [ein quallenähnliches] Gemisch aus diesem allen, in welchem Land und Meer und alle Dinge schweben, und dies sei gleichsam ein Band des Ganzen, weder begehbar noch beschiffbar. Jenes der Lunge ähnliche Gemisch [quallenähnliche Gebilde] nun habe er selbst gesehen, das übrige aber erzähle er vom Hörensagen. Das also sind die Nachrichten des Pytheas.“103
3. Die ‚Säulen des Herkules‘ Tacitus berichtet in der Wendezeit des 1. zum 2. Jahrhundert n. Chr., dass römische Flotten im 1. Jahrhundert n. Chr. bis in den nördlichen Ozean gelangt seien (ipsum quin etiam Oceanum illa temptavimus), nachdem er unmittelbar zuvor die Friesen erwähnt hat.104 Drusus Germanicus habe sich (12 vor Chr.) aufgemacht, die Nordsee und die ‚Säulen des Herkules‘ zu erkunden, die dort, offenbar nach Berichten römischer Militärs, „immer noch gestanden haben“ (et superesse adhuc Herculis columnas fama vulgavit); aber die Nordsee erwies sich als für die Römer zu gefährlich (Unternehmen des Germanicus vom Jahre 16 nach Chr.),105 so dass der Versuch abgebrochen wurde.106 Tacitus selbst hat aber Zweifel, ob sich diese Säulen im nördlichen Meer in der Nähe der Friesen noch direkt mit dem sagenhaften Herkules in Verbindung bringen lassen. Glaubwürdig ist aber hiernach die Existenz solcher „Säulen“ in der Nordsee, die, so meint Tacitus, vielleicht nur so genannt werden, weil die Menschen dazu neigen, „alles Großartige irgendwo in der Welt“107 mit dem berühmten Namen des Herkules in Verbindung zu bringen. Da es in der südlichen Nordsee, wohin die Römer damals gelangt 103
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Strabon 2,4,1 (in der Wiedergabe einer Kritik des Polybios an Pytheas nach der Übersetzung von Forbiger 1855–1898/2005, 146 [bzw. Schmitt/Hansen bei Herrmann 1988, 215]): Vgl. auch oben Anm. 11. – Siehe zum ‚Rand der nördlichen Welt‘ auch Strabon 2,5,8, bei Herrmann 1988, 216f. Vgl. Platon, Timaios 25 d, Kritias 108 e. Wenn Tacitus, Germ. c. 34, die Friesen nennt, so geht er vom Ausgangspunkt der Expedition des Drusus im westlicher gelegenen Friesenland aus. Vgl. Text Tac. Ann. 2, 23f.; auch Much 31967, 404. Vgl. aber Wolters 1994, 79–91. Tac. Germ. c. 34. Dazu der Kommentar von Much 31967, 404 über die Frage der Zuordnung der einzelnen Unternehmungen zu Drusus mit dem Beinamen Germanicus, mit einem zeitlichen Unterschied von ca. 30 Jahren. Siehe auch vorige Anm. Zu dem hier geäußerten Kriterium der ‚Forschungsreise‘ vgl. aber oben mit Lit. Anm. 53. Tac. Germ. 34. Übersetzung nach Woyte 1965, 31.
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waren, nur eine einzige – wunderbarerweise aus einem roten und einem weißen Felsen bestehende – Felseninsel gab, auf die sich die Bemerkung des Tacitus beziehen kann, ist die Identifikation mit Helgoland sehr wahrscheinlich.108 In seinen etwas später verfassten Annalen beschreibt Tacitus noch einmal eine Nordseeinsel vor der Küste der Chauken zwischen Ems und Elbe mit den Worten: „Er [der Süd(west)wind] warf jetzt die Schiffe in den offenen Ozean hinaus und verschlug sie an die Inseln, deren schroffe Felsen oder geheime Untiefen ihnen Verderben drohten“ (c. 23: in aperta Oceani aut insulas saxis abruptis vel per occulta vada infestas) und „Nur die Trireme, auf der sich Germanicus befand, landete an der Küste des Chaukenlandes. All die Tage und Nächte auf den Klippen und Küstenvorsprüngen hatte er laut die Schuld an dem furchtbaren Unglück sich selber vorgeworfen“ (c. 24: apud scopulos et prominentis oras).109 Etwa dreihundert Jahre nach Pytheas entdecken nun auch die Römer die Felseninsel in der Nordsee, die sich für sie durch eine zufällige Wetterlage, vor allem aber wohl durch Unkenntnis der besonderen Schifffahrtsbedingungen des Wattenmeeres in den Jahren 12 vor und 16 nach Chr. als unzugänglich erweist. Bemerkenswert ist hier auch, dass die römischen Kreise, die Kenntnis von der Felseninsel im eben von den Römern entdeckten Nordmeer hatten, diese – wegen der ihnen durch die Literatur bekannt gewordenen griechischen Reiseerfahrungen – mit der griechischen Sagenwelt in Verbindung brachten. Für Griechen und Römer galt zunächst in gleicher Weise, dass man hier am ‚nördlichen Ozean‘ das Ende der bewohnten Welt vermutete.110 Dass gerade hier die wenigen realen Kenntnisse mit mythisch-religiösen Vorstellungen eine Verbindung eingingen, ist daher nicht verwunderlich. Die ‚Säulen des Herakles/Herkules‘ knüpfen unmittelbar an die ‚Himmelssäule‘ an, die Atlas zu tragen hatte. Der Sage nach musste Herakles den Himmel tragen, während Atlas für ihn die goldenen Äpfel der Hesperiden besorgte.111 Im Mythos gehören damit Abalus, die ‚Säulen des Herkules‘ und Atlantis eng zusammen.112 Mit dem Blick auf die rote Felsen108
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Detlefsen 1904, 43f. Wenn Plinius, nat. hist. 2,167, in den columnae Herculis noch eine eher nüchterne geographische Bezeichnung für die Meerenge bei Gibraltar sieht, so ist dies offensichtlich ein älterer Sprachgebrauch. Die Bedeutung der columnae Herculis bei Tacitus stützt die Meinung von Wolters 1994, der in der Germania einen neueren Stand der Entdeckung des Nordens erkennt. Tac. Ann. 2, 23f., Übersetzung nach Horneffer 1964, 88; vgl. Zylmann 1952, 39f. Siehe die Weltkarten, Weltatlas 1, 61978, 12f.: Hekataios ca. 500 vor Chr.; Eratosthenes ca. 285–205 vor Chr.; Ptolemaios ca. 150 nach Chr.; vgl. auch die Abbildung über das ägyptische Weltbild der Zeit um 1200 vor Chr. bei Spanuth 1976, 33. Leglay 1979, 712f.; Wenskus 1994, 210f. Vgl. Wenskus 1994, 185 Anm. 39/4, 204ff., 211 f.
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Heike Grahn-Hoek
insel Helgoland ist insbesondere der Name der Insel bemerkenswert, auf der Herkules den dreiköpfigen Riesen Geryoneus tötete. Sie hieß Erytheia, ‚Rotland‘.113
4. Die Nerthus-Insel Demselben römischen Autor Tacitus verdanken wir die Beschreibung des Kultes einer Göttin Nerthus114 auf einer ‚Insel des Ozeans‘.115 Zwar ist der Versuch unternommen worden, diese Insel in der Ostsee zu suchen. So hat man sie in der Odermündung116 oder in der Insel Seeland117 sehen wollen. Dagegen spricht aber schon der Stand der Entdeckungsgeschichte des Nordens durch die Römer zur Zeit des Tacitus. Immerhin nennt Tacitus die Ostsee bereits mare Suebicum.118 Eine insula Oceani ist hier zunächst einmal eine Insel des Nordmeeres.119 Tacitus beschreibt diesen Nerthus-Kult als den einer Erdgöttin. Dieser habe auf einer Insel des nördlichen Ozeans stattgefunden, wo ein ‚heiliger Hain‘ (castum nemus) gewesen sei, in dem ein ‚geheimer See‘ (lacus secretus) lag. Dieser Kult sei mit Festlichkeiten verbunden gewesen und mit einem Umzug der ‚Göttin selbst‘ auf einem Wagen. Zu diesen Festlichkeiten sei eine ganze Reihe von Germanenstämmen zusammengeströmt, deren Namen wir aus anderen Überlieferungen nur zum Teil kennen: Reudigner, Avionen, Anglier,120 Variner, Eudosen, Suardonen und Nuithonen.121 113
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Wenskus 1994, 207. Hier trieb Herkules auch die Rinderherde des Geryoneus fort. Vgl. Platon, Kritias 119 d. Von heiligen weidenden Tieren auch auf Helgoland berichtet auch noch Alcuin: siehe unten Abschnitt 5 mit Anm. 163. Zum Namen Zimmer 2002, 83f. Nachdem die Ableitung des Vornamens ‚Hertha‘ von Nerthus lange für einen Lesefehler (H anstatt N) gehalten wurde, diskutiert man heute wieder die Lesart mit H, wobei man Hertha auf Erthamthe Hammer